Ralf Bohnsack · Iris Nentwig-Gesemann Arnd-Michael Nohl (Hrsg.) Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis
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Ralf Bohnsack · Iris Nentwig-Gesemann Arnd-Michael Nohl (Hrsg.) Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis
Ralf Bohnsack Iris Nentwig-Gesemann Arnd-Michael Nohl (Hrsg.)
Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis Grundlagen qualitativer Sozialforschung 2., erweiterte und aktualisierte Auflage
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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2., erweiterte und aktualisierte Auflage 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15316-2
Inhaltsverzeichnis
Ralf Bohnsack/Iris Nentwig-Gesemann/Arnd-Michael Nohl Einleitung: Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis
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Medien und Technik Bettina Fritzsche Mediennutzung im Kontext kultureller Praktiken als Herausforderung an die qualitative Forschung
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Burkhard Schäffer „Kontagion“ mit dem Technischen. Zur dokumentarischen Interpretation der generationsspezifischen Einbindung in die Welt medientechnischer Dinge
45
Bild- und Videointerpretationen Ralf Bohnsack Die dokumentarische Methode in der Bild- und Fotointerpretation
69
Burkard Michel Fotografien und ihre Lesarten. Dokumentarische Interpretation von Bildrezeptionsprozessen
93
Monika Wagner-Willi Videoanalysen des Schulalltags. Die dokumentarische Interpretation schulischer Übergangsrituale
125
Organisation und Geschlecht Brigitte Liebig ‚Tacit Knowledge‘ und Management. Ein wissenssoziologischer Beitrag zur qualitativen Organisationskulturforschung
147
5
Jugend und Geschlecht Eva Breitenbach Sozialisation und Konstruktion von Geschlecht und Jugend. Empirischer Konstruktivismus und dokumentarische Methode
167
Yvonne Gaffer/Christoph Liell Handlungstheoretische und methodologische Aspekte der dokumentarischen Interpretation jugendkultureller Praktiken
183
Habitusrekonstruktion und praxeologische Wissenssoziologie Michael Meuser Repräsentation sozialer Strukturen im Wissen. Dokumentarische Methode und Habitusrekonstruktion
209
Typenbildung und komparative Analyse Ralf Bohnsack Typenbildung, Generalisierung und komparative Analyse: Grundprinzipien der dokumentarischen Methode
225
Arnd-Michael Nohl Komparative Analyse: Forschungspraxis und Methodologie dokumentarischer Interpretation
255
Iris Nentwig-Gesemann Die Typenbildung der dokumentarischen Methode
277
Die Arbeitsschritte der dokumentarischen Methode in exemplarischer Darstellung Ralf Bohnsack/Arnd-Michael Nohl Exemplarische Textinterpretation: Die Sequenzanalyse der dokumentarischen Methode
6
303
Ralf Bohnsack/Burkhard Schäffer Exemplarische Textinterpretation: Diskursorganisation und dokumentarische Methode
309
Ralf Bohnsack „Heidi“: Eine exemplarische Bildinterpretation auf der Basis der dokumentarischen Methode
325
Anhang Literatur
341
Richtlinien der Transkription: Talk in Qualitative Research
373
Autorenangaben
375
7
Ralf Bohnsack, Iris Nentwig-Gesemann, Arnd-Michael Nohl
Einleitung: Die dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis Die dokumentarische Methode hat inzwischen vor allem in den Sozial- und Erziehungswissenschaften ein breites Anwendungsfeld gefunden. Dieses reicht von der Rekonstruktion von Kindergesprächen, über die Jugend- und Geschlechterforschung, die Organisationskulturforschung bis hin zur Wissenschaftsforschung. Neben der Auswertung von Gruppendiskussionen, offenen wie biographischen Interviews und Feldforschungsprotokollen ist auch die dokumentarische Interpretation von historischen Texten sowie von Bildern und Fotos erprobt und methodologisch reflektiert worden. Insbesondere im Bereich der Bild- und Fotointerpretation werden derzeit neue methodische Perspektiven erschlossen. Die dokumentarische Methode steht in der Tradition der Wissenssoziologie von Karl Mannheim und der Ethnomethodologie. Die Analyseverfahren dieser Methode eröffnen einen Zugang nicht nur zum reflexiven, sondern auch zum handlungsleitenden Wissen der Akteure und damit zur Handlungspraxis. Die Rekonstruktion der Handlungspraxis zielt auf das dieser Praxis zugrunde liegende habitualisierte und z.T. inkorporierte Orientierungswissen, welches dieses Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn strukturiert. Dennoch wird dabei die empirische Basis des Akteurswissens nicht verlassen. Dies unterscheidet die dokumentarische Methode von objektivistischen Zugängen, die nach Handlungsstrukturen ‚hinter dem Rücken der Akteure‘ suchen. Ziel dieses Bandes ist es zum einen, am Beispiel ausgewählter Untersuchungen aus der vielfältigen Forschungspraxis anzusetzen, um die hier gesammelten Erfahrungen systematisch darstellen und methodologisch diskutieren zu können. Zum anderen werden zentrale Probleme im Bereich der Handlungstheorie und Methodologie diskutiert. Da alle Autorinnen und Autoren auf eine längere Praxis mit der dokumentarischen Methode zurückblicken können, versammelt der Band ein breites und fundiertes Erfahrungswissen. Im Folgenden soll es zunächst (1) darum gehen, einige methodologischtheoretische ‚Kristallisationspunkte‘ zu nennen, die die besondere Leistung und das Profil der dokumentarischen Methode ausmachen, um dann (2) einige ihrer (disziplinären) Anwendungsbereiche wie auch (3) unterschiedliche
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Formen empirischer Daten, die mit der dokumentarischen Methode interpretiert werden, zu skizzieren. Schließlich (4) geben wir einen Überblick über den Inhalt der Beiträge dieses Bandes.
1. Kristallisationspunkte der dokumentarischen Methode Beim gegenwärtigen Stand qualitativer Forschung lassen sich u.a. zwei Probleme nennen, denen sich Methodologie und Forschungspraxis zu stellen haben. Auf der einen Seite ist qualitative Forschung vor dem Hintergrund des aktuellen Standes der erkenntnistheoretischen Diskussion gehalten, sich weitgehend von objektivistischen Unterstellungen zu befreien. Gemeint sind damit Ansprüche auf einen privilegierten Zugang zur Realität, die mit der Tendenz einhergehen, den eigenen Standort zu verabsolutieren. Diese Tendenz hat ihre Ursprünge z.T. in der Kritik am ‚Subjektivismus‘ in der quantitativen Sozialforschung. So konnte vor allem in der Tradition der Frankfurter Schule kritisch herausgearbeitet werden, dass auch hochaggregierte und mit Ansprüchen der Repräsentativität versehene statistische Daten häufig lediglich einen Zugang zur subjektiven Perspektive der Akteure eröffnen. Gesucht wurde demzufolge ein methodischer Zugang, der zwar die Äußerungen, die Texte der Akteure, als Datenbasis nimmt, gleichwohl aber den subjektiv gemeinten Sinngehalt transzendiert. Die vor diesem Hintergrund in der empirischen Analyse auf der Basis von Textinterpretationen dann herausgearbeitete Differenz von subjektiv gemeintem Sinn und „objektiver“ Struktur wurde allerdings häufig mit der Tendenz erkauft, die Perspektive des Beobachters auf diese objektiven Strukturmerkmale und somit dessen Wissen mehr oder weniger absolut zu setzen. In kritischer Reaktion hierauf haben – auf der anderen Seite – vor allem jene qualitativen Sozialforscher, die in der Tradition der phänomenologischen Sozialwissenschaft stehen, sich auf den subjektiv gemeinten Sinn nach Max Weber als Grundbaustein einer sozialwissenschaftlichen Methodologie und Handlungstheorie zurückbesonnen. Sie sind dabei vor allem der Weiterführung und Präzisierung dieser Position durch Alfred Schütz gefolgt. Unbewältigt bleibt dabei allerdings das Problem, dass wir auf diese Weise zwar sehr viel über die Theorien, Vorstellungen und Absichten der Akteure erfahren, aber die Perspektive des sozialwissenschaftlichen Beobachters von der Perspektive der Akteure auf deren eigenes Handeln methodologisch nicht hinreichend unterschieden werden kann. Die hier skizzierten Probleme stellen sich selbstverständlich nicht nur im Bereich qualitativer Methoden. Vielmehr begegnen sie uns als ein Kernproblem in nahezu allen sozialwissenschaftlichen Forschungsbereichen und Handlungstheorien. Wie in manch anderer Hinsicht, so bringt auch hier die 10
im Bereich der qualitativen Methoden besonders intensiv geführte Diskussion die Probleme lediglich in konturierter Weise auf den Begriff. Die beiden genannten Positionen haben trotz oder gerade wegen ihrer antagonistischen Beziehung eines gemeinsam: Sie bleiben beide der Aporie von Objektivismus und Subjektivismus verhaftet.
1.1 Der Beitrag zur Überwindung der Aporie von Subjektivismus und Objektivismus Zur Überwindung des skizzierten Dilemmas zwischen einem theoretischmethodischen Zugang, der den subjektiv gemeinten Sinn lediglich nachzeichnet, ihn allenfalls systematisiert und damit weitgehend innerhalb der Selbstverständlichkeiten des Common Sense verbleibt, auf der einen Seite und dem objektivistischen Anspruch auf einen privilegierten Zugang zur Realität auf der anderen Seite, hat Karl Mannheim bereits in den zwanziger Jahren einen entscheidenden Beitrag geleistet. Die Mannheim’sche Wissenssoziologie eröffnet eine Beobachterperspektive, die zwar auch auf die Differenz der Sinnstruktur des beobachteten Handelns vom subjektiv gemeinten Sinn der Akteure zielt, gleichwohl aber das Wissen der Akteure selbst als die empirische Basis der Analyse belässt. Voraussetzung für diese spezifische Beobachterhaltung ist die Unterscheidung zwischen einem reflexiven oder theoretischen Wissen der Akteure einerseits und dem handlungspraktischen, handlungsleitenden oder inkorporierten Wissen andererseits, welches Mannheim auch als atheoretisches Wissen bezeichnet. Dieses bildet einen Strukturzusammenhang, der als kollektiver Wissenszusammenhang das Handeln relativ unabhängig vom subjektiv gemeinten Sinn orientiert, ohne den Akteuren aber (im Durkheim’schen Sinne) ‚exterior‘ zu sein. Diese Struktur ist somit – und dies ist entscheidend – bei den Akteuren selbst wissensmäßig repräsentiert. Es handelt sich also um ein Wissen, über welches auch die Akteure verfügen und nicht um eines, zu dem lediglich der Beobachter einen (privilegierten) Zugang hat, wie dies für objektivistische Ansätze charakteristisch ist. Die sozialwissenschaftlichen Interpret(inn)en im Sinne der Mannheim’schen Wissenssoziologie gehen also nicht davon aus, dass sie mehr wissen als die Akteure oder Akteurinnen, sondern davon, dass letztere selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen, somit also über ein implizites Wissen verfügen, welches ihnen reflexiv nicht so ohne weiteres zugänglich ist.
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1.2 Der methodische Zugang zum impliziten (atheoretischen) handlungsleitenden Erfahrungswissen Die Aufgabe des sozialwissenschaftlichen Beobachters besteht demnach darin, dieses implizite oder atheoretische Wissen zur begrifflich-theoretischen Explikation zu bringen. Die erkenntnistheoretische Ausgangslage und Problemstellung und somit die empirische Basis ist von objektivistischen Zugängen also hinreichend unterschieden. Aufgabe des sozialwissenschaftlichen Beobachters ist es nicht, an den von ihm interpretierten Fällen ein ihm bereits bekanntes (Regel-) Wissen (induktiv) zur Anwendung zu bringen. Vielmehr hat er die Aufgabe, ein den Erforschten bekanntes, von ihnen aber selbst nicht expliziertes handlungsleitendes (Regel-) Wissen (abduktiv) zur Explikation zu bringen. Diese methodische Fremdheitshaltung in der Tradition der Mannheim’schen Wissenssoziologie, in der diese mit der Chicagoer Schule übereinstimmt, hat Konsequenzen für die gesamte Methodologie wie auch für die konkreten Arbeitsschritte der Textinterpretation.1 Karl Mannheim hat also in den zwanziger Jahren mit der von ihm entwickelten dokumentarischen Methode den Zugang zu dieser Ebene des nichtexplizierten, des impliziten, des stillschweigenden oder atheoretischen Wissens eröffnet. Der dokumentarischen Methode gelingt es, die Aporie von Subjektivismus und Objektivismus zu überwinden, indem der Beobachter einerseits dem Wissen der Akteure als empirischer Ausgangsbasis der Analyse verpflichtet bleibt und deren Relevanzen berücksichtigt, ohne aber andererseits an deren subjektiven Intentionen und Common Sense-Theorien gebunden zu bleiben, diesen sozusagen „aufzusitzen“. Vielmehr gewinnt der Beobachter einen Zugang zur Handlungspraxis und zu der dieser Praxis zugrunde liegenden (Prozess-) Struktur, die sich der Perspektive der Akteure selbst entzieht.
1.3 Der Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie in der praxeologischen Wissenssoziologie Eine derartige dokumentarische Interpretation setzt einen Wechsel der Analyseeinstellung gegenüber dem Common Sense voraus. Es ist dies der Wechsel von der Frage, was die gesellschaftliche Realität in der Perspektive der Akteure ist, zur Frage danach, wie diese in der Praxis hergestellt wird. Aufgrund der Bedeutung der Handlungspraxis bezeichnen wir die von uns vertre-
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Diese methodische Fremdheitshaltung hat auch Konsequenzen für die spezifische Art der ‚Sequenzanalyse‘ im Rahmen der dokumentarischen Methode, die sich nachhaltig von derjenigen im Bereich objektivistischer Verfahren unterscheidet. Vgl. dazu genauer Bohnsack (2001a) sowie den Beitrag von Bohnsack/Nohl i. d. Band.
tene Wissenssoziologie auch als eine praxeologische.2 Gemeint ist sowohl die Praxis des Handelns wie diejenige des Sprechens, Darstellens und Argumentierens. Die Frage nach dem Wie ist die Frage nach dem Modus Operandi, nach dem der Praxis zugrunde liegenden Habitus. Mit der dokumentarischen Methode hat Karl Mannheim die erste umfassende Begründung der Beobachterhaltung in den Sozialwissenschaften vorgelegt, die den Ansprüchen einer erkenntnistheoretischen Fundierung auch heute noch standzuhalten vermag. So ist der Wechsel von der Frage nach dem Was der gesellschaftlichen Realität zur Frage nach dem Wie ihrer Herstellung konstitutiv für die konstruktivistische Analyseeinstellung. Im Sinne der Luhmann’schen Systemtheorie ist dies der Übergang von den Beobachtungen erster zu den Beobachtungen zweiter Ordnung. Für die empirische Umsetzung des konstruktivistischen Paradigmas, d.h. in Bezug auf eine für die sozialwissenschaftliche Empirie unmittelbar relevante Methodologie, ist die Systemtheorie allerdings kaum von Bedeutung. Den entscheidenden Beitrag hat vielmehr die Ethnomethodologie geleistet. Wir finden hier einen für die Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Empirie bahnbrechenden Perspektivenwechsel: Alltägliches Handeln bzw. alltägliche Realität werden in der Ethnomethodologie bekanntlich in radikaler Weise unter dem Gesichtspunkt ihres „practical accomplishment“, ihrer (alltags-) ‚praktischen Durchführung‘ oder ‚Herstellung‘, also unter dem Aspekt des Wie betrachtet.3 Mit dieser neuen Forschungsperspektive war dann auch (trotz aller Bezüge auf Alfred Schütz) eine Abwendung vom subjektiv gemeinten Sinn als Grundbaustein sozialen Handelns und von dem damit verbundenen Modell zweckrationalen Handelns verbunden. Die Konstruktion von Motiven im Sinne der Unterstellung eines subjektiv gemeinten Sinnes spiegelt – in der Perspektive der Ethnomethodologie – lediglich Common Sense-Vorstellungen wider4 und ist somit ein zentraler Gegenstand wissenschaftlichen Interpretierens. Sie kann aber nicht deren Methode sein. Einen adäquateren Zugang zur ‚Rationalität‘ sozialen Handelns, welcher von einer zweckrationalen Engführung zu unterscheiden ist, ermöglicht – im Sinne der Ethnomethodologie – die dokumentarische Methode. Dieser Begriff von Karl Mannheim wurde zuallererst von Garfinkel als einer der Hauptbegriffe der Ethnomethodologie eingeführt5 und damit aus einer über dreißigjährigen Vergessenheit zurückgeholt.
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Hierin unterscheidet sich unser – Mannheims – Verständnis von Wissenssoziologie von demjenigen der sogen. hermeneutischen Wissenssoziologie, die in der phänomenologischen Tradition steht. Vgl. dazu Garfinkel 1967, VII. Vgl. dazu den Beitrag von Bohnsack zur Typenbildung i. d. Band. Bei Garfinkel (1960, 57) heißt es dazu: Die dokumentarische Methode „is prominent in and characteristic of both social-scientific and daily-life procedures for deciding sensibility and warrant.“
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Die Analyse der Ethnomethodologen blieb allerdings auf die formalen und ubiquitären Strukturen dieses Handelns beschränkt. Dies gilt z.B. auch für die in dieser Tradition stehende Konversationsanalyse. Das handlungsleitende oder auch inkorporierte Wissen, welches diese Handlungspraxen semantisch-inhaltlich in ihrer je milieu- und kulturspezifischen Ausprägung strukturiert, blieb aus der Betrachtung ausgeschlossen.
1.4 Die Differenzierung von kommunikativem (gesellschaftlichem) und konjunktivem (milieuspezifischem) Wissen Ethnomethodologie und Konversationsanalyse haben der Doppelstruktur alltäglicher Verständigung und Interaktion nicht systematisch Rechnung getragen. Denn Bezeichnungen und Äußerungen haben einerseits eine öffentliche oder gesellschaftliche und andererseits eine nicht-öffentliche oder milieuspezifische Bedeutung. So ist uns die öffentliche oder auch ‚wörtliche‘ Bedeutung des Begriffs ‚Familie‘ unproblematisch gegeben, da wir alle ein Wissen um die Institution Familie haben. Wir sprechen hier – im Anschluss an Mannheim – von einem kommunikativen oder auch kommunikativ-generalisierenden Wissen. Dies ermöglicht uns aber noch keinen Zugang zum Erfahrungsraum der je konkreten Familie in ihrer je milieuspezifisch oder auch individuell-fallspezifischen (gruppenspezifischen) Besonderheit. Wir sprechen hier von einem konjunktiven Wissen und von konjunktiven Erfahrungsräumen. Während der methodische Zugang zum kommunikativen Wissen unproblematisch ist, da es ohne große Schwierigkeiten abgefragt werden kann, erschließt sich uns das konjunktive Wissen nur dann, wenn wir uns (auf dem Wege von Erzählungen und Beschreibungen oder auch der direkten Beobachtung) mit der Handlungspraxis vertraut gemacht haben. Die dokumentarische Methode ist darauf gerichtet, einen Zugang zum konjunktiven Wissen als dem je milieuspezifischen Orientierungswissen zu erschließen.
1.5 Die Arbeitsschritte der formulierenden und reflektierenden Interpretation Der methodologischen (Leit-) Differenz von kommunikativ-generalisierendem, wörtlichen oder ‚immanentem‘ Sinngehalt auf der einen und dem konjunktiven, metaphorischen oder eben dokumentarischen Sinngehalt auf der anderen Seite entspricht die Unterscheidung von Beobachtungen erster Ordnung (mit der Frage nach dem Was) und Beobachtungen zweiter Ordnung (mit der Frage nach dem Wie). Diese grundlegende methodologische Differenz findet ihren Ausdruck auch in zwei klar voneinander abgrenzbaren Ar-
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beitsschritten der Textinterpretation (welche in ihren Grundzügen mit denjenigen der Bildinterpretation übereinstimmen), nämlich in den Schritten der formulierenden Interpretation einerseits und der reflektierenden Interpretation andererseits. In diesem Sinne geht es darum, das, was (wörtlich) gesagt wird, also das, was thematisch wird, von dem zu unterscheiden, wie ein Thema, d.h. in welchem Rahmen es behandelt wird. Dieser Orientierungsrahmen (den wir auch Habitus nennen) ist der zentrale Gegenstand dokumentarischer Interpretation.6 Hierbei kommt der komparativen Analyse von vornherein eine zentrale Bedeutung zu, da sich der Orientierungsrahmen erst vor dem Vergleichshorizont anderer Fälle in konturierter und empirisch überprüfbarer Weise herauskristallisiert. Im ersten Schritt, demjenigen der formulierenden Interpretation, geht es also darum, das, was von den Akteuren im Forschungsfeld bereits selbst interpretiert, also begrifflich expliziert wurde, noch einmal zusammenfassend zu „formulieren“. Auf dieser Grundlage kann dann sehr genau bestimmt werden, ab welchem Punkt vom Forscher in einem zweiten Schritt, demjenigen der reflektierenden Interpretation, eigene Interpretationen in „Reflexion“ auf die implizierten Selbstverständlichkeiten des Wissens der Akteure erbracht werden.7
1.6 Die Mehrdimensionalität des handlungspraktischen Erfahrungswissens: Typenbildung, Generalisierung und komparative Analyse Die dokumentarische Interpretation ist, wie gesagt, darauf gerichtet, einen Zugang zum handlungspraktischen, zum impliziten und konjunktiven Erfahrungswissen zu erschließen. Das konjunktive (Orientierungs-) Wissen als ein in die Handlungspraxis eingelassenes und diese Praxis orientierendes und somit vorreflexives Erfahrungswissen ist dem Interpreten nur zugänglich, wenn er sich den je individuellen oder kollektiven Erfahrungsraum erschließt. Das heißt, eine Äußerung oder Handlung wird mir nur verständlich, wenn ich den dazugehörigen Erfahrungsraum kenne. Dabei resultiert die Komplexität der empirischen Analyse daraus, dass das Individuum bzw. die konkrete Gruppe, welche jeweils den zu untersuchenden Fall bilden, immer schon teilhaben an unterschiedlichen Erfahrungsräumen. Oder anders formuliert: Der je fallspezifische Erfahrungsraum konstituiert sich immer schon in der Überlagerung bzw. wechselseitigen Durchdringung unterschiedlicher
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Zur Unterscheidung der (konjunktiven) Orientierungsrahmen von den (kommunikativen) Orientierungsschemata siehe Bohnsack 1997. Forschungsbeispiele für die formulierende und reflektierende Interpretation finden sich in den Beiträgen von Bohnsack/Nohl und Bohnsack/Schäffer i. d. Band.
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Erfahrungsräume bzw. Dimensionen – beispielsweise bildungs-, geschlechtsund generationstypischer, aber auch lebenszyklischer Art. So wird z.B. insbesondere in der Gender-Forschung derzeit betont, dass geschlechtsspezifische Orientierungen oder Habitus lediglich im Kontext anderer Dimensionen in ihrer Relevanz für die Akteure erschließbar sind. Es zeigt sich hier das Paradox, dass oft gerade die sozialwissenschaftliche Forschung, die die alltägliche Definition von Situationen im primären Rahmen von (Zwei-) Geschlechtlichkeit als eindimensionale Konstruktion kritisieren will, ebendiese Eindimensionalität perpetuiert, wenn es nicht gelingt, die Mehrdimensionalität alltäglicher Handlungspraxis und somit die ‚Kontextuierung‘ der Dimension Geschlecht herauszuarbeiten. Vor einem vergleichbaren Problem steht die Migrationsforschung. Wenn wir z.B. etwas über migrationstypische Orientierungsprobleme jugendlicher Migrant(inn)en erfahren wollen, so müssen wir kontrollieren können, ob die von uns identifizierten Orientierungsprobleme nicht etwa geschlechtstypischer Art oder an eine lebenszyklische Phase (z.B. Adoleszenzentwicklung) gebunden sind.8 Der Komplexität einer derartigen mehrdimensionalen Analyse wird die dokumentarische Methode gerecht, indem sie sich auf das in umfangreichen Forschungserfahrungen ausgearbeitete Modell der komparativen Analyse stützt. So lässt sich im gezielten Fallvergleich beispielsweise zeigen, dass dasselbe (migrationstypische) Orientierungsproblem durch geschlechtstypische Differenzierungen und in unterschiedlichen lebenszyklischen Phasen, also in diesen spezifischen Variationen, in seiner Grundstruktur als ein generelles Orientierungsmuster identifizierbar bleibt. Die komparative Analyse ermöglicht somit zugleich mit ihrer Variation auch die Generalisierung von Orientierungsmustern bzw. Typen.9
2. Die dokumentarische Methode in unterschiedlichen Gegenstandsbereichen und Disziplinen Die dokumentarische Methode wurde in mannigfaltigen Gegenstandsbereichen und Disziplinen angewendet und hier entscheidend weiterentwickelt, wie dies auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes evident wird. Wir halten es für sinnvoll, an dieser Stelle einen knappen Überblick über empirische Analysen in unterschiedlichen Forschungsfeldern auf der Basis der dokumentarischen Methode zu geben. Damit möchten wir zeigen, zu welch 8 9
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Vgl. dazu u.a. Nohl 2001 sowie Bohnsack/Nohl 2001b u. 2007 und den Beitrag von Bohnsack zur Typenbildung i. d. Band. Siehe dazu die Beiträge von Nohl, Nentwig-Gesemann und Bohnsack zur komparativen Analyse und Typenbildung i. d. Band.
unterschiedlichen Themen und auch Zwecken (von der Abschlussarbeit bis zum Forschungsprojekt) mit der dokumentarischen Methode geforscht werden kann, um auf diese Weise auch weitere Forschung anzuregen. Viele der im Folgenden erwähnten Studien lassen sich mehreren Gegenstandsbereichen und Disziplinen zuordnen, denn ihre empirischen Analysen sind – wie dies eben gerade typisch für die dokumentarische Methode ist – mehrdimensional angelegt und rekonstruieren daher die untersuchten Phänomene in unterschiedlichen Bezügen und Kontexten. Jugendforschung: Begonnen hat die neuere Entwicklung der dokumentarischen Methode in der Jugendforschung. Hier wurden in mehreren Jugendcliquen einer fränkischen Kleinstadt und umliegenden Dörfern bildungs-, geschlechts-, entwicklungs-, sozialraum- und generationsspezifische konjunktive Erfahrungsräume empirisch ausdifferenziert und typifiziert (Bohnsack 1989). In der Metropole Berlin erweiterte sich die Erforschung dieser zumeist tradierten Milieus um die Untersuchung neu gebildeter Milieus und Lebensformen (Bohnsack et al. 1995; Schäffer 1996; Wild 1996; Nohl 1996; Weller 2003 u. 2005; Gaffer 2001; Liell 2003; vgl. auch Matuschek 1999). Kindheitsforschung: Ein neueres Forschungsgebiet der dokumentarischen Methode stellt die Erforschung der (spielerischen und diskursiven) Praxis von Kindern dar (Nentwig-Gesemann/Klar 2002; Nentwig-Gesemann 2002 u. Nentwig-Gesemann 2006a), während frühpädagogischen Fragestellungen (Nentwig-Gesemann 1999 u. 2003) bereits früher nachgegangen wurde. Migrationsforschung: In weiteren Forschungsprojekten wurde der Überlagerung der Adoleszenz mit migrationsspezifischen Erfahrungsräumen inklusive ethnischer Marginalisierung Rechnung getragen (Nohl 1996; Bohnsack/Nohl 1998; 2000; 2001a-c; Nohl 2001a; Weller 2003; Nohl 2006c). Neuere Studien befassen sich indes mit der Verwertung kulturellen Kapitals durch hochqualifizierte Migrant(inn)en auf dem Arbeitsmarkt (Nohl/Schittenhelm/ Schmidtke/Weiß 2006; Henkelmann 2007a u. b; Demirci 2007), wobei auch entsandte Auslandsmitarbeiter/innen Berücksichtigung finden (Schondelmayer 2006 u. 2007). Geschlechterforschung: Die Überlappung geschlechts- und adoleszenzspezifischer Erfahrungsräume steht im Zentrum mehrerer Arbeiten zu Mädchen und jungen Frauen, ihren Freundschaftsbeziehungen (Breitenbach 2000 u. i. d. Band), ihrer Mediennutzung (Fritzsche 2001 u. i. d. Band) und ihrem Einstieg in den Beruf (Schittenhelm 2001, 2003 u. 2005). Unterschiedliche Gruppen von Männern waren dagegen Gegenstand eines Forschungsprojekts, in dem es vor allem um männliche Erfahrungsräume und den männlichen Habitus ging (vgl. auch Behnke/Meuser 1999). Empirisch ausdifferenziert
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werden konnten dabei das Bildungsmilieu (Loos 1999; Meuser 1998; Behnke 1997) und in ersten Ansätzen auch lebenszyklische Phasen (Loos 1999). Weitere Studien zum Thema Gender finden sich bei Behnke (1997); Meuser (1998); Behnke/Meuser (1999); Liebig (2000 u. i. d. Band); Breitenbach (2000, 2005 u. 2007); Bohnsack (2001e); Rudloff (2002) und Bohnsack/ Loos/Przyborski (2001). Organisationskultur- und Politikforschung: Die Arbeiten von Liebig sind auch im Bereich der Organisationskulturforschung anzusiedeln, in dem es ganz besonders darauf ankommt, zwischen den normativen Vorgaben der Institution und der handlungspraktischen, meist implizit bleibenden Alltagsund Arbeitswelt zu unterscheiden und letztere in den Mittelpunkt der empirischen Analyse zu stellen, wie dies auch Nentwig-Gesemann (1999; 2000; 2003) in ihrer Untersuchung zu Norm und Alltagspraxis der „Krippenerziehung in der DDR“ getan hat. Daneben sind zudem die Studien von Vogd (2003, 2004, 2006) zur Organisation Krankenhaus sowie von Mensching (2006a u. b) zu Hierarchien in der Polizei zu nennen. Auch für die Politikforschung bietet die dokumentarische Methode hier einen Zugang, indem sie jenseits der normativen Programmatik das Milieu etwa einer rechtsextremen Partei erkundet (Loos 1998) sowie Orientierungen von Jugendlichen im Bereich der Globalisierung (Asbrand 2006a u. b). Religionssoziologie und -pädagogik: Im Grenzbereich von politischer Soziologie und Religionssoziologie bewegt sich die dokumentarische Interpretation von Gruppendiskussionen mit Solidaritätsgruppen und ‚Dritte Welt’Initiativen, in denen moderne Formen der Religiosität in ihrem Zusammenhang mit vor allem milieuspezifischen Erfahrungshintergründen untersucht werden (Nuscheler/Gabriel/Keller/Treber 1995 u. Krüggeler/Büker/Dubach/ Eigel/Englberger/Friemel 2001 u. 2002). Religiöse Erfahrungen stehen auch im Mittelpunkt mehrerer Studien, die sich in der Religionspädagogik verorten lassen. Dabei geht es um die dokumentarische Interpretation außergewöhnlicher „pneumatischer Erlebnisse“ bei Heranwachsenden (Nestler 1998), wie auch um deren religiöse Alltagspraktiken (Schmid 1989). Einen neuen Zugang zur Religiosität von Kindern und gleichzeitig eine enge Verbindung von pädagogischer Praxis und empirischer Forschung suchen Hilger/Rothnagel (1997 u. 2000), die u.a. „Gottesbilder“ von Kindern untersuchen. Erziehungswissenschaft, Schul- und Sozialpädagogik: Die zuletzt genannten wie auch eine ganze Reihe bereits erwähnter Arbeiten (so etwa NentwigGesemann 2001; Nohl 2001a u. b, Breitenbach 2000; Kausträter 2001) bewegen sich, wie auch die Untersuchung von Kutscher (2001) zur Moral von Sozialpädagog(inn)en, im Bereich erziehungswissenschaftlicher und sozialpädagogischer Fragestellungen. Hier entstehen derzeit auch Studien, die im
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weiteren Kontext der pädagogischen Institution Schule angesiedelt sind: Die Bedeutung der Schulsozialarbeit im Erleben von Schülern und Schülerinnen ist Gegenstand der Forschung von Streblow (2005 u. 2006); Schelle (1995) untersucht die gesellschaftspolitischen Diskurse von Schülern; WegenerSpöhring (2000) analysiert Unterrichtsprotokolle von Sachunterrichtsstunden und fokussiert dabei die lebensweltlichen Interessen und Sichtweisen von Kindern und Wagner-Willi (2005 u. 2006a u. i. d. Band) rekonstruiert die Rituale, die den Übergang von der Gleichaltrigengruppe in den Unterricht im Klassenzimmer begleiten. Letztere Studie ist Teil eines größeren Forschungsprojekts, in dem die Konstitution von Vergemeinschaftungen im Ritual u.a. mit den Mitteln der dokumentarischen Methode analysiert wird (Wulf et al. 2001; Audehm/Zirfas 2000). Weitere Studien im Kontext der Schule finden sich bei Wiezorek (2005); Lähnemann (2006); Storr (2006); Asbrand (2006a u. b), von Rosenberg (2007a), Meyer-Hamme (2007) u. Kletschkowski (2007). Erziehungswissenschaftlich relevant, wenngleich außerhalb der Schule angesiedelt, ist die Forschung zu transformativen Bildungsprozessen von Nohl (Nohl 2001a u. b, 2006b), die weitere Untersuchungen angeregt hat (von Rosenberg 2007b; Sauer 2007). Medien- und Rezeptionsforschung: Der Umgang mit (neuen) Medien bzw. die Verwobenheit von Mensch und Medien ist Gegenstand der Forschung zu Medienpraxiskulturen in der Adoleszenz von Mädchen (Fritzsche 2003 u. i. d. Band) bzw. in unterschiedlichen Bildungsmilieus und Generationen (Schäffer 2001c, 2003a u. i. d. Band). Auch finden sich Studien zur Bildbetrachtung (Michel 2001 u. i. d. Band) bzw. zur Erzeugung von Bildern (Hilger/Rothnagel 2000). Wissenschaftssoziologie: Generationen als Phänomene der Spannung von in je unterschiedlichen Lebensaltern erlebter gemeinsamer Zeitgeschichte sind auch Gegenstand einer wissenschaftssoziologischen Untersuchung, in der Sparschuh (2001) vier Generationen innerhalb der Soziologenschaft der DDR mit den Mitteln der dokumentarischen Methode herausarbeitet (vgl. auch Sparschuh 2006). Die Entwicklungsgeschichte der Informatik ist dagegen Gegenstand der Studien von Siefkes et al. 1998, Städtler (1998), Braun (1998) und vor allem von Stach (2001). Weitere Forschungsgebiete: Integrationspädagogik (Wagner-Willi 2002 u. 2006), Kunstpädagogik (Sabisch 2007 u. Kleynen 2007), Polizeiforschung (Mensching 2006a u. 2006b), die Leistungs- und Werteforschung (Honneth/ Neckel 2002; Dröge/Neckel/Somm 2006); Medizin (Klambeck 2006) und Medizinsoziologie (Vogd 2002, 2004, 2005, 2006a), Ritualforschung (u.a. Wulf et al. 2001; Wagner-Willi 2001, 2005 u. 2006; Bohnsack 2003b; Nentwig-Gesemann 2007), Marktforschung (Bohnsack 2007b u. Bohnsack/Przy-
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borski 2007) und Existenzgründungsforschung (Fritzsche/Nohl/Schondelmayer 2006, Sauer 2007).
3. Die dokumentarische Interpretation unterschiedlicher empirischer Daten Wenngleich die Entstehung der dokumentarischen Methode in ihrer neueren Fassung sehr eng mit der Auswertung von Gruppendiskussionen verknüpft ist, lassen sich auch empirische Daten, die mit anderen Erhebungsmethoden generiert wurden, dokumentarisch interpretieren. Wir möchten in diesem Abschnitt die Bandbreite empirischer Daten aufzeigen, die mit der dokumentarischen Methode ausgewertet werden können, wobei wir nur auf solche Publikationen Bezug nehmen, die sich insbesondere auch der Methodologie und Forschungspraxis widmen.10 Gruppendiskussionen und Gesprächsanalysen: Analysen in diesem Bereich sind mittlerweile recht weit fortgeschritten. Neben Versuchen, Gruppendiskussionen zu videographieren und auch das visuelle Material in die Rekonstruktion einzubeziehen (Nentwig-Gesemann 2006a), finden sich hier insbesondere Arbeiten zur formalen Struktur von Gesprächen (Przyborski 2004; Bohnsack/Przyborski 2006) sowie zur Analyse von Familiengesprächen (Bohnsack 2007a, Kap. 12.2). Die Anwendung von Gruppendiskussionen in unterschiedlichen Disziplinen wie auch methodische und methodologische Aspekte werden in einem Sammelband (Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2006) diskutiert. Teilnehmende Beobachtung: Bei der Analyse von Beobachtungsprotokollen ist die dokumentarische Methode (wie andere Ansätze auch) mit dem Problem konfrontiert, die Handlungspraxis der Beobachteten nur vermittelt über die Perspektivität der Beobachtenden rekonstruieren zu können. Gleichwohl bietet die teilnehmende Beobachtung wichtige Einblicke in nonverbale, stilistische und visuelle Momente der Handlungspraxis (Bohnsack et al. 1995; Vogd 2004 u. 2006a u. 2006b). Bild- und Videointerpretation: Neue methodische Wege eröffnen sich in der dokumentarischen Interpretation von Bild- und Videomaterial. Dabei dient 10
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Insbesondere in der dokumentarischen Interpretation von narrativen Interviews, von Videos und von Beobachtungsprotokollen und im Bereich der Evaluationsforschung sind nach dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches wichtige Fortschritte gemacht worden, die leider in den Beiträgen dieses Sammelbands nicht berücksichtigt werden konnten.
die Videoaufzeichnung von Übergangsritualen (Wagner-Willi 2001) oder von Gesprächen bzw. Spielsituationen unter Kindern (Nentwig-Gesemann 2002; 2006a) der Optimierung von teilnehmender Beobachtung, ohne dabei aber die Möglichkeiten der Kamera zu überschätzen oder die erkenntnistheoretische Differenz von Bild und Text zu negieren. Dieser Differenz lässt sich einerseits Rechnung tragen, wenn man sie als Forschende selbst zu überbrücken und visuelles Material anhand von Bildern bzw. Fotos (Bohnsack 2003b u.d; 2005c; 2006d; 2007a, Kap. 9 u. 12.4; 2007c u. i. d. Band; NentwigGesemann 2006b u. 2007) oder Filmen (Schäffer 2001b) dokumentarisch zu interpretieren versucht oder das Verhältnis von Bild und Text selbst zum Gegenstand der dokumentarischen Interpretation nimmt (Sabisch 2007). Darüber hinaus können auch die Bildbetrachtung (Michel 2001 u. i. d. Band) bzw. die Bilderzeugung (Hilger/Rothnagel 2000) selbst erforscht werden. Die Bildinterpretation ist auch Ausgangspunkt der Analyse von Videomaterial, bei dem es darauf ankommt, der Simultaneität des Einzelbildes und der Sequenzialität des Films in der Analyse gleichermaßen Rechnung zu tragen (Wagner-Willi 2004 u. 2005; Klambeck 2006; Bohnsack 2008). Narrative Interviews: In seinen Ausprägungen als biographisches bzw. Leitfaden-Interview ist das narrative Interview (vgl. Schütze 1983) eine geeignete Methode, um die Erfahrungen und Orientierungen von Einzelpersonen zu erheben. Mithilfe der dokumentarischen Methode und vor allem der komparativen Sequenzanalyse lassen sich dann aber auch einzelfallübergreifende (kollektive) Erfahrungen und Orientierungen rekonstruieren, die in ihrer Mehrdimensionalität typisierbar sind (Nohl 2005 u. 2006a, Nohl/Radvan 2007). Triangulation unterschiedlicher Erhebungsmethoden: Schon in den frühen Studien wurden neben Gruppendiskussionen auch biographische Interviews und Beobachtungsprotokolle triangulierend ausgewertet (u.a. Bohnsack et al. 1995). Kennzeichen dieser Triangulation von Erhebungsverfahren ist ihre Fundierung in einer übergreifenden Auswertungsmethode (Maschke/Schittenhelm 2005). In der Kombination mit dem hypothesenüberprüfenden, quantitativen Forschungsparadigma ergeben sich neue Perspektiven: Hier werden quantitative Untersuchungen genutzt, um zentrale Untersuchungsgegenstände zu identifizieren, die dann einer genaueren – dokumentarischen – Interpretation anhand qualitativer Daten unterzogen werden (Pfaff 2006). Evaluationsforschung: Alle genannten Formen empirischer Daten werden nicht nur für die Grundlagenforschung, sondern auch für die empirische Evaluationsforschung herangezogen. Dabei berücksichtigt die dokumentarische Evaluationsforschung (Bohnsack 2006a, Bohnsack/Nentwig-Gesemann 2006; Nentwig-Gesemann/Bohnsack 2005; Nentwig-Gesemann 2006; Vogd 21
2006a sowie die Beiträge in: Bohnsack/Nentwig-Gesemann 2007) insbesondere die Werthaltungen, die in die Praxis der Akteure, Stakeholder und Nutznießer/innen von Projekten und Programmen eingelassen sind und macht diese zum Gegenstand eines kommunikativen Prozesses.
4. Überblick über die Beiträge in diesem Band Der Band wird mit zwei Beiträgen eröffnet, in denen die besonders ertragreiche Anwendung der dokumentarischen Methode im Bereich der Erforschung von Medien- bzw. Techniknutzung deutlich wird. Sowohl Burkhard Schäffer als auch Bettina Fritzsche widmen sich – auf der Grundlage in dokumentarischer Interpretation ausgewerteter Gruppendiskussionen und biographischnarrativer Interviews – der Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem alltagspraktischen Umgang mit Medien und milieuspezifischen bzw. lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhängen. Bettina Fritzsche sieht die Mediennutzungsforschung angesichts der zunehmenden medialen Durchdringung des Alltags vor besondere Herausforderungen gestellt: Es gilt, die Einbettung von Medien in die Alltagskultur bzw. deren Bedeutung für die Herausbildung alltagskultureller Praktiken zu erfassen. Die sich daraus ergebenden methodischen Konsequenzen diskutiert Fritzsche anhand einer Reanalyse verschiedener Ansätze der qualitativen Forschung zur Mediennutzung, so etwa der Cultural Studies. Am Beispiel einer eigenen Untersuchung zur Fan-Kultur von jugendlichen Mädchen stellt sie die dokumentarische Methode mit ihrer praxeologischen Fundierung sowie der ihr eigenen Perspektive auf Erfahrungshintergrund und Orientierungen der Untersuchten als Möglichkeit vor, die Nutzung von Medien sowohl in ihrer alltagspraktischen als auch lebensgeschichtlichen Bedeutung zu analysieren und damit den verengten Blick auf die Mediennutzung als isolierten Vorgang zu vermeiden. Die dokumentarische Methode bietet hier insofern einen zentralen analytischen Gewinn, als bestimmte Mediennutzungsstrategien nicht simplifizierend auf eine Erfahrungsdimension, bspw. das Geschlecht, zurückgeführt, sondern durch die Überlagerung von verschiedenen Erfahrungsdimensionen erklärt werden. Burkhard Schäffer schlägt in seinem Beitrag insofern eine Erweiterung der dokumentarischen Methode vor, als er die Funktionalität medientechnischer Dinge innerhalb konjunktiver Erfahrungsräume betont. Ausgehend von dem empirischen Befund, dass generationsspezifisch unterschiedlichen Formen des habituellen Handelns mit Technik eine unterschiedliche Verbundenheit mit der Welt medientechnischer Dinge zugrunde liegt, entfaltet er unter Bezug auf Mannheim eine Perspektive, die die „Kontagion“, also die ‚Berührung‘ mit den technischen Dingen in den Vordergrund rückt. Unter Bezug22
nahme auf techniksoziologische und philosophische Theoriestränge arbeitet er heraus, dass habituelles Handeln mit Technik innerhalb generationsspezifischer konjunktiver Erfahrungsräume als dasjenige von generationsspezifischen „Hybridakteuren“ im Sinne von Latour zu konzipieren ist. Die Beiträge zu Bild- und Videointerpretationen im nächsten Kapitel verdeutlichen in besonderer Weise das mit der dokumentarischen Methode verbundene innovative methodische Potenzial. Die neuere Anwendung der Methode bei der Interpretation von Bildern, Photos und Videoaufzeichnungen sowie die damit verknüpften methodologischen Reflexionen sind Themen der Beiträge von Ralf Bohnsack, Burkard Michel und Monika WagnerWilli. Zentrale Bedeutung kommt dabei methodischen Perspektiven zu, die sich für rekonstruktive Forschung auch im Sinne einer Methodentriangulation ergeben. Ralf Bohnsack geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Art von Sinnhaftigkeit nur durch das Bild – und nicht durch den Text – zu vermitteln ist. Dabei wird zunächst herausgearbeitet, dass die von Panofsky entworfene ikonographisch-ikonologische Methode, welche in der Kunstgeschichte die wohl prominenteste Methodologie der Bildinterpretation darstellt, in ihren wesentlichen Grundprinzipien der dokumentarischen Methode folgt bzw. mit dieser übereinstimmt. Panofsky hatte bereits 1932 auf die dokumentarische Methode und die Arbeiten von Mannheim Bezug genommen. Zugleich werden – auf dem Hintergrund der dokumentarischen Methode sowie von Max Imdahls Arbeiten zur Ikonik – aber auch die Grenzen der ikonographischikonologischen Methode sichtbar, die das Spezifische der Bildhaftigkeit (im Unterschied zum Text) nicht zu erfassen vermag. In Anlehnung an die Arbeiten von Imdahl entwirft und begründet Bohnsack eine dem Medium der Bildhaftigkeit adäquate Fortentwicklung der dokumentarischen Methode. Forschungspraktisch umgesetzt wird dieser Entwurf am Ende dieses Bandes in einer exemplarischen Bildinterpretation auf der Basis der dokumentarischen Methode, die eine Werbefotografie der Zigarettenmarke „West“ zum Gegenstand hat. Auch Burkard Michel knüpft an das Modell bzw. das begriffliche Instrumentarium von Panofsky in dessen Übereinstimmungen mit der dokumentarischen Methode an. Angehörigen unterschiedlicher Milieus werden dieselben Fotografien als Grundreize für Gruppendiskussionen vorgelegt. Michel betrachtet Fotos im Sinne von Eco als „Ersatzreize“, die einerseits in einer Ähnlichkeitsbeziehung zur abgebildeten Wirklichkeit stehen, andererseits aber visuelle Texte darstellen, deren Sinn in der Interaktion mit den Rezipierenden erst gebildet wird. Michel nimmt dabei an, dass insbesondere kollektive und präreflexive Prägungen bzw. Orientierungsrahmen des Habitus die Sinnbildungsprozesse beeinflussen. Im Rahmen seiner empirischen Forschung benutzt er Fotografien als Grundreize für Gruppendiskussionen und rekonstruiert auf dieser Grundlage Rezeptionsprozesse. Dabei gelingt es
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ihm, die Sinnbildung als Interaktion von Bild und Rezipierenden in actu nachzuzeichnen und zu interpretieren. Da die Analyse der Gruppendiskurse in dokumentarischer Perspektive erfolgt, kann man von einer Überlagerung der Interpretationsebenen sprechen: Die Gruppenmitglieder produzieren in der Auseinandersetzung mit den Bildern auf vor-ikonographischer Ebene den Phänomensinn, auf ikonographischer Ebene den Bedeutungssinn und auf ikonologischer Ebene den Dokumentsinn. Alle drei Rezeptionsebenen werden wiederum auf einer zweiten Interpretationsebene durch den Forscher auf ihren dokumentarischen Sinngehalt hin befragt. Monika Wagner-Willi eröffnet mit ihrem Beitrag Einblicke in das methodische Vorgehen und in erste Ergebnisse einer empirischen Studie zu Ritualen und Ritualisierungen des Übergangs im Schulalltag. Im Rahmen dieser Untersuchung wurden neben Gruppendiskussionen auch Videoaufzeichnungen im Klassenraum gewonnen und analysiert, wobei die performativen, nonverbal expressiven und wirklichkeitskonstitutiven sozialen Prozesse – insbesondere während der ‚liminalen‘ Situationen – im Fokus des Interesses liegen. Da mit der Analyse von Performativität eine „genetische Einstellung“ verbunden ist, d.h. eine Analyseeinstellung, die das Wie der Herstellung schulisch-ritueller Prozesse von Seiten der beteiligten Schüler und Lehrer ins Zentrum rückt, erweist sich die dokumentarische Methode hier als in besonderer Weise geeignet. Die methodische Reflexion des Verfahrens der videogestützten Beobachtung und der dokumentarischen Interpretation des empirischen Materials stellt auch insofern einen bedeutsamen Beitrag dar, als der zunehmende Einsatz von Videomaterial in den Sozialwissenschaften bislang kaum methodisch bzw. methodologisch reflektiert und diskutiert wird. Das folgende Kapitel enthält einen Beitrag von Brigitte Liebig, der an der Schnittstelle zwischen Organisationskultur- und Geschlechterforschung zu verorten ist. Liebig zeigt zunächst auf, dass differenzierte methodologische Ansätze und Methoden Voraussetzung für die rekonstruktive Analyse von Organisationskulturen sind. Im Anschluss an dieses Desiderat wird die dokumentarische Methode am Beispiel einer eigenen empirischen Untersuchung als analytisches Verfahren vorgestellt, mit dem es gelingt, das ‚Tacit Knowledge‘ – hier von Kadern des mittleren Managements aus Unternehmen verschiedener Branchen des Industrie- und Dienstleistungsbereichs in der Schweiz – in seiner sozialen und situativen Bedingtheit zu rekonstruieren und als Ergebnis milieuspezifischer Erfahrungszusammenhänge und kollektiver Handlungspraxis zu betrachten. Dabei gilt Liebigs Interesse der Beziehung zwischen einer weiblichen und männlichen Unternehmensführung bzw. Management- bzw. Unternehmenskultur in ihrer Bedeutung für Karrierechancen von Frauen. Neben der Identifikation spezifischer kultureller Merkmale weiblich oder männlich geführter Unternehmen geht es auch um die Frage, unter welchen Bedingungen sich Subkulturen der Geschlechter formieren.
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Im Kapitel zur Jugend- und Geschlechterforschung – Gegenstandsbereiche, in denen die dokumentarische Methode bereits breite Anwendung gefunden hat – finden sich zwei Beiträge. Eva Breitenbach untersucht in ihrem Beitrag den Zusammenhang von Geschlecht und Jugend und verbindet dabei konstruktivistische mit sozialisationstheoretischen Zugängen auf der Basis der dokumentarischen Methode. Rekonstruiert wird die Kultur der Beziehungen und Freundschaften zu Gleichaltrigen in der Adoleszenz, wobei Mädchen im Zentrum stehen. Geschlecht und Jugend werden sowohl als Existenz- als auch als Darstellungsweise verstanden. Damit gelingt es, das Spannungsfeld zwischen kollektiven Inszenierungen mit experimentellem Charakter und einem an diese anknüpfenden allmählichen Habitualisierungsprozess empirisch zu beleuchten. Yvonne Gaffer und Christoph Liell nehmen die spezifische Art der kollektiven Praxis von männlichen Jugendlichen in den Blick und formulieren auf dieser Grundlage handlungstheoretische Aspekte der dokumentarischen Methode, die konventionelle Handlungsmodelle kritisch beleuchten: Durch die Verengung herkömmlicher Handlungstheorien auf Modelle zweckrationalen Handelns sind deren Analysen kollektiver, gewaltförmiger und ästhetischer aktionistischer Praktiken von Jugendlichen enge Grenzen gesetzt. Das im Rahmen der dokumentarischen Methode empirisch generierte Konzept des Aktionismus erweitert den auf habitualisiertem Handeln liegenden Fokus um die Ebene des spontanen Handelns. Erst die praxeologische Wendung der Wissenssoziologie ermöglicht es, diese jugendlichen Praktiken und ihre Bedeutung für die kollektive Einbindung der Akteure und die Ausbildung biographisch relevanter Orientierungen zu rekonstruieren. Das folgende Kapitel ist der Verbindung zwischen dokumentarischer Methode und Habitusrekonstruktion gewidmet. In seinem Beitrag zeigt Michael Meuser, dass mittels der dokumentarischen Methode das Bourdieu’sche Habituskonzept im Sinne einer stringent wissenssoziologisch basierten rekonstruktiven Methodologie verwendet werden kann. Bourdieus habitustheoretische Sozialstrukturanalyse stellt eine wissenssoziologische Auflösung der falschen Opposition von Mikro- und Makrosoziologie dar. Meuser erläutert mit Bezug auf den Habitusbegriff selbst und mit Bezug auf die Konzeption des praktischen Verstehens, in welcher Hinsicht Bourdieus Theorie zentralen Annahmen der Mannheim’schen Wissenssoziologie entspricht und das von Bourdieu formulierte Programm mit rekonstruktiven Verfahren umgesetzt werden kann. Dabei werden zugleich auch die Grenzen der Bourdieu’schen Analyse und Empirie sichtbar: Zum einen erscheint es notwendig, die Bourdieu’sche Soziologie rekonstruktiv ‚anzureichern‘, zum anderen stellt deren Konzeptualisierung des praktischen Verstehens als eines inkorporierten Aktes aber auch eine Herausforderung für die rekonstruktive Methodologie dar.
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Das Kapitel zur komparativen Analyse und Typenbildung vereint Beiträge, die sich mit den zentralen methodischen und methodologisch-theoretischen Aspekten der dokumentarischen Methode auseinandersetzen. Ralf Bohnsack erläutert die Grundprinzipien einer mehrdimensionalen soziogenetischen Typenbildung anhand einer Untersuchung über jugendliche Migrant(inn)en türkischer Herkunft und kann auf diese Weise die Spezifizierungen und die Möglichkeiten der Generalisierung einer ‚Migrationstypik` im Sinne ihrer Überlagerung durch die Milieu-, Bildungs-, Geschlechts-, Entwicklungs- (Adoleszenz-) Typik sowie die Generationstypik exemplarisch aufweisen. Insgesamt lässt sich die Typenbildung auf Grundlage der dokumentarischen Methode als eine praxeologische Typenbildung verstehen, die als eine ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘ einen ‚Bruch mit dem Common Sense‘ voraussetzt und sich somit in ihrer Analyseeinstellung von den Typenbildungen des Common Sense (nach Art der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz) klar abgrenzen lässt. Eine der wesentlichen Voraussetzungen der Typenbildung im Sinne der dokumentarischen Methode stellt die komparative Analyse dar. Deren Grundprinzipien stehen im Zentrum des Beitrages von Arnd-Michael Nohl. Seine Rekonstruktion komparatistischer Forschungspraxis beruht auf mehreren empirischen Studien im Bereich der Jugend- und Migrationsforschung; seine methodologischen Reflexionen zur Vergleichspraxis knüpfen an die Arbeiten von Matthes, Glaser/Strauss, Bohnsack und Luhmann an. In seinem Beitrag werden zunächst drei Ebenen der Suche nach Vergleichsfällen differenziert. Im Anschluss daran werden in einer detaillierten Rekonstruktion des Forschungsprozesses von der fallinternen Sequenzanalyse über den Fallvergleich bis hin zur Typenbildung der Wechsel und die stetige Abstrahierung des ‚Tertium Comparationis‘, des den Vergleich strukturierenden gemeinsamen Dritten, nachgezeichnet. Dabei stellt die Tatsache, dass im Zuge des Vergleichens das ‚Tertium Comparationis‘ unsichtbar bleibt, ein wichtiges und letztendlich nicht lösbares, sondern nur methodisch kontrollierbares Problem dar. Der Beitrag zeigt abschließend, wie die Fälle und Typiken einer Untersuchung miteinander verknüpft, d.h. relationiert werden können. Auf der Grundlage einer Unterscheidung verschiedener typenbildender Verfahren und der sich daraus ergebenden Strukturunterschiede der jeweiligen Typologien arbeitet Iris Nentwig-Gesemann schließlich die spezifische Art der Mehrdimensionalität der praxeologischen Typenbildung heraus. So geht es darum zu zeigen, dass die im Rahmen einer abduktiven Vorgehensweise generierten Typiken nicht einzelne Fälle, sondern konjunktive Erfahrungsräume voneinander unterscheiden und damit ermöglichen, nicht nur die Sinn-, sondern auch die Soziogenese von Orientierungen zu rekonstruieren. Am Beispiel einer empirischen Untersuchung über Krippenerziehung in der DDR wird schließlich der Prozess der sinn- und soziogenetischen Typenbildung im Rahmen der dokumentarischen Methode demonstriert.
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In einem den Band abschließenden Kapitel werden zentrale Arbeitsschritte der dokumentarischen Methode exemplarisch dargestellt. Damit wird zum einen ein intensiver Einblick in das forschungspraktische Vorgehen gewährt. Zugleich werden damit den Lesern konkrete Anregungen und Anknüpfungspunkte für eigene empirische Arbeiten gegeben. In ihrem Forschungsbeispiel unterziehen Ralf Bohnsack und Arnd-Michael Nohl eine Passage aus einer Gruppendiskussion mit männlichen Jugendlichen türkischer Herkunft einer eingehenden formulierenden und reflektierenden Interpretation. Dabei legen sie besonderes Gewicht auf die sequenzanalytische Vorgehensweise. Auch das Forschungsbeispiel von Ralf Bohnsack und Burkhard Schäffer ist im Bereich der Textinterpretation angesiedelt. Ihre formulierende und reflektierende Interpretation beleuchtet insbesondere die Diskursorganisation innerhalb einer Gruppendiskussion mit jungen Männern türkischer Herkunft. Mit seiner Bildinterpretation „Heidi“ zeigt Ralf Bohnsack exemplarisch die Auswertungsschritte der vorikonographischen und ikonographischen Interpretation, der Rekonstruktion der formalen Komposition des Bildes und der ikonologischen bzw. ikonischen (dokumentarischen) Interpretation.
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Bettina Fritzsche
Mediennutzung im Kontext kultureller Praktiken als Herausforderung an die qualitative Forschung INTERVIEWERIN: Okay, Antje, dann erzähl mir doch mal bitte über dich und deine Stars, wie-wie war denn das damals, äh, als du anfingst, dich für Stars zu interessieren und wie hat sich das dann entwickelt bis heute? ANTJE: Ja also, am Anfang war das so irgendwie dass ich ehm, so verrückt war, von jedem irgendwas gesammelt hab, egal obs son kleiner, ob-, ob man das gar=nicht erkennt, Hauptsache ich hatte irgendwas. Naja und dann hat man immer mit Freundinnen so geguckt wer mehr hat und dann immer so ausgetauscht und, also das ging immer hin und her und dann hat man immer gefragt, welche Geschichten sie hat und wenn sie die hatte, und sie doppelt hatte, dann ham wir immer getauscht und so, also es ging immer hin und her.
In der Geschichte ihrer Entwicklung zum Fan geht die 12-jährige Antje überraschend wenig auf das von der Interviewerin angesprochene ‚Interesse für Stars‘ ein. Weder erwähnt sie bestimmte Stars noch spricht sie über ihre Beziehung zu diesen. Stattdessen beschreibt Antje ihre ‚verrückte‘ Anfangsphase als Fan, die durch obsessives Sammeln von ‚Geschichten‘ sowie Praktiken des Tauschens mit einem oder mehreren anderen Mädchen gekennzeichnet ist. Während in der Frage ihr Verhältnis zu Medienstars angesprochen wurde, schildert Antje ihr Verhältnis zu anderen Mädchen sowie die gemeinsam mit diesen verfolgten Praktiken. Das sich in diesem Interviewausschnitt manifestierende ‚Missverständnis‘ zwischen Forscherin und Interviewpartnerin lässt meines Erachtens einige Rückschlüsse über die Anforderungen zu, denen eine Forschung zur Mediennutzung in einer ‚mediengesättigten‘ Welt gegenübersteht. War es zu Zeiten der ‚radio days‘1 noch üblich, sich andächtig lauschend um das Medium herumzugruppieren, so lernen wir heute den neuen Hit von REM beim Einkaufen im Supermarkt kennen und können beim Warten auf den Zug in der Bahnhofshalle ein aktuelles Fußballspiel verfolgen. Weder ist eindeutig, welche Situation eine Rezeptionssituation ist, noch, wer wann als RezipientIn betrachtet werden kann. Ebenso wenig ist klar benennbar, was sich als Medienprodukt bezeichnen lässt. Wurde bereits Ende der achtziger Jahre von ‚Batman‘ als dem ‚Film zum T-Shirt‘ gesprochen, so lassen sich heute Phänomene wie die Pokémons am ehesten als ‚Medien-Arrangement‘ (Bachmair 1996, 19) beschreiben, das neben dem TV-Film auch Computerspiele, Zeit1
Vgl. den gleichnamigen Film von Woody Allen (1986).
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schriften und Sammelkärtchen umfasst. Fällt das Sammeln von PokémonKarten oder Antjes Tauschen von ‚Geschichten‘ über Pop-Stars noch in den Zuständigkeitsbereich einer ‚Rezeptionsforschung‘? Umgekehrt macht Antjes Schilderung ihres Verhältnisses zum Medienphänomen ‚Star‘ deutlich, dass auch auf Seiten der MediennutzerInnen ihre Bezugnahme auf Medien nicht notwendig als ‚Rezeption‘ im Sinne einer konzentrierten Auseinandersetzung mit einem spezifischen Medium verstanden wird. Eher erscheinen die Medien hier als einer unter anderen Referenzpunkten bestimmter Praktiken. Weitergehend lässt sich die These aufstellen, dass in diesem Fall die Mediennutzung sich erst durch die geschilderten Praktiken als sinnvoll begreifen lässt und nicht umgekehrt der mediale Bezug den Praktiken einen Sinn verleiht. Ich werde im Folgenden der Frage nachgehen, wie es möglich ist, die Bedeutung von Medien in ihrer Einbindung in bestimmte Alltagspraktiken theoretisch und empirisch zu untersuchen. Hierzu stelle ich zunächst dar, wie diese Problematik in verschiedenen Ansätzen zur Analyse der Mediennutzung behandelt wird. In einem zweiten Teil gehe ich ausführlicher auf die Cultural Studies ein, die Mediennutzung explizit als Bestandteil von Alltagskultur in den Blick nehmen. In Auseinandersetzung mit diesen Forschungsrichtungen lassen sich bestimmte Schlussfolgerungen bezüglich methodischer Ansprüche an eine Analyse zeitgenössischer ‚Mediennutzungspraktiken‘ formulieren. Diese beziehen sich auf die Berücksichtigung des Kontextes der Rezeptionssituation in der Forschung, des Weiteren auf die Möglichkeiten einer differenzierten Untersuchung der Differenzen zwischen den MediennutzerInnen und zum Dritten auf die Notwendigkeit, die Subjektivität der Forschenden im Analyseprozess angemessen zu reflektieren. Im letzten Teil werde ich die dokumentarische Methode als einen möglichen Weg darstellen, diesen Ansprüchen nachzukommen.
1. Aktive RezipientInnen und Integration der Medien in den Alltag: qualitative Ansätze zur Mediennutzung Eine Emanzipation von der im deutschsprachigen Raum bis in die achtziger Jahre vorherrschenden Theoretisierung der Medienrezeption im Sinne einer einseitigen Wirkung der Medien auf ihre RezipientInnen konnte insbesondere dank der Entwicklung einer qualitativen Medienforschung erfolgen (Aufenanger 1995, 221).2 Stefan Aufenanger (ebd., 225) benennt verschiedene gemeinsame Leitlinien der Ansätze qualitativer Medienforschung: Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass Mediennutzung und Rezeptionssituation in 2
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Zur Kritik an der Medienwirkungsforschung vgl. bspw. Vogelgesang 1991, 81 ff.
soziale Interaktionen eingebettet seien und selbst als eine Handlungssituation gesehen werden müssen. Darüber hinaus vertreten sie eine Perspektive auf die RezipientInnen als aktive Subjekte und beanspruchen, im Forschungsprozess den Umstand zu berücksichtigen, dass die Medien Teil einer komplexen Lebenswelt seien. Ein in der deutschsprachigen Diskussion richtungsweisendes Modell in diesem Kontext ist die von der Arbeitsgruppe um Michael Charlton und Klaus Neumann-Braun entwickelte strukturanalytische Rezeptionsforschung. Die Autoren charakterisieren Massenkommunikation als soziales Handeln und betrachten Rezeption als abhängig von ihrem aktuellen Kontext sowie den Bedürfnissen der RezipientInnen und deren kognitiver und sozialer Kompetenz (Charlton 1997, 23). Als integraler Bestandteil des Rezeptionsprozesses werden dabei die ‚handlungsleitenden Themen‘ der RezipientInnen gefasst, die sowohl die Auswahl als auch das Verständnis des Medienangebotes mitbeeinflussen.3 Diese leiten sich ab von Entwicklungsaufgaben, kritischen Lebensereignissen und Orientierungen der Einzelnen. Methodisch bedient sich die strukturanalytische Rezeptionsforschung rekonstruktiver Verfahren, wobei sie sich insbesondere auf die strukturale (bzw. objektive) Hermeneutik bezieht. Die rekonstruktive Methode wird hierbei als geeignetes Mittel betrachtet, die Rezeptionshandlung nicht aus Kausalgesetzen heraus zu erklären, sondern stattdessen unter Bezug auf die Kompetenz der Akteure zu rekonstruieren. Zentrales Forschungsziel ist die Suche nach den Regeln, nach denen Menschen „konstruktiv-realitätsverarbeitend“ mit den Medien umgehen (Neumann-Braun/Schneider 1993, 197). Ungeachtet der Fruchtbarkeit des Ansatzes bezüglich dieser Fragestellung kann er über die oben beschriebenen Praktiken etwa des Sammelns und Tauschens jedoch meines Erachtens nur bedingt Aufschluss geben, da er den Fokus auf die Rezeptionssituation und die Aneignung von Medienbotschaften legt. Idealerweise wird die Forschung zur Mediennutzung hierbei mit einer Produktanalyse verbunden, deren Resultate den ‚subjektiven‘ Interpretationen der RezipientInnen gegenübergestellt werden (Neumann-Braun/Schneider 1993). Die „objektive Sinnstruktur des Medienprodukts“ wird beschrieben als „Lesart, die ein durchschnittlicher Erwachsener in der Beschäftigung mit dem Angebot von diesem entwickelt“ (ebd., 197). Abgesehen von der sich aufdrängenden Frage, nach welchen Kriterien die Durchschnittlichkeit dieses Erwachsenen bemessen wird, dient die Konstruktion der ‚objektiven‘ Sinnstruktur eines Mediums hier als Interpretationsfolie für die ‚subjektive‘ Mediennutzung, wodurch meines Erachtens die Praktiken, die mit dieser einhergehen, nicht in ihrer Selbstläufigkeit und Eigenständigkeit erfasst werden können.4 3 4
Der Themenbegriff geht auf Bachmair 1979 zurück, vgl. hierzu Götz 1999, 15. Auch Götz (1999, 18) weist darauf hin, dass die strukturanalytische Rezeptionsforschung lediglich die gezielte Rezeption im Blick hat, nicht jedoch die beiläufige. Zur Kritik an der Konzeption einer ‚objektiven Sinnstruktur’ eines Medienproduktes vgl. auch Mikos 1998.
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Die verschiedenen Arbeiten von Ben Bachmair und dessen MitarbeiterInnen, die wie die strukturanalytische Rezeptionsforschung von Michael Charlton unter der Kategorie ‚handlungstheoretische Rezeptionsforschung‘ eingeordnet werden (Charlton 1997, 22), thematisierten ebenso frühzeitig wie konsequent die Integration von Medien in den Alltag. Bereits 1984 empfahl Bachmair, einen empirischen Zugang zur Rezeption nicht auf die Rezeptionssituation selbst zu beschränken, sondern stattdessen mittels einer Beobachtung von Alltagssituationen zu erforschen, in welcher Funktion Medienerlebnisse dort auftauchen (Bachmair 1984, 11). In den zu dieser Fragestellung entstandenen empirischen Untersuchungen wurden verschiedene methodische Zugänge gewählt und unter anderem auch das Phänomen der Medien-Arrangements am Beispiel von Wrestling (Bachmair/Kress 1996) in den Blick genommen. Gerade in dieser Studie werden auch Praktiken wie der Besuch von LifeEvents oder das Schreiben von Fan-Post berücksichtigt, die zwar durch die Rezeption initiiert wurden, von einer reinen ‚Rezeptionsforschung‘ jedoch nicht erfasst werden können. Es handelt sich insofern um eine Forschungsrichtung, die sowohl den „Konsumaspekt der Massenkommunikation“ (Bachmair 1993, 51) als auch die Möglichkeit einer Funktionalisierung von Medienerlebnissen im Dienste alltagsrelevanter Themen (wie der Interaktion in der Peergroup) berücksichtigt. Das zentrale Forschungsinteresse bezieht sich hierbei auf die Identifikation von ‚Medienspuren‘ (ebd., 49) oder auch der Verbindung von Handlungsmustern mit Medienerlebnissen und ‚Mediensymbolik‘ (Bachmair 1990, 72). Eine solche Sichtweise setzt implizit voraus, dass Praktiken wie die eingangs beschriebenen erst im Rahmen der Medienrezeption eine Bedeutung erhalten. Ich möchte jedoch weitergehend danach fragen, wie es möglich ist, diese Praktiken in ihrer Verselbstständigung gegenüber der Mediennutzungssituation und in Bezug auf die ihnen eigene Sinnhaftigkeit zu analysieren. In diesem Zusammenhang erscheint mir der Ansatz Rainer Winters hilfreich, der auf die Notwendigkeit verweist, die Medienaneignung in ihrer kulturellen Einbettung zu berücksichtigen (vgl. Winter 1993, 67). Als einen Forschungsbereich, der die Medienkommunikation insbesondere hinsichtlich ihrer kulturellen Dimension und ihrer Integration in sozial strukturierte Kontexte in den Blick nimmt, benennt Winter die Cultural Studies in der Tradition des Birmingham Centres for Contemporary Cultural Studies.5
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Neben dem Kulturkonzept von Clifford Geertz sind die Cultural Studies auch entscheidender theoretischer Bezugspunkt in Winters eigener Forschung zur ‚Medienspezialkultur‘ der Fans von Horror-Videos (vgl. Winter 1995).
2. ‚Popular culture‘ und ‚diffused audiences‘: Die Cultural Studies Der Ansatz der Cultural Studies versteht sich ebenso als Kulturanalyse wie als Kulturkritik, wobei Kultur nicht als in sich statisches oder isoliertes System betrachtet wird, sondern als widersprüchlicher und umkämpfter dynamischer Kontext, der immer auch von Machtverhältnissen strukturiert ist. Kultur umfasst nicht nur bestimmte Objekte, Produkte oder Wissensbestände, sondern zieht sich auch durch sämtliche soziale Praktiken.6 Eine in diesem Sinne verstandene Kulturanalyse kann sich nicht auf Produkte der Hochkultur, wie etwa Literatur oder Denkmäler beschränken, sondern bezieht notwendig die ‚popular culture‘ mit ein. Der Begriff ‚popular culture‘, bezeichnet zunächst schlicht die „Kultur des ‚Volkes‘ [the people]“ (Johnson 1999, 140), muss jedoch in Abgrenzung vom Hochkulturbegriff verstanden werden. Die Formen und Praktiken der Populärkultur konstituieren ein Terrain, auf dem dominante, untergeordnete und oppositionelle kulturelle Werte und Ideologien sich begegnen und vermischen: „it consists not of two separated compartments – a pure and spontaneously oppositional culture ‚of the people‘ and a totally administered culture ‚for the people‘ – but is located in the points of confluence between these opposing tendencies“ (Bennett 1986, 19).
Die Bedeutung der Medien in diesem Spannungsfeld wurde im Cultural Studies-Kontext erstmals grundlegend in Stuart Halls encoding/decodingModell (1999) theoretisiert. Zentraler Gedanke Halls ist, dass Medien die Realität nicht repräsentieren, sondern bestimmte Definitionen und Bedeutungen über die Realität produzieren (vgl. auch Hall 1982). Diese Bedeutungen transportieren zwar dominante Ideologien, sind jedoch in sich uneinheitlich, weshalb Medienkommunikation eher als Kampf um Bedeutungen denn als Bedeutungstransfer verstanden wird: Verschiedene soziale Gruppen können den medial vermittelten Bedeutungen eines Ereignisses ihre eigenen Lesarten entgegensetzen. Die den RezipientInnen in Halls Modell zugestandene Aktivität und gleichzeitige Berücksichtigung ihrer sozialen Kontexte eröffnete die Möglichkeit zu zahlreichen qualitativen Studien, in denen insbesondere die ‚widerständigen‘ Lesarten ausgewählter Gruppierungen in den Blick genommen wurden. Interessanterweise thematisieren einige dieser empirischen Arbeiten das in der Einleitung angesprochene Problem der begrenzten Reichweite einer Forschungsperspektive, die sich lediglich auf Interpretationsprozesse richtet. Ein Grund für diese Kritik an Halls Versuch der Theoretisierung von Kommunikationsprozessen liegt sicherlich in der den Cultural Studies eigenen Sensibilität für alltagskulturelle Praktiken und deren Einbindung in bestimmte Machtverhältnisse. So stellt etwa Janice Radway (1987) 6
Zum Kulturbegriff der Cultural Studies vgl. auch Winter 1999a und Winter 1999b.
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in ihrer Befragung von Leserinnen von Liebesromanen fest, dass für diese neben der Interpretation der gewählten Texte insbesondere der Akt des Lesens selbst und dessen Funktion in ihrem Alltag von größter Bedeutung ist: Der Griff zum Liebesroman bietet ihnen die Möglichkeit, sich innerlich und äußerlich von den Anforderungen der Umgebung abzuschirmen und sich einen Raum zu schaffen, in dem sie frei von den Strapazen der Reproduktionsarbeit andere Welten kennenlernen können. Radway konstatiert demzufolge die Notwendigkeit, analytisch zwischen dem Ereignis des Lesens und der Bedeutung des Textes zu unterscheiden, und formuliert in einem späteren Text die folgende Methodenkritik: „...in so constructing the circuit of exchange as the crucial site of field for research, we inevitably begin by assuming that individuals in the audience are already stitched into a particular kind of relation with the speaker or writer. Consequently we limit the kinds of questions that might be asked about the individuals so conceived. Because they appear in our discourse only as the receivers of messages which are themselves both temporally and theoretically privileged, those individuals are rarely if ever presented as active subjects, let alone as producers of culture“ (Radway 1988, 361 f.).7
Das Problem einer zu großen Konzentration auf die Ebene von Dekodierungsprozessen zuungunsten einer Aufmerksamkeit für die Einbindung der Rezeption in den Alltag stellt sich in geringerem Maße in Untersuchungen, die den Medienkonsum von vornherein als eine unter anderen kulturellen Praktiken in den Blick nahmen. Dies betrifft insbesondere die Jugendstudien der Cultural Studies. Im Blick auf die Alltagspraktiken und Stile der Jugendlichen werden hier Medien als symbolische Ressourcen verstanden, die dazu dienen, die eigenen Erfahrungen auszudrücken, und die in ritualisierte symbolische Formen des Widerstandes einfließen.8 In seiner Untersuchung der kulturellen Aktivitäten von Jugendlichen in Wolverhampton nimmt beispielsweise Paul Willis (1991) neben dem Konsum verschiedener medialer Angebote und von Musik ebenso Bereiche wie Mode und Stil und die Kneipenkultur in den Blick. Sein Ziel ist es dabei das kreative Potenzial der Konsumption herauszuarbeiten (ebd., 36). Die ‚symbolische Kreativität‘, mittels derer die Jugendlichen sich Konsumprodukte aneignen, um sie neu anzuordnen und mit neuen Bedeutungen zu versehen, ist Bestandteil einer gemeinsamen Kultur (‚common culture‘).9 Im Gegensatz zu den Abgrenzungsstrategien einer elitären Hochkultur, die nur privilegierten Insidern zugänglich ist, entstehen in der gemeinsamen Kultur neue Gemeinschaften, die auf geteilten
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Auch Morley kommt im kritischen Postskriptum zu seiner ‚Nationwide’-Studie (1992) zu dem Schluss, dass das encoding/decoding-Modell nicht ausreicht, um die kontextuelle Einbindung des Medienkonsums in das Alltagsleben zu analysieren. Vgl. hierzu Winter (1997). Als Beispiele für einschlägige Studien in diesem Bereich lassen sich Hall/Jefferson (1982), Hebdige (1979) sowie Willis (1977) und (1991) nennen. Der Begriff Common Culture geht zurück auf Williams (1977).
Interessen basieren, dezentriert sind und sich spontan und aus beliebigen Anlässen formieren. Da sie die Einbettung der Mediennutzung in Alltagspraktiken konsequent thematisieren, eröffnen die Cultural Studies meines Erachtens eine überaus fruchtbare Perspektive auf die eingangs beschriebene ‚Mediennutzung im Kontext von Alltagspraktiken‘. Vor dem Hintergrund des erläuterten Kulturbegriffes lassen sich Praktiken des Sammelns und Tauschens als kulturelle Praktiken begreifen, deren Funktion sowohl in der Umdeutung medial vermittelter Bedeutungen im Sinne eigenwilliger Symbolisierungen als auch in der Konstituierung einer gemeinsamen Kultur liegen kann. Da der Ansatz der Cultural Studies im Bereich der ‚audience studies‘ auf keine bestimmte Methode festgelegt ist,10 sind hier unterschiedliche Vorgehensweisen erprobt worden, wobei die Ansprüche an derartige Untersuchungen Gegenstand fortlaufender Kritik und Debatten sind. Im Folgenden stelle ich dar, auf welche methodologischen Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang hingewiesen wurde und welche Forderungen an zukünftige Studien aufgestellt werden. 1. Von verschiedenen AutorInnen wurde eingewandt, dass viele Studien im Bereich der ‚media studies‘ sich zu stark an den Dichotomien passiv/aktiv oder manipulierend/befreiend orientieren, weshalb es ihnen nicht gelingt, die Widersprüchlichkeit und Dynamik der Populärkultur angemessen zu erfassen (vgl. hierzu bspw. Ang 1999). Meaghan Morris (1988) zufolge hat die Erkenntnis, dass ZuschauerInnen sich auch widerständig gegenüber medial vermittelten Bedeutungen verhalten können, zu einem Boom von Untersuchungen geführt, die das Vergnügen, den Widerstand und die Politik des Konsums ausgewählter Gruppen von RezipientInnen thematisieren und letztlich über die immer gleiche Aussage, dass die Massenkultur auch kreativ und kritisch konsumiert werden kann, nicht hinausgehen. Nicolas Abercrombie und Brian Longhurst (1998) verorten eine solche methodische Herangehensweise in einem von ihnen als ‚Incorporation/Resistance paradigm‘ bezeichneten Paradigma, welches das Problem der Mediennutzungsforschung in der Frage sieht, ob die RezipientInnen durch ihre Beteiligung an medienbezogenen Aktivitäten die dominante Ideologie inkorporieren oder ob sie vielmehr gegen eine solche Vereinnahmung resistent sind. Die Autoren halten dieses Paradigma angesichts der sozialen und kulturellen Veränderungen in der Mediennutzungslandschaft, die die sogenannte ‚diffused audience‘ hervorgebracht haben, für überholt. RezipientIn zu sein, ist heute nicht mehr an die Teilnahme an einem bestimmten medialen Ereignis gebunden, vielmehr sind die Medien so selbstverständlich in unseren Alltag integriert, dass alle zu jeder Zeit Mitglieder einer diffused audience werden können. Als solche konstituieren sie gleichzeitig einen Markt für kulturelle Güter. Da einschließlich der MedienproduzentInnen alle immer auch als potenzielle Konsument10
Bevorzugt werden ethnographische Zugänge.
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Innen angeprochen werden und als solche den Markt mitkonstituieren, sind die aktuellen Machtverhältnisse weit komplizierter als ein Incorporation/Resistance-Paradigma es fassen könnte. Diese Veränderungen lassen sich eher in einem neuen Paradigma fassen, das Fragen der Identität und auch der Identifizierung mit imaginierten Gemeinschaften11 in den Mittelpunkt stellt. Ein solches Paradigma, das von Abercrombie/Longhurst ‚Spectacle/Performance paradigm‘ genannt wird, setzt voraus, dass der Schauspiel- und Aufführungscharakter, der früher als medientypisch galt, heute zum elementaren Bestandteil der westlichen Kultur wurde. So begreift etwa der touristische Blick auf fremde Orte diese als Schauspiel und eine spontane Zusammenkunft von RezipientInnen (beispielsweise vor dem ‚Big Brother‘-Container) kann schnell zu einer Performance an sich werden, die Hunderttausenden anderen RezipientInnen wiederum medial vermittelt wird. Abercrombie/ Longhurst fordern in diesem Sinne von künftigen Studien zur Mediennutzungskultur, sich für diese Verflechtungen zu sensibilisieren und, statt den Rezeptionsakt selbst zu untersuchen, sich eher bestimmten ‚Szenen‘ – wie etwa der Musikszene eines bestimmten Ortes – zuzuwenden.12 2. Auch der Anspruch der Cultural Studies, die jeweilige gesellschaftliche Positionierung der untersuchten Gruppierung und die mit dieser verbundenen Macht- und Ohnmachtverhältnisse mitzureflektieren, ist auf methodische Probleme gestoßen. So machen Ien Ang und Joke Hermes (1994) darauf aufmerksam, dass das Resultat der Untersuchung von Ellen Seiter und ihren Mitarbeiterinnen (1989), Arbeiterinnen seien kritischer gegenüber Seifenopern als Rezipientinnen aus der Mittelschicht, in krassem Gegensatz steht zu der Erkenntnis von Andrea Press (1990), die einer ähnlich angelegten Studie entnahm, dass gerade die Arbeiterinnen sich affirmativ gegenüber Seifenopern verhalten, während Mittelschichtsfrauen diese aus einer kritischen Distanz heraus sähen. Die Widersprüchlichkeit dieser Ergebnisse ist – so vermuten Ang/Hermes – darauf zurückzuführen, dass die Antworten der befragten Frauen durch die vorab definierten Kategorien ‚Arbeiterklasse‘ und ‚Mittelklasse‘ gefiltert, nicht jedoch an die tatsächlich aus diesen gesellschaftlichen Positionierungen resultierenden unterschiedlichen Erfahrungen zurückgebunden wurden. Die Autorinnen warnen vor derartigen essentialisierenden Kurzschlüssen und betonen, dass weder die Schichtzugehörigkeit noch das Geschlecht oder eine andere soziale Positionierung ein Subjekt ganz ausfülle und determiniere. Um Reifizierungen in der Forschung zu vermeiden, ist es zum einen notwendig zu beachten, wie sich etwa ge11 12
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Dies könnte etwa die Gemeinschaft mit den anderen LeserInnen einer linksintellektuellen Zeitung sein, mit denen nicht nur das Rezeptionserlebnis, sondern auch bestimmte politische Ansichten geteilt werden. Einen ähnlichen Ansatz im deutschsprachigen Raum vertreten Bausch/Sting/Tervooren (2001), die eine Verschiebung der Forschungsperspektive hin zu performativen Aspekten des Medienhandelns in Gruppen und medienbezogenen Ritualisierungsprozessen im Alltag fordern.
schlechts- und schichtbedingte Erfahrungen überlagern und ineinandergreifen. Andererseits ist die Relevanz derartiger Zugehörigkeiten immer auch von den Alltagsbedingungen abhängig, in die die jeweilige Rezeptionssituation eingebunden ist: So kann eine bestimmte Dynamik in der Familie dazu führen, dass die Mutter mit dem Sohn das Sportprogramm anschaut, weil sie Kontakt zu ihm sucht, während der Vater sich beleidigt zurückzieht, obwohl es ursprünglich sein Interesse gewesen war, das Fußballspiel zu sehen.13 3. VertreterInnen eines Ansatzes, der es sich zum Ziel setzt, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu analysieren und zu hinterfragen, müssen sich notwendig immer wieder auch ihrer eigenen Position innerhalb dieser Verhältnisse als ForscherInnen gewahr werden. Lawrence Grossberg (1999, 77) benennt in diesem Sinne als eines der Hauptmerkmale der Cultural Studies deren Selbstreflexivität. Diese geht einher mit der Erkenntnis, dass der oder die AnalytikerIn immer auch gleichzeitig TeilnehmerIn an den Praktiken, Allianzen und Kontexten ist, die analysiert werden. Ein solcher Anspruch betrifft insbesondere die empirische Forschung. David Morley (1999) betont in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, die Subjektivität des oder der ForscherIn zu thematisieren, ohne gleichzeitig in einen Regress der Beschäftigung mit eigenen subjektiven Prozessen zu geraten.14 Meines Erachtens gibt es jedoch innerhalb der Cultural Studies keine weitergehenden Überlegungen dazu, wie eine derartige Selbstreflexivität methodisch umsetzbar wäre. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die vorgestellten Forschungszugänge zur Mediennutzung diese übereinstimmend als aktiven Vorgang charakterisieren, der in den Alltag der RezipientInnen eingebunden ist. Als geeignete Vorgehensweise zur Analyse der Rezeptionshandlung in ihrer Bedeutung für die Akteure wird in der strukturanalytischen Rezeptionsforschung eine rekonstruktive Methode empfohlen. Ben Bachmair und seine MitarbeiterInnen erachten es für sinnvoll, um die Verwobenheit der Rezeption in den Alltag erfassen zu können, eher Medien-Arrangements als Einzelmedien und eher Alltagssituationen als die eigentliche Rezeptionssituation in den Blick zu nehmen. Hierin wählen sie einen ähnlichen Zugang wie viele der im Rahmen der Cultural Studies erfolgten Analysen, die – meist in ethnographischen Untersuchungen – die Verwendung medial vermittelter Bedeutungen als symbolische Ressourcen bei der Gestaltung der Populärkultur thematisieren. Der konsequente Blick der Cultural Studies auf die Bedeutung der Medien in ihrer Einbindung in kulturelle Praktiken und in gesellschaftliche Machtverhältnisse geht mit einer Methodendiskussion einher, in deren Rahmen insbesondere drei Anforderungen an methodische Zugänge formuliert wurden: 1. Eine Analyse der Mediennutzung im Kontext von Alltagsprakti13 14
Ang und Hermes beziehen sich hier auf ein Beispiel von Bausinger 1984. Morley bezieht sich hierbei auf die Überlegungen von Clifford (1986) und Geertz (1990). Vgl. zu dieser Forderung auch Ang 1996, 52.
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ken und Machtverhältnissen kann sich nicht auf die Frage beschränken, wie der mediale Text interpretiert wird und inwiefern diese Interpretation sich widerständig zu hegemonialen Ideologien verhält. Um etwa die Entwicklung der RezipientInnen zu einer diffused audience oder die Vermischung von medialen und Alltagsphänomenen z.B. in Fan-Performances erfassen zu können, ist es notwendig, auch auf den identitäts- und gemeinschaftsstiftenden Charakter des Medienkonsums einzugehen. 2. Eine Untersuchung, die Differenzen zwischen den jeweiligen MediennutzerInnen berücksichtigen will, sollte vorschnelle Kategorisierungen vermeiden und die Überlagerung etwa von geschlechts-, ethnizitäts- und schichtspezifischen Erfahrungen sowie die Situationsabhängigkeit von deren Relevanz miteinbeziehen. 3. Eine Sensibilisierung für Machtverhältnisse bedeutet auch, die vermeintliche Objektivität der eigenen Position als ForscherIn kritisch zu reflektieren. Als eine Möglichkeit, diesen methodischen Anforderungen zu begegnen, werde ich im Folgenden die dokumentarische Methode vorstellen.
3. Die dokumentarische Methode als Mittel zur Rekonstruktion kultureller Praktiken im Kontext der Mediennutzung Die dokumentarische Methode weist verschiedene Merkmale auf, die sich in Bezug auf die Analyse populärkultureller Praktiken im Kontext der Mediennutzung als besonders fruchtbar erweisen. Als qualitative und rekonstruktive Vorgehensweise wendet sich diese Variante empirischer Sozialforschung zentral der Aktivität der untersuchten Subjekte zu. Das empirische Material wird dabei nicht subsumptionslogisch einer vorab festgelegten Theorie zugeordnet, vielmehr vollzieht sich die Theoriebildung auf der Grundlage einer Rekonstruktion von Alltagspraxis und Erfahrungswissen der Erforschten. Vor dem Hintergrund des starken Bezuges der rekonstruktiven Sozialforschung auf die Handlungspraxis sowohl der Erforschten als auch der Forschenden spricht Ralf Bohnsack von deren praxeologischer Fundierung: „Dabei geht es im wesentlichen um die umfassende Verankerung von Methoden in der sozialen Praxis und um ihre methodologische Begründung auf dem Wege der Rekonstruktion dieser Praxis – sowohl der als wissenschaftlich als auch der als außerwissenschaftlich verstandenen Praxis“ (Bohnsack 2000a, 192).
Hierbei ist der Gedanke zentral, dass die Methoden sozialwissenschaftlichen Denkens sich nicht grundlegend von denjenigen des alltäglichen sozialen Handelns unterscheiden: Auch Letzteres ist beispielsweise typengeleitet und entwurfsorientiert. Gemäß der Wissenssoziologie Karl Mannheims kann in 38
diesem Sinne der sozialwissenschaftlichen Interpretation keine höhere Rationalität gegenüber dem Alltagsdenken zugesprochen werden. Im Unterschied zum Alltagsdenken liegt der dokumentarischen Interpretation allerdings eine andere Einstellung, nämlich eine prozessrekonstruktive Analyseeinstellung zugrunde. Die Interpretation basiert insofern „auf der prozeß- oder sequenzanalytischen Rekonstruktion von Handlungs-, Interaktionsund Diskurspraktiken sowie auf der Rekonstruktion der erlebnismäßigen Darstellung, der Erzählung und Beschreibung dieser Praktiken“ (Bohnsack 2000a, 68).
Eine prozessanalytische Rekonstruktion untersucht nicht in erster Linie die Intention oder zweckrationale Bedeutung einer Handlung, sondern stattdessen das ‚Wie‘ der handlungspraktischen Prozesse der Herstellung von Wirklichkeit (vgl. Bohnsack 2001a). Von besonderem Interesse sind hierbei die Erzählungen und Beschreibungen erlebter Praxis in Interviews. Im Sinne der dokumentarischen Methode liegt jeder Handlungspraxis eine Prozessstruktur zugrunde, die sich in den Erzählungen und Beschreibungen der Interviewten als deren ‚atheoretisches Wissen‘ (vgl. Mannheim 1964a, 100) dokumentiert. Die Rekonstruktion des atheoretischen Wissens und der Orientierungen der Befragten ermöglicht Rückschlüsse in Bezug auf die Erfahrungsräume, in denen diese entstanden sind. Erfahrungsräume werden dabei als Orte eines gemeinsamen Erlebens gedacht, das die Grundlage bietet für die Herausbildung kollektiver Wissensbestände und Orientierungen sowie habitueller Übereinstimmungen. Diese kollektiven Orientierungen und Habitualisierungen stehen im Zentrum der dokumentarischen Interpretation; es geht nicht um die Analyse von Einzelschicksalen, sondern stets um deren Verankerung in beispielsweise geschlechts-, milieu- oder generationstypischen sozialen Vorerfahrungen. Diese der dokumentarischen Methode eigene Perspektive auf Handlungspraxis erscheint mir im Blick auf die hier interessierenden kulturellen Praktiken insofern fruchtbar, als sie Aktivitäten wie beispielsweise das Sammeln von Fan-Material unabhängig von dessen medialem Bezug und dennoch als kontextuell eingebunden und sinnhaft analysieren kann. Eine solche ‚Sinnhaftigkeit‘ ist dabei nicht als zweckrationale zu verstehen, das atheoretische Wissen der Interviewten lässt vielmehr auch Rückschlüsse über den Sinn eines selbstläufigen, aktionistischen Handelns zu.15 Eine mögliche Interpretation kultureller Praktiken als sinnhaft eingebettet in den Alltagskontext und die jeweiligen Vorerfahrungen der Interviewten wird nachfolgend kurz am Beispiel des bereits eingeführten Interviews mit Antje veranschaulicht.16
15 16
Vgl. hierzu auch Bohnsack/Nohl 2001a sowie den Beitrag von Gaffer/Liell i. d. Band. Das Interview ist einer rekonstruktiv angelegten empirischen Studie über die Kultur weiblicher Pop-Fans entnommen (vgl. Fritzsche 2003).
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Antje äußert sich, wie bereits deutlich wurde, in diesem Interview als Konsumentin eines Medien-Arrangements. In der zitierten Eingangspassage beschreibt sie ihre anfängliche Nutzung dieses Arrangements als gekennzeichnet durch die kollektive Praktik des Sammelns und Tauschens in der Mädchenclique, die sie als obsessiv charakterisiert. (Es war ‚verrückt‘, beim Sammeln kam es nur auf die Menge an, nicht auf die Qualität, es ging immer hin und her.) Anschließend erwähnt sie den Vorbildcharakter ihrer Schwester bei ihrer Entwicklung zum Fan, auf den sie in der folgenden Interviewpassage genauer eingeht: ANTJE: Ja also das war komisch, weil meine Schwester hat gerade Besuch gehabt und, em, da war sie schon so in meinem Alter, und da hat sie immer so laute Musik gehört wenn mein Vater nicht da war. Naja und dann hab ich immer geguckt was die so machen und dann sa- war‘n die immer so ganz verrückt und so, und dann ham sie immer, ham die immer zusammen geguckt, was sie so alles haben und ähm, dann hab ich geguckt, was das für ne Gruppe ist und ha- hab ich immer, so wenn sie weg war hab ich immer geguckt was die so sammeln und was die so machen die ganze Zeit, weil sie hat mich ja nicht reingelassen. Und, ähm, irgendwie, hab ich dann gedacht, dass das irgendwie, s- irgendwie Spaß macht, was sie macht, und dann hab ich das versucht, auch nach-, machen, zu machen und zu, herauszufinden, wie das so ist.
Antje gibt dem Verhalten ihrer Schwester mit der Beschreibung immer wiederholter Handlungen sowie der Lautstärke der Musik einen exzessiven Anstrich, wodurch das Fan-Sein erneut als eine Besessenheit erscheint. Nachdem sie auf diese Weise das Verhalten der Schwester als fantypisch charakterisiert hat, beschreibt sie ihre eigene Nachahmungstaktik. Es war nur in der Abwesenheit der Schwester möglich, sich deren Sammlung anzusehen und sich so darüber klar zu werden, worin die Fan-Praktiken bestehen: War diese zu Hause, hat sie Antje nicht hereingelassen, sie also bewusst ausgeschlossen aus der Fan-Welt. Da ihre Schwester einige Jahre älter ist, lässt sich hier vermuten, dass sie Antje für zu klein hielt, um schon an der Fan-Kultur teilhaben zu können, sie ihrer Meinung nach also den erforderlichen Entwicklungsstand noch nicht erreicht hatte. Eine derartige Koppelung des Fan-Seins an eine bestimmte Entwicklungsstufe erklärt umgekehrt die Attraktivität, die dieses auf Antje ausübte. Gleichzeitig handelt es sich um eine Kultur, der auch unter Ausschluss der Erwachsenen nachgegangen wird und die somit Unabhängigkeit von diesen symbolisiert. Ihren Entschluss, die Schwester ‚nachzumachen‘, begründet Antje damit, dass sie sich gedacht habe, dass deren Tätigkeit Spaß mache. Dieser Spaß ist also zunächst nicht fühlbar für Antje. Um den Spaß fühlen zu können und um generell herauszufinden, wie es ist, Fan zu sein, muss sie sich den kulturellen Praktiken ihrer Schwester auf mimetische Weise annähern.17 Die Realität des Fan-Seins und dessen 17
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Ich beziehe mich auf den Mimesis-Begriff von Gunter Gebauer und Christoph Wulf, denen zufolge soziale Akte dann mimetisch sind, wenn sie 1. Bewegungen sind, die auf andere Bewegungen Bezug nehmen, 2. körperliche Aufführungen sind, die einen Darstellungsas-
Sinn können erst über das Ausüben von Praktiken, also über Handlung entstehen. Die beschriebene Populärkultur erscheint hier als eine selbstläufige, performative Suchbewegung, die nicht aus einer eindeutigen Motivation resultiert, sondern deren Sinn sich erst im Vollzug ergeben kann. Diese Struktur von Antjes Handlungspraxis sowie ihre Orientierung an der großen Schwester als Repräsentantin einer älteren Jugendlichen lassen folgende Rückschlüsse bezüglich der Funktion der Fan-Kultur zu: Die Aneignung der Stars über repetitive Tausch- und Sammelpraktiken sowie über die beschriebene Mimesis erlaubt eine behutsame und spielerische Annäherung an den Fan-Status. Wie die folgende Passage verdeutlicht, bezieht dieser seine Attraktivität nicht nur aus seiner Konnotation mit einer jugendkulturellen Praktik: INTERVIEWERIN: (4) Mmh. (4) Und em, was m-, was meinst du, warum die Mädchen sich dann in die Boygroups verlieben und jetzt nich in, irgendwelche Jungs, die sie, die sie selber kennen? ANTJE: Irgendwie isses n Reiz, dass man die nicht so erreichen kann. (...) wenn man jetzt irgendwie=so aus der Schule welche hat, welche Jungs, dann ist es ja so, dass man, em, sagen kann, ob, em, zum Beispiel ob, willst du mit mir gehen, also, das ist ja jetzt nicht mehr so aber wenn man, wenn man so in der Grundschule ist, wenn man dann so erwachsen ist, dann ergibt sich das eigentlich von alleine, dass man sich auf der Oberschule verliebt. Und bei der, Boygroup isses so, dass man sie nicht erreichen kann, dass man sich nicht, em, em, mit der ne Beziehung anfangen kann. Und das wolln die meisten Mädchen, em, em, das ist der Reiz für sie, dass sie, dass sie das nicht können. Dass sie immer weiter versuchen, das zu können. INTERVIEWERIN: Und wie- wieso ist das son Reiz? ANTJE: Keine Ahnung. Weil sie irgendwie nicht un-, em, nicht erreichbar sind. INTERVIEWERIN: Und weil die Mädchen dann keine Beziehung, eigentlich haben wollen? Die wollen verliebt sein ohne ne Beziehung zu haben? ANTJE: Mhm. Und wenn man sich dann, da verliebt, dann, und dann, es ergibt sich ne Beziehung, ist ja auch Kacke. Wenn dies gar nicht wollen.
Die schwärmerische Beziehung der Fans zu den ‚Boys‘ eröffnet die Möglichkeit, erste Erfahrungen mit der romantischen heterosexuellen Liebe zu sammeln. Auf diese Weise kann Antje sich vorbereiten auf die Zeit in der Oberschule, in der das Verlieben schon ganz von selbst klappen muss, ohne bereits den Risiken einer ‚realen Beziehung‘ ausgesetzt zu sein. In diesem Zusammenhang wird dann auch der Inhalt des medial vermittelten StarImages relevant, der bislang eine auffällig untergeordnete Rolle spielte. Eine Beschreibung von Antjes Nutzung des medialen Arrangements ‚Boygroup‘ als bestimmte Lesart medial vermittelter Bedeutungen im Sinne des encoding/decoding-Modells griffe insofern offensichtlich zu kurz. Die dokumentarische Interpretation eröffnet eine Sichtweise auf das Fan-Sein als Möglichkeit für Mädchen, sich unter Zuhilfenahme von Medienangeboten und pekt besitzen und 3. sowohl eigenständige Handlungen sind, als auch auf andere Akte oder Welten Bezug nehmen (Gebauer/Wulf 1998, 11).
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mittels kultureller Praktiken in der Peergroup mit entwicklungstypischen Fragen auseinanderzusetzen und auf spielerische und flüchtige Weise die Identität einer heterosexuellen weiblichen Jugendlichen einzunehmen. Ganz im Sinne von Abercrombie/Longhurst (1998) lässt sich insofern die Mediennutzung von Boygroup-Fans als Ausgangspunkt für eine performative Jugendkultur beschreiben, die sowohl eine gemeinschaftsstiftende Funktion hat als auch ein Forum zur Auseinandersetzung mit Fragen der Identität bietet. Wie jedoch können Bezüge hergestellt werden zwischen den Orientierungen der Befragten und dem spezifischen Erfahrungsraum, in dem diese entstanden sind? Diese Frage ist insbesondere hinsichtlich des im zweiten Teil formulierten methodischen Anspruchs interessant, die Differenzen zwischen MediennutzerInnen seien in der Forschung konsequent zu berücksichtigen, ohne dass es hierbei zu Essenzialisierungen kommen sollte. Die Gefahr vorschneller Kategorisierungen wird meines Erachtens in der dokumentarischen Methode auf zweierlei Weise vermieden. Zum einen kann die Spezifik des Falles bei dieser Art der Interpretation nur in Verbindung mit einer konsequenten methodischen Kontrolle des Vergleichshorizontes ermittelt werden. Vor dem Hintergrund der Mannheim’schen Annahme der „Seinsverbundenheit“ von Wissen und Denken (vgl. Mannheim 1952a) auch der ForscherInnen können, anders als etwa bei der strukturalen Hermeneutik, deren Erwartungshorizonte nicht als Gegenfolie für die Orientierungen der ProbandInnen gelten. Ihre Normalitätsvorstellungen können ebenso wenig als ‚objektiv‘ angesehen werden wie die der Befragten. Ob beispielsweise Antjes FanKultur eine milieuspezifische Besonderheit aufweist, ließe sich daher nur vor dem Hintergrund eines kontrastiven Vergleiches mit Fans, die einen anderen Milieuhintergrund haben, nachweisen.18 Je nach Wahl der Vergleichsgruppen ergeben sich Hinweise auf andere Erfahrungsdimensionen. Eine essenzialisierende Perspektive auf Differenzen wird zum anderen durch die der dokumentarischen Methode inhärente Annahme vermieden, dass sich am jeweiligen Fall stets unterschiedliche Typiken überlagern. Demzufolge wird bei der Interpretation versucht, nicht nur eine Bedeutungsschicht oder Typik eines Falles zu erfassen, sondern diesen auf unterschiedliche Dimensionen hin zu analysieren.19 Diese Vorgehensweise hat meines Erachtens den Vorteil, dass simplifizierende und dichotomisierende Aussagen über die Mediennutzung verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen vermieden werden und stattdessen die verschiedenen, sich gegenseitig überlagernden und bedingenden Bedeutungsschichten bestimmter Orientierungen in der Analyse hervortreten können. Die Nutzung populärkultureller Angebote würde in diesem Sinn nicht nur im Blick beispielsweise auf ihre Geschlechtsspezifik analysiert, sondern es ließen sich ebenso entwicklungstypische Motivationen bei deren Konsument18 19
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Zum kontrastiven Vergleich in der dokumentarischen Methode siehe auch den Beitrag von Nohl i. d. Band. Zur Typenbildung s. auch die Beiträge von Nentwig-Gesemann und Bohnsack i. d. Band.
Innen herausstellen. Bestimmte Mediennutzungsstrategien, die auf den ersten Blick als ‚typisch weiblich‘ erscheinen mögen, wären in diesem Sinne als durch unterschiedliche Einflussfaktoren strukturiert erkennbar.20 Die Annahme, dass auch die Perspektive der Forschenden gegenüber derjenigen der Erforschten keinen höheren Objektivitätsanspruch erheben kann, gemahnt darüber hinaus an die dritte angeführte methodische Forderung, die Teilnahme der AnalytikerInnen an den untersuchten Kontexten sowie deren Subjektivität seien gezielter in den Blick zu nehmen. Bohnsack weist darauf hin, dass die „Standortgebundenheit“ (Mannheim) von Erkenntnis nicht allein hinsichtlich ihrer ergebnisverzerrenden Wirkung zu betrachten ist, sondern vielmehr auch ein kreatives Potenzial birgt (vgl. Bohnsack 2000a, 198). Das atheoretische Wissen der ForscherInnen ist schließlich als Voraussetzung für eine Verständigung mit den Interviewten anzusehen. Insofern gilt es nicht, dieses Wissen zu verleugnen oder zu einem objektiven Vergleichshorizont zu erklären, sondern vielmehr, es in systematischer, methodisch kontrollierter Weise in den Forschungsprozess einzubringen. Im Sinne eines solchen Selbstverständnisses gehen die Forschenden „nicht davon aus, daß sie mehr wissen als die Erforschten, sondern davon, daß die Erforschten selbst nicht wissen, was sie da eigentlich alles wissen“ (Bohnsack 2001a, 337). Eine methodische Kontrolle der eigenen soziologischen Interpretation, an die dieselben Kriterien der Zuverlässigkeit und Gültigkeit angelegt werden wie an den Gegenstandsbereich selbst, erfordert zunächst eine Explikation der einzelnen Arbeitsschritte. Eine genaue Dokumentation des Forschungsprozesses soll es Außenstehenden ermöglichen, die Kommunikationsprozesse im Interview einerseits und die Interpretations- und Typisierungsleistungen der Interpreten andererseits nachzuvollziehen (Bohnsack 2000a, 187 f.). Die Standortgebundenheit der Forschenden wird jedoch auch durch die bereits erwähnte komparative Analyse gefundener Ergebnisse mit empirisch überprüfbaren Vergleichshorizonten kontrollierbar. Diese beginnt bereits auf der Ebene der reflektierenden Interpretation21: Um in deren Rahmen die spezifische Art und Weise, in der ein Thema behandelt wird, ermitteln zu können, werden schon frühzeitig andere Fälle zum Vergleich herangezogen. Dabei verschwindet der Erwartungshorizont der Interpretierenden zwar nicht, er vermag aber in den Hintergrund zu treten und als solcher sichtbar reflektiert zu werden. Da den Forschenden keine per se ‚objektivere‘ Position zugestanden wird als ihren ProbandInnen, müssen sie sich selbst in die komparative Analyse miteinbeziehen. Hierzu gehört auch, dass die Interventionen der Interviewenden ebenso interpretiert werden wie die Reaktio20 21
Wie sich im Interview mit Antje bereits andeutet, lassen sich etwa bei Teilnehmerinnen der Boygroup-Fan-Kultur auch relevante entwicklungstypische Differenzen feststellen. Zur Unterscheidung von formulierender und reflektierender Interpretation siehe die Beiträge von Bohnsack/Nohl und Bohnsack/Schäffer i. d. Band.
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nen auf diese. In diesem Sinne kann eine dokumentarische Interpretation der eingangs zitierten Frage-Antwort-Sequenz aus dem Interview mit Antje auf sehr fruchtbare Weise Aufschlüsse über unexplizierte Vorannahmen der Interviewerin geben. Die leichte Verschiebung, die sich aus Antjes Beschreibung ihrer Fan-Kultur als Entgegnung auf eine Frage zu ihrem Verhältnis zum Medientext herauslesen lässt, konnte in diesem Fall Aufschlüsse über ein ‚Missverständnis‘ mit den geschilderten weitreichenden methodischen Konsequenzen geben. Die eingangs formulierte Notwendigkeit, Phänomenen wie einer ‚diffused audience‘ und der zunehmenden Vermengung von Rezeptionsakten und Alltagspraxis in der Mediennutzungsforschung besser gerecht zu werden, zieht eine Reihe methodischer Fragen nach sich, auf die im Rahmen dieses Beitrages nur zum Teil eingegangen werden konnte. Meines Erachtens kann neben einer stärkeren Miteinbeziehung auch der Nutzung von MedienArrangements und einer Sensibilisierung für die kontextuelle Einbindung von Rezeptionssituationen in der Forschung22 eine Interpretation im Sinne der dokumentarischen Methode in diesem Zusammenhang wichtige neue Perspektiven eröffnen. Zum einen bietet diese Methode Antworten auf ‚alte‘ Probleme (nicht nur) der Mediennutzungsforschung wie einem zweifelhaften Objektivitätsverständnis und der Gefahr einer Reifizierung von sozialen Vorerfahrungen der ProbandInnen. Sie ermöglicht es zum anderen jedoch auch, kulturelle Praktiken im Spannungsfeld ihres medialen Bezuges und ihrer sinnhaften Einbettung in den Kontext alltäglicher Auseinandersetzungen zu untersuchen.
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Dieser wäre sicherlich am ehesten durch eine Methodentriangulation gerecht zu werden.
Burkhard Schäffer
„Kontagion“ mit dem Technischen. Zur dokumentarischen Interpretation der generationenspezifischen Einbindung in die Welt medientechnischer Dinge In diesem Beitrag wird die These entfaltet, dass verschiedene Generationen unterschiedliche habituelle Zugänge zu Medientechnologien entwickeln, die sich in Form von „generationsspezifischen Medienpraxiskulturen“ (Schäffer 2003a) auf Ebenen bemerkbar machen, die dem erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Common Sense-Verständnis vom Handeln mit den Dingen und daran anschließenden Bildungsprozessen entgegenstehen (vgl. zum Verhältnis von Dingen und Bildung bereits Mollenhauer 1987; Meyer-Drawe 1999). Hierfür steht die Metapher der „Einbindung“: Die ‚generationsspezifische Einbindung in die Welt medientechnischer Dinge’ lässt sich als ein bisher unterbelichteter Aspekt der „Seinsverbundenheit“ des Denkens begreifen, wie sie von Mannheim bereits Anfang der 20er Jahre (Mannheim 1980, 201ff.) herausgearbeitet wurde. Mannheims Interesse und damit auch seine dokumentarische Interpretation sind hier zwar vorrangig an der „Seinsverbundenheit“ des Denkens, Fühlens und Handelns innerhalb „konjunktiver Erfahrungsräume“ orientiert, d.h. an der Eingebundenheit des Einzelnen in menschlich-soziale, kollektive Gebilde wie z.B. Milieus, Generationen und Geschlechterordnungen etc.. In seinen einleitenden erkenntnistheoretischen Ausführungen verweist Mannheim jedoch darauf, dass auch das Erkennen eines Gegenstandes, z.B. eines Steins, nur im Rahmen eines „erweiterten Erkenntnisbegriffs“ (a.a.O., 206) möglich ist, der sich von einem naturwissenschaftlich dominierten Erkenntnisbegriff abhebe. Das erweiterte Erkenntniskonzept grenzt Mannheim gegen eine Vorgehensweise ab, die Erkenntnis ausschließlich als Verbegrifflichung konzipiert. Der weite Erkenntnisbegriff dagegen umschließt die begriffliche Objektivierung ebenso wie die „existentielle“, d.h. in der (habitualisierten) Handlungspraxis fundierte „Aufnahme des Gegenüber in das Bewusstsein“ (ebd.). Dieser Modus gehe der begrifflichen Objektivierung voraus. Eine solche existenzielle Beziehung bezeichnet Mannheim als „Kontagion“, also als Berührung bzw. Ansteckung, und konzipiert sie primordial, d.h. vor aller Verbegrifflichung und Symbolisierung stehend. Mannheim bricht seine Ausführungen zur „Kontagion mit Dingen“
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dann jedoch ab und überträgt seine Überlegungen auf die seelische und geistige Kontagion mit anderen Menschen. In dem Beitrag werden diese hier nur kurz angerissenen grundlagentheoretischen Überlegungen Mannheims weitergeführt und für die dokumentarische Interpretation des Verhältnisses unterschiedlicher Altersgruppen zu den neuen (digitalen) Medientechnologien fruchtbar gemacht. Einleitend wird kurz der Kontext dargestellt, aus dem die Frage nach der Einbindung in die Welt medientechnischer Dinge hervorgegangen ist: ein inzwischen abgeschlossenes Forschungsprojekt zur Analyse generationenspezifischer Medienpraxiskulturen (1). Aus diesem Projekt, in dem vorrangig mit Gruppendiskussionen gearbeitet wurde, werden einige ausgewählte empirische Befunde vorgestellt, die sich auf das Handeln verschiedener Altersgruppen mit neuen Medien beziehen (2). Diese Befunde werden zunächst im Rahmen der Dokumentarischen Methode in herkömmlicher Weise interpretiert, d.h., ohne dem Technischen eine gesonderte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. In einem Exkurs wird dann genau diese „Technikvergessenheit“ (Rammert) in den Sozialwissenschaften thematisiert und die Frage nach den Folgen dieses möglichen blinden Flecks für qualitative sozialwissenschaftliche Forschung im Allgemeinen angerissen. Im Anschluss hieran wird ein Vorschlag des Wissenschaftsforschers Bruno Latour diskutiert, demzufolge ‚Handeln mit Technik’ in komplexen Netzwerken von menschlichen und nichtmenschlichen „Agenten“ situiert ist (3). Die handlungstheoretischen Implikationen dieses Vorschlags werden dann aus „praxeologischer“ Sicht kritisiert, d.h. aus der Perspektive einer in der Rekonstruktion der Handlungspraxis fundierten Wissenssoziologie (4). Hieran anschließend wird eine praxeologische Variante des Latourschen Modells entworfen, die auf erkenntnistheoretischen Überlegungen über die, die Handlungen leitenden Wahrnehmungen (technischer) Dinge aufbaut (5). In dieser Variante wird dem von Latour m.E. vernachlässigten Umstand Rechnung getragen, dass in der Handlungspraxis mit technischen Dingen die oben beschriebene „Kontagion“ (Mannheim) mit diesen Dingen eine wichtige Rolle spielt. Hierzu wird kursorisch zum einen auf einschlägige Überlegungen zum atmosphärischen bzw. auratischen Gehalt von Dingen eingegangen und zum anderen eine Perspektive erörtert, welche die von technischem „Zeug“ ausgehende „Stimmung“ thematisiert. Es geht hier, wenn man so will, um die „stillschweigenden“ oder „a-theoretischen“ Wissensfundamente des Handelns mit technischem „Zeug“. Um diese theoretische Perspektive einer empirischen Analyse zugänglich zu machen, bedarf es eines methodischen bzw. methodologischen Zugangs zum handlungspraktischen Wissen der Akteure als einem impliziten oder „atheoretischen“ Wissen. Dieser Zugang wird wiederum durch die im Rahmen der praxeologischen Wissenssoziologie entwickelte dokumentarische Methode (vgl. hierzu Bohnsack 1997; Bohnsack 2007a) eröffnet.
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1. Zum Kontext: Die Analyse generationenspezifischer Medienpraxiskulturen Die Frage nach der Eingebundenheit in die Welt technischer Dinge entstand im Rahmen eines Projekts zur Rekonstruktion „generationenspezifischer Medienpraxiskulturen“.1 Ein wichtiges Ziel des empirischen Teils der Untersuchung besteht darin, das implizite handlungsleitende Orientierungswissen von ‚alten‘, ‚mittelalten‘ und ‚jungen‘ Gruppen bezüglich ‚Neuer Medien‘ (vor allem ‚Computer’ und ‚Internet’) herauszuarbeiten. Hierzu wurden Gruppendiskussionen2 mit computerinteressierten Gruppen mit Teilnehmern unterschiedlichen Durchschnittsalters durchgeführt.3 Hintergrund der Auswahl von computerinteressierten Gruppen war die Überlegung, dass im Kontext der Frage nach dem „Umgang mit Wissen“ (Kade/Seitter 2000, Kap. 3) im Generationenkontext „Computerwissen“ als besonders geeignet erschien, da diese Wissensform einem schnellen Wandel unterworfen ist und gleichzeitig für weite Kreise in der Bevölkerung hohe und bewusste Alltagsrelevanz besitzt. Am Beispiel der Aneignung von Computerwissen, so eine die Suchstrategie legitimierende These, könnten sich deshalb generationenspezifische Aspekte deutlicher aufzeigen lassen als an anderen Wissensarten, wie z.B. an solchen, die an einem bildungsbürgerlichen Kanon orientiert sind und über entsprechend längere ‚Halbwertzeiten‘ verfügen (z.B. klassisches Bildungswissen über Literatur, Musik, Kunst etc., vgl. hierzu Nolda 2001). Im Sinne der dokumentarischen Methode werden die in den Gruppen durch eine entsprechende Eingangsfrage generierten Computererzählungen, beschreibungen und -bewertungen als Dokumente der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen generationsspezifischen Erfahrungsräumen interpretiert. Diese Erfahrungsräume bilden gewissermaßen die Bedingung der Möglichkeit bzw. die Grundlage von Prozessen der Aneignung neuer Wissensbestände. Letztendlich besteht das Ziel der Untersuchung darin, empirisch valide Aussagen zu treffen über die Voraussetzungen von Wissensaneignungsprozessen in unterschiedlichen Altersgruppen, unterschiedlichen Lebensphasen sowie darauf aufbauend in unterschiedlichen generationsspezifischen Erfahrungsräumen.
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Vgl. Schäffer 1998; 2000; 2003a; 2004; 2005; 2006a. Zur Methode des Gruppendiskussionsverfahrens vgl. Bohnsack 2007a, 105 ff.; Schäffer 2006b; Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2006b sowie Loos/Schäffer 2001. Einige der Teilnehmer wurden zusätzlich um ein biographisches Interview gebeten.
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2. Empirisches Ausgangsproblem: „Draufdrücken“ oder „Runterfahren“ – zur generationsspezifischen Annäherung an den Computer Eine der Thematiken, die für Junge, Mittelalte und Alte gleichermaßen relevant und deshalb im Rahmen der komparativen Analyse als besonders fruchtbar anzusehen ist, besteht in den unterschiedlichen Graden der Selbstverständlichkeit des Computergebrauchs. So berichten die unterschiedlichen Altersgruppen übereinstimmend davon, dass es den Älteren schwer fällt, sich auf die Technologie überhaupt einzulassen und dass sie, wenn sie es dann getan haben, beim Umgang mit dem Gerät eine übergroße Vorsicht an den Tag legen. Eine Seniorengruppe des Samples (Teilnehmer eines Word Kurses für Senioren an einer Volkshochschule, Durchschnittsalter 63,5 Jahre) beneidet die Jüngeren zum Beispiel um deren „Selbstverständlichkeit“ beim Umgang mit dem Gerät: Em:
Ich möchte noch mal auf den Grundgedanken zurückkommen alt und jung (.)
Gf: ¬hmm ja
Em: ¬wie geht ein Älterer an den Computer ran? Wie geht ein Jüngerer an den
?f: Em: (Cf): Em:
Computer ran? (.) Ich selbst wenn ich den Computer vor mir habe scheue mich da drauf zu drücken da drauf zu drücken dies zu machen jenes zu machen. Ich überlege zweimal ich überlege dreimal. Vorhin ist von Enkeln gesprochen worden ¬hmm ¬ich hab auch n’Enkel der is sieben Jahre. Der geht mit einer Selbstverständlichkeit da dran (.) ¬(furchtbar) ¬der startet den Computer der fährt den runter mit einer Selbstverständlichkeit da sag ich mir ‚Donnerwetter warum hat man das (.) nicht soo drauf wie die Jugend?‘ also wie die Kinder und wie die Jugend ja so wieso?
Die von Dm aufgeworfene Frage nach den unterschiedlichen Weisen des Herangehens ist, wie aus seinen Schilderungen hervorgeht, hier durchaus wörtlich zu nehmen. Seine Problematik besteht darin, dass er zwar herangeht, aber gewissermaßen nicht ankommt, auch wenn er den Computer vor sich stehen hat, die Maschine sich also in seinem Wahrnehmungsbereich befindet. Seine Annäherung an den Apparat geschieht auf dem Wege des „Drückens“ von Tasten, um mit der Maschine etwas zu „machen“, d.h. auf einer semantischen Ebene des Haptischen bzw. Mechanischen. Seine Form der Annäherung ist, wie aus dem Vergleich mit seinem siebenjährigen Enkel hervorgeht, für ihn eine nicht „selbstverständliche“. Er überwindet seine hier nicht näher beschriebene Distanz nicht, sondern „scheut“ sich und bleibt so eingebunden 48
in kognitive Reflexionsschleifen („ich überlege zweimal ich überlege dreimal“), die ihm die „Selbstverständlichkeit“ des Herangehens seines Enkels verwehren. Im Begriff des „Scheuens“ dokumentiert sich, betrachtet man dessen Etymologie, noch ein Mehr an Bedeutung. Gleich dem intuitiven schreckhaften Zurückweichen eines Pferds, das vor dem ihm unbekannten Hupen eines Autos „scheut“, also auf die Hinterbeine geht, scheut Dm vor der ihm fremden Technologie. Diese „Scheu“ ist zugleich ein Dokument dafür, dass ihm seine Handlungen am Computer nie „selbstverständlich“ werden, er bleibt gewissermaßen immer auf Fremdverstehen angewiesen. Im Gegensatz dazu beschreibt er die Handlungen seines Enkels auf einer Ebene der computerimmanenten Semantik und nicht auf der einer haptischen bzw. mechanischen: Der Enkel „drückt“ keine Tasten, sondern „startet“ den Computer bzw. „fährt ihn runter“. In der sprachlichen Differenz dokumentiert sich homolog auch die Differenz zwischen seiner haptisch-mechanischen Herangehensweise und der computerimmanenten des Enkels: ‚Zwischen’ dem Enkel und dem Computer steht gewissermaßen nicht das Drücken auf Tasten. Ihm dagegen bleibt die „Materialität“ (Gumbrecht/Pfeiffer 1988) der Technik immer gegenwärtig. Um die computerimmanente Semantik zu verstehen, muss man also dessen Programme als Zeichen decodieren können und nicht an der materialen Oberfläche der Tasten hängen bleiben. Denn: Wer sich „in die Materialität der Zeichen verstrickt, kann sie nicht verstehen“ (Assmann 1988, 238). Im Grunde hat der Dm hier Schwierigkeiten mit dem semiotischen Gesetz der „inversen Relation von An- und Abwesenheit“, demnach „ein Zeichen, um semantisch erscheinen zu können (und um semantisch verstanden zu werden, B.S.), materiell verschwinden muss“ (ebd.).4 So weit ein Ausschnitt aus der Diskussion mit den Senioren des Samples. Die Jugendlichen wiederum (Altersdurchschnitt 16 Jahre, Schüler eines Gymnasiums) bestätigen aus ihrer Erfahrung mit den Älteren deren Angst, an einem Computer etwas „kaputt zu machen“, wenn man „irgendwo druffdrückt“: Bm: Em: Bm: Cm: Em: Bm:
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¬na ja vor allem haben die immer Angst was kaputt zu machen ¬ja dis stimmt (.) ¬wenn man
irgendwo druffdrückt dass man irgendwas kaputt macht (.) ¬ja ¬(.)dis war bei meiner Uroma so ¬ beim Computer ooch mein mein Vater zum Beispiel [imitiert] ‚drück bloß nicht die Taste‘ ich meine ich Als eine weitere Analogie ließe sich hier ein Phänomen bei Lauflernprozessen von Kleinkindern heranziehen. Ab einer bestimmten Entwicklungsstufe muss auf den zuvor mühsam erlernten Vorgang des Laufens selbst keine Aufmerksamkeit mehr gerichtet werden, da sich die Bewegung habitualisiert hat.
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(Cm):
bin da jeden Tag dran ja und ich mach ja nun (n‘janzes Weilchen am Computer) und mein Vater is da so ¬die ham ja teilweise richtig Angst vorm Computer und dis sieht denn auch nich so gut aus
Die Angst vor dem unbeabsichtigten Zerstören von Komponenten, die sie nicht verstehen, ist Bm zufolge kennzeichnend für die Älteren. Z.B. ermahnt ihn sein Vater, „bloß nicht die Taste“ zu drücken, entgegen aller Erfahrung mit seinem Sohn, der sich schon lange und vor allem intensiver als sein Vater mit dem Computer beschäftigt hat. Die daraus resultierende „Angst vorm Computer“ ist den Älteren gewissermaßen körperlich eingeschrieben, wie einer der Teilnehmer (Cm) dann formuliert: Die Annäherung der Erwachsenen an das Gerät „sieht denn auch nich so gut aus“. Hier dringt die Gruppe langsam zum „habituellen Kern“ ihrer Orientierungen vor: An dieser Passage und an weiteren zuvor geschilderten (hier nicht wiedergegebenen) Episoden mit Älteren – sie verweisen z.B. auf die Unfähigkeit der Erwachsenen, den Unterschied von drei- oder viereckigen Symbolen auf der Bedienungstastatur eines Videorecorders angeben zu können – dokumentiert sich eine hohe Fremdheitsrelation, die für die Mitglieder der Gruppe nur schwer in Worte zu fassen ist. Dieses Unverständnis wird gewissermaßen genährt von ihrem eigenen selbstverständlichen, d.h. habituellen Umgang mit dem Computer. Vor diesem Hintergrund sind die Schwierigkeiten und Ängste der Erwachsenen zwar benennbar (sie nennen deren Handbuchfixiertheit, ihre Angst irgendwo drauf zu drücken, das Fehlen von Probehandeln, ein starres zweckrationales Herangehen etc.), sie können sich jedoch nicht hineinversetzen in deren Perspektiven, genauer: in deren Erfahrungsraum, im Sinne eines verstehenden Zuganges. Sie müssen die Erwachsenen interpretieren,5 d.h. sich den Sinn der Handlungen der Erwachsenen mühsam erarbeiten. Es ist ihnen nicht unmittelbar zugänglich, dass man vor einem Computer überhaupt Angst haben könnte. Im Anschluss daran thematisieren sie in diesem Zusammenhang das von den „Alten“ angesprochene „Starten“ und „Herunterfahren“ eines Computers: Cm: Bm: Cm: Bm:
5
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Für die Alten wird‘s schwieriger Na ja die Alten ¬na ja ¬wenn da jetzt ich sag mal wenn da jetzt fünf bei Windows 95 waren‘s ja drei Optionen ja? zum Runterfahren ja? Windows neu starten Windows beenden und in’n DOS-Mode Windows 98 könn‘s ja vier ( ) NT sind ja ooch vier oder können‘s vier sein und bei Windows 2000 wenn‘s da fünfe sein sollen denn ich meine jut ok wenn da wir müssen uns erst mal reinfinden was wird denn das denn mit den älteren Leuten? (2) Vgl. zum Unterschied von „Verstehen“ und „Interpretieren“ Bohnsack 2007a, 59ff.
Am: Cm: Dm: Bm: Cf:
Na ja und noch ne andere Sache ¬Haun‘ drauf oder ziehn n‘Stecker ¬Bleiben se bei 3.11 oder so ¬drü-
cken bloß noch Ausschalter ¬reicht
Am Beispiel der mit jeder Programmgeneration sich steigernden Möglichkeiten des „Runterfahrens“ arbeiten die Jugendlichen genauer die Differenz zwischen den ‚scheuen Tastendrückern’ und den ‚Runterfahrern’ heraus. In den Handlungspraktiken, die in dieser Passage den älteren Leuten unterstellt werden (Computer zerstören; Stecker rausziehen; Ausschalter drücken6 oder bei der Vorgängerversion Windows 3.11 bleiben) kommt deutlich das oben angesprochene haptische Element zum Vorschein: Auch aus der Perspektive der Jungen besteht das Problem der Alten darin, dass sie sich dem Computer eben nicht adäquat und das hieße innerhalb seines semantischen Rahmens nähern, sondern ihn mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln traktieren – und das sind eher die Mittel einer technischen Kultur auf dem Niveau der Jugendzeit der Älteren (ein Transistorradio hat z.B. einen „Ausschalter“ zum „Drücken“). Für zusätzliche Verwirrung der Älteren sorgen aus der Perspektive der Gruppe Befehlssequenzen auf der Windows-Oberfläche, die nach Meinung der Gruppe in sich unlogisch aufgebaut sind: Ew: Bm: Ew: Bm: Em: Bm: Me: Bm: Dm: Bm:
¬@(.)@ stand der stand (.) Start (.) Beenden (.) Standby @(.)@ ¬ja Beenden Standby is sowieso ne komische Sache ¬ja und vor allem Start Beenden Standby @(.)@ ¬Na siehst‘e das verwirrt zum Beispiel die alten Leute ¬ja ¬wenn da steht Start denn denn meinst‘e die vermuten darunter Beenden? (2) [verhaltenes @(.)@] @na dis is doch auch so@ ¬na da kriegt man durch Probieren raus ¬ Na ja (.) und die Probieren nich weil se Angst haben irgendwas falsch zu machen. Mein Vater hat zum Beispiel Angst davor dass er seine Texte löscht der @klickt fünf mal auf Speichern damit der gespeichert is der brauch‘ bloß eenmal draufdrücken@ fünf mal drückt der drauf bloß damit er sicher sein kann dass er gespeichert is (2)
Gerade an dieser Passage wird deutlich, dass es die Selbstverständlichkeit ist, mit der die Jugendlichen diese der Computersemantik immanenten symbolischen Repräsentationen des „Runterfahrens“ spielerisch bearbeiten, die ihre 6
Was in manchen Fällen einer Zerstörung gleichkommt.
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Praxis von der der Erwachsenen fundamental unterscheidet. Bei diesen Jugendlichen wird einerseits der Zwischenschritt des „Draufdrückens“ nicht thematisiert (geschweige denn eine „Scheu“) und andererseits werfen sie den Erwachsenen implizit deren Orientierung an einem allzu engen, zweckrationalen Handlungsmodell vor: Die Erwachsenen „probieren“ nicht und gehen so davon aus, dass am Computer alle Schritte gewissermaßen formal logisch planbar sind, woraus, angesichts der den Programmen eingeschriebenen, und aus einer Alltagsperspektive unlogischen, Schritte7 (z.B. Starten um zu Beenden) die „Verwirrung“ der „alten Leute“ resultiert.8 In der exemplarischen Analyse dokumentiert sich m.E. bereits genügend deutlich eine differente Art der Einbindung in die Welt medientechnischer Dinge bei unterschiedlichen Altersgruppen: Die Jungen drücken keine Tasten, sondern „starten“ bzw. „fahren runter“. Den Alten dagegen ist die Technologie fremd geblieben, obwohl sie sie benutzen. Sie benutzen sie aber nicht wie ein „native speaker“ seine „Muttersprache“, sondern wie jemand, der die Sprache erst als Erwachsener im Sinne einer „Fremdsprache“ erlernt hat.
Exkurs: Zur Technikvergessenheit in den Sozialwissenschaften Sozialwissenschaftliche Analysen brechen an dieser Stelle die Beschäftigung mit der Einbindung in die Welt technischer Dinge bzw. den Austausch zwischen den menschlichen und dinglichen Aspekten zumeist ab. Es ‚reicht’ gewissermaßen, herausgearbeitet zu haben, dass hier unterschiedliche modi operandi am Werk sind, die sich in einer haptisch-mechanischen und einer computerimmanenten Form des Umgangs mit der Computertechnologie dokumentieren. Einer solchen Vorgehensweise kann mit Rammert (1998a) der Vorwurf der „Technikvergessenheit“ gemacht werden, die dieser den Sozialwissenschaften generell unterstellt. Demnach verflüchtigten sich in üblichen sozialwissenschaftlichen Analyseeinstellungen die „medialen Träger des Sozialen, wie die menschlichen Körper oder die technischen Sachen“, wodurch „ihre mitprägende mediale oder strukturierende Kraft nicht mehr reflektiert“ wird (a.a.O., 19). Von dieser „Technikvergessenheit“ ist m.E. 7 8
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Innerhalb der Semantik eines Computerprogramms ist dies nicht unlogisch: Um das Programm Windows zu „beenden“, muss ein Programm „gestartet“ werden, das den Vorgang des Beendens initiiert.... Auf die weitere komparative Analyse der Gruppen wird hier aus Platzgründen verzichtet. Bei der Dokumentarischen Methode richtete sich die weitere Anstrengung dann auf die externe und interne komparative Analyse (vgl. Nohl in diesem Band) thematisch ähnlicher Passagen, um auf diesem Wege zur Ebene der Typenbildung (vgl. Nentwig-Gesemann und Bohnsack in diesem Band) vorzudringen.
auch die qualitative Forschung in den Sozialwissenschaften einschließlich ihrer Methodologie und Erkenntnistheorie geprägt9. Ein Blick in einschlägige Sammelbände (exemplarisch: Flick u.a. 2000; Friebertshäuser/Prengel 1997; Schroer 1994; Hitzler/Honer 1997) führt z.B. eindringlich vor Augen, dass viele der neueren interpretativen Verfahren, die auf der Analyse transkribierter Texte aufbauen, dem Umstand keinerlei Aufmerksamkeit widmen, dass sie dies der (im Vergleich zur Geschichte der Hermeneutik) ‚jungen’ Technik der elektromagnetischen Aufzeichnung zu verdanken haben. Die grundlegenden Bedingungen der audio- oder videotechnischen Hergestelltheit des Datenmaterials geraten so aus dem Blick und werden (mehr oder weniger) bedenkenlos als gegeben akzeptiert. Dem nächsten Schritt, der Transkription auf der Grundlage dieser elektromagnetisch erzeugten ‚Daten’, wird dann wieder ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. etwa Loos/Schäffer 2001, 55ff.). In diesem Zusammenhang wird dann z.B. auf die höhere Validität transkribierten Materials etwa im Verhältnis zu Formen der teilnehmenden Beobachtung hingewiesen (vgl. etwa Bohnsack 2007a, 195). Allerdings wird hier wiederum nicht in Rechnung gestellt, dass die Verschriftlichung von Beobachtungen selbst ebenfalls eine von Technik durchdrungene Tätigkeit ist: Ob z.B. als „Aufschreibsystem“ (Kittler 1987) ein Füllfederhalter, eine Schreibmaschine oder ein Computer genutzt wird, entscheidet über die Möglichkeiten der Weiterverarbeitung der „Daten“ und damit über die Praxis der Forschung in entscheidendem Maße (bis hin zu den Versuchen, dies in Computerprogrammen zu codieren, vgl. hierzu Kuckartz 2007). Aber auch hinsichtlich der Konstruktion ihres Gegenstandes laufen die qualitativen Methoden Gefahr, das Offensichtliche begrifflich nicht zu fassen. Exemplarisch seien hier die einschlägigen Studien über die „Techno(!)Szene“ angeführt (etwa Hitzler/Pfadenhauer 1998a u. 2001), in denen der Leser zwar vieles Interessante über die Ethnographie der jeweiligen Szenen erfährt, die Technik selbst jedoch allenfalls als „Körpertechnik“ im Mausschen Sinne Erwähnung findet (a.a.O. 1998, 88). Gleiches gilt für viele Bereiche der Medienforschung, bei denen z.B. die Techniken der Medien, etwa in ihren konstruktivistischen Varianten (exemplarisch: Schmidt 1994) ‚nur’ als Anhängsel des Sozialen oder Kulturellen gedeutet werden. Dass all diese Techniken sozialen und kulturellen Überformungen und Wechselwirkungen ausgesetzt sind und nur in ihrer Interdependenz mit diesen verstanden werden können, soll hier selbstverständlich nicht in Abrede gestellt werden. Ebenso wenig, dass z.B. in den Kommunikationswissenschaften eine Abgrenzung von für sozialwissenschaftliche Zwecke untauglichen, „informationstechnischen Kommunikationsmodellen“ (Sender-Empfänger Modelle, vgl. Schmidt 1994, 54) zwingend notwendig war. Allerdings scheint es, dass gerade in postmodern oder konstruktivistisch begründeten Methodologien diese sozialen und kulturellen Überformungen eben fast ausschließlich unter 9
Und natürlich auch und besonders die quantitativen Methoden.
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Vernachlässigung der Technik thematisiert werden und so zu der einleitend beschriebenen Situation führen.
3. Handeln mit Technik: die Perspektive Bruno Latours Die sprachliche Wendung des ‚Umgang mit dem Computer’ verweist auf eine Perspektive, in die sich die eben beschriebene „Technikvergessenheit“ bereits eingeschrieben hat. Dem Sozialen wird beim Handeln mit der Technik (beim ‚Umgang’ mit ihr) uneingeschränkt eine primordiale Position zugeschrieben. Die Materialität (Gumbrecht/Pfeiffer 1988) der Technik bleibt gewissermaßen außen vor und findet keinen systematischen Eingang in die Vorstellungen vom Handeln mit ihr. Dieser handlungstheoretischen Position, die von einer Dichotomie zwischen „Mensch und Technik“ ausgeht, möchte ich im folgenden die Sichtweise des französischen Techniksoziologen und philosophen Bruno Latour entgegenstellen, der, um das Handeln mit Technik von dieser strengen Subjekt-Objekt Trennung zu entlasten, das gemeinsame Handeln von Mensch und Technik betont. Die Technikvergessenheit der Sozialwissenschaften ist gewissermaßen der Resonanzboden, auf dem Latour (1995) seine „symmetrische Anthropologie“ entfaltet. Er hat in einer Reihe von Arbeiten die geläufige dualistische Gegenüberstellung von „Gesellschaft und Technik“ bzw. von „Menschen und Dingen“ kritisiert10 und entwirft dagegen ein Programm, das von einer „symmetrischen Assoziation menschlicher und nichtmenschlicher Agenten“ (Rammert 1998a, 23) ausgeht. In einem unaufhörlichen Prozess des „Austausches menschlicher und nichtmenschlicher Eigenschaften“ bilden sich nach Latour „Kollektive“ aus (Latour 1998, 54), bei denen eindeutige Zuschreibungen, von wem oder von was die Handlungen letztendlich initiiert werden, schwieriger werden als noch aus der (aus Latours Sicht naiven) dualistischen Perspektive. Diesen, für alle Handlungswissenschaften provokanten Thesen Latours werde ich im Folgenden etwas genauer nachgehen. In seinen Arbeiten plädiert Latour im Grunde für eine Handlungstheorie, aus der technische „Dinge“ nicht ausgeschlossen werden bzw. genauer: bei denen technische Dinge nicht ausschließlich einen Objektstatus innehaben. Er macht dies an einfachen Beispielen deutlich – z.B. an der Frage, ob Feuerwaffen Menschen töten oder ob es die Menschen sind und nicht die Waffen, die töten (Latour 1998, 31). In der herkömmlichen dualistischen Auffassung wird man zwangsläufig in die Frage verstrickt, ob die Waffe ‚nur’ ein „Werkzeug“ in der Hand eines Menschen ist, der sich ansonsten anderer Mittel bedient hätte, um seinen Zweck zu erreichen, oder ob sie mehr ist als 10
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Vgl.: Latour 1995, 1996, 1998 u. 2000.
das und wenn ja was? Latour lässt sich auf diese von ihm als essentialistisch kritisierte Fragestellung nicht ein, sondern problematisiert angesichts der Frage, ob die Waffe „tatsächlich nur ein Stück vermittelnder Technik“ sei, den Begriff der „Vermittlung“ selbst. Er unterschiedet hierbei vier verschiedene Aspekte von „Vermittlung“ zwischen Mensch und Technik: die der „Übersetzung“, die der „Zusammensetzung“, die des „reversiblen Blackboxens“ und die der „Delegation“.
Übersetzung Voraussetzung von Latours Argumentation ist seine Unterscheidung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen „Agenten“. Erstgenannte sind für ihn „Akteure“, während nicht menschliche Agenten als „Aktanten“ bezeichnet werden.11 Bei Akteuren kann es sich sowohl um einzelne Menschen (etwa „den Mörder“ oder denjenigen, der sich selbst verteidigt) als auch um Kollektive (z.B. das der Soldaten oder das der Jäger) handeln. Für Aktanten gilt das Gleiche. Sie können singulär konzipiert werden (eine einzelne Waffe) oder im Plural (z.B. das Kollektiv der Sportwaffenhersteller). Durch das Zusammentreffen von zwei „Agenten“, dem Menschen (Akteur) und der Waffe (Aktant), entsteht ein Drittes, das er als „Hybrid Akteur“ (Latour 1998, 35) bezeichnet. Das ursprüngliche „Handlungsprogramm“ des Menschen ohne Waffe (Agent 1) wird durch den Einbezug der Waffe (Agent 2) verändert („übersetzt“). Unter „Übersetzung“ versteht er also einen Prozess der Verschiebung ursprünglicher Handlungsziele eines Akteurs. Entscheidend für Latour ist, dass sich die Unterschiede zwischen Akteur und Aktant in den sich bildenden komplexen „Handlungsprogrammen“ verwischen. Unter „Handlungsprogrammen“, das wird bei der späteren kritischen Würdigung noch wichtig werden, versteht er „die Abfolge von Zielen, Schritten und Intentionen, die ein Agent in einer Geschichte beschreiben kann“ (Latour 1998, 33). In meiner Untersuchung lässt sich eine solche Übersetzung am Beispiel des Briefschreibens aufzeigen, über das einer der Teilnehmer der Seniorengruppe (Dm) im Rahmen der Aufzählung seiner Aktivitäten am Computer berichtet: Dm:
Bm: 11
So (.) und denn gefällt mir am Computer ganz dolle: wenn ich jetzt mal nen Brief geschrieben habe. Denn is man schon- ich hab nie gerne geschrieben möchte ich sagen (.) ¬(mit Musik) Den Begriff des Aktanten entlehnt er aus der Semiotik, „wo er jedes Wesen bezeichnet, das in einer Szene auftritt, solange es nicht bereits eine figurative oder nicht-figurative Rolle (wie ein „Bürger“ oder eine „Schusswaffe“) zugeschrieben bekommen hat“ (Latour 1998, 35).
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Dm: Bm: Me: Dm:
¬denn verschreib ich verschreib ich mich. Ich denke was machst‘e denn nun? Fängst‘e nen neuen Brief an (.) ¬ @(.)@ ja ¬ °@(.)@° ¬denn bin ich so denn schreib ich lieber noch mal. Denn hat manchmal n’Brief schreiben bei mir echt n’halben Tag gedauert
Bm: ¬@(.)@ ja
Me: ¬@(.)@
Dm: ?w:
und das geht so wunderschön man kann das den Brief schreiben braucht da gar nicht hingucken man kann das nachher verbessern man kann das formatieren (.) ¬ @(.)@
In der Latourschen Terminologie liegt hier ein Beispiel für eine „Übersetzung“ vor. Das Handlungsziel des Teilnehmers (Dm) besteht demnach darin, nicht nur einen Brief, sondern einen fehlerfreien Brief zu schreiben. Das Briefeschreiben wird von ihm also als Selbstpräsentation thematisiert: Ein fehlerhafter oder korrigierter Brief wird nicht abgeschickt, da die damit verbundenen Folgen zwar abgewogen („wat machste nun?“) im Endeffekt aber nicht in Kauf genommen werden („denn schreib ich lieber noch mal“). Er spezifiziert hier nicht genau, weshalb er einen korrigierten Brief denn nun eigentlich nicht abschickt. Die zustimmende Reaktion der anderen verweist darauf, dass es sich bei den geschilderten Problemen beim Briefschreiben um eine geteilte, also eine kollektive Erfahrung handelt. Ein unsauber geschriebener Brief – so lässt sich schlussfolgern – ist ein zu stark aussagekräftiges Dokument über den Habitus des Schreibers, als dass man hier nicht sorgsamste Informationskontrolle (Goffman) zu betreiben hätte. Und hierin liegt der vermittelnde Aspekt der Technik: Die mit dem Schreibprogramm einhergehende Entindividualisierung des Schriftstücks, oder genauer: die Tilgung zumindest aller handschriftlichen Hinweise auf den Habitus des Schreibers, ist es, was die Maschine so attraktiv für die Gruppe macht. Wir haben es hier also nicht nur mit einem Ersatz, sondern aus Sicht der Gruppe auch mit einer Verbesserung früherer Praktiken zu tun. Es hat eine Übersetzung stattgefunden und ein neuer Hybridakteur ist entstanden: der gern Briefe schreibende „Computer-Dm“.
Zusammensetzung Die zweite Bedeutung von Vermittlung, die der „Zusammensetzung“, ergibt sich daraus, dass Handlungen zusammengesetzt sind aus „Subprogrammen“ verschiedener „Agenten“ (Agent 1 plus Agent 2 plus Agent x). Ob es sich
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dabei um Akteure oder Aktanten handelt, ist aus der handlungsprogrammorientierten Perspektive zweitrangig. Wir schreiben zwar einem menschlichen Agenten oft die „Rolle des ersten Bewegers“ zu (gewissermaßen, um unser anthropozentrisches Weltbild zu retten), dies entlastet uns jedoch, so Latour, „in keiner Weise von der Notwendigkeit, die Handlung mit der Zusammensetzung der einzelnen Kräfte zu erklären“ (Latour 1998, 38). So beinhaltet, wenn wir das Waffenbeispiel wieder aufnehmen, die Waffe selbst unzählige Subprogramme (=Aktanten), um das für uns sichtbare Handlungsprogramm des Hybridakteurs ‚Mensch-Waffe’ zum (unter moralischen Gesichtspunkten zweifelhaften) Erfolg zu führen. In dieser Perspektive schießt nicht der Mensch mit einer Pistole, sondern das gesamte zusammengesetzte Ensemble aus komplex ineinander verschränkten Handlungsprogrammen von Akteuren und Aktanten. Um auf unseren Briefe schreibenden Hybridakteur zurückzukommen: Nicht der Teilnehmer Dm schreibt einen Brief auf dem Computer, sondern er gibt vielleicht den ersten Anstoß einen Brief zu schreiben und hat die ‚Inhalte’ parat, aber die Maschine gibt dann ‚das ihrige’, d.h. ihre Subprogramme dazu: Sie macht, wie in den gängigen neueren Schreibprogrammen (z.B. MS Word), mittels des „Assistenten“ Formatierungsvorschläge, sie korrigiert die Rechtschreibung, sie gibt stilistische Hinweise, sie bietet Synonyme an, sie ermöglicht Umstellungen ganzer Sätze etc., kurz: Sie nimmt wesentlichen Einfluss auf das ‚gemeinsame Produkt Brief’, das der Teilnehmer dann u.U. per E-Mail an seine Verwandten in Kanada schickt.
Reversibles Blackboxen Latour thematisiert dann unsere Angewohnheit, viele der Subprogramme im Alltag auszublenden.12 In diesem Phänomen sieht er die dritte Bedeutung von Vermittlung und nennt es „reversibles Blackboxen“. Er macht dieses Phänomen am Beispiel eines bei einer Vorlesung seinen Dienst versagenden Overheadprojektors klar: Alle Handlungsprogrammverkettungen des Projektors werden solange ausgeblendet („geblackboxt“), wie das ‚Ding’ seinen Dienst verrichtet und die Folien an die Wand projiziert. Erst im Nichtfunktionieren entbirgt sich dann, um Heidegger zu paraphrasieren, das „Wesen“ des „Zeugs“, und dieses besteht nach Latour eben in den verschiedenen, im Projektor miteinander verbundenen, von unterschiedlichsten Hybridakteuren in unterschiedlichen Raum- und Zeitkoordinaten initiierten Handlungsprogrammen. Angesichts der Komplexität solcher und anderer uns alltäglich umge12
Technik wird hier in ihrer handlungsentlastenden Funktion konzipiert. Natürlich sind hier Parallelen zur Technikkonzeption von Gehlen unverkennbar, der im Rahmen seiner Institutionenlehre Technik eine wesentliche Bedeutung bei der „Hintergrundserfüllung“ zukommen lässt (vgl. Fischer 1996, 328).
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bender Handlungsprogramme sei „die Tiefe unserer Ignoranz gegenüber der Technik unergründlich“ (Latour 1998, 42) und Latour fährt fort: „Wir sind nicht in der Lage sie zu zählen, ja wir können nicht einmal sagen ob sie Objekte sind oder vielmehr Objekt-Versammlungen oder gar ach so viele Sequenzen geschickter Handlungen. Und doch gibt es tatsächlich noch Philosophen, die glauben, es gäbe so etwas wie Objekte“ (ebd.). Die alten und die jungen Gruppen des oben vorgestellten Samples unterscheiden sich, was das reversible Blackboxen angeht, grundlegend: Die oben geschilderte Angst der Älteren irgendwo draufzudrücken bzw. die Selbstverständlichkeit, mit der dies die Jüngeren tun, ist als Dokument dafür anzusehen, dass hier mit den in den Anwenderprogrammen geblackboxten Handlungsprogrammen unterschiedlich umgegangen wird. Während die Jüngeren es als selbstverständlich erachten, die darin aufgeschichteten und miteinander verwobenen, komplexen Handlungsprogramme zu nutzen, ohne sie unbedingt bis in die letzte Einzelheit zu verstehen, ist es den Älteren wichtig, die black boxes in ihren Einzelfunktionen nachzuvollziehen. Ein Teilnehmer der Seniorengruppe (Dm) fasst dies an einer Stelle in die Worte: „Ich drücke ungerne irgendwo drauf was ich nicht kenne“. Angesichts der Komplexität der Programme geraten sie so zwangsläufig in die beschriebenen handlungshemmenden Reflexionsschleifen (vgl. oben: „ich überlege einmal ich überlege zweimal“), die ihre Praxis von der der jüngeren Gruppen fundamental unterscheidet.
Delegation Es ergibt sich beinahe zwangsläufig aus der Argumentation Latours, dass Techniken schließlich nicht nur Bedeutungen inne haben bzw. genauer: Bedeutungen zugeschrieben bekommen – was mit der herkömmlichen, ‚technikvergessenen‘ Sicht kompatibel wäre –, sondern auch Bedeutungen erzeugen und zwar „via eines besonderen Typus von Artikulation, der quer liegt zu den gewöhnlichen Grenzen zwischen Zeichen und Dingen“ (ebd.). Wieder macht Latour sein Anliegen an einem einfachen Beispiel deutlich, diesmal an einer Schwelle, die Autofahrer zum langsamen Fahren in verkehrsberuhigten Zonen zwingt. Die Schwelle ist, so Latour, kein herkömmliches Zeichen (wie ein Verkehrsschild), sondern in den Beton der Schwelle ist das Handlungsprogramm der Ingenieure gewissermaßen hinein gegossen. In der Schwellentechnik sind der „Inhalt“ (fahr langsamer!) und die „Ausdrucksform“ (Schwelle statt Tempo-30-Schild) übersetzt worden.13 Hierdurch werden jedoch die „eher vertrauten Gefilde des Sprachlichen und der Metaphorik“ (a.a.O., 43) verlassen. Wir bleiben, so Latour, zwar im Bereich symbolischer 13
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Wenngleich, zumindest in Deutschland, zumeist beide zugleich vorhanden sind, also eine Schwelle und ein Zeichen, das vor den Schwellen warnt.
Bedeutungen – die Schwellen fungieren ja (auch) als Symbole –, „doch nicht länger im Diskurs“ (ebd.). Diesen Vorgang nennt Latour, wiederum unter Rückgriff auf ein semiotisches Konzept, ebenfalls „Verschiebung“. Allerdings handelt es sich nicht um eine Verschiebung von Handlungszielen wie bei der „Übersetzung“ (der ersten Bedeutung von „Vermittlung“ s.o.), sondern die Straßenschwelle ist für Latour ein Beispiel für eine „akteuriale Verschiebung“ (a.a.O., 44), die in Bezug auf Zeit und Raum ihre Auswirkungen entfaltet: Diejenigen, die die Schwellen politisch durchgesetzt haben, Ingenieure, die sie geplant haben und Straßenbauer, die sie schließlich verlegt haben, sind längst nicht mehr anwesend, aber die Schwelle ‚bewohnt’ nun 24 Stunden am Tag ‚ihre‘ Straße, ist auf ihr ein neuer „Aktant“. „Für einen Akteur (z.B. einen Polizisten, B.S.) steht jetzt ein Objekt ein und erzeugt dabei eine Asymmetrie zwischen den abwesenden Machern und den gelegentlichen Nutzern“ (a.a.O., 47). Es entsteht eine „anders gelagerte Kombination von An- und Abwesenheit“. Ein Autofahrer oder jeder beliebige andere Nutzer einer Technik wird vom Handeln längst verschwundener Akteure beeinflusst. Wir leben, so Latour, unter „technischen Delegierten“ (a.a.O., 46), weshalb die Menschen nicht mehr „unter sich“ sind: „Wir haben schon zu viele Handlungen an andere Akteure delegiert, die nun unser menschliches Dasein teilen“ (a.a.O., 47). Aber auch die Materie bleibt in diesem Prozess keine bloße harte Materie: „Die Vermittlung, die technische Übersetzung (...) findet in diesem blinden Fleck statt, wo Gesellschaft und Materie ihre Eigenschaften austauschen“ (ebd.). Die vierte Bedeutung von Vermittlung liegt also in der Delegation. In Bezug auf unsere vor dem Computer sitzenden alten und jungen Teilnehmer ist dieser Gedankengang von großer Bedeutung. Das Betriebssystem Windows z.B. kann man als komplexen Delegierten auffassen, der, wie die Betonschwelle, im Zusammenspiel verschiedenster Hybridakteure ‚erzeugt’ wurde und nun mit seinen mitunter schwer nachvollziehbaren ‚Handlungen’ die älteren Teilnehmer zur Verzweiflung bringt (z.B. mit kryptisch formulierten Fehlermeldungen) bzw. den von mir interviewten jungen „Computerfreaks“ als Folie der Abgrenzung dient: Sie handeln lieber zusammen mit dem Betriebssystem LINUX, das den Anwendern, so die geteilte Überzeugung der jungen Gruppen mehr Freiheiten beim Handeln mit dem System lässt, während Windows zu einschränkend ‚agiere’. Mit den vier Bedeutungen von technischer Vermittlung – „Übersetzung“, „Zusammensetzung“, „reversibles Blackboxen“, „Delegation“ – verfolgt Latour das Ziel, den Leser letztendlich von der Dignität und eigenständigen (Handlungsprogramm-)Bedeutung technischer Dinge in sozialen Handlungszusammenhängen zu überzeugen.14 14
Strenggenommen ist aus Latourscher Sicht natürlich bereits diese idealtypische Trennung ein Rückfall in dualistische „moderne“ Praktiken. Für ihn ist die rigorose Trennung zwischen technischen Dingen und sozialen Zusammenhängen, parallel zu der zwischen Subjekt
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So weit Latour. Er steht mit seiner grundlegenden These von der Interdependenz, d.h. der unaufhebbaren Verknüpfung von Mensch und Technik natürlich nicht allein, wie schon ein kurzer Blick in die Geschichte der Technikphilosophie aufzeigt (vgl. etwa Fischer 1996). Und auch in der genuin sozialwissenschaftlichen Diskussion wird diese Frage, trotz der „Technikvergessenheit“, akzentuiert15. Das spezifische Irritationspotenzial Latours ist jedoch als weitaus höher als bei herkömmlichen techniksoziologischen bzw. -philosophischen Ansätzen einzuschätzen, weil er sich, wenn er technische Artefakte als „Quasi-Andere“16 handeln lässt, mit seinem Ansatz an eine ontologische und auch in der Alltagswahrnehmung bestehende Grenze herantastet. Seine Formulierungen sind in dieser Hinsicht jedoch nie ganz eindeutig, was ihm einerseits den Vorwurf des Essayismus einbringt, andererseits nur allzu verständlich ist, da er mit seinem Ansatz einer philosophischen Grundüberzeugung widerspricht: Nur Menschen können „handeln“, Dinge allenfalls „wirken“.17
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und Objekt (beginnend bei Descartes, cogito ergo sum), eine Erfindung der „Moderne“, um sich von den von ihr konstruierten vormodernen Kulturen abzugrenzen und damit ihre asymmetrische Anthropologie zu rechtfertigen (Latour 1995). Für Latour sind wir „nie modern gewesen“, d.h. er sieht keine qualitativen Brüche zwischen unseren Gesellschaften und denen, die gemeinhin als „vormodern“ angesehen werden. Es sind nur unterschiedliche Dimensionen und Ausweitungen der aus Aktanten und Akteuren bestehenden „Kollektive“. Hier nur zwei Beispiele: Bernhard Waldenfels (1990) lotet „die Spielräume der Technik“ aus (a.a.O. S. 142 ff.) und empfiehlt „die Herrschaftsverhältnisse zwischen Mensch und Technik nicht in die eine oder andere Richtung umzukehren, sondern eine Dosierung und Kräfteverteilung ins Auge zu fassen, die einer synergetischen Technik zugute käme.“ (a.a.O., 148 f.). Aus einer anderen Perspektive stellt Knorr-Cetina unter Bezug auf individualisierungstheoretische Überlegungen die Frage in den Raum, ob Objekte „Menschen als Beziehungspartner und Einbettungsumwelten zunehmend deplazieren oder dass sie zunehmend menschliche Beziehungen vermitteln und dabei die letzten von den ersteren abhängig machen“ (Knorr-Cetina 1998, 83; vgl. auch Rammert 1998b). Ihde (1979, 40) zitiert nach Waldenfels (1990, 148). Diesen mündlichen Hinweis verdanke ich einer Diskussion mit Georg Lohmann. Ohne das Leib-Seele Problem hier tiefschürfend verhandeln zu können, sei angemerkt, dass - gerade im Zusammenhang mit der Konstruktion von Maschinen, von denen behauptet wird, dass sie „intelligent“ wären (vgl. die Beiträge in Zimmerli/Wolf 1994) - sich das Problem zu verschärfen beginnt. Latour behauptet jedoch m.E. an keiner Stelle seiner Publikationen dezidiert, dass Maschinen handeln. Er lässt sich auf diese (unsinnige?) Debatte nicht ein. Im Grunde interessieren ihn die inneren Prozesse, die dazu führen, dass sich die w.o. beschriebenen Kollektive bilden, gar nicht. Hier hat er etwas gemein mit dem Mathematiker Turing, der, um zu erforschen, ob ein Computer wie ein Mensch „denken“ kann, sein berühmtes Turing Experiment vorschlägt, das alle „menschlichen“ Eigenschaften einer Kommunikation, bis auf die gesprochene Sprache, durch das setting aus eben dieser verbannt (vgl. Turing 1994; s. auch: Stach 2001).
4. Praxeologische Perspektiven auf die Techniksoziologie Latours Die Frage ist nun, inwieweit das in Bezug auf techniksoziologische Fragestellungen äußerst anregende Modell Latours in eine sozialwissenschaftlich empirische Handlungsanalyse im Rahmen der dokumentarischen Methode überführt werden kann. Aus dieser Perspektive ergibt sich jedoch zunächst Kritik an der Latourschen „Sicht der Dinge“ (im wahrsten Sinne des Wortes). Allerdings bezieht sich die Kritik nicht auf die Sphären des moralischen Geltens18 oder des Wahrheitsgehalts19 – beide sind und bleiben bekanntermaßen bei der dokumentarischen Methode ausgeklammert (Bohnsack 1997, 202ff.) –, sondern zentral an seinem Begriff des „Handlungsprogramms“. In dessen Definition („Abfolge von Zielen, Schritten und Intentionen, die ein Agent in einer Geschichte beschreiben kann“, s.o.) dokumentiert sich ein tendenziell intentionalistisch geprägtes, entwurfsorientiertes Handlungsverständnis. Die Handlung ist gewissermaßen ein der Motivierung nachgeordnetes Ausführen: In Handlungsprogrammen20 setzen sich die Agenten Ziele und arbeiten diese sukzessive z.T. unter „technisch vermittelten“ Umwegen ab. Das „Handeln“ des Akteurs hat sich hierbei mit dem „Quasihandeln“ der Aktanten zu arrangieren.21 Mit der Orientierung auf Ziele und Intentionen und damit auf „institutionen- oder rollenförmiges Handeln“ (Bohnsack, im Artikel zur „Typenbildung“ in diesem Band) grenzt Latour implizit jedoch eine spezifische Ebene des Handelns aus bzw. gesteht ihr nur einen Status als Residualkategorie zu22: der des habituellen Handelns (ursprünglich dazu: Bohnsack 1993). Sie steht in einem Spannungsverhältnis zu geplanten, zielorientierten, „subjektivgemeinten“ (Weber) bzw. um-zu-motivierten (Schütz), zweckrationalen Formen des Handelns. Mit habituellem Handeln ist dasjenige menschliche Handeln gemeint, das sich alltäglich innerhalb „konjunktiver Erfahrungsräume“ (Mannheim 1980, 211 ff.) vollzieht, ohne dass, wie in den zweckrationalen Handlungsmodellen erforderlich, sich ein theoretisch-explizites, sogleich in Form von Sprechakten formulierbares Motiv angeben ließe. Ein konjunktiver, also verbindender, 18 19 20 21 22
Z.B. Argumentationen, die in der Annäherung von Mensch und Maschine die Einzigartigkeit und Würde des Menschen bedroht sehen. Z.B. Argumentationen, die sich mit der Frage beschäftigen, ob Maschinen denken können (vgl. hierzu Krämer 1994). Schon im Begriff des Programms selbst kommt dies zum Ausdruck. Vgl. zur Kritik eines solchen entwurfsorientierten Handlungsbegriffs bspw. Joas 1992, 218 ff. Dies dokumentiert sich durchgängig an seinen Beispielen, in denen den Menschen allenfalls stereotype Motivunterstellungen zugeschrieben werden (z.B., dass der Akteur mit der Waffe in der Hand „wütend“ ist und sich „rächen“ will, (Latour 1998, 33)).
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Erfahrungsraum basiert auf gemeinsamen oder gleichartigen biographischen und kollektivbiographischen Erlebniszusammenhängen (Mannheim 1980, 271) derjenigen, die diesem Erfahrungsraum angehören. Handlungsleitende Orientierungsrahmen bilden sich in einem dynamischen, ineinander verschränkten Zusammenspiel von geschlechts, milieu-, generations- und bildungsspezifischen konjunktiven Erfahrungen heraus (zu diesem Modell vgl. zuerst Bohnsack 1989). Diese kollektiven Orientierungsrahmen sind den Handelnden in Form praktischer Intelligenz als handlungsleitendes Wissen präsent, allerdings bewegt sich diese Präsens auf einer Ebene des „impliziten“ (Gurwitsch 1977, 120 ff.) bzw. des a-theoretischen Wissens. Wir haben es mit einer nicht „kommunikativ-generalisierten“ (Bohnsack 1997) und z.T. auch nicht kommunikativ-generalisierbaren Wissensform zu tun.23 Das handlungsleitende Wissen habituellen Handelns unterscheidet sich also von demjenigen zweckrationalen Handeln zentral dadurch, dass es in verschiedensten Handlungssituationen gemäß des modus operandi des Habitus homologe Praxen ‚erzeugt’, und zwar im Rahmen der Möglichkeiten und Grenzen desjenigen konjunktiven Erfahrungsraumes, innerhalb dessen es aktualisiert wird.24 Im Rahmen der dokumentarischen Methode können derartige komplexe, sich gegenseitig überlagernde, konjunktive Verschränkungsverhältnisse adäquat herausgearbeitet werden: Handlungspraxen und Äußerungen sind dann ‚Dokumente für’ die beschriebenen Ebenen konjunktiver Erfahrung. Latours techniksoziologische Perspektive praxeologisch zu reformulieren heißt nun, denjenigen technischen Dingen eine potenziell eigenständige Dimension zuzugestehen, die wichtig sind für die Konstitution eines konjunktiven Erfahrungsraumes. In dieser Perspektive haben wir es dann mit dem habituellen Handeln von Hybridakteuren innerhalb konjunktiver Erfahrungsräume zu tun. Technische Objekte/Dinge bekommen hier im Zusammenspiel mit Menschen eine potenziell eigenständige Dimension, die die herkömmliche Subjekt/Objekt-Trennung zwischen Dingen und Menschen relativiert. Vor dem Hintergrund des gerade skizzierten Modells habituellen Handelns ist nun zu fragen, welche a-theoretischen Gehalte sich im modus operandi (medien)technischer Dinge dokumentieren. Es gilt insofern den in diesem Sinne „stumpfen Sinn“ der Technik herauszuarbeiten, um einen Begriff von Roland Barthes zu adaptieren bzw. ihren „Quasi-Habitus“. Um welche a-theoretischen bzw. impliziten Qualitäten handelt es sich also, die in 23
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Deutlich wird dies etwa an Gesten oder Blicken, die in Interaktionssituationen innerhalb eines konjunktiven Erfahrungszusammenhanges fraglos verstanden werden (vgl. Bohnsack im Artikel zur Bildinterpretation in diesem Band). Sollen die Gesten oder Blicke jedoch theoretisch explizit gemacht, d.h. versprachlicht werden, bedarf es zumindest eines großen Interpretationsaufwandes bzw. ist es z.T. sogar ganz und gar unmöglich, diesen Gehalt sprachlich zu fixieren (vgl. hierzu Schäffer 2003b). Vgl. hierzu natürlich auch die Arbeiten von Pierre Bourdieu (etwa ders. 1993, 97 ff.), dazu Meuser in diesem Band.
einer praxeologisch fundierten Handlungs- und Erkenntnistheorie das Latoursche „Hybridhandeln“ von Akteuren und Aktanten innerhalb konjunktiver Erfahrungsräume vermitteln?
5. Kontagion mit technischen Dingen Latour hebt in seinen Ausführungen immer wieder hervor, dass sich technische Dinge und Menschen bei ihrer „Kooperation“ miteinander verändern. In Bezug auf das oben explizierte Waffenbeispiel führt er z.B. aus: „Du als Subjekt und die Waffe als Objekt haben sich verändert, da ihr beide miteinander in eine Beziehung getreten seid“ (Latour 1998, 34 f.). Er lässt es jedoch hierbei bewenden und thematisiert diese Veränderung nur unter den schon angeführten Veränderungen bezüglich der zweckrationalen Handlungsprogramme. Eine hier m.E. eigentlich zu leistende, nähere phänomenologische Bestimmung dieser „Veränderung“ der menschlichen Ver- und Eingebundenheit in die Welt technischer Dinge (und umgekehrt), wie sie sich einerseits als Fragehorizont aus dem empirischen Anfangsbeispiel erschloss und andererseits als erkenntnistheoretische Fundierung der Handlungstheorie Latours zu leisten wäre, bleibt gewissermaßen außen vor. Ich werde im Folgenden versuchen, diese Lücke mit der eingangs erläuterten Konzeption der „Kontagion mit den Dingen“ zu schließen.
Kontagionserfahrungen mit „gestimmtem“ medientechnischem „Zeug“ Die auf den ersten Blick etwas mystisch anmutende, im Grunde phänomenologisch inspirierte Perspektive Mannheims gewinnt an Evidenz, wenn man sich (durchaus mit Latour) vergegenwärtigt, dass wir laufend mit der Welt der Dinge solche Kontagionen eingehen bzw. präziser: in sie eingebunden sind. Dies bezieht sich natürlich auch (und vielleicht ganz besonders) auf die Welt des (medien)technischen „Zeugs“ (Heidegger), dem wir in unserem Alltagsleben zunehmend ausgesetzt sind. Mannheims Formulierungen sind nur ein Beispiel für die mannigfaltigen Versuche, sich des „evidenten und robusten Wissens“ (Mannheim 1980, 206) begrifflich zu versichern, dass Dinge – seien es nun Steine oder Landschaften oder „Zeug“, z.B. Waffen oder Computer – in dem Vorgang der Verschmelzung im phänomenologischen Sinne ‚etwas’ anregen, das über die vordergründigen, im positivistisch-empirizistischen Sinne fassbaren Faktizitäten hinausgeht (und zwar sowohl in den Dingen und im Zeug als auch in Personen und deren Kollektiven). Merleau-Ponty hat dies im Begriff des „Chiasmus“ bzw. der „Verflech63
tung“ gefasst, mit dem er genau diese Spaltung zwischen Für-sich (Subjekt) und Für-andere (Objekt) mit sprachlichen Mitteln zu überwinden sucht (Merleau-Ponty 1966, 172 ff. u. 274 f.): „Das Chiasma ist nicht nur der Austausch Ich-Anderer, (...) es ist auch Austausch zwischen mir und der Welt, zwischen dem phänomenalen Leib und dem „objektiven“ Körper, zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen: was als Ding beginnt, endet als Bewusstsein des Dinges, was als „Bewusstseinszustand“ beginnt, endet als Ding“ (a.a.O. 274, Hervorhebung B.S., vgl. auch Meyer-Drawe 1996, 117 ff.). Versuche, derartige chiastische Phänomene bzw. solche der Kontagion begrifflich zu fassen, sind u.a. in den Gebieten der Medientheorie, der Ästhetik, der Leibphilosophie und der Existenzialphilosophie beheimatet. So hat bspw. Walter Benjamin hierfür den Begriff der „Aura“ ausgearbeitet, welche eine Person in Gegenwart von Naturdingen – er bezieht sich auf einen „Gebirgszug am Horizont“ oder einen Zweig – „atmen“ kann.25 Schmitz (1993) spricht von „Atmosphären“, die Dinge, Räume und den Leib des Menschen gleichermaßen durchdringen. Beim Ästhetiktheoretiker Böhme ist ebenfalls von Atmosphären die Rede, die jedoch bei ihm als „Ekstasen“ von den (ästhetischen) Dingen ausströmen (Böhme 1995). Schließlich wird von Heidegger die „Stimmung“ thematisiert, die ein „Zeug“ umgibt (Heidegger 1992). M.E. ist Heideggers Kategorie des „gestimmten Zeugs“ am ehesten zur Beschreibung der Kontagion mit technischen Dingen geeignet. Die anderen Autoren beziehen sich entweder stärker auf ästhetische Dinge (Böhme) oder auf Naturdingbegrifflichkeiten (Benjamin und Schmitz). Dagegen ist im Heideggerschen „Zeug“ das habituelle Handeln von Hybridakteuren mit technisch hergestellten Dingen gewissermaßen mit eingeschlossen.26 In Bezug auf das empirische Anfangsbeispiel aus meinem Forschungsprojekt heißt das folgendes: Die beiden idealtypisch herausgearbeiteten Semantiken des haptisch-mechanischen („draufdrücken“) bzw. des computerimmanenten („runterfahren“) sind Dokumente für eine weitaus tiefer liegende, den Diskutierenden nicht so ohne weiteres zugängliche Ebene der Konta25 26
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Definitorisch erarbeitet sich Benjamin den Aurabegriff an der „Aura natürlicher Gegenstände“, und nicht, wie man angesichts des Titels seines berühmten Aufsatzes vermuten möchte, anhand von Kunstwerken (vgl. Benjamin 1994). In seinem Aufsatz zur Kunstinterpretation (Heidegger 1992) arbeitet er exemplarisch die sich vermittelnde Stimmung eines auf einem Bild von van Gogh abgebildeten Paars Bauernschuhe heraus. Das, was er die „Zeughaftigkeit des Zeugs“ nennt, stellt, so geht aus seiner Interpretation hervor, im Grunde eine Verkopplung des Zeugs mit den konjunktiven Erfahrungen bäuerlichen Lebens im Rahmen von sprachlich nur mit metaphorischen Mitteln fassbaren Atmosphären und Stimmungen dar. Gewissermaßen hat van Goghs Schuh die sedimentierten konjunktiven Erfahrungen eines bäuerlichen Erfahrungsraumes in sich aufgenommen; für Heidegger besteht das Künstlerische van Goghs gerade darin, diese Erfahrungszusammenhänge für andere Milieus bildhaft zugänglich gemacht zu haben. Vgl. zu einer eingehenderen Beschäftigung mit dem Bauerschuhbeispiel: Schödlbauer 2000, 167 ff. und S. 304 ff.
gion mit dem Technischen. In ihren Erzählungen und Beschreibungen über ihr „Handeln mit Technik“ lässt sich an vielen Stellen der Bezug auf solche Kontagionserfahrungen ausmachen, die dann in atmosphärischen Begriffen oder solchen der Stimmung beschrieben werden können. In den Passagen dokumentiert sich also eine Zugehörigkeit der Mitglieder der Diskussionsgruppen zu je verschiedenen „Kollektiven“ von Hybridakteuren, deren habituelles Handeln mit Technik von den je spezifischen Kontagionserfahrungen mit dem Quasihabitus der Technik geprägt ist. Hat man die Aufmerksamkeit erst einmal in dieser Richtung geschärft, bekommen die Diskussionen der Gruppen über ihr Verhältnis zur Computertechnik einen neuen Status als Dokumente, die indexikal auf solche wechselseitigen Kontagionsverhältnisse hinweisen. In der von den Älteren thematisierten „Scheu“ dokumentiert sich dann bspw. eine andere Form der Kontagion mit dem Technischen als bei den Jüngeren. Die „existenzielle Bezogenheit“ mit dem Zeug Computer, die ja laut Mannheim das „spezifische Einswerden mit dem Objekte“ moderiert, geschieht bei den Älteren vor dem Hintergrund gänzlich anderer Erfahrungshintergründe. So leidet der, aus dem ‚gemeinsamen Handeln’ von Älteren und ‚dem Computer’ hervorgehende Latoursche kollektive Hybridakteur gewissermaßen permanent unter den ‚atmosphärischen Spannungen’, die zwischen dem habituellen Handeln der Älteren und dem modus operandi, dem Quasihabitus der Maschinen entstehen. Sein Handeln (das des Hybridakteurs) lässt sich mithin als eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Habitus charakterisieren und ist aufgrund dieser ‚Reibungsverluste’ insgesamt als eher mühsam zu charakterisieren oder, salopp formuliert: es herrscht schlechte Stimmung zwischen Mensch und Maschine. Umgekehrt sind die jüngeren kollektiven Hybridakteure durch eine reibungslosere Passung gekennzeichnet. Ihre konjunktiven Erfahrungsräume sind durchdrungen von Kontagionserlebnissen einer anderen Qualität. Dabei ist ihr modus operandi und der der Maschinen von einem anderen Passungsverhältnis gekennzeichnet. Sie sind Teil eines neuen Kollektivs von Hybridakteuren, bei denen während der sozialisatorischen Interaktion im Jugend- und frühen Erwachsenenalter die Kontagionserfahrungen in differenter Form habitualisiert worden sind. In den Diskussionen steht hierfür stellvertretend die Metaphorik des „Probierens“. Es dokumentiert sich hierin eher ein von Neugier und nicht von Scheu getragenes „Abtasten“ bzw. „Kosten“ oder „Schmecken“ der Technologie. Es mündet dann in ein, die Kollektive der jüngeren Hybridakteure kennzeichnendes ‚gemeinsames Probehandeln’ mit den neuen Aktanten, bei dem es dann zu Formen der „habituellen Übereinstimmung“ (Bohnsack et. al. 1995) ‚zwischen’ Mensch und Maschine kommt bzw. zu Formen der habituellen Nichtübereinstimmung bei den älteren Kohorten.27 27
Eine bildungs- und generationstheoretische Perspektive auf diese Hybridakteure, die mit umfassenden empirischen Analysen verbunden ist, findet sich in Schäffer 2003a. Für einen weiteren Versuch, die in diesem Aufsatz entwickelte Konzeption auf die rekonstruktive
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6. Zusammenfassung In diesem Beitrag wurde – vor dem Hintergrund der These einer allgemeinen „Technikvergessenheit“ (Rammert) in den Sozialwissenschaften – der Frage nachgegangen, ob sich ein von Bruno Latour entfaltetes Modell des Handelns mit Technik reformulieren lässt im Rahmen handlungs- und erkenntnistheoretischer Annahmen der praxeologischen Methodologie bzw. der dokumentarischen Methode und somit in qualitative Forschung integriert werden kann. Ausgangspunkt der Überlegungen war der anhand von Gruppendiskussionen mit Gruppen unterschiedlichen Durchschnittalters empirisch rekonstruierte, evidente Sachverhalt, dass generationsspezifisch unterschiedlichen Formen des habituellen ‚Handelns mit Technik’ offensichtlich eine unterschiedliche ‚Verbundenheit mit der’ und damit einhergehend eine verschiedenartige ‚Eingebundenheit in die Welt technischer Dinge’ zugrunde liegt. Mit Bruno Latour wurde darauf verwiesen, dass Menschen und technische Dinge in komplexe „Handlungsprogramme“ verwickelt sind, die den auch in der Medienforschung und -theorie verbreiteten Dualismus zwischen Menschen und technischen Artefakten transzendieren: Weder die Medientechnologien machen etwas mit den Menschen noch die Menschen etwas mit den Medientechnologien. Vielmehr bilden sie gemeinsam kollektive „Hybridakteure“ im Sinne von Handlungsprozessstrukturen heraus, die nur in ihrer Aufeinanderbezogenheit verstanden werden können. Mit dem handlungs- und erkenntnistheoretischen Instrumentarium der dokumentarischen Methode ließ sich die Fundierung dieser Aufeinanderbezogenheit näher bestimmen als diejenige verschiedener Erfahrungen der Kontagion. Der von Mannheim geprägte Begriff der „Kontagion“ verweist in diesem Zusammenhang auf eine existentielle Bezogenheit mit dem medientechnischen „Zeug“ (Heidegger), die anzusiedeln ist auf einer vor aller explizit-theoretischen Verbegrifflichung liegenden Ebene. Adäquat sind diese Verhältnisse umschreibbar in den Begriffen der Aura, der Atmosphäre und der Stimmung. All diese Begriffe zielen auf ein „Dazwischen“ ab, also auf den Chiasmus (Merleau-Ponty) zwischen technischen Dingen und Menschen. Die konjunktiven Erfahrungszusammenhänge der Hybridakteure sind also bereits im „Zeug“ als modus operandi bzw. als Quasihabitus aufgehoben. Abschließend wurde aufgezeigt, dass in dieser Perspektive die Gespräche über Technik in den Gruppendiskussionen im Sinne der dokumentarischen Methode als Dokumente für verschiedene Formen von Erfahrungen der Kontagion gelesen werden können. Diese Erfahrungen schlagen sich in den Orientierungsfiguren der Senioren und der jungen Gruppen in unterschiedlicher Ausprägung nieder und tangieren als handlungsleitendes implizites Wissen ihr gemeinsames Handeln mit dem Computer. Die „Scheu“ der Bildungsforschung zu beziehen, vgl. Nohl 2002.
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Älteren bzw. die Unbefangenheit der Jüngeren beim ‚Umgang’ mit dem „Zeug“ Computer wird nun begriffen als Dokument dafür, dass die die Geräte umgebenden Auren, Atmosphären und Stimmungen durchdrungen sind von den Erfahrungszusammenhängen kollektiver Hybridakteure. Aus einer praxeologisch erweiterten Latourschen Perspektive sind also die in einem Computerprogramm „geblackboxten“ Funktionen Dokumente für die Delegation von Habitusformationen ganzer Generationen.
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Ralf Bohnsack
Die dokumentarische Methode in der Bild- und Fotointerpretation Eines der anspruchsvollsten und zugleich einflussreichsten Modelle der Bildinterpretation stammt von dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky. Jene Sinndimension, die im Zentrum seiner Methode steht, nämlich die ikonologische, bezeichnete Panofsky (1932, 115) auch als diejenige des „Dokumentsinns“. Er bezog sich damit explizit auf den Wissenssoziologen Karl Mannheim und dessen „dokumentarische Methode der Interpretation“. Während damals, d.h. Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre, Panofsky die sozialwissenschaftlichen Arbeiten seines Zeitgenossen und (was die Zwangsemigration beider anbetrifft) auch Schicksalsgenossen Mannheim daraufhin befragt hat, inwiefern sie für die Kunstgeschichte Relevanz gewinnen können, soll im Folgenden die umgekehrte Fragerichtung im Zentrum stehen: Inwiefern vermag die kunstgeschichtliche Methodik – vor allem diejenige, die in der Tradition von Panofsky steht und somit bereits durch die dokumentarische Methode beeinflusst ist – mit ihrer umfangreichen Erfahrung zur Entfaltung von Grundprinzipien der dokumentarischen Bild- und Fotointerpretation beizutragen. Mit der „dokumentarischen Methode“ als einer Methode der „Weltanschauungsinterpretation“ war es Mannheim (u.a. 1964a) bereits in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts gelungen, eine methodologische Begründung der Beobachterhaltung in den Sozialwissenschaften vorzulegen, die auch dem Niveau der heutigen erkenntnistheoretischen Diskussion noch entspricht bzw. in ihrer Tragweite jetzt überhaupt erst erkannt werden kann. Diese Beobachterhaltung ist im Wesentlichen in einem spezifischen Wechsel der Analyseeinstellung begründet: im Wechsel vom Was zum Wie, wie ich dies im Anschluss an Heidegger (1986) und später auch Luhmann (1990), vor allem aber eben an Mannheim bezeichnen möchte.1 Diese von Mannheim (1980, 85) auch als „genetische Einstellung“ charakterisierte analytische Haltung ist wesentliche Komponente der dokumentarischen Methode. Es geht um den Wechsel von der Frage, was kulturelle oder gesellschaftliche Phänomene oder Tatsachen sind, zur Frage danach, wie diese hergestellt werden: „Nicht
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Vgl. dazu die Bestimmung der „phänomenologischen Methode“ bei Heidegger (1986, 7), demzufolge diese „nicht das sachhaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser“ charakterisiert.
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das ‚Was‘ eines objektiven Sinnes, sondern das ‚Dass‘ und das ‚Wie‘ wird von dominierender Wichtigkeit“ (Mannheim 1964a, 134). Mannheim hat hiermit im übrigen das vorweggenommen und zum Teil – auf dem Weg über die Ethnomethodologie – auch mit beeinflusst, was heute zum Kern der konstruktivistischen Analyse gehört: Die ‚Welt selbst‘ oder ‚die Realität‘, also das ‚Was‘ bleibt unbeobachtbar. Beobachtbar sind lediglich die Prozesse der Herstellung von ‚Welt‘ oder ‚Realität‘, also das ‚Wie‘.
1. Die ikonographisch-ikonologische Interpretation Die methodologische Leitdifferenz von ‚Was‘ und ‚Wie‘, also die Differenz zwischen dem, was dargestellt wird, einerseits und dem, wie diese Darstellung hergestellt wird, andererseits, ist bei Mannheim als diejenige von „immanentem“ (oder: „objektivem“) und „dokumentarischem“ Sinngehalt gefasst. Panofsky knüpft an diese Unterscheidung an und differenziert innerhalb des immanenten Sinngehalts, also im Bereich dessen, was Gegenstand, Thema oder ‚Sujet‘ der Darstellung ist, nun noch einmal, indem er zwischen primärer und sekundärer Ebene, zwischen primärem und sekundärem Sujet bzw. Thema unterscheidet. So geht es auf der primären Ebene zunächst darum, die auf einem Bild sichtbaren Objekte, Phänomene oder Gegenstände, also „künstlerische Motive“ (Panofsky 1975, 39) überhaupt identifizieren zu können (beispielsweise „eine Gruppe von Personen, die in einer bestimmten Anordnung und mit bestimmten Posen um eine Speisetafel sitzen“; ebd.). Erst auf der sekundären Ebene „verknüpfen wir künstlerische Motive und Kombinationen künstlerischer Motive (Kompositionen) mit Themen oder Konzepten“ (ebd.), d.h. mit objektivierten und sprachlich ohne weiteres explizierbaren Wissensbeständen, bei denen es sich im Fall der Kunstinterpretation um narrative Texte (u.a. um Bibeltexte) handelt. Das, was der Interpret leistet, wenn er derartige – als Vorlage für die Bilder dienende – Narrationen identifiziert, bezeichnet Panofsky als „Ikonographie“. (So vermag er beispielsweise zu identifizieren, „dass eine Gruppe von Personen, die in einer bestimmten Anordnung und mit bestimmten Posen um eine Speisetafel sitzen, das letzte Abendmahl darstellen“; ebd.). Im Zuge einer ikonographischen Analyse, bei der wir auf der Ebene des ‚Was‘, also auf derjenigen der Beobachtungen erster Ordnung, verbleiben, konstruieren wir – allgemeiner und in soziologischer Begrifflichkeit gefasst – Typen von Handlungen und Typen von Akteuren. Wir unterstellen Motive (hier nicht im kunst-, sondern im handlungstheoretischen Sinne), genauer:
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„Um-zu-Motive“.2 Dies wird deutlicher dort, wo Panofsky die von ihm entworfenen Interpretationsschritte nicht im Bereich der Kunst, sondern des „Alltagslebens“ (1975, 38) am Beispiel der Gebärde eines Bekannten erläutert. Diese Gebärde, die auf der „vorikonographischen“ Ebene zunächst als „Hutziehen“ identifizierbar ist, kann erst auf der ikonographischen Ebene als ein „Grüßen“ analysiert werden (vgl. ebd.). In Fortentwicklung dieser Argumentation lässt sich dieser Schritt der Interpretation als derjenige der Unterstellung von „Um-zu-Motiven“ charakterisieren: Der Bekannte zieht seinen Hut, um zu grüßen. Eine ikonographische Analyse versteht somit die im Bild dargestellten Handlungen in der Weise, dass sie „die Handlungsfolge, aus der sie herausgelöst wurden, stereotyp versinnbildlichen (...). Der Betrachter wird also angehalten, vom Augenblick der Betrachtung ausgehend, die zeitliche Sequenz vorwärts und rückwärts zu lesen“ (Goffman 1981, 115), somit also die durch das Bild erzählte Geschichte zu rekonstruieren. Die ikonographische Analyse unterscheidet sich radikal von einer Interpretation, die auf das Wie, auf den modus operandi der Herstellung bzw. Entstehung der Gebärde selbst gerichtet ist. Nach Panofsky erschließt sich auf diese Weise „die eigentliche Bedeutung“ oder der „Gehalt“ einer Gebärde (1975, 40), der „Wesenssinn“ oder eben „Dokumentsinn“ (1932, 115 u. 118) als Grundlage für die ikonologische Interpretation. In diesem Sinne werden wir an der Gebärde den „Eindruck einer ganz bestimmten Wesensart erhalten können (...) – den Eindruck einer inneren Struktur, an deren Aufbau Geist, Charakter, Herkunft, Umgebung und Lebensschicksal in gleicher Weise mitgearbeitet haben, und die sich in der Grußhandlung ebenso klar und ebenso unabhängig vom Willen und Wissen des Grüßenden ‚dokumentiert‘, wie sie sich in jeder anderen Lebensäußerung des betreffenden Menschen dokumentieren würde“ (ebd., 115 f.).
2. Die ikonische Interpretation Max Imdahl hat sich auf der Basis eigener empirischer Analysen im Bereich der kunstgeschichtlichen Bildinterpretation mit der ikonographisch-ikonologischen Methode von Panofsky intensiv auseinandergesetzt und sie zugleich kritisch weiterentwickelt. Imdahl interpretiert an empirischen Beispielen – vor allem an den am Beginn der neuzeitlichen Malerei stehenden Fresken von Giotto – zunächst den ikonologischen Bildsinn. Er „besteht in der Funk2
„Um-zu-Motive“ verstehe ich im Sinne der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz (1971), welche auf die Analyse dieser, also der ikonographischen Sinnebene als derjenigen der „Common Sense-Typenbildung“ (vgl. den Beitrag zur Typenbildung von Bohnsack i. d. Band) spezialisiert, aber auch eingeschränkt ist.
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tion des Bildes als einer Ausdrucksform für solche historisch bedingten Geisteshaltungen, die zur Entstehungszeit des Bildes in der Malerei wie auch sonst in religiösen, philosophischen und poetischen Ideen hervortreten“ (Imdahl 1994, 306). Im Beispielfall der Arenafresken handelt es sich um eine der ersten – den Übergang zur Neuzeit markierenden – Dokumentationen einer „Tendenz zur Humanisierung“, konkreter: einer Orientierung an „Emotion als der Bekundung einer religiös-politischen Grundeinstellung“ (Imdahl 1996, 87), die sich vor allem darin zeigt, dass der Betrachter „besonders zu miterlebendem, sympathetischem und nicht admirativem Verhalten [wie in den eher mittelalterlichen Darstellungen; Anm. R.B.] aufgerufen [ist], zu Mitangst und Mitleid“ (1994, 312). Gerade diese besondere Leistung der ikonologischen Interpretation im Sinne von Panofsky, den Dokumentsinn aus den Analogien unterschiedlichster Kunst- und Darstellungsgattungen (philosophische und religiöse Literatur, Bildhauerei, Malerei) hervortreten zu lassen, ist für Imdahl aber zugleich Ausgangspunkt für die kritische Frage danach, wo dann das Besondere des Mediums Bild zu suchen sei. In diesem Zusammenhang kritisiert Imdahl auch die reduzierte Bedeutung von „Formen“ und „Kompositionen“ bei Panofsky. Formen würden auf die Funktion reduziert, die (natürlichen) Gegenständlichkeiten des Bildes durch Linienführung und Farbe identifizierbar, d.h. wiedererkennbar zu gestalten (vgl. Imdahl 1996, 89). Und Kompositionen, also die spezifischen Arrangements der Bild-Gegenständlichkeiten, der „Motive“ zueinander, würden darauf reduziert, das durch die ikonographische Narration (z.B. den biblischen oder heilsgeschichtlichen Text) bereits Bekannte in wiedererkennbarer Weise zu gestalten: „Für Panofsky ist dagegen das Bild – sei es nun ein Kunstwerk oder auch nicht – nichts anderes als die Veranlassung eines wiedererkennenden, Gegenstände identifizierenden Sehens“ (Imdahl 1996, 89). Dem stellt Imdahl das „sehende Sehen“ gegenüber, in dessen Verständnis er vor allem durch Fiedler (1971) beeinflusst ist. Dieses ist gegenstandsindifferent bzw. formal, erfasst ausschließlich den modus operandi der Formalstruktur der Bildkomposition. Im Unterschied zur Ikonologie von Panofsky wie aber auch zugleich im Unterschied zur Reduktion auf das „sehende Sehen“ geht es Imdahl darum, dass „gegenständliches, wiedererkennendes Sehen und formales sehendes Sehen sich ineinander vermitteln“ (1996, 92). Dies ist die Leistung der „Ikonik“, die Imdahl wesentlich auf der Grundlage eigener Forschungspraxis, d.h. aus der Rekonstruktion der eigenen empirischen Verfahrensweise entwickelt hat.3 Wie Waldenfels (1995, 236 f.) mit
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Dass es sich bei der Ikonik um eine grundlegend rekonstruktiv gewonnene Methode handelt (s. dazu: Bohnsack 2000a, Kap. 2 u. 10), wird dort deutlich, wo Imdahl (1995b, 617) auf die Schwierigkeiten ihrer Vermittlung eingeht. Um erläutern zu können, was Ikonik ist, „bedarf es unverzichtbar der Anschauung und der durch Anschauung zu gewinnenden Er-
Bezug auf Imdahl hervorhebt, entspricht dessen Sichtweise der „Phänomenologie“. Sie „bewirkt eine andere Einstellung zur Welt; diese unsere Welt erscheint als andere, nicht mehr als fertig bestehende Welt, sondern als Welt im Entstehen.“ Auch die Ikonik ist also in einer Analyseeinstellung fundiert, die der dokumentarischen Methode entspricht und nach dem Wie der Herstellung bzw. des ‚Entstehens‘ von Wirklichkeit oder Welt fragt und somit auf der Ebene des Beobachtens von Beobachtungen angesiedelt ist. Trotz seiner Kritik an Panofsky betont Imdahl, dass dessen „vorikonographisch-ikonographisch-ikonologisch gestufter Interpretationsanspruch für die Sinnbestimmung eines Bildes wie der ottonischen Miniatur unverzichtbar ist“ (1994, 308). Dieser Anspruch bleibt aber auf die Gattung des „heilsgeschichtlichen Ereignisbildes“ eingeschränkt, welches „ohne die biblischen Texte nicht sein kann“ (ebd., 310), bzw. auf „bestimmte Klassen der gegenständlichen, figürlichen Malerei, an der ‚europäischen Landschaftsmalerei‘, an ‚Stilleben‘ oder auch an ‚Genremalerei‘ kann es sich nicht bewähren“ (Imdahl 1996, 89). Im Fall der nicht-gegenständlichen Malerei schließlich verliert das Interpretationsmodell von Panofsky vollständig seine Bedeutung zugunsten der Ikonik (vgl. Imdahl 1994, 315 ff.; 1979, 202 ff.; 1996, 89).
3. Ikonik und dokumentarische Interpretation Die Kritik von Imdahl an Panofsky zielt also (wenn wir es in der Begrifflichkeit der dokumentarischen Methode formulieren) dahin, dass in dessen Ikonologie die Frage nach dem Wie der Herstellung oder Entstehung von Sinngehalten und Objekten zu spät ansetzt. Diese analytische Einstellung wird bei Panofsky erst bei den ikonographisch bereits überformten Gehalten relevant. D.h., erst das ikonographisch und somit grundlegend sprachlich und textlich vorgängig bereits Erfasste wird auf den modus operandi oder die generative Formel seiner Herstellung hin befragt.
3.1 Codierte oder kommunikativ-generalisierte Bedeutung und Dokumentsinn Die dokumentarische Interpretation setzt demgegenüber sowohl im Anschluss an die ikonographische Analyse, also die sekundäre Ebene, als auch bereits im Anschluss an die vorikonographische Ebene ein. Wenn wir uns an das eingangs (Kap.1) erwähnte von Panofsky selbst angeführte Beispiel erinfahrung (...). Denn eine abstrakte Erörterung trägt zur möglichen Klärung dessen, was Ikonik ist und was in ikonischer Anschauung offenbar wird, nichts eigentlich bei.“
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nern, bei dem eine Gebärde, die auf der vorikonographischen Ebene als ‚Hutziehen‘ identifiziert wird, auf der ikonographischen Ebene als ein ‚Grüßen‘ analysierbar ist, so zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass hier nicht erst der Gruß, sondern bereits die Gebärde (der Akt oder Handlungsvollzug) des Hutziehens in seinem spezifischen modus operandi Gegenstand der dokumentarischen Interpretation ist. An dieser Gebärde dokumentiert sich die ‚Wesensart‘, der (kollektive oder individuelle) Habitus.4 Um dies an einem anderen Beispiel zu erläutern: Der auf einem Gemälde oder Foto dargestellte Schrei eines Menschen, der in Mimik und Gebärde seinen Ausdruck findet, der „Phänomensinn“ nach Panofsky (1932, 105 u. 118), lässt sich in grundsätzlich zwei Richtungen verstehen und dann auch interpretieren: Er ist zum einen interpretierbar im Kontext verallgemeinerbarer Bedeutungen: Der Mensch schreit, um Hilfe zu rufen. Er hat also eine generalisierbare, von den je besonderen Erlebnissen der Beteiligten abhebbare, eine institutionalisierte oder codierte Bedeutung, die dann Gegenstand der ikonographischen Analyse sein kann. Wir sprechen hier von der kommunikativ-generalisierten oder codierten Bedeutung. Auf der anderen Seite hat dieser Schrei, der Phänomensinn also, einen Ausdrucksgehalt: Der Schrei ist Ausdruck von Schmerz und Verzweiflung.5 Er ist somit Ausdruck von oder Dokument für einen (individuellen oder kollektiven) „Erlebniszusammenhang“ oder „Erfahrungsraum“ (vgl. Mannheim 1980, 71 ff. sowie 244 ff.). Er hat somit eine dokumentarische oder auch konjunktive Bedeutung.6 Mannheim verweist auf die „Doppeltheit, das Übereinandergelagertsein zweier Schichten im Gebilde“ (ebd., 75), die wir hier nun als die kommunikative oder eben ikonographische Sinnschicht auf der einen und die konjunktive oder dokumentarische auf der anderen Seite fassen können.7 4
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Diesen Gebärden auf der vorikonographischen oder auch „primären“ Sinnebene entsprechen in der Fotoanalyse von Goffman (1979, 24) die „‚small behaviors‘ – whose physical forms are fairly well codified even though the social implications or meaning of the acts may have vague elements, and which are realized in their entirety, from beginning to end, in a brief period of time and a small space.“ Diese „small behaviors“ oder Gebärden sind also noch keine Handlungen im eigentlichen Sinne (so, wie Handlungen u.a. bei Schütz 1971 definiert sind). Es gilt somit zu beachten, „daß auf einem Foto nur Gesten und Arrangements von Dingen, aber nie Handlungen abgebildet sind. Diese werden erst vom Betrachter in das Bild gelegt“ (Fuhs 1997, 272). Unter methodischen Gesichtspunkten ist hier wesentlich, dass die dokumentarische Interpretation sowohl ‚unterhalb‘ bzw. unabhängig von derartigen Handlungskonstruktionen und das bedeutet: Motivunterstellungen (Unterstellung von „Um-zu-Motiven“) anzusetzen vermag wie auch im Anschluss an derartige Konstruktionen. Panofsky selbst (1932, 105) unterscheidet im übrigen auf der Ebene des „Phänomensinns“ zwischen „Sach-Sinn“ und „Ausdrucks-Sinn“, zieht hieraus aber nicht die Konsequenz, dass der Ausdruckssinn auch ohne das Medium der Ikonographie, also unvermittelt Gegenstand dokumentarischer Interpretation sein kann. Zum Begriff des „konjunktiven Erkennens“ siehe Mannheim (1980b, 217 ff.). Der Unterscheidung von ‚kommunikativer‘ und ‚konjunktiver‘ Bedeutung korrespondiert in Goffmans Arbeit zur Fotoanalyse (1981, 92; Original: 1979, 22) die Unterscheidung von
3.2 Ikonik und formale Bildkomposition Da im Fall der von Imdahl untersuchten „heilsgeschichtlichen Ereignisbilder“ die codierte oder ikonographische Bedeutung im Medium der biblischen oder der an diese anknüpfenden heilsgeschichtlichen Texte gegeben ist, spricht Imdahl auch von der Textreferenz des Bildes. Dem steht die Gegenstandsreferenz des Bildes gegenüber. Diese ist „immer dann gegeben, wenn ein gemaltes Etwas einen Gegenstand bezeichnet“ (Imdahl 1996, 55), entspricht also dem Phänomensinn bei Panofsky. Die ikonische Interpretation hat es zu leisten, dass „Textreferenz und Gegenstandsreferenz sich ineinander vermitteln“ (ebd., 52). Entscheidend für die ikonische Interpretation bei Imdahl ist nun aber, dass die „gegenstandsreferentiellen Bildwerte“ nicht als isolierte Gegenständlichkeiten für die ikonische oder dokumentarische Interpretation Relevanz gewinnen, sondern von vornherein „im Modus ihrer empirischen Augenscheinlichkeit zu Strukturelementen einer szenischen Sinneinheit werden“. Ikonische oder dokumentarische Relevanz gewinnen sie also immer schon im Kontext der formalen Bildkomposition. Imdahls Kritik an der ikonologischen Interpretation von Panofsky lässt sich also auch so fassen, dass diese primär auf die Textreferenz des Bildes bezogen ist und dessen Gegenstandsreferenz lediglich innerhalb dieses primären Rahmens betrachtet. Demgegenüber hätte – im Sinne von Imdahl – die ikonologische Interpretation fundamentaler anzusetzen und die Gegenstandsreferenz im Sinne der Eigengesetzlichkeit ihrer formalen Komposition mit einzubeziehen. Dabei bildet die Rekonstruktion der formalen Bildkomposition den primären Rahmen. Dies wird dort deutlich, wo Imdahl betont, diese könne „von der Wahrnehmung des literarischen oder szenischen Bildinhalts absehen, ja sie ist oft besonders erfolgreich gerade dann, wenn die Kenntnis des dargestellten Sujets sozusagen methodisch verdrängt wird“ (1996a, 435). Die formale Bildkomposition wird im Wesentlichen durch die – weiter unten (Kap. 4) genauer darzulegenden – Dimensionen der „perspektivischen Projektion“, der „szenischen Choreographie“ und vor allem der „planimetrisch geregelten Ganzheitsstruktur“ des Bildes bestimmt (vgl. Imdahl 1996, 17 ff.). So kann Imdahl am erwähnten Beispielfall der Fresken von Giotto – hier: des Bildes der Gefangennahme Jesu – zeigen, dass „vermöge besonderer Bildkomposition Jesus sowohl als der Unterlegene wie auch als der Überlegene erscheint“ (Imdahl 1994, 312). Es ist vor allem die „Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen“ (Imdahl 1996, 107) und die szenische Simultaneität des Gegensätzlichen, welche ganz allgemein im Medium der Sprache oder des Textes aufgrund der „notwendigen Sukzessivität“ sprachlicher Narration – und so könnte man ergänzen: durch die sprachbedingte binäre Codierung auf „flüchtig wahrgenommener Welt“ und jenen „Welten, die longitudinal organisiert sind, die längere, ineinandergreifende Handlungsverläufe und unverwechselbare Beziehungen zu anderen Menschen aufweisen.“
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ein Entweder-Oder (vgl. Luhmann 1997, 221 ff.) – nicht in adäquater Weise zum Ausdruck gebracht werden kann.8 Die ikonische Interpretation kann die begriffliche Explikation dieser Sinnkomplexität, d.h. die Explikation des der Bildkomposition zugrunde liegenden modus operandi auch nur im direkten Verweis auf das Bild selbst leisten: „Wie sollte man einen solchen Satz sinnvoll, mit dem Anspruch auf intersubjektive Verständlichkeit (...) überhaupt aussprechen können, wenn nicht in der Anschauung ebendieser Figur“ (Imdahl 1994, 309).
3.3 Handlungstheoretische Grundlagen der Ikonik: die Ikonizität des atheoretischen Wissens Der durch die Bildkomposition (bzw. durch deren Zusammenspiel mit der Ikonographie) zum Ausdruck gebrachte modus operandi, der hier vor allem an der Figur von Jesus festgemacht wird, ist also nicht bzw. nur schwer begrifflich zu explizieren. Er ist ein „atheoretischer“ Sinnzusammenhang (Mannheim 1964a, 97 ff.). Dieser modus operandi konstituiert sich in der komplexen sozialen Handlungsszenerie zwischen Jesus, den Pharisäern, Judas und den Jüngern. Im Bild ist somit ein Wissen um eine soziale Handlungspraxis gespeichert, ein Wissen, welches auch im Alltag am adäquatesten im Medium des Bildes vermittelt werden kann. Ein (profanes) Beispiel für eine derartige Ikonizität handlungspraktischen oder handlungsleitenden Wissens ist der von mir beobachtete Blick eines (einer) anderen an mich oder auch der Austausch von (spezifischen) Blicken, der ‚Blickwechsel‘ zwischen einem anderen und einem dritten. Dieser Blick vermag nicht nur (sprichwörtlich) mehr zu sagen ‚als tausend Worte‘, sondern kann auch von ungeahnter handlungsleitender Relevanz sein. Somit ist diese Bildhaftigkeit oder Ikonizität des Wissens also auch von genereller handlungstheoretischer Bedeutung. Veranschaulichen lässt sich die Ikonizität dieses handlungsleitenden Wissens nicht nur im Bereich komplexer interaktiver Beziehungen, sondern auch im Bereich der Praxis operativer Fertigkeiten – so z.B. an der Praxis der Herstellung eines Knotens. Die Aneignung dieser Praxis gelingt nicht auf dem Weg theoretischer Explikation, sondern auf demjenigen einer durch bildliche Darstellung oder praktische Demonstration angeleiteten Handlungsvollzug, also
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Für eine derartige „Sinnkomplexität des Übergegensätzlichen“ stellt im Bereich der Erziehungswissenschaft die von Dieter Lenzen (1993) vorgelegte Interpretation zweier Säuglingsbilder von Otto Dix („Neugeborenes auf Händen“ und „Neugeborener mit Nabelschnur auf Tuch“) ein schönes Beispiel dar. Denn es ist eine „Koinzidenz der Gegensätze“, eine „coincidentia oppositorum“ (ebd., 62 ff.) der Darstellung des Neugeborenen zwischen liebenswertem Wesen und komisch-hässlicher Kreatur, die im Zentrum der Interpretation steht.
auf dem Wege der „Mimesis“9. Die habitualisierte Handlungspraxis basiert auf einem „atheoretischen“ oder impliziten bzw. stillschweigenden Wissen („tacit knowledge“; Polanyi 1985, 14) als Grundlage eines „unausdrücklichen Erkennens“ (Polanyi 1978), welches seinerseits u.a. in bildhafter Vergegenwärtigung fundiert ist. Dem unausdrücklichen Erkennen entspricht das (unmittelbare) „Verstehen“ bei Mannheim (1980b, 272). Darunter will er „das geistige, vorreflexive Erfassen der Gebilde verstehen, unter Interpretationen dagegen die stets auf diesem Erfassen beruhende, aber sie niemals erschöpfende theoretisch-reflexive Explikation des Verstandenen“. Verstehen und Interpretieren treten wohl an kaum einem anderen Medium so deutlich auseinander wie im Falle des Bilderkennens. Eine Bildinterpretation, die der Eigenart ihres Mediums gerecht werden will (aber nicht nur diese), muss sich also in der Lage zeigen, zwischen zwei unterschiedlichen Ebenen oder Modi alltäglicher Verständigung zu unterscheiden: einer Verständigung auf der Basis begrifflicher Explikation („Interpretation“) einerseits und einer unterhalb oder jenseits begrifflicher Explikation angesiedelten, intuitiven oder unausdrücklichen Verständigung („Verstehen“) andererseits, für welches bildhaft, ikonisch angeeignete Wissensstrukturen unmittelbar konstitutiv sind. Lediglich der sozialwissenschaftliche Interpret ist – im Rahmen einer wissenschaftlich relevanten Verständigung – auf die begriffliche Explikation und somit auch auf die Textförmigkeit dieser Verständigung verpflichtet und reduziert, nicht aber der Common Sense-Akteur. Dort, wo im Zuge der Common Sense-Kommunikation wie auch der (künstlerisch-) poetischen Verständigung die Akteure vor die Aufgabe der Versprachlichung atheoretischer Wissensbestände und der für diese konstitutiven Ikonizität gestellt sind, bedienen sie sich der Metapher10. Die Ikonik von Imdahl lässt sich mit dem oben skizzierten Modell alltäglicher Handlungspraxis und Verständigung nicht nur ohne weiteres verbinden; vielmehr ist dieses Modell für eine sozialwissenschaftliche Fundierung dieser Methode wesentliche Voraussetzung. So gesehen hat Imdahl die – von Panofsky begonnene – Annäherung der kunsthistorischen Interpretation an die wissenssoziologische Theorie und Methodik, also an die dokumentarische Methode, nur konsequent weiter geführt. Es sollte also darum gehen, dieses Modell fortschreitend zu entfalten.
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Vgl. zum mimetischen Erkennen oder Handeln Bourdieu (1992a, 105). Die Mimesis ist nicht mit „Imitation“ zu verwechseln. Wie Gebauer/Wulf (1998, 25) erläutern, nimmt der mimetisch Lernende ein „Modell in sich hinein, paßt diesem seine Motorik an und führt es schließlich als eigene, dem Vorbild angeglichene Bewegung aus.“ „Poetische Metaphern kommunizieren auf diese Weise innerhalb der Sprache mit Bildlichkeit. Sie sind in dem Sinne absolut, als sie einen Sinn präsentieren, für den es keine diskursive Übersetzung gibt“ formuliert Boehm (1978, 470; Anm. 7) im Zuge seiner Suche danach, „wie Bild und Sprache an einer gemeinsamen Ebene der ‚Bildlichkeit‘ partizipieren“ (ebd., 447).
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Zugleich sollte aber auch deutlich geworden sein, dass Imdahl – immer noch in Übereinstimmung mit der dokumentarischen Methode – die in der Ikonologie von Panofsky noch ausgeprägte Textförmigkeit des Bildes zu überwinden in der Lage ist und in seinen empirischen Analysen „das Bild als eine solche Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu ersetzen ist“ (Imdahl 1994, 300), evident werden lässt (vgl. dazu auch Kap. 6).11
4. Komparative Analyse in Ikonik und Ikonologie Im Bereich der neueren qualitativen Methoden, die im Wesentlichen Methoden der Textinterpretation sind, stellt die Sequenzanalyse eines der grundlegenden Prinzipien dar – wenn nicht sogar das grundlegende methodologische und methodische Prinzip. Dies ist der sequentiellen Struktur von Sprachlichkeit und Textlichkeit geschuldet, welche für die Bildlichkeit von keinerlei Bedeutung ist. Genauer gesagt ist – wie gerade auch Imdahl gezeigt hat – das Medium Bild in der Lage, die mit dieser Sequentialität verbundenen Restriktionen zu überwinden, worin sich gerade die Besonderheit und die – u.a. mit 11
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Insofern ist es nicht nachvollziehbar, wenn es bei Müller-Doohm (1993, 448) nicht nur im Hinblick auf die ikonologische, sondern auch die ikonische Interpretation heißt: „Das ikonologisch-ikonographische Interpretationsschema sowie das Analysemodell der Ikonik implizieren die Annahme einer Textförmigkeit des Bildes, die es überhaupt lesbar und hermeneutisch deutbar macht.“ Müller-Doohm fährt dann fort: Dies „läßt Parallelen zur strukturalen Hermeneutik vermuten, der die Annahme zugrunde liegt, daß die soziale Realität selbst beschaffen ist wie ein Text“ (ebd.). Derartige Annahmen, wie sie für die strukturale bzw. objektive Hermeneutik konstitutiv sind, sind einer verengten Perspektive auf den Charakter der alltäglichen Handlungs- und Verständigungspraxis geschuldet. Wie an anderer Stelle (Bohnsack 2000a, Kap. 4 u. 10) weiter ausgeführt ist, bietet uns die objektive Hermeneutik kein Modell alltäglicher Verständigungspraxis jenseits einer begrifflich-explizierenden und somit textförmigen Verständigung, die wir mit Mannheim als ‚Interpretation‘ bezeichnen. Im Sinne der objektiven Hermeneutik sind die Akteure jenseits ihrer wechselseitigen Interpretationen (wie sie sich im Modus des subjektiv-intentionalen Sinns vollziehen) nicht – wie in wissensoziologischer Perspektive, also im Sinne der dokumentarischen Methode – durch atheoretisches Wissen, sondern lediglich durch (‚latente‘) Strukturen aufeinander bezogen, die auf Seiten der Akteure nicht wissensmäßig repräsentiert sind, sondern lediglich auf Seiten des (wissenschaftlichen) Beobachters in Form von Interpretationen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Ikonik und dokumentarische Methode einerseits und objektive Hermeneutik andererseits sehr deutlich. Insofern ist Jo Reichertz (1992, 144) zuzustimmen, wenn er an der objektiven Hermeneutik kritisiert, dass Foto und Text als „strukturgleich“ definiert werden. Allerdings erfahren wir bei Reichertz nichts darüber, worin sich denn nun das Foto bzw. Bild in seiner Struktur von derjenigen des Textes unterscheidet, d.h. welche – im Unterschied zum Text – andere und besondere Bedeutung und Funktion der Ikonizität im Kontext des sozialen Handelns und der interaktiven Verständigung zukommt. Dies hängt damit zusammen, dass auch der (von Reichertz vertretenen) „hermeneutischen Wissenssoziologie“ der Zugang zu den „atheoretischen“ Sinnzusammenhängen fehlt.
dem Begriff der ‚Simultaneität‘ bereits angesprochene – spezifische Komplexität dieses Mediums zeigt. Es wäre deshalb verfehlt, methodische Prinzipien der Sequenzanalyse auf das Medium Bild übertragen zu wollen.12 Dabei zeigt sich auch, dass die Sequenzanalyse nur eine Ausprägung eines fundamentaleren methodologischen Prinzips ist: nämlich der komparativen Analyse.
4.1 Komparative Analyse in der Ikonik: das Prinzip der Kompositionsvariation Als funktional äquivalentes methodisches Prinzip zur Sequenzanalyse im Medium der Textinterpretation kann im Bereich der Bildinterpretation – dies soll im Folgenden begründet werden – das gelten, was ich als Kompositionsvariation bezeichnen möchte. Sie vermag im Medium der Bildinterpretation das zu leisten, was die Sequenzanalyse für den Bereich der Textinterpretation leistet. Beide methodischen Prinzipien – Sequenzanalyse wie Kompositionsvariation – sind in der komparativen Analyse, d.h. in der Operation mit explizierten Vergleichshorizonten fundiert. Für die Textinterpretation bedeutet dies z.B., dass ich den spezifischen Sinngehalt eines Diskurses dadurch zu erschließen und zu interpretieren, also zu bezeichnen oder begrifflich zu explizieren vermag, dass ich dagegenhalte, wie dasselbe Thema auch in anderer Weise diskursiv hätte behandelt werden können oder behandelt worden ist bzw. welche andere Reaktion auf eine vorhergehende Äußerung hätte erfolgen können oder auch empirisch bereits erfolgt ist.13 Diese Vergleichshori12
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Dies ist in der objektiven Hermeneutik immer wieder versucht worden. Deren Anhänger suchen im Zuge der selbst gesetzten Aufgabe, die an der Textinterpretation gewonnene Methodik der Sequenzanalyse auf die Bildinterpretation zu übertragen, nach einem „Ausweg, der an (...) der Temporalität der Sequanzanalyse festhält“ (Englisch 1991). So unternimmt Loer (1994) den Versuch, sequentiell strukturierte „ikonische Pfade“ aufzufinden und muss dabei von zwei Unterstellungen ausgehen: zum einen, dass der „Malprozess“ (ebd., 351) einem solchen sequentiell strukturierten Pfad folgt, und zum anderen, dass dieser Pfad bzw. mehrere mögliche Pfade (Loer spricht von der „Mehrdimensionalität von möglichen Sequenzen“; ebd., 353) für den Bildinterpreten in ihrer je spezifischen Sequentialität“ rekonstruierbar sind. Bei Englisch (1991, 148) führt die Suche nach einem „Korrespondens“ für die Sequenzanalyse in der Bildinterpretation schließlich zu „allgemeinen Organisationsgesetzen der Wahrnehmung“ in der Gestaltpsychologie, wie sie die Wahrnehmung des Rezipienten/Interpreten strukturieren, und somit (auch wenn sie das selbst nicht so zugesteht) weg von der Sequenzanalyse. Sinnvoller erscheint hier wohl die Anknüpfung an formale ästhetische Prinzipien der Komposition, zu denen die Kunstgeschichte viel Präzises und Konkretes anzubieten hat. In ihrer Forschungspraxis bewegt sich Englisch mit ihrer ertragreichen Interpretation in Richtung dessen, was ich im Folgenden als Kompositionsvariation bezeichnen werde – mit dem allerdings erheblichen Unterschied, dass sie beansprucht, über so etwas wie einen „Normalkontext“ zu verfügen, also eine bzw. die „normale“ Kompositionsvariante (zur Kritik am Normalitätsanspruch der Hermeneutik im Bereich der Textinterpretation vgl. auch Bohnsack 2000a, Kap. 4, 5 u. 10). Dies ist eine sehr grobe Charakterisierung der für die Textinterpretationen im Rahmen der dokumentarischen Methode konstitutiven Sequenzanalyse bzw. komparativen Analyse. Für
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zonte können also gedankenexperimenteller Art oder in empirischen Vergleichsfällen fundiert sein. Zumeist bleiben die Vergleichshorizonte implizit: „Alles Beobachten ist Benutzen einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen (und nicht der anderen) Seite. Die Unterscheidung fungiert dabei unbeobachtet“ (Luhmann 1990, 91). Diese vom Beobachter selbst unbeobachtete (eigene) Unterscheidung bzw. der (dieser Unterscheidung zugrunde liegende) unexplizierte Vergleichshorizont (die „andere Seite“) stellt den „blinden Fleck“ (ebd., 85) dar. Im Sinne der Wissenssoziologie von Karl Mannheim (1952a, 227) handelt es sich bei diesem ‚blinden Fleck‘ um die Standortgebundenheit des Beobachters oder Interpreten, also um die Milieu- und Kulturabhängigkeit seiner Interpretation, die für ihn selbst unbeobachtbar bleibt. Sie kann aber – wenn auch im begrenzten Umfang – dadurch einer Selbstreflexion bzw. einer methodischen Kontrolle zugeführt werden, dass empirisch überprüfbare Vergleichshorizonte dagegengehalten werden.14 Auch im Medium der Bildinterpretation ist der Interpret als Beobachter in unterschiedlicher Weise und auf unterschiedlichen Ebenen auf Vergleichshorizonte angewiesen, die zunächst implizit bleiben. So vollzieht sich bereits die Wahrnehmung der spezifischen (formalen) Komposition eines Bildes vor dem Vergleichshorizont (intuitiv vollzogener) anderer, kontingenter Kompositionen. Dies lässt sich auch an der Forschungspraxis von Imdahl selbst methodisch rekonstruieren, und es lässt sich somit zeigen, dass die Ikonik auch in dieser Hinsicht der dokumentarischen Methode entspricht. Denn Imdahl hat die je spezifische Komposition eines Bildes in experimenteller Weise verändert und konnte auf diese Weise zeigen, dass der Sinn einer verbildlichten Szene direkt von der formalen Komposition abhängt. Imdahl (vgl. 1994, 302 ff.) demonstriert diesen Weg der komparativen Analyse am Beispiel der um 980 gemalten Miniatur „Der Hauptmann von Kapernaum“, in welcher er die Position der Figur des Jesus (an die der Hauptmann von Kapernaum eine Bitte um Hilfe richtet) manipuliert. Diese experimentelle Veränderung der Komposition wie auch das Heranziehen von empirischen Vergleichsfällen, die sich durch systematische Variationen der Komposition voneinander unterscheiden, möchte ich – wie gesagt – als Kompositionsvariation bezeichnen. Das, was unter Komposition, also unter dem formalen kompositionalen Aufbau eines Bildes zu verstehen ist, wird von Imdahl an anderer Stelle (1996, 17 ff.) systematisch aufgeschlüsselt. Drei Dimensionen des formalen kompositionalen Aufbaus eines Bildes werden differenziert: die „perspektivisch-projektive Verbildlichung von Körper und Raum“, die „szenische Choreographie“ und die „planimetrische Ganzheitsstruktur“.
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eine genauere Darstellung sowie für die Unterschiede zur objektiven Hermeneutik siehe: Bohnsack 2001a sowie 2000a, 203 ff. Zur komparativen Analyse siehe auch den Beitrag von Nohl i. d. Band.
4.1.1
Die Variation von Perspektive und Raumkonzeption
Durch die perspektivische Projektion oder allgemeiner: Raumkonzeption (vgl. Imdahl 1979) werden in je spezifischer Weise (z.B. im Modus der Zentraloder der Achsenperspektive) Räumlichkeit und Körperlichkeit und damit auch eine Gesetzmäßigkeit in das Bild hineingetragen. Das von Imdahl analysierte Werk der Arenafresken von Giotto (bei dem wir es mit der ‚Achsenperspektive‘ zu tun haben) ist eines der ersten, an dem sich die prinzipielle (soziale und räumliche) Standortgebundenheit der je gewählten Perspektivität des Betrachters wie auch deren (zeitliche) Abhängigkeit vom aktuellen Jetzt dokumentiert, indem nämlich der jeweils gewählte Fluchtpunkt oder die jeweils gewählte Fluchtachse nur als eine(r) unter anderen auch möglichen, also als kontingent erscheint (kunsthistorisch ist hierdurch der Übergang zur Neuzeit markiert).15 Die Art der Kompositionsvariation, welche die Interpretation von Imdahl anleitet, basiert auf der Einbeziehung empirischer Vergleichshorizonte/-fälle, nämlich der oben bereits erwähnten Werke im italo-byzantischen (also noch mittelalterlichen) Stil. Dies wird allerdings in den Texten von Imdahl lediglich in den Anmerkungen (vgl. 1996, 117 f.) und dort nur teilweise expliziert. Im Rahmen empirischer sozial- und erziehungswissenschaftlicher Forschung ist dieser Weg der Kompositionsvariation nur dort sinnvoll, wo nicht (nur) das Produkt, sondern (auch) der Bildproduzent (der laienhafte Maler oder Fotograf) Gegenstand der Untersuchung ist. Im Fall laienhafter Malerei (z.B. Kinderzeichnungen) ist aufschlussreich, a) ob und welcher Modus von Perspektivität (z.B. Achsenperspektivität) und b) welcher Fluchtpunkt, welche Perspektive gewählt wird. So hat Mollenhauer (1996, 126 ff.) nach ähnlichen Kriterien Stile kindlicher Malerei in empirischer Analyse ausdifferenziert und Analogien zu kunstgeschichtlich ausdifferenzierten epochalen (Mal-) Stilen herausgearbeitet. 4.1.2
Die Variation der szenischen Choreographie
Die szenische Choreographie bei Imdahl (1996, 19) meint „die szenische Konstellation der in bestimmter Weise handelnden oder sich verhaltenden Figuren in ihrem Verhältnis zueinander“, also deren soziale Bezogenheit. Dies betrifft die räumliche Positionierung der Akteure bzw. Figuren zueinander ebenso wie den Bezug ihrer Gebärden, aber auch Blicke, aufeinander. Auch für die hier exemplarisch entfaltete empirische Analyse erweist sich die komparative Analyse als konstitutiv. Imdahl beleuchtet die szenische Cho15
Nach Panofsky dokumentiert sich in der Einführung der Zentralperspektive ein Wandel hin zur Anerkennung von Subjektivität in dem Sinne, dass in der Zentralperspektive die Vorstellung von einem Subjekt impliziert ist, welches seinen Blickpunkt, seine Perspektive frei zu wählen vermag (vgl. Panofsky 1964b, 123 sowie dazu auch Imdahl 1996, 18).
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reographie der Giotto-Fresken wiederum vor dem Vergleichshorizont der italo-byzantinischen Miniaturen. Auch hier geht es um erste Phänomene der Konstitution von Kontingenz, durch die ein szenischer Aktualitätsausdruck entsteht. Da die Figuren im Handlungsvollzug bzw. im Übergang von Aktion und Reaktion dargestellt werden, besteht „die Möglichkeit, sich die Figuren in anderen szenischen Zusammenhängen oder auch Unzusammenhängen anders handelnd oder anders sich verhaltend vorstellen zu können“ (Imdahl 1996, 26) als Voraussetzung für den (szenischen) Aktualitätsausdruck. Dieser wiederum ist entscheidend für das Verhältnis des Betrachters zum Bild, da ohne ihn „die Szene jeder Einfühlung oder auch jeder Fiktion von miterlebter Augenzeugenschaft des Beschauers grundsätzlich verschlossen“ bleibt (ebd.). Interessanterweise geben uns die Interpretationen von Imdahl hier zugleich in präziser Weise Aufschlüsse darüber, dass Kontingenzen, also das Operieren mit (impliziten) Vergleichshorizonten, nicht erst auf der Ebene der dokumentarischen Interpretation, sondern auch bereits auf fundamentaleren Ebenen der Interpretation bzw. genauer: des Verstehens vorausgesetzt werden. Dem Ausmaß und der Art der Realisierung des Aktualitätsausdrucks im Kontext der szenischen Choreographie kommt im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung insofern Bedeutung zu, als deren spezifische Art der Realisierung durch diejenigen, die sich für ein Foto in Szene setzen oder durch die Fotografierenden gesetzt werden, über deren spezifischen Modus sozialer Bezogenheit Auskunft zu geben vermag. 4.1.3
Die Variation der planimetrischen Komposition
Die planimetrische Ganzheitsstruktur des Bildes bezieht sich auf dieses als ein ganzheitliches System, in dem „die einzelnen Bildwerte durch Größe, Form, Richtung und Lokalisierung im Bildfeld auf das Bildformat Bezug nehmen und dessen Organisationsform bilden“ (Imdahl 1996, 21). Diese Dimension der Bildkomposition ist von besonderer Bedeutung für die ikonische Interpretation, da sie die entscheidende Grundlage für das sehende Sehen darstellt, welches Imdahl, wie dargelegt, vom wiedererkennenden (d.h. Gegenstände identifizierenden) Sehen unterscheidet. Die beiden anderen Dimensionen, die „perspektivische Projektion und die szenische Choreographie erfordern ein wiedererkennendes, auf die gegenständliche Außenwelt bezogenes Sehen (...). Dagegen geht die planimetrische Komposition, insofern sie bildbezogen ist, nicht von der vorgegebenen Außenwelt, sondern vom Bildfeld aus, welches sie selbst setzt“ (Imdahl 1996, 26). Während also die perspektivische Projektion sich auf die Körperlichkeiten und Räumlichkeiten der Außenwelt oder Umwelt des Bildes bezieht, dort ihren Maßstab hat und in deren Wiedererkennen fundiert ist und für die szenische Choreographie das Gleiche in Bezug auf soziale Beziehungen und Konstellationen der Umwelt gilt, schafft die planimetrische Komposition ihre eigenen Gesetz-
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lichkeiten, ihre eigene formale Ganzheitsstruktur im Sinne einer Totalität, eines autopoietischen Systems sozusagen: „Das Ganze ist von vornherein in Totalpräsenz gegeben und als das sinnfällige Bezugssystem in jedem einzelnen kopräsent, wann immer jedes einzelne in den Blick genommen wird“ (ebd., 23). Dies hat zweierlei Konsequenzen: Zum einen ist die Rekonstruktion der planimetrischen Komposition somit wesentliche Grundlage für eine dem Medium des Bildes bzw. des Bildhaften überhaupt angemessene Interpretation, die nicht durch die Interpretationen anderer Darstellungsgattungen vorgeprägt ist. Tertium Comparationis, also das den Vergleich strukturierende Dritte, ist hier nicht (wie im Falle der ikonologischen Interpretation) das gemeinsame Thema, das gemeinsame Sujet auf der ikonographischen Ebene, sondern lediglich eine Gemeinsamkeit des Sujets auf der vorikonographischen Ebene (also eine gemeinsame Bild-Gegenständlichkeit). Zur Strukturierung der komparativen Analyse, also der Kompositionsvariation im Sinne eines Tertium Comparationis kann hier aber auch ganz entscheidend der Bezug auf grundlegende formale ästhetische Prinzipien der Flächengestaltung beitragen – analog zu formalen Prinzipien der linguistischen Analyse in der Textinterpretation. Zum anderen lenkt die Rekonstruktion der planimetrischen Komposition in ihrer systemischen Eigengesetzlichkeit die Analyseeinstellung auf die Totalität des im Bild Dargestellten. Dies ist für die sozialwissenschaftliche Interpretation von entscheidender Bedeutung. Denn im Falle der Darstellung sozialer oder interaktiver Szenerien bedeutet dies, dass die Analyseeinstellung damit von vornherein auf die soziale Bezogenheit, auf das soziale System, den kollektiven Zusammenhang, das Milieu und nicht auf die individuellen Akteure gerichtet ist. Der planimetrischen Kompositionsvariation kommt also für die ikonische Interpretation die entscheidende Bedeutung zu. Die Rekonstruktion der planimetrischen Komposition oder Koordination sollte somit im Zuge einer Bildinterpretation den ersten Schritt darstellen und unabhängig von der Ikonographie geleistet werden. Wichtige Beispiele für die planimetrische Kompositionsvariation bei Imdahl sind die bereits erwähnten Interpretationen von „Der Hauptmann von Kapernaum“ und von Giottos „Gefangennahme Christi“. Im letzteren Fall ist es beispielsweise eine die gesamte Komposition beherrschende „Schräge“, ein Gefälle, welches die Einheit der Komposition maßgebend sowohl in formaler oder – wie Imdahl es auch nennt – in „syntaktischer“ Hinsicht bestimmt wie auch die semantische Komplexität (vgl. Imdahl 1996, 94). Diese lässt sich – wie in 3.2 dargelegt – als eine „Übergegensätzlichkeit“ sprachlich-narrativ in verständlicher Weise nur schwer und nur in Anschauung des Bildes selbst fassen als ein Ineinander-Vermitteltsein der Unter- und der Überlegenheit Jesu.
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4.2 Die komparative Analyse in der Ikonologie Am Beispielfall dieser Interpretation des Bildes der Gefangennahme Christi bei Imdahl lässt sich auch die Bedeutung der komparativen Analyse veranschaulichen. Nicht nur der ikonische, die formale Komposition in ihrer Eigengesetzlichkeit berücksichtigende Sinn, sondern auch der ikonologische konstituiert sich in komparativer Analyse – hier unter Rückgriff auf den bereits erwähnten empirischen Vergleichshorizont/-fall einer italo-byzantinischen Miniatur. Dieser weist (indem ebenfalls die Gefangennahme Christi das Sujet darstellt) thematische oder ikonographische Gemeinsamkeiten auf. Dies entspricht dem für die dokumentarische Methode und deren Typenbildung konstitutiven Prinzip des Kontrasts in der Gemeinsamkeit, welches im Medium der Textinterpretation von uns ausführlich methodologisch begründet und forschungspraktisch erprobt worden ist.16 Das Gemeinsame – hier: das ikonographische Thema oder Sujet – fungiert als Tertium Comparationis, als das den Vergleich strukturierende Dritte. So wird in dem (oben bereits skizzierten) Beispiel einer ikonologischen Interpretation bei Imdahl eine Orientierung an „Emotionen“ herausgearbeitet, verbunden mit einem im Bild sich ebenfalls dokumentierenden Appell an das „sympathetische Verhalten“ des Betrachters. Dies erschließt sich jedoch erst vor dem kontrastierenden Vergleichshorizont der erwähnten vor-neuzeitlichen Miniatur. Denn an ihr dokumentiert sich (nun umgekehrt: erst vor dem anderen Vergleichshorizont des Giotto-Freskos) ein „admiratives“ Verhalten und eine damit korrespondierende „Vorstellung von einem heroischen Jesus“ (Imdahl 1994, 306).
5. Zum Stellenwert und zur Eigenart ikonographischer Wissensbestände Im Zuge der weiteren Ausarbeitung der Methodik der dokumentarischen Bildanalyse wird unter anderem fortschreitend zu klären sein, welches – sprachlich oder textlich strukturierte – Vorwissen Voraussetzung ist für die dokumentarische, also die ikonologische und vor allem die ikonische Interpretation und welche Konsequenzen dies für die Standort- oder Milieugebundenheit, aber auch die Textabhängigkeit der Interpretation hat. Da es im Wesentlichen die ikonographischen Wissensbestände sind, die als sprachlich oder textlich strukturierte die Standortgebundenheit und Aspekthaftigkeit der Interpretation prägen, möchte ich hierauf noch einmal gesondert eingehen.
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Siehe dazu den Beitrag von Bohnsack zur Typenbildung sowie den Beitrag von Nohl i. d. Band; siehe auch Bohnsack 2000a, Kap. 10.
5.1 Ikonographie: die Ebene kommunikativ-generalisierender oder codierter Wissensbestände Wie weiter oben (Kap. 1) bereits dargelegt, können die auf der primären Sinnebene, der Ebene des „Phänomensinns“, auf einem Bild wahrgenommenen Gebärden (als Beispiel wurden diejenigen des ‚Hutziehens‘ oder des ‚Schreis‘ angeführt) zum einen (wie im Falle der ikonischen Interpretation) direkt Gegenstand dokumentarischer Interpretation sein (indem der modus operandi ihrer Herstellung charakterisiert wird).17 Zum anderen sind diese Gebärden aber auch – wie im Falle der Ikonographie – Gegenstand von typisierenden Zuschreibungen, von Motiv-Zuschreibungen („Um-zu-Motiven“). Diese Zuschreibungen basieren auf „Konnotationen“ (Barthes 1990a, 16), auf Informationen, die nicht dem Bild selbst entstammen, bei denen vielmehr auf einen „kulturellen Code“ (ebd., 39) zurückgegriffen werden muss. Es handelt sich also um codierte oder auch institutionalisierte Wissensbestände; wobei Institution im Sinne von Berger/Luckmann (1969, 58) zu verstehen ist: „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden“. Beispielsweise muss ich, um genau zu wissen, dass es sich bei einer abgebildeten Gruppe von zwei Erwachsenen und einem Kind um eine ‚Familie‘ handelt, a) auf Informationen aus dem (im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehenden) Kontext des Bildes zurückgreifen, zu dem auch Bildinschriften und -unterschriften gehören, und b) auf (stereo-) typisierende Wissensbestände, die den „indexikalen“ (Garfinkel 1973) Gehalt dieser Begriffe (wie z.B. ‚Familie‘), also die mit ihnen verbundenen allgemeinen Bedeutungsgehalte, ausmachen. Diese codierten Bedeutungsgehalte, die wir auch als kommunikativ-generalisierte bezeichnen (vgl. Bohnsack 1997a u. Bohnsack 2001a) haben hier den Charakter von Rollenerwartungen (der Eltern/Kind- und Vater/Mutter-Beziehung), die z.B. auch in religiösen Traditionen fundiert und z.T. durch rechtliche Definitionen abgesichert sind. Ihre Verallgemeinerbarkeit reicht über milieuspezifische und (in gewisser Weise auch) kulturelle und historische Grenzen hinweg.
5.2 Die Bedeutung ikonographischer Wissensbestände für die komparative Analyse Diese generalisierten Wissensbestände bilden gleichsam das Thema und somit auch das Tertium Comparationis der ikonologischen Interpretation. Sie 17
Diese Ebene des Phänomensinns bei Panofsky korrespondiert (insbesondere in ihrer spezifischen Ausprägung des „Sachsinns“) in gewisser Weise mit der Ebene der „nicht-kodierten bildlichen Botschaft“ oder auch mit dem „buchstäblichen“ oder „denotierten Bild“ bei Roland Barthes (1990a, 32 ff.).
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beantworten die Frage nach dem Was, nach dem Gegenstand der Interpretation als Voraussetzung der Frage nach dem Wie, nach dem uns hier gegebenen – je milieuspezifischen – modus operandi familialer Beziehungen. Dieser ist Gegenstand ikonologischer Interpretation, die sich somit auf den milieu-, aber auch zeitgeschichtlich und epochal spezifischen „Geist“ oder „Charakter“ einer Familie richtet. Auch die ikonologische Interpretation – also z.B. diejenige einer familialen Beziehungsstruktur im Medium eines Familienfotos oder Familienportraits – ist abhängig von einem Vergleichshorizont, setzt eine „Unterscheidung“ voraus. Wie dargelegt (vgl. 4.1 u. 4.2), bleibt der diesem Vergleich, also dieser ‚Unterscheidung‘ zugrunde liegende Vergleichshorizont zumeist unexpliziert. Er stellt den ‚blinden Fleck‘ der (ikonologischen) Interpretation dar. Der Interpret ist dabei zunächst genötigt, auf das eigene handlungspraktische Wissen um den familialen Alltag als Vergleichshorizont zurückzugreifen. Dies macht die Standort- bzw. Milieugebundenheit der ikonologischen bzw. dokumentarischen Interpretation aus, die aber auch hier (wie bei der Interpretation der formalen Komposition) auf dem Wege empirisch überprüfbarer Vergleichshorizonte, also auf dem Wege der komparativen Analyse, methodisch kontrollierbar gestaltet werden kann. Es macht aber – im Sinne der ikonischen Interpretation – einen entscheidenden Unterschied, ob ich über die im engeren Sinne ikonographischen, d.h. die Frage nach dem Thema, nach dem Was der Darstellung beantwortenden (konnotativen) Wissensbestände hinaus, noch weiteres textliches Vor-Wissen an die Bildinterpretation herantrage. Für unseren Beispielfall würde dies bedeuten, dass dann die Bildinterpretation durch ein – im Medium von Beschreibungen und Erzählungen vermitteltes – familienbiografisches Wissen, also ein Wissen um die jeweilige Familie vorstrukturiert wird, durch ein „konjunktives“ Wissen, wie wir es nennen. Eine derartige dokumentarische Interpretation des für eine familiale Praxis konstitutiven modus operandi, des familialen Habitus vollzieht sich als ikonologische nun primär auf der Basis textlichen, d.h. begrifflich explizierten und narrativen Wissens. Demgegenüber ist die ikonische Interpretation primär in der formalen bildlichen Komposition, vor allem in der ‚Planimetrie der Bildkonstruktion‘ fundiert, in unserem Beispielfall des Familienfotos: in der körperlichen Konfiguration der beteiligten Personen zueinander und in deren Gebärdenhaftigkeit und stilistischem Ausdruck.
6. Ikonologie und Ikonik als dokumentarische Methode: die Rekonstruktion sozialen Sinns in Bild und Fotografie Wenn Imdahl betont, dass „das Bild ein nach immanenten Gesetzen konstruiertes und in seiner Eigengesetzlichkeit evidentes System ist“ (1979, 86
190), so bedeutet dies zum einen, dass der hier vermittelte Sinn in dieser Weise auf sprachlichem Wege nicht zu vermitteln, ein sprachliches Korrelat nicht gegeben ist. Zum anderen – und weitergehend – argumentiert er dahingehend, dass auch im Bereich des Visuellen kein Korrelat existiert, dass das Bild also „ein System ist, das entweder von einem außerikonischen Sichtbarkeitskorrelat prinzipiell abweicht oder für das ein außerikonisches Sichtbarkeitskorrelat nicht existiert“ (ebd.). (Wobei es im ersteren Fall – dem der „Abweichung“ – um gegenständliche und im zweiten Fall um nicht-gegenständliche Bilder geht.) Für den Fall gegenständlicher Bilder bedeutet dies einerseits, dass sich die Sinnstruktur des Bildes „von empirischer Geschehenserfahrung unterscheidet“ (1994, 310) und zum anderen aber auch, dass dessen semantische Komplexität durch andere (Kunst-)Gattungen nicht vermittelt werden kann. So betont Imdahl (1994, 312), dass z.B. die semantische Komplexität der „Gefangennahme Christi“ von Giotto „weder durch ein Passionsspiel noch auch – woran man vielleicht heute denken möchte – durch einen Film zu ersetzen“ ist.
6.1 Zur Gültigkeit der dokumentarischen Methode in Ikonologie und Ikonik Diese weitergehende Behauptung von Imdahl ist in (im engeren Sinne) kunsttheoretischer Absicht formuliert. Es geht darum, das ‚Wesen der Kunst‘ am Fall des Bildes herauszuarbeiten (vgl. dazu auch Imdahl 1996, 115, Anm. 28). Da uns die von Imdahl explizierte oder (durch seine Forschungspraxis) implizit vermittelte Methodik der Bildinterpretation in sozialwissenschaftlicher Perspektive interessiert, können wir die Frage nach den Kriterien für das Bild als Kunstwerk ausklammern. Das heißt, wir können die grundlegenden Abhandlungen von Imdahl zum Bild als eigengesetzlichem und durch sprachliche Korrelate nicht zu substituierendem System und vor allem die hier von ihm entfalteten adäquaten methodischen Zugänge aufgreifen, ohne allzu weit in die kunsttheoretischen Erörterungen im engeren Sinne einzusteigen. Dies scheint mir deshalb gerechtfertigt, weil die von Imdahl entfaltete Methodik auch auf Bilder anwendbar ist, die den Kriterien eines Kunstwerks nicht entsprechen. Und zwar ergibt sich dies notwendigerweise schon daraus, dass Imdahl seine Methodik für geeignet hält, überhaupt erst über den Kunstcharakter von Bildern zu entscheiden. Gleichwohl bleibt zunächst die Frage, ob der von Imdahl herausgearbeitete Gedanke der systemischen Eigengesetzlichkeit des Bildes, die im Falle eines Gemäldes ja zunächst das Produkt eines (wie auch immer gearteten) intendierten Ausdruckshandelns eines Künstlers bzw. allgemeiner: eines Produzenten ist, der soziale Szenerien zur Darstellung bringt, übertragen werden kann auf naturwüchsig im Alltag sich entfaltende soziale Szenerien, die in
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visueller Weise technisch aufgezeichnet, also foto- oder videografiert worden sind und die dann dokumentarisch, d.h. ikonologisch und ikonisch interpretiert werden. Dies ist die Frage danach, welchem Gegenstand Ikonologie und Ikonik adäquat sind. Die Frage nach der Gegenstandsadäquanz einer Methode wird gemeinhin als diejenige nach ihrer Gültigkeit bezeichnet. Panofsky hat klar herausgearbeitet, dass die ikonologische Interpretation der im Bild (und allgemeiner im Kunstwerk) dargestellten sozialen Szenerien und Beziehungen „jene zugrunde liegenden Prinzipien ermittelt, die die Grundeinstellung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen Überzeugung enthüllen, modifiziert durch eine Persönlichkeit und verdichtet in einem einzigen Werk“ (1964a, 40). Er grenzt diese eigene Analyseeinstellung von jener ab, „die die künstlerische Absicht, das künstlerische Wollen, als den psychologischen Akt des historisch greifbaren Subjektes ‚Künstler‘ betrachtet“ (1964a, 31). Mannheim (1964a, 118) hat am klarsten zwischen den Intentionen des Produzenten, dem „intendierten Ausdruckssinn“, und der Sinnstruktur seines Produkts, dem „Dokumentsinn“, unterschieden: „Ist der Schöpfer eines Werkes in der Schöpfung auf das Gestalten des objektiven Sinnes und das Einbilden des Ausdruckssinnes gerichtet, so ist jenes Dritte – der dokumentarische Gehalt seines Werkes – für ihn als Schöpfer der Intention nach nicht gegeben. Die dokumentarische Sinnschicht ist also nur vom Rezeptiven aus erfassbar“.
Der „Schöpfer“ (mit dem nicht nur der Künstler gemeint ist) repräsentiert mit seinem Werk also kollektive, d.h. kulturelle und milieuspezifische Sinnzusammenhänge, in die er selbst eingebunden ist, ohne dass er sich hierüber theoretisch-reflexiv Rechenschaft ablegen müsste. Es zeigt sich also, dass es für die Anwendbarkeit der dokumentarischen Methode und auch der Ikonik gleichgültig ist, ob die sich in einem Bild dokumentierenden sozialen Sinnzusammenhänge einem Produzenten als Produkte seiner Darstellung zugerechnet werden – sei es dem Maler, sei es dem Fotografen – also dem Akteur hinter der Kamera, oder ob sie denjenigen zugerechnet werden, die Gegenstand der Darstellung sind, also den Akteuren vor der Kamera. Auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass in jedem Fall das Bild durch den Habitus und das Milieu des Bildproduzenten (mit)geprägt ist, so bleibt gleichwohl die weitergehende Frage, inwieweit diese Prägung zurückzutreten vermag hinter die Prägung durch das Milieu, welches Gegenstand der Darstellung ist, d.h. den Habitus oder Stil der dargestellten Figuren (bzw. der ihnen zugehörigen Objekte: Kleidung, Möbel etc.), so dass das Bild auch hierüber in gültiger Weise Auskunft zu geben vermag. Entscheidend ist diese Frage für die Legitimität der Foto- und Videografie als ‚Erhebungsinstrument‘ der Sozialforschung. Unproblematisch ist das Zusammenspiel dieser beiden ‚Prägungen‘ dort, wo der Bildproduzent dem von ihm dargestellten Milieu selbst zuzurechnen ist, wie ganz deutlich im Falle von (durch Familienmitglieder aufgenomme88
nen) Familienfotos. Für Goffman stellt eine derartige (private) Fotografie eine Verdichtung ritueller oder zeremonieller Akte dar: „The rendition of structurally important social arrangements and ultimate beliefs which ceremony fleetingly provides the senses, still photography can further condense“ (Goffman 1979, 10). Somit ist das Foto selbst nicht lediglich als ein Abbild des Rituals, sondern als dessen konstitutiver und reflexiver Bestandteil zu verstehen. Durch das Foto bzw. den fotografischen Akt werden Elemente kollektiver Orientierungen, eines kollektiven Habitus als solche ausgewiesen, verdichtet und fokussiert oder auch klassifiziert. Denn der Habitus ist – um es mit Bourdieu (1982, 227) zu formulieren – zugleich „Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem (principium divisionis) dieser Formen“. Er ist als ein modus operandi zu verstehen, der zugleich das Handeln strukturiert, welches das Sujet fotografischen Handelns darstellt, wie auch das fotografische Handeln selbst. In der Fotografie verstärken beide Dimensionen einander in ihrer Überlagerung. Dies hat Bourdieu (1983b) unter anderem auch in seiner Analyse der „sozialen Gebrauchsweisen der Photographie“ zeigen können. Vor allem aber betont Bourdieu in dieser Analyse, dass auch in den „erstarrten, gestellten, ‚unnatürlichen‘ und gekünstelten Photographien“ der Alltagspraxis sich ästhetische Prinzipien dokumentieren. „Wenngleich sie nicht der spezifischen Logik der autonomen Ästhetik gehorchen, so organisieren sich die ästhetischen Urteile und Verhaltensweisen doch keineswegs weniger systematisch“ (1983a, 19). Bourdieu kann darüber hinaus zeigen, wie wichtig es ist, „reale Gruppen“ als Träger ästhetischer Prinzipien zu untersuchen: „Erst die methodologische Entscheidung, reale Gruppen zu untersuchen, rückte ins Blickfeld (oder erinnerte wieder daran), dass die der Photografie zugeschriebene Bedeutung und Funktion unmittelbar an die Struktur der Gruppe (...) und insbesondere an deren Stellung in der gesamtgesellschaftlichen Struktur gebunden sind“ (ebd., 20).18
6.2 Die Bedeutung der formalen ästhetischen Analyse für die Interpretation sozialer Sinnstrukturen Wie dargelegt, reklamiert Imdahl in kritischer Auseinandersetzung mit der ikonologischen Interpretation bei Panofsky für die Ikonik eine unter anderem stärker auf ästhetische und weniger (direkt) auf die Repräsentation histori18
Wie sehr nicht allein die Produktion von Fotos, sondern auch deren Interpretation eine Funktion des gruppenspezifischen, genauer: des kollektiven Habitus ist, zeigt die empirische Analyse von Michel (i. d. Band; siehe auch Michel 2001). Die Analyse von Bourdieu ist allerdings nicht primär auf die an den Fotos selbst rekonstruierbaren ästhetischen Prinzipien gerichtet, um auf dieser Grundlage dann die gesellschaftliche Funktion der Fotos herauszuarbeiten. Vielmehr stützt sich Bourdieu im Wesentlichen auf die Äußerungen, also die Texte der fotografischen Akteure. Somit kann diese Arbeit keinen direkten Beitrag zur Entfaltung einer Methodik der Fotointerpretation leisten.
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scher und somit auch kultureller und milieuspezifischer Strukturen gerichtete Interpretation.19 Dies ist jedoch keineswegs als ein Gegensatz zu begreifen, und Imdahl stellt dann ja auch die Begründung der ikonologischen Interpretation bei Panofsky keineswegs grundsätzlich in Frage. Denn es sind gerade die formalen, die ‚absoluten‘ und ubiquitären ästhetischen Prinzipien, die die Analyse der historischen und milieuspezifischen Besonderheiten und Variationen dadurch anzuleiten vermögen, dass sie als Tertium Comparationis im historischen, aber auch kulturellen und milieuspezifischen Vergleich fungieren. Ähnlich wie im Bereich der auf Textinterpretation basierenden qualitativen Forschung die Bedeutung der Analyse formaler sprachlicher Strukturen im Grenzbereich zur Linguistik längst anerkannt ist, könnten im Bereich der Bildinterpretation die formalen ästhetischen Prinzipien Bedeutung gewinnen. Die dokumentarische Methode vermag hier den Weg zu weisen auch für die Entfaltung einer Methodik der Interpretation ‚profaner‘ Bilder und Fotografien. Mollenhauer, der in Anknüpfung an Panofsky und z.T. auch Imdahl, eine eigene Bildinterpretation – nicht in methodologischer, sondern in bildungstheoretischer Absicht – vorgelegt hat, betont, „daß bereits die nur formal-ästhetischen Charakteristika inhaltliche Hinweise enthalten. In linguistischer Metapher gesprochen: Die Bild-Syntax zeigt schon der Bildsemantik eine Richtung“ (Mollenhauer 1983, 179). Auch wenn wir die von Imdahl in seiner Interpretation konkret herausgearbeiteten ikonischen, also semantischen Sinngehalte betrachten, bestätigt sich diese Bedeutung der formalen ästhetischen Analyse: Sie steht letztlich im Dienste der Interpretation der ikonischen Sinnstruktur. Und diese betrifft im Falle gegenständlicher Bilder in ihrem Kern die im Bild repräsentierte soziale Szenerie, die soziale Bezogenheit und Beziehungsstruktur in ihrer je historisch spezifischen Ausprägung oder Variation (auf die z.B. mit Begriffen wie ‚Jesus als zugleich Unterlegener wie Überlegener‘ oder ‚Jesus als zugleich in der Geschichte Handelnder und über die Geschichte Erhobener‘ Bezug genommen wird). Gerade die in den formalen Strukturen der Komposition fundierte Ikonik zeigt sich somit in besonderer Weise für die (dokumentarische) Interpretation historisch, kultur- und milieu-spezifischer Sinnstrukturen geeignet, insbesondere solcher, die uns Auskunft geben über soziale Szenerien, soziale Strukturen und kollektive Zusammenhänge in ihren Widersprüchlichkeiten bzw. „Übergegensätzlichkeiten“. Die Ikonik erweist sich in diesem Sinne als konsequente Weiterführung des Programms der ikonologischen Interpretation bei Panofsky, die dieser als Anwendungsbereich der dokumentarischen Methode verstanden hatte: Die 19
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„Unter diesem Gesichtspunkt ist die Ikonik eine weniger historisch als vielmehr ästhetisch orientierte Betrachtungsweise, wie immer noch zu beurteilen bleibt, ob nicht gerade das in ikonischer Betrachtungsweise zu ästhetischer Gegenwart gebrachte und insofern verselbständigte Kunstwerk den religiösen und geschichtlichen Zusammenhang, aus dem es hervorgegangen ist, wachhält, also tradiert“ (Imdahl 1996, 97 f.).
dokumentarische Methode als eine ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘ mit der für sie konstitutiven Frage nach dem Wie der Herstellung oder Entstehung von Sinngehalten und Objekten, die bei Panofsky erst auf der Ebene der ikonographischen, d.h. textlich und sprachlich bereits überformten Gehalte ansetzte, kann bei Imdahl grundsätzlicher gefasst und in Richtung der Interpretation der formal-ästhetischen Bildkomposition erweitert werden. Die dokumentarische Methode erreicht damit eine Sinnebene, die ausschließlich durch das Bild vermittelt werden kann, durch textförmige Medien also nicht zu ersetzen ist. Diese konsequente Einbeziehung der Bildlichkeit als einer Sinnebene sui generis ist nicht allein für die Methodik qualitativer Forschung, sondern auch für eine sozial- und erziehungswissenschaftliche Handlungstheorie von zentraler Bedeutung.20
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Für weitere theoretische Abhandlungen zur dokumentarischen Bildinterpretation und zu ihrer Kontextuierung in der qualitativen Sozialforschung siehe Bohnsack 2003 (Kap.9), 2003b, 2003d, 2005c, 2006d, 2007a (Kap. 9), 2007b und 2007c.
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Burkard Michel
Fotografien und ihre Lesarten. Dokumentarische Interpretation von Bildrezeptionsprozessen „Wie gelangt der Sinn in das Bild?“ fragte Roland Barthes in seiner „Rhetorik des Bildes“ (1990b, 28) und grenzte sich damit implizit von substantialistischen Auffassungen des Sinns ab. Der Sinn ist demnach keine Entität, die fest und unveränderlich im Bild angelegt wäre und in eindeutiger und gleichbleibender Weise von den Rezipierenden dem Bild ‚entnommen‘ werden könnte. Der Zusammenhang von Bild und Sinn ist vielmehr ‚fragwürdig‘, auf irgendeine Weise muss der Sinn erst mit dem Bild in Verbindung gebracht werden. Diese Problematisierung steht in merkwürdigem Kontrast zur unmittelbaren Anschaulichkeit von gegenständlichen Bildern, speziell von Fotografien – erschließt sich hier doch ‚auf den ersten Blick‘, was auf dem Bild ‚drauf‘ ist. Angesichts der visuellen Evidenz wirkt die Frage nach dem Sinn einer Fotografie daher möglicherweise trivial: Welchen anderen Sinn sollte eine Ansichtskarte mit dem Eiffelturm haben als das entsprechende Bauwerk? So spricht denn auch Barthes von einem „tautologischen“ Verhältnis von einem Foto und dem, was es abbildet (ebd., 31). Fotografien zeichnen sich jedoch durch eine eigenartige Doppelnatur aus: Neben ihrer Abbildungsfunktion, in der sie aufgrund einer Ähnlichkeitsrelation als „Ersatzreiz“ (Eco 2000a, 404) für die abgebildete Szene wirken, können sie zum „Anlaß“ (vgl. Winter 1992, 24) komplexerer Sinnzuschreibungen werden, die die Abbildungsfunktion übersteigen. Aus dem Abbild wird in dieser Perspektive ein Sinnbild. Da das Bild nur den Anlass für Sinnkonstruktionen bietet, ist der Sinn konstitutiv auf den Beitrag der Rezipierenden verwiesen. Das Bild selbst ist „offen“ für unterschiedliche Sinnzuschreibungen (vgl. Michel 2001). Daraus kann sich eine Pluralität der Sinnbildungen ergeben, die im Anschluss an Barthes (1990b, 34) als „Polysemie“ bezeichnet wird. In semiotischer Terminologie postuliert Barthes, dass „jedes Bild polysemisch [ist], es impliziert eine unterschwellig in seinen Signifikanten vorhandene ‚fluktuierende Kette‘ von Signifikaten, aus denen der Leser manche auswählen und die übrigen ignorieren kann. Die Polysemie bringt die Frage nach dem Sinn hervor“ (ebd.). Durch die „Logik der Signifikanten“ (Eco 1972, 163) setzt das Bild allerdings auch „Grenzen der Interpretation“ (Eco 1992), d.h. nicht jede beliebige Sinnzuschreibung wird durch das Bild
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gedeckt (vgl. Fiske 1987, 84). Die Sinnbildung „oszilliert“ daher zwischen den Vorgaben des Bildes und dem Beitrag der Rezipierenden (vgl. Eco 1992, 22), ohne dass eine Seite die Sinnbildung determinieren würde. Dass die Rezipierenden einen aktiven Beitrag zur Sinnkonstruktion leisten, gehört mittlerweile zu den Prämissen der Rezeptionsforschung (vgl. Livingstone 1996, 165). Die Aktivität der Rezipierenden wird dabei als definitorisches Grundelement von „Medienrezeption“ angesehen: „Unter Medienrezeption soll die aktive Auseinandersetzung von Lesern mit Texten, von Hörern mit Sprache oder Musik und von Zuschauern mit Filmen usw. verstanden werden.“ (Charlton 1997, 16; Herv. B.M.). Wie jedoch die sinnkonstruierende Aktivität der Rezipierenden zu konzeptualisieren ist – darüber gehen die Meinungen auseinander (vgl. Biocca 1988; McQuail 1994, 315 ff.). Der vorliegende Beitrag greift dieses Problem auf und fragt, inwiefern auch kollektive und präreflexive Wissensbestände, wie sie bspw. mit Bourdieus Habitus-Konzept verknüpft sind, die aktive Sinnbildung bei der Rezeption von Fotografien beeinflussen bzw. – um Barthes´ Frage aufzunehmen – wie der Habitus des Betrachters dazu beiträgt, dass Sinn in das Bild gelangt (vgl. auch Michel 2006a). Mit der dokumentarischen Methode lassen sich Sinnbildungsprozesse untersuchen, zu denen es bei der Rezeption von Fotografien kommt. Zusammen mit dem Erhebungsinstrument der Gruppendiskussion stellt sie das adäquate Verfahren dar, um kollektive und präreflexive Orientierungen zu rekonstruieren, die sich als Symptome des Habitus in der Auseinandersetzung mit dem Bild dokumentieren. Die dokumentarische Methode ermöglicht dabei ein Nachzeichnen des Entstehens von Sinn in nascendi und eine Beschreibung der Oszillation des Sinns zwischen dem Beitrag des Bildes und dem Beitrag der Rezipierenden in actu. In diesem Artikel werden anhand von Auszügen aus drei Gruppendiskussionen einzelne Phasen von Sinnbildungsprozessen bei der Rezeption von Fotografien exemplarisch rekonstruiert und diskutiert. Doch zunächst (1) wird die These von der Aktivität der Rezipierenden aufgegriffen. Dabei wird der mögliche Beitrag der Habitustheorie zur Rezeptionsforschung vor dem Hintergrund der Vorstellung vom „aktiven Publikum“ konturiert und erläutert. Um die aktive Auseinandersetzung der Rezipierenden mit dem Bild als Interaktion zu beschreiben, lässt sich sodann (2) an den relationalen Sinnbegriff nach Alfred Schütz anschließen. Mit Blick auf den Habitus-Ansatz gilt es bei diesem Sinnbegriff aber einige Kautelen zu berücksichtigen. Sie führen dazu, dass der Sinn als „Mehrebenenphänomen“ angesehen wird. Die unterschiedlichen Ebenen des Sinns lassen sich (3) mit Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell konzeptualisieren. Obwohl dieses als kunstwissenschaftliche Methode entwickelt wurde, kann es als Modell für eine habitusorientierte Analyse empirischer Rezeptionsprozesse herangezogen werden. Mit Hilfe des bei Panofsky entlehnten begrifflichen
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Instrumentariums lassen sich dann (4) Sinnbildungsprozesse bei der Rezeption von Fotografien exemplarisch anhand von drei Gruppendiskussionen explizieren und einer reflektierenden Interpretation unterziehen.
1. Die Aktivität der Rezipierenden Die These von der Aktivität der Rezipierenden gehört zu den „quasi unhinterfragbaren Gewißheiten“ (Hasebrink/Krotz 1996, 7) der Rezeptionsforschung. Teilweise wird der sinnerzeugenden Aktivität der Rezipierenden emanzipatorisches Potential zugesprochen, da sich die Rezipierenden durch „oppositionelle“ Lesarten der bedeutungsoffenen Medienangebote etwaigen Beeinflussungsabsichten der Medienproduzenten entziehen könnten (vgl. Eco 1967, 149 ff.; Hall 1980; Fiske 1987, 236 f.; kritisch dazu Bourdieu 1998, 139 f.). Häufig wird die Aktivität als „zielgerichtet“ verstanden, die sich an „NutzenKalkulationen“ zur Optimierung von Bedürfnisbefriedigungen orientiert (vgl. Maletzke 1998, 121 f.). Renckstorf stellt fest, dass den publikumszentrierten Modellen „die in vielfältigen Interaktionszusammenhängen stehenden, sich ihrer Ziele, Absichten und Interessen grundsätzlich bewussten – zur Reflexion fähigen – Menschen als Ausgangspunkte dienen“ (1989, 328). Mit dem Begriff des „aktiven Publikums“ werden daher oftmals Vorstellungen vom autonomen Individuum verbunden, das sich und seine Bedürfnisse genauestens kennt und Medienangebote zu selbst gesetzten Zielen nutzt (vgl. Biocca 1988, 63). Insbesondere der Uses-and-Gratification-Approach wird in dieser Weise charakterisiert (vgl. Kübler 1989, 30 f.; Jäckel 1996, 94 f.; Jäckel 1999, 73). Mit diesem als „cartesianisch“ zu bezeichnenden Menschenbild (vgl. Michel 2004a) ist zum einen meist das Prinzip des „Methodologischen Individualismus“ verbunden, bei dem als Untersuchungseinheit das „monadische Individuum“ definiert wird, das in standardisierten Fragebogenuntersuchungen über sein sinnkonstruierendes Handeln Auskunft geben kann. Zum anderen ist hierin die Auffassung von sich selbst völlig durchsichtigen Individuen impliziert.1 Demgegenüber legt die Habitus-Theorie nahe, dass auch kollektive und präreflexive Prägungen der Rezipierenden den aktiven Beitrag zur Sinnbildung beeinflussen. Bourdieu definiert den Habitus u.a. als „System der organischen oder mentalen Dispositionen und der unbewussten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1974, 40). Vor diesem Hintergrund erfährt die Vorstellung von der Aktivität der Rezipierenden eine andere Akzentuierung: Zwar kann auch mit Bourdieu grundsätzlich am akti1
Zur Auseinandersetzung mit der Rezeptionsforschung auf der Basis der dokumentarischen Methode siehe auch den Beitrag von Fritzsche i. d. Band.
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ven und sinnkonstruierenden Beitrag der Rezipierenden festgehalten werden (vgl. Bourdieu 1982, 728), „doch darf man darüber nicht wie manche Interaktionisten und Ethnomethodologen vergessen, daß die Kategorien, die sie bei dieser Konstruktionsarbeit ins Spiel bringen, nicht von ihnen konstruiert wurden“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 28). Als Dispositionen des Habitus liegen die Kategorien nicht nur dem einzelnen Rezeptionsakt voraus, sie sind auch dem intentionalen Zugriff der Akteure weitgehend entzogen. Als Teil des „praktischen Wissens“ arbeiten die geschichtlich ausgebildeten und inkorporierten Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata des Habitus „jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken“ und ermöglichen das „praktische Erkennen der sozialen Welt“ und damit ein „‚vernünftiges‘ Verhalten“ in dieser Welt (Bourdieu 1982, 730). Aus der Teilhabe an einer gemeinsamen Handlungspraxis erwächst das „praktische Verstehen“ (Bourdieu 1993b, 38 f.), so dass Personen mit dem gleichen Habitus „spontan aufeinander abgestimmt sind“ (Bourdieu 1992a, 104). Zwischen ihnen „geht alles wie von selbst, sogar die Konflikte. Sie verstehen sich durch kleinste Andeutungen (...) Wo jedoch unterschiedliche Habitus auftreten, entsteht die Möglichkeit von Unfällen, Zusammenstößen, Konflikten“ (ebd.). Denn der Habitus mit seinen Denk- und Wahrnehmungskategorien wurzelt in milieuspezifischen existentiellen Hintergründen der Akteure und wird durch sie geprägt. Stärker als Bourdieu betont Bohnsack Gemeinsamkeiten des Erlebens als Basis des Habitus. Im Anschluss an die Wissenssoziologie Karl Mannheims spricht er von „konjunktiven Erfahrungsräumen“, die dadurch charakterisiert sind, dass „ihre Träger durch Gemeinsamkeiten des Schicksals, des biographischen Erlebens, Gemeinsamkeiten der Sozialisationsgeschichte miteinander verbunden sind. Dabei ist die Konstitution konjunktiver Erfahrung nicht an das gruppenhafte Zusammenleben derjenigen gebunden, die an ihr teilhaben“ (Bohnsack 2000a, 131).
Durch den konjunktiven Erfahrungsraum konstituiert sich eine „fundamentale Sozialität sui generis“, die als „vorreflexiver oder atheoretischer Sinnzusammenhang“ (Bohnsack 2001a, 335) zur Herausbildung eines milieuspezifischen Habitus führt. Die Gemeinsamkeit der Existenzbedingungen versieht die Akteure aber „nicht so sehr mit einzelnen und vereinzelten Denkschemata, sondern eher mit einer allgemeinen Disposition“ (Bourdieu 1974, 123), die als „generative Formel“ (Bourdieu 1982, 332) bzw. als modus operandi den Praxisformen eines Akteurs und den Akteuren eines Milieus „fern jedes absichtlichen Bemühens um Kohärenz“ (ebd., 281) eine einheitliche Prägung verleiht. Dadurch wirken Praktiken in ganz unterschiedlichen Lebensbereichen wie absichtsvoll aufeinander abgestimmt, obwohl ihnen keine bewusste Absicht zugrunde liegt. Bourdieu gibt Hinweise darauf, dass sich auch im Rezeptionsverhalten der milieuspezifische modus operandi dokumentiert.
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„Man kann wirklich behaupten, daß zwei Personen mit unterschiedlichem Habitus, die also nicht der gleichen Situation und nicht den gleichen Stimuli ausgesetzt sind, da sie sie anders konstruieren, nicht dieselbe Musik hören und nicht dasselbe Gemälde sehen und folglich nicht dasselbe Werturteil fällen können“ (Bourdieu 1993a, 29; vgl. Bourdieu/ Wacquant 1996, 157).
Je nach Habitus kommt es demnach zu unterschiedlichen Sinnbildungen, in denen sich der modus operandi des jeweiligen Habitus dokumentiert – der Habitus fungiert als „modus recipiendi“ (Michel 2004a, 48). Auf eine Explikation des modus operandi zielt die dokumentarische Methode. Als „repräsentante Prozeßstruktur“ (vgl. Loos/Schäffer 2001, 89) artikuliert sich der modus operandi in selbstläufigen Diskussionen von Realgruppen, d.h. von Gruppen, deren Mitglieder durch einen konjunktiven Erfahrungsraum miteinander verbunden sind und deshalb einen gemeinsamen Habitus haben. In der Diskussion emergiert nicht lediglich situativ zufälliger Sinn, es repräsentiert sich vielmehr auch ein darüber hinaus gehendes bzw. tieferliegendes, kollektives Muster der milieuspezifischen Orientierung – eben die durch die generative Formel des Habitus erzeugte Prozessstruktur. Auf die Sinnbildungsprozesse bei der Rezeption von Fotografien bezogen heißt dies, dass sich der habitusspezifische Sinn primär nicht darin äußert, was die Rezipierenden (thematisch) über die Bilder sagen, sondern wie sie sich (szenisch, metaphorisch, praktisch u.a.) zu einem Bild ins Verhältnis setzen. Der so erzeugte Sinn schleicht sich „hinter dem Rücken“ der Rezipierenden in ihre Auseinandersetzung mit einem Bild ein und bleibt ihnen selbst oftmals unbewusst (vgl. Bourdieu 1993b, 127).2
2. Der Sinn als Bezugsgröße Seit Ecos „offenem Kunstwerk“ (1977a), der literaturwissenschaftlichen Rezeptionsästhetik (insbes. Iser 1976) und den Arbeiten der Cultural Studies (z.B. Fiske 1987, 80 f., 116 f., 254 f.) wird die Auffassung vom Sinn als Interaktionsprodukt von Text und Rezipierenden in der Rezeptionsforschung weithin geteilt (vgl. Jensen 1986, 78; Livingsstone 1996, 172). Behält man aber auch die Prozessstruktur der Sinnbildung im Auge, in der sich der modus operandi entfaltet, dann empfiehlt es sich, vom Sinn als Interaktionsprozess zu reden. In jedem Fall ist der Sinn nicht substantialistisch im Bild angelegt, sondern „zwischen“ Bild und Rezipierenden anzusiedeln. Diese Vorstellung findet sich auch in strukturalistisch geprägten Zeichenbegriffen der 2
Zu Konvergenzen und Divergenzen der praxeologisch fundierten Wissenssoziologie und der dokumentarischen Methode mit der Kultursoziologie Bourdieus siehe auch den Beitrag von Meuser i. d. Band.
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Semiotik: Der Sinn eines Zeichens ergibt sich hier aus der relationalen Verbindung von manifestem Zeichenträger (Signifikant) und dem von den Rezipierenden hinzugedachten Zeicheninhalt (Signifikat) (vgl. Eco 1977b, 112; Nöth 1985, 92). Noch stärker lässt sich dieser relationale Sinn-Begriff mit Alfred Schütz konturieren, dessen phänomenologische Perspektive aus Sicht der Habitus-Theorie jedoch anschließend einer Differenzierung bedarf. Schütz/Luckmann halten fest: „Sinn ist eine im Bewußtsein gestiftete Bezugsgröße, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beziehung zwischen einer Erfahrung und etwas anderem. Im einfachsten Fall ist dieses andere eine andere als die aktuelle, so z.B. eine erinnerte Erfahrung. Die gerade vergangene Erfahrung, deren Erlebnisevidenz noch nachhallt, wird mit Bezug auf jene nur erinnerte als gleich, ähnlich, entgegengesetzt usw. erfaßt. Das andere kann jedoch auch etwas Verwickelteres als eine einzelne Erfahrung sein: ein Erfahrungsschema, eine höherstufige Typisierung, eine Problemlösung oder Handlungsrechtfertigung.“ (Schütz/Luckmann 1984, 13)
In phänomenologischer Perspektive wird Sinn nicht „objektivistisch“ einem Artefakt (bspw. einem Bild) als inhärente Eigenschaft zugesprochen, sondern nur im Durchgang durch das subjektive Erleben eines Akteurs gedacht. Schütz postuliert jedoch darüber hinaus, dass Sinn nicht einer Erfahrung allein zukommt, sondern immer nur der Beziehung einer Erfahrung und „etwas anderem“. Sinn wird demnach prinzipiell synthetisch hergestellt. Die beiden Faktoren der Synthese sind jeweils Erfahrungen (bzw. „höherstufige“ Erfahrungssysteme). Schütz definiert Erfahrung als eine besondere Art des Erlebnisses: „Erlebnisse heben sich im Bewußtseinsstrom ab; Erfahrungen sind durch Aufmerksamkeit ausgezeichnete Erlebnisse.“ (Schütz/Luckmann 1984, 13). Auf die Rezeption von Bildern übertragen, wäre die „aktuelle“ Erfahrung die Hinwendung auf das Erlebnis des Bildes im Bewusstseinsstrom. Diese Erfahrung wird im Bewusstsein mit einer anderen Erfahrung verknüpft bzw. synthetisiert, die nicht dem aktuellen Erleben, sondern dem Wissensvorrat entstammt (vgl. Schütz/Luckmann 1979, 95). Diese Verknüpfung von aktueller und früherer Erfahrung ist der Sinn. Bei den früheren Erfahrungen lassen sich nun wiederum zwei unterschiedliche Modi des Wissens unterscheiden. Denn der Akteur muss die früheren Erfahrungen nicht selbst gemacht haben, sondern kann auch auf „übermittelte“ Erfahrungen zurückgreifen (ebd., 29), die als Typisierungen im Wissensvorrat sedimentiert sind. Schütz und Luckmann gehen davon aus, dass die weitaus meisten der lebensweltlichen Typisierungen sprachlich objektiviert sind. Und: „die Sprache kann als die Sedimentierung typischer Erfahrungsschemata, die in einer Gesellschaft typisch relevant sind, aufgefaßt werden“ (ebd., 283). Sinnbildung erfolgt dann u.a. durch Subsumtion aktueller Erfahrungen unter bekannte Typisierungen, die mit sprachlichen Kategorien korrespondieren und daher – unter der Annahme einer „Kongruenz der Relevanzsysteme“ (Schütz 1971, 13) – kommunizierbar sind.
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Bohnsack spricht in diesem Zusammenhang von „kommunikativen“ Wissensbeständen (1997b, 53), die sich begrifflich-theoretisch explizieren lassen (1993a, 47). Als kulturelle Orientierungsschemata (vgl. Bohnsack 1997b u. Bohnsack/ Nohl 1998, 261) umfassen sie institutionalisiertes Wissen, welches Kommunikation „über die Grenzen von Wir-Gruppenbeziehungen, Milieus und kulturellen Segmentierungen hinweg oder zwischen diesen“ (ebd.) erlaubt. Die Bezugnahme auf diese Wissensbestände im Zuge der relationalen Sinnbildung erfolgt nach Schütz prinzipiell reflexiv (Schütz 1974, 69; vgl. auch Schütz/Luckmann 1984, 13). Damit ist diese Art der Sinnbildung sowohl hinsichtlich des Modus der Bezugnahme als auch hinsichtlich der Qualität der Wissensbestände von denjenigen Sinnbildungsprozessen abzugrenzen, die durch den modus operandi des Habitus strukturiert werden. Denn das mit dem Habitus verbundene praktische Wissen entzieht sich für die Akteure – als atheoretisches und inkorporiertes Wissen – weitgehend sprachlicher Explikation und reflexiver Durchdringung. Als vorsprachliches Wissen ist es in den konjunktiven Bezügen einer gemeinschaftlichen Handlungspraxis verwurzelt und erschließt sich unmittelbar durch Teilhabe an dieser Handlungspraxis. Vom kommunikativen Wissen unterscheidet Bohnsack daher mit Mannheim (1980) konjunktive Wissensbestände, die aus der gelebten Teilhabe an einem konjunktiven Erfahrungsraum resultieren und daher milieuspezifisch sind (vgl. Bohnsack 2001a, 330 f., sowie Michel 2005). Sie bilden einen konjunktiven Orientierungsrahmen, der unter Milieuangehörigen intuitives Verstehen ermöglicht. „Konjunktive Verständigung und Orientierung bedeutet (...) unmittelbares Verstehen der anderen im Medium von Gemeinsamkeiten der Handlungspraxis und des sozialisationsgeschichtlichen Erlebens“ (Bohnsack 1997b, 57). Die Verständigung im konjunktiven Modus stützt sich auf „Anspielungen“ und metaphorische Darstellungen, d.h. auf Erzählungen und Beschreibungen, deren Sinngehalt sich für Außenstehende nur schwer erschließt (vgl. Bohnsack 1993a, 46 f.). Das mit einem konjunktiven Erfahrungsraum verbundene praktische Wissen gehört prinzipiell zu dem Wissensvorrat „früherer“ Erfahrungen, der mit einer aktuellen Erfahrung in eine sinnkonstituierende Beziehung gesetzt werden kann. Als problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang jedoch Schütz´ Auffassung, wonach Sinn prinzipiell nur reflexiv zu erfassen sei: „Denn Sinn ist nichts anderes, als eine Leistung der Intentionalität, die aber nur im reflexiven Blick sichtbar wird“ (Schütz 1974, 69) bzw. sich „erst in der reflexiven Zuwendung konstituiert“ (ebd., 113). Jenes unmittelbare SinnVerstehen auf Basis eines konjunktiven Erfahrungsraums zeichnet sich nun aber gerade dadurch aus, dass es der Reflexion weitgehend entzogen ist. Wie Waldenfels (1979, 3) in seiner Kritik an Schütz jedoch deutlich macht, ist die Reflexivität des Sinns weder zwingend, noch unter Bezug auf Husserl zu begründen, auf den sich Schütz bezieht. „Husserl verlegt den Sinn der Akte keineswegs erst in die Reflexion, sondern ordnet sie jedweder Intentionalität
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zu“ (ebd.). In diesem Zusammenhang spricht Bourdieu, bezogen auf das „praktische Wissen“, auch von „Intentionalität ohne Intention“ und „praktische(r) Intentionalität“ (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, 41), „die im Sinne eines Prinzips von Strategien ohne strategischen Plan, ohne rationales Kalkül, ohne bewußte Zwecksetzung funktioniert“ (Bourdieu 1989, 397). Auch diese „intentionslose Intentionalität“ (ebd.) kann als relational und sinnhaft verstanden werden (vgl. Bourdieu 1979, 178 f.). Sinn kann demnach auch präreflexiv im Modus unmittelbarer Verständigung auf Basis eines konjunktiven Erfahrungsraums erzeugt werden. Dieser präreflexive Sinn, der sich den Akteuren aufgrund „praktischen Wissens“ erschließt, kann ebenfalls als „Bezugsgröße“ einer aktuellen Erfahrung (bspw. der Betrachtung eines Bildes) und präreflexiver, „früherer“ Erfahrungen gedacht werden, die Bestandteil des mit dem Habitus verbundenen, inkorporierten praktischen Wissens sind. Auch der präreflexive Sinn kann demnach als Relation von aktueller (Bild-) Erfahrung und dem „in der gelebten Praxis angeeignete(n) und diese Praxis zugleich orientierende(n) Wissen, welches den Orientierungsrahmen bzw. Habitus bildet,“ (Bohnsack 2001a, 331) beschrieben werden (vgl. Mannheim 1980, 211 ff.). Das Herstellen dieser Relation, d.h. die Sinnbildung als „unmittelbares Verstehen“, erfolgt dann ebenfalls präreflexiv. Es lassen sich somit zwei Ebenen der Sinnbildung unterscheiden, die aber nicht als einander ausschließende Alternativen zu betrachten sind (vgl. auch Bourdieu 1989, 397). „In vielen Situationen alltäglicher Verständigung sind immer zugleich beide Dimensionen von Beziehungen oder Orientierungen impliziert: die kommunikative einerseits und die konjunktive andererseits“ (Bohnsack 1997b, 54). Nur zu analytischen Zwecken sind sie zu trennen. Auf beiden Ebenen lässt sich der Sinn im Anschluss an den Sinnbegriff von Alfred Schütz relational als Bezugsgröße zwischen einer aktuellen und einer im Wissensvorrat sedimentierten, „früheren“ Erfahrung beschreiben.3 3
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Aus der Berücksichtigung des mit dem Habitus verbundenen praktischen Wissens ergeben sich weitere Unterschiede zur Konzeption von Schütz, von denen einige hier kurz dargestellt werden sollen: (a) Mit dem Habitus als konjunktivem Erfahrungsraum ist ein anderer, fundamentalerer Begriff der Sozialität verbunden. Schütz setzt mit seinen Überlegungen zum sinnhaften Aufbau der sozialen Welt bei den Sinnbildungsaktivitäten des handelnden Ego an. Sozialität bildet sich bei ihm erst über Interaktion mit Alter Ego heraus, bei der sich die Handelnden wechselseitig gleiche Motive unterstellen. Bohnsack spricht von einem „individualistischen Kommunikationsmodell“ (Bohnsack 1993a, 46) und führt aus: „Die beteiligten Akteure vermögen ihre bereits im vorhinein subjektiv entworfenen zweckrationalen Handlungspläne erst in der Kommunikationssituation zu koordinieren, um InterSubjektivität herzustellen.“ (ebd.) Waldenfels kritisiert den Ansatz von Schütz als „egozentrisch“ (1979, 5) und setzt ihm einen grundlegenderen Begriff der Sozialität entgegen, der jeder Interaktion vorausliegt. Denn das Verstehen „eröffnet nicht erst den Zugang zu den Anderen, sondern ist von vornherein in einen sozialen Kontext eingebettet. Man müßte dementsprechend die ‚Generalthesis des alter ego‘, die die Existenz und Gleichartigkeit anderer Subjekte voraussetzt, umformen in eine ‚Generalthesis des Wir‘, die nicht formal anzusetzen wäre, sondern als ein konkretes Einverständnis und mögliches Nichteinverständnis, das von vornherein auch praktisch und affektiv geprägt ist“ (Waldenfels 1979, 7). Dies
Der relationale Sinnbegriff erlaubt zum einen ein Anknüpfen an semiotische Zeichenbegriffe, zum anderen lässt sich damit auch die sinnkonstituierende Interaktion von Bild und Rezipierenden beschreiben, wobei auch der Beitrag des Bildes nicht objektivistisch (als datum brutum) begriffen wird, sondern nur erfahrungsvermittelt im Durchgang durch das Erleben der Rezipierenden. Um die „Oszillation“ der Sinnbildung zwischen Bild und Rezipierenden als Prozessstruktur in actu nachzuzeichnen, ist somit ein begriffliches Instrumentarium erforderlich, das sowohl den (sozusagen ‚horizontal’ aufgespannten) relationalen Sinnbegriff in sich aufnimmt als auch dem Sinn als (quasi ‚vertikal’ geschichtetes) „Mehrebenenphänomen“ Rechnung trägt, d.h. der Differenzierung der Sinnbildung in einen kulturspezifischen kommunikativen Modus und einen milieuspezifischen konjunktiven Modus. Eine Integration dieser beiden Aspekte verspricht das Ikonographie/Ikonologie-Modell, das der Kunsthistoriker Erwin Panofsky erstmals 1932 vorgestellt hat.
3. Ebenen des Sinns: Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell Panofsky konzipierte sein Ikonographie/Ikonologie-Modell als kunstwissenschaftliche Methode (Panofsky 1987b, 214; vgl. Bätschmann 1985). Mit ihrer Hilfe sollen Kunsthistorikerinnen zu „korrekten“ Interpretationen von Bildern gelangen (z.B. Panofsky 1987b, 214). Als korrekt kann eine Interpretaleistet das Modell des konjunktiven Erfahrungsraums, bei dem die Akteure „durch Selbstverständlichkeiten miteinander verbunden sind“ (Bohnsack 1997c, 497), die aus Gemeinsamkeiten des Schicksals und der Alltagspraxis resultieren. Durch Inkorporierung der gemeinschaftlichen Handlungsschemata wird ein milieuspezifischer Habitus geprägt. (b) Da das praktische Wissen in milieuspezifischen Handlungspraktiken wurzelt, sind die damit verbundenen Sinnbildungen „nicht universell für jedes wahrnehmende und handelnde Subjekt gültig“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 104). Es kommt vielmehr zu milieuspezifischen Unterschieden der Sinnbildung. Für deren Rekonstruktion ist die phänomenologische Soziologie jedoch schlecht gerüstet, da sie die „‚Seinsgebundenheit‘ von Wissen und Erfahrung, ihre Abhängigkeit von der sozialen Lage, in ihre theoretische und empirische Analyse nicht einzubeziehen vermag“ (Bohnsack 2000a, 176). (c) In Abgrenzung zu Schütz ergibt sich aus der Focussierung auf den modus operandi des Habitus auch eine andere Forschungsperspektive: Die phänomenologische Soziologie wendet sich in „natürlicher Einstellung“ dem gleichen Gegenstand zu wie die Akteure selbst, nämlich dem – für Akteur wie für Sozialwissenschaftlerin gleichermaßen reflexiv verfügbaren – kommunikativen Sinn. Als Konstruktionen zweiten Grades zeichnet sie diese Sinnbildungen ersten Grades nach, ohne nach ihrem Konstitutionszusammenhang zu fragen (vgl. Bourdieu 1979, 150 f.). Es liegt auf der Hand, dass eine begriffliche Explikation der praktischen Wissensbestände und der mit ihnen verbundenen Sinnbildungsprozesse, die dem Akteur selbst intentional nicht verfügbar sind, mit der „natürlichen Einstellung“ der Lebenswelt brechen muss, d.h. die Perspektive der Epoché einnehmen muss.
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tion angesehen werden, die die „geschichtliche Wahrheit“ (Panofsky 1987a, 206, Anm. 16) von Bildern erfasst, indem sie aus den Bildern „das herausholt, was sie ‚sagen‘, (...) [bzw.] was sie ‚sagen wollen‘“ (ebd.). Damit scheint das Ikonographie/Ikonologie-Modell denkbar weit entfernt von der Problemstellung einer an empirischen Sinnbildungsprozessen interessierten Rezeptionsforschung zu liegen: Sinn wird anscheinend als im Bild verankerte Größe angesehen, die es „korrekt“, d.h. gemäß der „ursprünglichen Intention“ des Werks (Panofsky 1978, 21), herauszupräparieren gilt. Dennoch kann Panofskys Modell auch für die Untersuchung empirischer Rezeptionsprozesse fruchtbar gemacht werden, von Prozessen also, die prinzipiell nicht nach der Maßgabe „richtig“ oder „falsch“ zu beurteilen sind. Denn entgegen dem ersten Eindruck lässt sich auch bei Panofsky die Vorstellung vom Sinn als Interaktionsprodukt von Bild und Rezipierenden herausarbeiten und vor dem Hintergrund von Schütz´ relationalem Sinn-Begriff präzisieren. Panofsky unterscheidet drei Ebenen der Interpretation, auf denen jeweils eine eigene Art des Sinns zu eruieren ist. Für jede Ebene nennt er als Voraussetzung einer „korrekten“ Interpretation „subjektive Quellen der Interpretation“ (Panofsky 1987a, 203). Damit berücksichtigt er die soziale und historische Standortgebundenheit auch wissenschaftlicher Interpreten. Denn bei den „subjektiven Quellen“ bzw. der „subjektiven Ausrüstung“ (Panofsky 1987b, 222) handelt es sich um „das Erkenntnisvermögen und de(n) Erkenntnisbesitz des interpretierenden Subjekts“ (1987a, 199; vgl. 1987b, 222), d.h. um die Wissensbestände der sozial und historisch situierten Interpretierenden, die mit dem Bild „in Zusammenhang“ (1987a, 194) gebracht werden müssen, um den jeweiligen Sinn zu erschließen. Sinn lässt sich demnach auch bei Panofsky als „Bezugsgröße“ zwischen einer aktuellen und einer früheren Erfahrung beschreiben. Dabei kommt den Wissensbeständen der Interpreten in der Perspektive Panofskys jedoch eine ambivalente Rolle zu: Einerseits sind sie Bedingung gelingender Interpretation, andererseits stehen sie einer „korrekten“ Interpretation im Wege, wenn die „subjektiven Quellen“ des Rezeptionskontextes von denen des Entstehungskontextes des Bildes abweichen. Panofsky unterwirft den subjektiven Beitrag der Interpretierenden daher „objektiven Korrektivprinzipien“ (1987a, 199, 203; vgl. 1987b, 214 ff.), die verhindern sollen, dass die Interpretation zur „schweifenden Willkür“ (1987a, 199, 202) wird. Sie sollen den Beitrag der Rezipierenden an den geistigen und kulturellen Horizont des Entstehungskontextes eines Werkes angleichen (1978, 21).
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3.1 Sinnbildung im kommunikativen Modus: Die vor-ikonographische und ikonographische Sinn-Ebene Die drei Ebenen der Interpretation lassen sich u.a. durch den Verbreitungsbzw. Kollektivitätsgrad der erforderlichen Wissensbestandteile unterscheiden. Im Anschluss an Panofsky lässt sich dies anhand einer Abendmahlsdarstellung erläutern: Auf der ersten Sinn-Ebene, der vor-ikonographischen, kann „jedermann“ (Panofsky 1987b, 214) aufgrund seiner „unmittelbaren Daseinserfahrung“ (Panofsky 1987a, 187) und seiner „Vertrautheit mit Gegenständen und Ereignissen“ (Panofsky 1987b, 223) 13 Männer, einen Tisch, Brot, Wein u.a.m. wiedererkennen.4 Aus der Interaktion dieses Wissens mit dem Bild (genauer: mit der Erfahrung des Bildes) erwächst der Phänomensinn. Auf der zweiten, der ikonographischen Sinn-Ebene ist die Kenntnis „von Bräuchen und kulturellen Traditionen, die einer bestimmten Zivilisation eigentümlich sind“ (Panofsky 1987b, 208), als subjektive Quelle Voraussetzung für die Interpretation des Bedeutungssinns. Die ikonographische Analyse stützt sich demnach auf die allgemeinen Konventionen und das „literarische Wissen“ (Panofsky 1987a, 203) einer Kultur. „Sie setzt eine Vertrautheit mit bestimmten Themen oder Vorstellungen voraus, wie sie durch literarische Quellen vermittelt wird, sei es durch zielbewußtes Lesen oder durch mündliche Tradition“ (Panofsky 1987b, 217). Diese kanonisierten Geschichten und Erzählungen erlauben eine sinnvolle Verbindung herzustellen zwischen den einzelnen, vor-ikonographisch wiedererkannten Bildelementen. Panofsky führt zur Illustration des Unterschieds zwischen Vor-Ikonographie und Ikonographie einen „australischen Buschmann“ (1987b, 208) ein, der auf der Abendmahlsdarstellung zwar 13 Personen, Brot und Wein erkennen würde, ohne die Kenntnis der biblischen Erzählungen aber nicht in der Lage wäre, die Personen als Jesus und seine Jünger am Vorabend der Kreuzigung zu identifizieren und die Gesamtsituation als „letztes Abendmahl“ zu decodieren. Zwischen den ersten beiden Sinn-Ebenen und der dritten, der ikonologischen Ebene sieht Panofsky einen kategorialen Bruch. Denn auf vor-ikonographischer und ikonographischer Ebene können – in semiotischer Begrifflichkeit – explizite Codes unterstellt werden, die als Zuordnungsregeln einen durch Konventionen institutionalisierten und damit stabilisierten Zusammenhang von Bilddaten (Signifikanten) und den Wissensbeständen der Rezipierenden (Signifikaten) herstellen (vgl. Eco 1977b, 86; 1985b, 242 ff.). Im Bereich der Vor-Ikonographie und der Ikonographie haben die Codes den Status expliziter (oder zumindest explizierbarer) Regeln, im Sinne präskriptiver Vor4
In ähnlicher Weise hatte Barthes das Wissen charakterisiert, das für die „tautologische“ Lesart (s.o.) eines Fotos aufzubieten ist: „Um diese letzte (oder diese erste) Ebene des Bildes zu ‚lesen‘, benötigen wir kein anderes Wissen als das mit unserer Wahrnehmung verknüpfte“ (Barthes 1990b, 32).
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schriften, die zwischen Bildproduzent und -rezipient ein gemeinsam geteiltes Wissen darstellen können. Bei Fotografien, die auf vor-ikonographischer Ebene mit Barthes als „Botschaften ohne Code“ (Barthes 1990b, 32) angesehen werden, bildet das Wissen um die Tautologie des Abbildungsmodus das gemeinsam geteilte Regelwissen. Wenn sich Bildproduzent und -rezipient an dieses Regelwissen ‚halten‘ (bzw. beide Seiten Zugang zu dem gleichen Regelwissen haben), kann auf seiner Basis eine Verständigung erzielt werden. Zur Erreichung seiner Darstellungs- und Mitteilungsabsichten wird ein Bildproduzent daher Codes verwenden, von denen er annimmt, dass sie von seiner ‚Zielgruppe‘ geteilt werden. Umgekehrt werden Rezipierende in ‚kooperativer Einstellung‘, d.h. an den Darstellungs- und Mitteilungsabsichten interessierte Betrachtende, versuchen, den Bilddaten die gleichen Wissensbestände zuzuordnen wie der Bildproduzent, d.h. die gleichen Codes zu verwenden. Die Interpretation von vor-ikonographischem Phänomensinn und ikonographischem Bedeutungssinn beruht in der Diktion von Schütz demnach auf einer „Reziprozität der Perspektiven“ (1971, 12 f.), die sich insbesondere durch eine „Idealisierung der Kongruenz der Relevanzsysteme“ (ebd., 13) zwischen Bildproduzent und -rezipient ergibt bzw. durch die Korrektivprinzipien hergestellt wird. Die Sinnbildung erfolgt auf den ersten beiden Sinn-Ebenen daher im kommunikativ-generalisierenden Verstehensmodus.
3.2 Sinnbildung im konjunktiven Modus: Die ikonologische Sinn-Ebene Die ikonologische Sinn-Ebene unterscheidet sich von den beiden vorangegangenen u.a. dadurch, dass hier der Zusammenhang von bildlichen Signifikanten und außerbildlichen Signifikaten nicht durch eine präskriptive Zuordnungsregel geleitet wird, sondern lediglich deskriptiv als Regelmäßigkeit feststellbar ist. Den Unterschied erläutert Panofsky u.a. mit einem Zitat von Peirce: Während es auf vor-ikonographischer und ikonographischer Ebene darum geht, was ein Bild intentional „zur Schau stellt“ („parades“), zielt die ikonologische Interpretation darauf ab, was es darüber hinaus nicht intentional „verrät“ („betrays“) (vgl. 1978, 18; 1987a, 201). In ikonologischer Perspektive wird das Bild auf Sinngehalte untersucht, „die dem Künstler selber häufig unbekannt sind und die sogar entschieden von dem abweichen können, was er bewußt auszudrücken suchte“ (1987b, 212). Der wissenschaftliche Interpret befragt das Bild demnach nicht auf etwaige Absichten des Bildproduzenten, sondern betrachtet es als „Symptom von etwas anderem, das sich in einer unabsehbaren Vielfalt anderer Symptome artikuliert“ (Panofsky 1987b, 212). Dieses „andere“ ist „die ungewollte und ungewußte Selbstoffenbarung eines grundsätzlichen Verhaltens zur Welt, das für den individuellen Schöpfer, die individuelle Epoche, das individuelle Volk, die individuelle
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Kulturgemeinschaft in gleichem Maße bezeichnend ist“ (Panofsky 1987a, 200). Bezogen auf die Abendmahlsdarstellung geht es auf der ikonologischen Sinn-Ebene bspw. darum, das Bild „als ein Dokument der Persönlichkeit Leonardos oder der Kultur der italienischen Hochrenaissance oder einer bestimmten religiösen Einstellung zu verstehen“ (Panofsky 1987b, 212; Herv. B.M.). Mit der ikonologischen Sinn-Ebene schließt Panofsky explizit an die dokumentarische Methode Karl Mannheims an: Hier gilt es den Dokument- bzw. Wesenssinn zu erfassen. An anderer Stelle5 prägt Panofsky den Begriff des „Habitus“ (mental habits) (Panofsky 1989, 18) für die „Grundhaltung einer Nation, einer Epoche, einer Klasse, einer religiösen oder philosophischen Überzeugung“ (Panofsky 1978, 18), die sich auf der ikonologischen Sinn-Ebene dokumentiert und für die das Bild zum „Symptom“ wird. Dort charakterisiert er den Habitus auch als „modus operandi“ (1989, 22). Über die nicht intendierten Symptome des modus operandi weisen alle Produkte eines Habitus eine Regelmäßigkeit auf, die „nur vom Rezeptiven aus“ (Mannheim 1964a, 118; vgl. Bohnsack 1989, 382; 2000a, 55), d.h. für einen Beobachter zweiter Ordnung erfassbar ist. Als eine Interpretation zweiter Ordnung (wie Bohnsack in seinem Beitrag zur Typenbildung i. d. Band mit Bezug auf Luhmann formuliert) sucht die ikonologische Interpretation im Bild Symptome für den Habitus des Bildproduzenten, die ihm selbst reflexiv kaum verfügbar sind. Als „subjektive Quelle der Interpretation“ ist auf ikonologischer Ebene eine „irrationale“ (Panofsky 1987b, 221) Begabung zu „synthetischer Intuition“ (ebd.) erforderlich. Dabei handelt es sich um „das eigene weltanschauliche Urverhalten des Interpreten“ (Panofsky 1987a, 201), d.h. um den Habitus der sozial und historisch verankerten wissenschaftlichen Bildinterpreten. In der Auseinandersetzung mit dem Bild produziert der wissenschaftliche Interpret auf Basis seines Habitus ‚intuitiv‘ Sinn. Auch auf ikonologischer 5
Von dieser Stelle übernimmt Bourdieu den Begriff des Habitus (Bourdieu 1974, 125 ff.). Im Ikonographie/Ikonologie-Modell wird der Habitus zwar nicht explizit benannt, der Sache nach ist er jedoch präsent, da sich Panofsky in der ersten Version seines Ikonographie/Ikonologie-Modells von 1932 („Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst“; hier: 1987a) auf den Dokumentsinn nach Karl Mannheim bezieht (ebd., 200), dessen Träger der Habitus ist (vgl. Bohnsack 1997a, 197). Panofsky beruft sich auf Mannheims Aufsatz „Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation“, dessen Titel er nicht nennt und für den er eine falsche bibliographische Angabe macht („Jahrbuch für Kunstgeschichte I (1922/23), 236 ff.“ statt: „Jahrbuch für Kunstgeschichte I (XV) (1921–22), 4, 236–274“; hier: Mannheim 1964a). Mannheim wiederum bezieht sich in diesem Aufsatz auf Panofsky und dessen Interpretation des Begriffs des „Kunstwollens“, den Panofsky im Anschluss an Alois Riegl entfaltet (Panofsky 1920; hier: 1964a). Mannheim schreibt hierzu: „Hier wird an Händen einer Analyse des Riegl´schen Kunstwollens der Dokumentsinn bereits klar gesehen.“ (1964a, 123, Fn. 15; vgl. auch ebd., 128, Fn. 18). An anderer Stelle verwendet Mannheim den Begriff des Habitus ebenfalls, allerdings wenig spezifisch und stringent (1964b, 513; 1964e, 615; 1964f, 655). Diesen wissenssoziologischen Hintergrund des Habitus-Begriffs, an den Bohnsack anschließt, macht Bourdieu jedoch nicht deutlich.
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Ebene kann der Sinn demnach als Bezugsgröße von aktueller (Bild-)Erfahrung und sedimentierter Erfahrung verstanden werden. Als (Interaktions-) Produkt des Habitus dokumentieren sich im ikonologischen Sinn, der auf die Explikation des modus operandi des Bildproduzenten gerichtet ist, Symptome des modus operandi des Interpretierenden. Auf diese Besonderheit dokumentarischer Deutungen hat auch Mannheim hingewiesen und festgehalten, dass „der Geist, die Weltanschauung einer Epoche etwas [ist], das auch aus der Substanz des verstehenden Subjektes heraus erfaßt wird, weshalb die Geschichte der dokumentarischen Deutungen der Vergangenheit die Geschichte der deutenden Subjekte mitenthält“ (Mannheim 1964a, 128 f.; vgl. ebd. 126). Die ikonologische Interpretation zielt demnach auf den Habitus (des Bildproduzenten) und bedient sich dabei des Habitus (des Interpreten) (vgl. Panofsky 1987a, 200). Denn der „Habitus ist gleichzeitig ein System von Schemata der Produktion von Praktiken und ein System von Schemata der Wahrnehmung und Bewertung der Praktiken“ (Bourdieu 1992b, 144). In jedem Fall operiert er „jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken“ (s.o.) bzw. in der Diktion Panofskys „intuitiv“ und „irrational“. Da der Habitus in einer konjunktiven Handlungspraxis wurzelt, ist das mit ihm verbundene (präreflexive) Wissen, das auf ikonologischer Ebene mit dem Bild interagiert, in einem konjunktiven Erfahrungsraum verankert und insofern milieuspezifisch verteilt. Das intuitive Herstellen von Sinn auf der ikonologischen Ebene erfolgt daher im Modus konjunktiven Verstehens. Mannheim definiert Verstehen als „das geistige, vorreflexive Erfassen“, während er „unter Interpretation dagegen die stets auf diesen Erfassungen beruhende, aber sie niemals erschöpfende theoretisch-reflexive Explikation des Verstandenen“ fasst (Mannheim 1980, 272; vgl. dazu auch Bohnsack 2000a, 67 ff. u. 143 ff.). Auch hier beruht die begriffliche Interpretation „stets“ auf dem intuitiven und präreflexiven Verstehen. Als „naives“ (vgl. Mannheim 1980, 276) und präreflexives Verstehen ist die ikonologische Sinnbildung in konjunktive Sinnzusammenhänge eingebunden. Das intuitive Verstehen auf ikonologischer Ebene als Interaktion von Bild(-erfahrung) und (Betrachter-) Habitus kann als gemeinsame Ausgangsbasis dokumentarischer Interpretationen sowohl im Rahmen der Kunstwissenschaft als auch im Rahmen der Rezeptionsforschung dienen. Doch während eine kunstwissenschaftliche Interpretation dem Bild gegenüber eine Beobachterperspektive zweiter Ordnung einnehmen möchte, um den modus operandi des Bildproduzenten zu eruieren, wird sich eine dokumentarisch verfahrende Rezeptionsforschung aus einer Beobachterperspektive zweiter Ordnung dem intuitiven Verstehen zuwenden, um den im Verstehensprozess (und nicht im Bild) sich dokumentierenden modus operandi der Rezipierenden zu erfassen.6 Dabei ist der sich im Verstehensprozess dokumentierende 6
106
Dass sich die dokumentarische Interpretation des Verstehensprozesses zunächst wiederum als intuitives Verstehen – diesmal auf Basis des Habitus der Rezeptionsforscherin – voll-
ikonologische Sinn einer dokumentarischen Interpretation nur in versprachlichter Form (vgl. Michel 2004b, 74), bspw. einer Gruppendiskussion zugänglich. Ein rezeptionsorientiert gewendetes Ikonographie/Ikonologie-Modell, das sich den Verstehensprozessen empirischer Rezipierender zuwendet und die Sinnkonstruktionen aller drei Ebenen auf das sozial und kulturell unterschiedlich verteilte „Erkenntnisvermögen“ der Rezipierenden bezieht, hat daher die Geltung der Korrektivprinzipien zu suspendieren. Für die vorikonographische und ikonographische Sinn-Ebene bedeutet dies, dass ein Bild nicht gemäß der Produktionscodes, sondern nach Maßgabe der Codes des Rezeptionskontextes verstanden wird. Auf der ikonologischen Ebene wird der Habitus der Rezipierenden zum Bezugshorizont, und nicht der Habitus des Bildproduzenten. Auch in Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell lässt sich ein relationaler Sinnbegriff nachweisen, der sich zur Konzeptualisierung des sinngenerierenden Interaktionsprozesses von Bild und Rezipierenden eignet. Darüber hinaus erlaubt das Modell die Beschreibung dieser Interaktion auf mehreren Ebenen, die nur zu analytischen Zwecken zu trennen sind, im Erleben der Rezipierenden aber „miteinander zu einem einzigen organischen und unteilbaren Prozeß verschmelzen“ (Panofsky 1987b, 222): Auf vor-ikonographischer Ebene kann „jedermann“ (Panofsky) unter Bezug auf ein „beinahe anthropologisches Wissen“ (Barthes 1990b, 32) abgebildete Personen und Objekten wiedererkennen und so den Phänomensinn herstellen. Auf ikonographischer Ebene werden die vor-ikonographisch wiedererkannten Personen und Gegenstände nach Maßgabe konventionalisierter Muster, die das „literarische Wissen“ (Panofsky 1987a, 203) einer Kultur bereitstellt, sinnvoll miteinander verbunden. Die ikonologische Sinn-Ebene schließlich ist der Bereich der nicht-intendierten Symptome des Habitus. Auch nach einer rezeptionsorientierten Reformulierung des Ikonographie/Ikonologie-Modells kann hier an Panofsky angeschlossen werden, da er als „subjektive Quelle der Interpretation“ den Habitus der wissenschaftlichen Interpretin angegeben hat. Die ikonologische Sinnbildung verbleibt im Bereich des konjunktiven Verstehens als Beobachtung erster Ordnung, die ihrerseits einer Interpretatizieht, muss nicht eigens betont werden. Mit der Betonung der Rolle, die der Habitus des Bildbetrachters beim unkorrigierten Verstehen auf ikonologischer Ebene hat, soll nicht ausgeschlossen werden, dass auch in diesem intuitiven Verstehensprozess ein Bezug zum Habitus des Bildproduzenten hergestellt wird. Wie Bohnsack (in seinem Aufsatz zur Bildinterpretation i. d. Band) deutlich macht, können gerade bei Fotografien auf der Produktionsseite unterschiedliche Habitusaspekte ausgemacht werden: Neben dem modus operandi des Fotografen kann sich auch der Habitus oder Stil der abgebildeten Personen und der zu ihnen gehörenden Objekte im Bild dokumentieren. Diese Habitusaspekte können sich durchaus auch einem intuitiven Betrachter erster Ordnung erschließen. In der Perspektive der Bild-Rezipierenden-Interaktion gehen sie jedoch im Interaktionsfaktor „Bild“ auf. Relevant für ein ikonologisches Verstehen werden sie erst im Durchgang durch das Erleben konkreter Rezipierender, d.h. unter Bezug auf je unterschiedliche Rezeptionshabitus.
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on zweiter Ordnung unterzogen werden kann. Damit lässt sich auch die Unterscheidung von kommunikativ-generalisierender Verständigung und konjunktivem Verstehen als Differenz zwischen vor-/ikonographischer und ikonologischer Sinnbildung in das Modell aufnehmen. Es bietet daher ein Kategoriensystem zur Nachzeichnung der Sinnentstehung und zur Beschreibung der Oszillation des Sinns zwischen dem Beitrag des Bildes und dem Beitrag der Rezipierenden.
4. Exemplarische Anwendung Die dokumentarische Methode als Interpretation zweiter Ordnung ist auf das Wie des Herstellens von Sinn gerichtet. Im Zuge der Rekonstruktion habitusspezifischer Sinnbildungsprozesse geht es daher darum, die präreflexiven Sinnkonstruktionen in ihrer Genese begrifflich zu explizieren und sie so einer reflektierenden Interpretation zu unterziehen. Das oben im Anschluss an Panofsky entwickelte begriffliche Instrumentarium dient der Strukturierung der reflektierenden Interpretation und erlaubt eine differenzierte Betrachtung der Bild-Rezipierenden-Interaktion. Wie bereits erwähnt, dokumentieren sich die habitusspezifischen Orientierungsmuster in selbstläufigen Diskussionen von Realgruppen.7 Symptome eines milieuspezifischen Habitus treten insbesondere in komparativer Analyse deutlich hervor, bei der die Sinnbildungsprozesse unterschiedlicher Gruppen miteinander verglichen werden. Als Tertium Comparationis, d.h. als „das den Fallvergleich strukturierende Dritte“ (Bohnsack 2007a, 204) kann dabei der Bezug auf das gleiche Bild betrachtet werden. Habitusspezifische Unterschiede werden dann als „Kontrast in der Gemeinsamkeit“ (Bohnsack 2007a, 38), d.h. in der unterschiedlichen Bearbeitung gleicher Problemstellungen, sichtbar. In sinngenetischer Perspektive werden unterschiedliche, ikonologische Deutungen nebeneinander gestellt und auf ihren „geistigen Ursprung“ (Mannheim 1964d, 402; vgl. ders. 1980, 86 f.), d.h. auf den zugrunde liegenden bzw. sie hervorbringenden Habitus bezogen. Bei der Analyse ikonologischer Sinnbildungsprozesse werden im Folgenden jeweils zwei Gruppen nach dem Prinzip des maximalen Kontrasts miteinander verglichen. Eine Rekonstruktion der Genese des Habitus aus seinen existenziellen Hintergründen, also eine soziogenetische Interpretation wird in dieser Analyseeinstellung nicht geleistet.8 7 8
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Zum Gruppendiskussionsverfahren vgl. Bohnsack 1997c; Loos/Schäffer 2001; Bohnsack/ Przyborski/Schäffer 2006a; Michel 2006b. Zur sinngenetischen und soziogenetischen Typenbildung vgl. die Beiträge von NentwigGesemann und Bohnsack, zur komparativen Analyse den Beitrag von Nohl i. d. Band. Zu den Umrissen einer kausalgenetischen Interpretation von Bildrezeptionsprozessen vgl. Michel/Wittpoth 2004 und 2006.
Die empirischen Beispiele stützen sich auf drei Diskussionen von Realgruppen, denen eine konstante Reihe von sechs Fotografien präsentiert wurde mit der Initialfrage: „Was geht Euch durch den Kopf, wenn Ihr dieses Foto seht?“ Bei Gruppe AH handelt es sich um fünf Frauen zwischen 18 und 24 Jahren, die alle die Mittlere Reife haben und sich über die Berufsschule kennen, die sie in einer süddeutschen Stadt (75.000 EW) parallel zu ihrer Arzthelferinnen-Ausbildung besuchen. Gruppe ND besteht aus zwei Frauen (beide 21 Jahre alt) und einem Mann (24), die alle Abitur haben und gerade eine Banklehre absolvieren. Auch diese Gruppe kennt sich durch den gemeinsamen Besuch der Berufsschule in einer süddeutschen Stadt (130.000 EW). Die Mitglieder von Gruppe SA arbeiten in einem mittelständischen Fachverlag in einer süddeutschen Kleinstadt (13.000 EW). Die beiden Frauen (27 und 28 Jahre) haben ein Universitätsstudium abgeschlossen, der Mann (35) mit Promotion. Der Kontakt geht bei allen Gruppen über die berufliche bzw. schulische Zusammenarbeit hinaus. Alle drei Gruppen bilden innerhalb der Institutionen, in denen sie sich kennengelernt haben, „Cliquen“ und verbringen auch ihre Freizeit häufig gemeinsam. Arztpraxis, Bank, Berufsschule und Verlag bilden vermutlich Facetten des konjunktiven Erfahrungsraumes, der aber möglicherweise auch noch durch andere Gemeinsamkeiten der Erlebnisschichtung (bspw. Geschlecht, Milieu, Generation) geprägt wird.
4.1 Bild „Shantytown“
109
4.1.1
Übereinstimmung zwischen den Gruppen auf vor-ikonographischer und ikonographischer Ebene
Alle drei Gruppen kommen bei Bild „Shantytown“ auf vor-ikonographischer Ebene zu einer weitgehend übereinstimmenden Feststellung des visuellen Bestands: Sie erkennen sehr schnell eine Glas- bzw. Schnapsflasche und ein Jesusbild und klassifizieren die abgebildete Person als „Schwarzen“9. Aufgrund ihrer „unmittelbaren Daseinserfahrung“ sind sie in der Lage, die entsprechenden Bildelemente wiederzuerkennen und so den Phänomensinn herzustellen. Dass die hierfür nötige Erfahrung von „jedermann“ geteilt wird, wird an der hohen Übereinstimmung zwischen den Gruppen deutlich. Auch auf ikonographischer Ebene kommt es zu einer hohen Korrespondenz zwischen den Gruppen: Alle drei Gruppen scheitern zunächst an der Herstellung des ikonographischen Bedeutungssinns. Es gelingt ihnen nicht, das Jesusbild stimmig in den Gesamtkontext des Bildes zu integrieren: „s´passt wie die Faust auf´s Auge“ (Gruppe AH 498), es ist der „eigentliche Gag an dem Bild“ (SA 748) und es ist „da völlig fehl am Platz irgendwie“ (ND 938). Die Kultur, zu der alle drei Gruppen gehören, stellt auf Anhieb keine etablierte „Geschichte“ zur Verfügung, die eine Integration des Jesusbildes in den Kontext des Gesamtbildes erlauben würde. Gruppenspezifische Unterschiede gibt es, was die Bearbeitung dieser „Leerstelle“ zwischen Jesusbild und Gesamtbild betrifft (vgl. dazu Michel 2001). Das kommunikativgeneralisierte und sprachlich sedimentierte, „literarische“ Wissen über „bestimmte Themen oder Vorstellungen“ liefert gruppenübergreifend jedoch zunächst keine etablierten Schemata zur sinnvollen Verknüpfung der wesentlichen, vor-ikonographisch wiedererkannten Bildelemente. Mit Schütz kann von einem „Problem“ geredet werden, das entsteht, „wenn eine aktuelle Erfahrung nicht schlicht in einen im Wissensvorrat vorhandenen Typus (...) hineinpaßt“ (Schütz/Luckmann 1979, 246). Dies äußert sich auch an einigen versuchsweise applizierten Schemata, die aber sogleich wieder verworfen werden. Möglicherweise aufgrund der Kombination von Jesusbild und Alkohol kommt die Gruppe AH zu der exkludierenden Proposition „... s´ Abendmahl kann´s net sein ...“ (AH 504). Das ikonographische Schema „Abendmahl“, das zum konventionellen Wissen einer Kultur gehört und u.a. die Elemente „Jesus“ und „Brot und Wein“ umfasst, wird quasi als „Kontrastfolie“ an das Bild herangetragen und zeigt dabei seine Inkongruenz mit dem Bild. In der Gruppe SA führt vermutlich die Verbindung von der Ethnie des 9
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Aus einer detaillierten Analyse des Diskurses geht hervor, dass innerhalb von Gruppe ND offenbar ein Tabu hinsichtlich der Thematisierung der abgebildeten Person zu wahren ist. Auf dieses Problem kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Wie aus dem Diskurs aber ebenfalls hervorgeht, erschließt sich auch Gruppe ND die Ethnie des Protagonisten, so dass zurecht von einer hohen Übereinstimmung auf vor-ikonographischer Ebene geredet werden kann.
Protagonisten und dem Jesusbild zur gedanklichen Assoziation „Soul“, die aber ebenfalls sogleich verworfen wird: „Sin des Soulsänger? Ne, glaub´ ich net ...“ (SA 636). Es gehört ebenfalls zum expliziten Wissensbestand der westlichen Kultur, dass die Musikrichtung des Soul von schwarzen US-Amerikanern hervorgebracht und mit christlichen Texten versehen wurde. Doch auch dieses ikonographische Schema eignet sich offenbar nicht, in Interaktion mit dem Bild einen zufriedenstellenden Bedeutungssinn zu produzieren. Der kulturelle (Mitteilungs-)Code, den die Gruppen auf das Bild beziehen, enthält somit keine explizite Zuordnungsregel von den im Bild „Shantytown“ abgebildeten „Gegenständen und Ereignissen“ einerseits und „bestimmten Themen und Vorstellungen“ (s.o.) andererseits. 4.1.2
„Der eigentliche Gag“ und „wasses nur noch schlimmer macht“ Unterschiede bei der ikonologischen Sinnbildung
–
Auf ikonologischer Ebene schließlich dokumentieren sich erhebliche Unterschiede zwischen den Gruppen, die als Symptome milieuspezifischer modi operandi interpretiert werden können. Ich gehe zunächst kurz auf die Gruppe SA ein, mit der sich dann auch die Gruppe ND konturieren lässt.10 SA 623-624: Cf: ((jauchzend)) ... der Dschieses ...! Bm: ((jauchzend)) im Hintergrund ! ...der is klasse ! ((Jauchzer)) .... im Bildmittelpunkt !
Die englische Aussprache von „Jesus“ („Dschieses“) signalisiert möglicherweise eine ironische Distanz. Dafür spricht auch der Begriff „klasse“, der dem Bereich des leichten Amusements entstammt. Er verweist weniger auf sakrale Konnotationen, die einem Jesusbild in einer christlich geprägten Kultur auch zugesprochen werden könnten, sondern mehr auf einen besonders gelungenen Scherz. An dieser Stelle wird zudem ein Perspektivwechsel von einem räumlich-referentiellen zu einem zeichenhaft-rhetorischen Bezugsrahmen deutlich: Das Jesusbild ist nicht im „Hintergrund“ des abgebildeten Raumes, sondern im „Bildmittelpunkt“ der Bildfläche. Damit findet die „ikonische“ Struktur des Bildes im Sinne Imdahls Berücksichtigung (vgl. Imdahl 1996 sowie den Beitrag von Bohnsack zur Bildinterpretation i. d. Band). Diese Art der Bezugnahme kann als ästhetisch bezeichnet werden, da das Bild als hergestelltes Zeichen und nicht als ‚Fenster-zur-Welt‘ erlebt wird. Sowohl die ironische als auch die ästhetische Bezugnahme können als Beleg für eine distanzierte Art der Auseinandersetzung mit dem Bild angesehen 10
Abweichend von den Transkriptionsregeln im Anhang verwende ich u.a. Punkte „....“ , um eine über kurze Sprechpausen fortlaufende, nicht-absinkende Intonation anzuzeigen. Die Länge der Punktreihe entspricht der Länge der Pause. Überlappende Redebeiträge markiere ich bei Unklarheiten durch den Hinweis „((gleichzeitig mit Af ↑))“, wobei das Sprecherkürzel angibt, mit wessen Beitrag sich eine Äußerung überlappt, und der Pfeil anzeigt, mit welchem Beitrag des betreffenden Sprechers sich die Äußerung überschneidet.
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werden. Der ikonologischen Ebene kann diese Art zugerechnet werden, wenn sich in ihr eine „ungewollte und ungewußte Selbstoffenbarung eines grundsätzlichen Verhaltens zur Welt“ (Panofsky 1987a, 200) dokumentiert – dies bedarf jedoch weiterer empirischer Fundierung. Bemerkenswert ist bei der Gruppe SA die Stimmung angeregter Amüsiertheit, die sich auch an den paraverbalen Äußerungen (Jauchzen) und der hohen interaktiven Dichte der gesamten Passage zeigt. Sie steht in starkem Kontrast zur Stimmung, die die Gruppe ND bei Betrachtung des Bildes „Shantytown“ empfindet. Auf eine sehr detaillierte Schilderung vor allem des vor-ikonographischen Bestands folgt im Diskurs der Gruppe ND eine lange Pause. Sehr zögernd wird darauf versucht, die Stimmungsempfindung zu formulieren, d.h. ‚auf den Begriff‘ zu bringen. ND 913-939 Bm: 12 ähm ... ich hab irgendwie so ... `ch weß net ... die Stimmung dazu .... irgendwie weng abschreckend, find ich. Af: ja. Bm: ... also ich würd nicht gern in diesen Raum reingehen 4 wenn ich des jetzt so, wenn ich die Tür aufmachen und des so sehen würde. Cf: Mhm. Bm: ... Wär mir jetzt eher unangenehm. Af: ... die ganze Atmosphäre ... Cf: ... als ob´s Ärger geben würde .. Bm: ja. Af: ja. Cf: ... find ich Af: genau. Bm: ... des is irgendwie .... bedrückend. Irgendwas Af: ((gleichzeitig mit Bm ↓)) Irgendwas stimmt nicht ... Bm: ((gleichzeitig mit Af ↑)) ... liegt da in der Luft ... Af: ja. Wenn man da reingeht, ... Cf: Hm. Bm: ((gleichzeitig mit Af ↓)) Obwohl des ... des-des Bild, ... Af: ((gleichzeitig mit Bm ↑)) ... hat ma schon das Gefühl irgendwas stimmt nicht Bm: .... des Jesusbild passt in die Stimmung nicht rein. Af: Ja, des isses aber grade, des wasses nur noch schlimmer macht ... Cf: ja. Bm: ja. Cf: ... sonst fänd ich´s auch nich so schlimm. Bm: Des´ da völlig fehl am Platz irgendwie. Af: 12 Hm.
Das ‚Tastende‘ der Bemühungen um eine Stimmungsschilderung in Zeile 913/914 (Pausen, zweimaliges Ansetzen und Abbrechen der Formulierung, Bekunden von Ratlosigkeit, zweimalige Diffundierung durch „irgendwie“, stockender Vortrag) verweist möglicherweise auf die Schwierigkeit, für eine diffuse und präreflexive Empfindung einen adäquaten Ausdruck zu finden. Bevor dies durch eine kognitiv-reflektierende Begriffsbildung gelingt, ver-
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fällt der Sprecher auf eine Schilderung der Handlungspraxis: Er würde nicht gern in diesen Raum hineingehen. Diese Schilderung wird von den übrigen Gruppenmitgliedern ratifiziert und elaboriert. Sie scheint die begrifflich nur schwer einzuholende ‚Ahnung‘ der Gruppe im Modus konjunktiver Verständigung zu bündeln.11 Auch der Kontrast zu der Gruppe SA spricht dafür, dass die Gruppe ND diese praktische Deutung auf Basis ihres konjunktiven Wissens leistet, die Sinnbildung somit auf ikonologischer Ebene erfolgt. Die handlungsbezogene Deutung ist in doppelter Hinsicht interessant. Zum einen wird hier der Rezeptionsmodus der Gruppe ND explizit benannt, der konträr ist zu dem von der Gruppe SA: Statt das Bild als zweidimensionales, hergestelltes Zeichen zu betrachten, nimmt die Gruppe ND an dieser Stelle die ‚Fenster-zur-Welt‘-Einstellung bzw. die ‚Tür-zur-Welt‘-Einstellung ein. Dabei setzt sie sich dem Bild quasi körperlich aus: Die Stimmung wird dadurch erläutert, dass sich der Sprecher vorstellt, selbst Teil der abgebildeten Szene zu werden, indem er eine Tür öffnet und sich der abgebildeten Situation ‚aussetzt‘. Dies wäre ihm „jetzt eher unangenehm“ (919). Zum andern zeigt sich an dieser „praktischen Sinnbildung“ recht anschaulich, dass die Dispositionen des Habitus „sowohl in praxi wie für die Praxis funktionieren (und nicht zu Zwecken reiner Erkenntnis)“ (Bourdieu 1982, 729): Bevor explizite und kommunizierbare Gründe benannt werden können, warum oder inwiefern die Stimmung als „abschreckend“ empfunden wird, kann die Gruppe angeben, wie sie handeln würde, wenn sich ihr dieser Anblick in der Realität darbieten würde. Diese praktische Bezugnahme äußert sich offenbar auch bei einer medial vermittelten, d.h. indirekten Erfahrung. In der Elaboration wird die als „bedrückend“ (926) empfundene Stimmung auf die „ganze Atmosphäre“ (920) bezogen – ein Begriff, dem wie „Stimmung“ etwas Diffuses, Unkonkretes eignet, das mehr ‚gespürt‘ und ‚geahnt‘ als kognitiv verstanden wird. Diese ‚ätherische Referentialisierung‘ des Unbehagens, die sich offenbar einer begrifflichen Fixierung entzieht, findet sich auch in Zeile 928: Hier wird konstatiert, dass „irgendwas“ in der „Luft“ liegt. Im gemeinschaftlichen ‚Ringen‘ um eine Benennung des Unbehagens wird der Atmosphärenbegriff durch die in die Zukunft gerichtete Erwartung präzisiert „... als ob´s Ärger geben würde ...“ (921). Bevor sich die Gruppe die Situation reflexiv aneignen kann, weiß bzw. ahnt sie ‚intui11
In der folgenden Sequenz (ND 940-960) verdichtet sich diese erst nur tastend und zögerlich geäußerte praktische Deutung zu einer Focussierungsmetapher, die die diffusen Empfindungen der Gruppenmitglieder kondensiert. In ineinandergreifender Rede wird sie von allen Gruppenmitgliedern bekräftigend wiederholt und kulminiert schließlich in einer elaborierten und dramaturgisch zugespitzten Version: „Wenn ix ... wenn ich jetzt mir vorstell: ich mach die Tür auf und würd´ dieses Bild sehn – also, ich würdse gleich wieder zu machen. Und zwar von außen ((lacht leise))“ (959/960). Als Focussierungsmetapher markiert sie den Focus der kollektiven Orientierung bzw. das konjunktive Erlebniszentrum der Gruppe und liefert wichtige Anhaltspunkte für eine Rekonstruktion des gruppenspezifischen modus operandi (vgl. Bohnsack 2000a, 75, 100 f., 152, 183).
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tiv‘, was als nächstes passieren wird und wie sie sich zu verhalten hat. Diese präreflexive, antizipative Bedeutung weist demnach über das Bild hinaus, das statisch und synchron einem einzigen Augenblick verhaftet ist, und implementiert eine zeitliche Dimension, die die bildexternen Betrachter miteinbezieht und sich (bislang) nur handlungspraktisch formulieren lässt. Auch diese antizipative Sinnbildung beruht auf konjunktivem Wissen, das mit dem Bild ‚in Zusammenhang‘ gebracht wird, und verweist auf den spezifischen modus operandi der Gruppe ND. Dieses ‚Gespür‘ für eine Situation und deren Weiterentwicklung, das sich hier in der Auseinandersetzung mit einem Bild äußert, illustriert eine charakteristische Funktionsweise des mit dem Habitus verbundenen praktischen Wissens. Denn aufgrund des Habitus „kann der Sinn der Situation auf der Stelle, mit einem Blick und in der Hitze des Gefechts, eingeschätzt und sogleich die passende Antwort gefunden werden. Nur diese Art erworbener Meisterschaft, die mit der automatischen Sicherheit eines Instinkts funktioniert, gestattet es, augenblicklich auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu reagieren“ (Bourdieu 1993b, 190 f.; Herv. B.M.).
Im Kontrast zu der als bedrückend erlebten Stimmung der Gesamtsituation steht das Jesusbild (933): „Des´ da völlig fehl am Platz irgendwie“ (938). Es wird demnach implizit positiv bewertet. Im Kontext des Gesamtbildes trägt es jedoch zu einer Steigerung der Beklemmung bei: „des isses aber grade, des wasses nur noch schlimmer macht ...“ (934). Auf mögliche Gründe kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Es kann aber festgehalten werden, dass die Gruppe ND im Modus konjunktiver Verständigung hohe Übereinstimmung hinsichtlich der Beklemmungssteigerung erzielt, ohne dass sie dies weiter begründen oder explizieren würde. Die bekräftigende Formulierung Bm´s (938) und die sich anschließende, lange Pause signalisieren, dass das Thema für die Gruppe zu einem befriedigenden Abschluss gekommen ist: Offenbar konnte die Gruppe auf Basis ihres konjunktiven Erfahrungsraumes das Bild mit ikonologischem Sinn anreichern. Diesen Sinn formuliert die Gruppe handlungspraktisch, ätherisch und antizipativ, nicht jedoch begrifflich. Er ist daher für Außenstehende nur schwer nachzuvollziehen und zu explizieren. Insgesamt sind es bedrückende Assoziationen, die mit dem Bild verbunden werden und die zum Wunsch nach einer Distanzierung vom Bildgeschehen führen. Der dahinterstehende modus operandi der Gruppe ND kann nur aspekthaft erschlossen und in einer ersten Annäherung evtl. als „furchtsam“ und „konfliktvermeidend“ charakterisiert werden (vgl. Anm. 10). Der modus operandi der Gruppe ND hebt sich deutlich von demjenigen der Gruppe SA ab, die auch zu einer vollkommen anderen Sinnbildung gelangt. Während die Gruppe ND sich dem Bild körperlich ‚stellt‘ und nach Distanzierung strebt, begegnet die Gruppe SA dem Bild von vornherein mit großer, ironisch und ästhetisch hergestellter Distanz. Gleichwohl setzt sich auch die Gruppe SA praktisch mit dem Bild auseinander: Dabei wird es 114
jedoch nicht als ‚Tür-zur-Welt‘ betrachtet, sondern als zweidimensionales ‚Bildding‘, dem man einen Titel geben kann: SA 743-749: Af: Aber ....ähm .... da fällt mir jetzt grad kein Titel ein grad ... mm .... mm Bm: Der liebe Gott sieht alles .... Af: Ja, irgendwas mit dem Jesus hätt´ ich jetzt irgendwie au ... Bm: (Ne: des der eigentliche Gag an) ne: s is klasse aufg´nommen ... Af: ...Holy .... Bm: Der eigentliche Gag an dem Bild is echt, dass er da hinten zuguckt ... Af: ... holy water oder so ähnlich ...
Das Jesusbild, das bei der Gruppe ND zu einer gesteigerten Beklemmung führt, wird von der Gruppe SA als der „eigentliche Gag“ des Bildes begeistert gefeiert. Die Bewertung „klasse“ kann nun aus dem Kontext näher bestimmt werden: Sie verweist auf eine technisch-künstlerische Virtuosität – das Bild „is klasse aufg´nommen“. Damit wird auf den Herstellungsprozess des Bildes Bezug genommen. Auch dies ist ein Beleg für den ästhetischen Rezeptionsmodus, der ein Bild als hergestelltes Zeichen betrachtet. Mit der Würdigung der gestalterischen Virtuosität, die dem intentionalen Zugriff des Fotografen entzogen ist, bezieht sich die Gruppe auf seinen modus operandi. Sie leistet somit ansatzweise auf Basis ihres praktischen Wissens eine ikonologische Interpretation des Bildes im Sinne Panofskys. Das Jesusbild führt zwar auf ikonographischer Ebene zu einer semantischen Inkongruenz (sonst würde es der Gruppe SA nicht als Besonderheit auffallen), auf ikonologischer Ebene macht die Diskrepanz aber durchaus ästhetischen ‚Sinn‘. Die Wendung „eigentlicher Gag“ weist somit nicht nur eine sprachliche Verwandtschaft mit Panofskys „eigentlicher Bedeutung“ (1987b, 211 u. 223) auf, die es auf ikonologischer Ebene zu konstruieren gilt. Im Jesusbild als Gag ‚erfüllt‘ sich in der Perspektive von der Gruppe SA das Bild „Shantytown“. Gerade die ikonographische Unstimmigkeit stiftet den ‚eigentlichen‘, ikonologischen Sinn, der sich auf Basis des konjunktiven Wissens erschließt. Im Sinne einer Pointe lässt der „Gag“ zudem einen Witz gleichzeitig kulminieren und zu einem befriedigenden, da sinnvollen Abschluss kommen. Wie im Vergleich mit den anderen Gruppen deutlich wird, ‚zündet‘ die Pointe nur vor dem Hintergrund derjenigen Wissensbestandteile, die die Gruppe SA an das Bild heranträgt. Die lustvoll-komische Lesart des Bildes ist demnach Produkt des spezifischen modus operandi der Gruppe SA, der vorerst als ‚ästhetisch-distanziert‘ und ‚spannungsreich-ironisch‘ bezeichnet werden kann.
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4.2 Bild „Familie“
4.2.1
Übereinstimmung auf ikonographischer Sinn-Ebene
Übereinstimmend kommen die Gruppen gleich zu Beginn der Beschäftigung mit diesem Bild zu der ikonographischen Sinnbildung „Familie“. Diese grundlegende Deutung wird teilweise noch etwas spezifiziert, hat aber bei allen Gruppen den gleichen ikonographischen Kern. SA 798: Bm: Familienausflug ! ND 1028-1029: Cf: Oh Gott ! Ne Bilderbuchfamilie Af: ja ... im wahrsten Sinne des Wortes .... AH 653-657: Cf: Ausflug. Bf N´Familienfoto ... Cf: Mhm. Df: Hmmm. Da kamma sich ma endlich was drunter vorstellen ..... Oma un Opa, die Eltern und die Geschwister .. und die Enkelkinder
Die Deutung der abgebildeten Menschengruppe als „Familie“ übersteigt bereits die vor-ikonographische Ebene, da nicht lediglich einzelne Bildelemente („Mann“, „Frau“, „Kind“) wiedererkannt werden. Vielmehr werden die einzelnen Bildelemente nach Maßgabe eines kulturspezifischen Schemas zusammengefasst – eben des kommunikativ-generalisierenden Schemas
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„Familie“.12 Die Gruppe AH ‚löst‘ die Ikonographie der Familie in ihre vorikonographischen ‚Bestandteile‘ auf und expliziert „Oma un Opa, die Eltern und die Geschwister .. und die Enkelkinder“ (AH 656/657), wobei sich die Bezeichnung der einzelnen Personen aus ihrer familiären Rollenbeziehung ergibt. Bereits die ikonographischen Sinnbildungen der drei Gruppen sind von Bewertungen durchzogen, die der ikonologischen Sinn-Ebene zuzurechnen sind. Sie bauen auf dem gruppenübergreifend geteilten ikonographischen Code auf, der den abgebildeten Personen (in ihrer spezifischen Anordnung) das Signifikat „Familie“ zuordnet. 4.2.2
„Heile Welt“ und „Grauen am Nachmittag“ – Unterschiede bei der ikonologischen Sinnbildung
Trotz der gemeinsamen Basis der ikonographischen Sinnbildung entwickeln sich die Deutungen auf ikonologischer Ebene in recht unterschiedliche Richtungen. Die Gruppe AH scheint die abgebildete Situation nachzuerleben. In hoher interaktiver Dichte steigert sich die Gruppe in eine Stimmungsschilderung hinein. Die einzelnen Redebeiträge sind eng ineinander verflochten, die Gruppe spricht wie ‚mit einer Stimme‘. Dies kann als Beleg dafür gewertet werden, dass die Gruppenmitglieder sich hier auf der Basis konjunktiver Erfahrungen unmittelbar verstehen. In gemeinsamer, sich überbietender Rede bemüht sich die Gruppe, ihren Eindruck vom Bild zu beschreiben: AH 674-695: Ef: ... a so, wie wenn da d´Sonne scheinen würde und voll schönes Wetter wär ... Af: ((gleichzeitig mit Df:)) Hm ... schönes Wetter und schöne Umgebung ...ja Df: ((gleichzeitig mit Af:)) ...s´is ... s´is einfach n´Familienausflug oder´n Picknick ... mehr, ja, hm ... ich glaub, was andres eigentlich net .. Af: ... also ich-, dass sich die meischten eigentlich freuen ... die Leute sin gut drauf ... Bf: ((gleichzeitig mit Af:)) ... ne harmonische Familie Af: ((gleichzeitig mit Bf:)) ... aber sieht so aus, als ob denne auch die Sonne voll ins G´sicht scheint ... Df: ..ja ..
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Um sich zu vergegenwärtigen, dass die Sinnzuschreibung „Familie“ nicht auf dem „beinahe anthropologischen Wissen“ (Barthes) der vor-ikonographischen Ebene beruht, sondern erst durch die Kenntnis „von Bräuchen und kulturellen Traditionen, die einer bestimmten Zivilisation eigentümlich sind“ (Panofsky 1987b, 208), d.h. auf ikonographischer Ebene möglich wird, könnte man Panofskys australischen Buschmann herbeizitieren. Man kann aber auch an jenen Europäer des Jahres 2500 denken, den sich Eco in einer demografischen Vision ausmalt und für dessen Kultur die staatlich propagierte „Ein-Kind-Familie“ der Normalfall ist: „Nach zwei bis drei Generationen würden die Wörter ‚Bruder‘, ‚Schwester‘, ‚Onkel‘, ‚Tante‘, ‚Vetter‘ und ‚Cousine‘ ihren Sinn verlieren“ (Eco 2000b, 177). Dieser Europäer könnte deshalb vermutlich weder – wie Eco annimmt – mit dem Begriff „Brüderlichkeit“ etwas anfangen, noch würde er die Personenansammlung auf dem Foto als „Familie“ deuten. Auf vor-ikonographischer Ebene könnte er auf dem Bild jedoch problemlos Männer, Frauen und Kinder wiedererkennen.
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Af: Bf: Ef: Df: Ef: Af: Ef: Af: Ef: Df: Af: Ef:
... weil jeder so´s G´sicht klein wenig verzieht ... @(.)@ .... die verstehen sich gut ... ... ja, so macht´s den Eindruck ... ... weil se alle auch so z´amme sind ... 3 ... und´s irgendwie ... so richtig von Herzen lachen ... Hm. .... oder grinsen... nich irgendwie so bedrückt... Also der Tag muss viel Spaß machen einfach und .... einfach die Leute dabei, wo man mag und gern hat ... ja. Einfach n´Tag in der Natur, weil dahinter des is so was wie n´Wald glaub ich ... Hm: ja. ........ sieht so aus ..
Die interaktive Dichte und die lebendige Anschaulichkeit der Beschreibung können als Beleg für die „Authentizität“ der Darstellung, d.h. für die hohe erlebnismäßige Verankerung der Schilderung angesehen werden. Solche diskursdramaturgisch herausgehobenen Höhepunkte des interaktiven Engagements markieren Zentren des gemeinsamen Erlebens einer Gruppe (vgl. Bohnsack 2000a, 183). Eine dramaturgische Steigerung, wie sie sich in der vorliegenden Sequenz zeigt, verspricht daher Zugang zu den konjunktiven Erlebniszentren einer Gruppe. Da sich die Gruppe in ihrer ‚erlebnisgesättigten‘ Darstellung auf das Bild bezieht, kann in der oben entwickelten Terminologie formuliert werden, dass in dieser Sequenz eine Relation von Bild und konjunktivem Erfahrungswissen hergestellt wird. Diese relationale Bezugsgröße ist der ikonologische Sinn. Die Ebene der Sinnbildung lässt sich an dieser Stelle demnach an der Diskursorganisation erkennen. Auffallend an dieser Sequenz ist die Betonung der ‚Einfachheit‘: „einfach n´Familienausflug“ (676; Herv. B.M.); „der Tag muss viel Spaß machen einfach“ (690); „einfach die Leute dabei, wo man mag“ (690/691); „einfach n´Tag in der Natur“ - „was andres eigentlich net“ (677). Als sehr angenehm wird offenbar die Abwesenheit von Komplexität empfunden. Zum anderen fällt auf, dass die ‚innige Herzlichkeit‘ zwischen den abgebildeten Personen herausgehoben wird: Es handelt sich um „ne harmonische Familie“ (679): deren Mitglieder „verstehen sich gut...“ (684) und freuen sich, „weil se alle auch so z´amme sind ...“ (686) – es sind „einfach die Leute dabei, wo man mag und gern hat“ (690/691). Das Bild wirkt auf die Gruppe AH demnach einfach, konfliktfrei, überschaubar, unkompliziert, herzlich – „harmonisch“ (679): Auf den Nenner der „Harmonie“ lässt sich die Stimmung vielleicht insgesamt bringen, die das Bild für die Gruppe AH ausstrahlt. Dies wird auf Nachfrage des Diskussionsleiters auch expliziert: AH 826-831: Y: ... was gefällt euch am Familienbild .... so gut, oder .... Ef: die Harmonie irgendwie ... a so ...s´isch halt, sieht halt jeder glücklich aus, wenn ma sich des dann so vorstellt, so in ... freier Natur und Sonne und so ... Bf: Des gibt´s halt heutzutage auch nich mehr so häufig ...
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Ef: ja. Df: Hm.
Die Harmonie scheint in der Vergangenheit verankert zu sein – „heutzutage“ ist sie dagegen selten geworden. Die verklärende Rückwendung zur Vergangenheit kann als romantische Sehnsucht nach der ‚heilen Welt‘ bezeichnet werden. Aufgrund der ‚erlebnisdichten‘ Diskursorganisation in der zuvor wiedergegebenen Passage kann vermutet werden, dass dieses Streben nach Harmonie zentral ist für den modus operandi der Gruppe AH. Auf den Begriff der ‚heilen Welt‘ lässt sich der Wesenssinn bringen, der sich in der Sinnbildung der Gruppe AH dokumentiert, wenn man den Diskurs der Gruppe SA als Gegenhorizont an die Diskussion der Gruppe AH legt. Denn die Gruppe SA bezieht den Begriff der ‚heilen Welt’ explizit auf das Familienbild – allerdings in ironischer Weise, wie sowohl aus dem unmittelbaren Kontext als auch aus dem Gesamtdiskurs hervorgeht: SA 821-824: Af: ((gleichzeitig mit Cf:)) Die gucken alle so verkniffen ... Cf: ((gleichzeitig mit Af:)) (Die seh´n schrecklich aus) Af: 3 ... ah Gott ! Bm: Heile Welt
Der Kommentar „heile Welt“ steht in Kontrast zu den vorangehenden negativen Bewertungen und kann daher als ironisch aufgefasst werden. Die Applikation eines positiv besetzten Titels auf das Familienbild wird im Folgenden auch explizit als ironisch bezeichnet (SA 866). Die Vorstellung der ‚heilen Welt’ die die Gruppe AH präreflexiv nacherlebt, wird von der Gruppe SA offenbar reflexiv auf das Bild bezogen. Die Gruppe SA stellt den Zusammenhang von Bild und ‚heiler Welt’ im kommunikativ-generalisierenden Modus her, während er von der Gruppe AH im Modus konjunktiven Verstehens hergestellt wird. Bei der Gruppe SA wäre die Sinnkonstruktion „heile Welt“ demnach auf ikonographischer Ebene anzusiedeln. Die Verknüpfung von Familienbild und ‚heiler Welt’ beruht jedoch nicht auf einem durch kulturelle Konventionen stabilisierten ikonographischen Code, sondern kann als durchaus ‚unkonventionell‘ angesehen werden. Ihr entspricht die rhetorische Figur der Metonymie13. Obwohl diese Sinnbildung reflexiv im kommunikativ-generalisierenden Modus abläuft, kann sie daher nicht ohne weiteres der ikonographischen Ebene zugeordnet werden. An dieser Stelle wird eine Unschärfe des Ikonographie/Ikonologie-Modells deutlich, der man evtl. mit Mannheims Begriff des „intendierten Ausdruckssinns“ begegnen kann (vgl. Mannheim 1964a, 107 ff.): Er wäre zwischen ikonographischem und ikono13
Bei der Metonymie wird ein Zeichen durch ein anderes aufgrund inhaltlicher Kontiguität (Nähe) ersetzt (und nicht aufgrund von Ähnlichkeit wie bei der Metapher). Beispiele für Kontiguität sind Teil-Ganzes-Relationen oder Exemplifizierungen. Das Familienbild fungiert als Metonymie, wenn es als exemplarischer Ausschnitt einer „heilen Welt“ angesehen wird.
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logischem Sinn zu verorten, da er einerseits auf kommunikativen Absichten beruht (d.h. kein unintendiertes Symptom ist) und – wie der ikonographische Sinn – bei der Rezeption Motivunterstellungen voraussetzt. Andererseits zeichnet er sich dadurch aus, „dass der Sinngehalt nicht wörtlich oder explizit, sondern gestalterisch, metaphorisch oder ‘stilistisch’ zum Ausdruck gebracht wird“ (Bohnsack 2007a, 66). Durch seine Intendiertheit unterscheidet sich der intendierte Ausdruckssinn vom ikonologischen Sinn. Die Gruppe SA würde demnach „heile Welt“ als vom Bildproduzenten intendierten Ausdruckssinn des Familienbildes unterstellen. Durch die Ironisierung unterläuft die Gruppe SA jedoch diese von ihr unterstellte Intention. SA 863-882: Cf: Ich würd´s Grauen am Nachmittag nennen. Bm: Echt? Ich hätt´s Idylle am Nachmittag genannt ... Cf: Ich find, s is grausam. Bm: Aber merkt jemand die Ironie in dem Untertitel ? Cf: Nö. Af: Ich ... ich hätt´s einfach nur so... Cf: ((gleichzeitig mit Af:)) ... merkt ma ja eh selten ... Af: ((gleichzeitig mit Cf:)) ...irgendwie so ... wie du g´sagt hasch oder so: Bm: ((gleichzeitig mit Af:)) Warum übrigens Nachmittag ? Af: ((gleichzeitig mit Bm:)) ...Victoria Versicherung – Ihre Wahl oder so also net irgendwie. ich würd´s für´n Werbeplakat verwenden ... Bm: @Und wo is Doktor Kaiser ... oder ne, wie heißt er? Herr Kaiser @ Af: Oder so .... For ever young ...oder, oder, oder ... oder vielleicht: ma könnt´ auch auf die Alten da oben abzielen ... die so glücklich noch mit ihrer Familie zusammen sitzen also dann für Doppel-Herz oder so ... Bm: Knoblauchpillen ? Af: Fit mit der Familie oder ... Cf: (Tenalady) Af: Still alive Cf: @(1)@
Die Gruppe SA verwendet (SA 873) das Familienbild wieder als ‚Bildding‘, das mit einem „Untertitel“ versehen werden kann. Diese Perspektive wurde oben als ‚ästhetisch‘ bezeichnet, bei der das Bild als hergestelltes Zeichen und nicht als ‚Fenster-zur-Welt‘ betrachtet wird. Diese Perspektive ermöglicht auch die metonyme Lesart im kommunikativ-generalisierenden Modus und schärft den Blick für die Konstruiertheit der ‚heilen Welt’. Die teilweise zynischen Produktassoziationen (Tenalady = Windeln für Senioren) werden von der Gruppe SA als mögliche Verwendungszusammenhänge an das Bild herangetragen, die das „Idyll am Nachmittag“ als mediale Inszenierung und d.h. vermutlich auch als ‚unecht‘ überführen. Eine Ironisierung des Bildes erfolgt somit nicht allein durch semantische Umpolung von „Idylle“ in „Grauen“, sondern durch eine implizite Bekräftigung der Idylle einerseits, bei gleichzeitigem Verweis auf die werbliche Instrumentalisierung der Idylle zur Vermarktung von Produkten andererseits. Dabei ‚spielt‘ die Gruppe SA mit
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der schönen Oberfläche der ‚heilen Welt’, indem sie sie durch zynische Kontextualisierungen als Medienklischee persifliert. Der modus operandi zeigt sich auch hier nicht im Was der Sinnbildung, sondern im Wie, d.h. zum einen in der Disposition (vgl. Bourdieu 1979, 446, Anm. 39), überhaupt eine ironische Kontextualisierung durchzuführen bzw. die Kombination von Familienbild und Seniorenwindeln als komisch zu empfinden, zum andern aber auch in der Diskursorganisation, genauer: in der Dramaturgie des Diskurses, d.h. im gegenseitigen sich ‚Hochschaukeln‘, bei dem um die zynischste Produktoder Textassoziation gewetteifert und die schließlich in „Still alive“ gefunden wird. Es zeigen sich somit wieder Symptome jenes modus operandi, der bei dem Bild „Shantytown“ das Jesusbild als „eigentlichen Gag“ feierte und der dort u.a. als ‚spannungsreich-ironisch‘ charakterisiert wurde. Der Bildtitel „Still alive“ wird ebenfalls begeistert gefeiert und schließlich sogar als Gruppenname gewählt (hier abgekürzt zu SA), was als Hinweis auf seinen engen Bezug zu den konjunktiven Erlebniszentren der Gruppe interpretiert werden kann. Aus der handlungspraktischen ‚Verwendung‘ des Bildes zur zynischen Persiflage des als intendiert unterstellten Ausdruckssinns „heile Welt“ ergibt sich bei der Gruppe SA der ikonologische Sinn. Er kann als Bezugsgröße von Bild und dem habitusspezifischen, ‚praktischen Wissen‘ der Gruppe beschrieben werden, das sie zur persiflierenden Verwendung von Bildern befähigt. Sowohl bei der Gruppe SA wie auch bei der Gruppe AH ist die Vorstellung von der ‚heilen Welt’ präsent. Doch während die Gruppe SA ironisch auf sie Bezug nimmt, trägt die Gruppe AH diese Lesart ironiefrei bzw. „unschuldig“ (vgl. Eco 1999, 696) an das Familienbild. Die Gruppe AH empfindet „heile Welt“ präreflexiv auf ikonologischer Ebene, die Gruppe SA unterstellt dagegen „heile Welt“ als intendiertes Kalkül des Bildproduzenten, das zynisch unterlaufen bzw. überboten wird. In der unterschiedlichen Bearbeitung des gleichen Themas, des Familienbildes als ‚heiler Welt’, zeigen sich zwischen den Gruppen Unterschiede der Habitus.
5. Resümee Der Sinn eines Bildes entsteht in der aktiven Auseinandersetzung mit den Rezipierenden. Dabei kommt es teilweise zu erheblichen Unterschieden der Sinnbildung zwischen den Rezipierenden: So führte ein und dasselbe Bild („Shantytown“) bei einer Gruppe zu heller Begeisterung, von einer anderen Gruppe wurde es dagegen als ‚bedrückend‘ empfunden. Bei einem weiteren Bild („Familie“) steigert sich eine Gruppe in eine Stimmung ‚inniger Harmonie‘, die Kontrastgruppe persifliert das gleiche Bild als ‚grausamen‘ Medientrash, indem sie es gedanklich mit zynischen Werbeaussagen kombiniert. 121
Für die Analyse von Sinnbildungsprozessen bei der Rezeption von Bildern empfiehlt es sich daher, mehrere Ebenen des Sinns zu unterscheiden. Dadurch lässt sich das empirisch zu beobachtende Phänomen differenzierter beschreiben, dass unterschiedliche Rezipierende zwar zu sehr verschiedenen Sinnkonstruktionen auf einer komplexeren Ebene gelangen können, trotzdem aber – auf einer weniger voraussetzungsvollen Ebene – in hohem Maße darin übereinstimmen, welche Personen und Gegenstände auf einem Bild zu sehen sind, und auch hinsichtlich des dargestellten Sujets einen weitreichenden Konsens erzielen können. Drei (sozusagen ‚vertikal’ geschichtete) Ebenen des Sinns können im Anschluss an Panofskys Ikonographie/Ikonologie-Modell unterschieden werden. Die vor-ikonographische, die ikonographische und die ikonologische Ebene. Auf jeder der drei Ebenen kann der Sinn (quasi ‚horizontal’ gedacht) als Interaktionsprodukt von Bild und Wissensbeständen verstanden werden, die die Rezipierenden an das Bild herantragen. Diese relationale Vorstellung vom Sinn als Bezugsgröße einer aktuellen und einer früheren Erfahrung konnte vor dem Hintergrund des Sinnbegriffs von Alfred Schütz konturiert herausgearbeitet werden. Fragt man nach habitusspezifischen Besonderheiten der Sinnbildung, so erweist sich das Ikonographie/IkonologieModell nach einer rezeptionsorientierten Reformulierung aufgrund seines direkten Bezugs zur Habitustheorie einerseits und zur dokumentarischen Methode andererseits auch in dieser Hinsicht als besonders geeignet zur Beschreibung empirischer Bildrezeptionsprozesse: Denn die drei Sinn-Ebenen unterscheiden sich nicht nur durch die abgestufte Kollektivität der jeweils aufzubietenden Wissensbestände. Zwischen der vorikonographischen und der ikonographischen Ebene einerseits und der ikonologischen Ebene andererseits besteht vielmehr auch ein kategorialer Unterschied hinsichtlich des Modus der früheren Erfahrung, die mit der aktuellen Erfahrung des Bildes interagiert: Während es sich bei den beiden unteren Sinn-Ebenen um reflexiv verfügbares, begriffliches Wissen handelt, das eine Verständigung im kommunikativ-generalisierenden Modus ermöglicht, handelt es sich auf der ikonologischen Sinn-Ebene um dem reflexiven Zugriff weitgehend entzogenes, inkorporiertes Wissen, das ein unmittelbares Verstehen im konjunktiven Modus erlaubt. Dieses Wissen ist in einer konjunktiven Handlungspraxis verwurzelt und prägt einen milieuspezifischen Habitus. Auf Basis dieses praktischen Wissens kann es bei der Bildrezeption zu Sinnbildungsprozessen kommen, die sich durch ihren handelnden Umgang mit dem Bild auszeichnen und teilweise eine geradezu existentielle und körperliche Komponente aufweisen. Es kann angenommen werden, dass sich in diesen Prozessen der jeweilige modus operandi der Rezipierenden dokumentiert, der jenseits von Bewusstsein und diskursivem Denken die Sinnbildung strukturiert. Die sinnkonstruierende Aktivität der Rezipierenden darf insofern nicht auf absichtsvolle und be-
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wusste „Nutzungsprozesse“ verkürzt werden, die sich an selbstgesetzten Zielen der Rezipierenden orientieren. Habitusspezifische Sinnbildungsprozesse bilden den Gegenstand einer als „praxeologisch“ zu bezeichnenden Rezeptionsforschung, die an Bourdieus „Theorie der Praxis“ – die „Praxeologie“ – anschließt (vgl. Michel 2006a). Zur Rekonstruktion jener impliziten und atheoretischen Sinnbildungsprozesse, die in konjunktiven Erfahrungsräumen verwurzelt sind, erweist sich die dokumentarische Methode in Verbindung mit dem Instrument der Gruppendiskussion als höchst fruchtbares Verfahren.
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Monika Wagner-Willi
Videoanalysen des Schulalltags. Die dokumentarische Interpretation schulischer Übergangsrituale Rekonstruktive Verfahren der qualitativen Forschung zeichnen sich durch ihre Bezugnahme auf die Alltagswirklichkeit der Erforschten, deren (Ethno-) Methoden und kommunikativen Regelsysteme in situ aus. Einen entscheidenden Beitrag leisten hier die Textinterpretativen Erhebungsmethoden, vor allem, wenn sie – wie etwa die Gruppendiskussion (vgl. Bohnsack 2007a; Loos/Schäffer 2001) oder das narrative Interview (Schütze 1987) – das jeweilige atheoretische (Mannheim 1980), handlungsleitende Wissen und den spezifischen Habitus der Akteure aufzuspüren suchen. Diese Methoden werden zunehmend mit weiteren, auf die Beobachtung von Alltagssituationen gerichteten Verfahren trianguliert, vor allem mit der teilnehmenden Beobachtung (vgl. Bohnsack et al. 1995; Nohl 2001). Dieses ursprünglich in der Ethnologie entwickelte Verfahren hat im Unterschied zu den o.g. die audiovisuell strukturierten Wahrnehmungen und Eindrücke des Forschers im Feld zur Grundlage für die Rekonstruktion der Beobachtungen der Alltagswirklichkeit der Erforschten. Die teilnehmende Beobachtung kann deshalb bereits als Vorläufer einer sich gegenwärtig allmählich etablierenden visuellen Sozialforschung bezeichnet werden. Die videogestützte Beobachtung stellt ein der teilnehmenden Beobachtung verwandtes visuelles Verfahren dar, das seit den 1980er Jahren in unterschiedlichen Feldern der Sozialwissenschaften zunehmend eingesetzt wird, etwa in der Schulforschung (vgl. Redder 1982; Enders-Dragässer/Fuchs 1989; Krummheuer/Naujok 1999), der Kleinkindforschung (vgl. Dornes 1993; Lin-Huber 1998; Dittrich et al. 2001), der psychologischen Forschung (vgl. Thiel 1989), der audio-visuellen Soziologie (vgl. Brauer/Dehn 1995), und hier insbesondere in den Workplace-Studies (vgl. Suchman/Trigg 1991; Heath 1997), um nur einige zu nennen.1 Gegenüber der teilnehmenden Beo1
Auch das der videogestützten Beobachtung zugrunde liegende Medium Film wurde in der Ethnologie bereits frühzeitiger, und zwar als „ethnographischer Film“ eingesetzt. Der ethnographische Film wird jedoch weniger als Datengrundlage zur weiteren empirischen Analyse eingesetzt, vielmehr erhält er den Stellenwert eines wissenschaftlichen Endprodukts mit dem Anspruch, die während der Feldforschung gewonnenen Erkenntnisse in bewegte Bilder umzusetzen (vgl. Ballhaus 1995).
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bachtung bietet die (nicht teilnehmende) videogestützte Beobachtung aufgrund der Reproduzierbarkeit der Grunddaten neue, für die teilnehmende Beobachtung kaum erreichbare Möglichkeiten der Detaillierung und mikroperspektivischen Analyse sozialer Wirklichkeit. Wenn auch die Methode der videogestützten Beobachtung bereits eine beachtliche Reichweite aufweist, steht gleichwohl eine qualitativ-methodologische Reflexion insbesondere hinsichtlich der zur Anwendung gelangenden – oft nicht explizierten – Interpretationsverfahren erst am Anfang (vgl. Knoblauch et al. 2006).2 Im folgenden Beitrag wird ein Dissertationsprojekt zu alltäglichen Übergangsritualen in einer Berliner Grundschule3 vorgestellt und methodisch diskutiert. In dem Projekt wurde die videogestützte Beobachtung gerade wegen ihrer Möglichkeiten zur mikroperspektivischen Analyse performativer, körperlich-sinnlicher Dimensionen interaktiven Alltagshandelns in Verbindung mit der dokumentarischen Interpretation als eine zentrale Methode eingesetzt.4
1. Schulalltag und Liminalität In dem genannten Forschungsprojekt geht es um Rituale und Ritualisierungen des Übergangs im Alltagsgeschehen dreier Klassen einer Berliner Grundschule (4.–5. Jahrgang). Ziel ist es, diese unter besonderer Berücksichtigung ihrer performativen, nonverbal-expressiven und szenischen Gestaltung in ihrer Prozesshaftigkeit und in ihrem sozialen Sinnzusammenhang zu rekonstruieren. Von einem eher „weichen“ Ritualbegriff ausgehend, liegt das 2
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Dies gilt nicht nur für den deutschsprachigen Raum, sondern auch für die anglo-amerikanische Forschungslandschaft. Diese Einschätzung teilen Knoblauch et al. in der Einleitung zu ihrem 2006 erschienenen Band, der erstmals eine Sammlung von internationalen Beiträgen zu Methodologie und Methoden der Videoanalyse enthält (vgl. auch: Wagner-Willi 2006). Innerhalb der deutschsprachigen Schulforschung bildet die oben zitierte Publikation von Krummheuer/Naujok (1999) jedoch eine Ausnahme: Dort wird das methodische Vorgehen bei der Analyse expliziert. Allerdings dominiert hier die Auswertung des Diskurses gegenüber den nonverbalen Aspekten der untersuchten Interaktionen im Klassenraum. Es handelt sich um ein 2003 abgeschlossenes Dissertationsprojekt mit dem Titel: Rituale und Ritualisierungen des Übergangs im Schulalltag von Kindern – Vergleichende Analyse in einer Berliner Grundschule (vgl. Wagner-Willi 2005). Dieses Projekt ist im Rahmen des seit 1999 eingerichteten Sonderforschungsbereichs: „Kulturen des Performativen“, Teilprojekt: „Die Herausbildung des Sozialen in Ritualen und Ritualisierungen“ (Projektleiter Christoph Wulf), Arbeitsgruppe: Schule und Rituale an der Freien Universität Berlin entstanden (vgl. Göhlich/Wagner-Willi 2001; Wulf et al. 2001). Die Erhebung wurde von der Arbeitsgruppe (Michael Göhlich, Monika Wagner-Willi sowie – zeitweise – Heinz Schlöttke) und Anja Tervooren vorgenommen. Vgl. auch die von Klambeck 2006 vorgelegte Dissertation zu psychogenen Gangstörungen, in der die Möglichkeiten der dokumentarischen Mikroanalyse noch stärker ausgeschöpft werden als hier, sowie die Forschungsarbeit von Nentwig-Gesemann (2006), in der videogestützte Gruppendiskussionen mit Kindern dokumentarisch interpretiert werden.
Interesse auch auf solchen rituellen und mimetischen Interaktions- und Handlungsformen5, die noch keine konventionalisierte und standardisierte Formung erfahren haben und die die Interakteure selbst nicht notwendig als Ritual auffassen müssen. Institutionell initiierte Rituale, in denen die Schule ihre Werte und Normen symbolisch zum Ausdruck bringt und jeweils aufs Neue konstituiert, werden analytisch unterschieden von jenem rituellen Handeln, das Schüler verschiedener Milieus bzw. konjunktiver Erfahrungsräume (Mannheim 1980) im Umgang mit diesen Ritualen sowie den an sie gestellten schulischen Erwartungen entfalten. Das heißt, es wird unterschieden zwischen Schule als Institution mit ihren kommunikativ-generalisierenden Aspekten einerseits und Schule als Milieu mit ihren konjunktiven Aspekten anderseits. Diese Dimensionen können als Handlungs- und Sinnzusammenhänge betrachtet werden, die sowohl in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen als auch ineinandergreifen und einander beeinflussen. Die Analyse richtet den Fokus auf diejenigen, die die Adressaten der pädagogischen Institution Schule sind: die Schüler. Dabei stehen im Mittelpunkt alltägliche liminale Situationen und die sich darin herausbildenden rituellen Handlungsmuster bei den Kindern, d.h. Ritualisierungen in Situationen des Übergangs von der Sozialität der Peergroup zu derjenigen der schulischen Institution (und vice versa). Es geht hierbei um die rituelle Bearbeitung der Relation der konjunktiven Erfahrungsräume zur Institution Schule. Solche Ritualisierungen des Übergangs, die also eine spezifische Form der Differenzbearbeitung darstellen, stehen in Zusammenhang mit dem zeitlichräumlich strukturierten Arrangement der Schule, das einen Wechsel von (unterschiedlich langen) Phasen des Unterrichts mit solchen der „Regeneration“ vorsieht und diese Phasen an bestimmte Räume, wie den Klassenraum oder den Schulhof, mit unterschiedlich materialer Ausstattung bindet. Metatheoretisch wird an die Untersuchungen von Victor Turner zu Übergangsritualen angeknüpft, d.h. zu Ritualen, die den Übergang von einer sozialen Gruppe zu einer anderen ermöglichen (1989a, 1989b).6 Solche Rituale gliedern sich in drei Phasen: die Ablösungs-, die Schwellen- und die Angliederungsphase. Sie stehen dementsprechend in besonderem Bezug zu sozialen Grenzen, Grenzziehungen und Differenzmarkierungen. Turner untersuchte die Schwellenphase genauer und entwarf dabei das Modell der Communitas, eine relativ undifferenzierte Gemeinschaft, die sich im Schwellenzustand bildet und diese liminale Phase als ein Zwischenstadium der Statuslosigkeit erfährt. Diese „‚außer‘- oder ‚meta‘-strukturelle Modalität der Sozialbeziehung“ (Turner 1989a, 7) wird von der strukturierten, differenzierten Gesellschaft unter5 6
Der Begriff des Mimetischen bezeichnet die kreative Anähnlichung in sozialen, interaktiven Prozessen, die insbesondere in Ritualen wirksam wird (Wulf 1998). Turner rekurriert auf die ethnologischen Untersuchungen zu Übergangsritualen von van Gennep (1986), der selbst bereits die Bedeutsamkeit der Schwellen- bzw. Umwandlungsphase betonte.
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schieden, in welcher Individuen und Gruppen nach einem zumeist hierarchischen System spezifische Positionen innehaben. Das Liminale bezeichnet Turner auch als „Antistruktur“ (1989a, 3), ein Begriff, der auf den nichtinstitutionellen Charakter der liminalen Gemeinschaftsform verweist. Er meint nicht eine illusionäre Ablehnung struktureller Notwendigkeiten, sondern die zeitweilige Befreiung der „kognitiven, affektiven, volitionalen, kreativen usw. Fähigkeiten des Menschen von den normativen Zwängen“ (Turner 1989b, 68). Die liminale Phase ist geprägt durch Spontaneität, Unmittelbarkeit und Gleichheit; sie setzt eine kreative Kraft frei, die „den Samen künftiger sozialer Entwicklung, gesellschaftlichen Wandels“ in sich birgt (ebd., 69). Sie ist dementsprechend untrennbar verbunden mit dem Performativen (vgl. WagnerWilli 2001): In ihr kommen betont sinnlich-körperliche Erfahrungs- und Ausdrucksmodi zum Tragen, Elemente des Expressiven und des Ludischen, d.h. des Spielens mit Symbolen und ästhetischen Ausdrucksmitteln. Als weitere Dimensionen des Performativen sind für das Liminale der Verweischarakter von sozialen Interaktionen (auf die Struktur) sowie ihr Aufführungscharakter von Bedeutung (vgl. Goffman 1969; 1977).7 Inwieweit und in welchen Formen solche Aspekte des Liminalen in alltäglichen, rituellen Übergangssituationen in der Grundschule von Bedeutung sind, ist wesentlicher Teil der Untersuchung. Mit ihr wird eine Typenbildung auf der Grundlage einer komparativen Analyse von Ritualisierungen sowohl auf klasseninterner wie klassenübergreifender Ebene angestrebt.
Zur Erhebung: Um den performativen, mikroperspektivischen Aspekten von alltäglichen rituellen Übergangssituationen auf die Spur zu kommen, wurde als zentrale Erhebungsmethode diejenige der videogestützten Beobachtung gewählt. Die Erhebung bezieht sich auf drei Klassen des 4.–5. Jahrgangs einer Berliner Grundschule, in denen räumlich-zeitlich strukturierte Übergangssituationen videographiert wurden. Der Einsatz eines technischen Gerätes wie der Videokamera im Feld erfordert ein gewisses, die teilnehmende Beobachtung überschreitendes Maß an Vertrauen gegenüber den Forschern vonseiten derjenigen, die im Fokus des Kamerablickes liegen. Denn es werden ja nicht nur schriftlich, sondern audio-visuell wiedererkennbar Personen in ihren Lebensäußerungen dokumentiert. Der Videographie ging daher ein anfängliches Gespräch mit den Erforschten zum Forschungsprojekt, eine Zusicherung der 7
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Der Begriff des Performativen geht auf Austin (1985) und seine Theorie der Sprechakte zurück. Er betont den Aspekt des Vollzugs von Handlungen im (performativen) Sprechakt sowie die Wirkungen und den Verweischarakter performativer Äußerungen. Hier gibt es Parallelen zur Ethnomethodologie, insbesondere zum Konzept der Indexikalität (vgl. Garfinkel 1973).
Anonymisierung und Nichtherausgabe des Materials an Außenstehende und darüber hinaus auch eine Phase der teilnehmenden Beobachtung im Unterricht voraus, eine Zeit, die zusätzlich Vertrauen zu den Forschern und eine Gewöhnung an ihre Präsenz ermöglichte. Um eine Irritation durch die technische Ausrüstung so gering wie möglich zu halten, wurde als Aufnahmegerät eine Digitalkamera gewählt. Die Kinder beachteten dieses kleine Gerät insbesondere zu Beginn der ersten Aufnahmen. Manche gingen auf die fest positionierte Kamera zu und interagierten über diese mit den Forschern bzw. mit einem virtuellen Zuschauer oder traten hinter das Gerät, um selbst einen Blick durch die Linse auf die Klasse zu werfen. Solche Formen des Umgangs mit dem feldfremden Medium und der neuen Situation nahmen mit zunehmender Gewöhnung der Klassen an die Forschungssituation ab, der Kamerablick wurde nicht vergessen, jedoch – ähnlich wie die Präsenz der Forscher – toleriert. Im Einzelnen liegt (u.a.) folgendes empirisches Videomaterial von Situationen des Übergangs vor: Mindestens je zwei Aufnahmen - der Übergangssituation Pause-Unterricht an der Schwelle zum Unterricht von einem Blickpunkt innerhalb des Klassenraums, wobei der territoriale Grenzbereich der Tür ins Blickfeld miteinbezogen wurde, - des Übergangs vom Wochenende in den schulischen Alltag am Montagmorgen von einem Blickpunkt im Flur vor dem Klassenraum, in der Zeit vor und zu Unterrichtsbeginn, - des jeweils stattfindenden Morgenkreises in der ersten Unterrichtsstunde zu Wochenbeginn, - der letzten Unterrichtsstunde (bzw. der unmittelbaren Zeit danach) von einem Blickpunkt innerhalb des Klassenraumes, wieder unter Einbeziehung des territorialen Grenzbereichs der Tür. Darüber hinaus wurden bei den gleichen Klassen teilnehmende Beobachtungen im Schulhof während der Pause vorgenommen sowie Gruppendiskussionen mit den Schülern und Interviews mit den Lehrern durchgeführt, welche einen thematischen Bezug zu alltäglichen schulischen Übergangssituationen hatten.
2. Dokumentarische Interpretation von Videoszenen einer Schulklasse Aufgrund der Unterschiedlichkeit der zu überbrückenden sozialen Gruppen (Peergroup/Schulklasse) zeichnet sich das empirische Material zum Über129
gang von der Pause zum Unterricht innerhalb des Klassenraumes als besonders reichhaltig aus. Im Folgenden wird die Analyse einer Übergangssituation von der Pause zum Unterricht einer 4. Klasse an ausgewählten szenischen Beispielen vorgestellt, welche auch Homologien zu Handlungs- und Interaktionsmustern in anderen, hier nicht aufgeführten szenischen Verläufen des Übergangs von der Pause zum Unterricht aufweisen. Wenn die Kinder das Klassenterritorium betreten, so finden sie zunächst einen Raum vor, der durch sein Arrangement – Tafel, Lehrerpult, Schülertische (Sitzordnung), Garderobe etc. – spezifische institutionelle Erwartungen performativ zum Ausdruck bringt – Erwartungen, die von einigen Kindern bereits unmittelbar nach Betreten des Raumes erfüllt werden: Klasse 4y, 25.3.99, Übergang Pause – Unterricht, 10h26:40–10h27:15 Allgemein: Der Raum im Bereich der Türe, der Garderobe und dem hinteren Teil des Klassenzimmers ist voller Kinder. Die meisten sind auf dem Weg zu ihren Sitzplätzen bzw. zur Garderobe. Mit dem Ausziehen der Jacken und Anoraks wird teilweise im Gehen begonnen, Gegenstände werden am Tischplatz abgelegt. Währenddessen fallen Worte zwischen den Kindern, die einander auf dem Weg begegnen, umeinander herum- und aneinander vorbeigehen. Ece, die gemeinsam mit den ersten Kindern in den Raum gekommen ist, bleibt in der Nähe ihres (nahe der Tür gelegenen) Sitzplatzes stehen, geht zur Seite, beginnt ihren Schal und ihre Jacke auszuziehen, während sie der hinzukommenden, um einiges größeren Sabine – ihrer Sitznachbarin – etwas sagt (unverständlich). Sabine antwortet und geht Richtung Garderobe. Ece folgt ihr, die Ärmel der Jacke und den Schal ordnend, zur Garderobe nach, geht zwischen den dort stehenden Kindern hindurch. Nachdem Sabine ihre Jacke aufgehängt hat, geht sie an Ece vorbei zu ihrem Sitzplatz. Geschwind hängt auch Ece ihre Jacke an einen Kleiderhaken und folgt Sabine in leicht hüpfendem Gang zu ihrem gemeinsamen Tisch, wo sie sich auf ihren Sitzplatz setzt.
Sabine und Ece folgen, ähnlich einer Reihe ihrer Mitschüler, mit Betreten des Klassenterritoriums dem institutionell vorgeprägten rituellen Handlungsmuster: Ausziehen der Requisiten des Außenraumes (Überjacken/-kleider) – Garderobenablage – Sitzplatzaufsuche – Einnahme der Ruheposition des Sitzens. Bereits mit der Ablage der Überjacken – welche nicht nur eine äußere Schutzhülle, sondern auch Markierer der individuellen, der persönlichen Identität (Goffman 1967) darstellen können – an dafür vorgesehene spezielle Orte im Raum, ist auf performativem Wege eine Bereitschaft zur Einordnung in das schulisch-institutionelle Verfahrensprogramm signalisiert. Dies wird weitergeführt mit der durch die Sitzordnung spezifisch vorgegebenen Positionierung im Raum sowie mit der Übernahme einer ganz bestimmten körperlichen Haltung: der Ruheposition des Sitzens, die ein besonderes Charakteristikum des Schulischen darstellt. Diese Ritualisierungen sind konstitutiver Teil der Übernahme einer sozialen Identität (Goffman 1967) des Schülers, welche als institutionelle Erwartung die liminale Phase des Übergangs von der Pause zum Unterricht begleitet. Ece und Sabine folgen in wechselseitiger Bestärkung diesem rituellen Handlungsmuster. Lediglich der Wortwechsel 130
untereinander und das Hüpfen Eces zu ihrem Sitzplatz gibt einem Rest an (körperlicher) Spontaneität Raum. Solche Handlungsmuster lassen sich als kommunikative Ritualisierungen bezeichnen. Sie sind mit kommunikativ-generalisiertem Wissen verbunden und stellen eine spezifische Form der Bearbeitung der Differenz von Institution und Milieu (im Sinne eines konjunktiven Erfahrungsraums) dar. Hierbei wird das Individuum dem institutionalisierten Verfahrensprogramm eingepasst, und zwar sowohl durch Standardisierung und Kanalisierung seiner Aktivitäten (wie z.B. das Ablegen der Kleidung, das Sich-Einfügen in die Grenzen der Box8) als auch durch die Konstruktion von Identitäten (wie z.B. die soziale Identität des Schülers).9 Zeitlich parallel zu obigem Beispiel entfaltet sich im selben Raum ein szenischer Verlauf, in dem die Bearbeitung der Differenz von Institution und Milieu in einer anderen Richtung vollzogen wird. Dabei wird eine Milchflasche, die die Schule nach Wunsch gegen Entgelt für das Frühstück bereitstellt, zum Objekt einer Auseinandersetzung zwischen zwei Jungen:10 Klasse 4y, 25.3.99, Übergang Pause – Unterricht, 10h26:26–10h27:35 Zwei der ersten in die Klasse strömenden Schüler, André und Binol, singen gemeinsam leicht grölend bei Betreten des Raumes („Kleine Esmeral-da“) und beenden den Gesang mit „da-ram da-ram da-dam“. Während André dabei den Raum durchquert und in Richtung seines Sitzplatzes geht, schwingt er rhythmisch die Arme, abgeschwächt tut dies auch Binol. Beide sind im Gegensatz zu den meisten anderen bereits ohne Überjacke, Binol trägt eine Schildkappe auf dem Kopf. Binol geht lockeren Schrittes geradewegs zu Martins Tisch, nimmt die dort stehende handgroße Milchflasche in seine Rechte, singt dabei noch einmal, leiser werdend: „da-dam“. Er dreht sich wieder ab, vorbei an der herannahenden Lehrerin und geht einen Meter zur Seite, hinter den Tischplatz von Anika. Binol ruft Sören zu, der gerade im Begriff ist, sich zu setzen: „Jetzt schlag ich (den kaputt)“. Sören richtet sich wieder auf und beobachtet mit leichtem Grinsen das folgende Geschehen im Stehen: Binol blickt herüber zu Martin, der gerade seine Jacke an die Garderobe gehängt hat und sich im Türbereich an den hereinströmenden Kindern vorbei einen Weg zu seinem Sitzplatz bahnt. Martin hat Binol bemerkt, geht ihm entgegen, Binol holt mit der Rechten weit und schwungvoll aus, lässt sie gegen den Tisch herabsinken, den Schwung abbremsend, bis die Flasche den Tisch fast berührt und simuliert so ein Zerschlagen der Flasche einerseits, ein Werfen, eine körperliche Attacke anderseits. Martin streckt seine rechte Hand aus, sagt: „Gib her“, Binol holt ansatzweise nochmals aus, geht dann auf Martin zu und gibt ihm die Flasche. (Sören wendet seinen Blick nun ab.) Martin ergreift die Flasche mit schneller Geste, während er sagt: „Du schlägst (...) nicht (...)“ und die Flasche mit Nachdruck auf seinen Tisch stellt. Binol tritt an den Tisch heran, den Rücken zur Tafel, nimmt einen Stift
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Die im Folgenden verwendeten Begriffe Box und Besitzterritorium sind Goffman (1974) entlehnt. Dabei bezeichnet die Box solches Territorium, auf das das Individuum einen temporären Anspruch hat, wie hier der Sitz- und Tischplatz. Vgl. zum Begriff der kommunikativen Ritualisierung Bohnsack 2004. Die untersuchte Schule hat die Praxis, die Schüler das Frühstück noch vor der Hofpause im Klassenterritorium zu sich nehmen zu lassen. Nach der Pause befinden sich noch entsprechende Utensilien auf den Schülertischen.
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aus dem dort aufgeklappt liegenden Mäppchen. Martin, der eine (Pausenbrot-) Papiertüte am Tisch zusammenrollt, sagt etwas, beugt sich seitlich des Tisches herab, packt die Tüte weg (in eine Tasche), lässt sich auf seinen Stuhl hinabfallen, sagt erneut etwas zu Binol, deutet mit dem Finger dabei auf die Milchflasche. Dann nimmt er ein kleines Lineal aus dem Mäppchen. Die beiden unterhalten sich, während Binol mit dem Stift und dessen Kappe befasst ist und Martin mit dem Lineal, das er auf der Tischplatte hin und her gleiten lässt. Dann wendet sich Binol ab.
Mit einem ihnen beiden vertrauten lässigen Gesang begleiten die beiden Schüler André und Binol ihren Eintritt in den Klassenraum. Dieser Gesang steht in seiner spontanen Darbietung, seiner Rhythmik und gemeinsamen Abstimmung mit dem Gehen (Schwingen der Arme) im Kontrast zu dem, was die Schüler in dem betretenen Territorium erwartet: eine Minimierung und Standardisierung der Körperbewegung durch die Einnahme der Ruheposition des Sitzens in der Box gemäß Sitzordnung. Mit dieser aufeinander abgestimmten körperlich-aktionistischen Form des Eintritts in den Klassenraum agieren die beiden Jungen performativ die mit dem Übergang von den Peergroup-Aktivitäten der Pause zu dem Regelwerk des Unterrichts verbundene Spannung aus und markieren damit gegenüber Letzterem eine gewisse Distanz. An den abebbenden gemeinsamen Gesang schließt Binol bruchlos die folgende Entwendung eines Besitzterritoriums an, das vorübergehend dem Mitschüler Martin gehört: eine Milchflasche – ein symbolträchtiger Gegenstand. Zum einen kommt der Milch, ein allgemein Säuglingen und Kleinkindern zugeordnetes Nahrungsmittel, eine spezifische symbolische Bedeutung als entwicklungsbezogenes regressives Ausdrucksmittel zu. Zum andern verweist der Besitz der Milchflasche auf die Inanspruchnahme einer bestimmten, nicht von allen Kindern genutzten Dienstleistung der Schule, die gegen Entgelt eine spezifische Nahrung zur Aufrechterhaltung der körperlichen Voraussetzung für eine Unterrichtsbereitschaft zur Verfügung stellt. Mit dem (freiwilligen) Bestellen einer Schulmilch wird gleichzeitig eine Übereinstimmung von schulischer und privater (Ess-) Kultur in dem Sinne zum Ausdruck gebracht, dass auch die eigene Ernährung an die schulische Norm angepasst wird und der Institution die Möglichkeit eines Zugriffs bis in den privaten Bereich der Ernährung hinein gewährt wird. In diesem Sinne kann die Milchflasche als Symbol der Bindung an die institutionalisierten Erwartungen und Abläufe interpretiert werden. Binol, mit der Requisite eines Jugendlichen (Schildmütze) innerhalb des Klassenterritoriums ausgestattet, entwendet diesen, den „braven Schüler“ symbolisierenden Gegenstand und macht ihn zur zentralen Requisite der folgenden Interaktion, die er mit der performativen Rede: „Jetzt schlag ich (den kaputt)“ einleitet. Mit der zuschaueradressierten Drohung vollzieht Binol eine Anrufung seiner Klassenkameraden, auf die Sören unmittelbar reagiert. Er lässt amüsiert von dem schulkonformen Handlungsmodus der ord-
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nungsgemäßen Einnahme der Ruheposition des Sitzens ab, richtet sich wieder auf und bekundet mit der Einnahme der Zuschauerposition Solidarität. Mit der Androhung Binols und der Wahrnehmung der Situation durch Martin gewinnt die Entwendung der Milchflasche an Dramaturgie, die auch in der die Drohung vermeintlich wahr machenden Ausführung eine Mehrdeutigkeit beibehält. Zum einen wird das Besitzterritorium umfunktioniert, indem es selbst als mögliches Schlaginstrument benutzt wird, also seiner Funktion der Aufrechterhaltung der körperlichen Voraussetzungen für eine Unterrichtsbereitschaft beraubt wird. Zum anderen wird das Gefäß schulischer (Ess-) Kultur potenziell zerschlagen, zunichte gemacht. Die Drohung wird im Spiel, und das heißt nur scheinbar, ausgeführt, in einem Spiel, das mit der Möglichkeit des „Ernstes“ spielt. Mit dieser Interaktion distanziert sich Binol nicht nur von der sozialen Identität des Schülers und den damit verbundenen institutionellen Ansprüchen und Erwartungen, sondern er richtet seine Provokation auch gegen den Schüler Martin, der somit als jemand konstruiert wird, der eine Einpassung in das institutionalisierte Ablaufschema symbolisiert und damit aus einer gemeinsamen solidarischen Distanz zu ihm ausbricht. Dementsprechend tritt Martin – der sich nicht körperlich schützt, den spielerischen Charakter der Drohung also versteht – nicht nur der Entwendung, sondern auch der szenisch-spielerischen Dysfunktionalisierung dieses Gegenstandes entgegen. Mit einer Aufforderungsgeste der Auslieferung des Gegenstandes begleitet Martin seine Verneinung der performativen Rede Binols: „Du schlägst (...) nicht“. Mit der Rückgabe der Flasche ist das Spiel beendet: Das Interesse des Zuschauers Sören flaut ab, er wendet sich den eigenen (unterrichtsfernen) Besitzterritorien zu. Martin stellt den zurückeroberten Gegenstand regelgemäß wieder in den territorialen Bereich seiner Box, die er bereits nach Ablage der Garderobe im Begriff war aufzusuchen. Anschließend vollzieht er weitere, an dem Regelwerk des nahenden Unterrichts orientierte Handlungen: Frühstück ordentlich wegpacken, Hinsetzen – im Gegensatz zu Binol, der Martin in seine Box nachfolgt und sich erneut – unter dessen Duldung – von dessen Besitzterritorium in Form eines Stiftes bedient und damit hantiert. Für diese Szene ist charakteristisch, dass es sich um eine liminale Phase handelt, eine Übergangsphase, in der das Regelwerk des Unterrichts noch nicht allgemein zur Geltung gelangt ist, die Strukturen der PeergroupBeziehungen aber auch nicht mehr vollständig aufrechterhalten werden können, eine Phase also mit einem vergleichsweise hohen Maße an systematischer Unstrukturiertheit. In der „Liminalität ‚spielen‘ die Menschen mit Elementen des Vertrauten und verfremden sie“, heißt es bei Turner (1989b, 40). Die Interaktionen zwischen den Kindern enthalten dramaturgische Züge und sind, insbesondere auf Seiten Binols, von aktionistischen und ludischen Elementen durchzogen. Vor dem Hintergrund des sich ankündigenden Unterrichts werden habituelle Differenzen innerhalb der Schülerschaft – und damit
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auch Differenzen hinsichtlich des jeweiligen konjunktiven Erfahrungsraumes – sichtbar. Diese Differenzen, die vor allem auch das Verhältnis der immer aufs Neue herzustellenden schulischen Ordnung betreffen, werden unter den Schülern Anlass für performativ-symbolische Auseinandersetzungen im Hinblick auf eine Anpassung an die und Einverleibung durch die schulisch institutionelle Ordnung. Dabei unterscheidet sich Martin nicht nur durch den Besitz und die Handhabung der Milchflasche von Binol. Vielmehr ist diese Handhabung lediglich ein Dokument für seine gesamte Haltung, zu der auch seine Orientierung am Regelwerk des Unterrichts gehört, die offensichtlich mit Betreten des Klassenraumes wirksam wird. In dieser Orientierung, die auch in vergleichbaren anderen Videoszenen deutlich wird, gleicht Martin den Mitschülerinnen Sabine und Ece (s.o.), die ihre Handlungen in homologer Weise an die mit der Ausstattung des Raumes verbundenen institutionellen Erwartungen anpassen. Im Gegensatz zu dieser eher abhängigen und somit noch eher kindlichen Haltung gegenüber der Institution unternimmt Binol nichts, was auf eine Regelorientierung am Unterricht schließen ließe. Er sucht nicht einmal seinen Sitzplatz auf, sondern vergewissert sich vielmehr auf dem Wege seiner Aktionismen der Solidarität Sörens hinsichtlich einer Distanz gegenüber den Ansprüchen der Institution, gegenüber der sozialen Identität des Schülers. Diese gemeinsame – vom Milieu der Peergroup getragene – Markierung von Distanz gegenüber den Normen, Verfahrensprogrammen und Rollenzwängen der Institution kann als konjunktive Ritualisierung bezeichnet werden. Demgegenüber zielen kommunikative Ritualisierungen, wie bereits dargelegt, darauf, das Individuum in die institutionellen Ablaufmuster einzupassen.11 Indem Martin sich frühzeitig in seine Box begibt und die Schulmilchflasche als Symbol einer schulgerechten Ernährung präsentiert, eignet sich dies als Angriffsobjekt, mit dem in dieser liminalen Phase eine Distanz von den institutionellen Normen und Standardisierungen zum Ausdruck gebracht wird.12 Während sich im Beispielfall der symbolischen Zerschlagung der Milchflasche eine Bearbeitung von Differenz gegenüber der schulischen Institution auf dem Wege der Provokation gegenüber dem „braven Schüler“ nahezu explizit äußert, lassen sich in Situationen des Übergangs von der Pause zum Unterricht auch andere, eher implizite Modi der Distanznahme und Differenzbearbeitung beobachten. Es folgt nun ein weiterer Ausschnitt der gleichen Videoaufnahme, in dem es erneut zu körperlich-expressiven Interaktio11
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Der Begriff der Distanz wird im Sinne des von Goffman geprägten Begriffs der Rollendistanz gebraucht, der die Markierung von Distanz als Teil der Rolle definiert (vgl. Goffman 1973). Dementsprechend gehören zur Rolle des Schülers sowohl kommunikative Ritualisierungen als auch – in Auseinandersetzung mit diesen – zu einem gewissen Grad konjunktive, Distanz markierende Ritualisierungen. Dazu korrespondiert die Terminologie Turners, in der die Antistruktur der liminalen Phase in einem dialektischen Verhältnis zur (gesellschaftlichen bzw. institutionellen) Struktur steht. Vgl. zum Begriff der kommunikativen und konjunktiven Ritualisierung Bohnsack 2004.
nen kommt, diesmal zwischen Wladimir und Sören – allerdings unter anderem Vorzeichen. Zum näheren Verständnis der Situation: Unmittelbar vor dieser Szene ereignete sich mitten im Raum eine handgreifliche Auseinandersetzung zwischen einem Mädchen und einem Jungen um Süßigkeiten, welche mit lautstarken Reaktionen von Kindern aus dem Fensterbereich einherging. Wladimir beobachtete die beiden Streitenden, die ihr Aktionsfeld schließlich in den Fensterbereich verlagerten. Klasse 4y, 25.3.99, Übergang Pause – Unterricht, 10h27:30–10h28:30 Aus dem Hintergrund der Fensterfront (außerhalb Kamerablick) sind laute Rufe zu hören. Wladimir, der von der Raumesmitte aus die Geschehnisse im Bereich der Fensterfront beobachtete, wendet sich ab und geht, die Überjacke allmählich von den Schultern herabziehend, Richtung Tür/Garderobe. Sören springt auf ihn zu, die Arme weit geöffnet, wirft sich ihm entgegen. Wladimir legt ihm den rechten Arm über die Schulter, Sören schubst ihn zur Raumesmitte, hängt sich an ihn, boxt ihn leicht auf den Oberkörper und ruft: „Hier (.) hier er hier ist mein bester Freund! (...)“. Wladimir blickt zur Fensterfront, dann wieder zu Sören, Sören schiebt ihn zu den leeren Tischen im Hintergrund. Wladimir weicht zurück, Sören bleibt an ihm hängen. Aus der Fensterfront sind weiterhin lautstarke Rufe zu vernehmen. Sören lässt schließlich von Wladimir ab und kehrt zu seinem Ausgangspunkt, dem Bereich nahe seinem Sitzplatz in der Nähe der Tür, zurück. Wladimir folgt ihm nach, tippt ihm zweimal mit der Rechten an den Oberarm und sagt ihm leise etwas, ihm intensiv in die Augen blickend. Sören antwortet kurz, Wladimir lächelt und schüttelt den Kopf, geht um Sören herum zur Garderobe an der Türwand, zieht dabei einen Arm aus dem Jackenärmel. Sören folgt ihm nach, hält ihn auf, die beiden reden weiter miteinander, lebhaft gestikulierend, Wladimir schüttelt den Kopf. Sören streckt Wladimir seine Rechte hin, die Finger gespreizt und ruft aus: „Ich brauch fünfundfünfzig Pfennig.“ Dann wendet er sich zur Klasse, blickt auf und ruft laut in den Raum: „Hat jemand mal fünfundfünfzig Pfennig?“ Die Frage verhallt unbeantwortet im Raum. (...) Sören spricht weiter mit Wladimir, streicht sich mit beiden Händen über das Haar, gestikuliert erneut, beugt sich nach vorne zu Wladimir, hält ihm die rechte Hand unters Gesicht, vier Finger ausgestreckt. Dann gibt er Wladimir schließlich einen tätschelnden Klaps auf die Wange, zieht seinen Stuhl hervor, stellt den rechten Fuß darauf, beugt sich nach unten und schnürt sich die Schuhe, blickt hin und wieder dabei zum Geschehen bei der Fensterfront. Wladimir geht zur Garderobe, wo er die Jacke aufhängt. Er kommt zurück von der Garderobe, nickt und schiebt während des Gehens auffällig, ähnlich einem Strauß, den Kopf, tätschelt im Vorbeigehen Sören, der den Fuß wieder vom Stuhl genommen hat, zweimal auf den Oberarm, ihm gleichzeitig die Richtung (Fensterfront) weisend. Sie gehen beide, Sören vorneweg, weiter zur Fensterfront.
Wladimir, der seine Garderobenablage – als einer der institutionell notwendigen Schritte zur Herstellung einer Unterrichtsbereitschaft und somit Element kommunikativer Ritualisierung – bereits zugunsten der Zuschauerbeteiligung an aktionistischen Interaktionen zwischen Mitschülern aufgeschoben hat, wird nun, da er sich zur Garderobe bewegt, in eine körperlich-expressive Interaktion verwickelt: Sören nimmt provokativen Körperkontakt zu ihm auf und schubst ihn in die der Garderobe entgegengesetzten Richtung. Er hindert damit Wladimir – der gerade im Gehen die Jacke von der Schulter abstreift –
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sich auszuziehen und den kommunikativ-rituellen Schritt der Garderobenablage zu vollziehen. Wladimir nimmt Sörens körperlich-expressives Interaktionsangebot – mit dem ein Aufschub kommunikativer Ritualisierung verbunden ist – an, indem er Sören im Modus der Freundschaft sogleich den Arm um die Schulter legt. Es folgen weitere leicht aggressive intensive Körperkontakte durch Sören, in die er die – verbale – Deklaration der priorisierten Freundschaft („er ist mein bester Freund“) einfügt. Die Deklaration hat in ihrer performativen Widersprüchlichkeit – Sören gibt sich „anhänglich“ und boxt Wladimir – komikartige Züge. Mit dieser Aufführung wird gleichsam eine verkürzte Version körperlicher Auseinandersetzung auf dem Schulhof unter Peers in den Klassenraum hineingetragen. Sie macht das Klassenterritorium zur Bühne für Peergroup-Aktivitäten und ruft die Mitschüler als Zuschauer an. Wladimirs Blick zur Fensterfront macht deutlich, für welche Mitschüler diese Aufführung vornehmlich von Interesse sein kann: für jene ohnehin noch mit unterrichtsferner „action“ befassten Schüler im Fensterbereich, d.h. unter anderem auch für seine, sich dort aufhaltenden (männlichen) Sitznachbarn,13 die sich der kommunikativen Ritualisierung noch widersetzen. Es bleibt unklar, inwiefern die Rufe von dort als Reaktion auf diese Interaktion gelten können oder ob sie auf die im Fensterbereich stattfindenden Aktivitäten bezogen bleiben. Nachdem Sören von Wladimir abgelassen hat, ist es dieser, der seinerseits die Interaktion zu Sören aktiv fortführt. Eingeleitet durch einen körperlichen Markierer – dem „Antippen“ – folgt ein kurzes Gespräch zwischen den Jungen, in dem Sören mit der wiederholten Verneinung von Wladimirs Seite zunehmend ausdrucksstark und performativ (verbal und gestisch) sein Anliegen deutlich macht: „Ich brauch fünfundfünfzig Pfennig“. Das Thema der Interaktion zwischen den Jungen führt also die mit der komödiantischen Deklaration eingeleitete Enaktierung unterrichtsferner Peergroup-Interaktionen fort. Die Szene erhält gerade durch den Raum des Klassenterritoriums und die liminale Situation des Übergangs von der Pause zum Regelwerk des Unterrichts eine eigene Bedeutsamkeit. Sie macht eine gemeinsame Distanzierung von dem institutionalisierten Ablaufschema deutlich, die nicht nur durch die Interaktion zwischen den Jungen mit diesem thematischen Bezug, sondern auch durch die Dramaturgie und den Charakter der öffentlichen Inszenierung unterstrichen wird. Bereits die dramaturgische Einleitung der Interaktion, die performative, ironisierende Verkündung zur (besten) Freundschaftsbeziehung, weist ausdrucksstark auf eine solche Distanzierung hin, indem sie die Bedeutung der Peergroup unterstreicht. Diese erhält schließlich in der leger flapsigen, gegenüber der Öffentlichkeit der Schulklasse (incl. der Lehrerin, die anwesend ist, vgl. erste Szene) geäußerten lautstarken Bettelei: „Hat jemand mal fünfundfünfzig Pfennig“ noch einmal eine Steigerung. In 13
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Die Sitzordnung der Klasse 4y ist dominant geschlechtsspezifisch bzw. durch Strukturen der Peergroup geprägt.
dieser Anfrage werden alle Anwesenden als Personen fernab des schulischinstitutionellen Bedeutungszusammenhanges angesprochen. Wenn auch eine Reaktion seitens der Klassenöffentlichkeit ausbleibt, wird in der gemeinsamen Fortführung der Interaktion zwischen Sören und Wladimir diese aktuale implizite Distanznahme gegenüber einer schulischinstitutionellen Orientierung aufrechterhalten. Sören wiederholt gestisch (und vermutlich verbal) gegenüber Wladimir offensichtlich seinen momentanen finanziellen Bedarf, die beiden beenden in freundschaftlicher Geste diese Interaktionssequenz (Tätscheln der Wange). Nun erst vollzieht Wladimir das kommunikativ-rituelle Handlungsmuster der Garderobenablage, an der er nun auch nicht mehr von Sören gehindert wird. Er kehrt jedoch im Anschluss daran wieder zum Interaktionssystem der Peergroup zurück. So kommt es zu einer im doppelten Sinne richtungsweisenden Parodie des Ganges zurück von der Garderobe: Wladimir schiebt und bewegt den Kopf ähnlich einem Strauß – eine kleine zuschaueradressierte komische Vorführung, an die er die gestische Aufforderung an Sören anschließt, mit ihm in den Bereich der Fensterfront zu gehen, also zu jenem Ort im Klassenterritorium, der zum einen zuvor schon durch hohe interaktive und expressive Dichte aufgefallen ist, an dem sich zum anderen Wladimirs Sitzplatz, seine Besitzterritorien und weitere Peers befinden. Die implizite Distanznahme gegenüber den institutionellen Erwartungen verläuft über die wiederholte teils private, teils öffentlich inszenierte Hinwendung zum Kontext der Peergroup und der Orientierung an jugendlichen Handlungsmustern jenseits schulischer Bedeutungsstrukturen, die sich im „Fun“ und im aktionistischen Habitus dokumentieren. Dabei konstituieren und bestätigen in dieser liminalen Situation des Übergangs von der Pause zum Unterricht konjunktive rituelle Momente jeweils aufs Neue diese implizite Form der Bearbeitung von Differenz gegenüber dem institutionalisierten Ablaufschema. Sören, der in der Milchflaschen-Szene als Solidarität bekundender Zuschauer partizipierte, übernimmt nun die Rolle des distanznehmenden Akteurs auf der Bühne des Klassenterritoriums, hier seinerseits sich auf dem Wege konjunktiver Ritualisierung der Solidarität Wladimirs vergewissernd. Ähnlich der vorigen Szene enthalten diese Ritualisierungen eine hohe Intensität des Performativen, insbesondere nonverbale, expressive Ausdrucksformen, dramaturgische und die klassenterritoriale Öffentlichkeit anrufende inszenierende Elemente. Gleichzeitig tragen sie dazu bei, dass diejenigen, die in diese Interaktionen verwickelt werden, zumindest vorübergehend, von ihrem kommunikativ-rituellen Handlungsmodus ablassen (müssen). Spaß, Ironie und eine aktionistische, körperbetonte Umgangsform stellen hier wesentliche Aspekte der impliziten Distanznahme gegenüber der institutionellen Ordnung dar. Diese Elemente weisen Ähnlichkeiten auf zu habituellen Aspekten der sogenannten „lads“ in der von Paul Willis (1979) untersuchten
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Arbeiterschule, einer Gruppe von Jugendlichen, die Träger der Gegen-SchulKultur sind. Abschließend folgt aus einer späteren Etappe der Übergangsphase ein Beispiel, bei dem erneut kommunikative Ritualisierungen vorherrschen, diese jedoch eine gewisse Brechung erfahren. Eine Weile nach der Szene mit Sören und Wladimir hat Sabine (vgl. das erste Beispiel) das Klassenterritorium, dessen Grenzbereich zum Flur – die Tür – während der Übergangsphase noch geöffnet bleibt, kurzzeitig verlassen. Auf dem Flur gibt es ein Waschbecken (ohne Handtuch), wo sich einzelne Kinder vom Wasser bedienen, zum Trinken (teils aus einem von der Schule für jeden Schüler bereitgestellten Becher) und/oder zum Händewaschen. Das kurzzeitige Verlassen des Klassenraumes in dieser Zeit ist institutionell legitimiert. Als Sabine in die Klasse zurückkehrt, lässt sich folgende Szenensequenz beobachten: Klasse 4y, 25.3.99, Übergang Pause – Unterricht, 10h29:25–10h29:40 Sabine kommt wieder in den Klassenraum hinein, legt an dem Tisch links neben der Tür etwas ab, schüttelt ihre Hände einmal kräftig, lässt sie sinken, führt die Hände zusammen und geht über den Mittelgang nach vorne. Sie begegnet dabei Sybille, die aus dem Tafelbereich zu ihrem Sitzplatz zurückkehrt. Während Sabine nach vorne geht, ruft sie: „Frau Kasek!“, bleibt an dem auf dem Gang befindlichen Projektor stehen und sagt der davor stehenden Lehrerin lächelnd etwas (unverständlich). Fr. Kasek erwidert: „Setz Dich!“ Sabines Lächeln endet abrupt, sie dreht sich um, kehrt zu ihrem Sitzplatz zurück, macht unmittelbar, bevor sie sich setzt, mit dem rechten Arm eine ausholende, dann abschüttelnde Bewegung, während sie laut ruft: „Setzen!“. Dann setzt sie sich seitlich auf ihren Stuhl, wendet den Oberkörper vom Tafelbereich ab und blickt zur hinteren Sitzreihe des Klassenzimmers.
Der Zugang zum vorderen Raum des Klassenzimmers, dem Tafelbereich, wo auch das Lehrerpult steht, erfordert bei Gegenwart der Lehrerin eine spezifische Legitimation. Ein Gespräch mit ihr gilt als Zugangsberechtigung, Sabine gibt schon auf dem Weg zum Tafelbereich mit der Ansprache der Lehrerin („Frau Kasek“) im Vorfeld einen entsprechenden (Legitimierungs-) Hinweis. Bei ihr angelangt, trägt sie mit einem Lächeln in der Manier einer braven Schülerin ihr Anliegen vor. In einer nicht nur in territorialer, sondern auch interaktiver Hinsicht asymmetrischen Kommunikationsform erhält Sabine hier eine Abfuhr: Ohne auf ihr Anliegen einzugehen, erteilt die Lehrerin den Befehl: „Setz Dich“. Sie eröffnet damit durch die Öffentlichkeit der Interaktion nicht nur für Sabine, sondern für alle anderen Anwesenden im Raum eine weitere Phase des Übergangs zum Regelwerk des Unterrichts. Das Setzen der Schüler (nicht des Lehrers) dokumentiert sich hier in seiner zentralen kommunikativ-rituellen Funktion zur Herstellung einer Unterrichtsbereitschaft. Dem weiteren Zugang zum Tafelbereich (durch andere Schüler) wird hiermit gleichzeitig die bisher geltende Legitimierungsmöglichkeit entzogen. Dass mit dem Sitzbefehl an Sabine keine individuelle Maßregelung, sondern
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vielmehr eine kollektive Geltung beansprucht wird, macht Sabine anschließend deutlich: Nicht nur, dass sie folgsam sofort von ihrem eigenen Anliegen absieht und den eigenen Sitzplatz aufsucht, sie gibt quasi die Order an die Klasse in der generalisierenden Form: „Setzen“, begleitet durch eine ausholende, verallgemeinernde Armbewegung, weiter. Damit entindividualisiert sie einerseits die Zurückweisung von Seiten der Lehrerin. Das tut sie in Form einer Demonstration der Haltung der braven Schülerin, die sich als Sprachrohr institutioneller Regeln, zur Erfüllungsgehilfin der schulischen Autorität macht. Zugleich markiert sie aber auch eine Distanz gegenüber der kommunikativen Ritualisierung: Zunächst mündet Sabines ausholende Armbewegung in eine abwehrende Geste („abschüttelnde Bewegung“) und dann wendet sie sich bei Einnahme der schulischen Ruheposition des Sitzens in ihrer Körperhaltung vom Tafelbereich ab, d.h., sie richtet sich positional damit nicht, wie zu Unterrichtszeiten erwartet, an der Lehrerin und deren Aktivitäten im Tafelbereich aus. Neben dem ritualisierten Einnehmen der Sitzplätze als zentralem Moment schulischer Verfahrensprogramme dokumentieren sich in der beschriebenen Handhabung des Raumes durch Schüler und Lehrer sowie in der (asymmetrisch strukturierten) Form der Interaktion zwischen diesen weitere Elemente von kommunikativen Ritualisierungen, der rituellen Einpassung der Kinder in das institutionalisierte Regelwerk, mit der eine kollektive Standardisierung von Handlungen, Bewegungen und Haltungen einhergeht. Vergleicht man die unterschiedlichen Videoauszüge, so stellt sich für die weitere Untersuchung zum einen die Frage, inwiefern eine Distanznahme gegenüber solchen kommunikativ-rituellen Prozessen eine entwicklungsbedingt zu lösende Aufgabe darstellt, zum anderen, welche spezifischen konjunktiven Erfahrungsräume eine solidarisierende Distanznahme und Autonomisierung gegenüber den institutionalisierten Normen und Ablaufschemata zugunsten einer sozialen Identität der Peergroup stärken bzw. welche sie schwächen.
3. Videoanalyse und dokumentarische Methode 3.1 Zur besonderen Qualität der videogestützten Beobachtung im Vergleich zu anderen qualitativen Verfahren Videogestützte Beobachtung von sozialen Alltagssituationen bezieht sich auf das Handeln und Interagieren der Akteure in situ. Sie beruht auf audio-visueller Aufzeichnung (Videographie), die schon wegen ihrer Reduktion des dreidimensionalen Raumes in eine zweidimensionale Fläche und aufgrund einer gewissen Verzerrung von Farben, Formen und Geräuschen bzw. Stimmen kein
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„Abbild der Realität“ hervorbringen kann. Videographisches Material ist darüber hinaus, wie alle im Forschungsprozess erstellten Dokumente, durch die Standortgebundenheit der Forscherinnen und Forscher mitstrukturiert und auch daher nicht als „objektiv“ zu bezeichnen (aber auch nicht als „subjektiv“ – wie Huhn et al. (2000, 187 ff.) postulieren – da die Entscheidungen durch objektivierbare Kriterien und methodologische Verfahrensweisen geprägt sind). Die bei der videographischen Erhebung zu klärenden Fragen unterscheiden sich nur graduell, nicht prinzipiell von denen, die auch bei anderen Verfahren, wie denjenigen der teilnehmenden Beobachtung und der Gruppendiskussion, entsprechend dem Erkenntnisinteresse zu beantworten sind: In dem dargelegten Forschungsprojekt musste z.B. zunächst geklärt werden, welche Gruppe (Schulklasse/Schüler) und welche Situation (Übergangsphasen) konkret untersucht werden sollen. Die Frage der Sichtbarkeit der verwendeten Aufzeichnungstechnik wurde dahin gehend gelöst, dass eine weniger auffällige Digitalkamera eingesetzt wurde. Die eingenommene Perspektive war hier eine – im ursprünglichen Sinne des Wortes – standortgebundene und der Fokus der Kamera richtete sich, da die territorial-zeitlich strukturierten Übergangssituationen von Interesse waren, auf die Übergangsschwelle der Tür. In der teilnehmenden Beobachtung werden die gleichen Fragen durch den Forscher vorab der Untersuchung oder spontan im Feld geklärt. Auch die Gruppendiskussion hat es mit diesen Fragen zu tun, wobei im Unterschied zur teilnehmenden bzw. videogestützten Beobachtung die „Situation“ nicht direkt, sondern indirekt durch die Herausbildung eines Themas über die Beschreibungen und Erzählungen der Diskursteilnehmer aufgesucht wird. Der Fokus wiederum wird bei der Gruppendiskussion durch den Modus der Diskussionsfragen gewählt.14 Wenn auch dem Film, wie bereits ausgeführt, aufgrund seiner spezifischen Qualität und der Bedingtheit von unterschiedlichen Entscheidungsfaktoren keine „Objektivität“ zugesprochen werden kann, so sind ihm als aus der Photographie abgeleitetem Medium, wie Siegfried Kracauer darlegt, bestimmte „Affinitäten zur Realität“ inhärent: zur „ungestellten Realität“, zum „Zufälligen“ und „Flüchtigen“, zur „Endlosigkeit“, die sich in der Unabgeschlossenheit wirklicher Geschehen zeigt, sowie zum „Unbestimmbaren“, das sich in der Mehrdeutigkeit von Geschehen äußert (1973, 45 ff., 95 ff.). Diese Affinitäten des (Video-) Films (wie der Photographie) korrespondieren in besonderer Weise mit einem (Feld-) Forschungsinteresse, das, wie im vorgestellten Fall, auf die Performativität der sozialen Alltagswirklichkeit gerichtet ist.15 14 15
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Zu Fragen der Videographie als Erhebungsmethode, die in diesem Beitrag nicht im Zentrum stehen, vgl. weiterführend auch Brauer/Dehn (1995) sowie Huhn et al. (2000). So ist auch nachvollziehbar, dass die Photographie (vgl. Bateson/Mead 1942) und der Film (vgl. Ballhaus/Engelbrecht 1995) innerhalb der sozialwissenschaftlichen Forschung zuerst in der (ethnologischen) Feldforschung zum Einsatz kamen.
Während die bisherigen Überlegungen hinsichtlich der Affinität zur Realität die Frage der „Gültigkeit“ des Mediums Film betreffen, lassen sich einige Vorzüge auch hinsichtlich der „Zuverlässigkeit“ dieses Mediums nennen: Gegenüber der teilnehmenden Beobachtung, welche die sinnlich strukturierten und erfahrungsgebundenen Wahrnehmungen und Beobachtungen des Forschers im Feld zur Grundlage des retrospektiv erstellten empirischen Materials (Beobachtungsberichte) hat, ermöglicht die videographische Aufzeichnung die Trennung von „Grunddaten“ und Interpretation, d.h. die wiederholte Anschauung und Beobachtung dessen, was sich im Feld „abgespielt“ hat, also die Reproduzierbarkeit der Grunddaten. Dies birgt nicht nur die Chance eines im Vergleich zur teilnehmenden Beobachtung höheren Detaillierungsgrades bei der Beschreibung bzw. der „formulierenden Interpretation“16, sondern auch die Möglichkeit der Beobachtung gleichzeitig ablaufender Aktivitäten, also deren Simultaneität. So können mehrere gleichzeitig agierende, zum Teil ineinandergreifende Interaktionssysteme, wie man sie z.B. häufig in einer Grundschulklasse vorfindet, beobachtet werden. Bei der videogestützten Beobachtung kann also die in spezifischer Weise begrenzte alltagspraktische Aufmerksamkeitsspannweite des teilnehmenden Beobachters durch systematische, wiederholte und reflektierte Beobachtung tendenziell überwunden werden.17 Hier können Prozesse in den Blick kommen, die dem teilnehmenden Beobachter erst in einer späteren Phase (etwa dann, wenn sich „action“ entfaltet hat) oder gar nicht auffallen. So war z.B. die obige Szene mit der Milchflasche erst durch die Videoanalyse und nicht schon bei der teilnehmenden Beobachtung während der Videoaufzeichnung in den Forscherblick geraten. Allerdings wirft die Technik der Videographie auch eigene Schwierigkeiten auf: Wählt man einen fixen Standort zur Aufnahme, fehlen mitunter Teile von interaktiven Abläufen, nämlich solche, die sich außerhalb des Ka16 17
Die formulierende Interpretation liegt methodisch auf der Ebene der Berichte aus teilnehmender Beobachtung (vgl. Bohnsack 2000a, 147 f.). Innerhalb der Schul- und Kindheitsforschung sind verschiedene Wege beschritten worden, die selektive Wahrnehmung des teilnehmenden Beobachters unter methodische Kontrolle zu bringen. Ein Beispiel bietet die Studie von Krappmann/Oswald (1995) zu Aushandlungsprozessen unter Kindern, die nach dem von ihnen entwickelten formalisierten Verfahren der „Doppelten Überkreuz-Fokussierung“ arbeiten. Hierbei haben zwei Beobachter jeweils eine Unterrichtsstunde zwei nebeneinander sitzende Kinder im Fokus und tauschen in der folgenden Stunde sowohl die Perspektiven als auch die „Fokuskinder“ (1995, 32). Ein anderes Beispiel liefert die ethnographische Untersuchung zum Geschlechteralltag von Schulkindern von Breidenstein/Kelle (1998). Die Autoren suchen die „(unabdingbare) Selektivität als (gewollte) Fokussierung von Beobachtungen zu gestalten“ (1998, 140), indem sie nach dem Verfahren des Theoretical Sampling (Glaser/Strauss 1969) allmählich Kategorien entwickeln, welche die Fokussierung der Beobachtungen lenken. Diese sehr verschiedenen Versuche der kontrollierten Fokussierung können jedoch – im Unterschied zur videogestützten Beobachtung – nicht die Hauptschwierigkeit der teilnehmenden Beobachtung überwinden, da sie für diese konstitutiv ist: die Gleichzeitigkeit der Sammlung und Analyse von Daten schon im Prozess der Erhebung selbst.
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merablickfeldes abspielen. Bei einer beweglichen Kameraführung hingegen ist einerseits der Forscher wieder zurückgeworfen auf die spezifische alltagspraktische Aufmerksamkeitsspannweite, sofern er spontan videographiert, andererseits kann diese Art der Aufzeichnung, etwa bei Aktivitäten von Peergroups, die Erforschten in höherem Maße stören. Ein weiteres Problem stellt die Tonqualität dar: Der verbale Gehalt von Interaktionen, die die Kamera in einigen Metern Entfernung aufzeichnet, kann nur mit Hilfe von zusätzlichen, im Raum installierten Mikrophonen erfasst werden. Es ist abhängig vom Forschungsinteresse und nicht zuletzt den Ressourcen, wie viel Technik eingesetzt wird und wie umfassend die Aufzeichnungen sein sollen. Im vorgestellten Forschungsprojekt mit besonderem Schwergewicht auf den körperlich-expressiven, nonverbalen Momenten von Interaktionsprozessen fiel die Entscheidung gegen eine zu hohe Technisierung im Feld, um die Akteure nicht zu irritieren. In der Reproduzierbarkeit dessen, was Gegenstand der Beobachtung ist, in der Möglichkeit zu erhöhtem Detaillierungsgrad und zur parallelen Beobachtung ist die Videographie der Audiographie vergleichbar. Im Unterschied aber z.B. zum Gruppendiskussionsverfahren, das die nicht-verbale Handlungspraxis der Erforschten lediglich über deren Erzählungen und Beschreibungen beobachtet, wird bei der videogestützten Beobachtung die – wenn auch ausschnitthafte – nicht-verbale Handlungspraxis selbst zum Gegenstand der Beobachtung, ähnlich der teilnehmenden Beobachtung. So können insbesondere Aspekte des Performativen, sprachlich nicht repräsentierte (explizierte) bzw. von Seiten der Erforschten nicht repräsentierbare (explizierbare) Elemente und Prozesse der Handlungspraxis, wie etwa stilistische Ausdrucksmittel und „die leiblich-räumliche Organisation des Alltagshandelns oder körperliche Aktionismen (...)“ eher auf dem Wege der Beobachtung untersucht werden. Diese lässt „häufig unmittelbarer oder unkomplizierter zentrale Orientierungsmuster oder Probleme einer Gruppe, eines Milieus oder Individuum evident werden ... als die Interpretation verbaler Äußerungen“, wie Bohnsack (2000a, 146) in Bezug auf die teilnehmende Beobachtung formuliert.
3.2 Dokumentarische Interpretation von Videomaterial Bei videogestützter Beobachtung lässt sich im Unterschied zu textinterpretativen Verfahren, wie bereits angesprochen, zunächst nicht auf entwickelte Methoden der Auswertung zurückgreifen. Das videographisch erhobene Material hält für den Interpreten eine komplexe Fülle an visuellen und auditiven, ineinander verwobenen Eindrücken bereit, deren Transkription schon eine besondere Herausforderung darstellt. Dies gilt in besonderem Maße bei einem empirischen Material wie demjenigen der vorgestellten Untersuchung, da es sich hier
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um eine große, lebhafte Personengruppe in vergleichsweise engem (Klassen-) Raum handelt und die interessierenden Situationen selbst häufig mit einer hohen körperlichen Bewegung und interaktiven Dichte einhergehen. Mit einer an dem empirischen Material angepassten, notwendigen Modifikation erschien das Interpretationsverfahren der dokumentarischen Methode aufgrund der systematischen Differenzierung zwischen unterschiedlichen Interpretationsebenen und der Einbeziehung der komparativen Analyse als geeigneter Ansatz, sich der angesprochenen Komplexität zu nähern. Die der Methode eigene „genetische Einstellung“, also die Hinwendung zum Wie der Herstellung von kulturellen und sozialen Phänomenen, korrespondiert in besonderer Weise mit dem Erkenntnisinteresse des Projektes, das Performative schulischer Ritualisierungen zu erfassen und den Zusammenhang zur kommunikativen respektive konjunktiven Sinnebene herauszuarbeiten. Die Methodik der sonst vorwiegend für Textmaterial herangezogenen dokumentarischen Interpretation zeichnet sich dabei durch eine bemerkenswerte Nähe zu einem anerkannten Analysemodell der Bildinterpretation innerhalb der Kulturwissenschaften, der Methodik der Ikonologie von Erwin Panofsky (1997), aus. Auch im Zentrum der Ikonologie steht jene Sinnebene, die der Kunsthistoriker Panofsky unter Rückgriff auf die Wissenssoziologie Karl Mannheims als „Wesens-“ bzw. „Dokumentsinn“ bezeichnet, auch hier wird der Blick auf den Modus Operandi, das Wie (und damit auch auf den performativen Gehalt) der Entstehung von (sozio-) kulturellen Phänomenen gerichtet (vgl. Bohnsack 2007a, 158 ff.).18 Die Auswertung setzte zu Anfang des Projektes zunächst bei einer Deskriptionsebene an, die man im Sinne Panofskys (1997) als vorikonographische Beschreibung bezeichnen kann, d.h. auf der Ebene der Beschreibung von Gebärden und Interaktionselementen, die auf der nächsten, der ikonographischen Interpretationsstufe z.B. als „Melden im Unterricht“ identifizierbar wären. Im weiteren Verlauf der Anpassung der dokumentarischen Methode an das empirische Videomaterial ging es darum, ein spezifisches Detaillierungsniveau der Deskription bzw. der begrifflichen Explikation, genauer: der formulierenden Interpretation des Beobachteten zu finden, welches zwar auf der vorikonographischen Ebene, also der Ebene des „Phänomensinns“ im Sinne von Panofsky (1987a, 185 ff.) ansetzt, gleichwohl aber nicht so sehr in der Detaillierung versinkt, dass die Koordination der Gebärden im interaktiven Bezug aufeinander und ihre Einbettung in langfristige Interaktionsabläufe aus dem Blick gerät. In jedem Fall verbleibt die formulierende Interpretation aber unterhalb der ikonographischen Ebene, auf der der Betrachter bzw. Interpret Motive, genauer: Um-zu-Motive unterstellt.19 Es geht – wie allgemein bei der dokumentarischen Interpretation, so auch hier – darum, den Modus Operandi 18 19
Vgl. auch den Beitrag von Bohnsack zur Bildinterpretation i. d. Band. Vgl. dazu den Beitrag von Bohnsack zur Bildinterpretation i. d. Band.
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der Gebärden zu interpretieren, nicht aber den Akteuren Handlungsintentionen zu unterstellen.20 Zur Auswertung herangezogen werden, wie weiter oben bereits erwähnt, Übergangssituationen, wie etwa diejenige von der Pause zum Unterricht. Solche Situationen oder „Passagen“ haben meist eine Dauer von ca. 5–15 Minuten. Innerhalb solcher Passagen (die selbst schon im Rahmen des schulischen Alltags als fokussiert bezeichnet werden können) gibt es szenische Verläufe, die noch einmal fokussiert sind und somit in besonderer Weise den Stellenwert einer Fokussierungsmetapher (vgl. Bohnsack 2007a) erreichen. Allerdings können sie aufgrund der Dichte des empirischen Materials meist erst im Laufe der formulierenden Interpretation der Videopassage als solche identifiziert werden. Weiterführend (und als Weiterentwicklung der hier vorgeschlagenen Verfahrensweise) wäre auch denkbar, einzelne Standbilder, die innerhalb szenischer Verläufe mit hoher interaktiver und metaphorischer Dichte selbst – nun bildbezogen – eine Art Fokussierungsmetapher darstellen, einer besonders detaillierten Analyse zu unterziehen. Bei der formulierenden Interpretation der Videopassagen sind im Projekt im Zuge des Erfassens, „was“ jeweils eigentlich geschieht, im Hinblick auf das Performative insbesondere folgende weitere Aspekte relevant: die Interaktionsdichte in körperlich-gestischer und verbaler Hinsicht; die Territorien und ihre Anordnung, die Positionierung von Schülern und Lehrern, ihre Bewegungen im Raum; stilisierte Gesten, Mimik, Expressivität, ästhetische Ausdrucksmittel; Interaktionssysteme, das szenische Arrangement und die zeitliche Strukturierung. Bei der reflektierenden Interpretation geht es um den jeweiligen Sinnzusammenhang, den Kontext und den Prozesscharakter der beschriebenen Interaktionen und sozialen Handlungsvollzüge. Damit verbunden ist auch die Analyse der formalen Interaktionsorganisation (in Abwandlung der Diskursorganisation im Falle der Auswertung von Gruppendiskussionen, vgl. Bohnsack 2007a, Kap. 8.1, sowie Loos/Schäffer 2001, 64 ff.), d.h. die Interaktionsabfolge, die Symmetrie bzw. Asymmetrie von Interaktionen und ihr dramaturgischer Verlauf. Durch den systematischen Vergleich, sowohl innerhalb einer Videoszene als auch einer Videopassage als auch zwischen den Aufnahmen einer Klasse und zwischen den Klassen, werden Homologien und Kontraste ritueller Praxen herausgearbeitet, um so die den schulischen Alltag 20
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In der o.g. Untersuchung von Krappmann/Oswald wurden Videoaufzeichnungen lediglich als Ergänzung zur teilnehmenden Beobachtung hinzugezogen. Die Autoren führen als Vorteil der teilnehmenden gegenüber der videogestützten Beobachtung an, dass der Beobachter „eine sinnvolle Geschichte“ wahrnehme, die er protokolliere und die bei videogestützter Beobachtung manchmal nicht mehr zu rekonstruieren sei. Eine „sinnvolle Geschichte“ meint jedoch nichts anderes als die in Erzählung eingebettete Unterstellung von Um-zuMotiven. Dies kommt nicht zuletzt in den vorgelegten Berichten zum Ausdruck, in denen Darstellungen wie folgt zu finden sind: „Jens grinst die ganze Zeit, seine Taktik besteht darin, seine Schläge nicht so stark werden zu lassen, dass das Spiel aufhört“ (1995, 120).
prägenden Ritualisierungen in ihren unterschiedlichen konjunktiven und kommunikativen Dimensionen zu erfassen. Die Interpretation von videographischem Material hat es gegenüber demjenigen von Texten mit einer neuen empirischen Qualität zu tun. Die Sinndimension, die alle sozialen und kulturellen Bereiche durchdringt, diejenige des Dokumentsinns, ist in allen Lebensäußerungen – den sprachlichen ebenso wie den nonverbalen, körperlich-expressiven – aufweisbar.
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Brigitte Liebig
‚Tacit Knowledge‘ und Management. Ein wissenssoziologischer Beitrag zur qualitativen Organisationskulturforschung Trotz ihrer interdisziplinär begründeten Vielfalt an theoretischen Konzepten und methodischen Verfahren gilt die Organisationskulturforschung heute noch als theoretisch unentwickeltes, insbesondere aber auch methodisch unzureichend ausgestattetes Forschungsfeld. Differenzierte methodologische Ansätze und Methoden als Voraussetzung einer qualitativ-interpretativen Analyse von Organisationskulturen stellen ein Desiderat der Forschungspraxis dar (vgl. Dachler 1997). Somit verfügt diese Disziplin, deren Grundzüge nicht zuletzt auf dem Boden der Kritik an quantitativen Zugängen der Organisationswissenschaft entstanden, bis heute kaum über realistische methodische Alternativen. Im Folgenden werden die Ursachen dieses Mankos zunächst auf dem Hintergrund des Gegenstandsbereichs der Organisationskulturforschung skizziert (1), um daraufhin die dokumentarische Methode der Interpretation als ein für dieses Forschungsfeld geeignetes analytisches Verfahren vorzustellen (2). Exemplarisch werden sodann Resultate einer Untersuchung beschrieben (3), die sich in Anwendung dieses Verfahrens aus vergleichender Perspektive mit kulturellen Aspekten von Unternehmen befasst, die von Frauen oder aber von Männern geführt werden.
1. Organisationskulturforschung: Theoretische Entwicklungen und methodologische Perspektiven Gegen Ende der 70er Jahre begründet, gehört die Organisationskulturforschung heute nicht nur zum festen Bestandteil betriebswirtschaftlicher Bereiche wie der Personalforschung, der Organisationsentwicklung oder Unternehmensführung (Krell 1995), sondern auch zum anerkannten Ausschnitt der Organisationspsychologie und -soziologie. Der exponentielle Anstieg, den
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das Thema Organisationskultur1 in den 80er und 90er Jahren in der Fachliteratur ebenso wie in populärwissenschaftlichen Publikationen erfuhr, ging einher mit einer Inflation begrifflicher Bestimmungen sowie zahlreichen Versuchen, die damit verknüpfte Vielfalt an Zugängen systematisch zu erfassen (vgl. z.B. Allaire/Firsirotu 1984; Alvesson/Berg 1992; Schultz 1995). Auf der Ebene theoretischer Zugänge lassen sich dabei Entwicklungen ausmachen, die im Wesentlichen durch eine Verlagerung von rationalistischen bzw. funktionalistischen zu interpretativen Ansätzen gekennzeichnet sind (vgl. May 1997). Diese Positionen sind nicht nur mit verschiedenen Erkenntnisinteressen sowie unterschiedlichen Wissenschaftsphilosophien und sozialtheoretischen Annahmen verknüpft, sie gehen auch mit einem unterschiedlichen Begriff von Organisationskultur einher (Smircich 1983a; Martin 1985). So hat sich die fachinterne Diskussion in den vergangenen Jahren zunehmend von einem Kulturbegriff distanziert, der ‚Kultur‘ als funktionales, der Adaptation und Regulation von Organisationen dienendes System von Werten und Normen konzeptualisiert, das im Rahmen eines „cultural engineering“ angepasst werden kann (z.B. Schein 1995). An dessen Stelle sind Ansätze getreten, die auf dem Hintergrund grundlagentheoretischer Auffassungen der interpretativen Sozialforschung Kultur als situatives, perspektivisches und kontextabhängiges Verhandlungsergebnis, als implizites und locker koordiniertes Wissen verstehen (vgl. May 1997). Auch sind zu integrationstheoretischen Annahmen, die von einer positiven Beziehung zwischen kulturellem Konsens und der Stabilität bzw. Effizienz von Organisationen ausgehen, Perspektiven hinzugetreten, welche Divergenzen und Interessenkonflikte, d.h. die Existenz von Sub- und Gegenkulturen sowie die historisch-situativ bedingte Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit von Organisationskulturen ins Blickfeld rücken (Meyerson/Martin 1987; Martin 1992). Das breite Spektrum interpretativer Zugänge der Organisationskulturforschung (im Überblick Morgan et al. 1983, May 1997) lässt sich dabei im Wesentlichen auf ‚symbolische‘ und ‚sozial-konstruktivistische‘ Perspektiven redimensionieren: Erstere richten ihre Aufmerksamkeit auf komplexe symbolische Ausdrucksformen von Kultur auf der Ebene von Artefakten, kollektiven Handlungen oder aber Ideen und Kognitionen (z.B. Turner 1990; Frost 1991; Gagliardi 1992), während im Mittelpunkt sozial-konstruktivistischer Ansätze die interaktiven und kommunikativen Prozesse der (Re-) Produktion sozialer Wirklichkeit in Organisationen stehen (z.B. Smircich 1983a, b). In aktuellen Ansätzen der Organisations- und Managementtheorie zu Fragen des Wissensmanagements und der Wissensproduktion (z.B. Pawlowsky 1998) finden sich die pragmatisch-anwendungsbezogenen Erkenntnisinteressen rationalistischer Ansätze der frühen Organisationskulturforschung (vgl. 1
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Der Begriff der ‚Organisationskultur‘ gilt allen anderen in diesem Forschungsfeld gebräuchlichen Bezeichnungen als übergeordnet, da er neben privatwirtschaftlichen Unternehmen auch Verwaltungen und Verbände einbezieht (Bosetzky/Heinrich 1994).
z.B. Pascale/Athos 1981; Peters/Waterman 1982) mit interpretativen Perspektiven verbunden. Kernstück eines für diese Theorienperspektive zentralen Ansatzes bildet die Annahme, dass kreative Formen der Wissensproduktion in Organisationen auf einer systematischen ‚Konversion‘ von implizitem in explizites Wissen (und vice versa) beruhen (Nonaka 1992; Nonaka/Takeuchi 1995). Grundlage dieser Überlegungen stellt das Konzept des „tacit knowledge“ von Michael Polanyi dar (1966, deutsch: 1985), das hier einerseits als erfahrungsbezogenes, informelles Fachwissen, andererseits als in Überzeugungen, Idealen, Werten sowie mentalen Modellen eingelagertes Wissen der Organisationen aufgefasst wird. Die Theorie der „knowledgecreating company“ führt die Existenz individueller und kollektiver Wissensbestände der Organisationsmitglieder auf die Gemeinsamkeit ihrer Überzeugungen und Vorstellungen zurück, wie sie in alltäglichen Face-to-FaceInteraktionen, in „Synchronisationen körperlicher und geistiger Rhythmen“ (Nonaka/Takeuchi 1995, 87) ausgebildet werden. Auf methodologischer Ebene bilden die Organisationskulturforschung und ihre Neuerungen in Gestalt wissenstheoretischer Ansätze den Trend der Sozial- und Organisationswissenschaften in Richtung einer positivismuskritischen Haltung ab, in deren Rahmen Relationalität und Standortabhängigkeit der wissenschaftlichen Betrachtung sowie die Subjektivität von Erfahrung hervorgehoben werden (vgl. Burrell/Morgan 1979; Smircich 1983a). Galt Kultur den am „normativen Paradigma“ (Wilson 1970) orientierten Ansätzen gewissermaßen noch als eine messbare Eigenschaft, die wie andere organisationale Variablen in Form konkreter empirischer Indikatoren und Beziehungen erschlossen werden kann, so wird Organisationen auf dem Hintergrund interpretativer Ansätze jeder objektive, außerhalb der Realitätserfahrung des Individuums anzusiedelnde Gehalt aberkannt. Vielmehr werden sie hier als Produkt des Bewusstseins und damit auch potenziell als veränderlich und vieldeutig betrachtet. Entsprechend richten sich methodische Zugänge dieser Forschungsrichtung nicht auf das Erstellen von Durchschnittswerten kultureller Merkmale, sondern auf das ‚Verstehen‘ der Organisation als kulturelles Phänomen. Die wissenschaftlichen Akteure werden dabei in ihrer Subjektivität in den Forschungsprozess einbezogen und selbst zum Gegenstand wie zum Instrument der Analyse. Die Konzeptualisierung von Organisationskultur als ein dynamisches und vieldeutiges Phänomen, das sich im Verlauf der Geschichte einer Organisation wie innerhalb verschiedener Konstellationen unterschiedlich präsentieren kann, setzt qualitativ verfahrende Erhebungs- und Auswertungsmethoden voraus. Diesem Anspruch aber genügen bisher die wenigsten Studien. Noch immer werden von Marktforschung und Unternehmensberatung, aber auch von betriebswirtschaftlichen und sozialpsychologischen Instituten in großer Zahl Untersuchungen auf der Grundlage standardisierter Befragungen durchgeführt, welche die Analyse der Organisationskultur auf Variablen der
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Einstellungsforschung, wie z.B. Betriebsklima, Stress oder Arbeitszufriedenheit verkürzen. Diese Situation ist nicht nur auf einen Mangel an Bildungsangeboten im Bereich qualitativer Sozialforschung, sondern auch auf die spezifischen Anforderungen qualitativer Erhebungs- und Auswertungsmethoden zurückzuführen. Die qualitative Forschungspraxis erweist sich in der Regel als außerordentlich aufwendig, so dass allein schon deshalb der Standardisierung des Vorgehens und Eingrenzung des Forschungsinteresses der Vorrang gegeben wird bzw. angesichts begrenzter finanzieller Ressourcen und Untersuchungszeiträume gegeben werden muss. Beim Vergleich von Organisationskulturen stellen sich zusätzliche Schwierigkeiten ein: Ist sich die Forschung der „Indexikalität“ (Garfinkel 1967), d.h. der Kontextgebundenheit von (Be-) Deutungen bewusst, so konzentriert sie sich zumeist darauf, den Einzelfall in möglichst großer Dichte zu beschreiben. Die potenziell in der Unternehmensgeschichte sowie in strukturellen, branchenspezifischen oder standortbedingten Voraussetzungen von Organisationen verankerte Variabilität von Deutungsmustern wird in der Regel nicht geklärt. Als „frames of reference“ werden diese auf theoretischer Ebene zwar erwähnt (vgl. z.B. Smircich 1983b), empirisch jedoch weder im Sinne eines vergleichenden Zugangs umgesetzt noch wird die gefundene Bedeutungsvielfalt in ihrer theoretischen Relevanz erwogen.
2. Die dokumentarische Methode als Verfahren der qualitativen Organisationskulturforschung Als wissenssoziologisches Verfahren zur Rekonstruktion kollektiver Orientierungen nimmt die dokumentarische Methode der Interpretation (vgl. Bohnsack 2000a) Rekurs auf Karl Mannheims Theorie der Weltanschauungsinterpretation (1964a). Weltanschauungen gelten Mannheim als „dynamische“, historisch veränderbare Einheit, die gewissermaßen „oberhalb“ verschiedenster kultureller Ausdrucksformen sozialer Gemeinschaften liegend, diese Phänomene in einer Sinn- bzw. Bedeutungsstruktur verbindet. In ihrem weitestgehend unbewussten, vorreflexiven, atheoretischen Charakter betrachtete er sie zutiefst verankert in den sozialen, gesellschaftlichen Gegebenheiten eines historischen Zusammenhangs und als bestimmend für das Handeln und die Perspektiven der sozialen Akteure. Dass es auch der Organisationskulturforschung um weltanschauliche Überzeugungen geht, wird nicht nur in deutschsprachigen Publikationen zum Thema deutlich. Auch der zum Teil analoge Sprachgebrauch, dessen sich klassische wie moderne Ansätze der Disziplin zur Beschreibung ihres Gegenstandes bedienen, bringt dies zum Ausdruck (vgl. z.B. Schreyögg 1998). Besonders die interpretativen Zugänge begreifen, wie schon angedeutet, die 150
soziale Realität der Organisationen als Ergebnis intersubjektiver, innerhalb spezifischer Kontexte ausgebildeter Deutungen, wobei beim Versuch der Rekonstruktion dieser Realität entweder primär die symbolische Bedeutung organisationaler Phänomene oder aber die Prozesse der Bedeutungskonstruktion im Vordergrund stehen. Der in diesem Zusammenhang häufig erbrachte Verweis auf „latentes Wissen“ (Probst et al. 1997), insbesondere aber auch das in Anlehnung an Polanyi in der Theorie der Wissensproduktion verwandte Konzept des ‚tacit knowledge’, rekurriert – so macht das anschließende Zitat deutlich – auf intersubjektive Sinnsetzungen von handlungsleitendem Charakter, die auf der Folie gemeinsamer Erfahrung entstanden und weitestgehend der bewussten Reflexion der Handelnden entzogen sind: ”Tacit knowledge is highly personal and hard to formalize, making it difficult to communicate or to share it with others. Subjective insights, intuitions, and hunches fall into this category of knowledge. Furthermore, tacit knowledge is deeply rooted in an individual’s action and experience, as well as in ideals, values, or emotions he or she embraces“ (Nonaka/Takeuchi 1995, 8).
Die wissenssoziologische Perspektive rückt das hier auf der Ebene individuellen Wissens thematisierte ‚tacit knowledge‘ in seiner sozialen und situativen Bedingtheit in den Vordergrund, indem sie es als Ergebnis eines gemeinsamen Schicksals und kollektiver Handlungspraxis untersucht. In seinem „impliziten“ Charakter, der zur Folge hat, „daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen“ (Polanyi 1985, 14) entspricht es weitgehend dem „atheoretischen Wissen“ im Sinne von Karl Mannheim (vgl. zu dieser Parallele: Bohnsack 2000a, 196 ff.). Die Rekonstruktion bzw. „begrifflich-theoretische Explikation“ (ebd., 68) dieses Wissens in seinen schwer formalisierbaren und kommunizierbaren Inhalten stellt eine zentrale Aufgabe der dokumentarischen Methode dar. Geht es um organisationales Wissen, kann dabei nicht allein berücksichtigt werden, dass sich dominante weltanschauliche Überzeugungen auf dem Hintergrund einer spezifischen Organisationsgeschichte und spezifischer Kontextbedingungen möglicherweise einzigartig gestalten oder dass der Erfahrungsraum, den eine Organisation begründet, u.U. positions-, berufs-, generations- oder geschlechtsspezifisch differenziert sein kann. Ins Licht rücken auch Anschauungen und Orientierungen, wie sie aus der Verschränkung zwischen spezifischen organisationalen Bedingungen und den strukturellen Lagerungen ihrer Mitglieder resultieren. Der wissenssoziologische Zugang zur Organisationskultur, so kann in Anlehnung an Ralf Bohnsacks (1997c) allgemeine Verortung der dokumentarischen Methode behauptet werden, lehnt sich also weder an die Perspektiven des Funktionalismus, noch an die des Symbolismus oder Sozial-Konstruktivismus in der Organisationskulturforschung an, sondern befindet sich „zwischen“ diesen Positionen. Im Unterschied zum Funktionalismus nämlich stellt sich in ihrem Rahmen nicht die Frage, wie gewissermaßen ‚objektiv‘ gegebene, inner- und außerorganisatorische Anforderungen von den Mitglie151
dern einer Organisation ‚subjektiv‘ wahrgenommen und interpretiert werden; hier geht es ausschließlich um eine Wirklichkeit, wie sie über die subjektive bzw. kollektive Erfahrung in ihrer Perspektivität und Standortgebundenheit erschließbar wird. Und im Unterschied zu Analysen, die einzig auf die Beobachtung der interaktiv-kommunikativen (Re-) Produktion sozialer Wirklichkeit in Organisationen zielen, geht es hier immer auch um die handlungsleitenden Orientierungen, die dieser Praxis zugrunde liegen.2 Das Interesse dieser Empirie gilt somit, wie es Norbert Elias (1976) einst deutlich machte, einem Phänomen, das auf der Ebene der Handlungspraxis und Symbolik zwar zum Ausdruck kommt, gleichzeitig aber über deren situative Merkmale hinausreicht und das langfristige Handeln der sozialen Akteure bestimmt. Da sie die Kontextabhängigkeit sozialer Sinnwelten voraussetzt, liegt es in ihrem Programm, Organisationen gleichermaßen in ihrer binnenkulturellen Differenzierung zu betrachten wie auch, sie in ihren kulturell unverwechselbaren Merkmalen mit anderen Organisationen zu vergleichen. Um die potenzielle Vielfalt und Widersprüchlichkeit von Orientierungen auszuloten, um zu erkennen, was zum einen ihre Universalität, zum anderen ihre Partikularität bedingt, ist die Betrachtung weder auf die Ebene der fallspezifischen Besonderheit, noch auf diejenige einer generalisierenden Perspektive reduziert. Vielmehr geht es um eine vergleichende Betrachtung, in der sich Varianten sozialer Wirklichkeit in Organisationen in ihren Erfahrungsgrundlagen einander gegenüberstellen lassen.
3. Geschlecht, Führung und betriebliche Kultur: Resultate einer empirischen Studie Die analytische Perspektive, die sich mit der dokumentarischen Methode der Interpretation für die Organisationskulturforschung eröffnet, sei hier am Ausschnitt eines Forschungsprojekts dargelegt, das sich am Beispiel wirtschaftlicher Unternehmen in der Schweiz mit dem Verhältnis von Organisationskultur und Geschlechtergleichstellung befasst (s.a. Liebig 2000, 2001, 2003a, 2003b, 2005).3 Orientierungen zum betrieblichen Geschlechterverhältnis werden dabei nicht allein auf dem Hintergrund betrieblicher Erfah2
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Inzwischen liegen Arbeiten vor, die im Anschluss an die dokumentarische Methode auch neue organisationstheoretische Perspektiven entwickeln, wobei auch der Begriff der „Organisationkultur“ eine Revision bzw. Differenzierung erfährt. Siehe dazu Vogd 2004 u. 2006; Mensching 2006; Nohl 2006c, Kap. 6. Es handelt sich um eine umfassende Studie, die unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung im Rahmen des Schwerpunktprogramms ‚Zukunft Schweiz/Demain la Suisse‘ (1997–2000) durchgeführt werden konnte (www.snf.ch).
rungszusammenhänge, sondern auch in ihrer konstitutiven Bedeutung für die kulturelle Homogenität bzw. Differenzierung der Unternehmen untersucht. Letzterer Aspekt stellt sich aus wissenssoziologischer Sicht als Frage nach der Konvergenz oder Divergenz der Erlebnis- bzw. Erfahrungszusammenhänge der Geschlechter in verschiedenen Organisationskontexten dar. Anders formuliert, als Frage nach organisationsspezifischen Orientierungen in ihrer geschlechtsspezifischen Lagerung. Diese Frage sei hier insbesondere in den Kontext der Möglichkeiten und Grenzen einer kommunikativen Verständigung zwischen den Geschlechtern gerückt. Als Untersuchungseinheiten wurden Gruppen gewählt, da sie als zentrale analytische Größe der Organisationskulturforschung gelten (vgl. Schein 1995). Die Analyse stützt sich dabei auf Textmaterial, das im Rahmen selbstläufiger Gruppendiskussionen (vgl. Bohnsack/Schäffer 2001) mit jeweils fünf bis sieben männlichen und weiblichen Mitgliedern des unteren/mittleren Managements führender privatwirtschaftlicher Unternehmen gewonnen werden konnte.4 Die Frage nach den ersten Erfahrungen mit dem Unternehmen leitete alle Diskussionen unter den Kadern ein. Orientiert am Prinzip des kontrastierenden Vergleichs, einem Kernelement der dokumentarischen Methode, wurden Gruppen aus Betrieben resp. Branchen gegenübergestellt, die über vergleichsweise ‚balancierte‘ oder aber ‚desintegrierte‘5 Geschlechterverhältnisse auf der Ebene ihres Managements verfügten: Zum einen handelte es sich dabei um drei Gruppen aus Dienstleistungsunternehmen, zum anderen um vier Gruppen von Führungskräften industrieller Betriebe, unter denen sich auch eine Gruppe weiblicher Kader befand. Als „sensitizing concept“ (Strauss/Corbin 1990) gingen der oben genannten Suchstrategie die Ausführungen Rosabeth Moss Kanters (1993, 206 ff.) zur Bedeutung der proportionalen Repräsentanz der Geschlechter in Organisationen voraus. Von Kanter werden mit einem zunehmenden Frauenanteil wachsende Möglichkeiten der Einflussnahme auf den kulturellen Kontext und die Ausbildung weiblicher Koalitionen postuliert und als Voraussetzung verbesserter weiblicher Zugangs- und Aufstiegschancen zu einflussreichen Positionen betrachtet.6 Während die nachteiligen Konsequenzen des weibli4
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Insgesamt wurden 20 Gruppendiskussionen in 17 Unternehmen verschiedener Branchen aus Industrie und Dienstleistung der Schweiz durchgeführt. Die Stichprobenbildung ging zunächst aus von einer statistischen Analyse der Volkszählung 1990, die den Frauenanteil in der Belegschaft verschiedener Branchen in Relation zu ihrem Anteil in leitenden Positionen setzt (Bühler 2001). Sodann wurden führende Unternehmen ausgewählter Branchen in die Studie einbezogen. Die vertikale Geschlechtersegregation in diesen Unternehmen bildete Grundlage für das Erstellen der konkreten Vergleichshorizonte im Rahmen der qualitativen Untersuchung. Gängige Bezeichnungen im Rahmen von Betriebspanels sprechen von ‚desintegrierten‘ Verhältnissen, wenn der Anteil eines Geschlechts 70% überschreitet; als ‚balanciert‘ gelten proportionale Verteilungen der Geschlechter zwischen 30% und 70%. Das Konzept, das von einem linearen Zusammenhang zwischen der quantifizierbaren Größe von Minderheiten und deren sozio-kultureller Integration ausgeht, leitete seit seiner Publi-
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chen „token“- (Kanter) bzw. Minderheitenstatus vielfach beschrieben sind (vgl. z.B. Rastetter 1994; Regnet 1997, Miller 2004), so ist kaum etwas über die kulturellen Voraussetzungen bekannt, die Frauen in Betrieben mit balanciertem Geschlechterverhältnis in leitenden Positionen oder in Unternehmen mit weiblicher Geschäftsleitung antreffen. Und während Ansätze einer Beschäftigung mit dem Verhältnis zwischen männlichem Management und Organisations- bzw. Managementkulturen existieren (z.B. Kerfoot/Knights 1993; Höyng/Puchert 1998; als Überblick Hearn/Collinson 1998), fehlt es bisher an einer Diskussion, die beim Thema ‚weibliche Führung‘ über die Beschreibung der spezifischen Fähigkeiten (z.B. Helgesen 1991) oder aber der spezifischen Probleme der wenigen Frauen in Führungspositionen hinausgeht (kritisch u.a. Müller 1995, Rutherford 2001). Schließlich steht auch noch kein Wissen über die Auswirkungen balancierter oder desintegrierter Geschlechterverteilungen auf die Homogenität oder Differenzierung betrieblicher Kulturen bereit. Das heißt, es ist ebenso wenig über die kulturellen Voraussetzungen der überwiegend von Frauen oder Männern geführten Unternehmen bekannt, wie über die möglicherweise spezifischen Lebenswelten, die sie für die Geschlechter konstituieren. Diese Beziehung zwischen männlicher/weiblicher Führung und Merkmalen der Management- bzw. betrieblichen Kultur in ihren Konsequenzen für die Gleichstellung der Geschlechter steht im Zentrum der folgenden Ausführungen.
„Die Frau als Chefin, sie bringt wirklich eine andere Kultur ein“ – zur Exklusivität weiblicher Management- und Unternehmenskultur Weltweit, so auch in der Schweiz, ist die Zahl privatwirtschaftlicher Unternehmen, die von Frauen geführt werden, ausgesprochen gering (vgl. z.B. Adler/Izraeli 1994; Liebig 1997). Die in vorliegender Studie untersuchten Unternehmen mit weiblicher Führung7 besitzen in den Augen ihrer Kader besondere Eigenschaften, die sich gleichermaßen auf dem Hintergrund ihres marginalen Status in einer Welt des männlichen Managements, wie auf dem Boden eines Wissens um ihren kulturell spezifischen Charakter konstituieren. Ihre ‚kulturelle Exklusivität‘ im doppelten Sinne stellt einen kollektiven Erfahrungszusammenhang dar, der über die Grenzen lebensweltlicher Differenzen zwischen den Geschlechtern hinweg vermittelt. Männer und Frauen
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kation Ende der 70er Jahre nicht nur zahlreiche Studien im Bereich der Frauen- und Geschlechterforschung an, sondern gilt auch als sehr umstritten (vgl. dazu z.B. Allmendinger/ Hackman 1994). Die Unternehmen gehören den Branchen Catering, Detailhandel und Personalberatung an und beschäftigten zum Zeitpunkt der Befragung (1997/98) mehrere tausend bzw. in einem Falle mehrere hundert Personen, darunter zwischen 50% und 77% Mitarbeiterinnen. Im mittleren Management der Betriebe lag der Frauenanteil zwischen 15% und 46%, im oberen Management zwischen 10% und 44%; alle drei Unternehmen werden von Frauen geleitet.
sind hier keineswegs nur im Schicksal verbündet, Beschäftigte in einem prestige-niedrigen Arbeitsumfeld zu sein.8 Zwar sind sie sich des geringen Sozialstatus ihres Unternehmens als Folge seines hohen Frauenanteils bewusst, diese Außenperspektive wird jedoch nicht übernommen, steht ihr doch das Erleben spezifischer, positiv bewerteter Merkmale dieser Unternehmen entgegen. In deutlicher Weise dokumentiert sich dieses Sinnmuster bereits in der Einstiegspassage eines Gruppengesprächs, in der einer der Kader die kulturellen Barrieren beschreibt, die seinem Einstieg in das Frauenunternehmen entgegenstanden. Sie bestanden primär im sozialen „Druck“ der (ehemaligen) Kollegen, die das Unternehmen der Wahl abwertend als „Frauenverein“ und das Geschlecht der Geschäftsleiterin gewissermaßen als nicht der Normalität entsprechend etikettierten. Der Tritt über die Schwelle des Unternehmens wird vom einstmaligen männlichen Umfeld als unumkehrbare Initiation dargestellt („wenn du mal bei den Frauen warst, dann bist du bei den Frauen“), die zum Ausschluss aus der männlichen (Arbeits-) Gemeinschaft führt: Am: das war (.) eigentlich ein sehr äh toller Effekt ich kam aus der Milchwirtschaft das ist ein sehr männerorientiertes Unternehmen und das erste was mir aufgefallen ist ich hatte verschiedene Vorstellungsgespräche bei anderen Firmen (.) dass der (Unternehmensname) das sehr sehr gut macht oder das waren zwei Damen die mich da eingestellt haben die mich befragt haben und das hat auf mich einen sehr profimäßigen Eindruck gemacht (holt Luft) ich bin aber auch von den (1) Kollegen irgendwie unter Druck gestanden (.) was du gehst zum Frauenverein da brauchst also nie mehr denken dass du jemals wieder in die Industrie äh zurück kannst wenn du mal bei den Frauen warst dann bist du bei den Frauen und was dein Chef ist eine Chefin ist eine Frau also das war also für mich eine relativ große Hürde zu sagen ich geh jetzt zum (Unternehmensname) aber ich war eigentlich vom ersten Moment an äh begeistert wie die das machen und äh mir ist aufgefallen dass es eine sehr offene Kommunikationskultur gibt
Der „tolle Effekt“ beim ersten Kontakt mit dem Unternehmen stellte sich in den Augen des Gesprächsteilnehmers nicht nur deshalb ein, weil es ihm gelang, sich von den normativen Vorgaben der Männergemeinschaft zu emanzipieren. Es ist auch der Kontrast zwischen den Vorbehalten der Kollegen und dem professionellen Eindruck, den das Unternehmen im Vergleich mit „anderen“, d.h. männlich geführten Firmen schon beim ersten Vorstellungsgespräch hinterlassen hat. Die Differenz zwischen der Fremd- und der Eigenwahrnehmung des weiblich geführten Unternehmens wird von den Kadern auf dem Gegenhorizont herkömmlicher Vorstellungen von Weiblichkeit skizziert: So heben sie in Abgrenzung von den (imaginierten) Vorbehalten des gesellschaftlichen Umfeldes in parallelen Redebeiträgen etwa den „professionellen“ bzw. „harten“ Charakter („bin noch nie so auseinandergenommen worden“) weibli8
Zum Prestige feminisierter Arbeitsbereiche s.a. Teubner (1989). Sennett/Cobb (1973, 236) haben diese Wertigkeiten mit der Abhängigkeit personen- und dienstleistungsbezogener Tätigkeiten in Verbindung gebracht.
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cher Selektionsgespräche hervor: Als weder „hektisch“ noch „abgekämpft“ grenzen sie den Gesprächsstil der weiblichen Vorgesetzten positiv von Erfahrungen ab, in denen die männlichen Gegenüber nicht nur häufig schlecht vorbereitet („aus dem Bauch raus“), sondern auch an der Person des Bewerbers nicht interessiert erschienen („meistens nur von sich erzählt, wollten gar nichts von mir wissen“) und mit standardisierten Fragen schematisch-nichtssagende Formen der Selbstdarstellung provozierten. Im Gegensatz dazu empfanden die Führungskräfte die Fragen der weiblichen Personalverantwortlichen als „wichtig“, da sie betriebliche Anforderungen und persönliche Motive „auf den Punkt“ brachten und gewissermaßen zu einer gegenseitigen Aussprache von Überzeugungen und Erwartungen führten. Wie sich hier schon andeutet, wird der unverwechselbare Charakter der von Frauen geführten Unternehmen auf der Ebene ihrer „Kultur“ lokalisiert, wobei dieser Begriff hier in erster Linie eine Metapher für soziale Formen des Umgangs und des Verhaltens im Rahmen horizontaler und vertikaler Beziehungen bildet. Der folgende Textausschnitt zeigt exemplarisch auf, dass die Kultur, die von weiblichen Führungskräften in die Betriebe eingebracht wird, besonders aus Sicht der Frauen auch nicht durch eine Veränderung männlicher Verhaltensstile ersetzt werden kann. Männer, „die ihre weibliche Seite haben“, ersetzen für die Sprecherin die spezifische Qualität der Zusammenarbeit mit Kolleginnen und weiblichen Vorgesetzten nicht: Df: man kann eben nicht den Mann der auch weibliche Attribute hat sondern die Frau als Vorbild für eine andere Frau ist sehr wichtig (.) und wenn ich eine Frau um mich habe dann fühle ich mich anders als wenn ich männliche Kollegen habe die ihre weibliche Seite haben und zeigen (.) und das ist da bin ich dann auch in einem männlichen Umfeld dann wieder was das Kader angeht (.) für mich ganz wichtig ist einfach und das prägt das Unternehmen das ist das ist die Frau Frau (X-Name) als als Chefin sie bringt wirklich eine andere Kultur ein (.) das ist mir also das erste=Mal aufgefallen und (.) nicht weil sie jetzt eine typische Frau ist oder wie man das jetzt wollte sagen sie ist sehr ähh engagiert aber sie ist sehr natürlich sehr echt und das denke ich ist gut (3)
Nicht der mehrheitlich weibliche Arbeitszusammenhang, so deutet sich hier an, trägt in erster Linie zur Ausbildung der spezifischen betrieblichen Kultur des Frauenunternehmens bei, in erster Linie wird sie von ‚Oben‘, von der „Chefin“ geprägt. Die „außergewöhnliche“ Persönlichkeit der Unternehmensleiterin stellt in allen drei untersuchten Gruppen thematisches Zentrum dar: Dabei wird auch ihre Person im Bedeutungsfeld wirtschaftlichen bzw. unternehmerischen Handelns in Abgrenzung von (imaginierten) gesellschaftlichen Weiblichkeitsstereotypen, zugleich jedoch im Bedeutungsfeld von ‚Führung‘ in Anlehnung an diese Stereotype konstruiert, woraus gewissermaßen das Bild einer idealen Führungskraft resultiert. Für die männlichen wie weiblichen Kader stellen diese Frauen soziale Integrationsfigur und Vorbild im Arbeitsalltag dar („dass man immer wieder von ihr lernen kann“). Während sie einerseits als „Herz des Unternehmens“, als „Frau mit Charisma“ oder als sorgende „patronne“ in Erscheinung treten, 156
wird ihnen andererseits der „Mut zum Unkonventionellen“ attestiert, wenn es um die Infragestellung von (männlichen) Konventionen und Selbstverständlichkeiten sowie die Durchsetzung der Unternehmensinteressen in männlichen Führungsgremien geht. Die kulturell innovativen Impulse, die von der Geschäftsleiterin ausgehen, werden in einer der Gruppen geradezu als Erschütterung des Gegebenen, als „Ruck“ im Sinne einer grundlegenden Veränderung erlebt. Im folgenden Diskussionsbeitrag kommt deren Ausmaß darin zum Ausdruck, dass hier zunächst von einer ‚Übernahme der Firma‘ anstelle einer ‚Übernahme der Unternehmensführung‘ die Rede ist. Die Natur des Wandels, den die Top-Managerin einbringt, erscheint von sachbezogener („von der Sache her“), gleichwohl aber nicht formaler Art und wird als zentraler Faktor der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens beurteilt. Ausdruck findet die durch sie eingebrachte Innovation u.a. in einer symbolischen Geste („jedem persönlich die Hand gereicht“), mit der sie in den Augen des Kaders Zeichen einer persönlichen Beziehung zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern setzt. Insbesondere auf der Ebene des „Zwischenmenschlichen“ („wie wird man verstanden“) und des Zusammenlebens im Unternehmen („wie geht man miteinander um“), heben sich die Erfahrungen mit weiblichen Führungskräften von jenen mit männlichen Verantwortlichen ab: Cm: um vielleicht nochmals auf ihre Frage zurückzukommen was hat das bewirkt als Frau (Y-Name) unsere Firma eigentlich übernommen hat respektive die Führung von unserer Firma ich glaube es ist ein Ruck durch die (Unternehmensname) im positiven Sinn man hat äh von der Sache her (...) hat man gespürt die Mitarbeiter haben Veränderungen wahrgenommen Veränderungen die sie auch erwarten in der Zukunft weil ich denke dass der Frauenanteil auch sehr viel äh gesetzt hat auf die Frau (Y-Name) im Moment als sie gekommen ist und jedem persönlich die Hand gereicht hat (.) und für mich ist das einer von den wesentlichsten Aspekten im Rahmen von einer Unternehmenskultur eben grad auch das Zwischenmenschliche wie wird man verstanden wie geht man miteinander um und die ganzen Umgangsformen etc. und da hatte ich den Eindruck hat sie etwas bewirken können ohne dass wir jetzt ihren Vorgänger wollen da dequalifizieren in keiner Art und Weise
Orientierungsrahmen bildet auch dann wieder der Aspekt der kulturellen Exklusivität weiblicher Führung, wenn es um das Thema der „offenen Kommunikationskultur“ im Unternehmen geht. Unter diesem Aspekt wird zum einen der als persönlich empfundene Kontakt zur Geschäftsleiterin, ihre gute Ansprechbarkeit für Fragen und Probleme („und das ist kommunikativ, und man kann zur obersten Chefin rein“), zum anderen ihre „Unkompliziertheit“, „Authentizität“ und „Offenheit“ im Umgang mit Fehlern beschrieben. Die Tatsache, „dass man auch Fehler machen darf“ und „dass man aus Fehlern lernen darf“ wird u.a. als Ursache der besonderen Beweglichkeit und Dynamik der Unternehmen interpretiert. Nicht nur teile die „Chefin“ auch „unangenehme Dinge“ offen mit, ihre Offenheit schließe den Umgang mit eigenen Fehlern ein: Der folgende Gesprächsausschnitt dokumentiert, dass die Fähigkeit, als Arbeitgeberin und Vorgesetzte persönliche Fehler einzugestehen, als 157
außergewöhnliche Stärke („das habe ich also noch nie erlebt“) bewundert und für die betriebliche Zusammenarbeit als befreiend („da ist ein richtiges Aufatmen so durchgegangen“) erlebt wird: Am: aber dass sie so klar vor die Leute steht und nicht hunderttausend Entschuldigungen bringt wie es eigentlich in der Natur vom Menschen ist (.) es sind nur die anderen Schuld das ist eine starke Leistung « Cf: ¬ ja finde ich auch Ff: ¬ hab ich auch gefunden Am: und auch die Entscheidung treffen weil irgendwie (.) habe ich viele Leute reden gehört ja früher das das hätte keiner äh gewagt Ff: ¬ nein Am: und dann würden dann so (.) Sachen die hätte man mit rumgeschleppt zehn Jahre Ff: ¬ mhm mindestens ja (2) (...) Am: ich glaub da sammelt sie schon Pluspunkte und das ist dann auch das wo man dann wieder nach Hause geht und sagt (.) jaahh das ist eigentlich gut an dem Ort auch wenn (.) viel schief läuft
Die das Thema abschließende Konklusion verweist darauf, dass das konkrete Verhalten der Unternehmensleiterin über so manches betriebliche Defizit hinweg ein positives Verhältnis zum Arbeitsplatz bedingt. Trotz aller konstatierten Schwächen ist in diesen Gruppendiskussionen die starke Identifikation der Kader mit dem Unternehmen zu erkennen, die nicht zuletzt in Bemerkungen wie: „ich habe mich verliebt in die (Unternehmensname)“, in Berichten über geringe Fluktuationsraten oder Mitarbeiter, die „hängen geblieben“ sind, zum Ausdruck kommt. Durchaus aber ist man sich in den Gruppen auch bewusst, dass „hier nicht alles Gold ist was glänzt“. Geht es etwa um Fragen der Gleichstellung und Frauenförderung, wird von Seiten weiblicher Kader besonders in Zeiten verschärfter wirtschaftlicher Konkurrenz bei einer zwar grundsätzlich „positiven Haltung“ kein größeres Engagement zur Verbesserung des Frauenanteils (etwa durch Maßnahmen zur Vereinbarung von Familie und Beruf) als in anderen Unternehmen wahrgenommen („ich glaube da sind wir nicht wesentlich weiter“). Vielmehr thematisieren zwei der drei untersuchten Gruppen in diesem Zusammenhang die wachsende Zahl männlicher Mitarbeiter, die in Konkurrenz zu Frauen treten. Dabei üben insbesondere die weiblichen Kader deutlich Kritik an einer Personalpolitik, die in ihren Augen zur Ausbildung traditioneller Geschlechterhierarchien führt. Andererseits aber wird von ihnen die Integration von Männern auch unter dem Aspekt eines positiven Effekts auf das Arbeitsumfeld sowie als Teil der „Geschäftsstrategie“ diskutiert: Gf: dass das in einem in einer wirtschaftlichen Situation drin eben als Notwendigkeit angeschaut worden ist die Frage ist das der richtige Weg (.) es mag sein brauchts immer noch brauchts eine Kombination «
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Em: ¬ mhm Cf: das denk ich auch Gf: von beiden und es ist jetzt so wie ich das verstehe etwas in den (Unternehmensname) reingenommen das bitternötig gewesen ist also Ff: ¬ sicher Gf: auf alle Fälle und jetzt müsste man das auf die (Unternehmensname) typische Art können interpretieren dass die anderen Kompetenzen nicht verloren gehen
Wie dieser Gesprächsausschnitt darlegt, teilen die Frauen der Gruppe die Entscheidung für eine Aufstockung des Männeranteils zwar nicht unwidersprochen („ist die Frage, ist das der richtige Weg“), dennoch sind sie der Auffassung, dass es sich hierbei um eine „bitternötige“ Maßnahme der Geschäftsleitung zur Sicherung des Unternehmenserfolgs handelt. Dabei wird eine für die Gruppengespräche in Frauenunternehmen typische Form des Umgangs mit Veränderungen des Mehrheits- bzw. Minderheitsverhältnisses der Geschlechter deutlich. Neben einer nutzenorientierten Perspektive9 steht hier nicht der Erhalt der (weiblichen) Mehrheit im Vordergrund, sondern die Frage, wie die „sogenannt männlichen Eigenschaften“ auf eine für das Unternehmen „typische Art“ interpretiert werden können. Hier dokumentiert sich noch einmal das Bewusstsein um die kulturelle Identität des Unternehmens, an die neu eintretende Mitglieder assimiliert werden sollen, damit ‚andere‘, d.h. in der Tradition weiblicher Führung und Zusammenarbeit ausgebildete „Kompetenzen nicht verloren gehen“.
„Ich würde mir wünschen, dass er fassbarer wäre“ – Zur kulturellen Differenzierung männlich geführter Unternehmen Während die ‚kulturelle Exklusivität‘ weiblich geführter Unternehmen eine Klammer bildet, welche die Perspektiven der Geschlechter vereint, so lassen Gruppendiskussionen mit Kadern aus männerdominierten Managementkontexten tiefe Gräben zwischen den Geschlechtern erkennen.10 Besonders ausgeprägt ist die geschlechtsspezifische Differenzierung betrieblicher Lebenswelten in Kadergruppen aus industriellen Unternehmen: Die Erfahrungsberichte der weiblichen Führungskräfte schließen hier vielfach das Erleben sozialer Fremdheit, Zurückweisung und Isolation ein, auf welche diese Frau9 10
Nutzenorientierte Haltungen zur Gleichstellungsfrage kennzeichnen im Rahmen der Studie typischerweise Dienstleistungsunternehmen, wie an anderer Stelle gezeigt werden kann (Liebig 2000). Es handelt sich dabei um drei Gruppen aus Industrieunternehmen der Branchen Elektronik, Maschinenbau und Chemie, die 1997/98 über mehrere hundert bzw. in einem Falle über mehrere tausend Beschäftigte verfügten; ihr Frauenanteil an der Basis lag bei 11% bzw. 32%. Eine vierte Gruppe gehörte einem Unternehmen der Bekleidungsindustrie mit mehreren hundert Beschäftigten und einem Frauenanteil von 71% an. Keiner der Betriebe verfügte über Frauen im oberen Management, im mittleren Management waren in zwei Fällen ebenfalls keine weiblichen Führungsverantwortlichen zu finden, in zwei Fällen ca. 13%.
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en nach anfänglichem „Schock“ mit Anpassung und Duldung oder aber mit kämpferischem Standhalten reagierten.11 Im Gegensatz zu Schilderungen der zuvor genannten Gruppen stellt sich der Einstieg in den Betrieb hier als Prozess der „Selbstüberwindung“ dar: Beim ersten Kontakt steht nicht etwa das Einstellungsgespräch bzw. die Kommunikation mit Vorgesetzten und anderen Betriebsangehörigen im Vordergrund, sondern die Begegnung mit der physisch-materialen Gestalt der „Industrie“ oder „Fabrik“: Ef: (...) und schon mal in einer kleineren Firma bisschen geübt sozusagen bin dann hier in die (Unternehmensname) hab mich beworben für eine Betriebsleitung eine Stelle für einen Betriebsleiter und ich denke ich bin da auch ganz gut angekommen und dann hat mich (.) weiß gar nicht mehr wie der hieß der (Z-Name) egal hat er mich durch diese Hallen geführt und ich mit meinen Stöckelschuhen bin dann über diese Raster gelaufen Af: ¬ (lacht) Ef: diese Gitter das ging ja noch alles aber dann waren das diese riesigen dunklen Kessel düster fürchterlich (holt Luft) also ich wollte diese Arbeit nicht ich fand das einfach ganz grässlich obwohl man mich wahrscheinlich dafür genommen hätte und bin dann in die Analytik weitergegangen weil da ist es immer noch bisschen wie soll ich sagen Frauen gegenüber etwas geöffneter die ganze Geschichte (2)
Die Beschreibung der Artefakte lässt die sinnlich-erfahrbare, ästhetische Dimension (Gagliardi 1992b) eines betrieblichen Alltags erkennen, der im Widerspruch zu den persönlichen Voraussetzungen steht. In grotesker Weise verdeutlicht dies die Selbstdarstellung der Sprecherin, die auf „Stöckelschuhen (...) über die Raster“ der Betriebshallen geht: geschildert wird ein Gegensatz, der auf fundamental körperlicher Ebene Verunsicherung hervorrufen muss. Hier, wie oftmals in Gruppendiskussionen in Industrieunternehmen, wird das zukünftige Arbeitsumfeld von den weiblichen Führungskräften zunächst über die Dramaturgie des Raumes („riesige, dunkle Kessel, düster, fürchterlich“), die Monotonie der Arbeitsprozesse („lange Reihe an Förderbändern“), die Strenge der betrieblichen Hierarchien („ganz extrem autoritär“, „noch nie so Klassenunterschiede gesehen“) erlebt. Deutlich wird dabei das symbolisch an die sozial-räumlichen Bedingungen der Betriebe geknüpfte Erleben der Handlungseinschränkung und der Anonymität, das keine Brechung durch soziale Kontakte und Beziehungen erfährt („weiß gar nicht mehr wie der hieß“). Die Annäherung an diese Welt gelingt den Frauen dieser Gruppen oft nur innerhalb eines mehrjährigen „harten Lernprozesses“, wobei sie sich stetig zwischen Anpassung („man akzeptierts“, „man gewöhnt sich dran“) und Selbstbehauptung bewegen. Über die Phase des Einstiegs hinaus treten im weiblichen Arbeitsalltag vielfach Erfahrungen der Entmutigung und Des11
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In diesem Zusammenhang sind auch positionale und generationale Lagerungen zu erkennen: Jüngere hochqualifizierte Frauen stellen hier die Metapher eines „Kampfes“ in den Vordergrund, während sich weniger qualifizierte und/oder Frauen der älteren Generation über „Gewöhnung“ Integration erhoffen.
integration hinzu, sodass, wie es eine Gesprächsteilnehmerin formuliert, „man ständig gefordert ist, und zwar emotional und psychisch, nicht fachlich“. Wie die folgende Textpassage zum Ausdruck bringt, erleben diese Frauen ein Klima der Abweisung, zu dessen Bewältigung sie alltäglich einen Aufwand erbringen müssen. Hier führt die Sprecherin des oben zitierten Gesprächsausschnitts nochmals ihre Eindrücke zur „Fabrik“ aus: Ef: es war nicht nur der subjektive Eindruck das ist düster sondern es war auch (.) die Konfrontation mit dem Aufwand was das für mich als Frau bedeutet den ich bringen muss um da halbwegs glücklich zu werden das heißt ein permanentes sich Durchsetzen ein permanentes Beweisen dass man trotz Stöckelschuhen etwas im Kopf hat also diese Konfrontation bezeichne ich eben als düster weil das eine Emotion war die da hochgekommen ist das war mir zuviel Aufwand und ich glaub das ist das Problem das viele Frauen haben dass sie den Aufwand nicht betreiben wollen sich ständig beweisen zu müssen und ständig dem ausgesetzt sind deshalb gibts so wenig Frauen
Den initialen weiblichen Erfahrungen der Einengung und Begrenzung („da drin halte ich es keine zwei Wochen aus“) stellen männliche Führungskräfte in Gruppengesprächen aus Betrieben der Industrie oftmals einen Erlebnishorizont entgegen, der geprägt ist von der Möglichkeit zur Selbstentfaltung und Initiative. Die Kader der bereits angeführten Diskussionsgruppe schildern beispielsweise ihre Begeisterung („phänomenal“) beim Einstieg ins Unternehmen auf dem Hintergrund einer Studienzeit in einem als „repressiv“ erlebten Universitätsbetrieb, in dem der Gebrauch von Werkzeugen und Geräten aus übertriebenen Sicherheitsgründen untersagt war. Die Aufnahme in den Betrieb haben sie als Autorisierung zum selbstverantwortlichen Handeln erlebt, das Wegfallen von „Normen“ und Vorgegebenem beflügelte und ermutigte sie zur Initiative („eigentlich auch das Gefühl, dass man wirklich viel bewegen kann in der Firma“). Die „befreienden“ Momente sind begleitet vom Gefühl der sozialen Geborgenheit („sofort geheimelt“), wobei die Beziehung zur ersten Kontaktperson („hat auch noch meinen Dialekt gesprochen“) im Unternehmen eine herausragende Bedeutung besaß und zum „Aufblühen“ der Fähigkeiten beitrug. Die angenehme familiäre bzw. persönliche Atmosphäre in der Firma („eine große Familie“, „jeder kennt sich“) bis hin zum „guten Essen“ resultieren in ein umfassendes, körperlich-seelisches Wohlbefinden. Ganz im Gegensatz zur Situation der Kollegen mangelte es den weiblichen Führungskräften oft an Personen, die ihnen die sozialen Regeln ihres männlichen Arbeitsumfeldes vermitteln konnten. Erst allmählich nahmen sie zuweilen neben dem Fabrikkontext überhaupt Menschen wahr („merkt, dass es auch Menschen sind, die hier sind“). Die daraus resultierenden Schwierigkeiten und Nachteile kommen exemplarisch in einer Gruppendiskussion mit vier Frauen zum Ausdruck, die Repräsentantinnen des unteren/mittleren Kaders in einem ausgesprochen männlich dominierten Betrieb sind. Diesen Führungskräften ist nicht allein das männliche Konkurrenzverhalten fremd,
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wenn es um das „Markieren“ der größten Zahl an Überstunden geht („das ist für mich eine völlig fremde Welt“); es fehlt ihnen vielfach das Vermögen, Denken und Handeln ihrer Kollegen und Vorgesetzten sowie deren intuitive Formen der Verständigung nachzuvollziehen. Exemplarisch verdeutlicht dies der folgende Redebeitrag: Df: wenn man sich seinen Chef selbst aussuchen könnte oder etwas ändern was man besser machen könnte damit ich mit ihm zusammenarbeiten könnte ich würde mir wünschen dass er fassbarer wäre (.) das ist etwas was ich an Männern nicht ausstehen kann dass man nicht weiß woran man ist
Die mangelnde Einsehbarkeit der Erwartungen und Haltungen des Vorgesetzten („dass man nicht weiß woran man ist“) wird hier als Beeinträchtigung der Zusammenarbeit dargelegt („wird vom Gegenüber falsch gedeutet“) und als eine charakteristisch männliche Eigenschaft bzw. Strategie generalisiert, die letztlich darauf ziele, sich nicht „angreifbar“ zu machen oder sich „festzulegen“. Dass „klare Formulierungen“, „Greifbares“ von den Entscheidungsträgern oft trotz Nachfragen nicht vermittelt werden kann, verbreitet aus der Sicht der Frauen Unsicherheit, wird als „anstrengend“ und als Quelle von Missverständnissen und Fehlern erlebt: „da wäre manchmal eine klarere Haltung notwendig“. Der Austausch im Kreise der Kolleginnen erscheint in diesem Arbeitszusammenhang deshalb geradezu als wohltuend. Im Gespräch mit Männern allerdings, so führt eine der Frauen aus, tendiere auch sie zunehmend dazu, „in Bildern zu sprechen“, d.h. in einer Form, die nicht auf Verständigung zielt. Darüber hinaus zeichnet sich in den Augen der weiblichen Kader das männliche (Führungs-) Umfeld durch mangelnde „Offenheit“ und „Direktheit“ aus. Weder sei es zu einem Eingeständnis persönlicher Fehler bereit („Männer entschuldigen sich nie für Fehler, nie“), noch könne es Konflikte in einer aufrichtigen Art ausdiskutieren („zuerst sich streiten und dann ein Bier miteinander trinken gehen“). Die fehlende Übereinstimmung zwischen dem Sprechen und Handeln der Kollegen wird schließlich auch moniert, wenn es um die Frage der Geschlechtergleichstellung geht: Hier stehen aus Sicht der Frauen gerade auf der Ebene des Topmanagements oftmals dem ‚expliziten‘ Einsatz für spezifische Werte des Unternehmens, zu denen „offen ehrliche“ und „verbindliche“ Formen der Kommunikation und Vereinbarung gehören, unausgesprochene und diametral entgegengesetzte Überzeugungen gegenüber. So wird auch das offizielle Engagement der Unternehmensspitze im Bereich der Frauenförderung in erster Linie als Rhetorik empfunden, sodass ihm diese Frauen großes Misstrauen entgegenbringen. Grundsätzlich nämlich verfügen die Kollegen und Vorgesetzten in ihren Augen noch nicht über ein „Bewusstsein, dass das noch etwas Positives sein könnte, wenn mehr Frauen da wären“. Dafür spreche u.a., dass ihr männliches Umfeld auf spezifische Angebote der Frauenförderung mit „Eifersucht“ reagiere:
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Df: wenn das Männer wissen in der (Unternehmensname) gibt das einen kleinen Aufstand also nur die Tatsache dass Frauen jetzt an einen Internetkurs gehen durften Cf: ¬ mhmh Df: und sie Männer haben das Angebot nicht Y: mhm Df: sobald man etwas macht was spezifisch für Frauen ist dann ist wahnsinnig schnell werden die Säbel gewetzt (.) es darf nicht sein dass man etwas speziell für Frauen macht und nicht für Männer
Geht es um konkrete Maßnahmen, so wird die fehlende Integrationsbereitschaft der Kollegen aus der Sicht der Gesprächsteilnehmerinnen offensichtlich: Dann demonstrieren Männer deutlich ihr Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo. An die Stelle unausgesprochener Ablehnung trete aktive Opposition, selbst wenn „nur“ ein Weiterbildungsangebot („Internetkurs“) die bisherige Ordnung der Chancenverteilung im Betrieb bedrohte. An der Bearbeitung dieses Themas kommt somit auch in dieser Gruppe zum Ausdruck, dass sich die weiblichen Kader in ihrem männlichen Arbeitsumfeld nur mehr als geduldet wahrnehmen. Sie befinden sich in einer Welt, in der aus ihrer Sicht über Interessengegensätze und Unverständnis der Geschlechter hinweg nur wenig Vermittlungsmöglichkeiten existieren. Und sie rechnen damit, dass ihnen dieses Umfeld eine Verbesserung ihrer Situation wenn nicht mit latenten Vorbehalten, dann mit offener Gegnerschaft verwehrt.
Ein Fazit: Kulturelle Innovation durch Explikation Wie die Rekonstruktion kollektiver Orientierungen in Gruppengesprächen unter mittleren Kadern aus männer- bzw. frauengeführten Unternehmen mit Hilfe der Methode der dokumentarischen Interpretation erkennen lässt, bildet Geschlecht ein zentrales Merkmal der kulturellen Differenzierung der hier untersuchten industriellen und Dienstleistungsbetriebe. Während die Welt der Frauen und die Welt der Männer in männerdominierten Führungskontexten auch heute noch „seperate spheres“ (Bernard 1978) darstellen, so zeigt sich, dass in den von Frauen geführten Unternehmen eine Brücke über den lebensweltlichen Graben zwischen den Geschlechtern hinweg gelegt werden kann. Zum Teil ist diese Brücke auf dem Fundament eines bis heute negativ konnotierten Sonderstatus weiblicher Unternehmensführung gebaut, der wiederum auf einer noch weitestgehend selbstverständlichen Verknüpfung von Management und Maskulinität beruht (vgl. z.B. Collinson/Hearn 1996). Von dieser Außenperspektive setzt sich die Binnensicht der Kader dieser Unternehmen jedoch diametral ab, wobei die Wahrnehmung spezifischer kultureller Eigenschaften bzw. Qualitäten des Arbeitskontextes zu einer starken Bindung und positiven Identifikation mit den Unternehmen führt. Die kulturelle Exklusivität dieser Unternehmen gründet auf spezifischen Elemen-
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ten eines weiblichen Führungsstils, wie er auf der Ebene der sozialen Interaktion und Kommunikation bzw. in Worten wie „Offenheit“, „Authentizität“ oder „Echtheit“ zum Ausdruck kommt. Diese Begriffe stellen Metaphern für spezifische Umgangsformen der weiblichen Führungskräfte dar, die auch als explizites, „offenes“ Aus- und Ansprechen von Erwartungen und Haltungen bis hin zu eigenen Fehlern beschrieben werden können. Die frauengeführten Unternehmen beruhen auf einer kommunikativen Praxis der Explikation, die letztlich auf betrieblicher Ebene zu einer ‚kulturellen Klammer‘, zum Vertrauen in die Möglichkeit der Verständigung und Integration über Status- und Geschlechterdifferenzen hinweg führt. Diese Praxis, die sich nicht zuletzt in einem diskursiven Muster der ‚Streitbarkeit‘ bei den in diesen Unternehmen durchgeführten Diskussionen widerspiegelt, ist in Gruppengesprächen mit Kadern aus Unternehmen, die nur über wenig Frauen im Management verfügen, nicht zu erkennen. Besonders wenn es um Fragen der Geschlechtergleichstellung geht, herrschen hier unausgesprochene Regeln der Non-Konfrontation und des ‚Dissens‘ im lateinischen Wortsinne (s.a. Liebig/Nentwig-Gesemann 2002). Aber auch bei anderen Themen lässt der Diskurs zwischen Männern und Frauen erkennen: es mangelt den Geschlechtern schlicht am wechselseitigen, ‚intuitiven‘ Verstehen. Dieses Verstehen unterscheidet sich von einer auf Kommunikation und Interpretation beruhenden Verständigung, so hat Bohnsack (1997c) in Anlehnung an Mannheim dargelegt, durch seine Verankerung in geteilter Geschichte und dem gemeinsamen Handeln. In männerdominierten Unternehmen fehlt Frauen nicht nur der Anschluss an diese Traditionen, es mangelt ihnen überdies oft an sozialen Kontakten, die ihnen erklärend einen Zugang zur „tacit dimension“ (Polanyi) dieser Unternehmen eröffnen könnten. So bleiben ihnen die unausgesprochenen Erwartungen und Überzeugungen ihrer Kollegen und Vorgesetzten, die unhinterfragten Regeln ihres Verhaltens und ihrer Umgangsformen verborgen. An die Stelle von Integration tritt der stete Kampf gegen die Übermacht des Impliziten, welche zutiefst die Abläufe und Funktionsweisen dieser traditionell männlichen Arbeitskontexte bestimmt. Die Studie macht überdies deutlich, dass sich die in weiblich geführten Unternehmen beobachtbare Sorgfalt in der Explikation ‚stummer‘ Gesten und ‚stillschweigender‘ Übereinkommen keineswegs auf differenztheoretische Annahmen zurückführen lässt, wie sie aktuell noch oft dem Argument der ‚soft qualities‘ oder ‚soft skills‘ von Frauen zugrunde gelegt werden. Vielmehr sind sie Ausdruck der spezifischen Situation weiblicher Führungskräfte, die heute in der Regel nicht an eine Geschichte geteilter Alltagserfahrung mit Kolleginnen und insbesondere auch Kollegen anknüpfen können. Besonders in einem männlichen Arbeits- und Führungsumfeld sind sie gefordert, das hier vielfach metaphorisch und symbolisch vermittelte, implizite Erfahrungswissen sprachlich und konzeptuell zu artikulieren. In diesem Sinne sind weibliche
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Vorgesetzte, wie es auch Ursula Müller (1999) andeutet, „aus der Logik der Situation“ heraus kulturell innovativ. Als Fremde in einer männlichen Welt des Managements bringen sie dabei jene neuen Verhaltensstile in Unternehmen ein, die im Rahmen moderner wissenstheoretischer Ansätze in der Organisations- und Managementtheorie als ‚explizites Kommunizieren‘ und als Grundlage einer erfolgreichen Wissensschöpfung in Unternehmen betrachtet werden (vgl. Nonaka/Takeuchi 1995, Folini/Scheidegger 2003). Somit besteht zumindest die Hoffnung, dass Frauen im Rahmen einer grundsätzlichen kulturellen Neuorientierung der Unternehmenswelt nicht nur innovativ wirken, sondern auch davon profitieren können. Über die Bedeutung des ‚tacit knowledge‘ für die kulturelle Integration oder Differenzierung in den Betrieben hinaus legt die hier vorgestellte empirische Studie schließlich dar, dass die wissenssoziologische Interpretation, die sich dieses ‚Wissen‘ zum Gegenstand macht, als ein wertvolles Instrument der Organisationskulturforschung betrachtet werden kann.
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Eva Breitenbach
Sozialisation und Konstruktion von Geschlecht und Jugend. Empirischer Konstruktivismus und dokumentarische Methode
In diesem Beitrag entfalte ich eine Perspektive der Geschlechter- und Jugendforschung, welche eine Verbindung konstruktivistischer und sozialisationstheoretischer Zugänge leistet. Methodologisch stütze ich mich dabei auf die dokumentarische Methode. Der hier vorgestellte Ansatz wurde in einem Jugendforschungsprojekt über Gleichaltrigenbeziehungen ausgearbeitet und wird im Folgenden in diesem Forschungskontext dargestellt.1 Dabei liegt der Schwerpunkt auf der weiblichen Adoleszenz. In unserer Forschung kommen konstruktivistische Ansätze in zwei Dimensionen zum Tragen:2 Erstens – und das war der theoretische Ausgangspunkt des Projekts – als eine Theorie des Geschlechts. Dieser theoretische Zugang wurde im Verlauf unserer Arbeit dann zunehmend auf die Auseinandersetzung mit dem Phänomen ‚Jugend‘ übertragen. Dabei verbinden wir konstruktivistische Konzeptionen von Geschlecht und von Jugend mit biographisch entwickelten und geformten Erfahrungen und Orientierungen, die wir als Sozialisationsprozesse fassen. Sozialisationstheorie ist ungeachtet der aktuellen kritischen Debatte um die Sozialisation weiterhin ein geeigneter 1
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Das von der Autorin geleitete DFG-Forschungsprojekt mit dem Titel „Ausgestaltung und Bedeutung der Beziehungen zu Gleichaltrigen des eigenen und des anderen Geschlechts in der Adoleszenz“ wurde von 1996 bis 2000 an der Universität Osnabrück durchgeführt. Wissenschaftliche Mitarbeiterin war Sabine Kausträter. Konstruktivismus ist ein schillernder Begriff, eine Sammelbezeichnung für widersprüchliche theoretische und methodologische Ansätze und Überlegungen. Die konstruktivistische Basisannahme, dass Erkenntnisse vom Erkennenden abhängen, dass sie Interpretationen der Wirklichkeit sind und deshalb keine Übereinstimmung von Theorie und Wirklichkeit oder Aussage und Sachverhalt behauptet werden kann, ist darüber hinaus keineswegs auf den Konstruktivismus beschränkt, sondern gehört zum Grundbestand wissenschaftlichen Denkens. Konstruktivistische Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese Einschränkung der Geltung von wissenschaftlichen Aussagen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellen und gleichzeitig die Konzeption einer „objektiven“ Wirklichkeit verwerfen (vgl. von Glasersfeld 1997; 1998). „Statt des Sehens (wie sowohl in der aprioristischen als auch in der empiristischen Tradition der Erkenntnistheorie) präferiert der Konstruktivismus das Tasten (Herv. i. Orig.) als Metapher der Wissensgewinnung“ (Herzog 1998, 531).
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Rahmen für diese Verbindung (vgl. Zinnecker 2000). Die zweite Dimension besteht in einer empirischen Haltung und Vorgehensweise, die die eigenen Begriffe und Konzepte wie auch die der Forschungssubjekte in der empirischen Arbeit selbst neu konstruiert. Hier ist das konstruktivistische „Tasten“ (Herzog 1998, 531) eine Suchstrategie, die den Forschungsprozess zu einem ungewissen Ausgang öffnet. In dieser Dimension liegt auch ein spielerisches Element. So spricht Karin Knorr-Cetina von Tanz und Choreographie: „Der Konstruktivismus untersucht, wie soziale Gruppierungen sich selbst choreographieren und ihre Choreographien tanzen“ (1989, 93). Konstruktivistische Analysen stellen „Choreographien von Choreographien“ dar (ebd., 94). Die theoretische und vor allem empirische Faszination einer Auflösung der Kategorien Geschlecht und Jugend liegt darin, hinter das selbstverständliche Wissen um Geschlecht und Lebensalter, hinter die theoretischen und begrifflichen Voraussetzungen zurückzutreten. Diese Konzeption sieht vor, quasi zu vergessen, was Mädchen und Jungen, Männer und Frauen sind und sich stattdessen auf die Frage zu konzentrieren, wie und auf welche Weise Subjekte auf die entsprechenden Muster von Geschlecht und von Jugend zurückgreifen, wie sie sie darstellen, in welchen Kontexten sie relevant werden und wie sie sich miteinander und mit anderen Kategorien verbinden. Unsere Aufmerksamkeit richtete sich zunächst auf die Bedeutung des Geschlechts. Wie strukturiert das Geschlecht Beziehungen und wie wird innerhalb und durch Beziehungen das Geschlecht konstruiert? Im Verlauf der Forschung erweiterte sich der konstruktivistische Blick auf die Adoleszenz selbst und in der Folge auf die Peergroup. Wir haben also auch danach gefragt, wie Jugend innerhalb und durch Beziehungen zu Gleichaltrigen wahrgenommen und dargestellt, konstruiert wird, und zwar in enger Verbindung mit dem Geschlecht. Denn die jugendliche Praxis strukturiert und konstituiert das Geschlecht, und die Geschlechtszugehörigkeit strukturiert und konstituiert die jugendliche Praxis. Im Folgenden erläutere ich zunächst den methodischen und den theoretischen Ansatz der Forschung. Danach gehe ich auf die Ergebnisse zu Mädchenfreundschaften und zur weiblichen Adoleszenz ein und erläutere sie an zwei Passagen aus Mädchengruppen. Dabei möchte ich insbesondere zeigen, dass die Darstellungsprozesse jugendlicher Weiblichkeit von intensiven Gefühlen – positiven wie negativen – begleitet sein können und dass sie teilweise zunächst mit einem zutiefst verstörenden Erleben verbunden sind.
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1. Dokumentarische Methode und empirischer Konstruktivismus Gegenstand des Projekts waren insbesondere freundschaftliche Beziehungen in Mädchen- und Jungengruppen. Untersucht wurden die Praxis von Freundschaften und die in den Gruppen entwickelten kollektiven Orientierungen (vgl. Bohnsack 1989), die jugendlichen Beziehungskulturen. Thema der Forschung waren ebenfalls die verschiedenen Organisationsformen und Funktionen der Peergroups sowohl als Unterstützungssysteme als auch als Orte sozialer Kontrolle. Die zentralen theoretischen Konzepte von „Jugend“, „Geschlecht“ und „Beziehungen zwischen Gleichaltrigen“ entwickelten und veränderten sich im Forschungsprozess in der Interaktion von empirischer Arbeit und theoretischen Überlegungen. Gleichzeitig veränderte sich damit das Projektdesign und unsere spezifische Lesart und Anwendung der dokumentarischen Methode. Insofern lässt sich der Forschungsprozess insgesamt als (re)konstruktiv kennzeichnen (vgl. Bohnsack 2000a). Die dokumentarische Interpretation von Gruppendiskussionen ist darauf angelegt, kollektive Praktiken und Orientierungen der Gruppen zu rekonstruieren bzw. streng genommen zu konstruieren. Sie zielt darauf, systematische Verbindungen zwischen konjunktiven Erfahrungsräumen der untersuchten Gruppen und ihren kollektiven Orientierungen bzw. ihrer Handlungspraxis zu ziehen. Dabei werden die unterschiedlichen kulturellen Sphären in ihrer Mehrdimensionalität und wechselseitigen Durchdringung analysiert (vgl. Bohnsack 2001a). Die Analyse bezieht sich zunächst stärker auf biographische und auf Sozialisationsprozesse als auf Prozesse der erzählten und in der Interviewsituation inszenierten geschlechtlichen und jugendlichen Selbstdarstellung von Personen und Gruppen. Beide Arten von Prozessen sind miteinander verknüpft (vgl. ebd.). Die genetische Analyseeinstellung, die mit der dokumentarischen Methode verbunden ist, lässt sich dadurch kennzeichnen, dass sie nicht danach fragt, was kulturelle oder soziale Tatsachen sind, sondern danach, wie sie als kulturelle oder soziale Tatsachen hergestellt werden und Geltung erhalten (vgl. Bohnsack 2001c). Mit einem solchen empirischen Zugriff, der die konstruktivistische Perspektive betont, lassen sich Geschlecht und Jugend als Darstellungs- und als Existenzweise begreifen. Indem sich im Rahmen der dokumentarischen Methode die Aufmerksamkeit auch auf Darstellungsprozesse richtet, wird insofern eine Wendung in die Forschung eingeführt, als kollektive Praktiken und Orientierungen, wie sie aus der gemeinsamen Erfahrungsschichtung entstehen, um die Praktiken der Wahrnehmung und vor allem Darstellung von Geschlecht und von Ju-
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gend erweitert werden. In der empirischen Analyse werden die inhaltlichen Verknüpfungen herausgearbeitet. Wir haben unsere Forschung zunächst stärker auf Einzelfalldarstellungen, auf ausführliche Fallgeschichten konzentriert und weniger auf eine Form der komparativen Analyse, die von Anfang an auf die Erstellung einer Typologie fokussiert ist.3 Die Darstellung und Inszenierung von Geschlecht und von Jugend benötigt erzählerischen Raum. Die Ausbreitung des Materials hinsichtlich mehrerer Themen und Dimensionen machte es uns möglich, einerseits biographisch entwickelte und/oder durch gemeinsame Erfahrungen oder Aushandlungen entstandene Orientierungen und Praktiken, andererseits die Darstellungen und Inszenierungen des Geschlechts und der Jugendlichkeit zu analysieren und darzustellen.
2. „Doing Gender“ und „Doing Adolescence“ Durch die Verbindung einer konstruktivistischen Auffassung von Geschlecht mit einer Konzeption von Sozialisation werden zwei widersprüchliche Denkfiguren miteinander verknüpft. Auf der einen Seite stehen die tendenziell über einen längeren Zeitraum angelegten, lebensgeschichtlichen Beschreibungen von (Sozialisations-) Erfahrungen, die das Subjekt formen bzw. innerhalb derer es sich selbst formt, eine Identität oder zumindest biographische Kontinuität gewinnt. Die Geschlechtszugehörigkeit ist in dieser Perspektive eine zwar kulturell und sozial hergestellte, aber individuell stabile Größe. Auf der anderen Seite stehen die situativen und interaktiven Beschreibungen von Wahrnehmungs- und Darstellungsprozessen der Geschlechtszugehörigkeit und von Praktiken der Geschlechterunterscheidung, pointiert gefasst in der griffigen Formel des „doing gender“ (West/Zimmerman 1987) und inzwischen erweitert zu „doing difference“ (West/Fenstermaker 1995). Geschlecht als eine ausschließlich soziale Konstruktion ist nicht etwas, das man unwiderruflich hat, sondern alltäglich tut. Es wird situativ und interaktiv inszeniert, es wird situativ und interaktiv thematisch oder auch nicht, und es nimmt damit auch für eine Person vielfältige Ausdrucks- und Erlebensformen an.4 Hier werden Geschlecht und Person entknüpft und das 3 4
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Vgl. Bohnsack 1989 sowie in diesem Band die Beiträge von Bohnsack, Nentwig-Gesemann, Fritzsche und Nohl. Sedef Gümen (1998) weist jedoch darauf hin, dass sich auch in den Theoriesträngen, die die interaktive Herstellung des Geschlechts thematisieren, quasi unter der Hand die Geschlechterdifferenz als zentrale Differenz durchsetze und andere Formen der Differenz zum Besonderen vor diesem Allgemeinen werden. Die Ansprüche nach Pluralisierung von Differenzen und nach Kontextualisierung der Kategorie Geschlecht als einer grundlegend im Sozialen eingebundenen Kategorie würden damit unterlaufen.
Geschlecht als eine in ihren Bedeutungen und in ihrem Stellenwert verlässliche Größe aufgelöst. Dieselben Denkfiguren lassen sich hinsichtlich der Konzeption von Jugend entwickeln. Jugend ist weder als Personengruppe noch als Lebensphase oder als gesellschaftliche Institution eindeutig und einheitlich zu erfassen. Die Vorstellung einer Jugendphase als eigenständigem und abgrenzbarem Lebensabschnitt erodiert von den ‚Rändern‘ her, dem zunehmend weniger festgefügten Anfang und vor allem Ende der Jugendphase. Jugendliche Mitglieder schillernder Subkulturen, Jugendliche verschiedener ethnischer Herkunft und Zugehörigkeit und unterschiedlichster sozialer und ökonomischer Lage sind zudem zunehmend schwerer zu beschreiben als eine Gruppe mit tragfähigen Gemeinsamkeiten. Auf der anderen Seite stehen Jugendlichen heute erhebliche zeitliche, materielle und kulturelle Ressourcen zur Verfügung, um Jugend in Abgrenzung von Kindheit und Erwachsenenalter darzustellen. Wie sich Jugend für Jugendliche letztendlich ausgestaltet, dokumentiert sich in den Beschreibungen von Jugendlichen und wird erst in der Analyse begrifflich fassbar. Als regulative Idee kommt in der Jugendforschung nach wie vor die Konzeption von Jugend als Moratorium und damit als Phase der Suchbewegungen, des Experiments und der Entwicklung von Kompetenzen zum Tragen.5 Alle drei Dimensionen beziehen sich sowohl auf die Jugendphase selbst als auch auf das zukünftige erwachsene Leben. Jugend muss jedoch ebenso wie Geschlecht und in Zusammenhang damit überzeugend dargestellt und überzeugend wahrgenommen werden. Diese Konstruktion von Jugend ist noch nicht in derselben empirischen Genauigkeit erforscht und auch nicht in gleicher Weise theoretisiert wie die des Geschlechts. Die Aussagen über die Konstruktionsprozesse des Geschlechts lassen sich mit einer gewissen Plausibilität gewissermaßen „probehalber“ auf die Konstruktionsprozesse von Jugendlichkeit übertragen bzw. damit verbinden. 5
Die Konzeption der Jugend als Moratorium geht auf Erik Erikson (z.B. 1997) zurück und wird bis heute in allen ihren Variationen mit ihm in Verbindung gebracht, zustimmend oder distanzierend, entweder inhaltlich oder zumindest als pflichtschuldige Fußnote. Erikson hat eine Theorie der Entwicklung in der Lebensspanne entwickelt, wobei in jeder Lebensphase ein bestimmtes Thema in den Vordergrund rückt, nicht aber einzig in einer Lebensphase überhaupt auftritt. Er konstituiert die jeweilige Thematik als ein Spannungsfeld zwischen zwei Polaritäten und damit als potenziell krisenhaft. Die Jugendphase konzipiert er als Krise zwischen Identität und Identitätsdiffusion und als eine Phase, die es, verkürzt gesagt, dem (männlichen, bürgerlichen) Individuum gestattet, diverse Identitäten auszuprobieren, um schließlich die richtige zu finden und sozial bestätigt zu sehen. Mit diesem Spielraum ist eine Abweichung von der Norm in die Normalität der Jugendphase integriert. Wie Bohnsack/Nohl (2001a) in einer empirischen Analyse zu männlichen Jugendlichen gezeigt haben, können sich in diesem Moratorium „Aktionismen“, d.h. ausgeprägt spontane, kollektive Handlungspraktiken entfalten. Dabei werden nicht nur gesellschaftliche Vorkehrungen für ein Moratorium genutzt, sondern diese zum Teil von den Jugendlichen selbst geschaffen.
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So lässt sich das Aufsuchen und Inszenieren jugendlicher Räume – z.B. einer Party – als zentrale jugendliche Praxis betrachten. Jugendliche Räume aufzusuchen und zu inszenieren ist nun nicht nur etwas, was die Jugendlichen tun, weil es ihren jugendlichen Bedürfnissen entspricht, sondern sie tun dies auch, um Jugendliche zu sein, um sich adäquat als solche darzustellen. Ein jugendlich codierter Raum ist auch die Peergroup selbst. Die Zugehörigkeit zu einer Clique, in welcher Form auch immer, gehört inzwischen zum Modell angemessenen jugendlichen Lebens. Diese Perspektive wird auch und gerade von der Jugendforschung transportiert. Insofern ist die Zugehörigkeit zu einer Gleichaltrigengruppe eine erfolgreiche Möglichkeit, Jugendlichkeit überzeugend darzustellen.
3. Mädchenfreundschaften in der Adoleszenz Die Grundlage für die Rekonstruktion einer weiblichen Beziehungskultur war die Erforschung von Mädchenfreundschaften bei elf- bis achtzehnjährigen Mädchen, vorwiegend Gymnasiastinnen (vgl. Breitenbach 2000). Die Mädchenfreundschaft hat hier einen außerordentlich hohen Stellenwert. Die Beziehung zur Freundin ist ein Modell für die „gute Beziehung“, an der später möglicherweise der heterosexuelle Beziehungspartner gemessen wird. Die Gruppen verfügen über eine entfaltete Gesprächs- und Streitkultur und über einen gemeinsamen Humor. Eine wichtige Praxis stellt das offene und vertrauensvolle Gespräch dar, das prinzipiell kein Thema ausschließt und dessen intime Inhalte strikt vertraulich behandelt werden. Die Offenheit und Vertraulichkeit der Kommunikation wird gleichzeitig als die Grundlage und zentrale Dimension von Freundschaft überhaupt betrachtet. Eine wichtige Aufgabe der Mädchengruppe besteht darin, angemessene Darstellungen von Weiblichkeit zu entwickeln und immer wieder zu überprüfen und zu verändern. Ebenfalls kann die Mädchengruppe selbst dazu dienen, jugendliche Weiblichkeit darzustellen. Insbesondere hinsichtlich der Kontakte zum anderen Geschlecht zeigt sich ihre Funktion als „Arbeitsraum“ zur Einübung heterosexueller Umgangsformen. Von den ersten Kontakten am Beginn der Adoleszenz an ist die Mädchengruppe eine unentbehrliche Begleiterin, eine Art Supervisionsgruppe der heterosexuellen Erfahrungen. Mädchen erarbeiten den adäquaten Umgang mit Jungen untereinander in der Mädchengruppe, einschließlich der Entwicklung einer angemessenen sexuellen Praxis. Als eine fast durchgängige Orientierung kann die Vorstellung einer bestimmten Abfolge sexueller Handlungen, eines sexuellen „Programms“ angesehen werden, das in der Regel während der Adoleszenz bewältigt werden soll. Den Anfang bildet der Kuss als ritueller Einstieg in die Sexualität.
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Die weiblichen Peergroups spielen eine zentrale Rolle dabei, Anforderungen und Probleme des Heranwachsens ebenso wie den jugendlichen Alltag zu bewältigen (vgl. auch Fend 2000). Sie bieten Unterstützung und Orientierung. Sie sind „als der soziale Ort anzusehen, an dem genuin jugendliche Orientierungen innerhalb und in Auseinandersetzung mit der Gesellschaft zur Entfaltung und zur Artikulation gelangen“ (Bohnsack 1989, 10). Indem in den Gruppen ein verbindlicher Orientierungsrahmen etabliert wird, fungieren sie auch als Kontrollinstanzen, die von ihren Mitgliedern Anpassungsleistungen verlangen und durchaus auch gesellschaftliche Normierungen durchsetzen. (Ein besonderes Kennzeichen dieser Gruppen ist jedoch andererseits ihre Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Werte zu reflektieren, in Frage zu stellen und vom Gruppenrahmen abweichende Praktiken und Orientierungen soweit als möglich zu integrieren.) Auch die komplizierten Prozesse der Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit und von Jugendlichkeit werden von Freundinnen und Freunden und der Gleichaltrigengruppe einerseits unterstützt, andererseits aber auch kontrolliert. Diese Prozesse werden teilweise unter erheblichem sozialen Druck und mit schmerzhaften persönlichen Anstrengungen zunächst situativ und interaktiv inszeniert und erst allmählich habitualisiert, wobei sich das Bewusstsein der Anstrengungen und Kosten verliert.6 Im Folgenden stelle ich zwei Fallbeispiele vor, und zwar zwei Passagen aus Gruppendiskussionen. In der ersten Passage aus einer Gruppendiskussion mit zwei sechzehnjährigen Mädchen geht es um die jugendliche und weibliche Selbstdarstellung, die vor dem Gegenhorizont des anderen Geschlechts und vor dem Gegenhorizont einer anderen Altersgruppe entfaltet wird. Die zweite Gruppe besteht aus vier dreizehnjährigen Mädchen. Gegenstand der Gesprächspassagen ist die Einübung heterosexueller Praktiken.
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Neben der hier dargestellten kommunikativen Beziehungskultur ließen sich in der weiteren Forschung mit Mädchen- und Jungengruppen noch zwei weitere Typen unterscheiden, nämlich eine aktionistische und eine zielorientierte Beziehungskultur (vgl. Breitenbach 2007). Diese drei Beziehungskulturen sind durch ihre je spezifische Praxis und Orientierung gekennzeichnet. Darüber hinaus lassen sie sich mit geschlechtstypischen, schulmilieutypischen und familientypischen Erfahrungshintergründen verbinden. Dabei zeigte die empirische Analyse, dass die Geschlechtszugehörigkeit lediglich bei der kommunikativen Beziehungskultur eine so entscheidende Rolle spielt, dass von einer Geschlechtstypik gesprochen werden kann. Bei aktionistischen und zielorientierten Beziehungskulturen hat die Geschlechtszugehörigkeit einen sehr viel geringeren Stellenwert. Sie ist lediglich bei der Entfaltung bestimmter aktionistischer Praktiken bzw. einer bestimmten Zielorientierung von Bedeutung. Die Performance der verschiedenen Praktiken orientiert sich häufig entlang geschlechtsbezogener Vorstellungen und Muster von Männlichkeit und Weiblichkeit - oder in Abgrenzung zu diesen. Dieser Befund verhindert die vorschnelle Verallgemeinerung von einer geschlechtstypischen weiblichen kommunikativen Freundschaftskultur auf alle Formen weiblicher jugendlicher Freundschaften oder Freundschaften insgesamt.
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Telefonieren und die Geschlechter- und Generations- bzw. Altersdifferenz Paula und Ruth sind enge Freundinnen. Zunächst haben sie sich zusammengeschlossen, weil sie beide nicht zu den ihre Schulklasse dominierenden Cliquen gehörten und gehören wollten. Daraus entwickelte sich eine intensive und exklusive Freundschaft. Beide Mädchen legen Wert darauf, Individualistinnen und „anders“ als die meisten Jugendlichen zu sein: Sie distanzieren sich entschieden von Praktiken und Orientierungen, die sie für typisch jugendlich oder typisch weiblich halten. In der ausgewählten Passage erzählen Paula und Ruth mit spürbarem Genuss drei Geschichten über das „Telefonieren“, von denen hier die erste und die dritte in Auszügen präsentiert wird. Paula: (...) Paula:
(...) Paula:
Ruth: Paula:
und dann gerade, wenn, da regt sich Papa immer so drüber auf, da haben wir uns dann gerade in der Schule gesehen, möglichst noch nachmittags und abends telefonieren wir schon wieder miteinander, aber, das ist einfach so ich habe jetzt auch mehr mitgekriegt, dass Jungs oder auch Klaus (Paulas älterer Bruder, Anm. E. B.) jetzt gerade, selbst ihrem besten Freund, die erzählen sich ganz viele Sachen nicht, auch nicht so, wirklich so seelische Sachen, erzählen die sich überhaupt nicht die sagen immer, in zehn Minuten ist alles gesagt, die besprechen am Telefon immer nur Sachen, die irgendwie planungsmäßig wichtig sind oder erzählen sich einfach ganz kurz, wie ‘ne Party war, aber nicht, wie, also, die erzählen sich überhaupt nichts, auch, zum Beispiel mein Cousin oder so, der hat immer behauptet, man könne nicht länger als zehn Minuten telefonieren und kaum hatte er ‘ne Freundin, fing er an, die, die ‘ne Freundin haben, fangen dann auch an, zu telefonieren, aber sonst, dass die so miteinander telefonieren, aber, die erzählen sich auch nicht so viel ja, das stimmt für die ist der beste Freund auch was ganz anderes, auch
Die erste Geschichte beginnt mit einem wiederkehrenden Streit zwischen Paula und ihrem Vater, wenn die beiden Mädchen nachmittags lange miteinander telefonieren, obwohl sie sich vormittags in der Schule gesehen haben. Häufig dauern ihre Telefongespräche bis zu zwei Stunden und sind teuer. Der Streit kreist aber weniger um die Telefonkosten als um den Sinn der Telefonate. Gerade das Bedürfnis der Mädchen, möglichst oft zusammen zu sein und sich auszutauschen (und sei es am Telefon), ist für Paulas Vater völlig unverständlich und lässt ihn gereizt reagieren. Er wird in zwei Dimensionen zu einem negativen Gegenhorizont, vor dem Ruth und Paula sich als junge Frauen darstellen, nämlich erstens als Repräsentant einer anderen Generation oder eines anderen Alters und zweitens als Repräsentant des anderen Geschlechts. Diese Konstruktion wird im Folgenden weiter konkretisiert und ergänzt. Ausgehend von Paulas Bruder und seinem Freund untersuchen Paula und Ruth das unterschiedliche Telefonierverhalten von Jungen und Mädchen. 174
Jungen erzählen nichts, schon gar keine „seelischen Sachen“, wie sie Freundinnen austauschen, sie besprechen lediglich kurz Pläne. Ruth und Paula gehen gleichzeitig davon aus, dass Mädchen so telefonieren wie sie, dass es sich also um ein geschlechtsspezifisches Muster handelt. Eine Bestätigung findet diese These darin, dass Jungen erst mit ihrer Freundin willens und fähig werden, am Telefon eine andere – der weiblichen ähnliche – Art von Kommunikation zu entwickeln. Die heterosexuelle Beziehung führt Jungen aus ihrer Sprachlosigkeit hinaus. Die Konklusion dieses Teils – „für die ist der beste Freund was ganz anderes auch“ – spitzt zu und fasst zusammen, wofür die unterschiedlichen Kommunikationsformen stehen, nämlich für völlig unterschiedliche Arten, Freundschaft (und Beziehung überhaupt) aufzufassen und zu leben. Im Gegensatz zur Jungenfreundschaft stellt sich die Mädchenfreundschaft als eine Beziehung dar, die auf beständiger Kommunikation und auf seelischem Austausch beruht: Gespräch, Emotionalität und Intimität versus karger Schweigsamkeit und dem „Planungsmäßigen“. Implizit wird damit gleichzeitig gesagt, dass die Personen, Mädchen und Jungen, die so unterschiedliche bzw. gegensätzliche Beziehungen leben, auch unterschiedlich bzw. gegensätzlich sind. Paula und Ruth greifen ebenso auf Geschlechterstereotype zurück wie auf eine weibliche Gesprächskultur, von der sie beeinflusst sind und die ein Teil ihrer Lebensweise ist. Gleichzeitig dient ihnen dieser Rückgriff zur Selbstdarstellung als Freundinnen und als Mädchen im Gegensatz zu Jungen. Im dritten Teil der Geschichte geht es um die Mütter der beiden Mädchen, zunächst um die Mutter von Paula und dann um die Mutter von Ruth. Ruth: Paula: (...) Paula:
ihre Mutter warnt auch immer schon, bevor sie mich irgendwo hinstellt ja, immer wenn sie dran ist, „Ruth, telefoniert jetzt aber nicht zu lange“, und dann stellt sie das erst zu mir das ist bei ihr auch so, ihre Mutter interessiert das auch immer sehr, was man so am Telefon, dann fragen die natürlich auch immer jedes Mal oder relativ oft, wenn man dann aufgelegt hat, „was erzählt ihr euch eigentlich immer so lange“? (.) Das wollen die auch immer sehr genau wissen, was man sich eigentlich erzählt, aber das müssen die überhaupt nicht wissen, das erzähle ich denen doch nicht, vor allem, ganz oft erzählen wir uns auch nur irgendwie, oder schweigen wir auch am Telefon, das kostet bloß immer so viel @(.)@ das ist aber schon trotzdem, irgendwie, wenn man sich so unterhält, dann sagt man mal irgendwie eine halbe Minute gar nichts, und dann erzählt man sich wieder was, da geht es irgendwie nicht darum, dass man nur irgendwelche Informationen austauscht, das ist auch so, oder irgendwelchen komischen Kram, über den wir uns unterhalten, der eigentlich ziemlich unwichtig ist
Ebenso wie Paulas Vater möchte auch ihre Mutter zu lange Telefonate verhindern. Sie reagiert aber nicht gereizt, sondern versucht eher, durch einen Appell Konflikte zu vermeiden. Mit ihrem Verhalten distanziert sie sich von Ruth und Paula. Dass sie einer anderen Generation – der Elterngeneration –
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angehört7, wiegt schwerer als ihre Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht. Im Folgenden geht die Distanzierungsbewegung von den beiden Mädchen aus. Ruths Mutter ist ebenso wie die Mutter von Paula interessiert an den Telefonaten der Mädchen. Beide möchten an der Intensität und Exklusivität der Beziehung teilhaben, sie werden jedoch bewusst und deutlich ausgeschlossen. Aber selbst wenn sie zuhören dürften oder etwas von den Gesprächen erfahren würden, würde sie das ihren Töchtern nicht näher bringen, denn die Inhaltsebene ist nicht die entscheidende. Die Freundinnen schweigen manchmal oder erzählen „komischen Kram“, der „eigentlich ziemlich unwichtig“ ist. Die Beziehung selber hat eine besondere Qualität, die sich nicht an der verbalen Kommunikation festmachen lässt. Diese Qualität zeigt sich auch darin, dass sie nicht mitteilbar ist und dass Außenstehende sie nicht nachvollziehen können. Hier geht es nicht um die Geschlechtszugehörigkeit, sondern um die Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen bzw. Altersgruppen (Jugendliche versus Erwachsene). Obwohl die Mütter beide Frauen sind, können sie ebenso wie Paulas Vater und wie gleichaltrige Jungen die Beziehung zwischen den Mädchen nicht nachvollziehen. Das bedeutet auch, dass sie diese Beziehung nicht kontrollieren können. Paula und Ruth können sich als Jugendliche darstellen, indem sie ein für erwachsene Maßstäbe sinnloses und unvernünftiges Verhalten kultivieren, und sie können gleichzeitig ihre Beziehung vor dem Zugriff Erwachsener bewahren.
Einarbeiten in die heterosexuelle Praxis Die vier Mädchen dieser Gruppe sind Schulfreundinnen. Elsa, Anna und Clara besuchen die Realschule, Doris geht zum Gymnasium. Während des Gesprächs stellt sich heraus, dass sowohl Doris als auch Elsa zum ersten Mal einen Freund haben. Gefragt nach den gemeinsamen Unternehmungen mit ihren Freunden, leitet zunächst Doris das Thema „Küssen“ ein. Es entspinnt sich eine lange und lebhafte Debatte, die hier in Ausschnitten wiedergeben wird. Elsa: Doris: Elsa: Anna: Doris: Anna: (...) Anna: 7
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das ist das Thema! weil ihr Freund sie knutschen will, aber sie weiß nicht, wie es geht, richtig? ja, der will unbedingt einen Zungenkuss machen, aber, ich weiß nicht, ich habe da irgendwie Schiss vor, dass ich was falsch mache hatte ich auch hast du schon mal? Ja, klar mit Heiner, hundert mal
Zentral für meine Unterscheidung von Eltern- und Kindergeneration ist die Altersdifferenz und ihre Bedeutung für das ‚doing adolescence‘. Für eine Untersuchung von Generationen im Mannheim’schen Sinne vgl. den Beitrag von Schäffer i. d. Band.
Doris unterstützt ihre Freundin Elsa, indem sie für sie formuliert, worum es zur Zeit in der Beziehung zu ihrem Freund Fabian geht. Er will „unbedingt einen Zungenkuss“, doch Elsa hat Angst, dass sie etwas falsch macht. Anna weist sich nun als Expertin aus, denn sie hat schon „hundert Mal“ geküsst. Anna beginnt nun von ihren positiven Erfahrungen zu erzählen, doch sie wird sowohl von der Interviewerin als auch von ihren Freundinnen aufgefordert, von ihrem ersten Kuss zu berichten. Anna: (...) Elsa: Anna: Elsa: Anna: I2: Anna: Elsa: Anna: I2: Anna:
ja. Das ist, ja, ja, das ist so ein komisches Gefühl, erst so ekelig ((prustendes Gelächter8)) Ja. Und dann kommt auf einmal so was eklig Feuchtes, Nasses in deinen Mund nein, aber was hast du gemacht, wo er seine Zunge in deinen Mund gesteckt hat? gar nichts, ich habe mich so erschrocken, ich weiß nicht, das war irgendwie so ein Schock, da habe ich überhaupt nichts gemacht Und er fand das aber ganz gut, dass du nichts gemacht hast, oder was Ich weiß nicht. Bei Heiner, da habe ich wohl was gemacht, aber sonst Ja, was denn, das interessiert uns na ja, also, zuerst, also bei Heiner habe ich erst nicht so richtig den Mund aufbekommen, aber hinterher, oh nein, ist das peinlich hinterher hast du deine Zunge in seinen Mund gesteckt ja, genau. Und dann bewegt man die dann so, ne So umeinander rum ja, so in der Art und dann schleudert man die so rum und so in der Art dann
Annas erste Erfahrung überwältigt und erschreckt sie. Elsa zeigt sich von der schockierenden Erfahrung der Freundin nicht beeindruckt. Sie versucht vielmehr, weitere Informationen über das Erlernen eines Zungenkusses zu erhalten. Die Gefühle der Freundin spielen keine Rolle, wichtig ist, dass sie es dem Jungen recht machen kann. Elsa fragt nach konkreten Handlungsschritten. Anna gibt sich Mühe und wendet sich ihren positiven sexuellen Erfahrungen zu. Bei Heiner habe sie die Küsse sehr wohl aktiv mitgestaltet. Bei der Beschreibung der sexuellen Eigenaktivität unterbricht sie sich, da es ihr „peinlich“ ist. Elsa bleibt jedoch dabei, dass sie Handlungsanweisungen erhalten will, zu denen Anna sich dann hinreißen lässt. Das Thema „Zungenkuss“ ist also noch nicht abgeschlossen. I2: Elsa: Anna: Elsa: Anna: Elsa: Anna:
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meinst du denn, dass er weiß, wie das geht oder meinst du, der steht da genau so ratlos vor, wie du? Ich schätze auch, dass der ratlos ist, aber man hört ja, wie es geht und irgendwie außerdem wenn du es gerade machst, dann kommt das irgendwie alles automatisch ja, alle sagen, das kommt von selber, ich kann mir das nicht vorstellen doch, ist aber so
Der hier folgende Gesprächsabschnitt ist, wie die meisten unserer Passagen über Sexualität, von Gelächter und Gekicher untermalt.
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Clara: Anna: Elsa: Clara: Doris: Elsa: Clara: (...) Anna: Elsa: Anna: Elsa: Anna:
ich stell’ mir das ( ) man macht den Mund auf, steckt die Zunge rein und dann bewegt man die ja, das ist eigentlich alles ja, aber du kannst die andere Zunge dabei nicht bedenken doch, die macht das gleiche und wenn die sich nicht treffen? Genau, und wenn die sich nicht treffen, schleudert man die dann da im anderen Mund rum oder was? Ja Dann musst du halt die andere Zunge suchen wahrscheinlich ( ) nee, aber wenn, wenn man den richtig mag, dann kommt das hinterher von selber ich mag ihn ja richtig ja, dann kommt das hinterher von selber
Anna besteht darauf, dass sich das Problem des Küssens bewältigen ließe, denn erstens besitzt man Vorinformationen und zweitens „kommt das irgendwie automatisch“, wenn man es tut. Elsa kann sich jedoch nicht vertrauensvoll ihren Erlebnissen überlassen. Dass auch der Junge, der sie küssen möchte, nicht über sexuelle Erfahrungen verfügt, löst weder ihr Problem, noch wird es dadurch verstärkt. Das richtige Küssen kann sie nicht in der Beziehung zu ihm lernen, sie muss es sozusagen als Kompetenz bereitstellen, und sie hat Angst zu scheitern. Clara vertritt eine pragmatische Haltung. Sie hält sich an die erhaltenen Informationen und stellt es sich leicht vor, diese umzusetzen. Für Elsa ist Sexualität etwas Unkontrollierbares, sie kann nicht vorausplanen und kontrollieren, was ihr Gegenüber tun wird. In dieser Haltung wird sie von Doris unterstützt. Clara hingegen vertritt die Auffassung, dass beide das Gleiche machen, Sexualität also etwas Gegenseitiges ist. Anna, die spürt, welche Unsicherheiten hier offenbar werden und wie absurd sich die beschriebenen Ängste steigern, wechselt nun die Ebene. Statt zu versuchen, die Angst durch Informationen zu zerstreuen, stützt sie sich auf die Gefühlsebene. Die Macht der Liebe nimmt der Sexualität das Bedrohliche, Erschreckende, denn wenn „man den (Jungen) richtig mag, dann kommt das hinterher von selber“. Elsa, die Fabian „richtig mag“, lässt sich, wenn auch eher halbherzig, auf Annas Vorschlag ein, auf die Liebe zu vertrauen. Obwohl das Erleben wiederholt als Gesprächsthema angeboten wird, wird das „Küssen“ fast ausschließlich als eine Frage der Technik verhandelt.9 Sowohl die negativen Erfahrungen Annas als auch die mit der Sexualität verbundenen Ängste, die bei Elsa deutlich werden, werden unter dem Aspekt von praktischer Unzulänglichkeit bzw. Kompetenz bearbeitet. Die Frage, ob die Mädchen überhaupt Lust haben zu küssen, taucht überhaupt nicht auf. Ent9
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Dieser technische Umgang mit dem Thema Sexualität findet sich nicht nur bei den jüngeren Mädchen, sondern ist ein durchgängig vorfindbares Muster.
scheidend ist die Fähigkeit, richtig zu küssen und zu gefallen, sich als kompetente und anziehende Sexualpartnerin zu präsentieren. Diese Fähigkeit kann nicht in der sexuellen Beziehung selbst erworben werden, sondern muss beim ersten Kontakt bereits vorhanden sein. Sexualität wird ausschließlich als Frage einer angemessenen Darstellung konzipiert. Gleichzeitig werden in der Passage die Zumutungen einer solchen Konzeption und der enorme Druck spürbar, unter dem in diesem Beispiel Elsa bei ihrem ersten Schritt in die heterosexuelle Praxis steht. Auch für die anderen Mädchen, nicht nur für Elsa, ist es selbstverständlich, dass sie sich diesem Druck unterwerfen müssen. Altersgemäße sexuelle Praktiken – hier der Zungenkuss – korrekt durchführen zu können, ist selbstverständlicher Bestandteil der Konstruktion von Weiblichkeit und Jugend. Die persönlichen Wünsche und Gefühle spielen dabei ebenso eine untergeordnete Rolle wie die mutmaßlichen Motive und Gefühle des beteiligten Jungen. Beide sind Darsteller im jugendlichen Drama.10 Die Darstellung ist jedoch, das sei zum Schluss noch einmal betont, kein Selbstzweck. Vielmehr findet hier einübendes Lernen statt. Die Mädchen lernen, indem sie sich auf Praktiken einlassen, die sie noch nicht beherrschen, um sie auf diesem Weg der Darstellung allmählich zu habitualisieren. Dabei besteht die Gefahr, dass ihnen die Inszenierungen entgleiten und sich verselbstständigen. Dieser Schwierigkeit begegnen die Gruppenmitglieder durch die reflektierende Vor- und Nachbereitung in der Gruppe. Gleichzeitig dient die Praxis einzelner Mitglieder allen als ein Beispiel, an dem sie reflektierend und miterlebend lernen können. Eine solche Organisation von Lernprozessen findet sich nicht nur in dieser, sondern auch in anderen Gruppen, allerdings deutlicher in Mädchen- als in Jungengruppen (vgl. Breitenbach 2000); dabei ist die Heterosexualität nicht das einzige, aber ein herausgehobenes Lernfeld. Eine besondere Weise des Lernens durch Darstellung zeigt sich in aktionistischen Gruppen, in denen die Inszenierungen nicht durch Kommunikation und Reflektion in der Gruppe flankiert werden und die deshalb ein wesentlich höheres Maß von Gefährdung in sich tragen.
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In der theoretischen Fundierung jugendlicher Sexualität dominieren nach wie vor Ansätze, für welche die Pubertät den Auslöser jugendlicher Entwicklung und den individuellen Einstieg in die Jugendphase darstellt. Die Vorstellung, dass die Adoleszenz durch körperliche Prozesse eingeleitet und in entscheidendem Maße bestimmt (und möglicherweise auch in ihrem Ende festgelegt) sei, gibt ihr eine quasi natürliche und nicht hintergehbare Grundlage. Daneben gibt es jedoch gerade in den letzten Jahren ebenfalls empirische Studien, die vielfältige Funktionen jugendlicher Sexualität aufzeigen, unter anderem, inwieweit Sexualität im Prozess des Heranwachsens auch als Instrument zur Inszenierung von jugendlicher Weiblichkeit und Männlichkeit genutzt werden kann (vgl. Fritzsche 2003, Tervooren 2006).
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4. Schluss Geschlechtsdarstellungen und Darstellungen von Jugend werden kollektiv konstruiert und experimentell inszeniert. Sie schließen die „korrekten“ sexuellen Praktiken mit ein. Das komplizierte Geschäft der Konstruktion von Geschlechtszugehörigkeit und von Jugendlichkeit wird von Freundinnen und Freunden und der Gleichaltrigengruppe einerseits unterstützt, andererseits aber kontrolliert. Es zeigt sich, dass Darstellungen zunächst inszeniert werden, weil und insofern es den – teilweise lebensgeschichtlich entwickelten – Orientierungen der Jugendlichen entspricht, und zwar möglicherweise auch entgegen der eigenen Wünsche. Die Darstellungen können dabei zu einem verstörenden Erleben führen und mit intensiven negativen Gefühlen besetzt sein. In der allmählichen Habitualisierung, die gleichzeitig immer mit einer Modifikation der Inszenierungen einhergeht, geht das Bewusstsein der Zumutungen und persönlichen Kosten verloren. Gelungene Inszenierungen verbergen den Prozess ihrer Herstellung, auch im Bewusstsein der Konstrukteurinnen selbst (vgl. Hirschauer 1993). Wie das erste Beispiel zeigt, können aber sowohl die Geschlechtszugehörigkeit als auch die Jugendlichkeit ebenfalls als bedeutsame Ressourcen bei der Bewältigung des Alltags angesehen werden, auf die Jugendliche mit einem gewissen spielerischen Vergnügen, aber auch mit einer tiefen Sicherheit über ihre Geltung zurückgreifen. Beide Dimensionen, die Geschlechtszugehörigkeit als individuelle und kollektive Ressource wie auch als ‚Zumutung’, die zu einer Fremd- oder Selbstabwertung führt, finden sich teilweise in denselben Kontexten und Situationen, was zu einer zutiefst ambivalenten Haltung gegenüber der eigenen (weiblichen) Geschlechtszugehörigkeit führen kann (vgl. Breitenbach 2007). Die Parallelführung von zunächst widersprüchlich erscheinenden Perspektiven des Konstruktivismus und der Sozialisationstheorie erweist sich somit als erhellend. Die Relativierung der Kategorien wirft ein Licht auf ihre soziale und kulturelle Fundierung. Umgekehrt gewinnt die tendenzielle Auflösung von Kategorien ihre Produktivität vor der Folie ihrer stabilen Ausgestaltungen, vor deren Hintergrund die Parallelführung dieser Perspektiven überhaupt als neuartig erkannt und ausgehalten werden kann. Gerade innerhalb einer erziehungswissenschaftlichen Jugend- und Geschlechterforschung, die sich grundlegend auf Differenzen (allen voran auf die pädagogische Leitdifferenz zwischen Kindern und Erwachsenen) und auf Subjekte mit geschlechtlicher Identität (und nicht auf Kategorien, mit denen die Verbindung des Subjekts mit seinem Geschlecht fragwürdig und zerbrechlich wird) bezieht, erscheint mir der Versuch einer Auflösung dieser theoretischen Widersprüche derzeit nicht sinnvoll zu sein (vgl. Breitenbach 2005).
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In der empirischen Analyse lassen sich die eigentümlichen Verbindungen zwischen Sozialisations- und Darstellungsprozessen zeigen, die von den Jugendlichen selbst in ihren Konzeptionen vom Heranwachsen, vom Erwachsensein und von angemessener jugendlicher Praxis erarbeitet, inszeniert, erlebt und erlitten werden. Gerade hier zeigt sich einerseits die Kreativität der Subjekte und Gruppen, andererseits die Zumutungen und Zwänge, denen sie unterliegen.
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Yvonne Gaffer und Christoph Liell
Handlungstheoretische und methodologische Aspekte der dokumentarischen Interpretation jugendkultureller Praktiken Aus den Forschungen zu Hooligans, Musikgruppen und zu Gruppen Jugendlicher mit Migrationshintergrund wurde im Rahmen der dokumentarischen Methode das Konzept des Aktionismus entwickelt, um kollektive, gewaltförmige und ästhetische (vor allem musikalische und tänzerische) Praktiken in diesen Gruppen und ihre Bedeutung für die kollektive Einbindung der Akteure und für die Ausbildung biographisch relevanter Orientierungen zu rekonstruieren (vgl. Bohnsack et al. 1995; Schäffer 1996; Bohnsack/Nohl 2000, 2001a, 2003; Gaffer 2001; Liell 2003; Nohl 2001 u. 2006b). Vielen Praktiken, die in Jugendgruppen ausgeübt werden, eignet ein eigendynamischer, selbstläufiger, überschießender Charakter, der sie oft als ‚sinnlos‘ erscheinen lässt. Entsprechend groß ist das Erklärungsinteresse für das Gewalthandeln Jugendlicher, ihren Drogenkonsum, das gemeinsame Musik-Hören und Tanzen auf Parties und Konzerten und für ähnliche Praktiken. Obwohl solche entgrenzenden Praktiken schon seit ehedem ein Teil des Phänomens ‚Jugendkultur‘ sind, tun sich sozialwissenschaftliche Erklärungen häufig schwer damit. Entweder wird das problematisierte Handeln dieser zumeist männlichen Jugendlichen vorschnell in Kategorien rationalen Handelns eingepasst (obwohl es Zweck-Mittel-Kalkulationen häufig gerade suspendiert) oder es wird – oft mit kulturpessimistischem Unterton − pathologisiert und ausgegrenzt. Durch die akteursnahe Rekonstruktion dieser Praktiken und ihrer Erfahrungshintergründe vermag die dokumentarische Methode eine fundierte Analyse dieser häufig, aber nicht nur in Jugendkulturen anzutreffenden Handlungsformen zu geben. Aus diesem Grund erscheint es lohnend, das aus der empirischen Forschung gewonnene Konzept des Aktionismus stärker handlungstheoretisch zu fundieren. Als Einstieg können die Engführungen in traditionellen Ansätzen der Jugendforschung auf ihr handlungstheoretisches Gerüst zurückgeführt werden, dessen Fokus Formen rationalen Handelns bilden, während davon abweichende Handlungsformen nur als defizitär in den Blick geraten (1). Auf der Ebene der Sozial- wie auch der Handlungstheorie bieten die verschiedenen Ansätze des ‚cultural turn‘ Alternativen zu solchen rationalistischen Ver183
engungen, insbesondere durch die Kategorie des habituellen, gewohnheitsmäßigen, unhinterfragten Handelns als Normalfall sozialen Handelns (2). Jugendkulturelle Aktionismen, mit den ihnen eigenen Dynamiken und Diskontinuitäten, lassen sich jedoch nicht umstandslos mit diesem Handlungstyp des Habituellen rekonstruieren. Unter Rückgriff auf die Durkheim’sche Religionssoziologie, vor allem auf Überlegungen zu Phänomenen von Rausch und Vergemeinschaftung können wesentliche Merkmale dieser aktionistischen Praktiken herausgearbeitet werden (3). Die aus Mannheims Wissenssoziologie entstandene dokumentarische Methode eröffnet einen methodologischen und forschungspraktischen Zugang zu der für soziales Handeln fundamentalen Ebene des vorreflexiven, unhinterfragten Handelns und eines kollektiv geteilten Handlungswissens der Akteure. Obwohl dieser methodologische Zugang damit zunächst vor allem habitualisiertes Handeln gegenstandsnah fokussiert, eignet er sich darüber hinaus auch zur Rekonstruktion aktionistischer Praktiken. Beiden Handlungsformen gemeinsam ist der vorreflexive Charakter und die Anbindung an kollektive Handlungs- und Orientierungsmuster. Der unterschiedlichen Zeitlichkeit beider Handlungsformen, Kontinuität bei habituellem Handeln, Situativität und Eigendynamik bei aktionistischen Praktiken, kann durch das vergleichend-sequenzanalytische Verfahren der dokumentarischen Methode Rechnung getragen werden (4). Wie das Verhältnis zwischen habitualisiertem, relativ dauerhaftem Handlungs- und Orientierungswissen der Akteure und ihren diskontinuierlichen, situationsbezogenen Aktionismen jeweils gefasst ist, welche Rolle aktionistischen Praktiken bei der Suche und Herausbildung neuer Handlungs- und Orientierungsmuster zukommt, vermag schließlich die vergleichende Analyse verschiedener Jugendgruppen zu zeigen (5).
1. Handlungstheoretische Probleme im Mainstream der Jugendforschung Obwohl zu den Hauptgegenständen sozialwissenschaftlicher Forschungen über Jugendliche und Jugendkulturen gerade bestimmte problematisch und deviant erscheinende Handlungsweisen gehören, so nicht zuletzt Gewalthandeln (aber auch Praktiken des Drogenkonsums oder musik- und tanzorientierte Praktiken), bleibt die Ebene des Handelns, der Praktiken selbst, in einem Großteil jener Forschungen ausgeblendet. Besonders im quantitativ ausgerichteten Mainstream der Jugendforschung wird die Vernachlässigung der Handlungspraxis zugunsten empirieferner Ursachenkonstrukte (z.B. Desintegrations-Theoreme) deutlich, wie etwa in den Arbeiten des Bielefelder Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung, bei denen sich dies am Beispiel ihrer Analyse des Gewalthandelns Jugendlicher zeigen lässt: 184
Schon auf der Ebene der Erhebungsinstrumente fällt auf, dass in den Fragebögen unter mehr als 300 Fragen gerade eine Handvoll das Gewalthandeln der befragten Jugendlichen abdecken (der absichtlichen Körperverletzung gelten noch weniger Fragen).1 Im Mittelpunkt stehen dagegen gewaltaffine Einstellungen, und entsprechend thematisiert die überwiegende Anzahl der abgefragten Items Orientierungen und Dispositionen der Befragten, die das Ursachen-Konstrukt ‚Desintegration‘ operationalisieren sollen. Der eigentliche Erklärungsgegenstand, das Handeln der Jugendlichen, scheint klar, eindeutig, abgrenzbar und durchsichtig zu sein − methodischen und theoretischen Aufwand erfordert einzig die Überprüfung der Ursachenhypothese. Die Privilegierung von Verhaltenseinstellungen gegenüber dem eigentlichen Handeln der Akteure manifestiert sich jedoch nicht nur in den Erhebungsinstrumenten, auch bei der Auswertung und Interpretation der Daten stehen Gewaltbereitschaft, Gewaltakzeptanz, Konfliktpotenziale etc. statt Gewalthandeln und konflikthaftes Handeln im Vordergrund. Das Handeln selbst verschwindet in den Erklärungen zwischen sozialstrukturellen Wirkkräften und individuellen Dispositionen. Dabei bleibt der Erklärungszusammenhang zwischen makrostruktureller Desintegration und dem (Gewalt-) Handeln der Akteure äußerst unscharf und beliebig, denn stets teilen wesentlich mehr Befragte das Ursachen-Merkmal (‚Desintegration’) als das Wirkungsmerkmal ‚Gewalthandeln‘. Aus statistischen Korrelationen werden unbesehen soziale Kausalitäten. Nun folgt aus der Ausblendung des Erklärungsgegenstandes (des problematisierten Handelns von Jugendlichen) keineswegs, dass diese Arbeiten auf handlungstheoretische Annahmen verzichteten. Denn wenn Verhaltenseinstellungen das Kausalität stiftende Bindeglied zwischen der Ursache ‚Desintegration‘ und der Wirkung ‚(Gewalt-) Handeln‘ darstellen, wird damit die Kategorie des Handelns individualistisch enggeführt – was sich nicht zuletzt auch in der Methodologie der Fragebogenforschung niederschlägt. Der Umstand, dass das problematisierte und zu untersuchende Handeln von Jugendlichen dagegen meist in kollektiven Kontexten, in Gruppen, stattfindet, wird kaum berücksichtigt. Findet dieser Umstand doch Eingang in die Fragebögen, dann in ebenso reduzierter Form wie die Ebene des Handelns: Die Einbindung der Akteure in Gruppen wird ebenso wie deren Handeln auf eine objektiv messbare, statische und substanzhafte Größe reduziert, die man mittels einer Handvoll Fragen und jeweils vier Antwortmöglichkeiten hinreichend eruieren kann.2 Sowohl Handeln als auch kollektive Zugehörigkeiten 1
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Vgl. Heitmeyer et al. (1995, 461) und Heitmeyer et al. (1997, 275); Gewalthandeln im Sinne einer Körperverletzung wird so z.B. in der einen Frage „Ist es in den letzten 12 Monaten vorgekommen, daß Sie jemanden absichtlich geschlagen oder verprügelt haben?“ ermittelt. Die Antwortmöglichkeiten darauf beschränken sich auf: „ja“ bzw. „oft“, „gelegentlich“, „nie“ und „k.A.“. Vgl. Heitmeyer et al. (1995, 452 f.) und Heitmeyer et al. (1997, 257).
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schrumpfen zu Entitäten, deren Auftreten oder Abwesenheit gemessen werden kann – was diese Phänomene sind, wie sie aussehen, bleibt unbeantwortet bzw. wird schlicht vorausgesetzt. Bleibt man den handlungstheoretischen Annahmen der DesintegrationsForschung weiter auf der Spur, findet man sich mit der unsystematischen Vermischung von drei Arten der Handlungserklärung konfrontiert3: Dasselbe Handeln wird häufig mal mit einem deterministischen bzw. mechanistischen Handlungsmodell, mal als normorientiertes, mal als instrumentelles Handeln erklärt. Der erste, deterministische Modus der Handlungserklärung scheint vorzuliegen, wenn von ‚objektiven‘, soziostrukturellen Merkmalen der Befragten auf deren Einstellungen und schließlich auf deren Handeln geschlossen wird: Ohne dass sie einer Deutung bedarf (die dann auch anders sein kann), schlägt sich die sozioökonomische Lage der Individuen in psychischen Dispositionen nieder, die wiederum kausalmechanisch ein bestimmtes Verhalten hervorrufen.4 Die zweite Form der Handlungserklärung hält über das theoretische Fundament der Desintegrationsthese Einzug in diese Forschungen: Unter Rückgriff auf anomietheoretische Überlegungen wird zunächst davon ausgegangen, dass in einer Gesellschaft alle Mitglieder die gleichen sozial anerkannten Ziele teilen. Implizit, das verdeutlicht die Rhetorik über Desintegration und den Zerfall der Gesellschaft, wird von Vorstellungen einer normativ überwölbten, konsensuell integrierten und homogenen Gesellschaft ausgegangen (s. zu dieser Kritik Bohnsack 2000b). Offensichtlich wird dieser Erklärungsmodus dort, wo zwar in theoretischen Vorbemerkungen zu Gewalt u.a. zwischen „expressiver“ und „instrumenteller“ Gewalt unterschieden wird,5 später bei der Auswertung der Daten jedoch Gewalthandeln ganz im Paradigma der Anomietheorie wieder lediglich auf zweckrationales, instrumentelles Handeln reduziert wird – ohne die vorher angedeutete theoretische Differenzierung wieder aufzunehmen. Diese handlungstheoretischen und methodologischen Schwächen lassen sich als objektivistische Vereinseitigungen der Desintegrationsforschung reformulieren: Die Ursachen des Handelns der Akteure liegen immer außerhalb und meistens vor ihrem Handeln, seien es (deterministisch) sozioöko3 4 5
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Vgl. ausführlicher zu diesen handlungstheoretischen Defiziten in Bezug auf Gewaltforschung Liell/Pettenkofer 2004. Vgl. die Ausführungen zur Deprivations-These, die trotz einer zunehmend kulturalistischen Rhetorik auch in den jüngsten Bielefelder Arbeiten zentral bleibt (Heitmeyer/Anhut 2000, 32 ff.). Dem Begriff der „expressiven“ Gewalt bleibt dabei aber von Anfang an die Spannung zwischen strategischer, zweckrationaler Selbstpräsentation und Selbstläufigkeit/Eigendynamik eingeschrieben (vgl. Heitmeyer et al. 1995, 72); schon in den Frageformulierungen dominiert die Unterstellung zweckrationalen Handelns: Während ein Item das bloße Vorhandensein des ‚Merkmals‘ Gewalttätigkeit messen soll, finden sich drei weitere Items zu eigener Gewalttätigkeit in stereotypen ‚um zu‘-Formulierungen, die eine zweckrationale Motivation der Akteure bereits voraussetzen (vgl. ebd., 461).
nomische Merkmale, die ein bestimmtes Handeln verursachen, seien es Normen, die dem Individuum äußerlich von der Gesellschaft herangetragen werden oder seien es der Handlung selbst vorgängige Handlungspläne, Strategien und Ziel-Mittel-Kalkulationen. Entweder wirken die Ursachen kausalmechanisch, ohne dass die Akteure überhaupt irgendwelche Deutungsleistungen vollbringen müssen, wie in deterministischen Modellen oder die Handlungserklärungen setzen Bewusstheit und Rationalität der Akteure als handlungskonstituierend voraus, wie in den norm- und zweckorientierten Varianten. Indem die Norm- und Zweckorientierungen der Akteure fast immer vorausgesetzt, statt fallspezifisch rekonstruiert werden, bleibt die Perspektive der Akteure in allen drei handlungstheoretischen Ansätzen ausgeblendet. Diese objektivistische Herangehensweise erscheint für die Analyse jugendkultureller Praktiken wenig geeignet. Besonders dann, wenn diese Praktiken zum Objekt der Aufmerksamkeit von Öffentlichkeit, Medien und Sozialwissenschaft werden, eignet ihnen häufig ein ‚aktionistischer‘ Charakter; d.h. die untersuchten Praktiken, wie Gewalthandeln oder mit Musik oder Drogen verbundene Aktivitäten, sind durch einen ‚überschießenden‘, normative Erwartungen und rationale Zweck-Mittel-Kalkulationen gerade suspendierenden Charakter, durch Eigendynamiken und Selbstläufigkeit gekennzeichnet. Eine Konsequenz daraus, welche in objektivistischen Ansätzen gezogen wird, ist die Zuordnung dieses Handelns, das nicht mit den Modellen normorientierten oder zweckrationalen Handelns erklärt werden kann, zu einer Restkategorie des ‚irrationalen‘, pathologisierten Handelns. Individualpathologien wie z.B. Autoritarismus oder Machiavellismus lassen sich dann umstandslos auf Pathologien der ganzen Gesellschaft (z.B. Desintegration durch Modernisierung) zurückführen. Dem entspricht auch die solchen Forschungen zugrunde liegende Defizitrhetorik, die das Handeln und die kollektive Einbindung der Akteure nur als Verfall/Zerfall und Scheitern interpretiert. Dass die betreffenden Akteure durch ihr Handeln kollektive Einbindungen und ggf. biographisch relevante Orientierungen entfalten und ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern, dass sie oftmals nicht in das Bild des pathologischen, gescheiterten, desintegrierten, sozial und kommunikativ gestörten Jugendlichen passen, wird dabei schlicht übergangen.
2. Deutungsmuster und Alltagspraxis Die drei in den objektivistischen Jugend-Forschungen verwendeten, dabei häufig unverbunden nebeneinander stehenden Formen der Handlungserklärung folgen zugleich den drei klassischen Erklärungsparadigmen soziologischer Handlungstheorie (naturalistisch-deterministische Modelle, Homo oeconomicus und Homo sociologicus). Genau an diesem Bestand ‚klassischer‘ 187
sozialwissenschaftlicher Theoriebildung setzen die unter dem Begriff des ‚cultural turn‘ in den Sozialwissenschaften zusammengefassten Weiterentwicklungen der Sozial- und Handlungstheorie kritisch an, die in unterschiedlichen Varianten u.a. von Seiten des (Neo-) Pragmatismus (z.B. Jeffrey Alexander oder Hans Joas), der Sozialphänomenologie (Alfred Schütz u.a.), der Wissenssoziologie (z.B. Karl Mannheim), des Symbolischen Interaktionismus (Erving Goffman u.a.), der Ethnomethodologie (z.B. Harold Garfinkel), des Strukturalismus (Claude Lévi-Strauss u.a.), des Poststrukturalismus (z.B. Michel Foucault) und praxistheoretischer Ansätze (z.B. Charles Taylor, Pierre Bourdieu) geliefert werden.6 Nicht individuelle Präferenzen, Absichten und Interessen, nicht kollektive Normen, Werte und Sollens-Regeln bilden hier den Ausgangspunkt sozialund handlungstheoretischer Überlegungen, sondern die Rekonstruktion kollektiv geteilter, sinnhafter symbolischer Ordnungen. Erst dieses implizite Handlungswissen der Akteure, das die soziale Welt für die Akteure sinnhaft und bedeutsam macht, produziert die Unterscheidungen, aus denen sich Interessen, Normen und Werte ergeben. Ähnlich wie schon Durkheim und Parsons utilitaristische Gesellschafts- und Handlungstheorien dahingehend kritisierten, dass erst die Orientierung an Normen die Entstehung von Interessen und Zwecken und damit soziale Ordnung erklärt, so versuchen kulturalistische Sozial- und Handlungstheorien die Genese von Zweck- und Norm-Bezügen des Handelns, also die Voraussetzungen ihrer Entstehung zu analysieren. In der theoriesystematischen Abfolge von utilitaristischen, normativistischen und kulturalistischen Theorien wird nicht die Gültigkeit des zweckrationalen bzw. normorientierten Handelns überhaupt kritisiert, sondern der Status der Allgemeingültigkeit und der scheinbaren Voraussetzungslosigkeit, der diese Handlungsformen in utilitaristischen bzw. normativistischen Theorien unhinterfragt kennzeichnet. Während die strukturalistischen und diskursanalytischen Varianten des ‚cultural turn‘ die Kategorie des Akteurs wieder objektivistisch zurückdrängen oder verabschieden und so kaum produktive Ansatzpunkte zur Rekonstruktion von Praktiken überhaupt bieten, scheinen die handlungstheoretisch orientierten Varianten kulturalistischer Sozialtheorie einen fruchtbaren Ausgangspunkt zu bilden, um sich dem Phänomen jugendkultureller, aktionistischer Praktiken analytisch anzunähern. Gemeinsam ist diesen sozialphänomenologischen, praxistheoretischen und (neo-) pragmatistischen Ansätzen, dass sie die Konstitution der kollektiven symbolischen Ordnungen der Akteure an deren vorreflexive, routinisierte, unhinterfragte Handlungspraxis binden. Damit erfolgt eine entscheidende Erweiterung der handlungstheoretischen Konzeption: Aus diesen fundamentalen Formen des habitualisierten (Alltags-) Handelns entstehen Handlungs6
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Für eine umfassende theoretisch-systematische Verortung des cultural turn und seiner Varianten vgl. Reckwitz (2000).
entwürfe, Zwecke, Normen und Werte nämlich erst dann, wenn die Akteure beginnen, auf diese Handlungspraxis zu reflektieren. Entscheidend ist diese handlungstheoretische Umstellung für die hier interessierende Analyse jugendkultureller Praktiken deshalb, weil damit die ‚traditionelle‘ Fixierung auf rationale, reflektierte Formen des Handelns aufgebrochen wird, indem die Alltäglichkeit und Normalität einer routinisierten, vorreflexiven Handlungspraxis aufgezeigt wird. Aktionistische Praktiken lassen sich jedoch nicht ohne Weiteres mit diesen Modellen habituellen Handelns rekonstruieren: Erscheinen sie zwar ebenso wie habituelles Handeln als unreflektiert, nichtrational, so verweisen sie demgegenüber jedoch eher auf den Bereich des Diskontinuierlichen und Situativen. Genau solche Phänomene der Selbstentgrenzung, des Außeralltäglichen und Situativen werden in einem handlungstheoretischen Kontext durch die Arbeiten von Hans Joas fokussiert. Im Rückgriff vor allem auf pragmatistische Konzepte sozialen Handelns steht zunächst der unreflektierte Handlungsfluss der Akteure im Vordergrund, ein „praktisches Zurechtkommen mit der Wirklichkeit“ (Joas 1992, 234). Unbestimmte Erwartungen, vorreflexive Situationsbezüge, Handlungsfähigkeiten und Gewohnheiten bestimmen dabei das alltägliche Handeln der Akteure. Erst die Unterbrechung dieses vorreflexiven Handlungsflusses, das Auftauchen von handlungspraktischen Problemen führt zu einem reflexiven Bezug der Akteure auf ihre vorreflexiven Strebungen und auf die Handlungssituation, aus dem sich schließlich Intentionalität und Zwecksetzung herausbilden. Diese Rekonstruktion der unhinterfragten Voraussetzungen rationaler Handlungstheorien, der Genese von Intentionalität und Handlungsplanung, macht drei zentrale Aspekte sozialen Handelns sichtbar: den konstitutiven Situationsbezug des Handelns, die Ausbildung der Körperkontrolle (sowie die Möglichkeit ihrer Transformation und Lockerung) und schließlich die primäre Sozialität der Akteure und ihres Handelns, das immer schon in Bezug zu anderen Akteuren erfolgt (vgl. ebd., Kap. 3). Gerade diese drei Aspekte sozialen Handelns geben dann auch Hinweise für die Analyse entgrenzender, jugendkultureller Praktiken, die durch eine spezifische Eigendynamik, d.h. einen starken Situationsbezug, Erfahrungen des Rausches, des Kicks, der Selbstentgrenzung, durch einen starken Körperbezug und schließlich durch die Einbindung in kollektive Zusammenhänge, in Gruppen, gekennzeichnet scheinen. Neben pragmatistischen Autoren liefern vor allem religionssoziologische Ansätze wichtige Hinweise für diese grundlegende Umstellung der handlungstheoretischen Konzepte bei Joas. Da allerdings in seinen Überlegungen − in analoger Weise zu anderen kulturalistischen bzw. praxistheoretischen Ansätzen − das theoriesystematische Interesse der Entstehung von Zwecksetzung und Intentionalität sowie der „Entstehung der Werte“ (Joas 1997) gilt, also der Genese rationalen Handelns in kreativen Vermittlungsprozessen, gelangen nicht-rationale (und mit-
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unter destruktive) Formen des Handelns nur am Rande in den Blick. Indem Kreativität als zwar zunächst ungerichteter, aber schließlich wesentlich reflexiver Prozess zum Maßstab des Handelns wird, erscheinen Phänomene aktionistischen Handelns, die nicht unmittelbar in solche selbstreflexiven Vermittlungsprozesse führen, sondern im Modus handlungspraktischer Steigerungen verbleiben, als defizitär.7 Verschiebt man nun das Erkenntnisinteresse von der Erklärung der Entstehung rationalen Handelns auf die genauere Analyse von nicht-rationalen, entgrenzenden, aktionistischen Praktiken, dann lohnt es sich, die genannten drei Elemente sozialen Handelns (Situationsbezug, Körperbezug und konstitutive Sozialität) auf die religionssoziologischen Texte, in denen es um Phänomene diskontinuierlichen, entgrenzenden Handelns geht, zurückzubeziehen.
3. Rauschhafte Rituale und Vergemeinschaftung Der religionssoziologische Schlüsseltext zur Analyse rauschhafter, entgrenzender Praktiken und ihren vergemeinschaftenden Wirkungen ist Emile Durkheims (1994) Studie über „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“, vor allem seine Ausführungen zu „efferveszenten Versammlungen“, sowie die davon beeinflussten Arbeiten Batailles (1953) zu Souveränität, Caillois‘ (1958) zum Phänomen des Spiels und Turners (1989a u. b) zu Liminalität sowie Cszikszentmihalyis (1975) Untersuchungen zum Flow-Erlebnis. Gemeinsam ist diesen Theorien die Fokussierung der Zusammenhänge zwischen Formen nicht-rationalen Handelns, (meist kollektiven) Erfahrungen des Rausches und der Herausbildung und Reproduktion sozialer Ordnung. Ritualisierte Rauschzustände unter dem Einfluss von Drogen, Musik, Tanz, sexuellen Ausschweifungen und Gewalthandeln sind der prototypische Ausgangspunkt dieser Ansätze. Bei Turner, Caillois und Czsikszentmihalyi werden diese Formen nicht-rationalen Handelns explizit mit Phänomenen der modernen Freizeitkultur und jugendkulturellen, subkulturellen Praktiken (vor allem mit Drogenkonsum und Gewalthandeln) in Verbindung gebracht, erscheinen bei den beiden letztgenannten Autoren jedoch als pathologisierte Degenerationen der zentralen Konzepte von „vertige“ (Taumel) und „flow“ (vgl. Caillois 1958, 101 ff. und Csikszentmihalyi 1975, 203 ff.). In Abgrenzung von rationalistischen Konzepten sozialer Ordnung geht es in dieser religionssoziologischen Perspektive wesentlich darum, ausgehend 7
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So wird Gewalthandeln von Formen „integrierter Kreativität“ abgesetzt (Joas 1992, 373 ff.). Im Unterschied zu dieser Defizitannahme hat Nohl (2006b) eine pragmatistische (Bildungs-) Theorie entwickelt, in deren Zentrum die Spontaneität des Handelns steht.
von solchen (kollektiven) Erfahrungen und ritualisierten Praktiken der rauschhaften Selbstentgrenzung die Entstehung bzw. Reproduktion sozialer, insbesondere normativ verankerter Ordnungen zu erklären. ‚Efferveszente Versammlungen‘ (Durkheim) und Phänomene der ‚Liminalität‘ (Turner), mithin nicht-rationale Praktiken, ermöglichen überhaupt erst die Konstitution, Reproduktion und Innovation normativer, rationaler Gesellschaftsordnungen. Auf der Suche nach Elementen für die Analyse entgrenzender, kollektiver Praktiken (z.B. in Jugendkulturen) wird im Folgenden von diesem sozialtheoretischen Anspruch der Arbeiten abgesehen und dagegen versucht, ihr handlungstheoretisches Potenzial fruchtbar zu machen. Für dieses Vorhaben lassen sich nun die drei von Joas (1992) rekonstruierten Dimensionen kreativen Handelns (der Situationsbezug, der Körperbezug und der kollektive und soziale Bezug des Handelns) auf die religionssoziologischen Ausführungen rückwenden. Betrachtet man die Ausführungen zur zeitlichen Struktur von rituellem Handeln in den religionssoziologischen Texten, steht zunächst weniger der Situationsbezug als vielmehr die Scheidung zwischen Alltag/Außeralltag im Zentrum dieser Texte. Vor allem bei Durkheim (wie auch in Webers Religionssoziologie) ist es die Außeralltäglichkeit der rauschhaften Praktiken und Rituale, die Abgegrenztheit der „efferveszenten Versammlungen“ von der alltäglichen Routine, von der Sphäre der Arbeit und ihrer Gleichförmigkeit, die den zentralen temporalen Bezug bilden (vgl. Durkheim 1994, 300 f.). Für Durkheims Religionssoziologie ist diese Trennung von Alltag und Außeralltag deshalb bedeutsam, weil sie die Unterscheidung zwischen profaner und sakraler Sphäre und damit die Religion als Phänomen fundiert. Gegen eine Rückführung der zeitlichen Struktur entgrenzender Rituale und Praktiken auf die Dichotomie von Alltag und Außeralltag spricht jedoch Turners Einwand, der auf den historischen, und zwar spezifisch modernen Charakter dieser Unterscheidung hinweist. Während nicht-moderne Gesellschaften durch den Gegensatz von sakraler und profaner Arbeit gekennzeichnet seien, verweise die Differenz Alltag/Außeralltag auf die erst in industrialisierten Gesellschaften vorzufindende Trennung von Arbeit und Freizeit (vgl. dazu Turner 1989b, 44 ff.). Löst man sich bei der Lektüre der religionssoziologischen Texte von dieser Dichotomie von Alltag/Außeralltag, die eher als eine Rückprojektion moderner Zeitbegrifflichkeit auf vormoderne Gesellschaften erscheint und zudem wesentlich im Dienste gesellschaftstheoretischer Argumentationen steht, dann gelangt ein zweiter, meist wenig beachteter Aspekt des Zeitbezugs in den Blick − eben die Situation und Gegenwart des Handelns. Besonders Bataille, Turner und Czikszentmihalyi arbeiten den Bezug der Akteure auf die Handlungssituation in rauschhaften, entgrenzenden Praktiken heraus.
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Im Gegensatz zum zweckrationalen Handeln und seiner Orientierung an Handlungsentwürfen, die auf die Zukunft verweisen, und zu normorientiertem Handeln, das sich sowohl an der der Handlung vorgängigen Geltung der Norm bzw. an der (zukünftigen) Erfüllung der Norm durch das Handeln orientiert, fokussieren die Akteure in rauschhaften Praktiken wesentlich die unmittelbare Situation des Handelns, sie gehen scheinbar in der Gegenwart ihres Handelns auf: „Jenseits der Nützlichkeit ist der Bereich der Souveränität. ... [Der Arbeiter] arbeitet um zu essen, er isst um zu arbeiten. Man sieht nicht den souveränen Moment erscheinen, in dem nichts zählt außer dem Augenblick selbst. Tatsächlich souverän ist, mit der gegenwärtigen Zeit zu spielen und dabei nichts außer dieser Gegenwart im Blick zu haben.“ (Bataille 1953, 248; eigene Übers.; Herv. i. Orig.).
Allerdings konzipiert Bataille die Subjektivitätsform der Souveränität aus der dyadischen Konstellation von Herr und Knecht und interessiert sich damit nicht für kollektive Phänomene. Dass die Situationsorientierung in rauschhaften Praktiken jedoch auch für kollektive Phänomene gilt, wird aber bei Turner deutlich: Communitas als spezifische Sozialform, die sich in rauschhaften Schwellenzuständen herausbildet, „gehört dem Hier und Jetzt; Struktur [normative Ordnungen; Y.G., C.L.] wurzelt (...) in Vergangenheit und Zukunft“ (Turner 1989a, 111; vgl. auch Czikszentmihalyi 1975, 63 ff.). Daraus folgt, dass handlungsstrukturierende Elemente außerhalb der Handlungssituation, vor allem Zwecke, Normen und Gewohnheiten, in diesen Praktiken zurücktreten zugunsten der Eigendynamik und Selbstläufigkeit dieses Handelns. Der Fortgang einer Handlungsepisode ergibt sich dann nicht aus dem Vollzug eines vorgängigen Handlungsziels oder aus der Geltung einer vorgängigen Norm oder Gewohnheit, sondern aus der situativen Konstellation der Akteure und ihrer Interaktionen − der Ausgang der Handlungssequenz ist weder für die beteiligten Akteure noch von außen antizipierbar. Gerade diese Gegenwartsfokussierung aktionistischer Praktiken scheint ein Schlüssel zum Verständnis ihres eigendynamischen, mitunter chaotischen und ‚irrational‘ erscheinenden Charakters zu sein. Erfahrungen der Selbstentgrenzung spielen in der religionssoziologischen Literatur eine große Rolle, wie auch aktionistische Praktiken in Jugendkulturen durch die Akteure häufig durch Metaphern des Rausches, des Kicks etc. beschrieben werden (vgl. z.B. Liell 2003). Während die Beschreibung solcher ekstatischer Selbstentgrenzungen nicht erst seit Durkheim häufig durch eine modernitätskritische Rhetorik geprägt ist (als Transzendierung von fragmentierender Individualität und Wiederfindung von ‚Ganzheit‘ und ‚Einsfühlung‘ seit der Romantik bei Autoren wie Friedrich Nietzsche, Georges Bataille oder Ernst Jünger), findet sich schon bei Weber zumindest ein kurzer Hinweis auf eine Präzisierung dieser Selbstentgrenzungen − wenn er die „Durchbrechung aller organischen Gehemmtheiten“ (Weber 1980, 325) durch Ekstase erwähnt. Die Vermutung, dass die Transformation der 192
Körpergrenzen der Akteure solchen Erfahrungen der Selbsttranszendierung zugrunde liegt, wird durch Caillois‘ Ausführungen zum Phänomen des Spiels gestützt. „Vertige“ (Taumel), einer seiner vier Grundkategorien menschlichen Spiels, beruht auf einer Suspendierung der ‚normalen‘ (im Sinne der alltäglichen) Stabilität von Wahrnehmung und Körpergefühl, die insbesondere durch schnelle Drehungen oder durch den Fall des eigenen Körpers hervorgerufen wird (vgl. Caillois 1958, 67 ff.). Der bewegte und beschleunigte Körper wird dabei selbst zum Einsatz des Handelns, statt wie bei rationalen Formen des Handelns lediglich eine instrumentelle Rolle einzunehmen. So wie die Herausbildung von Körperkontrolle und Körpergrenzen Voraussetzung für rationales Handeln ist, so scheint die Verschiebung und Transformation von Körpergrenzen und ihrer Wahrnehmung wesentlich für aktionistische Praktiken zu sein und die erfahrungsmäßige Grundlage für die häufig bemühte Metaphorik des Rausches und des Kicks zu bilden. Der dritte Aspekt einer handlungstheoretischen Annäherung an aktionistische Praktiken bildet die Konstitution und Reproduktion spezifischer Formen von Sozialität und Kollektivität durch diese Praktiken. Vor allem bei Durkheim und Turner werden aus „efferveszenten Versammlungen“ bzw. liminalen Phänomenen weitreichende Folgerungen für die Entstehung sozialer Ordnungen bzw. für ihren Wandel gezogen. In Erfahrungen dichter Kollektivität, wie sie sich in diesen ritualisierten Prozessen ergeben, wird ‚Gesellschaft‘ als eine über den Individuen stehende Kraft, zu der sich die Mitglieder hingezogen fühlen, erfahrbar (Durkheim) bzw. wird die Bindekraft sozialer Normen und Strukturen erneuert (Turner). Obwohl (nicht zuletzt wegen der Überschreitung sozialer Regeln) zunächst tumulthaft, chaotisch und ungeordnet erscheinend, bilden sich in rauschhaften Prozessen spezifische soziale Ordnungsformen aus. Aus der Erfahrung dichter Kollektivität entwickeln sich nach Durkheim durch die Symbolisierung solcher Kollektivvorstellungen stabile soziale Zusammenhänge, die dann auch über den Vollzug dieser Rituale hinaus Bestand haben. Bei Turner ist die zeitweise Aufhebung der normativen Ordnung in ritualisierten Schwellenzuständen notwendige Bedingung des Fortbestehens und des Wandels sozialer Strukturen. Ähnlich wie Erfahrungen der Selbstentgrenzung als ‚Einsfühlung‘ und als Ganzheitserfahrung in diesen Texten konzipiert werden, erscheint die Form von Sozialität, die sich in Prozessen rauschhaften Handelns ergibt, dann vor allem als Verschmelzung, als Kommunion und „communitas“. Während auf diese Weise das gemeinschaftsstiftende Potenzial ritueller Praktiken in den Blick kommt, bleiben die dazu herangezogenen Phänomene an sehr spezifische religiös-mystische Einheitserfahrungen gebunden. Weniger auf eine solche spezifische Form reduziert, ließe sich diese gemeinschaftsstiftende Kraft aktionistischer Praktiken dann in Abgrenzung von Sozialitätsmodi, die sich auf gemeinsam geteilte Interessen, Normen oder Gewohnheiten ihrer Mitglieder gründen, darauf zurückführen, dass die beteiligten Akteure
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in eine gemeinsame Praxis involviert sind − im gemeinsamen Handeln erfahren sich die Akteure miteinander verbunden.8
4. Handlungstheorie und Methodologie Während die bis hierhin angestellten Überlegungen ein begriffliches (formales oder metatheoretisches) Gerüst zur Analyse diskontinuierlicher, aktionistischer Praktiken liefern, bedarf es methodologischer Überlegungen, um zu einer empirischen Analyse und Rekonstruktion jener Praktiken zu gelangen. Mit der interpretativen Wende (dem Cultural Turn) in den Sozialwissenschaften, also der Kritik an rationalistischen und objektivistischen Sozialund Handlungstheorien, ging wesentlich auch eine Verschiebung der sozialwissenschaftlichen Methodologie einher (vgl. z.B. Bohnsack 2000a, 12-33): Während naturwissenschaftliche Forschung eine an sich sinn- und bedeutungsfreie Natur, ihre Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten erforscht, findet sozialwissenschaftliche Forschung immer schon interpretierte, mit Sinn und Bedeutung versehene Gegenstände vor. Die soziale Welt ist den Akteuren nur als bereits interpretierte Welt verfügbar, sie existiert nicht ohne oder außerhalb symbolischer Ordnungen. In der Wissenssoziologie, der Sozialphänomenologie und der Ethnomethodologie wird aus dieser erkenntnistheoretischen Position gefolgert, dass Verstehen in sozialen Kontexten, alltäglichen wie wissenschaftlichen, im wesentlichen Fremdverstehen ist. Denn jeder Akteur bzw. jede Akteursgruppe verfügt über eigene Deutungsschemata, eigene sinnhafte Perspektiven, eigene symbolische Ordnungen, die es in sozialwissenschaftlichen Analysen zu rekonstruieren gilt (vgl. Schütz 1974). Dieser prekäre Charakter des Verstehens wird in sozialphänomenologischen und ethnomethodologischen Ansätzen individualistisch enggeführt9 (dagegen in einigen konstruktivistischen Ansätzen zur Unübersetzbarkeit der Perspektiven radikalisiert), denn Ausgangspunkt ist hier die vorgängige, vorsoziale Subjektivität individueller Akteure, während ihre Sozialität erst das prekäre Produkt von Interaktionen ist. Dagegen findet sich in der dokumentarischen Methode bzw. in der Wissenssoziologie nach Mannheim der Versuch, die milieugebundene Perspektivität von Deutungsmustern ohne individualistische Engführungen zu erforschen.
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Für einen Versuch, die Konstitution des Kollektiven im Aktionismus unter Rückgriff auf die Werke von George Herbert Mead und Karl Mannheim in den Blick zu nehmen, siehe Nohl 2006b. Vgl. zu dieser Kritik Bohnsack 2000a, 64 ff.
Mannheim unterscheidet zwei Formen des Erkennens, die jedes Wissen, alltagspraktisches wie wissenschaftliches, strukturieren: konjunktives und kommunikatives Erkennen (vgl. Mannheim 1980b und Bohnsack 2000a). Die Ebene des konjunktiven Wissens, als überindividuelles, gemeinschaftliches, habituelles Wissen, lässt sich einerseits von individuellen Absichten, Vorstellungen und Meinungen der Akteure, andererseits von abstraktem, theoretischem Wissen abheben (Mannheim 1980b, 250). Mannheim verdeutlicht dies selbst an einem Beispiel, welches der hier interessierenden Frage nach adäquaten Formen der Handlungserklärung sehr nahe kommt: „Nicht was sich X und Y bei einer ‚Zeremonie‘ über diese vorstellen, nicht was die gleichzeitige Theorie über ‚Zeremonie‘ feststellt, auch nicht die ‚Idee‘ und das ‚Ideal‘ einer Zeremonie überhaupt oder das Zeremonieideal einer bestimmten Epoche interessieren (...) Was interessiert, ist der über die Vorstellungen der Einzelindividuen hinausragende geistig-systematische Zusammenhang, der sich aus dem sinnvollen Zusammenspiel der individuellen Bewußtseinsvollzüge zu jenem Zeitpunkt ergab, als sich die Zeremonie abspielte“ (ebd., 250 f.)
− weniger phänomenologisch zugespitzt: das kollektive, habitualisierte Handlungswissen der Akteure und seine Genese. Mannheim unterscheidet drei Sinnebenen, die zugleich auf unterschiedliche Formen der Handlungserklärung verweisen: Richtet sich die Interpretation auf den objektiven, immanenten Sinn einer Handlung bzw. ihrer Beschreibung, stehen zunächst nicht die Akteure, sondern die Handlung selbst im Vordergrund. Die Erfassung des Sachgehalts der Handlungsepisode erfolgt allerdings vor dem Hintergrund von sozialen Normen und Normalitätserwartungen des Interpreten. Dabei wird, in wissenssoziologischer Terminologie, auf den kommunikativen-generalisierenden Gehalt der Handlung rekurriert, jedoch von der Einbettung des Handelns in spezifische Erfahrungsräume der Akteure und von ihren Intentionen abgesehen. Die Interpretation des objektiven Sinns ist im strengen Sinne keine Handlungserklärung, sondern eine Handlungsbeschreibung, die zunächst den Gegenstand der Handlungserklärung umreißt. In zahlreichen Spielarten der Hermeneutik (von Gadamer bis Habermas und Oevermann) werden dagegen die Normalitätserwartungen von Interpret und Handelnden als gemeinsam geteilte idealisiert bzw. wird vor allem auf den Sachgehalt und den Geltungscharakter/Wahrheitsgehalt des Handelns bzw. der Äußerung rekurriert. Dabei wird die Interpretation des immanenten Sinns zur Handlungserklärung, allerdings nur auf dem Umweg über die Idealisierung kommunikativ generalisierender Verständigung und über kontrafaktische Rationalitätsunterstellungen, die von außen, also sinnfremd, an die Akteure herangetragen werden (vgl. zu dieser Kritik Bohnsack 2000a, 76 f.). Diese Ausblendung der milieugebundenen Perspektivität von Erfahrung, Praxis und Wissen führt dann handlungstheoretisch zur Privilegierung rationaler Handlungsmodelle und ihrer Residualkategorie pathologi-
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schen Handelns, welche schon im Zusammenhang der objektivistischen Handlungstheorien kritisiert wurde. Die Interpretation des intendierten Ausdruckssinns eines beobachteten oder erzählten Handelns, also der zweiten von Mannheim unterschiedenen Sinnebene, fokussiert dagegen vor allem zweckrationales und expressives, dramaturgisches Handeln. Gegenstand dieser Art der Interpretation sind die meist expliziten Äußerungen der Akteure, in denen sie ihrer Handlungsmotivation Ausdruck verleihen bzw. die Motivunterstellungen des Interpretierenden. Die Äußerung der Intention des Akteurs nimmt dann typischerweise entweder (in eher perspektivischer Weise) die Form der Expression, der Selbstdarstellung an oder wird (in eher generalisierender Weise) als zweckrationaler Begründungszusammenhang, als „Um-zu-Motiv“ (A. Schütz) artikuliert. Die Konzentration auf den intendierten Ausdruckssinn, wie sie besonders in sozialphänomenologischen Ansätzen anzutreffen ist, neigt damit zur Privilegierung individueller Akteure (insofern Intentionen an die Subjektivität des Akteurs/Individuums gebunden sind), die dann in zwei Richtungen führen kann: zu einer sozialtheoretischen Engführung, die das SubjektivMentale als vorgängig, demgegenüber kollektive Phänomene als abgeleitet betrachtet oder sogar ausblendet und zu einer handlungstheoretischen Engführung des zu interpretierenden Handelns auf zweckrationale „Um-zu-Motive“, wie sie schon in Alfred Schütz‘ Handlungstheorie angelegt ist.10 Im Anschluss an Karl Mannheim setzt die dokumentarische Methode dagegen an der dokumentarischen Sinnebene an. Im Vordergrund ihrer Analysen stehen kollektive Orientierungen, implizite und habitualisierte Formen des Handlungswissens der Akteure. Diese sind den Selbstinterpretationen und Intentionen der Akteure gegenüber vorgängig, denn erst auf der Basis dieser vorreflexiven Bedeutungsstrukturen konstituieren sich Intentionen, Zwecke und Motivunterstellungen. Als atheoretischer Sinnzusammenhang verweist diese Sinnebene nicht auf Reflexion und Kognition, sondern auf ihre interaktive, soziale und kollektive (Re-) Produktion. Wenn sich damit das implizite Handlungswissen, das konjunktive Wissen der Akteure in Gemeinsamkeiten der Handlungspraxis und des Erlebens konstituiert, dann stellt diese kollektive Praxis den methodischen Zugang zur Erforschung solcher habitualisierter Wissensbestände dar. Aus ihrer Beobachtung bzw. aus den Erzählungen und Beschreibungen der Akteure über sie können dann Regelmäßigkeiten festgestellt werden, von denen auf die Prozessstruktur dieses Handelns geschlossen werden kann. Die Rekonstruktion dieses impliziten Handlungswissens, dieser kollektiven Orientierungen lässt zudem Rückschlüsse auf ihre Soziogenese zu, also auf die spezifischen (z.B. milieu-, ge10
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Schütz (1939); vgl. z.B. Hitzler/Pfadenhauer (1998a), die die Zugehörigkeit von Akteuren zur Techno-Szene vor allem als Ergebnis einer individuellen Wahl der Akteure engführen und so deren aktionistische (vor allem mit Tanzen und Drogen verbundene) Praktiken als zweckrational analysieren.
nerations-, geschlechtsspezifischen) Erfahrungsräume, in denen sie entstanden sind. Diese Ebene habitueller Sicherheit und das damit verbundene Orientierungswissen sozialer Akteure finden wir aber bei der Analyse aktionistischer Praktiken von Jugendlichen erst in zweiter Hinsicht vor. Im Vordergrund stehen vielmehr die lebenszyklischen Phasen mit ihren Zäsuren, welche auf einen verunsicherten Habitus der Adoleszenten hindeuten. Habituelle Brüche und mit ihnen korrespondierendes a-habituelles Handeln sind dabei nicht als vollständiger Zusammenbruch des Habitus zu verstehen, denn der „Habitus ändert sich dabei nicht in dem Sinne, daß er irgendwann durch einen anderen ersetzt wird, löst sich also von seinen Erzeugungsbedingungen nicht vollständig“ (Wittpoth 1994, 133). Insofern sind aktionistische Praktiken eher als probehafter Versuch der Wiederherstellung biographischer Kontinuität zu verstehen, auch wenn dieser zunächst auf einzelne Situationen bzw. Episoden begrenzt bleibt. Die dokumentarische Methode zielt damit zunächst vor allem auf diese Vorreflexivität und kollektive Einbindung habituellen Handelns und der zugrunde liegenden Sinnzusammenhänge. Genau diese beiden Aspekte, die zentral für die Zusammenführung von Bourdieus praxeologischer Perspektive und Mannheims Wissenssoziologie in der dokumentarischen Methode sind – Vorreflexivität und kollektive Einbindung – kennzeichnen aber nicht nur habituelles Handeln, sondern auch aktionistische Praktiken. Deutlich unterschieden sind beide Handlungsformen jedoch durch ihre verschiedene Zeitlichkeit: habituelles Handeln als kontinuierlich, dauerhaft, beständig, Aktionismen als situationsorientiert, diskontinuierlich, eigendynamisch. Dieses Problem der unterschiedlichen Zeitlichkeit von habituellen und aktionistischen Praktiken stellt allerdings für die dokumentarische Methode, die auf der Basis der komparativen Analyse arbeitet, kein prinzipielles Zugangsproblem dar: Die Rekonstruktion der impliziten Regelhaftigkeit, die das Handeln der Akteure strukturiert, setzt an der Abfolge von Handlungssequenzen bzw. von Erzählsequenzen über diese Handlungspraxis an (vgl. Bohnsack 2001a). Dabei wird in einer (fallinternen) komparativen Analyse nach Homologien zwischen Sequenzen gesucht, d.h. nach strukturähnlichen Verknüpfungen verschiedener Situationen und Handlungen. Legt man die handlungstheoretischen Annahmen der Sozialisationstheorie Meads zugrunde, kann man habitualisiertes Handeln als ein Handeln verstehen, welches nicht in die Handlungsanforderung bzw. -erwartung des „me“ und die eigentliche Handlung – im Sinne der Antwort des „I“ – differenziert ist. Das Handeln als ein gewohnheitsmäßiges Handeln bildet eine Einheit. Das diese Einheit strukturierende Prinzip, der Orientierungsrahmen, lässt sich im Sinne von Mead als „Haltung“ („attitude“) bezeichnen (vgl. Mead 1998, 412 ff.). Diese Haltung ermöglicht es, die Spezifik der Situation zu überwinden und das Handeln auf eine Reihe strukturähnlicher Situationen anzuwenden. Den
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Handlungen liegt ein Orientierungswissen zugrunde, welches in den Haltungen verkörpert (und damit gesichert) wird. Das diesen Handlungen zugrunde liegende Orientierungsmuster, das „homologe“ Muster, herauszuarbeiten, ist das Ziel der dokumentarischen Methode als einer komparativen Analyse.11 Der Orientierungsrahmen, welcher in der Erzählung einer Handlungsepisode (mit Bezug auf ein spezifisches Thema) zum Ausdruck gebracht wurde, muss sich in anderen Handlungsepisoden (bezogen auf andere Themen) wiederfinden lassen. Genau diese komparative Analyse ermöglicht dann aber auch die Unterscheidung zwischen kontinuierlichen, habituellen Praktiken und diskontinuierlichen, aktionistischen Praktiken. Während im ersten Fall sowohl das Auftreten der Handlung als auch ihr Verlauf durch den Bezug auf diese Regelmäßigkeit strukturiert ist, ist bei aktionistischen Praktiken zwar das Auftreten der Handlung durch (situationsübergreifende) Regeln strukturiert – der weitere Verlauf dieser (ja gerade eigendynamischen) Handlungssequenzen jedoch nicht. Es besteht keine oder nur eine probehafte Einheit von „I“ (als Handlungsantwort) und „me“ (als Handlungsanforderung bzw. -erwartung einer Situation). Im folgenden Teil sollen diese Aspekte anhand eigener empirischer Arbeiten verdeutlicht werden.
5. Aktionismen und Habitus Die sich ergebende Frage nach dem Verhältnis zwischen aktionistischen Praktiken und situationsübergreifenden Orientierungsmustern verweist dann auf die Genese und die Transformation habitueller Muster, die häufig zugunsten des Aspekts der Stabilität und Dauerhaftigkeit vernachlässigt werden. Welche Formen das Verhältnis zwischen situationsbezogenen Aktionismen und situationsübergreifenden Orientierungen annimmt, konnte in verschiedenen Forschungsprojekten (Bohnsack et al. 1995; Bohnsack/Nohl 2000 u. 2001a; Gaffer 2001; Liell 2003; Nohl 2001 u. 2006b; Schäffer 1996) im Rahmen der dokumentarischen Methode rekonstruiert werden. Dabei lassen sich zunächst grob zwei Haupttypen von Aktionismen verdichten, bei denen sich der zweite Typ als sehr variantenreich erweist.12 In allen Fällen sind Aktionismen nicht vollkommen diskontinuierlich, nicht ohne Bezug zu habitualisierten Handlungsmustern und Habitus, kein Ausdruck reiner Spontaneität: Beim ersten Typ haben aktionistische Praktiken vor allem episodalen Charak11 12
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Zur komparativen Analyse vgl. den Beitrag von Nohl i. d. Band. Dies vor allem deshalb, weil es sich um einen Typ handelt, bei dem sich im Zuge der Aktionismen neue biographische Orientierungen zu entfalten beginnen und damit die Mehrdimensionalität der Erfahrungsräume, welche den Aktionismen eine spezifische Richtung geben, sehr viel deutlicher herausgearbeitet werden kann.
ter, aus ihnen erwachsen kaum dauerhafte soziale Zusammenhänge, sie sind vielmehr der entwicklungs- und milieuspezifische Ausdruck von Diskontinuitätserfahrungen der Akteure und dienen der ungerichteten Suche nach neuen habituellen Mustern, welche über Ad-hoc-Vergemeinschaftungen zu erreichen versucht wird. Der zweite Typ aktionistischer Praktiken ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass diese Handlungsformen vor dem Hintergrund tradierter, aber problematisch gewordener Orientierungsmuster habitualisiert werden. Bei dieser handlungspraktischen Suche nach habitueller Übereinstimmung entstehen neue soziale Zusammenhänge und neue habituelle Muster. Dieser häufig ziel- und planlos erscheinende Charakter aktionistischer Praktiken lässt den Eindruck von Irrationalität und Strukturlosigkeit entstehen. Dass der fehlende Entwurfcharakter aktionistischen Handelns aber nicht mit Orientierungslosigkeit in eins zu setzen ist, sondern ein solches Handeln episodale bzw. situative Orientierung ermöglicht, verdeutlichen folgende Transkriptausschnitte aus der Gruppendiskussion mit Treffer, einer Gruppe türkisch/arabischer jugendlicher Breakdancer, die zugleich ein Beispiel für den ersten Typus des Zusammenhangs von Aktionismen und Orientierungsmustern ist. Auf die Frage des Interviewers nach den biographischen Plänen der Jugendlichen entfaltet sich folgender Diskurs: Am: ?m: Am:
¬ Wir werden solange tanzen. ¬ @(.)@
¬ Also ick spreche für mich, (.) „Sunset“13 ich werde auf jeden Fall weitertanzen und dis weiterführen (.) [...] was die andern ja abbrechen. (.) wir werden wir werden sowieso (.) [...] keiner von uns hier kann aufhören: (.) „Empire“ sagt jeden Tag hat kein Sinn ich hör auf und (.) und ein Tag hält er vielleicht aus nicht zu kommen aber nächsten Tag is=er genau wieder mitten drin und fängt schon bevor wir (.) bevor wir umgezogen sind hat=er schon fängt er schon an zu tanzen und schwitzt sich ab wie'n wat weiß ich was, (.) also (.) Aufhören ist nicht drin. [...] Cm: Also wenn man einmal drin ist kommt man nicht wieder raus (irgendwie) Bm: ¬ Also man steckt in eine Falle. ich bin zwei Tage rausgegangen aus Treffer ich steck in AIDS. @ich muss wieder reingehen. (.)@ Dm: ¬ @(.)@ Am: ¬ Ich steck in AIDS also er meint er ist drogenabhängig da also abhängig davon. Y1: ¬ Hm Cm: ¬ AIDS Am: ¬ Ja wir ham erstmal alle dis vor.
In der Proposition von Am wird eine Kontinuität ihrer Gruppenaktivitäten zum Ausdruck gebracht, welche einer biographischen Relevanz entbehrt, d.h. es wird nicht klar, welchen Stellenwert dieser Entwurf innerhalb ihrer bio13
„Sunset“ und „Empire“ sind die codierten Künstlernamen der Jugendlichen Am und Em.
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graphischen Planung hat. Die Situationsbezogenheit des Tanzens wird lediglich ,in die Länge gezogen‘. Dabei wird deutlich, dass das „Weiterführen“ des Tanzens nicht an der Erreichung eines biographisch relevanten Ziels orientiert ist, sondern an der Aufrechterhaltung der Gruppenaktivitäten, d.h. der situativen Aktionismen, die andere wie z.B. Bm oder „Empire“ (hypothetisch) „abbrechen wollen“. Dieses wird an der nachfolgenden Argumentation in Bezug auf „Empire“ deutlich. Dieser erkennt die ,Sinnlosigkeit‘ seines Tuns, kann dem aber (ähnlich wie zuvor Bm) noch keine positiv konnotierten Handlungsmuster entgegensetzen, um somit neue Orientierungen zu erlangen. Es bleibt beim ,Abschwitzen‘. Er ist „genau wieder mitten drin“. Das „Mitten-drin-Sein“ in den Handlungspraxen des Gruppengefüges schafft so situative Handlungssicherheit, versperrt aber den Blick für Planungen biographischer Reichweite. Stattdessen stellen die Jugendlichen ihre Breakdanceaktivitäten als einen Kreislauf dar, dem sie sich ausgeliefert sehen. Biographische Planung ist somit nicht möglich bzw. wird suspendiert; sie stecken in einer „Falle“. Dabei ist das Erleben des Verlustes an Kontrollfähigkeit durchaus ambivalent, was der Vergleich mit AIDS bzw. Drogenabhängigkeit zeigt. Dieser Erfahrungsambivalenz entziehen sie sich, indem sie das Thema formal abschließen und das (absurde) Fazit ziehen: „AIDS-Ja wir ham erstmal alle dis vor“. Ihr Versuch, Breakdance biographisch sinnvoll zu verorten, misslingt also. Im zweiten Teil des Transkriptes wird deutlich, warum. Am:
Ich meine, wir haben alle wir haben alle sehr viel Sachen aufgegeben wegen Breakdance, (.) deshalb können wir jetzt wir sind jetzt zu weit gegangen wir können nicht mehr zurück. Y1: ¬ Hhm, Am: ¬ Wir haben (.) sehr viel aufgegeben. (.) sehr viele Freunde haben (.) wir aufgegeben und ¬ Bak bak14, (.) wir sind ein Weg Cm: ¬ Wir sind einen Weg w=wir sind ein gegangen und haben unsere Spuren verwischen. Am: ¬ Verwischt. Dm: ¬ Verwischt. Cm: ¬ Verwischt. Bm: ¬ @Verwischt@. Am: ¬ Ja und wir kommen nicht mehr zurück. und wir Cm: ¬ Wir: können nicht mehr zurück. (Einen cool lan15)
Nachdem Am versucht hatte, ihre Gruppenaktivitäten für ihre Zukunft biographisch zu entwerfen (quasi als Inszenierung des „Um-Zu-Motivs“), versucht er nun, diesen Entwurf innerhalb ihrer Gruppengeschichte zu verorten (das „Weil-Motiv“ aufzuzeigen). Die Genese ihres Entwurfs stellt sich als die Inszenierung eines ,Point of no return‘ dar, an dem die Breakdancer sich in ihrer Biographie angelangt sehen („...wir sind jetzt zu weit gegangen wir 14 15
200
dt.: Schau schau dt.: Ey Mann
können nicht mehr zurück“). War an dem Entwurf, das Tanzen „weiterzuführen“, kein Ziel erkennbar, verbleibt die Motivsuche innerhalb ihrer Gruppengeschichte gänzlich im Leeren, da sie ihre „Spuren verwischt“ haben. In der Metaphorik des ‚Seinen-Weg-gehen-und-seine-Spuren-verwischen‘ dokumentiert sich der Versuch, Gemeinsamkeit auf der Basis biographischer Diskontinuitäten zu entfalten, wie sie hier während des Diskussionsverlaufes noch einmal inszeniert werden. Es soll sich quasi aus dem Nichts (der ,verwischten Spuren‘) der weitere Lebensweg abzeichnen bzw. emergieren. Dieses ,Nichts‘ wird dabei innerhalb ihrer Gruppenaktivitäten (Breakdance und kriminalisierungsfähiges Handeln)16 inszeniert und seine biographische Tragweite anhand des Abbruchs biographisch relevanter Beziehungen („sehr viele Freunde“) verdeutlicht. Was den Jugendlichen bleibt, ist die Einsicht, dass sie nicht mehr zurückkommen, weil sie es nicht mehr können; ihnen bleibt nur noch voranzuschreiten, ohne dass sie wüssten wohin. Auch wenn ihnen das Ziel (noch) nicht klar ist, sehen sie sich nicht gezwungen, ihre derzeitigen Aktivitäten biographisch zu plausibilisieren. Sie befinden sich (noch) in einem Aktionismus, der situationsbezogene Handlungssicherheit bietet (sie können zwar nicht daraus entkommen, aber auch nicht daraus fallen). An diesem Beispiel zeigt sich auf einer propositionalen Ebene die Bedeutung aktionistischer Praktiken in biographischen Phasen habitueller Verunsicherungen, wie sie für die Adoleszenz typisch sind. Die Gemeinschaft der Gruppe Treffer resultiert aber gerade aus der gemeinsamen Erfahrung dieser habituellen Verunsicherung, da sie sich in einer Entwicklungsphase befinden, in der biographische Selbstverortung radikal negiert wird.17 Diese habituelle, wenn auch passagere Gemeinsamkeit ist eine Voraussetzung, dass die Verstrickung in solche situativen Aktionismen dem kollektiven Habitus zum Medium wird, diese krisenhaften lebenszyklischen Zäsuren zu überwinden. Der Aktionismus bekommt hier eine Brückenfunktion zwischen situativer Orientierung, lebensphasenbezogener Orientierung und (aber nicht zwingend) lebensphasenübergreifenden, also habituellen, biographischen Orientierungen. Ob der Übergang von den phasenspezifischen zu den biographischen Orientierungen gelingt, ist abhängig davon, inwieweit in den Aktionismen eine biographische Verortung über die (Weiter-) Entwicklung sozialisationsgeschichtlich verankerter Habituselemente zu erreichen versucht wird, d.h. inwieweit es zu einer Konjunktion der Peergroup-Mitglieder als Milieu kommt. 16
17
In der Herausarbeitung des Orientierungsrahmens der Gruppe Treffer zeigte sich, dass ihre zentralen Aktivitäten, Breakdance und kriminalisierungsfähiges Handeln, die gleiche aktionistische Struktur aufwiesen, d.h. denselben biographischen Stellenwert hatten (vgl. zur Interpretation des Tanzaktionismus der Gruppen: Gaffer 2001). Dies ist die Entwicklungsphase der „Negation“ (zur Generierung des allgemeinen Entwicklungsphasenmodells von Adoleszenz vgl. Bohnsack 1989; in Bezug auf die Breakdancer vgl. Gaffer 2001).
201
Gerade dies trifft auf die Gruppe Treffer nicht zu. Zwar bringt sie das Strukturmerkmal „Kollektivität“ in fokussierter Art und Weise zum Ausdruck, indem sie auf die Vergemeinschaftungsfunktion ihres Tanzaktionismus verweist. Allerdings muss sie sich diese Gemeinschaftlichkeit situativ als immer neuen Handlungszwang entwerfen und selbst noch während des Diskussionsverlaufes in dieser Zwanghaftigkeit vergegenwärtigen. Dieser Versuch, im Medium zirkularer Aktionismen eine Ad-hoc-Vergemeinschaftung herzustellen, indem die Akteure miteinander verstrickt werden, verweist also auf episodale Versuche der Konstitution einer „habituellen Übereinstimmung“ (Bohnsack et al. 1995), d.h. eines kollektiven Habitus. Auf der Ebene der Alltagszeit äußert sich diese Episodalität in Form situationsoffener, diskontinuierlicher Praktiken, die wir u.a. während der Gruppendiskussion beobachten konnten, wodurch im Zuge der dokumentarischen Interpretation stärker die performatorische Ebene eines Diskurses berücksichtigt wird. Auf dem dramaturgischen Höhepunkt der Diskussion verstricken sich die Jugendlichen während eines heftigen Streites zweier Gruppenmitglieder in einen (handlungspraktischen) Aktionismus des Schlagens.18 Die Handlungsanforderung „me“ (Situation der Gruppendiskussion) und die Antwort „I“ der Gruppe fallen auseinander, können nicht in einen einheitlichen Handlungsablauf integriert werden, da diese Situation mit einer generellen „Haltung“ („attitude“) (noch) nicht bewältigt werden kann. Normative Erwartungen über den Ablauf einer Gruppendiskussion werden situativ suspendiert, die Handlungssequenzen nicht kontinuierlich, sondern diskontinuierlich fortgesetzt. Hierin zeigt sich genau die Eigendynamik dieses Handelns. Dass dem Auftreten dieser Handlungsform eine strukturelle Regelmäßigkeit zugrunde liegt, zeigt sich in der komparativen Analyse. Sie findet sich beispielsweise in der teilnehmenden Beobachtung durch Nohl (vgl. Bohnsack/Nohl 2000; Nohl 2001, 201 f.) einer „battle“ (Breakdance-Wettkampf), bei dem die Gruppen Treffer und Keller gegeneinander tanzten, wenn auch in spielerischer Form, wieder. Bei einer Breakdance-Meisterschaft hingegen entwickelte sich die Überschreitung offizieller Wettkampfregeln durch die Gruppe Treffer zur Massenschlägerei aller Beteiligten, was dann eine entsprechende mediale Aufmerksamkeit fand (vgl. eine große deutsche Tageszeitung vom 18. 5. 1998). Daran zeigt sich die oben erwähnte strukturelle Regelmäßigkeit zwar im Auftreten einer Handlung, aber nicht in ihrem Verlauf. Dies ist ja gerade das Kennzeichen des Aktionismus als eine Form a-habituellen Handelns. Mit der dokumentarischen Methode der Interpretation, welche das Handeln der Erforschten immer in Bezug zu ihrem Habitus rekonstruiert, kann verhindert werden, dass von der Ebene der Kopräsenz kollektiver Akteure statisch auf eine biographisch relevante Ebene habitueller Übereinstimmung 18
202
Zu einer ausführlichen Darstellung und Interpretation vgl. Gaffer 2001.
geschlossen wird. Der kollektive Habitus wird dagegen dynamisch in seiner Entstehung, Verletzung, aber auch Veränderung und Fortentwicklung rekonstruiert. Eine habituelle Übereinstimmung kollektiver Akteure gelingt aber erst dann in vollständiger und dauerhafter Weise, wenn das Handeln in biographische Kontinuität überführt wird, indem es als Restrukturierung der Vergangenheit und Prästrukturierung der Zukunft (als quasi zeitliche Konjunktion oder besser Synthese) in die kollektive Handlungspraxis eingelassen wird. Solcherart aktionistisches Handeln stellt sich dann weniger als ahabituelles Handeln dar, sondern vielmehr als prähabituelles Handeln. In der folgenden Analyse des Tanzaktionismus der Breakdance-Gruppe Keller kann dessen Funktion, eine habituelle Übereinstimmung durch Konjunktion zu erlangen, und das darin angelegte Potenzial für biographische Orientierung aufgezeigt und damit der zweite Typ von Aktionismen verdeutlicht werden. Auf die Frage des Interviewers nach ihren bisherigen Tanzauftritten und ihrer anschließenden Aufzählung durch die Jugendlichen, entfaltet sich folgender Diskurs: Fm: ¬ Genau. aber dis kommt immer mit der Zeit also jemand kommt oder er zum Beispiel in seiner Schule organisiert dis oder jemand hört so und dann gehen wa einfach hin Dm: ¬ Ja. Fm: und dis is auch manchmal so unorganisiert. wir gehn einfach hin und dann (.) kennen die uns und die meinen dann Bm: ¬ Machen wa einfach eine Show. Fm: ¬ Genau. dann (wieder) machen wir einfach. wenn wir Lust haben tanzen wir. genau so ist es bei den Feten und so weiter, bei Feten und so tanzen wir auch etwas, also wo es Party gibt's da sind wir immer. so gesagt, (.) na ja dis war's halt. und Auftritte wie gesagt machen wir. manchmal kriegen wir auch Geld und so, (2) °hm das is° Dm: ¬ Wir werden's versuchen zu erweitern. größere Auftritte zu machen. Fm: ¬ Ja, also es kommt auf (.) uns an also um so besser wir werden, um so mehr Auftritte können wir machen, also hm wenn man immer dis gleiche macht, ist auch (bei uns) aber wenn wir immer hm so bald wir besser werden, versuchen wir selber (.) auch äh Auftritte zu organisieren; °und machen wa halt dann Auftritte.°
In der Proposition von Fm wird die Planlosigkeit und Spontaneität ihrer bisherigen Auftritte zum Ausdruck gebracht. Diese verdeutlichen die Jugendlichen in Form dreier Ausprägungen: Sie sind zeitlich nicht fixiert, sie sind unorganisiert; es ist eine Frage der Lust. Deutlich wird daran, dass ihre bisherigen Auftritte weniger auf einer professionellen Ebene angesiedelt waren, sondern das Produkt ihrer Peer-Beziehungen innerhalb ihres sozialräumlichen Milieus sind; sie tanzen da, wo man sie kennt. Ihre „Show“ ist keine reflexiv entworfene Aufführung, sondern entspringt der situativ empfundenen Lust dazu, die wiederum von der Atmosphäre auf den Partys beeinflusst wird. Die Gruppe hat also ihre Auftritte innerhalb der gemeinsamen Handlungspraxis ihrer Peer-Welt vollzogen. Diese Spontaneität und Planlosigkeit 203
dokumentiert sich in der Äußerung von Fm, dass ihr Partybesuch und die Party koinzidieren, ohne dass ein Entwurf erkennbar wäre („also wo es Party gibt’s da sind wir immer“). Die zweckrationale Haltung gegenüber den Auftritten, bei denen sie Geld bekommen, können die Jugendlichen nicht einordnen („hm dis is“). Ihr scheint man eher ratlos gegenüberzustehen. Sicher scheint dagegen der Entwurf, diese Auftrittsmöglichkeiten zu „erweitern“, wobei Letzteres einerseits für die Qualität ihrer Darstellung stehen kann als auch für den Radius der Auftrittsorte. Es dokumentiert sich hier die aktionistische Form des Tanzens. Im Vordergrund steht das Fortlaufen einer bestimmten Aktion, deren Richtung sich erst allmählich herauszukristallisieren beginnt. Die Intentionalität der Handlungspraxis ist eine aus ihr selbst entstandene. In der Konklusion bringt Fm mögliche Zielvorstellungen in Bezug auf ihr Tanzen zum Ausdruck. Potenzielle Auftrittsmöglichkeiten gehen proportional mit ihrer Tanzkompetenz einher. Die Probehaftigkeit der Antwort „I“ auf die Situationsanforderung Partyauftritt (dafür Geld zu nehmen) mit der dahinter stehenden (zweckrationalen) Haltung „me“ äußert sich im folgenden Transkriptausschnitt, in dem deutlich wird, dass mit ihren Partyauftritten weniger eine strategische Haltung angezeigt ist. Es geht vielmehr um die Reinitiierung ihrer (peer-)milieuspezifischen Gemeinsamkeiten: Fm:
@Äh@ und dann gehen wir hin und da wird HipHop gespielt und dann auf=einmal sagen wir den DJ oder von alleine macht er an und dann (.) wird da halt gebreaked; Dm: ¬ Bringen wa Stimmung in die Party, (.) wenn überall tote Hose ist, Fm: ¬ Also wo wir auch hingehen, ist Stimmung immer. Dm: ¬ Ja=ja, erst kommen wa rein so tote Hose, keiner spielt Cm: ¬ Sonst ist immer langweilig. Dm: (nur) paar Leute, (.) dann fangen wa mit Breakdance an, dann kommen alle Leute und wenn Breakdance zu Ende, sind alle da und fangen gleich an zu tanzen. hm also die Bm: ¬ Hip Hop, Fm: ¬ Hm die meisten, Dm: sehen uns, und was weiß ich dis erregt die aber auf=einmal die wolln auch dann Fm: ¬ Ja, Dm: tanzen, und die (.) können das nicht, aber dann danach kommt Hip Hop und so @(.)@ und dann fangen die alle auch (an) zu tanzen. Fm: ¬ Also meistens, Dm: ¬ (Eben) zu HipHop @(.)@
In der Beschreibung ihrer Partyaktivitäten wird deutlich, dass sich ihr Auftritt plötzlich („auf=einmal“) während des Geschehens ergibt. Abhängig ist dies offensichtlich von einer bestimmten Musikrichtung: Hip Hop. Ihr Breakdance-Auftritt ist der Auftakt, Stimmung in die Party zu bringen bzw. er ist das Erzeugungsprinzip schlechthin. Hierin kommt die Zwischenstellung der 204
Gruppe zum Ausdruck, einerseits im Milieuzusammenhang verwurzelte Peers zu sein, andererseits mit der Formation Keller dem Tanzen eine zweckrationale Richtung zu geben. Mit ihrem Breakdance-Auftritt fungiert sie zwar zweckrational als „Stimmungsmacher“ auf einer Party, andererseits wird in der Darstellung ihres plötzlichen, unorganisierten Auftrittes deutlich, dass ihre ,Stimmungsmache‘ sich aus der situativen Aktion heraus ergab. In der detaillierteren Beschreibung von Dm wird dies deutlicher. Vor ihrem Auftritt ist die „Tote Hose“-Stimmung dadurch gekennzeichnet, dass die Leute vereinzelt („paar“) „spielen“. Ihr Tanzbeginn markiert dann den Auftakt, die Partyteilnehmer zu aktivieren und gegen Ende des Auftrittes vollständig zu versammeln. Dieses passiert, indem die Gruppe mit ihrem Tanzen eine Erregung bei den anderen Partygästen erzeugt, in deren Zuge sich die Leute gemeinsam versammeln und an dem teilzuhaben versuchen, was die Tänzer mit ihrer Erregung erzeugen. Die Partyteilnehmer sind schon fast vollständig von der Wirkung der Aktion eingenommen. Ihre technische Inkompetenz verhindert ein identisches Nacherleben eben dieser Erregung; es kann aber nach der Vorführung strukturidentisch nachvollzogen werden, indem die Teilnehmer zur Hip Hop-Musik tanzen. Der Tanzauftritt der Gruppe bewirkt also eine Art ekstatische Kollektivierung derer, die vorher vereinzelt agierten. Die Jugendlichen stiften mit ihrem Tanzen kollektive Vergemeinschaftungen, indem sie ihre peer-milieuspezifischen Gemeinsamkeiten zu reinitiieren und revitalisieren versuchen. Diese Wirkung wird von Fm eingeschränkt („meistens“); es bleibt aber unexpliziert, welche Faktoren diese Erregung nicht begünstigen. Hervorgehoben wird dagegen die präferierte Musikrichtung: Hip Hop; sie ist das Band, das die Partyteilnehmer über unterschiedliche Tanzformen hinweg verknüpft. Die Herausbildung neuer sozialer Zusammenhänge und Milieus im Zuge der Habitualisierung von Aktionismen geschieht zwar häufig vor dem Hintergrund hochgradig individueller Orientierungen (z.B. an Selbstdurchsetzung und Selbstbehauptung oder an Individualität; vgl. Schäffer 1996; Bohnsack/Nohl 2001a; Liell 2003), diese bleiben jedoch in ihrer Entstehung wie in ihrer Reproduktion auf das gemeinsame, kollektive aktionistische Handeln angewiesen. Ansatzweise finden sich in den Erzählungen der Gruppe Keller (aber auch bei den Musikgruppen in Schäffer 1996) über ihre Gruppenaktivitäten zwei Entwicklungslinien, die in anderen Gruppen jeweils noch weiter forciert erscheinen und die zugleich den Variantenreichtum dieses zweiten Typs von Aktionismen aufzeigen: Eine Variante, die sich im Rahmen der Habitualisierung von aktionistischen Praktiken ergeben kann, ist die Professionalisierung dieser Aktivitäten, in deren Verlauf die ‚Technik‘, das Können, zunehmend in den Vordergrund tritt. Besonders im Rahmen von musikalischen und tänzerischen Praktiken, z.B. Rap und Breakdance, kommt es bei einigen Gruppen nicht nur zur Aus-
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bildung eines eigenen Stils, neuer Orientierungsmuster und Zugehörigkeiten, sondern auch zur Einbindung in Events im Rahmen kommerzialisierter Jugendkulturen (vgl. die Gruppe Katze in Bohnsack/Nohl 2001a und Nohl 2001, 168 ff. und die Gruppen Stress und Helikopter in Liell 2003). Eine andere Variante besteht darin, dass sich die Herausbildung neuer kollektiver Zugehörigkeiten nicht mehr primär auf die (Peer-) Group der Akteure bezieht, sondern im Rahmen von Auftritten vor Publikum, wie bei der Gruppe Keller auf Partys, über die Peergroup hinaus auf alle Anwesenden ausgeweitet wird. Im Falle der Rap-Gruppen Ideal und Drama (vgl. Liell 2003) sind die Akteure selbst jeweils aufgrund einer gemeinsam geteilten Biographie seit der Kindheit, in der Gruppe Ideal auch durch ein politisches Programm, miteinander verbunden. Bei ihren Auftritten versuchen sie, neue Formen der gruppenübergreifenden kollektiven Zugehörigkeit (zwischen deutscher und türkischer Kultur bei der Gruppe Ideal, bei der Gruppe Drama im Rahmen von Hip Hop) situativ im Medium des gemeinsamen Tanzens zu erproben.
6. Schluss Auf dem Weg einer handlungstheoretischen Fundierung des durch die dokumentarische Methode empirisch generierten Konzepts des Aktionismus konnten zunächst die handlungstheoretischen Schwächen traditioneller, objektivistisch orientierter Ansätze in der Jugendforschung herausgearbeitet werden. Die Suche nach handlungstheoretischen Alternativen zur Analyse eigendynamischer, situativer, kollektiver Praktiken in männlichen Jugendgruppen führte zu handlungstheoretisch orientierten Ansätzen des Cultural Turn, weil hier erstens – gegen objektivistische Verengungen – die Einbettung von Praktiken in kollektiv geteilte Deutungsmuster und Handlungswissen in den Blick gerät und zweitens, weil mit habituellen Praktiken Handlungsformen fokussiert werden, die mit Aktionismen den Bezug auf kollektive Einbindungen und einen wesentlich vorreflexiven Charakter teilen. Hans Joas’ Theorie der „Kreativität des Handelns“ erweitert diese Überlegungen, indem einerseits Prozesse der Unterbrechung des habituellen Handlungsflusses der Akteure und andererseits Phänomene der Selbstentgrenzung, die auch Aktionismen kennzeichnen, analysiert werden. In Anlehnung an diesen (vgl. ebd.) konnten über eine Re-Lektüre religionssoziologischer Autoren drei wesentliche Aspekte aktionistischer Praktiken erschlossen werden: die Situationsbezogenheit, der Körperbezug und die Kollektivität dieser Handlungsformen. Während diese Überlegungen einen handlungstheoretischen Rahmen für die Analyse von Aktionismen liefern, erweist sich die dokumentarische Methode als geeigneter methodologischer Rahmen, um aktionistische Praktiken empirisch 206
zu untersuchen. Die praxeologische Wendung, die Mannheims Wissenssoziologie darin erfährt, vermag nicht nur einen Zugang zur Vorreflexivität und kollektiven Einbindung habitueller und aktionistischer Praktiken in Verbindung mit den Erfahrungshintergründen der Akteure zu schaffen, sondern auch der spezifischen (und sie damit von habituellen Handlungsformen unterscheidenden) Zeitlichkeit von Aktionismen analytisch gerecht zu werden, insbesondere dem komplexen Verhältnis von Regelhaftigkeit und Eigendynamik, von Situativität und übergreifenden Orientierungen in diesen Praktiken. Unter Rückgriff auf mehrere Forschungsprojekte im Rahmen der dokumentarischen Methode können schließlich zwei Haupttypen aktionistischer Praktiken verdichtet werden: Beim ersten Typus sind diese Handlungsformen vor allem Ausdruck und Mittel einer diskontinuierlichen Suche nach neuen kollektiven Orientierungs- und Handlungsmustern, sie bleiben von daher häufig episodal und schaffen selbst keine stabileren Formen der kollektiven Einbindung. Beim zweiten Typus kommt es im Zuge aktionistischer Praktiken zu habituellen Übereinstimmungen, welche in verschiedenen Varianten neue kollektive Orientierungs- und Handlungsmuster der Akteure generieren. Im Gegensatz zu einer primär defizitorientierten und pathologisierenden Analyse jugendkultureller Praktiken, wie sie in objektivistischen Ansätzen der Jugendforschung vorherrscht, können mit Hilfe des – unter Verwendung der dokumentarischen Methode empirisch generierten – Konzepts des Aktionismus sowie seiner handlungstheoretischen Präzisierung sowohl die Produktivität jener Praktiken (vor allem die Schaffung neuer kollektiver Einbindungen) als auch ihre Risiken (z.B. durch Kriminalisierung) rekonstruiert werden.
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Michael Meuser
Repräsentation sozialer Strukturen im Wissen. Dokumentarische Methode und Habitusrekonstruktion Die für das Alltagswissen typische Haltung, sich die Welt in Gestalt binärer Oppositionen zu erklären, ist auch in der Soziologie nicht unbekannt. Hier begegnet man einem solchen Denken z.B. in der Gegenüberstellung von Mikro- und Makrosoziologie oder von qualitativen und quantitativen Methoden. Im Sinne klarer Zuständigkeiten werden die qualitativen Verfahren vielfach der Mikro- und die quantitativen der Makrosoziologie zugeschlagen. Bei den meisten solcher binärer Oppositionen handelt es sich nicht um ein Verhältnis komplementärer Gleichgewichtigkeit. Vielmehr pflegt, wie Simmel (1985, 200) gezeigt hat, die eine Seite die Relation zu dominieren bzw., mit Luhmann (1988c, 49) gesprochen, erfordern „anschlußfähige Unterscheidungen eine (wie auch immer minimale, wie immer reversible) Asymmetrierung“. In dieser Asymmetrie finden sich die Mikrosoziologie und die qualitativen Verfahren gewissermaßen auf der Seite der ‚armen Verwandten‘ wieder. Dies hat wiederum die Konsequenz, dass den quantitativen Verfahren zwar zugetraut wird, auch das Geschäft der Mikrosoziologie zu besorgen, ein makrosoziologisches Potenzial der qualitativen Verfahren hingegen gewöhnlich nicht gesehen wird. Eine Soziologie, welche die problematische Unterteilung in Mikro- und Makrosoziologie nicht vornimmt, ist die habitustheoretische Sozialstrukturanalyse Pierre Bourdieus. Bourdieu liefert, insbesondere in den „feinen Unterschieden“ (1982) oder im „Entwurf einer Theorie der Praxis“ (1979), Sozialstrukturanalysen (der französischen bzw. der kabylischen Gesellschaft), also das, was man gewöhnlich als Makrosoziologie bezeichnet, verwendet dazu aber – unter anderem – begriffliche Mittel, die, folgt man dem verbreiteten Sprachgebrauch, der Mikrosoziologie zuzurechnen wären. Der zentrale Begriff des Habitus ist eine wissenssoziologische Kategorie, mit welcher die für die Reproduktion sozialer Strukturen konstitutive Bedeutung symbolischer Repräsentationen aufgeschlossen wird. Damit, insbesondere mit der Betonung der Notwendigkeit der nicht nur metaphorisch gemeinten Inkorporierung sozialer Strukturen, holt Bourdieu den Handelnden gewissermaßen in die Sozialstrukturanalyse zurück. In den erfindungsreichen, gleichwohl habituell gebundenen Interpretationen der Akteure – und nur darin – ‚leben‘ die 209
sozialen Strukturen. Bourdieu betreibt Sozialstrukturanalyse, indem er sich (auch) den praktischen Verstehensleistungen („compréhension pratique“, Bourdieu 1997a, 163) der Gesellschaftsmitglieder zuwendet.1 Diese Verknüpfung von sog. mikro- und sog. makrosoziologischer Perspektive bzw. die wissenssoziologische Auflösung dieser falschen Opposition wirft die Frage auf, ob und auf der Basis welcher Methodologie sozialstrukturelle Einbindungen sozialen Handelns mit den Verfahren einer interpretativrekonstruktiven Wissenssoziologie erfasst werden können. Bourdieu gibt mit dem Habituskonzept gewissermaßen die Sinndimension vor, auf die sich ein entsprechendes Bemühen zu richten hätte. Die geeigneten methodischen Mittel lassen sich hingegen eher in der an die Mannheim’sche Wissenssoziologie anschließenden Methodologie der dokumentarischen Methode der Interpretation finden.
1. Bourdieu und Mannheim – wissenssoziologische Übereinstimmungen Weder die Bourdieu’sche noch die Mannheim’sche Soziologie kann an dieser Stelle näher erläutert werden. Auf Parallelen zwischen beiden ist andernorts schon hingewiesen worden (vgl. Bohnsack 2000a; Meuser 1999). Ich konzentriere mich hier auf zwei zentrale Aspekte: den Habitusbegriff (1) und die Konzeption des praktischen Verstehens (2). (1) Es ist unschwer zu erkennen, dass der Habitusbegriff einem zentralen Gedanken der Mannheim’schen Wissenssoziologie korrespondiert: dem der Seins- und Standortverbundenheit des Denkens. Der als „gesellschaftlicher Orientierungssinn“ (Bourdieu 1982, 728) fungierende Habitus verweist auf eine spezifische Soziallage, deren Strukturen sich in den inkorporierten Schemata des Habitus niederschlagen. Das in Gestalt des Habitus einverleibte Orientierungswissen, das von Körperroutinen über Geschmackspräferenzen jedweder Art (bei der erotischen Attraktion, bei der Wohnungseinrichtung, bei der Vorliebe für bestimmte Speisen u.v.m.) bis zu Weltbildern reicht, trägt den Index der sozialen Verhältnisse, in denen es erworben wurde und auf die es eine Antwort darstellt. „Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis“ (Bourdieu 1993b, 102). In den „feinen Unter1
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Die Fokussierung der Verstehensleistungen der Akteure scheint in den jüngeren Arbeiten ein stärkeres Gewicht als in den älteren zu haben, wie etwa der Vergleich von „Das Elend der Welt“ (Bourdieu et al. 1997) und „Die feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1982) zeigt. Da es nicht meine Absicht ist, eine werkskritische Rekonstruktion der Entwicklung der Bourdieu’schen Soziologie vorzunehmen, werde ich solche Verschiebungen des Fokus nicht zum Gegenstand einer systematischen Betrachtung machen.
schieden“ hat Bourdieu dies materialreich für den Klassenhabitus dargelegt. Aber auch andere Soziallagen lassen sich habitustheoretisch analysieren, z.B. die Geschlechtslage (vgl. Bourdieu 1997b; Engler 2003; Krais 1993, 2001; Meuser 1998), die Generationszugehörigkeit (vgl. Mauger 1989) oder Ethnizität (vgl. Bentley 1987; Bröskamp 1993). Wie Bourdieu geht Mannheim davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Lage sich in den Modi der Welterfahrung niederschlägt. Dadurch, dass Individuen derselben „sozialen Lagerung“ angehören, dass sie unter ähnlichen Bedingungen leben oder aufgewachsen sind, entsteht eine Gemeinsamkeit der Erfahrungsbasis, die Mannheim (1980) als „konjunktiven Erfahrungsraum“ bezeichnet. Konjunktive Erfahrungsräume stiften eine grundlegende Gemeinsamkeit, die auch zwischen Menschen gegeben sein kann, die nie in interaktiver Kopräsenz gewesen sind. Mannheim (1964b) hat dies am Generationszusammenhang expliziert. In ähnlicher Weise sagt Bourdieu (1993b, 109) über die „Homogenisierung der Habitusformen“ einer Klasse, sie ergebe sich aus der „Homogenität der Existenzbedingungen“ und sorge dafür, dass die Praktiken „ohne jede direkte Interaktion und damit erst recht ohne ausdrückliche Abstimmung einander angepasst werden können“. Weil „die Habitusformen dieselbe Geschichte verkörpern“ (ebd., 108), können die Akteure, die dieselben Habitusschemata inkorporiert haben, einander wechselseitig verstehen. Dieses Verstehen lässt sich mit Mannheim als ein konjunktiv begründetes begreifen und unterscheidet sich von einer kommunikativ hergestellten Verständigung. Eine geteilte konjunktive Erfahrung fundiert eine „habituelle Übereinstimmung“ (Bohnsack/Nohl 1998, 263) der Handelnden. In diesem Sinne hat der konjunktive Erfahrungsraum, wie Bohnsack (1993b, 44) ausführt, „zwar eine objektive Struktur, ist aber dennoch ein geistiges Gebilde und ist somit – wie Mannheim (...) formuliert – ein ‚objektiv-geistiger Strukturzusammenhang‘.“ Dieser Strukturzusammenhang ist freilich nicht als ein von außen auf das Handeln wirkender Einfluss zu verstehen. Die Strukturen liegen nicht in einem ‚Jenseits‘ der Handlungspraxis. Sie resultieren „aus dem sinnvollen Zusammenspiel der individuellen Bewußtseinsvollzüge“ (Mannheim 1980, 250). In seiner Studie über den Konservatismus erläutert Mannheim (1984, 94 ff.), welches Verhältnis von „objektiv-geistigem Strukturzusammenhang“ und Subjektivität des Individuums er annimmt. Jener Zusammenhang ist objektiv, weil er „über das besondere Individuum, das ihn in seinen Erlebnisstrom zeitweilig aufnimmt, hinausragt“ (ebd., 95), er existiert aber nur insoweit, als er im Handeln der Individuen verwirklicht wird. Er ist nicht objektiv im Sinne eines immanenten Prinzips, „dessen Entfaltungsgesetz ohne weiteres gegeben ist“, wobei „die einzelnen Individuen nichts täten als dieses Prinzip (wenn auch unbewußt) zu entwickeln, (...) aber dennoch irgendwie objektiv gegenüber dem hic et nunc Erleben des besonderen Individuums“ (ebd.).
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Mit dem Habitus-Begriff verfolgt Bourdieu (1997a, 165 f.) eine ähnliche Absicht: Er verlegt das ‚Wirken‘ sozialer Strukturen in die handelnden Subjekte. Er wendet sich damit sowohl gegen ein mechanistisches Verständnis sozialen Handelns, das annimmt, das Handeln sei ein mechanischer Effekt externer Zwänge („effet mécanique de la constrainte de causes externes“) als auch gegen den Finalismus von Theorien rationalen Handelns (insbesondere von rational choice-Theorien) und deren auf die Dimension des diskursiven Bewusstseins fixiertes Akteursmodell. Mit dem Habitus-Begriff hat Bourdieu ein Konzept vorgelegt, das darauf gerichtet ist zu erklären, wie das von Mannheim notierte „sinnvolle Zusammenspiel der individuellen Bewußtseinsvollzüge“ zustande kommt. (2) Die Bewusstseinsvollzüge, deren Zusammenspiel der „objektiv-geistige Strukturzusammenhang“ seine Existenz verdankt, repräsentieren das an die konjunktive Erfahrung geknüpfte Wissen. Dieses ist ein atheoretisch gegebenes, diskursiv nicht verfügbares Wissen. Es ist, wie Bohnsack darlegt, dem Handelnden eher intuitiv denn reflexiv zugänglich. „Diejenigen, die durch gemeinsame Erlebniszusammenhänge miteinander verbunden sind, die zu einem bestimmten ‚Erfahrungsraum‘ gehören, verstehen einander unmittelbar. Sie müssen einander nicht erst interpretieren“ (Bohnsack 1997a, 195). In ähnlicher Weise beschreibt Bourdieu den Habitus als „sens pratique“ (die deutsche Übersetzung als „sozialer Sinn“ vermittelt nur unzureichend die Dimension des praktischen Verstehens). Im Nachwort zur französischen Übersetzung von Panofskys Werk über die gotische Architektur, von dem er den Begriff des Habitus übernimmt,2 greift Bourdieu den von Panofsky verwendeten Begriff der „synthetischen Intuition“ auf (Bourdieu 1974, 132). Synthetisch ist diese Verstehensleistung, weil sie den Handelnden in die Lage versetzt, „eine Situation mit einem Blick einzuschätzen“ (Gebauer 2000, 440); es ist kein Verstehen, das auf einer analytischen Leistung beruht. Resultat ist eine „connaissance ‚sans conscience‘“ (Bourdieu 1997a, 97), ein „Wissen ohne Bewusstsein“. Praktisch ist der Sinn insofern, als das Verstehen nicht in einem Akt der bewussten Zuwendung auf die Situation geschieht, sondern integraler Teil des Handelns in der Situation ist. Verstehen und Handeln geschehen ‚uno actu‘. Bourdieu begreift das synthetische oder praktische Verstehen als inkorporiert und grenzt es damit von einem Verstehensbegriff ab, der Verstehen als intentionalen Akt eines bewussten Entschlüsselns von Bedeutungen konzipiert. Im praktischen Verstehen entsteht eine „connaissance par corps assurant une compréhension pratique du monde tout à fait différent de l'acte in2
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Auch Mannheim (1964a, 122 f., 128) bezieht sich auf Panofsky und verdeutlicht anhand von dessen Begriff des "Kunstwollens" sein Konzept des dokumentarischen Sinngehalts. Umgekehrt greift Panofsky das Konzept des Dokumentsinns bei Mannheim auf (vgl. dazu auch den Beitrag von Bohnsack zur Bildinterpretation i. d. Band).
tentionnel de déchiffrement conscient que l'on met d'ordinaire sous l'idée de compréhension“3 (Bourdieu 1997a, 163). Die Leibgebundenheit ist die Basis des praktischen Verstehens und macht dessen spezifischen Modus aus. In dieser Weise ist im praktischen Verstehen die Welt unmittelbar den Sinnen zugänglich („immédiatement doté de sens“).4 Wacquant (1996, 41) bezeichnet diese „präreflexive, unterbewußte Beherrschung der sozialen Welt“ als „Intentionalität ohne Intention“.5 Die körpersoziologische Fundierung des praktischen Verstehens weist einen Weg, wie die Struktur des atheoretischen oder vortheoretischen Modus der konjunktiven Erfahrung, von dem Mannheim spricht, einer genaueren Klärung zugeführt werden kann. Hier liegt zudem eine Herausforderung nicht nur für die Theorie der Wissenssoziologie, sondern auch für die rekonstruktive Sozialforschung (vgl. Kap. 4).
2. Zum Stellenwert rekonstruktiver Verfahren bei Bourdieu Obwohl Bourdieus Habituskonzept wissenssoziologisch angelegt ist und, wie Reckwitz (2000, 325) betont, die „Logik der Praxis“ dadurch zu rekonstruieren ist, dass man sich der Art und Weise zuwendet, „wie die kollektive Sinnstruktur des Habitus im subjektiven Horizont des seine Praktiken vollziehenden Akteurs angewandt wird“, obwohl also vieles in Bourdieus Entwurf eine rekonstruktive Methodologie nahe legt, folgen Bourdieus empirische Analysen einer solchen Methodologie nur begrenzt, auf jeden Fall nicht konsequent. Matthiesen (1989) hat den Stil der Bourdieu’schen Methodologie als Habituskonstruktion bezeichnet und deren ambivalentes Verhältnis zu einer rekonstruktiven Methodologie prägnant herausgearbeitet. Matthiesen formuliert seine Einwände vornehmlich mit Bezug auf die in den „feinen Unterschieden“ angewandte und in deren Anhang auch näher erläuterte und kommentierte Verfahrensweise. Bourdieu praktiziert in dieser umfangreichen Studie einen Methodenmix – heute würde man sagen: eine Triangulation – von quantitativen (Fragebogen) und qualitativen Verfahren 3 4
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„Ein Bewusstsein durch den Körper, das ein praktisches Begreifen der Welt ermöglicht, das sich völlig unterscheidet von dem intentionalen Akt des bewussten Entzifferns, das man gewöhnlich mit dem Begriff des Begreifens verbindet.“ Mit dieser Bestimmung unterscheidet sich Bourdieus Verständnis von Sinnverstehen deutlich von dem Schütz’schen, demzufolge Sinn erst in expliziten Auslegungsvorgängen erzeugt wird, welche sich rückblickend der gerade abgelaufenen Handlung zuwenden (vgl. Schütz 1974, 93 ff.). Zur Differenz der Sinnbegriffe vgl. Meuser 2006. Bourdieu knüpft hier an Merleau-Pontys Versuch einer Überwindung des cartesianischen Dualismus von Geist und Körper an (s.u.).
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(Beobachtungen und offene Interviews), wobei die ‚Hauptbeweislast‘ für die sozialstrukturanalytischen Diagnosen bei den quantitativ erhobenen Daten liegt. Zwar ist sich Bourdieu der methodisch bedingten Begrenztheit der Aussagekraft seiner quantitativen Daten bewusst – die Fragebogenerhebung bezeichnet er explizit als „Notbehelf“, dem „nahezu alles“ entgehe, „was die Modalität der Praktiken betrifft“ (Bourdieu 1982, 787) – gleichwohl stützt er seine Aussagen über die klassentypischen Habitusdifferenzen auf diese Daten. Die Unzulänglichkeit des Messinstruments wird gewissermaßen positiv gewendet: „Daß ein derartig unvollkommenes Meßinstrument derart markante und vor allem systematische Differenzen registrieren konnte, zeugt bereits von der Stärke der gemessenen Dispositionen“ (ebd., 790 f.). Der Gewinn an Systematik wiege den Verlust an „Genauigkeit und Subtilität“ auf. Um auf Letztere nicht zu verzichten, kommen qualitative Verfahren zusätzlich bzw. ergänzend ins Spiel. Insbesondere dann, wenn die Auswertung der quantitativen Daten an eine Grenze stößt, die Daten gewissermaßen ‚stumm‘ bleiben, wird auf Beobachtungs- und Interviewdaten zurückgegriffen (vgl. ebd., 794). Wie Matthiesen zu Recht herausstellt, besteht Bourdieus Forschungsstil (zumindest in den „feinen Unterschieden“) darin, objektive Strukturen in Form statistischer Regelmäßigkeiten zu erfassen. Statt die habitustypische Verknüpfungslogik von sozialer Lage und dieser korrespondierenden „Handlungs-, Wahrnehmungs- und Denkmatrix“ (Bourdieu 1979, 169) interpretativ zu entschlüsseln, schließt Bourdieu aus statistischen Verteilungen auf das Obwalten eines Habitus (vgl. Matthiesen 1989, 251 f.). In diesem Sinne bezeichnet Matthiesen das Bourdieu’sche Verfahren als Habituskonstruktion. Die „forschungspraktisch immer wieder gerne in Anspruch“ genommenen rekonstruktiven Verfahren hätten „keinen systematisch-theoretischen Ort in seinen Untersuchungen“ (ebd., 276). Den (nur rekonstruktiv zu erbringenden) Nachweis der Wirkung der sozialen Lage bzw. des Kollektiven auch am Einzelfall bleibe Bourdieu schuldig. Aus der Perspektive einer rekonstruktiven Methodologie ist aber darauf zu beharren, dass das Wirken eines Habitus in der Handlungspraxis erst dann erfasst ist, wenn sich zeigen lässt, wie er sich in fallspezifischen Kontexten dokumentiert. In diesem Sinne fordert Bohnsack (1997a, 207 f.) eine „soziogenetische Interpretation“, die er von der als „kausalgenetisch“ bezeichneten Verfahrensweise Bourdieus abgrenzt.6 In neueren Arbeiten scheint Bourdieu sich einer soziogenetischen Interpretation anzunähern. Im methodischen Kapitel zum „Elend der Welt“, das mit „Verstehen“ überschrieben ist, formuliert er zumindest eine entsprechen6
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In eine ähnliche Richtung zielt der Einwand von Reckwitz (2000, 309), Bourdieus Versuch, Habitusschemata über eine soziale Kapitalstruktur zu erklären, sei problematisch, „da Bourdieu es durchgängig versäumt, ‚sinnadäquat‘ verstehbare Mechanismen anzugeben, auf deren Weg sich bestimmte Kapitalausstattungen in die Genese bestimmter Habitus ‚umsetzen‘ sollen“.
de Programmatik. Diese Studie basiert auf offenen Interviews. Sein Verständnis eines verstehenden Nachvollzugs der Perspektive der Untersuchungspersonen grenzt Bourdieu von einem phänomenologischen ab, dessen Besonderheit darin bestehe, „das Selbst auf den anderen zu projizieren“ (Bourdieu 1997c, 786). Ebenfalls markiert er den Unterschied zu einer auf Empathie setzenden Empirie – es sei mehr gefordert als „ein wohlwollender Gemütszustand“ (ebd.). Angestrebt sei vielmehr „ein generelles und genetisches Verständnis der Existenz des anderen (...), das auf der praktischen und theoretischen Einsicht in die sozialen Bedingungen basiert, deren Produkt er ist: Eine Einsicht in die Existenzbedingungen und gesellschaftlichen Mechanismen, deren Wirkungen alle Mitglieder seiner Kategorie (...) betreffen“ (ebd.). Diese, wenn man so will, soziogenetische Perspektive grenzt er zudem von dem ‚lokalen‘ Kontextualismus der Konversationsanalyse ab, die sich in ihrer Interpretation von Diskursen jeden Blick über den sich entfaltenden situativen bzw. lokalen Kontext hinaus versagt und die damit transsituative Bedingungskontexte, in die der jeweilige Fall eingebunden ist, nicht zu erfassen vermag. Es sei vielmehr vonnöten, „nicht nur die aktuelle Struktur der Interaktion“ zu erfassen, „sondern auch die unsichtbaren Strukturen, die sie organisieren“, d.h. die Struktur des jeweiligen gesellschaftlichen Raumes, in dem die Interaktion situiert ist (ebd., 793). Dies als striktes Plädoyer für eine soziogenetisch angelegte rekonstruktive Methodologie zu begreifen, wäre vermutlich eine überzogene Interpretation der nicht allzu präzisen Ausführungen Bourdieus. Zumindest aber lässt sich in diesen neueren methodischen Reflexionen eine Offenheit für eine solche Methodologie feststellen – und eine gewisse Kompatibilität mit der Methodologie der dokumentarischen Methode. Allerdings bürdet Bourdieu die Aufgabe der soziogenetischen Interpretation bereits dem Interviewer auf und betrachtet sie nicht als eine erst in der Auswertung und nur dort zu erbringende Leistung. Der Interviewer könne seinem Gegenstand nur dann gerecht werden, wenn er auf der Basis eines „enormen Wissens“, das er über diesen hat – angehäuft „im Laufe eines ganzen Forscherlebens oder, auf indirekte Weise, im Laufe vorausgehender Gespräche mit dem Befragten selbst oder mit Informanten“ – in der Lage sei, „ständig neue sinnvolle Fragen zu improvisieren, wahre Hypothesen, die sich auf eine intuitive und provisorische Repräsentation des dem Befragten eigenen Grundmotivs stützen, um ihn dazu zu bringen, sich noch vollständiger zu offenbaren“ (ebd., 787).7 7
Bourdieu plädiert für eine soziale Nähe des Interviewers zu den Interviewten, die er – im „Elend der Welt“ – dadurch zu erreichen versuchte, dass er den Interviewern die Möglichkeit gab, „ihre Interviewpartner unter ihren Bekannten oder Leuten, denen sie durch Bekannte vorgestellt werden konnten, auszuwählen“ (Bourdieu 1997c, 783). Dadurch werde u.a. „sichergestellt, daß ein unmittelbares und ständig neu hergestelltes Einverständnis hinsichtlich der Vorverständnisse zu den Inhalten und Formen der Kommunikation besteht“.
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Hier wird in gewisser Weise der Forschungsstil der „grounded theory“ aufgenommen, allerdings dergestalt, dass die empirisch basierte Hypothesengenerierung in den Erhebungsprozess hineinverlagert wird. Damit ist nun allerdings ein deutlicher Unterschied zu sämtlichen Verfahren einer rekonstruktiven Sozialforschung markiert, die (in narrativen Interviews, in Gruppendiskussionen) – mit gutem Grund – auf das Prinzip der „Selbstläufigkeit“ (Loos/Schäffer 2001, 51) setzen und ein möglichst geringes Maß an Intervention in den sich entfaltenden Diskurs fordern, um auf diese Weise zu gewährleisten, dass die Untersuchungspersonen sich nicht an vom Forscher gesetzten Relevanzen orientieren, sondern Gelegenheit haben, die eigenen zu entfalten (vgl. Bohnsack 2000a, 20 ff.). Statt „enormes Wissen“ in die Forschungsinteraktion hineinzutragen, fordert Hitzler (1991) genau das Gegenteil, nämlich „Dummheit als Methode“, d.h. die auch das Prinzip der Selbstläufigkeit begründende, methodologisch und forschungsstrategisch motivierte ‚Einklammerung‘ des Vorwissens über den Gegenstand. Das Verhältnis des Bourdieuschen Forschungsstils zu einer rekonstruktiven Sozialforschung ist also in doppelter Hinsicht ambivalent: hinsichtlich des Stellenwertes, den rekonstruktive Verfahren in seinen Untersuchungsdesigns haben, und hinsichtlich der Weise, wie Bourdieu rekonstruktive Verfahren einsetzt. Diese Differenz soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden; vielmehr ist es die Absicht der folgenden Ausführungen zu zeigen, dass und in welcher Weise die dokumentarische Methode der Interpretation ein Instrumentarium bereithält, mit dessen Hilfe die Habitustheorie in eine konsequent sinnrekonstruierend verfahrende Empirie umgesetzt werden kann.
3. Dokumentarische Methode der Interpretation Es ist hier nicht der Ort, die Ursprünge der dokumentarischen Methode, wie sie von Mannheim (1964a, 103 ff.) eingeführt worden ist, genauer zu explizieren. Innerhalb der interpretativen Soziologie und Sozialforschung ist das Mannheim’sche Konzept zunächst von Harold Garfinkel aufgegriffen worden. Garfinkel beschreibt die dokumentarische Methode als ‚Ethnomethode‘, mit deren Hilfe die Handelnden das Problem der unaufhebbaren Indexikalität Die für die Forschungskommunikation charakteristische Spannung von Fremdheit und Vertrautheit – wobei je nach sozialer Nähe oder Ferne von Forscher und Untersuchungsperson der eine oder der andere Pol überwiegt – wird in Richtung Vertrautheit aufzulösen versucht. Auf diese Weise wird die Differenz zwischen (intuitivem) Verstehen, das nur auf der Basis sozialer Nähe gelingen kann, und (methodisch kontrollierter) Interpretation eingeebnet, die der Einklammerung von Vorverständnissen, mithin der Distanz bedarf.
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von alltagssprachlichen Ausdrücken und von Handlungen bewältigen, also als Methode, mit deren Hilfe sie Bedeutungen ‚fest-stellen‘. „The method is recognizable for the everyday necessities of recognizing what a person is ,talking about‘ given that he does not say exactly what he means“ (Garfinkel 1967, 78). Eine singuläre Erscheinung (der indexikalische Ausdruck) wird als ein Dokument eines zugrunde liegenden Musters gesehen und auf diese Weise verstanden. Eine Definition oder genauere Erläuterung, was die allgemeinen Muster kennzeichnet, von denen die singuläre Erscheinung ein Dokument ist, findet sich bei Garfinkel nicht. Die empirischen Beispiele, die er zur Erläuterung heranzieht, zeigen aber – ebenso wie empirische Arbeiten anderer Ethnomethodologen – dass es sich um überindividuell gültige Wissensbestände handelt: kulturelle Deutungsmuster, Traditionen, soziale Regeln. Garfinkel interessiert sich nicht dafür, welche Ordnung auf diese Weise produziert wird; er beschreibt die dokumentarische Methode als Verfahren, das die Akteure anwenden, um (irgend-) einen konsistenten Sinn herzustellen. Das Interesse der Ethnomethodologie gilt den formalen Mechanismen der Produktion von Ordnung. Diese Ordnung entsteht in rekursiven, zwischen Erscheinung und Muster hin und her wechselnden Suchbewegungen,8 ist also eine von den Akteuren immer wieder neu zu erbringende interpretative Leistung. Ordnung stellt sich der ethnomethodologischen Perspektive folglich als ein fragiles Gebilde dar – eine Sichtweise, die sich deutlich von einer habitustheoretischen unterscheidet, welche die Reproduktion von sozialer Ordnung zwar auch nicht außerhalb der Handlungspraxis ansiedelt, die Herstellung eines konsistenten Sinns aber weniger als (explizite) Interpretationstätigkeit begreift, sondern als Folge habitualisierter Praxis.9 Auch wenn die Ethnomethodologie das Wechselspiel von singulärem Ereignis und zugrunde liegendem Muster betont, bleibt das Verständnis von sozialer Struktur, das in dieser Konzeptualisierung von dokumentarischer Interpretation enthalten ist, gewissermaßen ‚lokal‘ gebunden. Gegenstand der Betrachtung ist die je aktuell sich entfaltende situative Struktur. Empirische 8
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Die rekursive Suchbewegung beschreibt Garfinkel (1973, 199) folgendermaßen: „Nicht nur wird einerseits das zugrundeliegende Muster von seinen individuellen dokumentarischen Belegen abgeleitet, sondern umgekehrt auch werden die individuellen dokumentarischen Zeugnisse auf der Grundlage dessen interpretiert, ‚was bekannt ist‘ über das zugrundeliegende Muster. Jede der beiden Seiten wird benutzt, um die je andere auszuarbeiten.“ Auch Garfinkel würde nicht bestreiten, dass die dokumentarische Interpretation im Alltagshandeln überwiegend Teil des Routinehandelns ist – Garfinkel hat die „Krisenexperimente“ ja gerade deswegen durchgeführt, um anhand der Normalisierungsbemühungen, mit denen die Handelnden auf eine Störung üblicher Ereignisabläufe reagieren, die ansonsten verborgenen Mechanismen der Herstellung von Ordnung entschlüsseln zu können –, seine Beschreibung der interpretatorischen Leistungen der Akteure verwendet jedoch eine kognitivistische Begrifflichkeit, die deutlich anzeigt, dass ein Bezugsrahmen der Ethnomethodologie die Schütz’sche Protosoziologie ist.
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Studien zeigen überzeugend, wie die Akteure mittels der dokumentarischen Methode in einem intelligenten Regelgebrauch Ordnung ‚lokal‘ herstellen – z.B. in einem Gefängnis (vgl. Wieder 1975) oder in einem Beratungsgespräch (vgl. Garfinkel 1967, 79 ff.). Außerhalb der Betrachtung bleibt aber, inwiefern der spezifische Modus der Herstellung von Ordnung über die aktuelle Regelanwendung hinausweist und nur dadurch zu verstehen ist, dass man ihn als Resultat einer typischen (kultur-, subkultur- oder institutionenspezifischen) Bildungsgeschichte begreift. Zwar betont Garfinkel (1967, 67) zu Recht, dass die Akteure keine „kognitiven Deppen“ („judgemental dopes“) sind, er berücksichtigt aber nicht oder zumindest nicht systematisch, dass das Wissen, mit dem die Akteure soziale Situationen bewältigen, sie nicht nur zu einem intelligenten Regelgebrauch befähigt, sondern sie zugleich in ihren Interpretationsmöglichkeiten und Handlungsoptionen begrenzt. Diese doppelte, gewissermaßen gegenläufige Tendenzen in sich vereinende Eigenschaft von Wissen betont hingegen die Kategorie des Habitus. Das grundlagentheoretische Interesse der Ethnomethodologie gilt den basalen Methoden, mit denen die Handelnden Sinn und Ordnung erzeugen.10 Diese „Interpretationsverfahren“ werden als „invariante Eigenschaften des praktischen Alltagsdenkens“ (Cicourel 1975, 30) begriffen. Dieses Interesse bedingt, dass die Ethnomethodologie keine Begrifflichkeit und auch kein methodisches Instrumentarium entwickelt hat, mit der sich stratifikatorische oder soziallagenbedingte Differenzen der Herstellung von Ordnung analysieren lassen. Das zeigt sich z.B. in der ethnomethodologischen Geschlechterforschung, die – auf der Theorieebene – zwar überzeugend darlegt, wie „doing gender“ prinzipiell funktioniert, nicht aber, in welcher Hinsicht sich das „doing gender“ der Männer von dem der Frauen typischerweise unterscheidet (vgl. Meuser 1998, 63 ff.).11 Der dokumentarische Gehalt einer singulären Erscheinung lässt sich allerdings nicht nur dergestalt entschlüsseln, dass nach den sozialen Regeln gefragt wird, auf die sich die Handelnden beziehen. Ein anderes Verständnis von zugrunde liegendem Muster ist gegeben, wenn man analysiert, inwieweit sich in den Besonderheiten eines Falls die Zugehörigkeit zu einer spezifischen sozialen Lage (Milieu, Geschlecht, Generation u.a.) dokumentiert. Das tut die Ethnomethodologie nicht. Wenn in der ethnomethodologischen Forschung auf die Methode der dokumentarischen Interpretation rekurriert wird, 10 11
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Eine konsequente Umsetzung dieser Forschungsintention ist die ethnomethodologische Konversationsanalyse (vgl. Eberle 1997). Diese Feststellung schließt nicht aus, dass die empirischen Studien zum „doing gender“ vielfältige und aufschlussreiche Beschreibungen geschlechtstypischer Unterschiede enthalten. Wie auch die kriminologischen Untersuchungen der Ethmomethodologie deutliche Hinweise darauf enthalten, in welcher Weise Milieudifferenzen im „doing justice“ bedeutsam werden.
dann geschieht dies mit dem Ziel, die lokal gültige Regelstruktur zu entschlüsseln (vgl. z.B. Fengler/Fengler 1980; Wieder 1975). Ethnomethodologen verwenden das Verfahren also im Sinne einer Ethnomethode, genauso wie es ihre Probanden tun.12 Ein anderer Strukturbegriff kennzeichnet die Weiterentwicklung des Mannheim’schen Konzepts der dokumentarischen Interpretation zu einem Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung durch Bohnsack (1997a; 2000a). Bohnsack knüpft an Mannheims Unterscheidung von drei „Sinnschichten“ an: „objektiver Sinn“, „intendierter Ausdruckssinn“ und „Dokumentsinn“. Letzterer markiert die Sinnschicht der konjunktiven Erfahrung. Der dokumentarische Sinn lässt sich Mannheim zufolge dadurch erschließen, dass man „an grundverschiedenen objektiven und ausdrucksmäßigen Momenten stets ein Identisches, nämlich das gleiche Dokumentarische“ erfasst, als „das Ineinandersein Verschiedener sowie das Vorhandensein eines einzigen in der Verschiedenheit“ (Mannheim 1964a, 121). Das Identische oder das „einzige in der Verschiedenheit“ lässt sich unschwer als Habitus fassen. So sagt auch Mannheim, der Blick auf das Dokumentarische fasse „den gesamtgeistigen ‚Habitus‘ ins Auge“ (ebd., 109). Allerdings elaboriert er den Begriff des Habitus nicht. Die dokumentarische Methode der Interpretation ermöglicht eine wissenssoziologische Rekonstruktion von konjunktiven Erfahrungsräumen bzw. Habitusformen. Am jeweiligen Fall lässt sich mittels der oben (im Zusammenhang der Ethnomethodologie) erwähnten, aber auf eine andere Strukturdimension gerichteten rekursiven Suchbewegung und durch den Vergleich mit anderen Fällen rekonstruieren, in welcher Weise das Handeln in sozialstrukturelle Zusammenhänge eingebunden ist. Die handlungspraktische Bedeutsamkeit der Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu, zu einem Geschlecht oder zu einer Generation muss sich in der dokumentarischen Interpretation erweisen. Der Habitus dokumentiert sich in Beschreibungen und Erzählungen, welche die Erforschten „in thematischer Selbststeuerung“ (Bohnsack 1993b, 49) hervorbringen. Aus solchen selbstgesteuerten Äußerungen werden auch die für Genese und Reproduktion des Habitus bedeutsamen Zentren des kollektiven Erlebens rekonstruierbar. Das auf die Mann12
Die Ethnomethodologie bleibt damit gewissermaßen dem Regelverständnis verhaftet, das diejenigen soziologischen Theorien kennzeichnet, gegen die sich die Ethnomethodologie als Antipode positioniert hat. Das – gegen das sog. „normative Paradigma“ gerichtete – Insistieren, Aufgabe der Soziologie sei es, den Regelgebrauch („norm in use“; Churchill 1971, 184) zu untersuchen, statt eine verhaltensdeterminierende Kraft sozialer Regeln anzunehmen, ist auf inhaltliche, für ein bestimmtes soziales Feld gültige Regeln gerichtet. Cicourel (1973) hat mit seiner Unterscheidung von Basisregeln und normativen Regeln einen darüber hinausgehenden Vorschlag gemacht, der allerdings keinen nachhaltigen Einfluss auf die Ethnomethodologie hat ausüben können.
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heim’sche Wissenssoziologie rekurrierende Verfahren der dokumentarischen Interpretation ermöglicht eine strikt interpretativ-wissenssoziologische Analyse von Habitusformen, mithin eine Analyse der sozialstrukturellen Dimension des Handelns. Damit unterscheidet es sich von der methodischen Anlage der Bourdieu’schen Soziologie, wie Bohnsack (1993b, 49 f.) hervorhebt: „Diese Art der wissenssoziologischen Analyse unterscheidet sich allerdings – obschon auch sie an der Konzeption des Habitus ansetzt – dann weiterhin von der Bourdieuschen Wissenssoziologie insofern, als die ‚Genesis‘ der unterschiedlichen Habitusformen und stilistischen Präferenzen nicht wie bei Bourdieu theoretisch, d.h. auf der Grundlage einer gegenstandsbezogenen Theorie der ‚Kapitalkonfiguration‘ induziert, sondern empirisch rekonstruiert wird.“
Ein entscheidender Verfahrensschritt der empirischen Rekonstruktion ist die komparative Analyse.13 Die Besonderheiten einer Habitusformation erschließen sich erst über den Vergleich, der sich auf empirisch gewonnene Gegenhorizonte bezieht. Das ist gewissermaßen die empirisch-verfahrensförmige Konsequenz der Einsicht, dass die Herstellung von Bedeutung dadurch geschieht, dass Unterscheidungen getroffen werden. „Sich unterscheiden und etwas bedeuten ist ein- und dasselbe“, zitiert Bourdieu (1998, 22) Benveniste. Ebenso erfolgt die Ausbildung individueller wie kollektiver Habitus auf der Basis von Unterscheidungen und Abgrenzungen. Über Distinktion wird nicht nur soziale Ungleichheit hergestellt und ausgedrückt, sie ist auch und zugleich die Grundlage für die Konstitution von Gemeinsamkeit. Bohnsack (1997a, 208) betont, dass die dokumentarische Methode den Habitus gerade in dieser Dimension analysiert: „unter dem Gesichtspunkt einer in den konjunktiven Erfahrungen fundierten habituellen Übereinstimmung, d.h. im Medium der Konjunktion“. Konjunktion und Distinktion sind freilich keine gegenläufigen Tendenzen und lassen sich beide mittels dokumentarischer Interpretation erfassen. Die skizzierte Ausrichtung der dokumentarischen Interpretation auf die mit dem Konzept des Habitus bzw. der konjunktiven Erfahrung erfasste Sinndimension ist notwendig, will man mit den Mitteln einer sinn-rekonstruierenden Wissenssoziologie Zugang zu sozialstrukturellen bzw. zu sog. Makro-Phänomenen erlangen. Das leistet die ethnomethodologische Version nicht.14 Erst die Beachtung des transsituativen Kontextes, genauer: erst dessen Rekonstruktion auf der Basis der (Verhaltens-) Äußerungen der Handelnden ermöglicht eine wissenssoziologische Analyse der sozialstrukturellen Einbindungen des Handelns. Eine solche Analyse kann erklären, wie die 13 14
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Siehe dazu den Beitrag von Nohl i. d. Band. Hier sind auch Differenzen zu einer anderen wissenssoziologisch orientierten rekonstruktiven Methodologie gegeben, zu der in der Tradition der Schütz’schen Protosoziologie stehenden „hermeneutischen Wissenssoziologie“. Diese Differenzen habe ich an anderer Stelle ausführlich erörtert (vgl. Meuser 1999).
Geordnetheit und Regelhaftigkeit sozialen Handelns zustande kommt, ohne dass die Handelnden intentional eine Regel befolgen. Der Vorschlag, Habitusanalyse mittels des Verfahrens der dokumentarischen Interpretation zu betreiben, zielt darauf, eine wissenssoziologische Kategorie mittels eines wissenssoziologischen Verfahrens zu analysieren. Damit ist nicht behauptet, ungleiche Verteilungen von Einkommen oder von Berufspositionen seien für eine sozialstrukturanalytische Forschung irrelevant. Dies sind Indikatoren sozialer Disparitäten und sie sind als solche auch dann zu begreifen, wenn sie von den Betroffenen nicht in dieser Weise wahrgenommen werden. Wie Bourdieu zeigt, kennzeichnet es ja gerade Verhältnisse symbolischer Gewalt, dass sie von der impliziten Zustimmung der Untergeordneten leben. Und hier kommen die rekonstruktiven Verfahren ins Spiel. Sie haben das Potenzial, „die vergrabenen Dinge in jenen ans Tageslicht zu bringen, die diese Dinge erleben, aber nichts darüber wissen, andererseits jedoch mehr darüber wissen als irgend jemand sonst“ (Bourdieu 1997c, 796). Rekonstruktive Verfahren können entschlüsseln, wie die ‚Zustimmung‘ zur eigenen Benachteiligung funktioniert – und natürlich auch, wie die Herrschenden ihre dominante Position sichern. Aufgabe rekonstruktiver Verfahren ist es also zu zeigen, mit welchen Praktiken und auf der Basis welcher Wissensbestände die Akteure die in sozialen Indikatoren angezeigten ungleichen Verhältnisse (re-)produzieren. Das wäre ein Beitrag zu der von Bourdieu (1982, 752 f.) angestrebten „Überwindung des Gegensatzes zwischen einer ‚sozialen Physik‘ (...) und einer ‚sozialen Semiologie‘.“
4. Ausblick Die rekonstruktive Methodologie der dokumentarischen Interpretation stellt gewissermaßen eine Herausforderung an das Bourdieu’sche Verfahren der Habitusanalyse dar. Allerdings enthält die Bourdieu’sche Konzeptualisierung der Kategorie des Habitus auch umgekehrt eine Herausforderung an die rekonstruktive Methodologie. Diese ist mit dem Gedanken der Inkorporierung gegeben, der, wie bereits erwähnt, nicht in einem bloß metaphorischen Sinne gemeint ist. Bourdieus Begriff des praktischen Verstehens nimmt einen zentralen Aspekt der Leibphilosophie Merleau-Pontys auf (vgl. Wacquant 1996, 41). Dieser spricht von der „Intentionalität des Leibes“ (Merleau-Ponty 1966, 165 ff.). Merleau-Ponty entwickelt einen Begriff von Bewusstsein, der dieses – ähnlich dem Mead’schen handlungstheoretischen Verständnis des Ursprungs geistiger Prozesse – ‚pragmatisch‘, d.h. in den Akten des praktischen Einwirkens auf die Welt fundiert. „Das Bewußtsein ist ursprünglich nicht ein
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‚Ich denke zu ...‘, sondern ein ‚Ich kann‘“ (ebd., 166), es ist „Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes“ (ebd., 167 f.). Merleau-Ponty zufolge begreift der Leib die Welt unmittelbar, durch ihn sind wir in der Welt verankert. Der dieses leistende Leib ist freilich kein irgendwie ‚ursprünglicher‘, sondern ein immer schon kulturell geformter Leib. Die vorreflexive Intentionalität des „inkarnierten Subjekts“ (ebd., 220) hat mithin eine (kulturell bestimmte) Richtung – sonst wäre es keine Intentionalität –, sie hat jedoch nicht den Charakter einer bewussten Zielsetzung. Im Unterschied zum Schütz’schen Verständnis von Intentionalität, das diese in der Kategorie (reflexiv verfügbarer) „Um-zu-Motive“ fasst und als vorentworfene Handlungsvollzüge beschreibt (vgl. Schütz 1974, 115 ff.), verwirft Merleau-Ponty mit dem Begriff der „Intentionalität des Leibes“ die (gängige) Auffassung, den Akteuren sei die Intentionalität ihres Handelns vollkommen durchsichtig und sie könnten über diese gewissermaßen frei verfügen (vgl. Coenen 1979, 246). Ein nichtteleologisches Verständnis von Intentionalität (vgl. Joas 1992, 218 ff.) kennzeichnet auch Bourdieus Habitustheorie, die gewissermaßen soziologisch auszubuchstabieren versucht, wie die nicht-reflexiv konstituierte Gerichtetheit sozialen Handelns zustande kommt (Meuser 2002). Begreift man also ‚Inkorporierung sozialer Strukturen‘ nicht als Metapher, sondern als Beschreibung des Modus, in dem ein atheoretisches bzw. vorreflexives Verständnis der sozialen Welt gegeben ist, versteht man also die Habitustheorie (auch) als eine Wissenssoziologie des Körpers, dann sieht sich die rekonstruktive Sozialforschung vor eine neue Dimension methodischer Fragen gestellt. Dass „die soziale Sphäre des Leibes sich mit den Mitteln von Mikrophon, Tonband und transkribierten Text nur ganz unvollkommen abbilden läßt“ (Matthiesen 1989, 290), leuchtet unmittelbar ein. Die Welt ist nicht nur Text. Eine auf Habitusrekonstruktion gerichtete Forschung hätte nach Ergänzungen zu den gängigen, verbale Darstellungen evozierenden Verfahren zu suchen – was nicht sagen will, diese hätten ausgedient. Verfahren, in denen das Wort die körperliche Dimension nicht nur stellvertretend repräsentiert, in denen vielmehr der agierende Körper visuell präsent ist, dürften an Bedeutung gewinnen. Die als „Hexis“ bezeichnete Dimension des Habitus lässt sich vermutlich angemessen nur über visuelle Medien erfassen. Goffmans (1981) Analyse der Inszenierung von Geschlechterverhältnissen in Werbefotos weisen in diese Richtung, auch wenn sie methodisch nur wenig elaboriert ist. Bohnsack weist in seinem Beitrag zur Bildinterpretation i. d. Band darauf hin, dass das unmittelbare Verstehen in einer bildhaften Vergegenwärtigung fundiert ist und in erheblichem Maße über den Austausch von Blicken (also
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über leibgebundene Expressionen) geschieht.15 Der atheoretische Sinnzusammenhang, als den Mannheim die konjunktive Erfahrung und Bourdieu den Habitus begreift, werde vor allem in Bildern vermittelt. Bohnsack schlägt vor, die „Bildlichkeit als eine Sinnebene sui generis“ in die rekonstruktive Forschung einzubeziehen, und bemerkt zu Recht, dass damit auch der soziologischen Handlungstheorie neue Perspektiven eröffnet werden (vgl. auch Bohnsack 2003, 155 ff.). Die Notwendigkeit einer methodischen Reflexion darüber, wie die körperliche Dimension des Handelns angemessen in der empirisch-rekonstruktiven Sozialforschung repräsentiert werden kann, kann hier nur festgestellt werden. Eine fundamentale Schwierigkeit solcher Forschungen dürfte darin liegen, dass deren Gegenstand nicht oder nicht primär Körper-Inszenierungen sind, wie sie gegenwärtig in der kulturwissenschaftlichen Forschung vermehrt untersucht werden, sondern habitualisierte, fraglos gegebene, eben vorreflexive Körperroutinen, die in die Bewegungen des Körpers eingeschrieben sind. Wenn man im Sinne einer praxeologischen Wissenssoziologie den Blick auf habitualisierte Praktiken richtet – als atheoretischen Modus der Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2006, 10ff.) – dann sind es nicht zuletzt Körperbewegungen, denen die Aufmerksamkeit gebührt.16 Eine empirische Rekonstruktion der Inkorporierung der Strukturen eines sozialen Feldes in die Bewegungen der Akteure hat Wacquant (2003) in einer Ethnographie des Boxens vorgelegt. Sein methodischer Zugriff auf den Körper besteht darin, den Körper nicht nur zum Objekt der Untersuchung zu machen, sondern ihn als „Untersuchungsinstrument“ einzusetzen. Auf diese Weise erwirbt der Forscher den praktischen Glauben an das Feld, der ein intuitives Verstehen ermöglicht. Um gleichwohl dem Glauben an das Feld nicht derart zu verfallen, dass eine analytische Distanz nicht mehr möglich ist, vollzieht Wacquant (2003: 269 f.) die „Initiation“ in das Feld „unter der ausdrücklichen Voraussetzung ihrer theoretischen Fundierung“. Das theoretische Fundament ist Bourdieus Habituskonzept. Dessen Theoriesprache liefert 15
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Auch das lässt sich mit der phänomenologischen Leibphilosophie Merleau-Pontys begründen. Wie Coenen (1979, 246) darlegt, versteht Merleau-Ponty die „Leiblichkeit als die verbindende Stelle“ zwischen ego und alter. In der Leiblichkeit gründet die „gemeinsame Zugehörigkeit zur Welt“ (ebd., 247). Im Anschluss an Merleau-Ponty und auch an George Herbert Mead begreift Coenen den „Funktionszusammenhang von leiblichen Bewegungen“ als den „Zusammenhang, von dem her wir einander und uns selbst verstehen“ (ebd., 255). Eine Soziologie der Bewegung verschiebt, so Klein (2004: 138) „die Perspektive von der Intentionalität der Handlung als einen gedanklichen Vorgang zu der Materialität des Handelns als einen Bewegungsakt“. Studien, die mit der dokumentarischen Videoanalyse arbeiten, um habitualisierte Handlungs- und Körperpraktiken zu rekonstruieren, wurden inzwischen von Wagner-Willi (2005) und Nentwig-Gesemann (2006) vorgelegt (vgl. auch Nentwig-Gesemann/Wagner-Willi 2006).
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die Mittel, mit denen Wacquant das körperlich Gespürte sich selbst und den Lesern seiner Studie begreiflich macht. Nicht erkennbar und vermutlich auch für den beobachtenden Teilnehmer selbst nicht angebbar ist, inwieweit das theoriesprachliche Vorverständnis die Wahrnehmung des körperlichen Geschehens strukturiert. In der Methodologie der bislang weitgehend textbasierten qualitativen Sozialforschung gilt ein solches Vorgehen gewöhnlich als subsumptionslogisch und einer rekonstruktiven Verfahrensweise unangemessen. Dort, wo man die Daten in verobjektivierter Form vorliegen hat, als Text oder auch als Bild, kann man mit Recht einfordern, dass die Interpretation der Daten unabhängig von theoriegeleiteten Vorverständnissen erfolgen soll. Wird der Körper als Untersuchungsinstrument eingesetzt, bilden mithin Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsinstrument eine Einheit, stößt man an die Grenzen dieser Maxime. Eine theoriesprachlich geleitete Selektivität der Wahrnehmung ist in diesem Fall möglicherweise nur um den Preis zu vermeiden, dass der Körper (wissenschaftlich) stumm bleibt. Die Herausforderungen, vor die eine Soziologie des Körpers, die das Habituskonzept erfordert, die sozialwissenschaftliche Methodologie stellt, sind noch wenig reflektiert.
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Ralf Bohnsack
Typenbildung, Generalisierung und komparative Analyse: Grundprinzipien der dokumentarischen Methode Abhandlungen zur Typenbildung nehmen ihren Ausgangspunkt in der Regel beim Idealtypus von Max Weber. Zwei Tradierungslinien oder auch Paradigmata sozialwissenschaftlicher Forschung, die für die qualitative Forschung wegweisend sind, positionieren sich allerdings in je unterschiedlicher Weise zum Weber’schen Konzept. Die eine Linie ist diejenige, wie sie in der Weber-Rezeption von Alfred Schütz im Zuge seiner Ausarbeitung der Phänomenologischen Soziologie begründet wurde. Die andere ist diejenige der Wissens- und Kultursoziologie, vor allem von Mannheim und Bourdieu, die dort, wo sie auf Weber Bezug nehmen, nicht – wie Schütz und die meisten Weber-Interpreten – von den theoretischen und erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen Schriften Webers ausgehen, sondern sich auf eine Rekonstruktion seiner forschungspraktischen, d.h. historischen Arbeiten, vor allem der religionssoziologischen, beziehen.1 Aus der Perspektive der Wissens- und Kultursoziologie, also von dem hier vertretenen Standort aus betrachtet, lassen sich diese beiden unterschiedlichen Wege als Typenbildungen des Common Sense einerseits und als praxeologische Typenbildungen andererseits bezeichnen. Praxeologische Typenbildungen finden sich nicht allein in der Tradition der Wissens- und Kultursoziologie, sondern ebenso – wenn auch unter anderen Vorzeichen – in derjenigen der Chicagoer Schule. Ich möchte diese beiden Arten der Typenbildung hier nicht als einander ausschließende, sondern als aufeinander aufbauende Perspektiven oder Aspekte diskutieren – und zwar in dem Sinne, dass praxeologische Typenbildungen als Beobachtungen zweiter Ordnung durch Typenbildungen des 1
So unterscheidet Bourdieu (1974, 29 ff.) zwischen den Ausführungen Webers zum Idealtypus in dessen ‚Wissenschaftslehre‘ (Weber 1968) einerseits und dem Verständnis des Idealtypus, wie es in Webers Forschungspraxis, d.h. in der in dieser Praxis implizierten „Logik der Forschung“ (Bourdieu 1974, 30) sich dokumentiert (s. dazu auch Anm. 4). Nach Mannheim (1964a, 151) „muß hervorgehoben werden, daß Max Webers theoretische Reflexionen keineswegs mit seinem historischen Verfahren immer zusammenfallen. Will er sich in den ersteren von Kausalerklärungen nicht lossagen, so verfährt er sehr oft bei seiner historischen Arbeit dokumentativ“. Wobei Mannheim mit dem Begriff „dokumentativ“ Bezug nimmt auf die von ihm in dem zitierten Aufsatz entworfene „dokumentarische Methode“.
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Common Sense als Beobachtungen erster Ordnung hindurch müssen. Diese Unterscheidung von Beobachtungen erster und zweiter Ordnung, bei der ich mich der Begrifflichkeit von Luhmann bediene, ist nicht zu verwechseln mit derjenigen, die Alfred Schütz zwischen Konstruktionen ersten und zweiten Grades getroffen hat. Vielmehr lässt sich sagen, dass die Konstruktionen zweiten Grades im Sinne von Schütz sich immer noch auf dem Niveau der Beobachtungen erster Ordnung bewegen. Meine Unterscheidung von Typenbildungen des Common Sense und praxeologischen Typenbildungen korrespondiert vielmehr mit derjenigen von ikonographischen und ikonologischen Typenbildungen, wie sie in der Kunstinterpretation von Panofsky mit Bezug auf die Mannheim’sche Wissenssoziologie ausgearbeitet wurden.2 Karl Mannheim hatte mit der dokumentarischen Methode die erste umfassende Begründung sozialwissenschaftlicher Typenbildung auf dem Niveau von Beobachtungen zweiter Ordnung vorgelegt, also einer Typenbildung, die diejenige des Common Sense transzendiert. Nach einer theoretisch und methodologisch begründeten Differenzierung von Typenbildungen des Common Sense einerseits und praxeologischen Typenbildungen andererseits (Kap. 1 u. 2) wende ich mich dann der praxeologischen Typenbildung in ihren beiden aufeinander aufbauenden Analyseschritten der sinngenetischen und soziogenetischen Typenbildung zu. Zunächst erläutere ich einige Grundzüge der Methodik sinngenetischer Typenbildung (Kap. 3). Am Beispiel einer empirischen Untersuchung über Jugendliche türkischer Herkunft werden dann die sinngenetische (Kap. 4) wie auch die soziogenetische Typenbildung (Kap. 5) und auch deren Vertiefung in Form der soziogenetischen Interpretation (Kap. 6) in der Forschungspraxis dargestellt. Eines der zentralen Merkmale der praxeologischen Typenbildung in dem hier verstandenen Sinne ist deren Mehrdimensionalität. Erst im Kontext einer mehrdimensional konstruierten Typologie werden Generalisierungen des Typus möglich.
1. Typenbildungen des Common Sense Alfred Schütz (1974) hatte in Kritik an den Unschärfen des Handlungs- und Motivbegriffes sowie der Kategorie des „subjektiv gemeinten Sinnes“ bei Max Weber diese Begriffe neu definiert: Ein Handeln soll dann als sinnhaft gelten, wenn dieses an einem ihm vorausgehenden Entwurf orientiert, durch diesen Entwurf motiviert sei. (Wenn ich beispielsweise sage: „ich reise nach Hamburg, um einen Vortrag zu halten“, so ist der Vortrag der (Handlungs-) Entwurf und somit der Zweck, an dem das Handeln, also die Reise, als Mittel 2
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Genaueres dazu in meinem theoretischen Beitrag zur Bildinterpretation i. d. Band.
orientiert ist.) Der grundlegend zweckrationale Entwurf ist immer bereits insofern ein idealtypischer, als ihm die Handlungspraxis niemals vollständig entspricht. Dies ist das eine Verständnis des Idealtypus im Sinne von Max Weber, wie es im Wesentlichen von Alfred Schütz ausgearbeitet wurde. Schütz (1971) hat dem dann die Wendung gegeben, dass (in Erweiterung des Weber’schen Verständnis des Idealtypus) nicht nur der wissenschaftliche, sondern auch der Common Sense-Interpret und der Common Sense-Akteur Idealtypen von Akten und Akteuren bilden. Berger/Luckmann (1969) haben hierauf ihre phänomenologische Soziologie aufgebaut, die sie als Wissenssoziologie bezeichnet haben. Und in dieser Tradition formuliert Hans-Georg Soeffner (1991, 267), dass die Analyse „über die Konstruktion eines begrifflich reinen Typus von dem oder den als Typus gedachten Handelnden und dem von ihnen subjektiv gemeinten Sinn“ zu führen habe. Wobei er diesen Typus als einen „zweckrationalen“ (a.a.O., 268) begreift. Ein Handeln zu verstehen, bedeutet somit, den zweckrationalen Entwurf idealtypisch nachzuvollziehen. Diese Gleichsetzung von subjektiv gemeintem Sinn und zweckrationalem Entwurf hat allerdings einige problematische Implikationen. Dies betrifft vor allem die in der Trennung von Entwurf und Handlung implizierte Aporie von Erkenntnis und Handlungpraxis, von Geist und Körper sozusagen. Der Entwurf, also das Motiv, ist nicht beobachtbar. Es ist lediglich auf dem Wege der Introspektion, d.h. in spekulativer Weise, zu erschließen oder aber, indem ich mich auf die Theorien der Erforschten hinsichtlich ihrer eigenen Motive stütze. Im letzteren Fall erfahre ich aber nicht etwas über die Handlungspraxis, sondern über die Theorien über eine Handlungspraxis. Die Ethnomethodologen haben an die Schütz’sche Soziologie teilweise angeschlossen. Allerdings gaben sie ihr – im Unterschied zur Soziologie von Berger/Luckmann und der in dieser Linie stehenden qualitativen Forschung – eine radikale Wendung. Mit den im Common Sense verankerten Selbstverständlichkeiten des Zugangs zu den subjektiven Motiven haben die Ethnomethodologen konsequent gebrochen und den prekären Charakter bzw. auch die Willkür derartiger Motiv-Unterstellungen oder Motiv-Zuschreibungen herausgearbeitet. Dieser „Bruch mit dem Common Sense“3 bzw. anders formuliert: die Transzendenz der hierin implizierten natürlichen Einstellung, wie sie von den Ethnomethodologen vollzogen wurde, war mit einem grundlegenden Wechsel der Analyseeinstellung verbunden, mit dem sie das Erbe von Karl Mannheim angetreten haben. Mannheim (1980, 85) hat bereits in den 20er Jahren von einer „genetischen Einstellung“ gesprochen. Gemeint ist der Wechsel von der Frage danach, was Motive sind, zur Frage, wie diese hergestellt, zugeschrieben, konstruiert werden. „Nicht das ‚Was‘ eines objektiven Sinnes, 3
Dieser Begriff stammt von Bourdieu (vgl. 1996, 269), dessen Analyseeinstellung in dieser Hinsicht mit der hier vertretenen übereinstimmt.
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sondern das ‚Daß‘ und das ‚Wie‘ wird von dominierender Wichtigkeit“, heißt es bei Mannheim (1964a, 134). Er hatte die erste umfassende Begründung einer Beobachterhaltung in den Sozialwissenschaften vorgelegt, die auch den heutigen erkenntnistheoretischen Ansprüchen noch standzuhalten vermag. Panofsky (1989, 22) hat diese Frage nach dem Wie, durch welche die ikonologische Interpretation gekennzeichnet ist, als diejenige nach dem „modus operandi“ bezeichnet. Bourdieu hat hieran und an den damit verknüpften Begriff des Habitus bei Panofsky angeschlossen.4 Auch für Luhmann markiert der Übergang von den Was- zu den WieFragen den entscheidenden methodologischen Wendepunkt nicht nur in den Sozialwissenschaften. Er charakterisiert diese Wendung auch als diejenige von den „Beobachtungen erster Ordnung“ zu denjenigen „zweiter Ordnung“. Während der Common Sense-Beobachter Motivunterstellungen vornimmt, beginnt die sozialwissenschaftlich anspruchsvollere Analyse erst auf dem Niveau von Beobachtungen des Beobachters, indem sie die Prozesse und die Prozessstrukturen der Herstellung von Motivzuschreibungen selbst thematisiert. Erst auf diesem Niveau gelingt es, die Common Sense-Typenbildung von den sozialwissenschaftlichen zu differenzieren. Die Interpretation des subjektiv gemeinten Sinns auf dem Wege der Zuschreibung von Motivtypen kann somit Gegenstand sozialwissenschaftlicher Analyse, nicht aber deren Methode sein.
2. Praxeologische Typenbildung: theoretische Perspektiven Der von den Ethnomethodologen in ihren Analysen demonstrierte Wechsel der Analyseeinstellung (u.a. im Sinne des Aufweises des Herstellungs- und Konstruktcharakters von Motivzuschreibungen und darauf gestützter Typenbildungen) hatte zum einen die wichtige Konsequenz ihrer De-Konstruktion. Das heißt, der Wechsel der Analyseeinstellung führte dazu, die Geltungsansprüche, also den im Common Sense verankerten Glauben an die Gültigkeit und an den faktischen Wahrheitsgehalt von Motivunterstellungen und Typenbildungen zu untergraben. Zum anderen hatte der Wechsel die Konsequenz, die formalen Strukturen dieser Herstellungs- und Konstruktionsprozesse freizulegen: von den mit Universalitätsanspruch versehenen formalpragmatischen Strukturen, den sog. Basisregeln (vgl. Garfinkel 1963 sowie Cicourel 1973), bis hin zu den formalen Strukturen der Gesprächspraxis im Sinne der Konversationsanalyse.
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Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Bourdieus Kultursoziologie und Mannheims Wissenssoziologie siehe den Beitrag von Meuser i. d. Band.
Die Ethnomethodologie hatte mit ihrer Analyse der alltäglichen Herstellungsprozesse somit den Zugang zur Praxis des Handelns gewonnen. Dieser Zugang blieb allerdings auf die formalen und ubiquitären Strukturen dieser Praxis beschränkt. Das handlungsleitende Wissen, welches die Handlungspraxis in ihrer milieu- und kulturspezifischen Semantik je unterschiedlich strukturiert, blieb und bleibt aus der Betrachtung ausgeklammert, der Zugang zu tiefergreifenden semantischen Gehalten somit verschlossen, wie wir dies z.B. in der Konversationsanalyse beobachten können. Diese tiefergreifenden oder impliziten semantischen Gehalte sind an Wissensbestände gebunden, welche in die Handlungspraxis eingelassen sind. Das die Handlungspraxis orientierende Wissen ist ein vorreflexives. Auf diesen vorreflexiven Charakter nimmt Mannheim mit dem Begriff des atheoretischen Wissens und Bourdieu mit demjenigen des inkorporierten Wissens Bezug. Die Prozessstrukturen oder generativen Muster dieser Handlungspraxis sind Gegenstand praxeologischer Typenbildung. Damit wird es dann also möglich bzw. notwendig, zwei Arten von Typenbildung zu unterscheiden: Auf der einen Seite die Common Sense-Typenbildung, deren Architektur durch eine zweckrationale und damit zusammenhängend – wie Luhmann (1973) schon sehr früh gezeigt hat – auch deduktive Logik geprägt ist. Diese Typenbildung mit ihrer Trennung von Entwurf bzw. Motiv einerseits und Handlungspraxis andererseits findet sich dort, wo die Common Sense-Akteure selbst ihr Handeln objektivieren oder verdinglichen. Eine derartige Typisierung von Orientierungsschemata findet sich wie gesagt zum einen im Bereich der Common Sense-Theoriebildungen. Zum anderen finden wir derartige Typisierungen dort, wo Ablaufprogramme des Handelns in objektivierter und normierter Form vorgeschrieben sind, also im Bereich des institutionalisierten und rollenförmigen Handelns. „Institutionalisierung findet statt, sobald habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden“, wie es bei Berger/Luckmann (1969, 58) heißt. In obigem Zitat wird interessanterweise aber zugleich auch auf eine andere Dimension des Handelns verwiesen, auf die Praxis des „habitualisierten“ Handelns. Dieses bleibt allerdings bei Berger/Luckmann (wie auch bei Schütz) unausgearbeitet, stellt also eine Residualkategorie dar. Eine Praxis habitualisierten Handelns kann aber zum Gegenstand einer ganz anderen Art von Typenbildung werden. Diese Typenbildung ist als prozessanalytische auf den Modus Operandi, die generative Formel der Praxis, gerichtet und ist an dieser Praxis selbst beobachtbar. Gemeint ist sowohl die sprachliche wie auch die vorsprachliche Praxis. Die Logik dieser Typenbildung ist eine abduktive, die in Analogien oder besser: Homologien bzw. auch funktionalen Äquivalenten und nach Art der komparativen Methode denkt5 sowie in Kate5
Im Sinne von Bourdieu (1996, 268) ist „das analogische Denken, das sich auf die (...) vernunftgetragene Intuition der Homologien stützt“, Grundlage der „komparativen Metho-
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gorien von Zentrum und Peripherie, von Fokus und Marginalität oder auch von primären und sekundären Rahmungen. Ich spreche daher mit Bezug auf diese die Praxis strukturierenden Orientierungsmuster von Orientierungsrahmen. Demgegenüber bezeichne ich jene Handlungsentwürfe, an denen das Handeln im Sinne von (zweckrationalen) Um-zu-Motiven orientiert ist und die Gegenstand der Common Sense-Typenbildungen sind, als Orientierungsschemata. Den Terminus Orientierungsmuster verwende ich als Oberbegriff für beide (vgl. dazu auch Bohnsack 1997b). Die auf den Modus Operandi, die Struktur der Handlungspraxis gerichtete Art der Kategorien- und Typenbildung findet sich in zwei verschiedenen sozialwissenschaftlichen Traditionen: Die eine Tradition ist diejenige der Chicagoer Schule mit ihrer grundlegend prozessanalytischen Einstellung, die in den 20er Jahren in Kategorien wie der „natural history“ (der naturwüchsigen Ablaufgeschichte) und des „life-cycle“ ihren Ausdruck gefunden hat und später u.a. in der Kategorie der „career“: der Karriere des Geisteskranken bei Erving Goffman (1972) und derjenigen des Marihuana-Rauchers bei Howard S. Becker (1981). Becker hat die Kritik an einem zweckrationalen oder rationalistischen Konzept der Handlungsmotivation auf den Punkt gebracht: „Nicht abweichende Motive führen zu abweichendem Verhalten, sondern genau umgekehrt: das abweichende Verhalten erzeugt mit der Zeit die abweichende Motivation“ (ebd., 36). Für die gegenwärtige qualitative Forschung sind vor allem das Konzept der „trajectory“ bei Anselm Strauss und seiner Schule (vgl. u.a. Strauss et al. 1985) und die in einigen Punkten hier anknüpfenden Kategorien der „Verlaufskurve des Erleidens“ und der „Wandlung“ von Fritz Schütze, die von ihm in empirischer Rekonstruktion entwickelt wurden, von zentraler Bedeutung. Schütze (1999, 200) kritisiert mit Bezug auf Weber und Schütz, „daß die interpretative Soziologie lange Zeit einem Kult der rational-handlungsstrukturierten Wirklichkeit huldigte“. Seine Analysen, die mit der allgemeinen Analyse der „Prozessstrukturen des Lebensablaufs“ biographietheoretisch untermauert wurden, sind als theoretische und empirisch-methodische Alternativen zu dieser analytischen Einführung der interpretativen Soziologie zu verstehen. Die praxeologische Typenbildung in der Tradition der Chicagoer Schule betont die Emergenz sozialer Phänomene und – wie es bei Schütze (ebd.) heißt – „die chaotischen Aspekte der sozialen Realität“ und beleuchtet somit die Handlungspraxis primär von Situationen und Entwicklungsphasen existenzieller Verunsicherung und Entfremdung her. Demgegenüber rekonstruiert die andere Tradition praxeologischer Typenbildung, diejenige der de“. Trotz vieler grundlagentheoretischer Gemeinsamkeiten zwischen der Bourdieu’schen kultursoziologischen Analyse und unserer eigenen finden sich jedoch auch erhebliche Unterschiede, so u.a. hinsichtlich der empirischen Verfahrensweise. Vgl. dazu auch den Beitrag von Meuser i. d. Band.
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Wissenssoziologie von Mannheim und der Kultursoziologie von Bourdieu, diese existenzielle Ebene der Handlungspraxis primär von einer anderen Seite her. Im Vordergrund stehen hier die Bedingungen der Herstellung existenzieller Sicherheit, der kollektiven Einbindung und des unmittelbaren Verstehens. Diese existenzielle Realität der handlungsleitenden, impliziten Wissensbestände ist tiefer verankert als die Wirklichkeit der Institutionen, Rollen und Normen, wie sie von Berger/Luckmann beschrieben wird. In diesem Sinne haben wir es also mit zwei unterschiedlichen Ebenen von Wirklichkeit und Bedeutungskonstitution zu tun, die uns nahezu in jeder sozialen Entität, aber auch in jeder Begrifflichkeit als Doppelstruktur begegnen. So ist uns allen – unabhängig von unserer Milieuzugehörigkeit und existenziellen Bindung – die ‚Familie‘ einerseits als Institution und als verallgemeinerbarer Begriff in einer objektivierten Bedeutung gewärtig, die auf institutionalisierten Erwartungen und z.B. rechtlichen Definitionen beruht. Wir sprechen hier von der „kommunikativen“ Bedeutung des Begriffes Familie. Eine darüber hinausgehende und zum Teil völlig andere Bedeutung erhält der Begriff ‚Familie‘ hingegen für diejenigen, die die Gemeinsamkeiten und Besonderheiten einer konkreten familialen Alltagspraxis miteinander teilen. In dieser Hinsicht gewinnt die Familie dann den Charakter eines Milieus, welches in einem „kollektiven Gedächtnis“ (vgl. Halbwachs 1985) oder – in der Perspektive der Chicagoer Schule – einer milieu- und auch je fallspezifischen „natural history“, einer „naturwüchsigen Ablaufgeschichte“ begründet ist. Diese kollektive Erlebnisschichtung ist zugleich das Produkt einer gemeinsamen Praxis wie auch deren Voraussetzung. Wir sprechen hier dann von einer „konjunktiven“ Bedeutung des Begriffes Familie und von der Familie als einem „konjunktiven Erfahrungsraum“ (vgl. Mannheim 1980, 71 ff. u. 244 ff.). In einem praxeologischen Verständnis ist die Frage nach dem Sinn einer Handlung oder Äußerung diejenige nach der Struktur, nach dem generativen Muster oder der generativen Formel, dem Modus Operandi des handlungspraktischen Herstellungsprozesses. Die Identifikation dieses generativen Musters, also dessen Interpretation, setzt die Beobachtung einer Handlungspraxis voraus. Diese kann uns entweder unmittelbar gegeben sein oder auf dem Wege von Erzählungen und Beschreibungen der Erforschten. Das generative (Sinn-) Muster bezeichnen wir – wie gesagt – als Orientierungsrahmen oder auch als Habitus. Eine darauf gerichtete (praxeologische) Typenbildung bezeichnen wir mit einem Begriff von Mannheim (1980, 85 ff.) als eine sinngenetische. Die auf diesem Analyseschritt aufbauende und ihn weiterführende Typenbildung haben wir eine soziogenetische (ebd.) genannt. Denn diese umfassende Typenbildung schließt die Frage nach der sozialen Genese dieses
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Orientierungsrahmens mit ein und ‚erklärt‘ ihn somit in gewisser Weise.6 Die soziogenetische Typenbildung fragt nach dem Erfahrungshintergrund, genauer nach dem spezifischen Erfahrungsraum, innerhalb dessen die Genese einer Orientierung, eines Habitus zu suchen ist. Wenn ich sage, eine von mir beobachtete Orientierung sei ‚typisch dörflich‘, so ist damit gesagt, dass ihre Genese im dörflichen Erfahrungsraum zu suchen sei. Damit ist auf vier grundsätzlich unterscheidbare Analyseschritte verwiesen: Zunächst geht es um die Generierung des generativen Musters, des Orientierungsrahmens auf dem Wege seiner begrifflichen Explikation. Eine derartige begriffliche Explikation nennen wir „Reflektierende Interpretation“ (genauer dazu: Bohnsack 2000a u. 2001a). Zweitens geht es um die Abstraktion (Kap. 3.1.1) und drittens um die Spezifizierung (Kap. 3.1.2) dieses Orientierungsrahmens. Den zweiten und den dritten Schritt bezeichne ich als sinngenetische Typenbildung, die – wie dargelegt – noch zu unterscheiden ist von der soziogenetischen Typenbildung. Im Zuge der soziogenetischen Typenbildung wird – und dies ist der vierte Schritt – der Typus zunächst innerhalb einer Typologie verortet, indem seine Beziehung zu und Abgrenzung von anderen auch möglichen Typen oder Typiken (u.a. Milieu-, Geschlechts-, Generations- und Bildungstypik) herausgearbeitet wird (Kap. 4). Erst auf dieser Stufe lässt sich von einer Generalisierung des Typus sprechen. In einem fünften Schritt können dann jene Bedingungen der Sozialisations- oder Bildungsgeschichte herausgearbeitet werden, in denen die interaktive Genese des Typus zu suchen ist (Kap. 5).
6
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Die soziogenetische Typenbildung entspricht in dieser Hinsicht der Konstruktion des Idealtypus bei Max Weber. Ein derartiges idealtypisches Verstehen fasst er als ein „erklärendes Verstehen“ (Weber 1980). Übereinstimmungen zwischen der Konstruktion von Idealtypen bei Weber und der soziogenetischen Typenbildung zeigen sich u.a. im Hinblick auf das, was in der Weber-Rezeption auch als „genetische Rekonstruktion“ bezeichnet wurde (vgl. Seyfarth 1979, 156; Gerhardt 1986, 36 ff.). Mit „genetischer Rekonstruktion“ ist gemeint, „daß bei einem Phänomen in breit schauender historischer Betrachtung nach und nach herausgearbeitet wird, welche vorausgehenden Vorgänge verständlich als Vorstufen und Entwicklungsformen des später (in der Gegenwart) Gegebenen erkannt werden können“ (Gerhardt 1986, 50). Gerhardt (1999, 198) arbeitet auch die Bedeutung der komparativen Analyse für die Konstruktion von Idealtypen heraus und unterscheidet drei Schritte: „Fallvergleich (Kontrastierung) – Bildung von Idealtypen – Konfrontierung“. Allerdings legt auch Gerhardt keine genaue Rekonstruktion der Weber’schen genetischen Rekonstruktion in dessen Forschungspraxis vor. Es lässt sich aber in „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (Weber 1920) die genetische Rekonstruktion u.a. dort sehr schön rekonstruieren, wo Weber zu zeigen vermag, wie die ursprünglich religiös motivierte Methodik der Lebensführung, also die spezifische Rationalisierung des Alltagslebens (als zentrale Komponente des kapitalistischen Geistes) sich zunehmend von ihrer ursprünglichen religiösen Motivation gelöst, sich ihr gegenüber verselbstständigt hat (zur Rekonstruktion der Weber’schen Forschungspraxis siehe auch: Bohnsack 2000a, 242-244).
3. Zur Methodik sinngenetischer Typenbildung Da die Thematik der Typenbildung und Generalisierung im Zentrum meiner Ausführungen stehen soll, werde ich auf den Analyseschritt der interpretativen Generierung des Orientierungsrahmens, den Analyseschritt also, den wir Reflektierende Interpretation nennen, an dieser Stelle nur insoweit eingehen, als dies die Auswahl der zu interpretierenden Passagen betrifft, um dann mit dem Analyseschritt der Abstraktion und Spezifizierung des Orientierungsrahmens zu beginnen. (Ich werde allerdings am Ende dieses Abschnittes zum Problem der Generierung noch einmal kurz zurückkehren; genauer dazu: Bohnsack 2001a sowie den Beitrag von Nentwig-Gesemann i. d. Band.) Die Methode der Typenbildung möchte ich im Folgenden an einem Beispiel erläutern, welches einer neueren Untersuchung über Jugendliche türkischer Herkunft entstammt. Das Erkenntnisinteresse des Projekts zielt auf Orientierungsprobleme in der Adoleszenzphase in unterschiedlichen Milieus unter Bedingungen der Migration und auf die Beziehung dieser Orientierungsprobleme zu Erfahrungen der Kriminalisierung und Ausgrenzung.7 Da uns kollektive Orientierungen interessieren, steht im Zentrum die Auswertung von Gruppendiskussionen, an die dann diejenige von narrativen Interviews und Beobachtungsberichten anschließt. Zunächst noch einige Bemerkungen zur Auswahl der zu interpretierenden Passagen. Jene Passagen aus Gruppendiskussionen, die wir als erste einer Reflektierenden Interpretation unterziehen, wählen wir aus nach dem Kriterium der Relevanz, genauer: nach dem Fokuscharakter der hier behandelten Thematik für die Erforschten selbst. Das heißt, wir suchen nach Erlebnis- und Orientierungszentren der Gruppe, da wir davon ausgehen, dass die für sie zentralen Orientierungen hier in besonders prägnanter Weise zum Ausdruck gebracht werden. Formaler Indikator für derart fokussierte Passagen ist deren interaktive und vor allem metaphorische Dichte. Wir bezeichnen diese Passagen deshalb als Fokussierungsmetaphern. In narrativen Interviews sind es die Passagen mit hoher narrativer Dichte, also einem hohen Detaillierungsgrad, die den Charakter von Fokussierungsmetaphern annehmen.
7
Das von der DFG finanzierte Projekt mit dem Titel: „Entwicklungs- und milieutypische Ausgrenzungs- und Kriminalisierungserfahrungen in Gruppen Jugendlicher“ (s. dazu u.a: Bohnsack/Nohl 1998 sowie 2001b und Nohl 2001) steht in einem Zusammenhang mit vorangegangenen DFG-Projekten zu Jugendlichen in Gruppen sowohl in Berlin (s. Bohnsack et al. 1995) als auch in einer Kleinstadt mit ihren umliegenden Dörfern in Franken (s. Bohnsack 1989). Letztgenannte Studie stellt die erste empirische Realisierung des hier skizzierten Modells einer mehrdimensionalen praxeologischen Typenbildung dar. Der Vergleich möglichst unterschiedlicher Milieus wurde darüber hinaus auch auf Jugendliche in São Paulo und – hinsichtlich der systematischen komparativen Analyse der Migranten mit einheimischen Jugendlichen – in Ankara (s. Nohl 2001) ausgeweitet.
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Bei den von uns untersuchten Jugendlichen türkischer Herkunft in der späten Adoleszenzphase hatten in den Gruppendiskussionen vor allem jene Passagen einen fokussierten Charakter, in denen über die Beziehung zur Herkunftsfamilie oder zur Freundin bzw. zukünftigen Ehefrau sowie über die Möglichkeiten der Gründung einer eigenen Familie verhandelt wurde. Die für die Jugendlichen zentrale Orientierungsfigur oder Orientierungsproblematik ist in der Regel nicht Gegenstand expliziter (also theoretisch-reflexiver) Darstellungen. Sie begegnet uns in impliziter oder atheoretischer Weise, d.h. in Form von Beschreibungen und Erzählungen der Alltagspraxis, die zum Teil auch Bezug auf den Migrationshintergrund nehmen. Dass die Proband(inn)en die Struktur ihrer Handlungspraxis in bestimmten Aspekten selbst begrifflich (theoretisch) zur Explikation bringen, stellt die Ausnahme dar. Dies ist beispielsweise dort der Fall, wo die Jugendlichen in einer Gruppendiskussion formulieren: „man ist zu Hause ganz anders als man draußen ist oder so“. Und ein anderer fährt fort: „ja zu Hause die die haben von gar nichts ne Ahnung so“. Hier kommt eine strikte Trennung zweier Bereiche: eines inneren („zu Hause“) und eines äußeren („draußen“) zum Ausdruck.
3.1 Abstraktion des Orientierungsrahmens: Generierung des Typus Im Zuge der Abstraktion der rekonstruierten Orientierungsfigur, die dem Prinzip der Abduktion folgt (dazu genauer Bohnsack 2000a, 203 ff.), wird nun zuerst in thematisch vergleichbaren, also auf die familiale Interaktion bezogenen, Passagen aus Diskussionen mit anderen Gruppen nach einem analogen oder homologen Muster gesucht, welches dort möglicherweise in ganz anderen Formulierungen zum Ausdruck gebracht wird. So ist in einer anderen Gruppe beispielsweise vom „Respekt“ dem Vater gegenüber die Rede. Dieser Respekt gebietet es, spezifische Bereiche des eigenen Handelns innerhalb der Familie zu unterlassen, ja nicht einmal zu thematisieren: angefangen vom Rauchen bis hin zur Beziehung zu den Freundinnen und den Konflikten mit der Polizei. Das heißt, spezifische Bereiche der eigenen Identität werden aus der innerfamilialen Kommunikation und Interaktion ausgeklammert. Auf dem Wege des Fallvergleichs lässt sich die Orientierungsfigur nun zu einer Klasse von Orientierungen abstrahieren, die wir als diejenige der „Sphärendifferenz“ bezeichnet haben. Gemeint ist die Trennung von innerer, also familialer und verwandtschaftlicher Sphäre einerseits und äußerer Sphäre, also derjenigen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und ihrer Institutionen, andererseits. Eine derartige fallübergreifende komparative Analyse, mit der die Abstraktionsfähigkeit von Orientierungsmustern ausgelotet wird, sollte – sofern eine Typenbildung überhaupt angestrebt wird – schon sehr früh im Forschungsprozess erfolgen, weil auf diese Weise das Verallgemeinerungspo-
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tenzial von der fallspezifischen Besonderheit abgehoben werden kann.8 Die fallübergreifende komparative Analyse erfolgt also idealerweise soweit möglich bereits vorab der fallinternen komparativen Analyse, also der Abstraktion innerhalb eines Falles, die ich als Spezifizierung eines Typus (s. Kap. 3.2) bezeichne. Auf dieser Stufe der Interpretation, also derjenigen des fallübergreifenden Vergleichs, ist das Tertium Comparationis, also das diesen Vergleich strukturierende Dritte, das gemeinsame Thema, hier also das Thema der Familie und Ehe bzw. der Beziehung zur Freundin. Die spezifische Selektivität bei der Behandlung eines Themas, also der für dessen Bearbeitung ausschlaggebende Orientierungsrahmen, hier: derjenige der Sphärendifferenz, wird allerdings dadurch überhaupt erst sichtbar und begrifflich explizierbar, dass ich als Interpret Alternativen, d.h. Vergleichshorizonte, dagegenhalte (also Fälle, in denen eine Sphärentrennung eben nicht zu beobachten ist). Dies geschieht zumeist auf der Basis alltagspraktischer, z.B. familialer Erfahrungen des Interpreten, die ihrerseits implizit bleiben, sich also der begrifflichen Explikation, der Interpretation, entziehen. Wir haben es also in diesem Sinne (grundsätzlich immer) mit einer zusätzlichen, impliziten, der Aufmerksamkeit des Beobachters entzogenen und somit fundamentalen komparativen Analyse zu tun.9 Bei Luhmann heißt es dazu: „alles Beobachten ist Benutzen einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen (und nicht der anderen) Seite. Die Unterscheidung fungiert dabei unbeobachtet“ (Luhmann 1990, 91). Das, was Luhmann hier als „blinden Fleck“ des Beobachtens bezeichnet (ebd., 85), ist das, was wir mit Karl Mannheim (1952a) als die Standortgebundenheit oder auch Seinsverbundenheit des Beobachters fassen. Ein Ausstieg aus der Standortgebundenheit bzw. deren Kontrolle ist dem Beobachter zwar nicht prinzipiell möglich. Gleichwohl lässt sich diese Kontrolle methodisieren, indem an die Stelle der impliziten Vergleichshorizonte 8
9
Hierin liegt einer der zentralen Unterschiede zur Ethnographie, aber auch zur objektiven Hermeneutik, die beide – jenseits der großen Unterschiede zwischen ihnen – die fallspezifische Besonderheit in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellen und damit ihr eigenes Wissen um das Typische eher implizit voraussetzen, als dass sie es explizieren. Glaser/Strauss (1969, 58) haben konsequent zwischen typen- bzw. theoriegenerierender Analyse und Ethnographie unterschieden und betont: Zuerst müsse der Forscher im Sinne der Grounded Theory „sich daran erinnern, dass er Sammler theorierelevanter Daten ist, nicht ein Ethnograph, der versucht, die umfassendsten Daten über eine Gruppe zu erhalten.“ Auch in diesem Sinne ist die von Glaser/Strauss (1969, 101 ff.) und Strauss/Corbin (1994, 273) geforderte „constant comparative method“ als eine in allen Stadien und auf allen Ebenen des Forschungsprozesses operierende Vergleichsgruppenbildung zu verstehen. Es lassen sich hier viele Parallelen zur Grounded Theory von Glaser/Strauss (1969) ziehen. Allerdings bleibt der Schritt der soziogenetischen Typenbildung aus deren Modell der Theorie- oder Typengenerierung weitgehend ausgeschlossen wie auch die Mehrdimensionalität der Typenbildung (s. dazu auch Kap. 5). Vgl. dazu genauer den Beitrag von Nohl i. d. Band.
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zunehmend empirisch beobachtbare Vergleichsfälle treten. Um dies zu erreichen, haben wir alters- und bildungsmäßig vergleichbare Gruppen von Jugendliche einbezogen, die bzw. deren Eltern nicht über Migrationserfahrungen verfügen. Als Vergleichshorizonte herangezogen wurden sowohl Gruppen aus früheren Untersuchungen über einheimische deutsche Jugendliche als auch solche über einheimische türkische Jugendliche aus Ankara (s. dazu: Nohl 2001). Es wird somit erkennbar, dass Typenbildung nicht nur eine komparative Interpretation der zum Typus, zur Typik gehörigen Fälle, sondern auch eine (zumeist implizite) komparative Interpretation der nicht zur Typik gehörigen Fälle als Vergleichshorizonte voraussetzt. Dieses Problem des blinden Flecks bzw. der Standortgebundenheit der Interpretation stellt sich allerdings nicht erst auf der Ebene der Typenbildung, also der Abstraktion eines Orientierungsrahmens, sondern bereits auf derjenigen der Interpretation, also der Generierung, der begrifflichen Explikation des Orientierungsrahmens (genauer dazu: Bohnsack 2001a). Denn auch der Schluss von einer beobachteten Handlung oder Äußerung auf eine Orientierung stellt ja bereits eine Abstraktionsleistung dar. Bereits auf dieser Ebene ordne ich die zu interpretierende Handlung oder Äußerung einer bestimmten Klasse zu und bringe diese Klasse zur begrifflichen Explikation: z.B. als „Respekt gegenüber dem Vater“ (genauer dazu: Bohnsack 2001a). Dabei grenze ich auch hier diese Klasse von Äußerungen von anderen, d.h. zu anderen Klassen gehörenden Äußerungen ab, also von einem Vergleichshorizont, in den, soweit er implizit bleibt, also nicht empirisch fundiert ist, die Standortgebundenheit des Interpreten in unreflektierter Weise hineinragt. Somit erweist sich auch hier die methodische Bedeutung des empirisch fundierten Fallvergleichs, also der komparativen Analyse. Diese ist also sowohl für die Generierung, die Abstraktion und die Spezifizierung eines Orientierungsmusters wie auch für die methodische Kontrolle der Standortgebundenheit konstitutiv.
3.2 Spezifizierung des Typus Nachdem – in einem ersten Schritt – das Abstraktionspotenzial eines Orientierungsrahmens herausgearbeitet wurde, geht es im nächsten Schritt – in einer gegenläufigen Bewegung – um die Spezifizierung des derart gewonnenen Typus. Die nun folgende fallübergreifende komparative Analyse ist nicht mehr primär auf die Gemeinsamkeiten jener Fälle gerichtet, die Gegenstand der Analyse sind, sondern auf die Kontraste zwischen ihnen. Genauer betrachtet, vollzieht sie sich nach dem Prinzip des Kontrasts in der Gemeinsamkeit. Das gemeinsame Dritte, das Tertium Comparationis ist nun nicht mehr durch ein (fallübergreifend) vergleichbares Thema gegeben, sondern
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durch den (fallübergreifend) abstrahierten Orientierungsrahmen bzw. Typus, hier also denjenigen der Sphärendifferenz. Dieser Typus soll nun in seinen spezifischen Ausprägungen sichtbar gemacht, auf diese Weise aber auch validiert und präzisiert werden. Anhand von ca. 20 intensiv ausgewerteten Fällen konnten wir auf der Basis der dokumentarischen Interpretation von Gruppendiskussionen, biographischen Interviews und teilnehmender Beobachtung vier unterschiedliche Modi oder Wege des Umgangs mit der Sphärendifferenz herausarbeiten, die auf der Grundlage unserer empirischen Ergebnisse im nächsten Kapitel ausführlich dargestellt werden. Zumindest die Ausgangs- oder Basistypik, also jene Typik, bei der die Konstruktion einer ganzen Typologie ihren Ausgangspunkt nimmt, ist durch das Erkenntnisinteresse eines Projekts vorgegeben. Im Falle der im Folgenden exemplarisch skizzierten Untersuchung war dies die Migrationstypik. Dass der von uns rekonstruierte Orientierungsrahmen der Sphärendifferenz dieser Typik zuzurechnen ist, war zunächst allerdings lediglich durch den Kontrast mit alters- und bildungsmäßig vergleichbaren Gruppen indiziert, die nicht in eine Migrationsgeschichte eingebunden sind. Im Fall unserer Untersuchung war durch das Erkenntnisinteresse ebenfalls vorgegeben, dass männliche Jugendliche ohne gymnasiale und akademische Ausbildung im Alter von 18 bis 25 Jahren im Zentrum stehen.10 Gleichwohl sollten aber weibliche Jugendliche und solche mit gymnasialer Ausbildung sowie Jugendliche der Altersstufe zwischen 15 und 18 Jahren als Vergleichshorizonte einbezogen werden. Das Erkenntnisinteresse zielte somit – ausgehend von der Basistypik der Migration – auf die Einbindung der Migrationstypik in eine umfassendere Typologie, genauer: auf die geschlechts-, bildungs- und alters-, d.h. entwicklungstypische Spezifizierung dieser Basistypik. Erst im Kontext einer Typologie wird eine soziogenetische, eine ‚erklärende‘ Typenbildung möglich. Auch gelingt erst auf diesem Wege einer mehrdimensionalen Typenbildung die Generalisierung des einzelnen Typus – hier zunächst der Basistypik. Die Generalisierung ist ganz wesentlich davon abhängig, dass der Typus von anderen – auch möglichen – Typen oder Typiken abgegrenzt werden kann. In Richtung auf welche andere Typik mit der Spezifizierung der Basistypik begonnen wird, ist dabei von nachrangiger Bedeutung und häufig von Kontingenzen abhängig, also von Zufällen hinsichtlich der Kontraste zwischen den Fällen, also den Gruppen, die zunächst ins Auge fallen. In unserer Untersuchung sind wir zunächst innerhalb der im Zentrum stehenden Population (der männlichen Jugendlichen ohne gymnasiale Ausbildung im Alter von 18 bis 25 Jahren) verblieben und haben die zu dieser Population gehörigen Gruppen miteinander kontrastiert. Wir sind auf diese 10
Die Auswahl dieser Altersgruppe von männlichen Jugendlichen aus den ‚bildungsfernen Milieus‘ war durch die kriminologische Ausgangsfrage bedingt. Es sind eben diese Jugendlichen bzw. Heranwachsenden, die in der Kriminalstatistik deutlich überrepräsentiert sind.
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Weise zunächst zu einer milieutypischen Spezifizierung der Basistypik gelangt. Um die derart spezifizierten Milieutypen zu validieren, d.h. auf ihre Gültigkeit hin zu überprüfen, aber zugleich, um sie zu präzisieren bzw. fortschreitend zu elaborieren, werden diese – an mindestens einem, nach Möglichkeit aber mehreren Fällen – im Zuge einer fallinternen komparativen Analyse daraufhin überprüft, ob und im Hinblick auf welche Komponenten sie für die Fälle, also für die Gruppen oder Individuen, von genereller Relevanz sind. Dies trifft dann zu, wenn das typisierte Orientierungsmuster in unterschiedlichen Situationen der Alltagspraxis Relevanz gewinnt, genauer: wenn es als Modus Operandi oder generative Struktur der Produktion und Reproduktion unterschiedlicher interaktiver Szenerien (wenn auch in unterschiedlicher Intensität) zugrunde liegt. „Die Frage nach der Gültigkeit einer solchen Struktur beantwortet sich aus dieser Perspektive also nicht über ihre Häufigkeit, sondern darüber, dass ihre Reproduktionsgesetzlichkeit nachgewiesen wird“ (Wohlrab-Sahr 1994, 273). Für die Interpretation bedeutet dies, dass unterschiedliche Themen einer Gruppendiskussion oder eines Interviews (von der Familie und der Beziehung zur Freundin bis hin zur Schule und beispielsweise zum Breakdance) immer wieder innerhalb desselben Orientierungsrahmens, also in homologer Weise, bearbeitet werden. So zeigen die Ergebnisse aus unserem Forschungsbeispiel, welche ich im Folgenden ausführlicher darlegen werde, dass das Orientierungsproblem der Sphärendifferenz in seinen je milieuspezifischen Ausprägungen nicht allein im Bereich der familialen Interaktion an Bedeutung gewinnt, sondern in unterschiedlichen Bereichen der Alltagspraxis, u.a. auch in der Interaktion mit den Feldforschern.
4. Die sinngenetische Typenbildung in exemplarischer empirischer Anwendung Im Bereich der Beziehung zur Freundin und potenziellen Ehepartnerin, also in demjenigen der Geschlechterverhältnisse, begegnet uns die Orientierungsfigur der Sphärendifferenz in besonders markanter Form. Das heißt, es waren überwiegend die Passagen mit dieser Thematik, denen in den Gruppendiskussionen und Interviews der Charakter von Fokussierungsmetaphern zukam. Aus Gründen der leichteren Überschaubarkeit und Vergleichbarkeit werde ich mich in der folgenden Darstellung der empirischen Ergebnisse vor allem auf dieses Thema bzw. diesen Bereich der Alltagspraxis – also denjenigen der Geschlechterverhältnisse – konzentrieren. Im Zuge der Anbahnung von Beziehungen zu potenziellen Ehepartnerinnen kommt es zum Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Arten oder Wegen der Stiftung solcher Beziehungen. Dieser erweist sich als Konflikt 238
zwischen zwei prinzipiell verschiedenen Modi der Sozialität: In der Partnerbeziehung kann eine Gemeinsamkeit, eine – wie wir es nennen – „habituelle Übereinstimmung“ zwischen den Partnern durch zwei unterschiedliche Praxen hergestellt werden: Die eine Praxis ist diejenige, bei der die wechselseitige Anerkennung der Ehepartner in einem tradierten Modus der Ehestiftung sich entfaltet, nämlich auf dem Wege der „Vermittlung“ durch die Eltern. Diese Vermittlung ist in Gemeinsamkeiten der sozialen und sozialräumlichen Herkunft der Ehepartner fundiert (z.B. der gemeinsamen Herkunft ihrer Eltern und/oder Verwandten aus derselben Region oder sogar demselben Dorf). Grundlage für diese Art von Sozialität, für diesen Modus der Herstellung habitueller Übereinstimmung, ist somit primär die soziale Identität der Partner, welche ihnen durch ihre Herkunft zugeschrieben ist. Im deutlichen Kontrast dazu steht eine Praxis, bei der die wechselseitige Anerkennung der Ehe- und Beziehungspartner und die Suche nach einer habituellen Übereinstimmung sich primär auf der Basis der je individuellen, persönlichen Perspektive und Identität der Beteiligten vollzieht. Dazu gehört dann u.a. auch die romantische Liebe. Damit sind zwei zunächst inkompatible Existenzweisen verbunden: Letztere Existenzweise, also diejenige auf der Basis der persönlichen Identität der Beteiligten, entspricht dem Modus der Sozialität der dominanten Kultur und ist somit der äußeren Sphäre zuzurechnen. Für die zuerst beschriebene Existenzweise stellt die Familie, Verwandtschaft und ethnische Community, also die innere Sphäre, den übergreifenden, den primären Orientierungsrahmen dar. Der Existenzweise der inneren Sphäre entspricht ein männlicher Habitus, auf den bisweilen mit der begrifflichen Metapher der „Ehre des Mannes“ Bezug genommen wird. Hinter der Metapher der „Ehre des Mannes“ verbergen sich Elemente eines tradierten Habitus wie aber auch Probleme mit diesem Habitus. Dieser Probleme sind auch diejenigen Jugendlichen gewärtig, die diese Metapher selbst nicht verwenden. Elemente dieses Habitus, der im Milieu des türkischen Dorfes verankert ist,11 werden über die Elterngeneration und die türkische Community vermittelt. Diese Elemente sind allerdings in der aktuellen Handlungspraxis der Aufnahmegesellschaft nicht so ohne Weiteres realisierbar bzw. habitualisierbar. Der mit dem Habitus der männlichen Ehre verbundene Modus der Suche nach habitueller Übereinstimmung und habitueller Sicherheit erscheint in der zweiten Migrationsgeneration nicht mehr bruchlos inkorporierbar. 11
Auf die Verankerung dieses Habitus im dörflichen Milieu finden sich zwar viele Hinweise in den biographischen Interviews und Gruppendiskussionen. In valider Weise ist dies aber auf der Grundlage unseres Materials nicht herauszuarbeiten. Wir können hier jedoch auf die empirischen Analysen zur „Ordnung der Gesellschaft im türkischen Dorf“ von Schiffauer (1987, 23 f.) zurückgreifen: „‚Ehre‘ bezeichnet die Integrität, die Unantastbarkeit und Unbescholtenheit eines Haushaltes (...). Man erzählt in Subay von Fällen, in denen Frauen nur in der Absicht geschändet wurden, ihre Ehemänner oder Väter zu treffen.“
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Die Differenz zwischen innerer und äußerer Sphäre und die damit verbundenen habituellen Unsicherheiten werden erst in der Adoleszenzphase (vgl. hierzu Bohnsack/Nohl 1998) und dort ganz besonders im Bereich der Geschlechterverhältnisse wirklich zum Problem. Dies betrifft vor allem jene Phase der späten Adoleszenzentwicklung, in der biographisch relevante Perspektiven im Bereich von Ehe und Familie entfaltet werden. In dieser Phase hat die Beziehung zu den jungen Frauen den Charakter ihrer biographischen Unverbindlichkeit und Folgenlosigkeit verloren, durch die vor allem die bisherigen – eher episodalen – Beziehungen geprägt waren. Die aus der Migrationslagerung resultierenden Konflikte der Sphärendifferenz stellen, wie erwähnt, ein generelles, d.h. relativ milieuunabhängiges Problem der Jugendlichen der zweiten Migrationsgeneration dar. Diese generelle migrationstypische Problematik wird jedoch milieutypisch in sehr unterschiedlicher Weise bearbeitet und bewältigt.
4.1 Die Migrationstypik der Sphärendifferenz in ihren milieutypischen Spezifizierungen Es lassen sich nun vier Wege des Umgangs mit der aus der Migrationslagerung resultierenden Sphärendifferenz unterscheiden (vgl. dazu die Übersichtsmatrix). In diesen unterschiedlichen Wegen werden milieutypische Variationen der migrationstypischen Problematik sichtbar. Diese vier Milieutypen lassen sich noch einmal zu je zwei Typen zusammenfassen: Auf der einen Seite finden wir jene Jugendlichen, die zwischen den beiden Sphären stehen oder jenseits von ihnen. Davon zu unterscheiden sind diejenigen, für die der Modus der Sozialität und die Moral der inneren Sphäre zum primären Orientierungsrahmen wird, die sich gleichsam in die innere Sphäre zurückziehen.
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Rückzug auf die innere Sphäre
Zwischen innerer und äußerer Sphäre
Exklusivität der inneren Sphäre
Sphären(dif)fusion
Bindung an die Moral der inneren Sphäre bei gleichzeitiger Nichtakzeptanz und Intoleranz gegenüber den moralischen Vorstel- lungen in der äußeren Sphäre
Orientierung an einer Kongruenz bzw. Fusion von innerer und äußerer Sphäre bei gleichzeitiger Diffusion in der Handlungspraxis
Primordialität der inneren Sphäre
Die Suche nach einer dritten Sphäre
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Orientierung an der inneren Sphäre mit ihren tradierten sozialen Identitäten bei gleichzeitiger Toleranz gegenüber den moralischen Vorstellungen in der äußeren Sphäre Orientierung an einer Unvermittelbarkeit der beiden Sphären und strategischer Umgang damit
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Distanz gegenüber beiden Sphären, ihrer Moral und ihren lebenszyklischen Erwartungen und Ablaufmustern Konstitution einer dritten Sphäre (z.B. in der Handlungspraxis des Breakdance)
Der Milieutypus der ‚Exklusivität der inneren Sphäre‘ Ich beginne die Darstellung mit einem extremen Typus, der uns nur sehr selten begegnet ist. Wir bezeichnen ihn als denjenigen der ‚Exklusivität der inneren Sphäre‘. Ich stelle ihn an den Anfang der Darstellung, da hier das Problem der Sphärendifferenz in zugespitzter und somit besonders markanter Weise von den Jugendlichen ausagiert wird. Dieser Weg des ‚Rückzugs‘ in die innere Sphäre ist durch eine starke Bindung an bzw. Fixierung auf die Moral und den Modus der sozialen Identität in der inneren Sphäre charakterisiert. Diese Fixierung geht mit einer Nichtakzeptanz oder Intoleranz gegenüber anderen, also zur äußeren Sphäre zählenden, Orientierungen und moralischen Haltungen einher. So heißt es in einer Gruppe dieses Typus: „In meinen Augen haben deutsche Männer ge-
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genüber Frauen, also sind keine Männer für mich“.12 Den ‚deutschen Männern‘ wird die „Ehre“, wie die Jugendlichen es nennen, deshalb abgesprochen, weil sie es beispielsweise erlauben, dass ihre Ehefrau mit Arbeitskollegen essen geht und sich somit in einer Art und Weise in der Öffentlichkeit bewegt, die anderen Männern Gelegenheit bietet, die Grenze zur inneren Sphäre zu überschreiten. Mehr noch erscheint es den Jugendlichen bereits unverständlich, dass ‚die deutschen Männer‘ die Grenzziehung zwischen innerer und äußerer Sphäre überhaupt zum Gegenstand der Verhandlung mit ihren Frauen machen. Bedeutet dies doch, dass sie in dieser Grenzziehung von der Verständnisbereitschaft ihrer Frauen abhängig sind. Die ‚Ehre des Mannes‘ beweist und bewährt sich somit ganz wesentlich in einer autonomen Kontrolle über die Grenzziehung zwischen innerer und äußerer Sphäre. Die Männer tragen die Verantwortung für die Integrität und Unbescholtenheit der inneren Sphäre. Die Ehre ist vor allem eine Angelegenheit der Beziehung der Männer untereinander. Es geht darum, anderen Männern keine Gelegenheit zu bieten, die Grenze zur inneren Sphäre zu überschreiten. Die sich hier dokumentierende starke Bindung an einen tradierten Habitus erscheint in der Alltagspraxis allerdings prekär, weil sie in dieser Weise von anderen Angehörigen der zweiten Migrationsgeneration nicht mehr geteilt wird.
Der Milieutypus der ‚Primordialität der inneren Sphäre‘ Von diesem Typus der ‚Exklusivität der inneren Sphäre‘ lässt sich der Typus der Primordialität der inneren Sphäre unterscheiden. Hier bildet der zur inneren Sphäre gehörende Modus der Sozialität, Moral und Identitätskonstitution zwar den primären Orientierungsrahmen. Gleichwohl tolerieren die jungen Männer andersartige, also zur äußeren Sphäre zählende, Orientierungen und moralische Vorstellungen. Allerdings sehen sie keine Möglichkeiten der kommunikativen Vermittlung zwischen diesen Sphären, die für sie gleichsam unvermittelt nebeneinander stehen. Den Ereignissen und Erwartungen der äußeren Sphäre begegnen die Jugendlichen mit einer moralisch indifferenten, einer amoralischen Haltung, wie wir es genannt haben. Sie treten diesen Ereignissen gleichsam in der Haltung des distanzierten Beobachters gegenüber. Dies gilt insbesondere auch für Erfahrungen der Ethnisierung seitens der äußeren Sphäre, beispielsweise der Vertreter der Kontrollinstanzen wie etwa im Falle von Übergriffen seitens der Polizei. Und dies gilt sogar für ihre Haltung gegenüber Skinheads, potenziellen Arbeitgebern oder auch Diskothekenbesitzern, die den Jugendlichen mit offensichtlicher Ausländerfeindlichkeit begegnen. Potenzielle Konflikte zwischen den Sphären 12
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Der Kontext der Zitate aus dieser und den folgenden Gruppen findet sich in Bohnsack/Nohl 1998 u. Bohnsack 2001e.
bzw. ihrer je differenten Moral werden strategisch umgangen oder unterlaufen. Dies zeigt sich z.B. auch im Falle von Konflikten mit der deutschen Freundin. Eine derartige moralisch neutrale Haltung gegenüber der äußeren Sphäre charakterisiert zum Teil auch die Jugendlichen, die den folgenden beiden Typen zuzurechnen sind. Im Unterschied zu den bisher skizzierten beiden Typen wollen sie sich aber nicht so ohne Weiteres an die Moral der inneren Sphäre binden.
Der Milieutypus der ‚Sphären(dif)fusion‘ Sozusagen zwischen beiden Sphären stehen die Jugendlichen des Typus, den wir Sphärenfusion oder Sphärendiffusion genannt haben. Die jungen Männer berichten beispielsweise über Erfahrungen während eines Besuchs in der türkischen Herkunftsregion ihrer Familie, also in den Dörfern, in denen ihre Eltern geboren wurden und in deren Umgebung ihre Verwandten noch heute leben. Eltern und Verwandte versuchen bei dieser Gelegenheit, auf dem Wege der sog. „Vermittlung“ die Ehe mit einer jungen Frau aus dieser Herkunftsregion zu stiften. Die jungen Männer bezeichnen diese Erlebnisse in ironischer Distanz als einen „türkischen Film“. Sie kritisieren auf diesem Wege die Konservierung einer Lebenspraxis, die zwar noch ihren Eltern, nicht länger aber ihnen selbst realistisch erscheint. Denn sie haben alternative Vorstellungen: „Und wenn ich heirate, dann heirate ich nach meiner Art“, heißt es. Angestrebt wird eine Form der Suche nach habitueller Übereinstimmung auf der Basis der individuellen, der persönlichen Identität, also eine Partnersuche, die sich nicht an einer sozialen Identität orientiert, die aufgrund der sozialen und regionalen Herkunft zugeschrieben wird. In der Handlungspraxis bleiben sie freilich immer wieder an den tradierten Habitus gebunden und geraten somit gleichsam in eine Diffusion dieser beiden unterschiedlichen Modi der Sozialität und Identitätskonstitution. Sie können somit – wie es in der Gruppendiskussion heißt – „die Richtige nicht finden“. In einer anderen Gruppe dieses Typus berichtet Erol, einer der jungen Männer, in der Gruppendiskussion über Erfahrungen beim Spaziergang mit seiner nicht-türkischen Freundin: wenn meine Freundin zum Beispiel ganz kurz angezogen hat (...) kurze Sachen, ne so, Oberteil oder Rock oder so (...) Ich hab gesagt: okay, wenn du meinst, weil ick bin ganz eifersüchtig. Viele von uns sind wirklich ganz eifersüchtige Menschen. Ich hab gesagt: ‚okay, wenn-wenn du in der Meinung bist, du kannst die Sachen anziehen, du bist frei‘. Ich hab‘ nix dagegen, aber ick kann nich mit dir raus. Da meint sie da hat sie dann Theater gemacht, und ick hab jesagt: na jut, okay, geh’n wa raus, dann wirst du erleben, was passiert‘. Wir war’n nich mal zehn Meter aussem Haus; der erste Typ, der so guckt, hat er gleich von mir eine ((klatscht in die Hände)) bekommen.
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Erol erlebt die Blicke eines fremden Mannes als Verletzung der Grenzen der inneren Sphäre und reagiert reflexartig. Diese Reaktion versucht er seiner nicht-türkischen Freundin wie auch den deutschen Interviewern in der Begrifflichkeit des deutschen Kontextes zu erläutern: Er sei ganz „eifersüchtig“. Eifersucht meint aber – im deutschen Kontext, also in demjenigen der äußeren Sphäre – eine Reaktion auf spezifische persönliche Motive der Freundin in Bezug auf eine potenzielle oder reale Beziehung zu anderen Männern. Darum geht es hier aber gar nicht. Denn das Problem für Erol ist nicht das Verhalten seiner Freundin, sondern dasjenige der anderen Männer, für das der Kleidungsstil seiner Freundin lediglich den Auslöser darstellt. Das Problem betrifft hier also primär die Beziehung der Männer untereinander. Es geht um das, was in anderen Gruppen als „Ehre des Mannes“ bezeichnet wird. Indem somit ein Begriff aus dem deutschen Kontext zur Bezeichnung von Problemen aus dem Kontext der türkischen Community verwendet wird, haben wir es mit einer Art begrifflicher Diffusion zu tun. Zugleich – und weitergehend – ist damit aber auch eine Art orientierungsmäßiger Diffusion zwischen diesen beiden Kontexten oder Sphären verbunden: Einerseits strebt Erol eine Beziehung zu seiner Freundin an, die auf ihrer „Freiheit“ basiert. Er sagt zu ihr: „du kannst die Sachen anziehen, du bist frei“. Er bekundet also seine Absicht, in ihren persönlichen Kleidungsstil nicht einzugreifen, überhaupt ihre individuelle Perspektive zu übernehmen und damit ihre persönliche Identität zu respektieren. Andererseits gerät ihm aber der inkorporierte Kontrollmechanismus als Element des tradierten Habitus der „Ehre“ dazwischen.
Der Milieutypus der ‚Suche nach einer dritten Sphäre‘ Im Unterschied zu der in den bisher dargestellten Milieutypen zu beobachtenden Bindung an Elemente eines tradierten Habitus, wie er der inneren Sphäre zuzurechnen ist, sind bei den Jugendlichen des vierten Typus derartige Bindungen kaum relevant. Die Jugendlichen orientieren sich weder an dem tradierten Modus der inneren Sphäre mit seinen Vorgaben hinsichtlich des Lebenszyklus von Ehe und Familie, an den die Jugendlichen der bisher dargestellten Typen – teils mehr, teils weniger ausgeprägt – gebunden bleiben und auch nicht an dem dazugehörigen tradierten männlichen Habitus. Sie orientieren sich aber auch nicht an der Moral der äußeren Sphäre hinsichtlich der für diese Sphäre zentralen Orientierungen an den institutionalisierten Ablaufmustern von Ausbildung und Beruf. Dieser Typus der ‚Suche nach einer dritten Sphäre‘ wird vor allem durch eine Gruppe von Breakdancern repräsentiert. Sie haben sich im Medium des Tanzes, welcher semi-professionellen Charakter annimmt, gleichsam eine ‚dritte Sphäre‘ geschaffen. Diese
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Entwicklung sehen sie allerdings noch nicht als abgeschlossen an. Erst die Generation ihrer Kinder, also die dritte Migrations-Generation, werde in der Lage sein, den richtigen Weg zu finden, wie sie betonen. Während also die Jugendlichen der ersten beiden Milieutypen sich auf den über die Herkunftsfamilie, d.h. über die innere Sphäre, vermittelten Modus der Sozialität zurückziehen, können wir bei den Jugendlichen des dritten Milieutypus ein Verschwimmen oder eine Diffusion zwischen den unterschiedlichen Modi der inneren und äußeren Sphäre beobachten. Demgegenüber gehen die Jugendlichen des vierten Milieutypus zu beiden Sphären auf Distanz und begeben sich gleichsam auf die Suche nach einer dritten Sphäre. Die Spezifizierung des migrationstypischen Orientierungsrahmens führt hier also zunächst zur Konstruktion von milieutypischen Differenzierungen dieses Migrationstypus. Dabei bedingen Spezifizierung und Abstraktion einander wechselseitig. Die Orientierungsfigur der Sphärendifferenz wird (nach dem Prinzip des Kontrasts in der Gemeinsamkeit) in ihrer Verallgemeinerbarkeit erst durch milieuspezifische Spezifizierungen hindurch bestätigt. Wir bewegen uns damit auf einer Ebene der Typenbildung, die wir mit einem Begriff von Mannheim als sinngenetische bezeichnet haben. Eine in einem anspruchsvolleren Sinne verstandene Typenbildung, die wir als soziogenetische bezeichnen, schließt – wie erwähnt – die Antwort auf die Frage ein, wofür denn eine Orientierungsfigur, eine generative Formel typisch ist. Dies ist die Frage nach demjenigen Erfahrungsraum bzw. derjenigen Erfahrungsdimension, der diese Orientierung zuzurechnen ist bzw. genauer: innerhalb derer ihre (Sozio-) Genese zu suchen ist, also beispielsweise innerhalb der geschlechtsoder generationstypischen Dimension. Im Falle der sinngenetischen Typenbildung wird zwar sichtbar, dass unterschiedliche Erfahrungsdimensionen im Spiel sind, ohne aber zu wissen, um welche genau es sich handelt. Demgegenüber wird im Zuge der soziogenetischen Typenbildung, die dem Prinzip des erklärenden Verstehens bei Max Weber entspricht, eine Orientierung in ihrer ‚funktionalen Beziehung‘ zu spezifischen Erfahrungsdimensionen, zur Sozialisationsgeschichte, zum ,existentiellen Hintergrund‘ herausgearbeitet. Dies vollzieht sich auf zwei unterschiedlichen, aber einander ergänzenden bzw. einander wechselseitig validierenden Wegen: demjenigen der mehrdimensionalen Analyse und demjenigen der soziogenetischen Interpretation. Ich gehe hier zunächst auf den Weg der mehrdimensionalen Analyse ein.
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5. Soziogenetische Typenbildung: Generalisierung auf der Grundlage von Mehrdimensionalität Bereits im Zuge der Generierung und Abstraktion des Orientierungsrahmens der Sphärendifferenz hatten wir als Vergleichshorizonte solche Fälle bzw. Gruppen hinzugezogen, deren Sozialisationsgeschichte nicht durch die Migration geprägt sein kann, also einheimische (‚autochthone‘) Jugendliche. Der Vergleichshorizont einheimischer Jugendlicher aus Deutschland konnte um solche aus Ankara ergänzt werden (vgl. Nohl 2001). Das Fehlen von Phänomenen einer Sphärendiskrepanz in diesen einheimischen Gruppen legte nahe, dass die Genese der Sphärendiskrepanz im migrationsspezifischen Erfahrungsraum zu suchen ist, es sich also um ein Phänomen der ‚Migrationslagerung‘ handelt, wie wir es genannt haben. Vom Erkenntnisinteresse des Projektes her ist es dieser Erfahrungsraum bzw. diese Erfahrungsdimension, also die migrationstypische, welche im Zentrum unserer Forschung stand. Sie bildete die ‚Basistypik‘. Die Rekonstruktion einer Typik, vor allem deren Generalisierung, ist, wie gesagt, nur dann valide zu leisten, wenn sie in ihrer Relation zu und ihrer Überlagerung durch andere Typiken, wenn sie also innerhalb einer ganzen Typologie verortet werden kann. Tertium Comparationis der auf dieser Ebene notwendigen komparativen Analyse ist nun zunächst die Basistypik, also die Migrationstypik. Zusätzlich zu den bereits herausgearbeiteten Überlagerungen bzw. Spezifizierungen der Migrationstypik durch die Milieutypik stellt sich weitergehend die Frage nach der Relation des migrationstypischen Erfahrungsraumes zu den entwicklungstypischen, d.h. altersspezifischen, zu den geschlechts-, zu den bildungs- und auch zu den generationstypischen Erfahrungsräumen bzw. Dimensionen.
5.1 Zur entwicklungstypischen Spezifizierung der Migrationstypik Die Ausdifferenzierung der entwicklungstypischen Dimension erreicht selbstverständlich dann eine hohe Validität, wenn dieselben Gruppen – im Sinne eines Panels – bereits in früheren Entwicklungsphasen untersucht wurden. Dies konnte in unserem Sampling aber nur bei einer von ihnen realisiert werden (vgl. Nohl 2001, 119 ff.). Allerdings eröffnen uns auch die narrativen Interviews auf der Grundlage biographischer Großerzählungen die Möglichkeit einer Identifikation früherer Entwicklungsphasen. Dabei konnte die Überlagerung der migrations- mit der entwicklungstypischen Dimension in der Weise herausgearbeitet werden, dass die migrationstypische Sphärendiskrepanz sich zwar schon sehr früh in der Biographie dokumentiert, aber erst in der hier genauer untersuchten späten Phase der Adoleszenzentwicklung
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sich in verschärfter Weise als handlungspraktisches Problem stellt: nämlich dann, wenn biographisch relevante Orientierungen entfaltet werden. Diese Phase bezeichnen wir als diejenige der Re-Orientierung. Dies deshalb, weil in einer vorherigen krisenhaften Entwicklungsphase Perspektiven einer sinnvollen Zukunft und von Biographizität überhaupt in Frage gestellt bzw. suspendiert worden sind. Die Jugendlichen tauchten – teils mehr, teils weniger ausgeprägt – in Aktionismen der Gewalttätigkeit und des Konflikts mit den Kontrollinstanzen ein – in eine „Karriere als Gangster“, wie einer von ihnen dies im Rückblick karikiert. Dieser entwicklungstypische Phasenverlauf kann auf einem hohen Generalisierungsniveau in der komparativen Analyse mit Hooligans sowie Jugendlichen mit DDR-Sozialisation, solchen aus einer nordbayerischen Kleinstadt und umliegenden Dörfern sowie aus Ankara und São Paulo bestätigt werden.
5.2 Zur bildungstypischen Spezifizierung der Migrationstypik Im Zentrum unserer Forschung standen Jugendliche ohne höheren Schulabschluss. Wir haben diese aber auch mit einer Kontrollgruppe von Studierenden ähnlichen Alters verglichen (s. Nohl 2001, 192 ff.). Auch hier stellte der migrationstypische Sozialisationsmodus der Sphärendifferenz ein fokussiertes Problem dar. Die Bindung der jungen Männer an die öffentlichen Institutionen der äußeren Sphäre mit deren institutionalisierten Ablauf- und Karrieremustern geht einher mit einem Bruch mit tradierten Elementen der inneren Sphäre. Eine Kontinuität zur eigenen sozialen und kulturellen Herkunft suchen diese Jugendlichen auf religiösem Wege herzustellen, indem sie zwischen der Religion, also dem Islam, einerseits und der türkischen AlltagsKultur andererseits scharf differenzieren und kritisieren, dass die kulturelle Alltagspraxis dem Islam nicht entspricht (z.B. im Hinblick auf die Ehestiftung durch ‚Vermittlung‘). In einer Art selbstorganisierter Islamschule, die auch Übernachtungs- und Wohnmöglichkeiten bietet, haben sie sich in Abgrenzung sowohl gegenüber der Elterngeneration und ethnischen Community als auch gegenüber der äußeren Sphäre (und den dort zu findenden Stereotypisierungen des Islam) gleichsam eine dritte Sphäre geschaffen – ähnlich, wie wir dies auch bei den Breakdancern beobachten konnten. Dieser Typus, also derjenige der ‚Suche nach einer dritten Sphäre‘, konnte somit auch in einer bildungstypischen Variation oder Ausprägung herausgearbeitet werden: Die Studenten begeben sich zwar auch auf die Suche nach einer dritten Sphäre, ihr Intellektualismus unterscheidet sich jedoch bildungstypisch von den körpergebundenen Aktionismen der Breakdancer.
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5.3 Zur geschlechtstypischen Spezifizierung der Migrationstypik Die für die tradierte Existenzweise konstitutive Grenzziehung zwischen innerer und äußerer Sphäre besteht, wie erwähnt, ganz wesentlich darin, dass die Männer dafür Sorge zu tragen haben, dass die zur Familie bzw. zum Haushalt gehörenden Frauen dem Zugriff und den Blicken seitens der äußeren, der öffentlichen Sphäre entzogen werden. Dies ist einer der Gründe dafür, dass die jungen Frauen der zweiten Migrationsgeneration relativ selten in öffentlichen Einrichtungen anzutreffen sind. Die habituelle Praxis der Sphärendifferenz brachte somit auch in dieser Hinsicht einige Probleme der Feldforschung mit sich. Bei den gleichaltrigen jungen Frauen türkischer Herkunft, also in der Überlagerung durch die geschlechtstypische Dimension, kann die migrationstypische Orientierungsproblematik der Sphärendifferenz zugleich bestätigt und modifiziert bzw. variiert werden (vgl. Bohnsack 2001e u. Bohnsack et al. 2001): Die jungen Frauen stehen ebenso wie die jungen Männer zwischen den beiden Modi der Sozialität und der Stiftung von Beziehungen: demjenigen auf der Basis der sozialen Identität und der Ehestiftung durch „Vermittlung“ einerseits und demjenigen auf der Basis der persönlichen Identität im Modus spontaner Beziehungsstiftung und „Verliebtheit“ andererseits. Hinzu tritt hier jedoch, dass vor allem die jungen Frauen der zweiten Migrationsgeneration – im Unterschied zu den jungen Männern – letzteren Modus der Beziehungsstiftung in seiner probehaften Entfaltung dem öffentlichen Blick der Eltern und ethnischen Community strikt entziehen müssen. Sie laufen somit Gefahr, dass nach diesem Modus gestiftete Beziehungen von den Eltern auch ohne deren Absicht durchkreuzt und somit dramatische Verlaufskurven des Erleidens in Gang gebracht werden. Während die männlichen Jugendlichen sich selbst zugestehen, dass sie sozusagen ein Doppelleben führen („man ist zu Hause ganz anders, als man draußen ist“, wie sie selbst es formulieren), verachten sie jene jungen Frauen, denen sie vorwerfen, zu Hause ihre Jungfräulichkeit vorzuspielen, gleichwohl aber in die Disco zu gehen und sich dort auf der Tanzfläche wie eine „Nutte“ zu verhalten.
5.4 Zur generationstypischen Spezifizierung der Migrationstypik Um generationsspezifische Ausprägungen der Migrationstypik rekonstruieren zu können, wäre es erforderlich gewesen, Gruppen aus anderen Generationen bzw. Alterskohorten in das Sample einzubeziehen. In einigen Fällen ist dies geschehen; und dort deutet sich an, dass für die jüngere, also die dritte Migrationsgeneration, die Sphärendifferenz wesentlich weniger problematisch ist. Systematische Aussagen zu einer generationsspezifischen Modifikation oder
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Überlagerung der Migrationstypik lassen sich auf der Grundlage unseres Samples allerdings nicht treffen. Indem das Phänomen der Sphärendifferenz durch geschlechts-, bildungsund milieutypische Variationen hindurch erkennbar bleibt, erweist es sich in seiner generellen Bedeutung für die Jugendlichen türkischer Herkunft der zweiten Migrationsgeneration. Diese für den migrationsspezifischen Erfahrungsraum grundlegende Orientierungsstruktur der Sphärendifferenz wird somit in der Überlagerung durch milieu-, bildungs- und geschlechtstypische Erfahrungsräume variiert oder spezifiziert und zugleich auch generalisiert. Mannheim (1964a, 121) charakterisiert diese Überlagerung als ein „Ineinandersein Verschiedener sowie das Vorhandensein eines einzigen in der Verschiedenheit.“ Mit jedem Durchgang durch eine andere Dimension oder Typik, d.h. in der Überlagerung durch eine andere Typik, wird die Migrationstypik modifiziert. Durch diese Metamorphose gewinnt sie aber, indem sie abstrakter formuliert wird, auch zunehmend an Generalisierbarkeit. Zugleich fungiert sie auf diese Weise als abstraktes Tertium Comparationis, welches die Eigenart anderer Typiken um so konturierter hervortreten lässt. Eine generalisierungsfähige Typenbildung setzt voraus, dass sie in der Überlagerung bzw. Spezifizierung durch andere Typiken bestätigt wird und somit immer wieder und dabei auch immer konturierter und auf immer abstrakteren Ebenen sichtbar gemacht werden kann (vgl. Nentwig-Gesemann 1999). Insofern ist es gelungen, die Frage zu beantworten, „wie man auf einer mittleren Abstraktionsebene vor dem Hintergrund heterogener Kontexte gewonnene Daten erstens validiert und zweitens begründet generalisiert“ (Lüders 2000, 640 f.). Es zeigt sich aber, dass nicht nur die Validität, sondern vor allem das Generalisierungsniveau von Typenbildungen davon abhängt, wie vielfältig, d.h. mehrdimensional der Fall innerhalb einer ganzen Typologie verortet werden kann. Das Geheimnis der Generalisierung des Typus liegt also in der Mehrdimensionalität der Typologie. Die Komplexität, die notwendig ist, um einen Fall zugleich mehreren Typiken zuzuordnen und somit der Mehrdimensionalität des Falles Rechnung tragen zu können, wird aber in der neueren Literatur zur Typenbildung der qualitativen Sozialforschung weder in der Forschungspraxis noch in der methodischen Programmatik erreicht. Die gegenwärtige Praxis der Typenbildung in der qualitativen Sozialforschung ist im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass der Fall jeweils nur einem Typus zugeordnet wird. Diese Beschränkung ist auch durch die Arbeiten von Glaser/Strauss nicht wesentlich überwunden worden. Die Bildung von Sub-Typen oder Sub-Kategorien, die auch als „Dimensionalisierung“ bezeichnet wird (vgl. Strauss 1991, 44 ff.) oder das, was Glaser/Strauss (1969, 23 ff. u. 55 ff.) im Sinne einer Ausdifferenzierung von Typen oder Kategorien („categories“) als die Generierung von Eigenschaften („properties“) dieser Kategorien beschrieben haben,
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ist mit der hier geforderten Mehrdimensionalität nicht zu verwechseln. Die Bildung von Sub-Typen erhöht möglicherweise den Abstraktionsgrad des Typus, leistet aber als solche noch keinen Beitrag zu dessen Generalisierungsfähigkeit. Letztere hängt davon ab, inwieweit diese ‚Sub-Typen‘ als Überlagerungen durch andere Typen bzw. Typiken nachgewiesen und somit im Rahmen einer Typologie verortet werden können. Auch in den neueren anspruchsvollen Arbeiten, die sich in dieser Tradition verorten (vgl. Kelle/ Kluge 1999), wird die Mehrdimensionalität in dem hier verstandenen Sinne nicht erreicht.13
6. Soziogenetische Typenbildung und soziogenetische Interpretation Die bisher skizzierte Ausdifferenzierung einer Typologie auf der Basis der komparativen Analyse vermag Aufschluss darüber zu geben, welcher Typik, d.h. welchem Erfahrungsraum eine Orientierung, hier: diejenige der Sphärendifferenz, zuzuordnen ist, d.h. in welchem Erfahrungsraum, hier also: dem migrationstypischen, ihre Sozio-Genese zu suchen ist. Damit ist aber diese Genese in ihrer Prozessstruktur oder ihrer interaktiven Struktur noch nicht bestimmt. Die Genese einer Orientierung, eines Orientierungsrahmens, hat also eine eigene Prozessstruktur, die von der Prozessstruktur des Orientierungsrahmens selbst, die wir auch als Modus Operandi bezeichnen, noch einmal zu unterscheiden ist. Während ich die Rekonstruktion dieses Modus Operandi, wie gesagt, als sinngenetische Interpretation bezeichne, meint soziogenetische Interpretation die Rekonstruktion der Genese des Modus Operandi. Im Zuge der soziogenetischen Interpretation suchen wir nach interaktiven Schlüsselszenen innerhalb der (kollektiven) Sozialisationsgeschichte und Biographie. Den Zugang zu derartigen Schlüsselszenen eröffnen uns die fokussierten Passagen in den Gruppendiskussionen, vor allem aber in den narrativen Interviews, die überwiegend die Kindheit und frühe Jugendphase betreffen. Für die Beantwortung der Frage nach der Soziogenese der Sphärendifferenz ist zunächst entscheidend, dass wir es bei der inneren und äußeren Sphäre mit Bereichen der Alltagspraxis zu tun haben, die sich hinsichtlich ihrer Modi der Sozialität, der Moral und der Identitätskonstitution grundlegend unterscheiden. Dies allein ist jedoch noch keine hinreichende Bedingung für das hier zu beobachtende Orientierungsproblem. Die fehlende alltagspraktische, d.h. habituelle Vermittlung zwischen diesen beiden Sphären hat viel13
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Siehe zu dieser Kritik auch den Beitrag von Nentwig-Gesemann i. d. Band.
mehr ihre Ursachen in weiteren Eigenarten sowohl der äußeren wie auch der inneren Sphäre. Was die äußere Sphäre anbetrifft, so hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass die mit der Sphärendifferenz verbundene moralische Grenzziehung gegenüber der äußeren Sphäre, also die amoralische Haltung ihr gegenüber, eine wichtige Funktion für die alltagspraktische Bewältigung von Erfahrungen der Fremdidentifizierung und Ethnisierung hat. Aber auch innerhalb der inneren Sphäre lassen sich Bedingungen für eine Aufrechterhaltung bzw. Verfestigung dieser Sphärendifferenz ausmachen. In der Beziehung der Jugendlichen zu ihren Eltern und zu Angehörigen der ethnischen Community zeigen sich systematische kommunikative Barrieren, die verhindern, dass die Diskrepanz zwischen innerer und äußerer Sphäre der kommunikativen Thematisierung und Bewältigung überhaupt zugänglich ist. Dies betrifft bereits – wie die biographischen Interviews zeigen – die Phase der Vor- und Grundschule. Eine genauere soziogenetische Interpretation legt nahe, dass die in dieser Hinsicht fehlende Kommunikation bzw. Metakommunikation nicht primär auf eine Überforderung der Eltern zurückzuführen ist. Was die Eltern der Jugendlichen der zweiten Migrationsgeneration anbetrifft (nur über diese können wir hier Aussagen treffen), so sind deren Bedingungen vielmehr im tradierten Modus der Sozialität und Kommunikation selbst angelegt: Wie bereits erwähnt, gebietet es im Rahmen des tradierten Sozialitätsmodus der „Respekt“ gegenüber den Eltern, vor allem gegenüber dem Vater, jene Bereiche und Ereignisse der außerfamilialen Sphäre aus der innerfamilialen Kommunikation herauszuhalten, die mit der Moral der Eltern nicht vereinbar sind bzw. dazu führen könnten, dass diese ihr Gesicht verlieren. Dieser moralische Imperativ der Sphärentrennung betrifft aber eben gerade auch die mit der Sphärentrennung verbundenen Probleme selbst. In ihrer Bindung an die Moral des Respekts leisten auch die Eltern ihren aktiven Beitrag hierzu – und zwar mit der Haltung des Ignorierens, indem sie es beispielsweise ebenso absichtsvoll übersehen, dass der Sohn raucht, wie auch, dass er in Konflikt mit der Polizei geraten ist. Die Sphärendifferenz als eine Diskrepanz zwischen öffentlicher Moral und Praxis einerseits und tradiertem Habitus andererseits verfestigt sich also zu einer tiefergreifenden Orientierungsstruktur zum einen dadurch, dass eine Vermeidung oder Verhinderung der Thematisierung und kommunikativen Bearbeitung dieser Differenz im tradierten Sozialitätsmodus der inneren Sphäre selbst angelegt ist und zum anderen deshalb, weil eine moralische Grenzziehung gegenüber der äußeren Sphäre eine wichtige Funktion bei der Bewältigung von Erfahrungen der Ausgrenzung seitens der äußeren Sphäre erhält.
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7. Zusammenfassung und Schluss Im Bereich der qualitativen Sozialforschung besteht eine der häufigsten Strategien des Umgangs mit dem Problem der Generalisierung immer noch darin, es mit Stillschweigen zuzudecken, eine andere, „in der weitgehenden Gleichsetzung von Fallstruktur und Typus“ (Wohlrab-Sahr 2003, 131). Weniger häufig wird ein mehr oder weniger expliziter Verzicht auf den Anspruch der Generalisierbarkeit formuliert (Lincoln/Guba 1985, 110). Aussagen zur Generalisierbarkeit im Bereich qualitativer Analysen setzen voraus, dass wir andere Standards der Generalisierung neben denjenigen auf der Basis von Repräsentativität zu entwickeln vermögen. Max Weber (1968, 1) hat dem auf der Basis von Repräsentativität gebildeten Durchschnittstypus (d.h. dem Typus des „durchschnittlich gemeinten“ Sinns) den Idealtypus gegenübergestellt, der auf die Repräsentanz tiefer liegender Sinnstrukturen zielt. In der qualitativen Forschung herrscht weitgehend Konsens dahingehend, dass in der Bildung von Idealtypen in methodologischer Hinsicht der Schlüssel zur Generalisierung zu suchen ist. Allerdings müssen wir heute, wenn wir der gegenwärtigen erkenntnistheoretischen und methodologischen Diskussion gerecht werden wollen, über Max Weber und auch Alfred Schütz hinausgehen und die Abgrenzung der sozialwissenschaftlichen Typenbildung gegenüber den Typenbildungen des Common Sense leisten. Letztere können Gegenstand sozialwissenschaftlicher Typenbildung sein, nicht aber deren Methode. Typenbildung in dem hier verstandenen Sinne vollzieht also einen ‚Bruch‘ mit dem Common Sense. Sie ist als eine ‚Beobachtung zweiter Ordnung‘ zu verstehen, die sich in einer genetischen Analyseeinstellung vollzieht und auf diese Weise alltagspraktische Herstellungsprozesse in ihrer Prozessstruktur, ihrem Modus Operandi, nachzuzeichnen vermag. Anknüpfen können wir mit dieser praxeologischen Typenbildung vor allem an Karl Mannheim sowie dessen Rezeption durch die Ethnomethodologie, deren Analyse allerdings auf die formalen Strukturen beschränkt bleibt. Anschließen können wir – mit Einschränkungen – auch an die Konzeption einer ‚Reflexiven Anthropologie‘ bei Bourdieu sowie an die Chicagoer Schule und deren prozessanalytische Einstellung (dazu: Bohnsack 2005b). Beide Traditionen finden jedoch kaum Zugang zur Mehrdimensionalität der Typenbildung, die für unsere methodologische Konzeption der Typenbildung und vor allem der Generalisierung zentral ist.14
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Weitere Ausführungen zur Theorie einer derart komplexen Typenbildung auf der Grundlage der dokumentarischen Methode finden sich in den Beiträgen von Arnd-Michael Nohl und Iris Nentwig-Gesemann i. d. Band sowie in Bohnsack 2007a (Kap. 8), Bohnsack/ Nentwig-Gesemann 2003 u. 2006b und Bohnsack/Nohl 2007.
Alle methodischen Arbeitsschritte der Typenbildung und Interpretation sind an die komparative Analyse gebunden: Angefangen mit der interpretativen ‚Generierung‘ des Orientierungsrahmens über dessen ‚Abstraktion‘, mit der die Typenbildung beginnt und die sich zunächst in fallübergreifender komparativer Analyse vollzieht, bis hin zur ‚Spezifizierung‘ des Typus, die die fallinterne komparative Analyse miteinbezieht. Die soweit skizzierten Schritte gehören zur ‚sinngenetischen Typenbildung‘. Im Zuge des nächsten Schrittes, der ‚soziogenetischen Typenbildung‘, ist dann zu klären, welchem spezifischen Erfahrungsraum, welcher Erfahrungsdimension oder welcher sozialen Lagerung eine generelle Orientierung zuzurechnen ist, wofür sie also typisch ist. Dabei ist die ‚Mehrdimensionalität‘ der Typenbildung, d.h. die Abgrenzung einer Typik von anderen Typiken und der Aufweis ihrer Verschränkung mit diesen, also die Verortung einer Typik innerhalb einer Typologie, Voraussetzung nicht allein für Validität, sondern vor allem für die Generalisierungsfähigkeit des Typus. Das Geheimnis der Generalisierung des Typus liegt also in der Mehrdimensionalität der Typologie. Zugleich ist diese aber auch Voraussetzung für die Rekonstruktion der Soziogenese des Typus, also für dessen ‚Erklärung‘. Die derart in komparativer Analyse identifizierte Soziogenese kann dann weitergehend auf dem Wege der soziogenetischen Interpretation hinsichtlich der ihr zugrunde liegenden Prozessstruktur fortschreitend rekonstruiert werden.
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Arnd-Michael Nohl
Komparative Analyse: Forschungspraxis und Methodologie dokumentarischer Interpretation Zu einer Sozialwissenschaft, die sich aus der sozialen Praxis heraus erklärt, gehört nicht allein die Rekonstruktion der Handlungspraxis, welche den Gegenstandsbereich der Forschung konstituiert; ihr zu eigen ist auch die Rekonstruktion der Rekonstruktionspraxis, also die methodisch kontrollierte Sichtung und Systematisierung der Art und Weise, wie empirisch geforscht wird. Jene Rekonstruktion will – so Karl Mannheim – „nur ins methodologische Bewußtsein heben, was bereits allenthalben in der Forschung de facto geschieht“ (1964a, 96). In dieser „praxeologischen Methodologie“ (Bohnsack 2007a, 187 ff.) wird also prinzipiell die Praxis der untersuchten Personen in gleicher Weise rekonstruiert wie die Praxis der Forschenden.1 Dies gilt dann auch für die Rekonstruktion der Praxis komparativer Analyse. Alle neueren Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung sind untrennbar an die Praxis des Vergleichens gebunden,2 denn die interpretative Fallrekonstruktion vollzieht sich immer vor dem Hintergrund der Vergleichshorizonte, mit denen Forschende an einen Text herantreten. Wenn jedoch alleine ihre eigenen Erfahrungen, alltäglichen oder auch wissenschaftlichen 1
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Niklas Luhmann, dessen Kybernetik ich u.a. zur methodologischen Reflexion der komparativen Analyse heranziehen werde, spricht hier von einer „naturalistischen Erkenntnistheorie“ und schreibt (1990, 13): „Als empirisch oder naturalistisch kann man ... Erkenntnistheorien bezeichnen, wenn sie für sich selbst im Bereich der wissenswerten Gegenstände keinen Ausnahmezustand beanspruchen, sondern sich durch empirische Forschungen betreffen und in der Reichweite der für Erkenntnis offenen Optionen einschränken lassen.“ Dieser Versuch, eine Methodologie im Sozialen zu begründen, findet sich auch im Pragmatismus (z.B. Dewey 1986) und lässt sich nach Elias (1970) bis zu Auguste Comte zurückverfolgen. Dies schlägt sich allerdings nicht unbedingt in einer Reflexion des Vergleichs nieder. Viele Publikationen zur qualitativen Sozialforschung gehen nicht eigens auf die komparative Methode ein (wie etwa Berg 1989; Bogdan/Taylor 1984; König/Zedler 1995; Flick 1995; Hitzler/Honer 1997). Eine Ausnahme bildet hier das Kompendium von Hopf/Weingarten (1979), in dem ein Aufsatz von Glaser/Strauss zur Grounded Theory abgedruckt ist. Spöhring (1989) und Lindlof (1995) beziehen sich nahezu ausschließlich auf den Ansatz von Glaser/Strauss. Straub (1999) zieht in seinem Entwurf einer interpretativen Psychologie zur methodologischen Begründung der komparativen Analyse sowohl Glaser/Strauss als auch den Ansatz von Matthes und die dokumentarische Methode heran. Auch Kelle/Kluge (1999) räumen der komparativen Analyse – als Weg zur Typenbildung – breiten Raum ein.
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Theorien den Vergleichshorizont bilden, besteht die Gefahr einer „Nostrifizierung“ (vgl. Matthes 1992): Das Unbekannte, zu Erforschende, wird in das Muster der eigenen Selbstverständlichkeiten eingeordnet. In der dokumentarischen Methode dagegen erhält die komparative Analyse einen systematischen Platz, wird hier doch grundsätzlich die „Standortgebundenheit“ (Mannheim 1952a) der Forschenden in Rechnung gestellt und auf dem Wege des empirischen Vergleichs der methodischen Kontrolle zugänglich gemacht (vgl. Bohnsack 2007a). Um die Potenziale der komparativen Analyse auszuloten, möchte ich mich in diesem Beitrag der Forschungspraxis des Vergleichs widmen, sie rekonstruieren und in Auseinandersetzung mit methodologischen Begründungen systematisieren. Die komparative Analyse betrachte ich nicht als eine Methode neben anderen, sondern als einen die gesamte Forschungspraxis und alle Einzelmethoden durchwirkenden Stil im Sinne einer „constant comparative method“ (Glaser/Strauss 1969, 101). Die im Folgenden skizzierte Rekonstruktion der komparativen Analyse stützt sich auf meine eigene Forschungspraxis in einer empirischen Untersuchung zu Jugendlichen, deren Eltern aus der Türkei eingewandert sind (Nohl 2001; vgl. auch Bohnsack/Nohl 1998 u. 2001c);3 sie greift implizit auch auf die Forschungserfahrung aus mehreren DFG-Projekten, Abschluss- und Qualifikationsarbeiten zurück, die mit der dokumentarischen Methode realisiert wurden (vgl. u.a. Bohnsack 1989; Bohnsack et al. 1995; Schäffer 1996; Nohl 1996; Weller 2003; Przyborski 2004).4 Für die methodologische Reflexion der Rekonstruktionen gebrauche ich wegweisende Konzepte und Begriffe, die Glaser/Strauss (1969) sowie Matthes (1992) unter den Stichworten „theoretical sampling“, „tertium comparationis“ und „Relationierung“ vorgeschlagen haben. Zunächst geht es darum, einige heuristische Strategien für die Suche nach Vergleichsfällen aufzuzeigen (1). Dann werde ich auf einer methodologischen Ebene den steten Wechsel des Tertium Comparationis, also desjenigen gemeinsamen Dritten, das einen jeden Vergleich strukturiert, rekonstruieren (2). Am Ende des Vergleichs stehen die Typenbildung und mit ihr die Möglichkeit, Fälle und Typen miteinander zu relationieren (3). 3
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Zum besseren Verständnis reichere ich meine Argumentationen mit Beispielen aus der empirischen Untersuchung an. Ein Überblick über die vergleichende Anlage dieser Studie sowie das ihr zugrunde liegende Forschungsprojekt, seine Fälle und die mit ihnen gebildeten Typen findet sich i. d. Band auch im Beitrag von Bohnsack, der Typenbildung und Generalisierung an ihrem Beispiel erläutert. Während die diesem Beitrag zugrunde liegende empirische Untersuchung zu Migrantenjugendlichen wie auch die anderen erwähnten Studien sich hauptsächlich auf den Vergleich von Gruppendiskussionen (dazu: Bohnsack/Przyborski/Schäffer 2006) beziehen, gibt es mittlerweile auch methodologische Reflexionen und forschungspraktische Anleitungen zur komparativen Analyse narrativer Interviews (vgl. Nohl 2006a), die sich auf die Erfahrungen in einer Reihe einschlägiger Arbeiten beziehen (vgl. Nohl 2006b; Fritzsche et al. 2006; Henkelmann 2007a u. b; Radvan 2007; Schondelmayer 2007; Demirci 2007).
1. Die Suche nach Vergleichsfällen Gleich zu Beginn der Forschung stellt sich die Frage, welche Fälle in die empirische Untersuchung einbezogen werden sollen. Glaser/Strauss schlagen hierzu die Vorgehensweise des „theoretical sampling“ vor, das der empirischen Generierung theoretischer Kategorien dient. Vergleichsfälle werden nach dem Primat der Frage ausgewählt, „für welchen theoretischen Zweck“ (1969, 47) sie nutzbar sind. In das Sample werden nur solche Fälle aufgenommen, anhand derer theoretische Kategorien oder – wie in der dokumentarischen Methode – Typen entwickelt, spezifiziert oder erweitert werden können.5 Insofern ist ein Fall nicht für sich relevant, sondern ausschließlich hinsichtlich der mit ihm generierten theoretischen Kategorien oder Typen. Eine Rekonstruktion des Fallspezifischen „um seiner selbst willen“ (ebd., 49) ist nicht das Ziel dieses Vergleichs. Meine Forschungsarbeit zu Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien beispielsweise zielte nicht darauf, eine jugendliche Clique bzw. Gleichaltrigengruppe genau zu beschreiben. Denn dann ließe sich nicht klären, was spezifisch für den einzelnen Fall ist und was diesen übergreift und typisch für eine bestimmte Erfahrungsdimension dieser Untersuchungspersonen ist. Dies wird erst im Vergleich unterschiedlicher Fälle evident. Daher musste ich mehrere Gleichaltrigengruppen in die Untersuchung einbeziehen und in ihrem Vergleich typifizierbare fallübergreifende Strukturen identifizieren. Im Anschluss an die Unterscheidung von immanenter und dokumentarischer Sinnebene, wie sie grundlegend für die dokumentarische Methode ist,6 lassen sich Vergleichsfälle auf drei Ebenen suchen: auf der Ebene fallimmanenter Vergleichshorizonte, auf der themenbezogenen Suchebene sowie auf der Ebene der Orientierungsrahmen.
Suchebene fallimmanenter Vergleichshorizonte In welchem Bezug der erste Fall immanent zu weiteren Fällen steht, ist eine Frage des immanenten Sinngehalts eines Diskurses und kann auf der Basis des grundlegenden Interpretationsschritts, in der formulierenden Interpretation7, geklärt werden. Die Personen oder Gruppen, die den Fall konstituieren, grenzen sich von anderen Personen oder Gruppen ab, sie vergleichen sich selbst mit anderen. Folgt man diesen Eigenrelationierungen, dann lassen sich die so ausgewiesenen Einzelpersonen und Gruppen als neue, immanente em5 6 7
Zur Typenbildung siehe die Beiträge von Bohnsack und Nentwig-Gesemann i. d. Band. Siehe hierzu die Einleitung zu diesem Band. Für die formulierende und reflektierende Interpretation siehe die Beiträge von Bohnsack/ Nohl und Bohnsack/Schäffer i. d. Band.
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pirische Vergleichsfälle heranziehen. Entscheidend ist es nun, Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen herauszuarbeiten, vor deren Hintergrund sie miteinander verglichen werden können. Dies gilt umso mehr, als in den Eigenrelationierungen bzw. immanenten Vergleichshorizonten eines Falles zumeist Kontraste betont werden. Erst eine fallübergreifende Gemeinsamkeit aber, etwa ein gemeinsames Thema, vermag den Vergleich zu strukturieren. Fallimmanente Vergleichshorizonte sind zwar schnell gefunden; der interpretatorische Weg vom immanenten Sinngehalt der Eigenrelationierungen bis zum dokumentarischen Sinngehalt des Orientierungsrahmens ist jedoch lang. Gerade am Beginn einer Forschungsarbeit erscheint diese Suchstrategie aber sinnvoll, um das zu untersuchende Gebiet zu sichten, einzugrenzen und erste Möglichkeiten der Typenbildung zu entdecken.
Themenbezogene Suchebene Ebenso wie die Eigenrelationierungen lassen sich auch die thematischen Gehalte in der formulierenden Interpretation, d.h. in der zusammenfassenden Wiedergabe eines Diskurses, erfassen. Auf der themenbezogenen Suchebene wird aber unmittelbar nach einem Thema gesucht, das zwei oder mehreren Fällen gemeinsam ist.8 Denn erst auf dem Hintergrund des gemeinsamen Themas tritt im Vergleich der Fälle der je unterschiedliche „Rahmen, innerhalb dessen das Thema abgehandelt wird“ (Bohnsack et al. 1995, 437), deutlich hervor. Die Identifizierung fallübergreifend gemeinsamer Themen allein garantiert jedoch noch keinen sinnvollen Vergleich in der dokumentarischen Interpretation, sondern ist nur eine Suchstrategie. Erst nach der Interpretation erweist es sich, ob die rekonstruierten Orientierungsrahmen typifiziert, d.h. in eine Typik überführt werden können. In der Typenbildung müssen nämlich nicht nur Orientierungsrahmen voneinander abgrenzbar sein, sondern auch eindeutig in ihrer Verknüpfung mit spezifischen Erfahrungen aufgewiesen, d.h. einer Erfahrungsdimension bzw. einem Erfahrungsraum zugeordnet werden können. Ohne diese Verbindung von Erfahrungsdimensionen und Orien-
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Wenn in zwei Fällen kein gemeinsames Thema gefunden werden kann, lassen sich die beiden Fälle nur noch unter Rückgriff auf die immanenten Vergleichshorizonte, d.h. auf die wechselseitigen Abgrenzungen und Bekundungen von Nähe, als Fälle zueinander in Beziehung stellen. Dies ist für die ethnographische Beschreibung eines Forschungsfeldes sehr wohl relevant. Für die an generalisierbaren Ergebnissen interessierte Forschung ist es aber wichtig, wie die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Fällen durch deren jeweilige Perspektiven bzw. Orientierungen gerahmt sind. Diese Analyse verhindert unter anderem, dass die fallimmanenten Vergleichshorizonte unvermittelt als Erklärung für die Orientierungsunterschiede dienen, die zwischen zwei Fällen vorliegen.
tierungen hätten wir es lediglich mit einer „sinngenetischen“, nicht aber mit einer „soziogenetischen“ Typenbildung zu tun.9 Heuristisch lässt sich die Suche nach Fällen, in denen gemeinsame Themen unterschiedlich bearbeitet werden, ohne dass diese Unterschiede sogleich an mehrere Erfahrungsdimensionen geknüpft werden müssten, erleichtern, indem man auf ‚objektive‘ Sozialdaten zurückgreift (Alter, Geschlecht, Beruf etc.). Die ‚objektiven‘ Daten ersetzen jedoch nicht die Interpretation. Es muss immer rekonstruiert werden, ob Unterschiede in den Erfahrungshintergründen nur einer Erfahrungsdimension zuzurechnen sind bzw. ob sie überhaupt mit einer der angenommenen Erfahrungsdimensionen in Zusammenhang stehen. Die themenbezogene Suche nach Vergleichsfällen eignet sich insbesondere wegen des geringen Interpretationsaufwandes, der für das erste Finden von Fällen notwendig ist. Gemeinsame Themen lassen sich im Rahmen der formulierenden Interpretation bereits im unmittelbaren Geschehen der Feldforschung identifizieren. Im Vergleich auf der Ebene der dokumentarischen Interpretation muss sich dann allerdings erst erweisen, ob die zuvor in immanenter Interpretation herangezogenen Fälle für die Typenbildung geeignet sind.
Suchebene des Orientierungsrahmens Die Orientierungsrahmen eines Falles korrespondieren mit dem Dokumentsinn und lassen sich nur in der reflektierenden Interpretation herausarbeiten. Insofern handelt es sich bei der Suche nach den Orientierungsrahmen zwar um einen sehr direkten Weg zur Generierung von Typen, gleichzeitig aber auch um einen aufwendigen. Denn die reflektierende Interpretation baut zum einen auf der formulierenden Interpretation auf; sie ist zum anderen selbst, da sie an empirische Vergleichshorizonte gebunden ist, nicht nur Voraussetzung, sondern auch Produkt der komparativen Analyse.10 Zu Beginn des Vergleichs wird ein Text allerdings häufig noch vornehmlich auf dem Hintergrund der Vergleichshorizonte der Interpret(inn)en reflektierend interpretiert. In diese Vergleichshorizonte fließen die wissenschaftlichen und alltäglichen Theorien des/der Forschenden, mehr aber noch deren ins Vorreflexive sedimentiertes Erfahrungswissen, d.h. ihre „Standortgebundenheit“ und „Seinsverbundenheit“ (Mannheim 1952a) ein. Erst wenn ein zweiter Fall hinzugezogen wird, können diese gedankenexperimentellen Vergleichshorizonte durch den empirischen Vergleich allmählich ergänzt und substituiert werden. 9 10
Zur Unterscheidung von sinngenetischer und soziogenetischer Interpretation siehe Mannheim 1964d und die Beiträge von Nentwig-Gesemann und Bohnsack i. d. Band. Daher bezeichnet Straub (1999, 211) die reflektierende als „vergleichende Interpretation“.
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Auf der Grundlage der ersten, meist gedankenexperimentellen reflektierenden Interpretation werden so erste Komponenten im Orientierungsrahmen des ersten Falles herausgearbeitet, d.h. eine spezifische Art und Weise, ein Thema zu bearbeiten. Falls die Interpretation noch nicht durch einen empirischen Vergleichshorizont, also durch den Fallvergleich mitstrukturiert ist, gilt es spätestens hier, einen zweiten Fall zu finden, in dem sich derselbe Orientierungsrahmen dokumentiert. Mit diesem wird einerseits die reflektierende Interpretation empirisch untermauert, andererseits werden Vergleichsmöglichkeiten eröffnet. Vor dem Hintergrund eines gemeinsamen Orientierungsrahmens, der bislang allerdings nur vage formuliert und keiner Erfahrungsdimension eindeutig zugeordnet werden kann, wird nun versucht, Orientierungsrahmen in den beiden Fällen zu rekonstruieren, die miteinander kontrastieren und in einer anderen Erfahrungsdimension liegen. Die Gemeinsamkeiten des Orientierungsrahmens, die sich in zwei Fällen etablieren lassen, beziehen sich also nie auf den ganzen Fall, sondern immer nur auf eine spezifische Erfahrungsdimension bzw. auf einen spezifischen Erfahrungsraum. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Orientierungsrahmen werden auch in der o.g. empirischen Untersuchung zu Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien deutlich (Nohl 2001). So dokumentieren sich zwischen den Gruppen Katze und Wildcats Gemeinsamkeiten des migrationsspezifischen Orientierungsrahmens, wenn man sie mit einer Gruppe von einheimischen Jugendlichen, der Gruppe Top, vergleicht. Beide, Wildcats und Katze, erfahren eine tiefgreifende Differenz zwischen ihrer Familie und der gesellschaftlich-öffentlichen Sphäre, eine ‚Sphärendifferenz‘, wie wir es genannt haben. Gleichzeitig zeigt sich zwischen Wildcats und Katze ein Unterschied der Orientierungsrahmen: In der Gruppe Wildcats zeichnen sich massive Konflikte mit der Familie und der Gesellschaft und eine provokative Suche nach Autonomie ihr gegenüber ab, während in der Gruppe Katze eine scharfe Grenzziehung gegenüber der familialen und der gesellschaftlichen Sphäre besteht und diese Beziehungen ordnet. Dieser Unterschied lässt sich nur mit einer Erweiterung des Vergleichs näher untersuchen, dann also, wenn ein vierter Fall, etwa die Gruppe Idee, in die komparative Analyse einbezogen wird. Auch in dieser Gruppe finden sich ältere Jugendliche aus Einwanderungsfamilien zusammen, die sich mit ihren Eltern und der Gesellschaft weitgehend arrangiert haben, indem sie ihnen gegenüber eine Grenze ziehen und so die Sphären trennen. Angesichts der Gleichaltrigkeit dieser Jugendlichen mit den Mitgliedern der Gruppe Katze und des Altersunterschiedes zu den Mitgliedern der Gruppe Wildcats lässt sich der Katze und Idee gemeinsame Orientierungsrahmen der Sphärentrennung als adoleszenzspezifisch identifizieren. Neben dieser Gemeinsamkeit des Orientierungsrahmens zwischen den Gruppen Katze und Idee zeigt sich aber ein Kontrast, insofern die Mitglieder der Gruppe Idee weniger eine handlungspraktische, denn eine theoretisch-intellektualisie-
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rende Sphärentrennung vollziehen. Im Kontrast hierzu sind die Konflikte mit bzw. die Grenzen zur inneren und äußeren Sphäre bei den Gruppen Katze bzw. Wildcats vornehmlich praktischer Art. Zieht man auch hier ‚objektive‘ Daten zu Rate und rekonstruiert entsprechende Erfahrungen, so lässt sich dieser gemeinsame Orientierungsrahmen der Gruppen Katze und Wildcats in der bildungsspezifischen Erfahrungsdimension verorten. Denn während sie sich im adoleszenzspezifischen Orientierungsrahmen unterscheiden, konstituieren sich beide Gruppen aus Jugendlichen mit niedrigen Bildungsabschlüssen. Demgegenüber finden sich in der Gruppe Idee Studenten zusammen. Damit wird auch der Unterschied zwischen den Gruppen Idee und Katze – vorläufig – als einer der bildungsspezifischen Erfahrungsdimension deutbar. Diese bildungsspezifischen Erfahrungen dokumentieren sich, wie die weitere Analyse zeigte, auch in den Diskursen der beiden Gruppen. Die Suche nach gemeinsamen Orientierungsrahmen führt so in den Vergleich mehrerer Fälle, mit dem erst die Orientierungsrahmen in ihrer Verknüpfung mit unterschiedlichen Erfahrungsdimensionen (z.B. solchen des Alters, der Bildung oder der Migration) herausgearbeitet werden können. Die entsprechenden Vergleichsfälle lassen sich allerdings nicht in der unmittelbaren Anschauung finden, wie dies auf der Ebene immanenter Vergleichsfälle und der themenbezogenen Suche möglich ist. Auch reichen ‚objektive‘ Kriterien nicht aus, um Fälle mit bestimmten Erfahrungsdimensionen zu ermitteln. So ist es nicht ausschlaggebend, ob die Jugendlichen eines Falles ein bestimmtes Alter haben oder aus eingewanderten Familien stammen, sondern ob sich dies in entsprechenden Erfahrungen niederschlägt. Entsprechend ist die Interpretation und der Vergleich neuer Fälle auf der Ebene gemeinsamer Orientierungsrahmen zunächst recht riskant und zeitaufwendig. Erst nach abgeschlossener Interpretation und Rekonstruktion der neuen Fälle erweist sich, ob es gemeinsame Erfahrungsdimensionen gibt und sie somit zur Typenbildung geeignet sind. Dann können sie endgültig in das Sample aufgenommen werden. Es lässt sich also immer erst im Nachhinein feststellen, welcher Art der Fall ist, den man vorläufig in die Untersuchung einbezogen hat. Die Suche nach fallübergreifend gemeinsamen Orientierungsrahmen gründet auf der Kontrastierung jeweils anderer Rahmen sowie der Verortung aller Orientierungsrahmen in Erfahrungsdimensionen. Die auf dem Vergleich basierende Typenbildung wäre sehr unscharf, würde sie nur in einer Erfahrungsdimension erfolgen. Hier könnten die Forschenden zwar Theorien generieren, wüssten allerdings nicht, inwieweit diese Theorien ihre empirischen Fälle wiederzugeben vermögen, d.h. wie valide sie sind.11
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Glaser/Strauss (1969, 24) bezeichnen dies als die Frage nach den „strukturellen Grenzen eines Faktums“. Viele interkulturell vergleichende Untersuchungen weisen in dieser Hinsicht einen Mangel an Validität auf, da sie immer schon eine Dichotomisierung der Kultu-
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Im Sinne einer validen Typenbildung realisiert die Suche nach gemeinsamen Orientierungsrahmen also zweierlei: Es werden erstens mehrere Erfahrungsdimensionen in den Vergleich einbezogen (im Beispiel: Adoleszenz, Bildung und Migration) und zu deren Identifizierung zweitens mehr als zwei Fälle erforscht. Neben der Variation der Fälle ist also auch die Variation der Dimensionen, in denen Typen gebildet werden sollen, zentrales Element der komparativen Analyse. Ein großes Vergleichspotenzial wird, wie Glaser/ Strauss (1969, 230) betonen, nicht durch eine große Anzahl, sondern durch „sorgfältig ausgewählte Fälle“ erzielt. Hier zeichnen sich dann auch die Grenzen der Vergleichsfallbildung ab: Nicht alle Dimensionen können in einem Forschungsvorhaben berücksichtigt werden. Von dem gegenstandsbezogenen Interesse der Forschung her wird das Sample auf die Rekonstruktion bestimmter Erfahrungsdimensionen beschränkt. Mit den Grenzen der Vergleichsfallbildung sind auch die Grenzen einer ‚vollständigen‘ bzw. ‚vollständig validen‘ Interpretation markiert. Insofern nicht alle Dimensionen rekonstruiert werden können, kann es auch nie zu einer abschließenden Interpretation eines Textes kommen. Es können lediglich bestimmte Dimensionen in diesem Text rekonstruiert werden, mit jeder Erweiterung des Vergleichs um neue Fälle mit neuen Dimensionen würden jene dann aber auch auf den zuerst interpretierten Text bezogen werden müssen. Umgekehrt wird sowohl die Typenbildung als auch die Rekonstruktion der einzelnen Fälle mit zunehmender Variation der Fälle und Dimensionen dichter, valider und präziser. Empirisch fundierte Theoriebildung ist insofern ein Prozess des ‚interpretativen Aufschaukelns‘. Das Ende einer empirischen Forschung als solcher ist daher nie exakt anzugeben.12 Ausschließlich in Bezug auf die einzelnen Typiken kann ein Punkt der „Sättigung“ erreicht werden, an dem „keine zusätzlichen Daten mehr gefunden werden können, mit denen der Soziologe Gehalte der Kategorie entwickeln kann“ (Glaser/Strauss 1969, 61). Dies gilt solange, bis eine neue Dimension entdeckt worden ist und in Beziehung zu den bereits entwickelten Typiken gestellt werden kann. In der Suche nach Vergleichsfällen wird forschungspraktisch die Voraussetzung für die Interpretation geschaffen. Die Suche nach Fällen begleitet einen Interpretationsprozess, der bislang in diesem Beitrag nur als Argumentationsfolie für die Ausführungen zu den Suchstrategien diente. Wenn ich im Folgenden den Verlauf dieser vergleichenden, dokumentarischen Interpreta-
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ren voraussetzen, die eigentlich erst Gegenstand der vergleichenden Analyse sein sollte (vgl. zur Kritik auch: Nohl 2007). Glaser/Strauss zählen es zu den Grundvoraussetzungen der Grounded Theory, dass „Theorie als Prozess“ (1969, 32) begriffen wird. An diesem Umstand geht die Kritik von Spöhring (1989, 319), die Grounded Theory könne das Ende einer empirischen Forschung nicht exakt bestimmen, vorbei.
tion genauer rekonstruiere, so geht es mir nun auch verstärkt um methodologische Aspekte der komparativen Analyse.
2. Tertium Comparationis Das in den Suchstrategien bei zwei Fällen gefundene Gemeinsame bildet ein Drittes, ein Tertium Comparationis, auf dessen Hintergrund im Vergleich Kontraste deutlich werden. Dieses Tertium Comparationis findet sich in jeder Form und Phase vergleichender Interpretation. Die Ergiebigkeit und Validität eines Vergleichs steigt mit der Präzision, mit der sein Tertium Comparationis definiert bzw. rekonstruiert werden kann. Nur so wird auch eine Nostrifizierung verhindert, in der das Tertium „nicht als ein Drittes neben den beiden Größen, die zu ‚vergleichen‘ sind, sondern als eine Universalisierung der einen Größe in Gestalt eines abstrakten Begriffes“ gebildet würde (Matthes 1992, 84). Nach Matthes ist das Tertium Comparationis idealiter ein „Denkraum“, in dem der eine Fall in den anderen „übersetzbar“ (ebd., 96) ist. Dieser „Denkraum“ ist allerdings nicht a priori gegeben, sondern muss erst in der sukzessiven Entfaltung und Erweiterung des empirischen Vergleichs eröffnet werden. Doch auch die weitest möglich betriebene komparative Analyse lässt den Denkraum (das Tertium Comparationis) nicht unendlich groß werden. Es bleibt an die konkret untersuchten Fälle und deren Aspekthaftigkeit gebunden. Bohnsack (2007a, 183) spricht daher von „konjunktiver Abstraktion“.13 In der konjunktiven Abstrahierung, wie sie im Zuge des Vergleichs erfolgt, wandelt sich das Tertium Comparationis stets. In den aufeinander folgenden Stufen des Vergleichs bildet sich jeweils ein gemeinsames Drittes, das es in einer Art „Meta-Reflexion“ (Matthes 1992, 83) zu rekonstruieren gilt. Dies ist nicht nur eine Voraussetzung, um in der ständigen Rekonstruktion des sich abstrahierenden gemeinsamen Dritten zu einem möglichst großen Denkraum zu gelangen. Auch kann die Angemessenheit des jeweiligen Tertium Comparationis nur aus dem Forschungsprozess heraus begründet werden. Dies ist dann möglich, wenn sein Anwachsen von der ersten bis zur letzten Phase des Vergleichens rekonstruierbar ist. Im Folgenden rekonstruiere ich
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Dies wird allerdings auch von den genannten Autoren nicht überall bedacht. So bringt Matthes das Tertium Comparationis mit dem „Diskursuniversum“ in Verbindung, welches – folgt man dem Begriffsschöpfer G. H. Mead (1948, 282) – eine „logische“ Gemeinschaft jenseits konkreten sozialen Lebens bezeichnet. Auch Bohnsack betont hauptsächlich die theoretische Fundierung des Tertium Comparationis in einer präzisen Definition von grundlagentheoretischen Begriffen, die „der begrifflichen Explikation des tertium comparationis auf einer abstrakten Ebene“ dient (2007a, 204).
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daher die unterschiedlichen Phasen der komparativen Analyse und beobachte, wie sich das Tertium Comparationis in ihnen bildet.
Tertium Comparationis im fallinternen Vergleich Die Überlegungen zur Suchstrategie suggerierten, der Vergleich würde sich ausschließlich zwischen Fällen vollziehen. Mit dem Fallvergleich ist jedoch der fallinterne Vergleich14 verwoben. Dieser soll, da sich hier zentrale Elemente der dokumentarischen Methode herausarbeiten lassen, vom Fallvergleich analytisch getrennt betrachtet werden. Der fallinterne Vergleich lässt sich am besten in der reflektierenden Interpretation herausarbeiten, in der es herauszufinden gilt, in welchem Orientierungsrahmen das Thema eines transkribierten Textes bearbeitet wird.15 Der Orientierungsrahmen wird nicht in einer einzelnen Sequenz, sondern im Bezug verschiedener Sequenzen zueinander rekonstruiert. Bei Streeck (1983, 91) heißt es hierzu: „Die Bestimmung des Handlungspotentials, das eine Sequenz im konkreten Falle realisiert, verlangt eine Konsultation ihrer sequentiellen Umgebung; nicht die einzelne sprachliche Handlung, sondern allein die Aktivitätssequenz ist als Einheit für die Analyse geeignet.“ Wie die Konversationsanalyse gezeigt hat, ist dies darin begründet, dass Gespräche sich nicht zufällig und ungeordnet, sondern nach bestimmten, den Sprechern allerdings nicht unbedingt reflexiv zugänglichen Regeln vollziehen. Dazu gehören die Organisation des Sprecherwechsels („turn taking“, vgl. Sacks et al. 1978) und die Paarsequenzen (Sacks 1995). Zentrales Argument der Konversationsanalyse ist, dass jede einzelne Sequenz an die vorhergehende formal anknüpft bzw. durch diese bedingt ist. „Das bedeutet, daß – sofern eine erste Sequenz gegeben ist, auf diese nicht irgendeine zweite Sequenz folgen kann, sondern bei einer gegebenen ersten nur manche zweite Sequenzen zugelassen und vollzogen werden“ (Sacks 1995, 521). Entscheidend ist dabei, dass die jeweiligen zweiten Sequenzen „keine extrinsische Begründung für ihren Vollzug brauchen“, da sie dadurch erklärt sind, dass „zuvor die ersten Sequenzen gemacht wurden“ (ebd., 530). Die zweite Sequenz ist also immer die als adäquat angenommene Reaktion auf eine erste Sequenz. Diese Argumentation der Konversationsanalyse konzentriert sich allerdings auf die formale Organisation des Diskurses, welche die Möglichkeiten auf der semantischen Ebene zwar beschränkt, aber nicht festlegt. Bohnsack 14 15
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Der fallinterne Vergleich ist als Leistung der dokumentarischen Interpretation der Forschenden nicht zu verwechseln mit dem fallimmanenten Vergleich, der im Fall selbst, d.h. von den untersuchten Personen oder Gruppen, erstellt wird. Selbstverständlich ist auch die formulierende Interpretation an den Vergleich gebunden, für die die folgenden Gedankenschritte entsprechend gelten.
(2001a, 334 ff.) transferiert dieses Argumentationsmuster auf die semantische wie formale dokumentarische Interpretation des Orientierungsrahmens. Sofern das Thema des Diskurses in einem einzigen homologen Rahmen bearbeitet wird, kann auf eine spezifische erste Sequenz nur eine spezifische, nämlich dem homologen Rahmen entsprechende, zweite Sequenz folgen. Die Bestimmung des Orientierungsrahmens bzw. seiner Komponenten wird durch den Dreierschritt von erster Sequenz, zweiter Sequenz (Reaktion) und dritter Sequenz (Ratifizierung des Rahmens) möglich. Wenn die Reaktion auf die erste Sequenz dem homologen Rahmen des Falles entsprechen sollte, dann ist zu erwarten, dass diese Reaktion in der dritten Sequenz ratifiziert wird. Ein homologer Rahmen liegt also nur dann vor, wenn dieser in allen drei Sequenzen geteilt wird.16 Forschungspraktisch wird in der reflektierenden Interpretation die zweite Sequenz als gegebene, adäquate Reaktion auf eine erste Sequenz betrachtet und Alternativen zur zweiten Sequenz gedankenexperimentell erörtert. Die übergreifende Gemeinsamkeit all dieser alternativen zweiten Sequenzen, die auf die erste Sequenz eine angemessene Reaktion darstellen und der gegebenen zweiten Sequenz äquivalent sind, ist der homologe Orientierungsrahmen.17 Dieser wird gerade dann evident, wenn er gegenüber differenten Orientierungsrahmen in anderen empirischen Fällen abgegrenzt werden kann, d.h. wenn er mit einer differenten empirisch gegebenen Folge von Sequenzen kontrastiert werden kann. Als Beispiel für die Sequenzanalyse möchte ich auf meine empirische Untersuchung zu Jugendlichen aus Einwanderungsfamilien zurückgreifen und den Diskurs der Gruppe Katze über die familialen Beziehungen verwenden, aus dem im Folgenden ein Ausschnitt wiedergegeben wird:18 Deniz: Y2: Hafiz: Deniz:
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Ja stell mal paar Fragen; auch du ja, Vielleicht was ihr so macht zu Hause, in der Familie, Schlafen; Wir sind also wir eh bei uns is so also ich kann jetz auch für mich nur reden also; bei mir ist es so (.) zum Beispiel auch wenn ich nicht oft zu Hause bin so, (.) ich denk immer an die Familie so. Es is nicht so dass ich so sage (.) lan so Scheiß Familie oder dies das das geht mich nichts an oder so. So bei manchen Deutschen ist ja so weil die von andren Kultur kommen aber (.) bei mir ist so wenn ich von Arbeit komme dann geh ich nach Hause essen, meine Mutter hat schon Essen gemacht und so, dann guck ich bisschen Fernsehen, (1) dann redet sie und
Diese Argumentation folgt der Logik der Paarsequenzen. Denn auch die Reaktion auf die erste Sequenz stellt wiederum selbst eine erste Sequenz dar, auf die eine weitere Reaktion folgt. Nach Sacks geht es darum, die „Distributionsregel für den ersten Teil von Paarsequenzen“ herauszufinden (1995, 534) bzw. zu rekonstruieren, „auf welche Weise die Welt funktioniert, die eine solche Art von Sequenz hervorbringt“ (ebd., 538). Das Transkript wird hier leicht vereinfacht wiedergegeben. Vgl. für die Originalversion und deren komparativ-sequenzielle Analyse den Beitrag von Bohnsack/Nohl i. d. Band und für ihren Kontext Nohl 2001, 181.
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Aziz: Deniz: Aziz: Faris: Aziz: Deniz: Aziz: Deniz:
so und so und so; dann hör ich zu, dann geh ich wieder raus auf die Straße so; rumhängen. Dann komm ich so abends um zehn oder so wieder nach Hause, (.) dann redet sie wieder so also da unterhalten wir uns so bisschen, und dann (.) geh ich wieder schlafen so. (1) So aber man erledigt auch so Wochenende so einkaufen oder wenn man irgendwelchen Amt hat und so was so. (3) Man redet nich so über Vergnügen und so Spaß und so, nur was so anfällt muss man bisschen erledigen. (4) Das is auch so ganz anders was zu Hause zum Beispiel abläuft oder so; also (.) man ist zu Jaa Hause ganz anders als als als man draußen ist oder so. Draußen. Weil man muss Ja zu Hause die die haben von gar nichts ne Ahnung so; die denken so mein Sohn geht jetz bisschen Ja. raus, schnapp sein frische Luft und kommt so (.) eh Reisessen steht wieder vorm Tisch so, würklich jetz; die denken so die die ham noch so alte Denkweise so (.)
Beginnen wir (der Einfachheit halber) die Sequenzanalyse mit Deniz’ Beschreibung seiner familialen Aktivitäten („bei mir ist so wenn ich ...“). Der Orientierungsrahmen, innerhalb dessen hier das Thema abgehandelt wird, bleibt zunächst unklar. Ziehen wir aber die zweite Sequenz, die Reaktion von Aziz heran („Das ist auch so ganz anders...“) und suchen gedankenexperimentell nach äquivalenten alternativen Reaktionen, die der ersten Sequenz entsprechen, so lässt sich als deren übergreifende Gemeinsamkeit die Trennung der familialen, inneren Sphäre von der äußeren Sphäre („Straße“; „draußen“) sowie die biographisch nicht relevante Kommunikation innerhalb der Familie bestimmen. Dieser Orientierungsrahmen der Sphärentrennung wird nach der Sequenz von Aziz wiederum von Deniz ratifiziert und weiter ausgearbeitet, indem er die „alte Denkweise“ der Eltern von den Aktivitäten der Jugendlichen unterscheidet. Diese Sequenzfolge gewinnt an Kontur, wenn sie etwa kontrastiert wird mit der spezifischen Art und Weise, wie einheimische Jugendliche, z.B. diejenigen der Gruppe Top, über ihre Familie reden. Denn diese einheimischen Jugendlichen betonen gerade den engen Zusammenhang von Familie und öffentlichen Institutionen. In dieser Sequenzanalyse bildet der homologe Orientierungsrahmen das Tertium Comparationis. Die komparative Analyse beginnt in der dokumentarischen Interpretation also bereits in der Analyse der Sequenzen. Damit wird besonders deutlich, dass es sich beim Vergleich um einen die gesamte Forschung durchdringenden Stil handelt und nicht um eine Methode, die auf einen bestimmten Aspekt oder eine bestimmte Phase der Forschung zu beschränken wäre. Genau genommen wird in der vergleichenden Analyse einer Folge von Sequenzen nicht schon der gesamte homologe Rahmen, sondern erste Komponenten des Orientierungsrahmens rekonstruiert. Dennoch ist auch in diesen
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Komponenten bereits der homologe Rahmen angelegt. Der Rahmen ist in jedem Textabschnitt „bereits durch ein ... dokumentarisches Moment der Intensität nach vollständig vermittelt ... und das weitere Suchen [ist; A.-M.N.] eher ein Suchen nach Bestätigung, nach ‚homologen‘, dasselbe dokumentarische Wesen bekundenden Momenten ... als eine Ergänzung eines Bruchstückes durch hinzukommende weitere Bruchstücke“ (Mannheim 1964a, 121). Diese Annahme der Einheit des Rahmens bildet das gemeinsame Dritte, das Tertium Comparationis, vor dessen Hintergrund nun auch weitere, thematisch ähnliche Textabschnitte miteinander verglichen werden können.19 Auf der Suche nach dem homologen Rahmen werden die einzelnen thematischen Abschnitte interpretiert.20 Im Zuge dieses Vergleichs ist das Tertium Comparationis (der homologe Rahmen) allerdings noch nicht definierbar – es ist ja erst das Produkt des Vergleichs. Insofern ist es unmöglich, das Tertium Comparationis im Vollzug der komparativen Analyse im Blick zu behalten. Klärung hinsichtlich der Beobachtbarkeit des Tertium Comparationis schaffen hier einige Überlegungen Luhmanns zum Beobachten, das – so wie er es begreift – der komparativen Analyse sehr nahe kommt: Beobachten ist, formal definiert, eine „Operation des Unterscheidens und Bezeichnens“ (1990, 73). In der Unterscheidung entstehen zwei Seiten in einer Form. Übertragen auf den von mir geschilderten Problemzusammenhang des fallinternen Vergleichs bedeutet dies: Es entstehen Interpretationen zu zwei thematischen Abschnitten innerhalb eines Falles. Zwischen den beiden Seiten liegt eine Grenze. Im Zuge der Operation ist diese Grenze, diese Unterscheidung selbst dem Beobachter unzugänglich; sie wird „ungesehen praktiziert“ (ebd., 74). Die Grenze kann jedoch überschritten und die Seite gewechselt werden, aber das kostet Zeit (vgl. ebd., 79). Ebenso verhält es sich, wenn man zunächst die Interpretation zum ersten 19
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Wie bereits oben angedeutet und unten weiter ausgearbeitet wird, ist der Orientierungsrahmen nicht als fallspezifisch, sondern als spezifisch für eine Erfahrungsdimension zu betrachten, die (innerhalb desselben Falles) von anderen Erfahrungsdimensionen und deren Orientierungsrahmen abgegrenzt werden kann. Aus diesem Grund werden nur solche Textabschnitte innerhalb eines Falles miteinander verglichen, in denen thematisch ähnliche Erfahrungen abgehandelt werden. Der Orientierungsrahmen eines Falles lässt sich hingegen allenfalls auf der Ebene des Individuums identifizieren, wie dies etwa Schütze (1983) im Sinne der „biographischen Gesamtformung“ tut (vgl. zur Kritik aber: Nohl 2006a). Lässt sich in der Interpretation des zweiten Textabschnitts kein der Interpretation des ersten Abschnitts homologer Orientierungsrahmen finden, muss eine erneute Interpretation entweder des ersten oder des zweiten Abschnitts erfolgen. Der Orientierungsrahmen ist erst dann vollständig rekonstruiert, wenn er sich über alle thematisch ähnlichen Abschnitte des Falles hinweg identifizieren lässt. In der komparativen Analyse der Orientierungskomponenten, die in den einzelnen Textabschnitten interpretiert wurden, werden diese Komponenten also zum homologen Rahmen abstrahiert. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass nicht zwischen zwei Abschnitten, d.h. zwischen Primärquellen, sondern zwischen den Interpretationen zu den beiden Abschnitten verglichen wird. Die komparative Analyse bewegt sich also nie im Bereich des Eigentlichen, Primären, sondern immer im Gebiet der Rekonstruktionen der Forschenden.
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Abschnitt und dann diejenige zum zweiten Abschnitt betrachtet. Dabei steht entweder die erste oder die zweite Interpretation im Zentrum der Aufmerksamkeit, niemals aber beide gleichzeitig. Das Tertium Comparationis lässt sich dann als die Unterscheidung bzw. Grenze begreifen, die im Zuge des Vergleichens immer einen blinden Fleck darstellt. In der vergleichenden Interpretation kann das Tertium Comparationis also nur vollzogen, performiert, nicht aber gesehen werden.21 Nur auf einer zweiten Ebene der Beobachtung, z.B. in der Rekonstruktion der Forschungspraxis, wird das Tertium Comparationis greifbar. Dies schließt nahtlos an Luhmanns Imperativ, „beobachte den Beobachter“ (ebd., 79), an – und die nicht lösbaren Paradoxien dieser kybernetischen Essenz mit ein: Auch das Beobachten des Beobachters impliziert wieder unbeobachtete Unterscheidungen, die erst auf der nächsthöheren Ebene sichtbar werden. Weiter unten werde ich eine Methodisierung des Problems der Unbeobachtbarkeit des Tertium Comparationis aufzeigen, die an Luhmann anknüpft. Zuvor möchte ich noch auf eine weitere Phase des Vergleichens eingehen, in deren Vollzug das Tertium Comparationis ebenfalls unsichtbar bleibt.
Tertium Comparationis im Fallvergleich Der Vergleich verschiedener Fälle kann – je nach Suchstrategie – auf zwei Ebenen ansetzen: beim immanenten Sinngehalt und beim dokumentarischen Sinngehalt eines Falles. Die Tertia Comparationis, die im Fallvergleich zum Tragen kommen, stehen im Zusammenhang mit diesen beiden Sinnebenen. Auf der Ebene des immanenten Sinngehalts konstituiert ein zwei Fällen gemeinsames Thema das Tertium Comparationis. Nachdem dieses gemeinsame Thema in formulierender Interpretation ermittelt worden ist, geht der Vergleich über den immanenten Sinngehalt hinaus und zielt auf die unterschiedliche Bearbeitung, die das Thema in den zwei Fällen erfährt. So wird in der reflektierenden Interpretation der Orientierungsrahmen rekonstruiert, innerhalb dessen das Thema behandelt wird. Die Ebene des dokumentarischen Sinngehalts beginnt bei diesem Orientierungsrahmen. Wenn in zwei unterschiedlichen Fällen ein homologer Orientierungsrahmen rekonstruiert wurde (wenn also in beiden Fällen ein Thema 21
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Dieses grundsätzliche Problem des Vergleichens kann auf einer praktischen Ebene bearbeitet werden, wenn man – wie Waldenfels (1994, 17) – Hoffnungen in eine „Ethnologie Europas durch Nichteuropäer“ setzt. Der Kulturvergleich, den die jungen VertreterInnen einer „‚außerwestlichen‘ Soziologenschaft“ mit ihrer „Abwehr gegen ein integrationalistisches professionelles Selbstverständnis und gegen eine integralistische Sicht von ‚Gesellschaften‘ und ‚Kulturen‘“ (Matthes 1992, 92) anstellen, kann allerdings ebenso wenig die prinzipielle Unsichtbarkeit des Tertium Comparationis im Zuge des Vergleichs aufheben wie der Vergleich durch den „biographischen Grenzgänger“ (Matthes 1994, 21) zwischen den Kulturen. Hier ist nur auf vom Gehalt her andere Tertia Comparationis zu hoffen.
auf eine gleichartige Weise verarbeitet wird), so kann dieser als Tertium Comparationis dienen. Vor dessen Hintergrund lassen sich weitere, diesmal allerdings in jedem Fall variante Orientierungsrahmen entdecken und miteinander vergleichen. Für beide Formen des Tertium Comparationis spielt die Unterscheidung von formulierender und reflektierender Interpretation und mit ihr die Differenz der Sinnebenen eine wichtige Rolle. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass vom immanenten Sinngehalt eines Textes zu seinem dokumentarischen Sinn eine höhere Abstraktionsstufe der Analyse erklommen und der Wechsel von Beobachtungen ersten zu Beobachtungen zweiten Grades unternommen wird (vgl. Luhmann 1990, dazu Bohnsack i. d. Band), dann lässt sich erkennen, dass auch das Tertium Comparationis sich – vom immanenten hin zum dokumentarischen Sinngehalt bzw. vom Thema zum Orientierungsrahmen – in seiner Abstraktionsstufe erhöht. Dabei liegt dieses zwei verschiedenen Fällen gemeinsame Dritte jeweils auf einer Abstraktionsstufe, die höchstens ebenso hoch ist wie die der Verschiedenen. Der Vergleich und mit ihm das Tertium Comparationis schreiten sukzessive von einer konkreteren zu einer abstrakteren Stufe fort. Dass hier das Tertium Comparationis ebenso abstrakt ist wie die zu vergleichenden Texte, wirft ein Licht auf die Bedeutung von gegenstandsbezogenen Kategorien und Theorien, die vorab der eigentlichen Forschung gewonnen werden. Im Unterschied zur sukzessiven Abstrahierung des Tertium Comparationis im Zuge der komparativen Analyse bedarf es besonderer methodischer Überprüfung und Reflexion, wenn der Vergleich bereits zu seinem Beginn durch solche vorab gewonnenen Kategorien und Theorien strukturiert wird, die als Tertium Comparationis fungieren. Dann verfügt das Tertium Comparationis nämlich über einen wesentlich höheren Abstraktionsgrad als die zu vergleichenden Verschiedenen (beispielsweise die Fälle). Hier besteht immer die Gefahr, dass das Tertium Comparationis weniger dazu dient, den Vergleich zweier Fälle zu strukturieren, denn dazu, diese Fälle zu nostrifizieren.22 „Nostrifizierung“ (Matthes 1992, 84) liegt insofern nicht nur dann vor, wenn einer der beiden Fälle als Maßstab für den anderen genommen wird, sondern auch bei einer solchen Vorabdefinition des Tertium Comparationis.
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Anders verhält sich dies mit grundlagentheoretischen Kategorien, in denen zentrale Begriffe der Forschung (wie etwa „Gruppe“, „Erfahrungsdimension“ oder „Orientierungsrahmen“) definiert werden, ohne unmittelbare Aussagen zum Gegenstandsbereich zu treffen (vgl. Bohnsack 2007a, 204).
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Tertium Comparationis in der Typenbildung Die komparative Analyse ist kein Selbstzweck, sondern mündet in die Bildung von Theorien und von Typiken. Schon Glaser/Strauss haben genau zwischen der Rekonstruktion des Falles und der Theoriebildung differenziert und dem Soziologen Folgendes auftragen: „His job is not to provide a perfect description of an area, but to develop a theory that accounts for much of the relevant behavior“ (1969, 30). Diejenige Form der Theorie, die in der dokumentarischen Methode angemessen erscheint, ist die soziogenetische Bildung von Typen bzw. Typiken. Bohnsack (1989, 374) verortet die Bildung von Typiken folgendermaßen innerhalb des Vergleichs: „Der Kontrast in der Gemeinsamkeit ist fundamentales Prinzip der Generierung einzelner Typiken und ist zugleich die Klammer, die eine ganze Typologie zusammenhält. Die Eindeutigkeit einer Typik ist davon abhängig, inwieweit sie von anderen auch möglichen Typiken ‚abgegrenzt‘, die Unterscheidbarkeit von anderen Typiken gesichert werden kann. Die Unterscheidbarkeit zweier Typiken läßt sich am deutlichsten an (mindestens) zwei Fällen herausarbeiten, die in bezug auf die eine Typik Gemeinsamkeiten aufweisen, in bezug auf die andere Typik aber kontrastieren.“
Die in diesem Satz verdichtete Bildung von Typiken ist ein langwieriger Prozess, innerhalb dessen das Tertium Comparationis sich ständig verändert. Was hier als Typik bezeichnet wird, umfasst den mit einer Erfahrungsdimension verknüpften Orientierungsrahmen. Die Bildung einer Typik beginnt damit, dass in zwei Fällen ein homologer Orientierungsrahmen gefunden wird, der auf Gemeinsamkeiten der beiden Fälle innerhalb einer Erfahrungsdimension hinweist. Auf dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit zeichnen sich andere Orientierungsrahmen ab, in denen die beiden Fälle sich voneinander unterscheiden. Hier ist zu vermuten, dass diese kontrastierenden Orientierungsrahmen unterschiedlichen Erfahrungsdimensionen zuzuordnen sind. Die Definition von Erfahrungsdimension und Orientierungsrahmen, bzw. der auf ihnen gründenden Typik ist zunächst noch sehr vage. Hinweise darauf bzw. Vermutungen darüber, auf welche Erfahrungen sich die Typik bezieht (Adoleszenz, Bildung oder Migration etc.), lassen sich zum einen aus den Sozialdaten der untersuchten Personen (Alter, Bildungsabschlüsse, etc.), zum anderen aus ihren Selbstbeschreibungen (d.h. dem immanenten Sinngehalt) entnehmen. Beide Formen von Hinweisen liegen nicht auf der Ebene des Dokumentsinns. Erst wenn die Erfahrungshintergründe der Orientierungen rekonstruiert und die eine Typik von anderen Typiken differenziert und somit in einer Typologie verortet werden kann, lässt sich in dokumentarischer Interpretation identifizieren, wie die Typik, d.h. die Erfahrungsdimension und der Orientierungsrahmen, zu definieren sind.23 23
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Zur Mehrdimensionalität der soziogenetischen Typenbildung siehe die Beiträge von Nentwig-Gesemann und Bohnsack i. d. Band.
In dieser fortschreitenden Entdeckung von Typiken lässt sich eine weitere Abstrahierung des Tertium Comparationis beobachten. Um die folgenden Argumentationen nicht zu abstrakt werden zu lassen, ziehe ich wieder die Fälle und Typiken aus meiner empirischen Untersuchung heran und gehe somit von den Fällen Wildcats, Idee, Katze und Top sowie den Erfahrungsdimensionen und Orientierungsrahmen der Adoleszenz, Bildung und Migration aus: Vergleicht man die Fälle Wildcats und Idee, so zeigt sich der gemeinsame Orientierungsrahmen der Differenz zwischen familialer und gesellschaftlich-öffentlicher Sphäre, der zunächst – aufgrund eines vorläufigen Vergleichs mit der einheimischen Gruppe Top – der migrationsspezifischen Erfahrungsdimension zugeordnet wird. Darüber hinaus zeigt sich der Orientierungsrahmen der praktischen Provokation und Suche nach Autonomie im Fall Wildcats, während im Fall Idee die Grenzziehung gegenüber Familie und Gesellschaft im Sinne einer strikten, theoretisierenden Trennung zur familialen und zur gesellschaftlichen Sphäre etabliert und geordnet ist. Diese beiden diskrepanten Orientierungsrahmen lassen sich erst dann genauer bestimmen, wenn man den Fall Idee mit dem Fall Katze vergleicht und den gemeinsamen Orientierungsrahmen der Reorientierungsphase innerhalb der adoleszenzspezifischen Erfahrungsdimension identifiziert. Bei den Gruppen Idee und Katze handelt es sich jeweils um mindestens 20-jährige, die in beiden Fällen die Beziehung zu Familie und Gesellschaft in einer strikten Sphärentrennung geordnet haben – dies im Kontrast zur Gruppe Wildcats. Damit kann nun neben der Erfahrungsdimension der Migration, die den Fällen Wildcats und Idee gemeinsam ist, die Erfahrungsdimension der Adoleszenz identifiziert werden, in der die Fälle Idee und Katze Homologien aufweisen. Auf dem Hintergrund des homologen Orientierungsrahmens in der adoleszenzspezifischen Erfahrungsdimension lässt sich im Vergleich von Idee und Katze eine weitere Erfahrungsdimension entdecken, die in beiden Fällen innerhalb unterschiedlicher Orientierungsrahmen bearbeitet wird, in denen sich die beiden Fälle also voneinander unterscheiden. Innerhalb der adoleszenzspezifischen Phase der Reorientierung dokumentiert sich nämlich ein Kontrast zwischen theoretisierender und praktischer Sphärentrennung. Dieser wiederum kann einer Erfahrungsdimension zugeordnet werden, sobald der Fall Katze mit dem Fall Wildcats verglichen wird. Hier zeigt sich der diesen Jugendlichen mit niedrigen Schulabschlüssen homologe Rahmen des Praktischen, der der Bildungsdimension zugeordnet werden kann. Demgegenüber lassen sich in der adoleszenzspezifischen Erfahrungsdimension Unterschiede finden: Während im Fall Katze (und bei Idee) die Beziehungen zu Familie und Gesellschaft in der Sphärentrennung geordnet sind, kommen die jüngeren Mitglieder der Gruppe Wildcats auf dem Höhepunkt ihrer Adoleszenzkrise mit der familialen und der gesellschaftlich-öffentlichen Sphäre stets in Konflikt.
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So kann man den Vergleich schließen, indem sich ein Fall (hier: Katze) findet, in dem nicht nur ein gemeinsamer Orientierungsrahmen mit dem zuvor interpretierten Fall (hier: Idee) entdeckt wurde, sondern auch ein weiterer Orientierungsrahmen, der schon im ersten Fall (hier: Wildcats) rekonstruiert wurde. Denn im Fall Katze wird nicht nur der mit dem Fall Idee homologe Orientierungsrahmen in der Adoleszenz entdeckt, sondern zudem jener Orientierungsrahmen in der Bildungsdimension, in dem sich Homologien zur Gruppe Wildcats dokumentieren, die wiederum mit der Gruppe Idee Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Migration aufweist. Damit sind die drei Fälle in einer Typologie von Adoleszenz, Bildung und Migration verortet und der Kreis schließt sich. Das Tertium Comparationis beschränkt sich in der Entwicklung der Typologie nicht mehr auf den in den Fällen Wildcats und Idee homologen Orientierungsrahmen in der migrationsspezifischen Erfahrungsdimension. Mit jeder Erweiterung des Vergleichs um einen Fall wird das Tertium Comparationis abstrakter und komplexer. So strukturiert den Vergleich der Fälle Idee und Katze nicht nur der gemeinsame Orientierungsrahmen in der Adoleszenzdimension als Tertium Comparationis, dieses schließt darüber hinaus das Tertium Comparationis des vorangegangenen Vergleichs der Fälle Wildcats und Idee mit ein. Das bedeutet, dass der Vergleich zwischen den Gruppen Idee und Katze durch den adoleszenzspezifischen homologen Orientierungsrahmen und durch die Voraussetzung, dass den Gruppen Wildcats und Idee der migrationsspezifische Orientierungsrahmen gemeinsam ist, strukturiert wird. Erst damit kann valide rekonstruiert werden, ob der neue Orientierungsrahmen, der im Fall Katze abweichend vom Fall Idee entdeckt wurde, homolog zum bildungsspezifischen Orientierungsrahmen des Falles Wildcats ist. Lässt sich eine solche Homologie finden, kann die Bildung der Typologie nämlich abgeschlossen werden. Ansonsten wird sie fortgesetzt, indem immer mehr Fälle in den Vergleich einbezogen werden. Dabei nimmt das Tertium Comparationis nicht nur jenen Orientierungsrahmen in sich auf, der beiden jeweils untersuchten Fällen gemeinsam ist, sondern auch alle weiteren, anhand zuvor verglichener Fälle angewendeten Tertia Comparationis. Hier hat das Tertium Comparationis eine maximale Größe erreicht, in der es alle vorangegangenen Tertia Comparationis integriert; die komparative Analyse hat ein sehr hohes Maß an konjunktiver Abstraktion erreicht.24 24
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Der Vergleich ließe sich hier noch weiterführen. So können (und müssen) innerhalb einer jeden Typik/Erfahrungsdimension unterschiedliche Typen identifiziert werden. Zum Beispiel lassen sich, wie angedeutet, innerhalb der adoleszenzspezifischen Erfahrungsdimension unterschiedliche Bearbeitungsweisen ihrer Problematik rekonstruieren. Darüber hinaus finden sich noch ganz anders geartete Vergleichsmöglichkeiten. So ist der Wechsel der Interpret(inn)en möglich, den Spöhring (1989, 321) „investigator triangulation“ nennt (vgl. hierzu auch Koller 1999). Denn die jeweils angewendeten Tertia Comparationis „stehen ... für einen Beobachter, der auch ein anderer sein könnte“ (Luhmann 1995, 38). Daneben ist auch die Methodentriangulation als ein Vergleich anzusehen (vgl. Spöhring 1989; Flick
Es gibt an dieser Stelle der Typenbildung gewisse Ähnlichkeiten mit der Beobachtung der Beobachter, wie sie Luhmann im Auge hat. Das jeweilige Tertium Comparationis beobachtet gewissermaßen die zuvor angewandten Tertia Comparationis, indem sie diese in sich aufnimmt. Sobald sich der Kreis der Fälle und Typiken schließt und die Typologie entwickelt ist, liegt – so könnte man mit Luhmann (1990, 83) sagen – ein System in Form einer „rekursiven Vernetzung“ vor.25 Das Tertium Comparationis ist – so lässt sich insgesamt resümieren – zwar im Zuge des Vergleichens nicht beobachtbar, sein ständiges Wechseln lässt sich aber in der Rekonstruktion beschreiben. Die sukzessive Abstrahierung des Tertium Comparationis, die zu rekonstruieren ist, vermeidet Nostrifizierungen und stellt sicher, dass die entwickelten Theorien in der Empirie gegründet sind. Luhmann schlägt für den ständigen Wechsel des Tertium Comparationis – in seiner Sprache: für die „Kontingenz der Vergleichsgesichtspunkte“ (1995, 38) bzw. für den Wechsel der „analytischen Perspektive“ (1988a, 17) – den Begriff der „Problemstufenordnung“ (ebd., 20) vor. Diese ist „ein Korrektiv gegen die Einseitigkeit des Ausgangsproblems [des ersten Tertium Comparationis; A.-M.N.]. Auf der Sekundärebene werden neue Gesichtspunkte eingeführt“ (ebd.). Demnach steigt die Fruchtbarkeit des empirischen Vergleichs mit dem Variationsgrad der angewandten Bezugsgesichtspunkte bzw. Tertia Comparationis. Die Variation des Tertium Comparationis jedoch muss jederzeit rekonstruiert und damit kontrolliert werden: „Es wäre wenig fruchtbar, ohne Klärung des Bezugsproblems einfach Ähnlichkeiten festzustellen und damit zu argumentieren. Das wäre ein Rückfall in das ontologische Gleichheitsdenken“ (Luhmann 1988b, 37).26 Diese kybernetische Formulierung der komparativen Analyse lässt sich ohne Weiteres in die wissenssoziologische Perspektive der dokumentarischen
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2003 und insbesondere Bohnsack et al. 1995): Mit unterschiedlichen Methoden wird eine empirische Fragestellung untersucht. Auch in meiner Arbeit habe ich neben dem Gruppendiskussionsverfahren das biographische Interview und die teilnehmende Beobachtung verwendet. Die Methodentriangulation erfordert jedoch ein Tertium Comparationis, das nicht mehr aus der konjunktiven Abstraktion innerhalb des Verlaufs eines Vergleichs gebildet werden kann. Sie wird durch methodologische und grundlagentheoretische Begriffe strukturiert (Bohnsack et al. 1995, 420). Würde das jeweils gebildete Tertium Comparationis nicht die vorangegangenen Tertia Comparationis einschließen, sondern nur auf der Homologie zweier Fälle beruhen, dann käme man über eine bloße „Addition“ (im Sinne Mannheims) nicht hinaus. Vgl. hierzu Mannheim 1964a, 121. Auch Straub (1999, 340) betont die Notwendigkeit der – rekonstruktiven – Definition des Tertium Comparationis: „Es gehört bereits zur vergleichenden Interpretation, während der Relationierung von Interpretandum und Vergleichshorizonten geeignete Tertia Comparationis zuallererst einmal auszumachen. Die genauere Fassung der zu vergleichenden Größen während der bestimmenden [formulierenden; A.-M. N.] und reflektierenden Interpretation ist ein Bestandteil des Vergleichens.“
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Methode übertragen. Denn die „Einseitigkeit des Ausgangsproblems“ in einer jeden Interpretation ist maßgeblich in der „Standortgebundenheit“ (Mannheim) der Forschenden fundiert. Diese Standortgebundenheit ist der blinde Fleck des/der Beobachtenden und lässt sich grundsätzlich nicht aufheben, ist gleichwohl aber der methodischen Kontrolle zugänglich. Denn in der komparativen Analyse wird die Aspekthaftigkeit der ersten Interpretationen dadurch evident, dass mit jedem neuen Fall immer neue Aspekte (neue Gesichtspunkte) der Fälle ins Auge fallen (vgl. Bohnsack 2007a, 141 ff.).27 Wenn die Interpretationen im Zuge der komparativen Analyse somit wechselseitig auf eine immer höhere Abstraktionsebene gehoben werden, dient dies auch der „immer weitergehenden Abstraktion ... der Vergleichsgesichtspunkte“ (Luhmann 1995, 38) bzw. der empirischen Erweiterung des „Denkraumes“ (Matthes 1992). In einem solchen Denkraum kommen die untersuchten Fälle nicht als ontologische Wesen vor. Sie werden in ihrer Unterschiedlichkeit in eine „Alterität“ überführt, die ihren Ausdruck in der Wechselseitigkeit der Interpretationen findet. Und diese „Alterität“ kann dann „relational ... statt substantiell“ gedacht werden (ebd., 96).
3. Relationierung Im Vergleich wird auf immer neuen Ebenen Differenz erzeugt. Auch wenn am Ende der komparativen Analyse ein rekursives Netz von Typiken entstanden ist, lässt sich diese Typologie nicht in die Einheit eines empirisch generierten Begriffs überführen. Allerdings kann man, statt nach einer Einheit zu suchen, die Fälle und Typiken zueinander in Beziehung setzen. Bereits Glaser/Strauss schlagen vor, die empirisch generierten theoretischen Kategorien zu relationieren (1969, 35; Herv. A.-M.N.): „the elements of theory that are generated by comparative analysis are, first conceptual categories and their conceptual properties; and second, hypotheses or generalized relations among the categories and their properties.“ Auch für die dokumentarische Methode ist es sehr wichtig, Fälle und Typiken zueinander in Bezug zu setzen. Bohnsack (2007a, 143) weist darauf hin, „daß die Generierung einer Typik in valider Weise nur dann gelingt, wenn sie zugleich mit den anderen, auch möglichen – d.h. an der Totalität des Falles mit seinen unterschiedlichen Dimensionen oder Erfahrungsräumen gleichermaßen ablesba27
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Die „Standortgebundenheit“ des Wissens stellt selbstverständlich keinen spezifischen Nachteil der rekonstruktiven Sozialforschung dar, sondern ist als eine „umfassende Verankerung des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses in der sozialen Praxis“ (Bohnsack 2007a, 188) aller Wissenschaft zu eigen. Dies ist nicht nur methodisch zu kontrollierende Fehlerquelle, sondern bietet „Potentiale der Kreativität“ in der Erkenntnis, wie Bohnsack (ebd., 193) im Anschluss an Karl Mannheims Wissenssoziologie schreibt.
ren – Typiken herausgearbeitet wird, so daß sich am jeweiligen Fall unterschiedliche Typiken überlagern“. In diesem Zitat wird auf die Relationierung eines Falles mit den an ihm aufweisbaren Typiken verwiesen. In der komparativen Praxis, wie ich sie in den vorangegangenen Abschnitten rekonstruiert habe, lassen sich zusammenfassend folgende Formen der Relationierung herausarbeiten: 1. Ein Fall lässt sich mit einem anderen Fall über seine immanenten Vergleichshorizonte relationieren. Es ist hier von Interesse, ob in zwei Fällen zueinander Nähe oder Distanz gezeigt und was über den jeweils anderen Fall gesagt wird. Diese Form der Relationierung entspricht den Erfordernissen einer ethnographischen Beschreibung des Forschungsfeldes. 2. Auch ein Thema kann der Relationierung dienen, wenn es in zwei Fällen abgearbeitet wird. Indem die beiden Fälle hinsichtlich dieses Themas zueinander in Bezug gesetzt werden, treten die unterschiedlichen Orientierungsrahmen hervor, in denen es bearbeitet wird. 3. Zwei Fälle werden vor allem über Typiken, in denen beide verortbar sind, relationiert. Dieses Ins-Verhältnis-Setzen beruht immer auf Homologien des Orientierungsrahmens in einer Erfahrungsdimension mit der Heterologie der Orientierungsrahmen in mindestens einer anderen Erfahrungsdimension. Je mehr Typiken an den Fällen aufweisbar sind, je schärfer also unterschiedliche Erfahrungsdimensionen und Orientierungsrahmen innerhalb eines Falles voneinander abgegrenzt werden können, desto genauer wird auch die Relationierung der Fälle. Die Relationierung der Fälle über die Typiken, in denen sie verortbar sind, schafft erst die Bedingung für eine ‚Übersetzung‘ eines Falles in einen anderen Fall. Denn in dieser auf den Typiken basierenden Relation zwischen dem einen und dem anderen Fall wird erst deutlich, was beiden Fällen gemeinsam bzw. verschieden ist. Diese Interpretation geht über eine bloße Fallrekonstruktion hinaus. Die Typiken bilden eine Ebene „der Meta-Reflexion ..., auf der wechselseitig das ‚Eine‘ in das ‚Andere‘ übersetzbar wird“ (Matthes 1992, 96; vgl. dazu auch Shimada 1994, 243 ff.), bzw. auf der die Fälle „aus der Strukturdifferenz ... [ihrer; A.M.N.] Sichtmodi zu verstehen“ und ineinander zu ‚übersetzen‘ sind (Mannheim 1952a, 285). 4. Auch unterschiedliche Typiken lassen sich – wie Glaser/Strauss dies fordern – zueinander in Beziehung setzen. Man ist nun in der Lage, das Vorkommen unterschiedlicher Typiken, d.h. unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen und Orientierungsrahmen, in einem Fall zu rekonstruieren. In dem konkreten Fall wird dann deutlich, wie das Zusammentreffen von Typiken sich ausprägt. Der Fall ist der Spiegel des Zusammentreffens bzw. der Überlagerung verschiedener Erfahrungsdimensionen/Orientierungsrahmen und als solcher das Verbindungsstück der Typiken untereinander.
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Der Vergleich in der dokumentarischen Methode impliziert somit eine doppelte Anlage von Alterität und Wechselseitigkeit: Diese lassen sich auf der vertikalen Achse der Fälle und der horizontalen Achse der Typiken finden. Erst die Relationierung entsubstanzialisiert Fälle und Typiken und macht deutlich, dass beide nur in und durch ihren wechselseitigen Bezug existieren. So ist die Relationierung der methodologische Weg, auf dem die Beschreibung der Differenz möglich wird, ohne jene gleich wieder in der Einheit eines gegenstandsbezogenen Begriffs aufzuheben.28
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Weiterentwicklungen der komparativen Analyse innerhalb der dokumentarischen Methode finden sich dort, wo diese auf mehreren Ebenen sozialer Aggregatzustände realisiert wird, etwa auf der Biographie-, Milieu- und Institutionenebene (vgl. als Beispiel: Nohl et al. 2006). Man kann hier von einem „Mehrebenenvergleich“ sprechen, der in eine „Mehrebenentypologie“ mündet, innerhalb derer die Typiken einer Ebene sozialer Aggregatzustände (z.B. Typiken von Milieus) durch Typiken auf einer anderen Ebene (z.B. typische institutionelle Regelungen) kontextualisiert werden (siehe dazu Nohl 2007).
Iris Nentwig-Gesemann
Die Typenbildung der dokumentarischen Methode Der Anspruch qualitativer Sozialforschung bewegt sich zwischen der intensiven Interpretation einzelner Fälle und der Formulierung verallgemeinerbarer, generalisierbarer Erkenntnisse. Bei der Entwicklung von Theorien geht es darum, die Hinwendung vom Besonderen zum Allgemeinen oder besser: die Suche nach sich im Einzelfall dokumentierenden Verweisen auf allgemeine Regeln und Strukturen – auf „Typisches“ – zu vollziehen, um damit wiederum auch das Einzigartige und Besondere von Einzelfällen beschreiben und erklären zu können. Wenngleich alle typenbildenden Verfahren die Verallgemeinerung von Ergebnissen im Sinne einer Übertragbarkeit der gefundenen Zusammenhänge auf andere Fälle und andere Kontexte anstreben, lassen sich bei genauer Betrachtung große Unterschiede ausmachen. Die Typenbildung der dokumentarischen Methode unterscheidet sich durch ihre methodologische Fundierung, ihre Analyseeinstellung, die methodischen Arbeitsschritte der Typenbildung und die mehrdimensionale Struktur ihrer Typologien deutlich von anderen Verfahren. Während die „Typenbildungen des Common Sense“ vor allem in der Tradition von Alfred Schütz und seiner Rezeption der wissenschaftstheoretischen Arbeiten von Max Weber stehen, hat die „praxeologische Typenbildung“ der dokumentarischen Methode ihre zentralen Anknüpfungspunkte in der Wissenssoziologie von Karl Mannheim sowie in den empirischen Arbeiten der Chicagoer Schule (vgl. Bohnsack 2003, 57 ff., 144 ff. und seinen Beitrag zur Typenbildung i. d. Band). Diesen Unterschied werde ich im Folgenden kurz skizzieren. Auch im Alltag bedienen wir uns des Typisierens, um die komplexe, oft unüberschaubare Realität zu ordnen, Erfahrungen in vertraute Zusammenhänge einzufügen und Handlungsorientierung zu gewinnen.1 Schütz bezeichnet die sozialwissenschaftlichen Konstruktionen als solche „zweiten Grades“, weil sie auf dem „Alltagswissen des Einzelnen von der Welt“ und damit auf dessen „Konstruktionen ihrer typischen Aspekte“ beruhen (Schütz 1971, 7 f.). Die sozialwissenschaftlichen Typenbildungen unterscheiden sich – im Sinne von Schütz – von den perspektivischen, selektiven Alltagsinterpretationen der Common Sense-Akteure prinzipiell nur dadurch, dass es sich um regelgeleitete, formalisierte Methoden handelt, die vom unmittelbaren, alltäglichen Handlungszwang befreit sind und den Geltungsansprüchen der inter1
Vgl. Honer 1993, 110 ff.; Wohlrab-Sahr 1994, 269; Bohnsack 2003, 23 ff.; Kluge 1999, 13.
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subjektiven Überprüfbarkeit und Generalisierbarkeit Rechnung tragen müssen. Trotz der in der Auseinandersetzung mit dem Weber’schen Idealtypus entwickelten, aufschlussreichen Unterscheidung zwischen den „Um-zu-Motiven“, der Orientierung an einem antizipierten, durch eigenes Handeln zu erwirkenden Zustand, und den „Weil-Motiven“, den in vergangenen Erfahrungszusammenhängen und Lebensbedingungen wurzelnden Motiven (Schütz 1971, 24 f.),2 knüpft Schütz die Analyse und das Verstehen des subjektiven Sinns einzig an die idealtypische Rekonstruktion zweckrationaler Handlungsentwürfe. Die von ihm begründete phänomenologische Soziologie transzendiert somit nicht eigentlich die Common Sense-Typenbildung und die für sie konstitutive Analyseeinstellung. Die praxeologische Typenbildung nimmt demgegenüber eine veränderte Analyseeinstellung ein, die sich zum einen auf die Ethnomethodologie und ihr Interesse am praktischen Durchführungsaspekt des Handelns, am „Gemachtsein“ sozialer Tatbestände bezieht (Knorr-Cetina 1989, 87). Zur Dimension der Sozialstruktur, des „Gegebenen“, in dessen Rahmen die Wirklichkeitskonstruktionen eingebettet sind, eröffnet die ethnomethodologische Analyse allerdings empirisch keinen Zugang (vgl. Meuser 1999, 129). Ein Spezifikum dokumentarischer Interpretation und praxeologischer Typenbildung ist die Rekonstruktion der existenziellen Erlebnis- und Erfahrungszusammenhänge, der „konjunktiven Erfahrungsräume“ im Sinne von Mannheim (1980, 271 f.), aus denen heraus sich habituelle Übereinstimmungen und handlungsleitende, atheoretische Wissensbestände entwickeln. Es gilt, die wissens- bzw. erlebnismäßigen Konstitutionsbedingungen der Orientierungsrahmen oder des Habitus von Individuen oder Gruppen zugleich als Produkt und Voraussetzung einer kollektiven Handlungspraxis zu verstehen und in ihrer Prozesshaftigkeit zu rekonstruieren. Demgegenüber geht es im Rahmen der Common Sense-Typenbildung auf der Grundlage einer Trennung zwischen Handlungspraxis und -entwürfen in erster Linie um die Analyse der von den Erforschten entweder selbst explizierten bzw. explizierbaren oder aber der ihnen vom Forscher unterstellten Motive, die wir auch als Orientierungsschemata3 bezeichnen. Die praxeologische Typenbildung zielt also nicht auf die Frage, was gesellschaftliche oder kulturelle Tatsachen sind, sondern vielmehr darauf, wie soziale Wirklichkeit interaktiv bzw. auf der Grundlage von gleichartigem Erleben hergestellt wird (vgl. Bohnsack 2003, 194). Diese Analyseeinstellung bezeichnen wir als prozessrekonstruktive oder mit Mannheim als „genetische“ (vgl. Mannheim 1952b, 251 ff.).
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Zur „Unterbestimmtheit“ der Weil-Motive bei Schütz vgl. Bohnsack 2003, 144 ff. und Meuser 1999, 124 ff. Zum Unterschied zwischen den Begriffen des Orientierungsschemas und des Orientierungsrahmens sowie zur Definition des übergeordneten Begriffes des Orientierungsmusters vgl. Bohnsack 1997b.
Innerhalb der genetischen Interpretation lassen sich wiederum zwei Schritte unterscheiden: Der erste Schritt ist derjenige der sinngenetischen Interpretation bzw. sinngenetischen Typenbildung: Auf der Grundlage beobachteter oder erzählter Handlungspraxis werden zentrale Orientierungsfiguren oder (Sinn-) Muster herausgearbeitet und im fallübergreifenden wie fallinternen Vergleich abstrahiert bzw. spezifiziert. Durch die Suche nach minimalen und maximalen Kontrasten kann so jeder einzelne Typ oder Typus von anderen unterschieden werden. Im Rahmen des darauf aufbauenden Schrittes der soziogenetischen Typenbildung geht es dann um die Frage, für welchen existenziellen Erfahrungszusammenhang bestimmte Orientierungsmuster typisch sind. Auf der Grundlage der Analyse der sich in den Fällen dokumentierenden Struktur von sich je spezifisch überlagernden konjunktiven Erfahrungsräumen werden dann Typiken gebildet und in einer Typologie zusammengefasst. Eine in diesem Sinne auf der sinngenetischen Typenbildung aufbauende, aber durch die Rekonstruktion von Erfahrungsräumen wesentlich weitergeführte und sich auf die Differenzierung von konjunktiven Erfahrungsräumen beziehende (soziogenetische) Typologie ist daher um so valider, je stärker sich konjunktive Erfahrungen – die sich der Ebene eines theoretisch-begrifflichen Diskurses weitgehend entziehen – in den Erzählungen und Beschreibungen von Menschen widerspiegeln und rekonstruiert werden können. Auf diese Weise werden verschiedene Dimensionen der jeweiligen Fälle und damit auch unterschiedliche, einander überlagernde Typiken deutlich. Nur durch den Zugang zu ineinander verschachtelten Erfahrungsdimensionen bzw. -räumen eines Falles und durch die komparative Analyse mit den erfahrungsraumgebundenen Orientierungsrahmen anderer Fälle ist es möglich, einzelne Fälle nicht vollständig in einem Typus aufgehen zu lassen, sondern Typiken zu generieren, in denen eine Verbindung zwischen Orientierungsrahmen und ihrer Soziogenese transparent gemacht werden kann. Um die Konturen der praxeologischen Typenbildung zu verdeutlichen, werde ich im Folgenden auch auf andere Verfahren der Typenbildung eingehen und zunächst die klassische Differenzierung zwischen sogenannten empirischen und heuristischen Typologien diskutieren (1). Anschließend werden verschiedene Modelle der Typenbildung dargestellt und im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Funktionen oder Ansprüche sowie die sich daraus ergebenden Strukturunterschiede der jeweiligen Typologien analysiert (2). Der zentrale Unterschied zwischen einer Mehrdimensionalität auf der Ebene des Typus einerseits und auf der Ebene der Typologie andererseits wird dann genauer herausgearbeitet (3). Schließlich werde ich den Prozess der sinn- und soziogenetischen Typenbildung im Rahmen der dokumentarischen Methode an einem empirischen Forschungsbeispiel demonstrieren (4).
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1. Zur Unterscheidung von empirischen und heuristischen Typologien Die Geschichte der Typenbildung bzw. des Typusbegriffs ist von einer scharfen Differenzierung zwischen empirischen und heuristischen Typologien bzw. zwischen Real- und Idealtypen geprägt (vgl. Kluge 1999, 58 ff.; Ullrich 1999). Bei dieser Abgrenzung handelt es sich insofern um eine analytische Konstruktion, als auch bei der Realtypenbildung der starke empirische Bezug im Fortgang der Forschung hinter einen größeren Abstraktionsgrad von Wirklichkeit zurücktreten kann und bei der Bildung von Idealtypen der empirische Bezug zur beobachteten sozialen Realität – trotz ihres „weltfremden“ (Weber 1980, 10) Charakters – auch weiterhin grundlegend ist. Sowohl die Bildung von Real- als auch die von Idealtypen hat eine – wenngleich im Forschungsprozess unterschiedlich gewichtete – empirische und heuristische Komponente. Dennoch werden die Unterschiede der aktuellen Modelle der Typenbildung gerade auch auf dem Hintergrund dieser Differenzierung nachvollziehbar. Realtypen oder empirische Typen sollen dem Anspruch nach die Realität nicht nur in möglichst anschaulicher, ‚geordneter‘ Art und Weise „möglichst wirklichkeitsgetreu ab(zu)bilden“ (Kluge 1999, 68), sondern es sollen darüber hinaus mit ihnen auch empirische Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten aufgedeckt werden. Diese Funktion empirischer Typologien spiegelt sich im Einsatz von rechnergestützten Verfahren zur Gruppierung von Fällen bzw. zur Ermittlung von statistischen Korrelationen. Die Problematik der Unterscheidung zwischen Real- und Idealtypen liegt nun meines Erachtens wesentlich darin, dass der Begriff des Realtypus eine weitgehende Annäherung an die Realität suggeriert, auch wenn angenommen wird, dass diese „nur teilweise geleistet werden kann, weil immer nur Realitätsausschnitte abgebildet werden können, die anhand der zuvor ausgewählten Merkmale bestimmt werden“ (Kluge 1999, 74). Damit wird aber der Anspruch auf einen letztendlich als objektivistisch zu charakterisierenden Zugang zu einer als gegeben angenommenen und damit auch jenseits des Erlebens der Beteiligten abbildbaren Realität hier nicht aufgegeben. Ein empirischer Zugang zu den Herstellungsprozessen von (subjektiven) Wirklichkeiten im Sinne von „Konstruktionen zweiten Grades“ (Schütz 1971, 7) oder auch „Choreographien von Choreographien“ (Knorr-Cetina 1989, 94) bleibt verstellt. Die Typenbildung der dokumentarischen Methode knüpft hingegen in dieser Hinsicht an das idealtypische Verstehen von Max Weber an.4 Insbe4
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Weder die wissenschaftstheoretischen und empirischen Arbeiten von Weber noch die kontroverse Rezeption seines Idealtypusbegriffs können hier ausführlich wiedergegeben werden. Zu den Kontroversen, die die Weber-Rezeption kennzeichnen, vgl. z.B. Gerhard 1986 und Seyfarth 1979.
sondere in den Forschungsarbeiten von Weber wird deutlich, dass er den Prozess des Verstehens als einen konzipiert, in dem sowohl das intentionale, zweckrationale Prinzip des Handelns erfasst werden muss als auch die ihm zugrunde liegenden Erlebniszusammenhänge – im Sinne von Schütz die Umzu-Motive und die Weil-Motive – zu rekonstruieren sind. Dort, wo Weber einen Weg zum Verstehen in der genetischen Rekonstruktion historischer Lebenswelten sieht (vgl. Weber 1920), entspricht seine Art der Typenbildung derjenigen der dokumentarischen oder genetischen Interpretation im Sinne von Mannheim. Bei dem Idealtypus handelt es sich nach Weber um eine „Utopie“, ein „Gedankenbild“, „welches nicht historische Wirklichkeit oder gar die ‚eigentliche‘ Wirklichkeit ist, welches noch viel weniger dazu da ist, als ein Schema zu dienen, in welches die Wirklichkeit als Exemplar eingeordnet werden sollte, sondern welches die Bedeutung eines reinen idealen Grenzbegriffs hat, an welchem die Wirklichkeit zur Verdeutlichung bestimmter Bestandteile ihres empirischen Gehaltes gemessen, mit dem sie verglichen wird“ (1968a, 194).
Die Idealtypenbildung im Sinne von Weber geht also durch eine deskriptive Ebene hindurch und sichert damit ihren Bezug zur konkret beobachteten Wirklichkeit, verfolgt aber darüber hinaus theoretische, heuristische Ziele: Die Idealtypen, die zugleich durch Übersteigerung und Vernachlässigung von einzelnen Aspekten der beobachteten Wirklichkeit entstanden sind, dienen der Veranschaulichung und Erklärung komplexer sozialer und kultureller Phänomene. Diese Aspekthaftigkeit der Typenbildung bei Weber, die die Mehrdimensionalität eines jeden Falles berücksichtigt, entspricht der Dimensionengebundenheit der Typenbildung der dokumentarischen Methode.5 Für Weber sind die Idealtypen theoretische, begriffliche Konstruktionen, mit deren Bildung die Forschungsarbeit nicht endet, sondern vielmehr einen erneuten Anfang nimmt: Der idealgedachte Fall, der ja in keiner Weise mehr eine Darstellung der beobachteten Wirklichkeit ist, dient im Sinne eines „begrifflichen Hilfsmittels“ (Weber 1968a, 193) als Vergleichshorizont für empirische Fälle, die in ihrer Differenz zu diesem erfasst, beschrieben und erklärt werden können. Der Idealtypus stellt also an sich keine Hypothese dar, sondern hat einen heuristischen Wert, indem er zur Hypothesenbildung anregt.
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Zu den zentralen Gemeinsamkeiten der Idealtypenbildung im Sinne von Max Weber und der Typenbildung der dokumentarischen Methode, insbesondere was die Aspekthaftigkeit der Typenbildung betrifft, vgl. Bohnsack 2003, 183 ff.
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2. Zur Funktion typenbildender Verfahren und zur Struktur von Typologien Wie durch die Differenzierung zwischen Real- und Idealtypenbildung bereits deutlich geworden, wird im Rahmen qualitativer Studien die Typenbildung auf ganz unterschiedlichen Ebenen vollzogen und erfüllt dementsprechend verschiedene Funktionen. Der Anspruch reicht von der Beschreibung und deskriptiven Gliederung eines Untersuchungsfeldes bis zur Hypothesengenerierung bzw. Theorieentwicklung auf der Grundlage eher induktiver oder aber abduktiver Prozesse.
2.1 Ordnung und Beschreibung durch Gruppierung Bei der gruppierenden Typenbildung6, deren „Vorläufigkeit“ oft hervorgehoben wird, dominiert die Ebene der ordnenden Beschreibung beobachteter sozialer Realität. Sie besteht in einer „Konstruktion von Merkmalsräumen und der Identifikation von Merkmalskombinationen“ (Kelle/Kluge 1999, 77 ff.). Mit Hilfe von Mehrfeldertafeln entstehen so entweder auf nur einem Merkmal beruhende, „eindimensionale“, meist aber auf mehreren Merkmalen basierende und damit als „mehrdimensional“ bezeichnete Grundtypen, denen die Einzelfälle zugeordnet werden (Kluge 1999, 34 f.).7 Diese Form der Typenbildung bildet die Grundlage dafür, im nächsten Schritt „den ‚Sinn‘ und die ‚Bedeutung‘ dieser Merkmalskombinationen weitgehend zu verstehen und zu erklären“ (Kelle/Kluge 1999, 80 f.). Die Merkmale oder Vergleichsdimensionen, die Grundlage der Typologie sind, leiten schon zu Beginn des Forschungsprozesses die Fallauswahl, werden also bereits vor der empirischen Analyse vom Standpunkt der Forscher aus als relevante Kategorien festgelegt. Dennoch kann es zu einer empirisch begründeten Neugruppierung von Fällen kommen, wenn nach der ersten Analyse inhaltlicher Zusammenhänge weitere relevante Merkmale „entdeckt“ werden (vgl. ebd., 68).
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Die von mir als „gruppierend“ bezeichneten Typen entsprechen dem, was Kluge als „polythetische Typologien“ bezeichnet und von den „klassifikatorischen Typen“ abgrenzt. Von „klassifikatorischen Typen“ oder „monothetischen Typologien“ spricht man dann, wenn alle Elemente eines Typus oder besser: einer Klasse die gleichen Merkmale oder Merkmalsausprägungen aufweisen, also völlig homogen sind. Die starke Differenzierung innerhalb komplexer sozialer Zusammenhänge steht dieser Bildung von Klassen bzw. klassifikatorischen Typen allerdings eindeutig entgegen (vgl. Kluge 1999, 78 f.). In der Studie von Uta Gerhardt über Patientenkarrieren (1984) werden beispielsweise durch Kreuztabellierung vier Grundtypen der Familienrehabilitation gebildet, die sich danach unterscheiden, welcher der Ehepartner nach der Erkrankung des Mannes die finanzielle Existenzsicherung in der Familie übernimmt bzw. wieder übernehmen will. So entstehen die vier Typen „dual-career“, „traditional“, „rational“ und „Arbeitslosigkeit“.
Die gebildeten Typen sollen sowohl die Vielfalt und Breite eines Untersuchungsbereiches repräsentieren als auch die charakteristischen Merkmale, das „Typische“, von Teilbereichen verdeutlichen. Leitendes Prinzip dabei ist, auf der Grundlage eines Fallvergleichs in Bezug auf wichtige bzw. als wichtig erachtete Merkmale möglichst ähnliche Fälle zusammenzufassen und von anderen, möglichst differenten, zu unterscheiden: Auf der Ebene des Typus geht es um „interne Homogenität“, also um minimale Kontraste, auf der Ebene der Typologie um „externe Heterogenität“, also um maximale Kontraste (ebd., 78; vgl. auch Kluge 1999, 44 f.). Bei dieser gruppierenden Typenbildung oder Realtypenbildung mit überwiegend deskriptiver Funktion geht jeder Fall vollständig in einem Typ auf bzw. fungiert als Repräsentant nur dieses Typs. Der auf die Sozialforschung bezogenen Erkenntnis, dass sich die einem Typus zugeordneten Einzelfälle nie in allen Merkmalsdimensionen gleichen, sondern höchstens ähneln,8 begegnet man mit der Konstruktion von Durchschnittstypen oder der Auswahl eines Falles mit idealtypischem Charakter. Ein Fall, der die Charakteristika des Typs am besten repräsentieren soll, wird z.B. als „Prototyp“ oder „Kerncharakter“ des Typs bezeichnet und beschrieben (Kelle/Kluge 1999, 94). Auch Gerhardt (1986) mit ihrer auf Weber rekurrierenden Idealtypenbildung wählt beispielsweise für die Konstruktion von Idealtypen einen „Optimalfall“ aus, „der in seiner Vereinzelung rein oder fast rein verkörpert, was als idealisierter Typus ... gelten kann“ (Gerhardt 1984, 70). Dieser optimale Fall ist nicht völlig deckungsgleich mit dem jeweiligen Typ, repräsentiert diesen aber besonders gut. Darüber hinaus kann auch aus mehreren prototypischen Fällen ein Durchschnittstyp gebildet werden, es wird sozusagen ein idealer Vertreter komponiert. Entsprechende Softwareprogramme ermöglichen bzw. erleichtern dem Anwender sowohl auf der Ebene des einzelnen Falles wie auch fallübergreifend diese Konstruktion (vgl. Kuckartz 1988).9 Eine gruppierende Typenbildung, die sich auf die Unterscheidung und Häufung bestimmter Merkmalsausprägungen bezieht, verführt zum einen zu Quantifizierungen, die wegen der Größe qualitativer Samples allerdings in keiner Weise generalisierungsfähig sind. Dieses Problem wird z.B. von Kelle/Kluge zwar gesehen, meiner Meinung nach aber unterschätzt (vgl. 1999, 80). Auch auf das Problem, dass von der Zuordnung eines Falles zu einem Typus auf die Gesamtheit seiner Merkmale rückgeschlossen wird, wird hingewiesen (vgl. Kluge 1999, 45). Die zentrale analytische Schwäche dieser Form von Typenbildung und aller auf ihr aufbauenden Analyseschritte – z.B. 8 9
Zum Problem der fließenden Übergänge zwischen einzelnen Typen und der damit verbundenen Differenzierung zwischen Typus und Klasse vgl. Kluge 1999, 31 ff. Eine „gruppierende Typenbildung“, die auf einer Dimensionalisierung von Kategorien beruht, wird inzwischen häufig auf der Grundlage von Textdatenbanksystemen wie z.B. WINMAX durchgeführt, die eine EDV-gestützte vergleichende Analyse von Textpassagen ermöglichen (vgl. Kuckartz 1996; Kelle 1995 oder auch die Studie von Ostner/Kupka/ Raabe 1995).
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der Abgleich mit vorhandenen Theorien oder Hypothesengenerierungen – ist weiterhin, dass hier lediglich einzelne Fälle auf der Grundlage von mehreren Dimensionen oder Subkategorien unterschieden werden und damit auch nur der jeweilige Typus, von dem sie gerahmt werden, als „mehrdimensional“ bezeichnet werden kann (vgl. Kluge 1999, 34 ff.; Kelle/Kluge 1999, 67 ff.). Die empirisch fundierte Analyse vermag nicht darüber hinauszureichen, dass der Fall lediglich einen Typus repräsentiert und in diesem Sinne eindimensional bleibt. Das hat zur Folge, dass die Zusammenhänge zwischen den Typen empirisch ungeklärt bleiben, wie auch im folgenden Zitat deutlich wird: „Letztlich kann jeder Typus anhand der Kombination seiner spezifischen Merkmalsausprägungen beschrieben und charakterisiert werden. Und jedes Untersuchungselement kann anhand seiner Merkmalsausprägungen in dem n-dimensionalen Merkmalsraum lokalisiert werden, der durch die n Merkmale aufgespannt wird, die der Typologie zugrunde liegen. In der Regel bestehen zwischen den Merkmalsausprägungen eines Typus regelmäßige Beziehungen bzw. Korrelationen, die auf ursächliche Faktoren hin untersucht werden können, um den inhaltlichen Sinnzusammenhang eines Typus zu analysieren. Die ermittelten Zusammenhänge führen meist zur Bildung von Hypothesen und dienen damit indirekt der Theoriebildung“ (Kluge 1999, 42 f.).
Hier zeigt sich, dass man innerhalb des Rahmens der möglichst homogenen gruppierenden Typen zwar inhaltliche Sinnzusammenhänge aufdecken kann, Aussagen über Beziehungen zwischen den gebildeten Typen können allerdings nur auf der hypothetisch-theoretischen Ebene getroffen werden. Eine empirische Rekonstruktion der sozialen Genese der Unterschiede, die generalisierungsfähige Erklärungen für soziale Phänomene zu liefern vermag, ist in diesem Zusammenhang nicht möglich. Erst wenn – wie wir dies im Rahmen der dokumentarischen Methode vollziehen – über die Generierung und Spezifizierung von in Bezug auf Orientierungen und Handlungspraxis kontrastierenden Typen hinaus Erfahrungsräume identifiziert werden können, auf die sich die Unterschiede zurückführen lassen, ist eine Ebene der Interpretation und damit auch Typenbildung erreicht, die auch die Unterschiede und Zusammenhänge zwischen den einzelnen Typiken rekonstruiert und die wir mit Mannheim als soziogenetische bezeichnen (vgl. Mannheim 1980, 85 ff.).
2.2 Hypothesengenerierung durch Induktion oder Abduktion In der Regel beschränkt sich – wie oben schon angedeutet – die Typenbildung nicht auf die deskriptive Strukturierung und Ordnung der Fälle. Angestrebtes Ziel der meisten qualitativen Studien ist vielmehr die Hypothesenbildung bzw. Theorieentwicklung. Damit ist zwangsläufig ein Überwiegen induktiver und auch abduktiver Elemente verbunden.
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Auf einer sehr allgemeinen Ebene formuliert, bedeutet eine induktive Vorgehensweise10, theoretische Aussagen bzw. allgemeine Gesetzmäßigkeiten durch die Zusammenfassung von Erkenntnissen aus Einzelfallanalysen zu konstruieren, so als würden sie quasi aus dem empirischen Material emergieren und müssten von den Forschenden nur ‚entdeckt‘ werden. Glaser/Strauss postulierten bspw. auf der Grundlage einer fundamentalen Kritik an hypothesenprüfenden, deduktiven Verfahren in ihrem Konzept der empirisch fundierten Hypothesengenerierung bzw. Theoriebildung zunächst eine Vorgehensweise, die sie als „induktive“ bezeichneten.11 Von der Kritik an einer radikalen Anwendung des Induktionsprinzips sei an dieser Stelle nur ein erkenntnistheoretisches Problem thematisiert: die Einsicht in die Seinsverbundenheit des Denkens und der Erkenntnis im Sinne von Mannheim (vgl. 1952b) bzw. in die Theorieabhängigkeit menschlicher Erfahrung, wie dies von Hanson formuliert wurde: „seeing is a ‚theory-laden‘ undertaking. Observation of x is shaped by prior knowledge of x“ (Hanson 1965, 19). Das, was ein Beobachter wahrnimmt und wie er es sprachlich formuliert, hängt von seinen Wissensbeständen ab: Hanson wählt das Beispiel eines Physikers, der eine Röntgenstrahlplatte sieht, wo der Laie nur eine glänzende Kugel, Kabel und Metallplatinen wahrnimmt. Die Aneignung dieses Vorwissens vollzieht sich nun durch die Teilnahme an der Praxis spezifischer Milieus oder konjunktiver Erfahrungsräume. Auch bei der bereits dargestellten gruppierenden Typenbildung, deren differenzierteste Ausarbeitung das „Stufenmodell empirisch begründeter Typenbildung“ von Kluge (1999) darstellt, geht es um die Generierung von Theorie: Die gefundenen inhaltlichen Zusammenhänge im Sinne von Korrelationen und Regelmäßigkeiten – also die Gruppierungen der Fälle – sollen mit Hilfe allgemeiner „neuer“ Hypothesen auch sinnhaft verstanden und erklärt werden,12 so dass „Typologien auch als „Heuristiken der Theoriebil10 11
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Eine umfangreiche Darstellung verschiedener Spielarten des Induktivismus und der Versuche, die mit ihm verbundenen erkenntnistheoretischen Probleme zu lösen, findet sich in Kelle 1997, 115 ff. Auch bei Glaser/Strauss schlug sich die Forderung nach Unvoreingenommenheit des Forschers durch eine Befreiung von theoretischen Vorannahmen allerdings in dieser Radikalität in der Forschungspraxis nicht nieder. Insbesondere ihr Konzept der theoretischen Sensibilität („theoretical sensitivity“, 1969, 46) sowie das Prinzip des fortschreitenden Dimensionalisierens im Zuge des Interpretationsprozesses – vgl. dazu Teil 3 in diesem Beitrag – impliziert eine Einbeziehung theoretischen Vorwissens in die empirisch fundierte Theoriebildung, so dass Strauss in späteren methodologischen Schriften von einem „abduktiven“ Vorgehen spricht und in diesem Zusammenhang auch auf das Konzept der Abduktion von Peirce hinweist. Auch in ihrer Studie über die Interaktion mit Sterbenden (Glaser/Strauss 1974) werden einige theoretische Vorannahmen und Kategorien vorab der empirischen Arbeit formuliert. Dies entspricht dem schon von Max Weber formulierten Anspruch, dass eine Typenbildung sowohl kausaladäquat als auch sinnadäquat sein muss: „Fehlt die Sinnadäquanz, dann liegt selbst bei größter und zahlenmäßig in ihrer Wahrscheinlichkeit präzis angebbarer Regelmäßigkeit des Ablaufs (des äußeren sowohl wie des psychischen) nur eine unverstehbare (oder
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dung“ dienen: „Indem sie die zentralen Ähnlichkeiten und Unterschiede im Datenmaterial deutlich machen, regen sie die Formulierung von Hypothesen über allgemeine kausale Beziehungen und Sinnzusammenhänge an“ (Kelle/Kluge 1999, 9). Typenbildung in diesem Sinne führt also über „statistische Hypothesen“ zu „Kausalhypothesen“, die – systematisch zu „einem System von Aussagen verknüpft“ – als „Theorie“ bezeichnet werden können (Kluge 1999, 49), also mit dem Anspruch verknüpft sind, auf ein spezifisches Analysefeld ausgerichtete, gegenstandbezogene Theorien zu generieren.13 Es handelt sich hier – so Kluge – keinesfalls um eine rein induktive Vorgehensweise, da zum einen die zentralen, der Typologie zugrunde liegenden und im Forschungsprozess ausdifferenzierten Vergleichsdimensionen bereits die Auswahl der Fälle oder auch die Konstruktion von Leitfäden steuert. Zum anderen ist auch die „thematische Kodierung“ des gesamten Interviewmaterials an den bereits vor der Feldphase festgelegten und in den Leitfäden fixierten Themen bzw. Kategorien orientiert.14 Der folgende Analyseschritt der „Dimensionalisierung“ dieser leitenden Untersuchungskategorien beruht dann auf einem Fallvergleich auf der Ebene thematisch vergleichbarer Passagen. Auf diese Weise werden unterschiedliche empirische Ausformungen der zuvor „eher ‚theoretischen‘ und sehr allgemeinen Dimensionen“ (Kluge 1999, 224) erarbeitet. Dem Wissen darum, dass sich die Seinsverbundenheit der Forscher und die damit verbundene „Aspektstruktur“ (Mannheim 1952b, 229) ihrer Erkenntnis im Forschungsprozess nicht vollkommen ausblenden lassen, es also letztlich unmöglich ist, empirisches Material ohne die Verwendung theoretischen Vorwissens – rein induktiv – zu bearbeiten, wird hier dadurch zu begegnen versucht, dass Einzelfälle von vornherein (zunächst hypothetisch) unter allgemeine, bekannte Regeln bzw. Theorien subsummiert werden. Wenngleich Kluge für ihr „Stufenmodell empirisch begründeter Typenbildung“ (1999) eine abduktive Haltung beansprucht, in der das Vorhandensein theoretischen Vorwissens der Entdeckung neuer Erkenntnisse nicht entgegensteht, ist dieses Vorgehen der Zuordnung konkreter empirischer Daten zu
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nur unvollkommen verstehbare) statistische Wahrscheinlichkeit vor. Andererseits bedeutet für die Tragweite soziologischer Erkenntnisse selbst die evidenteste Sinnadäquanz nur in dem Maß eine richtige kausale Aussage, als der Beweis für das Bestehen einer (irgendwie angebbaren) Chance erbracht wird, dass das Handeln den sinnadäquat erscheinenden Verlauf tatsächlich mit angebbarer Häufigkeit oder Annäherung (durchschnittlich oder im „reinen“ Fall) zu nehmen pflegt“ (Weber 1980, 5 f.). Zu der von Glaser/Strauss vorgenommenen Unterscheidung zwischen gegenstandsbezogenen („substantive“) und formalen („formal“) Theorien, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann, vgl. Glaser/Strauss 1969, 32 ff. und Strauss 1991, 303 ff. Zwar werden auch zusätzliche Kategorien aus von den Interviewten neu eingeführten Themen gebildet, Kluge räumt aber ein, dass z.B. in einer Untersuchung über die Zusammenhänge zwischen Berufsverlauf und delinquentem Verhalten bei jungen Erwachsenen (vgl. Kluge 1999, 218 ff.) die beiden zentralen Untersuchungsdimensionen „beruflicher Verlauf“ und „delinquentes“ Verhalten für die „thematischen Fallanalysen und Vergleiche“ zweifelsohne von besonderem Interesse waren.
stark theoretisch vorformulierten Kategorien und damit auch deren Dimensionalisierung begrifflich eher mit dem Prinzip der „qualitativen Induktion“ oder „Hypothese“15 von Peirce zu fassen und kann damit nur begrenzt der Theoriegenerierung dienlich sein. Darüber hinaus stellt es auch eine Beschränkung des Potenzials zur Theoriegenerierung dar, wenn durch fortschreitende Dimensionalisierung zwar der Abstraktionsgrad, nicht aber die Generalisierungsfähigkeit des Typus erhöht wird. Da die komparative Analyse nicht systematisch über den Vergleich auf der Ebene von Themen hinausführt, kann nur eine eindimensionale, gruppierende Typologie entwickelt werden, die zwar eine heuristische Funktion erfüllt, selbst aber keine empirisch fundierte Generierung von Hypothesen darstellt. Der Arbeitsschritt der „Analyse inhaltlicher Sinnzusammenhänge und Typenbildung“ mit heuristischer Funktion im Stufenmodell von Kluge (Kluge 1999, vgl. auch Kelle/Kluge 1999, 75 ff.) setzt an der erarbeiteten gruppierenden Typologie an, entwickelt sie aber nicht mehr wesentlich fort. Er erfordert einen Rückgriff auf das empirische Material: In den umfangreichen Darstellungen der Interviewten werden zum einen „innere Sinnzusammenhänge“ gesucht, die die „äußeren Korrelationen“ erklären können, wobei Kluge sich hier auf die von den Befragten explizierbaren Wissensbestände und Erklärungsmuster bezieht (vgl. Kluge 1999, 277). Darüber hinaus wird allerdings nach weiteren Faktoren gesucht, die für Ähnlichkeit bzw. Differenz zwischen den Fällen und damit auch zwischen den Typen verantwortlich sein könnten: „Dabei kommt in der Regel der Suche nach sozio-strukturellen Merkmalen eine besondere Bedeutung zu“ (Kluge 1999, 278, vgl. auch Kelle/Kluge 1999, 91 ff.). So wird das Material z.B. noch einmal – idealerweise auf der Grundlage einer EDV-gestützten Kodierung – daraufhin untersucht, ob Faktoren wie das Geschlecht, die Nationalität oder soziale Netzwerke einen Einfluss auf festgestellte Zusammenhänge haben. Der hier erkennbare Anspruch, eine in einem spezifischen Erlebniszusammenhang bzw. konjunktiven Erfahrungsraum fundierte Entwicklung herauszuarbeiten und damit im Sinne von Mannheim die „Genesis von Sinngehalten“ transparent zu machen (Mannheim 1980, 86), wird zwar angedeutet, kann aber durch das methodische Vorgehen nicht wirklich eingelöst werden. Geht man – wie Kelle/Kluge – davon aus, dass soziales Handeln dann verstanden und erklärt ist, wenn man zum einen den „subjektiv gemeinten Sinn“, also die bewusste, kommunikativ vermittelbare Ausrichtung des Handelns durch den Handelnden selbst, und zum anderen den „objektiven Sinn“ – definiert als gesellschaftlich institutionalisierte und reziprok anerkannte soziale Regeln und Strukturen – 15
Das von Peirce entwickelte Konzept der „Hypothese“ oder „Qualitativen Induktion“ bezeichnet die „Subsumtion eines Phänomens unter eine bekannte Regel“ (Kelle 1997, 145), setzt also das Wissen um allgemeine Gesetzmäßigkeiten voraus und stellt damit letztendlich keine „theoriekonstruktive Methodologie“ dar (ebd., 173).
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erfasst hat (vgl. 1999, 92), bleibt die Typenbildung am Modell des zweckrationalen Handelns orientiert. Erst wenn die Analyse im Mannheim’schen Sinn über den „intendierten Ausdruckssinn“ und den „objektiven Sinn“ hinaus auf den „Dokumentsinn“16 zielt, wenn also die (subjektive) Zweckrationalität des Handelns und dessen Sinngehalt im Sinne der „Weil-Motive“ von Schütz nicht isoliert voneinander betrachtet, sondern als ein im Erlebniszusammenhang fundierter Gesamtprozess herausgearbeitet werden, um damit die Genesis der Sinngehalte transparent zu machen, können Typiken gebildet werden, die nicht auf der Struktur von Fällen, sondern vielmehr auf der Struktur von konjunktiven Erfahrungsräumen beruhen. Die soziogenetische Interpretation der dokumentarischen Methode erfüllt diesen Anspruch und unterscheidet sich damit von der oben dargestellten Form der Typenbildung. Mit der dokumentarischen Methode ist eine abduktive Erkenntnishaltung verbunden, auf die schon im Zusammenhang der „Grounded Theory“ hingewiesen wurde und auf die nun noch einmal kurz eingegangen werden soll. Ausgehend von der Überzeugung, dass nicht nur deduktive, sondern auch induktive Schlussfolgerungen keine wirklich substanziell neuen Hypothesen hervorbringen können, entwickelte Peirce das Konzept der „Abduktion“ (1991, 395 ff.), das insbesondere von Hanson aufgegriffen wurde.17 Eine abduktive Vermutung stellt eine zunächst „extrem fehlbare Einsicht“ (Peirce 1991, 404) dar, einen Schluss von einem überraschenden, unerwarteten Wahrnehmungsereignis („percept“), das der Forscher auf der Grundlage seines bisherigen Wissens und der damit verbundenen typisierten Wahrnehmungen („percipuum“) nicht befriedigend einordnen und damit deuten kann, auf eine neue erklärende Regel. Das abduktive Schließen hat also durchaus experimentellen Charakter und beruht wesentlich auf einem kreativen, divergenten Umgang mit empirischen Daten und Theorien – Peirce spricht in diesem Zusammenhang sogar von „pure play“ (Peirce 1974): „Dennoch findet dieses Spiel nicht im leeren Raum statt und seine Ergebnisse sind nicht nur Spekulationen, denn das Spielmaterial wird gebildet durch empirische Daten und theoretische Wissensbestände, die der Spieler zu neuen sinnvollen Mustern zusammenfügt“ (Kelle 1997, 151).
Die Abduktion unterscheidet sich damit grundlegend von der bereits genannten qualitativen Induktion18, bei der ein Fall, wenn er mehrere Merkmale aufweist, einer bereits bekannten Regel bzw. Theorie zugeordnet wird. Die Abduktion ist „keine Methode, aufgrund welcher genau angebbarer Schritte jeder zu einem bestimmten Ergebnis kommt, sondern eine Einstellung, eine 16 17 18
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Zur Unterscheidung zwischen den verschiedenen Sinnschichten vgl. Mannheim 1964a, 104 ff. sowie Bohnsack 2003, 57 ff. Kelle spricht in diesem Zusammenhang sogar vom „Hanson-Peirce-Schema der Abduktion“ (Kelle 1997, 144). Eine aufschlussreiche Unterscheidung zwischen qualitativer Induktion und Abduktion, die hier nicht wiedergegeben werden kann, findet sich in Reichertz 1993, 266 ff.
Haltung, tatsächlich etwas lernen zu wollen und nicht Gelerntes anzuwenden“ (Reichertz 1993, 273 ff.).19 In diesem Sinne setzt die Typenbildung der dokumentarischen Methode nicht bei Wissensbeständen, Theorien, Regelsystemen an, die außerhalb des Wissens der Erforschten liegen, sondern vielmehr bei der Rekonstruktion von Sinn- oder Orientierungsmustern der Erforschten selbst. „Auf der Grundlage des impliziten Wissens der Erforschten selbst, d. h. auf der Grundlage ihrer Beschreibungen, Erzählungen und Diskurse werden jene verallgemeinerbaren Regeln bzw. Orientierungsmuster rekonstruiert, die den Erforschten zwar wissensmäßig verfügbar sind, die sie aber – je tiefer diese in ihrer habitualisierten, routinemäßigen Handlungspraxis verankert sind – um so weniger selbst zu explizieren vermögen“ (Bohnsack 2003, 198).
Darüber hinaus erfordert die abduktive Hypothesen- oder Theoriegenerierung ohne Zweifel „methodisch kontrollierte und gelenkte Kreativität“ (Kelle 1997, 152). Von zentraler Bedeutung ist in diesem Zusammenhang zum einen die Kontrolle der standortgebundenen Interpretationen des Forschers und zum anderen die wiederholte Konfrontation der abduktiv gebildeten Hypothesen mit dem gesamten Datenmaterial in Form einer fallvergleichenden Analyse. Erst durch die vergleichenden Interpretationsdurchgänge durch das Datenmaterial erweist sich, ob abduktiv gebildete Schlüsse den Stellenwert tauglicher, brauchbarer Hypothesen haben – ob sie sich „bewähren“. Dabei kommt es darauf an, die gewonnenen Erkenntnisse immer wieder zu differenzieren und zu revidieren.
3. Mehrdimensionalität auf der Ebene von Typus und Typologie Im Rahmen praxeologischer Typenbildung wird, wie bereits erwähnt, angestrebt, Typiken zu generieren, die nicht einzelne Fälle, sondern vielmehr Erfahrungsdimensionen bzw. -räume voneinander unterscheiden und damit ermöglichen, die Soziogenese von Orientierungen zu beschreiben und zu erklären. Erst der Zugang zu einander überlagernden konjunktiven Erfahrungsräumen einzelner Fälle durch die komparative Analyse mit anderen Fällen ermöglicht, valide und generalisierungsfähige Typiken zu bilden und in eine mehrdimensionale Typologie zu integrieren. Demgegenüber wurde die Beschränkung der Mehrdimensionalität auf die Ebene des jeweiligen Typus – wie bereits mit Bezug auf das „Stufenmodell empirisch begründeter Typenbildung“ (Kluge 1999) dargestellt – auch in den Arbeiten von Glaser 19
Die Überzeugung, dass Abduktion nicht methodisierbar ist, wird auch von Bohnsack (2003, 198 ff.) und Kelle (1997, 147 ff.) vertreten.
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und Strauss nicht überwunden. Das von Strauss auch als „Dimensionalisieren“ (1991, 49) bezeichnete Prinzip der fortschreitenden Bildung von Subkategorien dient dazu, die theoretisch oder im Verlauf der empirischen Analyse entworfenen Kategorien empirisch zu verfeinern und zu erweitern. Die Suche nach Vergleichsgruppen, die einen minimalen und maximalen Kontrast darstellen, ist sowohl für die Bildung von Kategorien („categories“) und deren theoretisch bedeutsame Merkmale („properties“) bzw. Subkategorien als auch für die Entwicklung und Überprüfung von vorläufigen Hypothesen über die Zusammenhänge zwischen diesen von zentraler Bedeutung. Im Rahmen ihrer empirischen Untersuchung über die unterschiedlichen Interaktionsdynamiken zwischen Sterbenden und dem Krankenhauspersonal entdeckten Glaser/Strauss (1974) beispielsweise, dass das Wissen der Interagierenden über den Zustand des Patienten eine zentrale erklärende Variable darstellte. Der „Bewußtheits-Kontext“ kristallisierte sich mit dem Fortgang der Forschung – also auf der Grundlage der Ausarbeitung von Dimensionen und Subdimensionen sowie der Herstellung von Zusammenhängen zwischen diesen, der „Integration“ – schließlich als „Schlüsselkategorie“ heraus (vgl. Strauss 1991, 45). Die komparative Analyse führte dann zu einer aus vier Typen bestehenden Typologie, in der – um dies noch einmal hervorzuheben – jeder Fall jeweils nur einem Typ zugeordnet wird.20 Erst wenn, wie im Rahmen der dokumentarischen Methode, jeder Fall nicht nur einem Typus zugeordnet wird bzw. die Typen nicht durch die Kondensation maximal ähnlicher und die Unterscheidung von maximal kontrastierenden Einzelfällen gebildet werden, sondern die Fälle in ihren verschiedenen Dimensionen erfasst werden und die im Anschluss konstruierten Typiken dann eine Komposition aus mehreren Einzelfällen darstellen, kann man von einer Mehrdimensionalität der Typenbildung und Typologie sprechen (vgl. Bohnsack/Nentwig-Gesemann 2006).21 Die soziogenetische Typenbildung „erfasst damit den Fall nicht lediglich in einer Bedeutungsschicht oder -dimension, und d.h. in Bezug auf eine Typik, sondern zugleich unterschiedliche Dimensionen oder Erfahrungsräume des Falles, sodass unterschiedliche Typiken in ihrer Überlagerung, Verschränkung ineinander und wechselseitigen Modifikation sichtbar werden“ (Bohnsack 2003, 175).
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Der Typ der „geschlossenen Bewußtheit“ meint, dass der Patient nicht erkennt, wie nahe er dem Tod ist; bei dem Typ „Argwohn“ hat der Patient den Verdacht, dass das Personal nicht mehr an seine Genesung glaubt; im Falle von „wechselseitiger Täuschung“ wissen beide Seiten um den nahenden Tod, thematisieren dies aber nicht und beim Typ der „offenen Bewußtheit“ wissen beide Seiten, dass der Tod bevorsteht und handeln entsprechend. Zur Mehrdimensionalität der Typenbildung im Rahmen der dokumentarischen Methode vgl. i. d. Band besonders die Artikel von Bohnsack und Nohl.
Die Struktur einer Typik und der Typologie wird also im Zuge der komparativen Analyse22 schrittweise aus den rekonstruierten Fallstrukturen generiert. Die Einzelfälle werden dabei in ihre verschiedenen Dimensionen bzw. Erfahrungsräume ‚zerlegt‘, so dass die im Anschluss gebildeten Typiken eine Komposition aus einzelnen Dimensionen mehrerer Einzelfälle darstellen. Nur durch diesen Zugang zu einander überlagernden konjunktiven Erfahrungsräumen eines Falles und durch die komparative Analyse mit den erlebnisgebundenen Orientierungsrahmen anderer Fälle ist es dann möglich, in der Typologie nicht allein auf die Struktur von Fällen aufzubauen, sondern zur Struktur von konjunktiven Erfahrungsräumen vorzudringen. Die Generalisierbarkeit als Gütekriterium qualitativer empirischer Forschung ist eng mit der Gültigkeit von Typenbildung verknüpft, „die davon abhängt, inwieweit die Aspekthaftigkeit der Typenbildung im Sinne der Dimensionengebundenheit methodisch kontrollierbar ist“ (Bohnsack 2003, 185). Die Bedeutung des Fallvergleichs als „constant comparative method“ (Glaser/Strauss 1969, 101 ff.) liegt dabei auf zwei Ebenen: Zum einen ermöglicht die Typenbildung im Rahmen der dokumentarischen Methode durch ihre Mehrdimensionalität, dass gebildete Typiken immer wieder daraufhin geprüft werden, ob sie sich auch bei einer Überlagerung durch andere Typiken bestätigen oder aber modifiziert werden müssen. In je mehr Dimensionen der Fall innerhalb einer Typologie verortet werden kann, desto höher ist auch das Generalisierungsniveau der Typiken. Darüber hinaus werden nicht nur Erfahrungsdimensionen voneinander unterschieden, sondern es werden – insbesondere durch die Interpretation von Fokussierungsmetaphern23 – die Reproduktionspotenziale von Orientierungen dadurch rekonstruiert, dass ihre Genese als interaktiver Prozess deutlich wird. Zum anderen dient das konsequente Abarbeiten an empirisch fundierten Vergleichshorizonten auch der Kontrolle der Standortverbundenheit der Forscher. Der aspekthafte, durch die eigenen Erfahrungen und Wissensbestände geleitete Zugang zum Material – auf dem die Fähigkeit zum ertragreichen, abduktiven Schließen, zur „Einsicht“ oder „insight“, wie Peirce dies nennt, ja wesentlich beruht – kann nur dadurch methodisch kontrolliert werden, dass er zwar in die komparative Analyse einbezogen wird, nicht aber die einzige oder zentrale Interpretationsfolie darstellt. Wie dieser Anspruch im Rahmen der dokumentarischen Methode eingelöst wird, soll im Folgenden anhand eines empirischen Beispiels skizziert werden.
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Eine ausführliche und differenzierte Darstellung der komparativen Analyse und ihres Bezugs zur Grounded Theory von Glaser/Strauss findet sich in dem Beitrag von Nohl i. d. Band. Passagen mit einer besonders großen interaktiven und metaphorischen Dichte (vgl. dazu Bohnsack 2003, 136 ff. und Loos/Schäffer 2001, 70 f.).
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4.
Typenbildung im Rahmen der dokumentarischen Methode am Beispiel einer empirischen Untersuchung zur Krippenerziehung in der DDR24
In dieser Forschungsarbeit wurde auf der Basis der dokumentarischen Methode die Bildung von Typen zunächst auf einer sinngenetischen Ebene vollzogen, dann aber wurden – weit darüber hinausreichend – auf der Grundlage einer soziogenetischen Interpretation Typiken gebildet und zu einer Typologie verdichtet. Die Komplexität sowohl dieses Arbeitsprozesses der Typenbildung als auch der Typologie selbst, innerhalb derer jeder Fall mehrfach verortet werden kann, bringt ein Darstellungsproblem mit sich. Anstelle einer unterkomplexen Darstellung werde ich daher hier exemplarisch an einem Fall25 – der Gruppendiskussion mit Krippenerzieherinnen der Gruppe Marienkäfer – verdeutlichen, wie sich im Verlauf der aufeinander aufbauenden Interpretationsdurchgänge und auf der Grundlage eines immer komplexer werdenden Vergleichs mit anderen Gruppen der analytische Blick verändert – in gewisser Weise fokussiert und in anderer erweitert – hat, bis der Fall schließlich nur noch ein Dokument für mehrere Typiken der Gesamttypologie darstellt.
4.1 Generierung und Spezifizierung von Typen auf der sinngenetischen Ebene Im Anschluss an den Analyseschritt der Reflektierenden Interpretation26, die interpretative Generierung des Orientierungsrahmens einer bzw. mehrerer Gruppen, zielt die Analyse zunächst darauf, Gemeinsamkeiten der Fälle herauszuarbeiten. Für diese Abstraktion des Orientierungsrahmens ist die fallübergreifende komparative Analyse von zentraler Bedeutung, weil zum einen 24
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In dieser Forschungsarbeit (Nentwig-Gesemann 1999 u. 2000) wird zum einen im Rahmen einer empirisch fundierten Dokumentenanalyse die institutionalisierte programmatische Grundlage für die pädagogische Arbeit in den Krippen der DDR im Hinblick auf ihren dokumentarischen Sinngehalt hin interpretiert. Zum anderen wird auf der Grundlage von Gruppendiskussionen mit Erzieherinnen eine systematische Rekonstruktion der handlungsleitenden Orientierungen und Handlungspraxen derjenigen geleistet, die mit den normativen Vorgaben konfrontiert waren. Ein zentraler Ansatzpunkt ist dabei die handlungstheoretische und empirische Differenzierung zwischen normativen Vorgaben und Erwartungen, also der Norm einerseits und deren handlungspraktischer Realisierung, dem Habitus, andererseits. Das empirische Material in Form von insgesamt 16 Gruppendiskussionen mit Krippenerzieherinnen aus der ehemaligen DDR wurde zwischen 1992 und 1994 gesammelt. Da der Fokus des Beitrags auf der Typenbildung liegt, können die Interpretationsschritte der Formulierenden und der Reflektierenden Interpretation hier nicht ausführlich dargestellt werden, vgl. dazu die Beiträge von Bohnsack/Nohl und Bohnsack/Schäffer i. d. Band.
von der je fallspezifischen Besonderheit abstrahiert werden und zum anderen die Standortgebundenheit der Forscherin einer methodischen Kontrolle unterliegen muss. Erst die Nutzung von empirisch beobachtbaren und überprüfbaren Vergleichshorizonten erlaubt die Generierung von Typen mit relativ hohem Abstraktionspotenzial.27 Ganz konkret wurden in diesem Arbeitschritt also zunächst thematisch vergleichbare Passagen aus mehreren Gruppendiskussionen auf gemeinsame Orientierungsmuster hin untersucht. Die Auseinandersetzung der Erzieherinnen mit den vorgegebenen Normen und Arbeitsanleitungen des sogenannten „Programms für die Erziehungsarbeit in Kinderkrippen“28, die in allen Gruppen selbstläufig, d.h. unabhängig von den Interventionen der Forscherin thematisiert wurde, stellte dabei nicht nur eine sich sofort in den Fokus rückende thematische Gemeinsamkeit der Fälle dar, sondern hatte meist auch den Charakter einer Fokussierungsmetapher. Die Gruppe Marienkäfer, die ich im Folgenden immer wieder zur Veranschaulichung von Interpretationsebenen heranziehen werde, sei nun mit einer entsprechenden Passage zum Erziehungsprogramm eingeführt (vgl. Nentwig-Gesemann 1999, 156 f.): Af: jetzt musste eben das Kind äh das und das zu dem und dem Zeitpunkt machen, also war man immer irgendwie als Erzieherin son bissel (.) na ja in ner BuhmannRolle gewesen; das musste das eben bei der Erzieherin lernen und (.) na ja am Ende sollte es zwar nicht abgerechnet werden, aber es wurde doch geschaut (.) was hat se denn nun erreicht die Erzieherin mit den Kindern; Bf: ¬ hmm, irgendwie wurde die Arbeit der Erzieherin daran jemessen, wie weit sind denn die Kinder nu in der Gruppe (.) könnse schon des und des und des also so ungefähr dann is det nich positiv für die Erzieherin; da hat set ja noch nich jelernt. (.) aber im andern Sinne war se vielleicht viel lieber zu der Er- zu den Kindern jewesen in dem Sinne oder hat se mal aufn Schoß jenommen und hat ebend jedacht na schiet wat is mir ejal ob der ne Brücke bauen kann oder nen Turm (.) ick nehm se ebend lieber mal aufn Schoß oder ick mach ebend dies und jenet mit dem Kind; ... Af: und da wurden eben dann so Normen aufgestellt die man ausm Erziehungsprogramm rausgenommen hat; die hat man sich dann aufn Plan geschrieben, vierzehn Tage konnte man se lassen man konnte se auch vier Wochen lassen aber dann musste se dann mussten se das quasi erreicht haben; dann sollte man des immer noch im Hinterkopf behalten aber dann kam des nächste Ziel dran;
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Zur Bedeutung der komparativen Analyse im Rahmen der dokumentarischen Methode, die den Fortgang der gesamten Interpretation strukturiert und nicht – wie dies bei anderen typenbildenden Verfahren der Fall ist – erst zur Anwendung kommt, wenn die Einzelfallanalyse oder sogar die Konstruktion von Typen abgeschlossen ist, sei nochmals auf die Artikel von Nohl und Bohnsack i. d. Band hingewiesen. Das „Programm für die Erziehungsarbeit in Kinderkrippen“ wurde von einer Arbeitsgruppe des Instituts für Hygiene des Kindes- und Jugendalters erarbeitet und 1985 vom Ministerium für Gesundheitswesen als Arbeitsgrundlage für alle Krippen der DDR verbindlich vorgeschrieben. Eine detaillierte Dokumentenanalyse dieses Programms findet sich in Nentwig-Gesemann 1999, 35-67.
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Die vergleichende Interpretation weiterer Diskussionen bestätigte, dass generell die Orientierungen der Erzieherinnen in hohem Maße von der Konfrontation mit dem im Erziehungsprogramm transportierten Erziehungskonzept geprägt waren. Das Bild vom Kind, die Definition der eigenen Rolle, die Formulierung von Erziehungszielen und -mitteln ergaben sich vor allem aus der unvermeidbaren Auseinandersetzung mit dem verbindlich vorgeschriebenen Programm bzw. seinen Vorläufern. Sowohl die Erzieherinnen, die im Rahmen der Gruppendiskussionen eine inhaltliche Kritik am Erziehungsprogramm formulierten, seine Anwendung als weitgehend erzwungen empfanden und es inzwischen ablehnten, als auch diejenigen, die es nach wie vor als sinnvollen „Leitfaden“ für ihre Arbeit bezeichneten und lediglich die gewonnene persönliche Freiheit bei der Ausgestaltung begrüßten, beklagten und kritisierten rückblickend vehement die massive Kontrolle, der sie sich zu Zeiten der DDR in Bezug auf dessen Umsetzung ausgesetzt fühlten. Als homologes Muster ließ sich also aus dem gesammelten empirischen Material herausarbeiten, dass die Erzieherinnen deutliche Diskrepanzen zwischen normativen, programmatischen Vorgaben und dem pädagogischen Alltagshandeln, zwischen der exterioren Norm und dem eigenen Habitus, wahrnahmen. Diese Orientierungsdiskrepanz stellte sozusagen die ‚Basistypik‘ dar. Es folgte nun die Spezifizierung dieses Typus, also der Basistypik, auf der sinngenetischen Ebene und zwar durch fallübergreifende und fallinterne Vergleiche. Die fallübergreifende komparative Analyse zielte nun nicht mehr primär auf die Gemeinsamkeiten der Fälle, sondern vielmehr auf die Kontraste. „Das gemeinsame Dritte, das tertium comparationis ist nun nicht mehr durch ein (fallübergreifend) vergleichbares Thema gegeben, sondern durch den (fallübergreifend) abstrahierten Orientierungsrahmen bzw. Typus“ (vgl. den Beitrag von Bohnsack zur Typenbildung i. d. Band). Der Vergleich mit der Gruppe Integration soll hier als Beispiel für eine aufschlussreiche komparative Analyse dargestellt werden (vgl. Nentwig-Gesemann 1999, 81 f.): Af: das is nich mehr dieses (.) dieses monotone (.) also zu DDR-Zeiten ich war da Mentorin (.) und ich hab mich immer schon dagegen geweigert irgendwo für die Kinder schon en Ziel vorprogrammieren oder mir vorher schon auszumalen so morgen wird Beschäftigung nur in-ner Puppenecke gemacht oder morgen wird nur mit dem gespielt (.) und das is ja heute nich mehr; also ich hab mich da schon manches Mal mmit Leuten auseinandergesetzt (.) wo ich denen die Frage gestellt hab äh (2) sie sollen sich doch mal in die Situation des Kindes reinversetzen; was will das Kind eigentlich
Erst durch die Fallkontrastierung der Gruppe Marienkäfer mit Erzieherinnen aus anderen Gruppen – hier exemplarisch aus der Gruppe Integration – wurde deutlich, dass es für das homologe Muster der Abarbeitung an den programmatischen und verbindlichen Arbeitsvorgaben durch eine Gegenüberstellung mit Situationen des pädagogischen Alltagshandelns ganz unterschiedliche Ausprägungen gab: Es ließen sich drei unterschiedliche Modi des Umgangs mit der wahrgenommenen Diskrepanz zwischen Norm und Habitus
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rekonstruieren:29 Bei einigen Gruppen dokumentiert sich in den Diskussionen eine weitgehende Übereinstimmung mit der vorgeschriebenen Programmatik und der ihnen abgeforderten „führenden Rolle“ der Erzieherin. Sie litten allerdings unter den rigiden Ausführungsvorschriften und ihrer Kontrolle durch die Fachberaterinnen.30 Bei anderen, z.B. der oben zitierten Gruppe Marienkäfer, wird eine kritische Distanz zu den pädagogischen Inhalten des Programms, so u.a. zur vordefinierten Führungsrolle der Erzieherin, deutlich. In Bezug auf das individuelle Verhalten, auf den direkten Kontakt zwischen Erzieherin und Kind im Gruppenraum, führte dies – wie im ersten Transkriptausschnitt deutlich wird – zu einer von programmatischen Vorgaben abweichenden Handlungspraxis. Schließlich gibt es Gruppen, in denen auf einer öffentlicheren Ebene non-konformes und zum Teil ausgesprochen widerständiges Verhalten als Reaktion auf die empfundenen Diskrepanzen zwischen Norm und Alltagshandeln gezeigt wurde – für diesen Typ stehen bspw. Erzieherinnen der oben zitierten Gruppe Integration.31 In einem weiteren Schritt, demjenigen der fallinternen komparativen Analyse, ging es dann darum, die Struktur der Einzelfälle erneut in den Fokus der Interpretation zu rücken, um die erarbeiteten spezifizierten Typen auf ihre Validität hin zu überprüfen. Sind also die herausgearbeiteten typisierten Orientierungsmuster nur für einzelne Situationen von handlungspraktischer Bedeutung oder bilden sie einen übergeordneten Rahmen der Gruppe? So bestätigte die intensive Interpretation weiterer Passagen aus der Gruppendiskussion mit der Gruppe Marienkäfer – die dem Typus der Distanzierung zuzurechnen ist – zum Beispiel, dass die Erzieherinnen hochgradig sensibel für Widersprüche zwischen Norm und Habitus waren, dies jedoch nicht selbst zum Gegenstand eines kritischen Diskurses mit den übergeordneten hierarchischen Instanzen machten – die Austragung oder Bearbeitung des Konfliktes wurde von ihnen quasi auf der Ebene des Subjektes geleistet (vgl. Nentwig-Gesemann 1999, 160 f.): Af: und (dann sollte) die Tischdecke vom Tisch Bf: also richtig die die die Af: ¬ die die hatte bunte kleene Käfer hier ne weiße Tischdecke mit kleenen Marienkäferchen; die war zu bunt (.) die Tischdecke. Bf: ¬ tja. ... 29
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Auf eine vollständige Herleitung dieser sinngenetischen Typen auf der Grundlage des empirischen Ausgangsmaterials, also der Transkriptionen der Gruppendiskussionen, muss ich in diesem Beitrag aus Platzgründen leider verzichten und verweise auf NentwigGesemann 1999 und 2000. Das umfangreiche System der Fachberaterinnen setzte sich aus ehemaligen Krippenleiterinnen und Medizin- bzw. Diplom-Pädagoginnen zusammen. Sie sollten den Einrichtungen bei der Lösung der vorgegebenen Aufgaben helfen, hatten aber insbesondere bei der Umsetzung von Vorgaben auch eine stark kontrollierende Funktion. Zur Unterscheidung zwischen den drei Typen „Konformität“, „kritische Distanz“ und „offener Widerstand“ vgl. Nentwig-Gesemann 2003.
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Af: und da muss ich auch sagen, hat unsere Leiterin eigentlich auch ganz ((Lachen)) ganz gut reagiert; die wollte das denn aufm Papier sehen wo das geschrieben steht dass diese Tischdecke da nich liegen darf; If: hmm Bf: ja Af: oder dass die zu bunt is und naja aufm Papier zeigen konnte sies nich und da isse liegen geblieben (.) dann die Decke; aber das war eben immer Zivilcourage von den einzelnen Leuten (.) inwieweit se dann sich davon haben beeinflussen lassen oder nich ne, If: hmm ja Af: und ich meine wenn man jetzt ne Leiterin gehabt hätte die darauf voll mit drauf eingestiegen wär naja dann hätte mans eben so machen müssen; Bf: hmm.
Bei Erzieherinnen, die den Inhalten und Zielen des Erziehungsprogramms kritisch gegenüberstanden und die über die verlangte Erfüllung von Normen nicht die Frage nach dem pädagogischen Sinn von Anweisungen aus den Augen verloren, entstand ein diffuses Gefühl von Fremdbestimmung und Ausgeliefertsein. Die Willkür, mit der Anweisungen ohne inhaltliche Begründung verändert wurden, sowie das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber Vorwürfen und Maßregelungen vor allem durch die Fachberaterinnen sind Grundlage für eine entsprechend negative Einschätzung der eigenen Wirkungsmöglichkeiten. Dies wurde nur ansatzweise durchbrochen, wenn, wie in der Gruppe Marienkäfer, z.B. die Leiterin als Verbündete und Vertrauensperson empfunden wurde, an die der Widerstand gegen Vorgaben erfolgreich delegiert werden konnte. Anhand dieses Forschungsbeispiels wird deutlich, dass es hinsichtlich der methodischen Vorgehensweise bei allen Unterschieden – hier sei insbesondere noch einmal auf das frühe Einsetzen der fallübergreifenden komparativen Analyse verwiesen – bis zu diesem Punkt auch Parallelen zur oben dargestellten gruppierenden Typenbildung oder Realtypenbildung gibt: Auf der Ebene des Typus geht es um interne Homogenität – minimale Kontraste – auf der Ebene der Typologie um externe Heterogenität, also um maximale Unterschiedlichkeit. Jeder Fall geht daher bis zu diesem Punkt auch vollkommen in einem Typus auf bzw. fungiert als Repräsentant eines Typus. Die Fälle können allerdings noch nicht innerhalb von Typiken bzw. einer Typologie verortet werden. Die Frage, wofür die in den jeweiligen Typen herausgearbeiteten Orientierungen typisch sind, aus welchen konjunktiven Erfahrungsräumen bzw. welcher spezifischen Überlagerung von Erfahrungsräumen heraus sie sich entwickelt haben, kann erst auf der Grundlage einer soziogenetischen Typenbildung beantwortet werden.
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4.2 Soziogenetische Typenbildung: Mehrdimensionalität und Prozessanalyse In diesem abschließenden, zentralen Schritt der dokumentarischen Methode, der die sinngenetische Typenbildung zwar voraussetzt, die Typen aber wieder vollständig neu komponiert, geht es nun darum, den kollektiven oder auch persönlichen Habitus nicht nur interpretierend zu erfassen, sondern eine Antwort auf die Frage zu suchen, wofür eine Orientierungsfigur, eine generative Formel typisch ist, also die Erfahrungsräume, die Sozialisationsgeschichte, die „existentiellen Hintergründe“, innerhalb derer die (Sozio-) Genese handlungsleitender Orientierungen verankert ist, zu rekonstruieren. Die komparative Analyse findet an diesem Punkt nicht mehr auf der Ebene von Themen oder Orientierungen bzw. der unterschiedlichen Bearbeitung eines Orientierungsproblems statt, sondern auf der mehrdimensionalen Ebene der einander überlagernden Erfahrungsräume der Erforschten. Das Interesse an der Fallstruktur tritt hier endgültig in den Hintergrund. Die Analyse richtet sich vielmehr auf die Struktur von konjunktiven Erfahrungsräumen, also beispielsweise sozialräumliche oder organisationsspezifische Strukturen und in sie eingelagerte Erlebnisse und Interaktionsprozesse, die zur Herausbildung bestimmter handlungsleitender Orientierungen und habitualisierter Handlungspraxis geführt haben. Die an Einzelfällen erkannte Zugehörigkeit zu einem konjunktiven Erfahrungsraum kann – um nur einige Beispiele zu nennen – generations-, geschlechts- oder auch organisationstypisch32 sein. Bei jedem Einzelfall überschneiden oder überlagern sich nun die verschiedenen Typiken auf je spezifische Art und Weise. Die Struktur der Typologie, die im Rahmen der dokumentarischen Methode angestrebt wird, spiegelt diese Perspektive: Jeder Fall wird innerhalb der Typiken der Typologie umfassend verortet und kann damit zum Dokument und Exemplifizierung für mehrere Typiken werden. Der Vergleich von Gruppen aus dörflicher Umgebung, zu denen auch die Gruppe Marienkäfer gehörte, mit Gruppen aus der Metropole Berlin zeigte beispielsweise, dass zwar auch im ländlichen Milieu die Erfahrung der Diskrepanz zwischen Norm und Habitus ein fokussiertes Problem darstellte, dies aber anders bearbeitet bzw. durch die spezifischen Erfahrungen entschärft werden konnte. Die Analyseeinstellung änderte sich also auch in Bezug auf die Gruppe Marienkäfer und es ging nun darum, zu den ‚typischen’, für ihre
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Die Zugehörigkeit zu einem konjunktiven Erfahrungsraum wird hier nicht nur als die Einbindung in bestehende soziale Erfahrungszusammenhänge oder Kulturen verstanden. Auf der Grundlage kollektiver Erfahrungen, wie sie z.B. mit der auf alle Ebenen bezogenen Transformation der Krippen- und Kindergartenpädagogik nach der Wende verbunden waren, können Milieuzusammenhänge auch restrukturiert oder neu konstituiert werden (vgl. dazu z.B. Bohnsack 1998).
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Orientierungen fundamentalen Erfahrungsräumen vorzudringen (vgl. Nentwig-Gesemann 1999, 168): Af: wahrscheinlich weil man son bisschen weiter ab vom Schuss war lief das hier äh (.) naja lockerer. Und und (.) Bf: ¬ individueller irgendwie. Af: individueller für die Kinder; und dann dann n- was mir noch aufgefallen is es war hier so persönlicher und familiärer. In nem Dorf da kennen sich eben die Leute und da weiß man ach das Kind is von da (.) und die Nachbarn das sind die und die, (.) und irgendwie, (.) äh war das ganze hier eben dann nicht so anonym gewesen, (.) und (.) das hat mir gut gefallen also, (3)
Über diese beschreibende Ebene hinaus dokumentiert sich in den Erzählungen der Gruppe Marienkäfer immer wieder eine starke Betonung des emotionalen, körperlich-liebevollen Kontaktes zu den Kindern sowie eine, wenn auch nicht öffentlich vertretene und nur schwer enaktierbare, kritische Distanz zu den im Erziehungsprogramm verankerten altersspezifischen, normativen Leistungsanforderungen an die Kinder (vgl. z.B. die eingangs zitierte Passage). Die von einer anderen dörflichen Gruppe benutzte, idealisierende Metapher der „Idylle“ für den ländlichen konjunktiven Erfahrungsraum (ebd., 169) verdeutlicht, dass die dörfliche Abgeschiedenheit nicht nur als Schutz vor dem unmittelbaren Zugriff der staatlichen Kontrollinstanzen empfunden wurde („wobei wir hams hier immer ganz gut abblocken können ne, weil wir ja son bisschen vom Schuss sind von N-Stadt“; ebd., 160), sondern auch mit größerer Wärme und Emotionalität der Kontakte und der Wahrnehmung des Einzelnen als Individuum und nicht lediglich als Teil eines Kollektivs. Erst die komparative Analyse zwischen den Gruppen in unterschiedlichen sozialräumlichen Zusammenhängen warf ein erstes Licht auf diesen milieutypischen Unterschied, der sich im Verlauf fortschreitender Vergleiche bestätigte. Die Dominanz der normativen, leistungsorientierten, am Kollektiv orientierten Instruktionspädagogik wurde auf dem Land in besonderer Art und Weise durch die Erfahrung abgemildert, in einem Schutzraum mit relativer Distanz zur staatlichen Kontrolle zu agieren und damit Spielräume relativ gefahrlos, weil unbemerkt, nutzen zu können. In den großstädtischen Gruppen aus Berlin dominieren demgegenüber Darstellungen eines permanenten Kontrolldruckes, für die hier exemplarisch nur eine kurze Passage aus der Diskussion mit der Gruppe Prozess wiedergegeben werden soll (ebd., 108 f.): Bf: wir standen ja nu ständig unter Druck ne, weil (.) immer irgendwelche Leute hier kamen und gucken kommen was ... Bf: und (.) äh manchmal waren das ja Gruppen bis zu fünfzehn Mann, die denn da rein kamen und wenn denn die Kinder nich entsprechend det jemacht haben, (.) was det Ziel war denn musste man det womöglich noch begründen ?: ¬ hmm Bf: warum der det nu; det war so ungefähr, (.) und ähm (.) also det war schon janz schön (.) belastend; kann man sagen wa?
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Cf: joo. Bf: man musste da mal eben vorführen; und Af: weil man ja auch zur Auswertung hinterher rein musste. Bf: ¬ jaja Cf/Df: hmm Af: und nun warum dieses Kind nun nicht wollte; Bf: ja
Über die vergleichende Analyse sozialräumlicher Erfahrungszusammenhänge der Gruppen hinaus konnten dann noch Zusammenhänge zwischen räumlichorganisatorischen Bedingungen und der Entwicklung handlungsleitender Orientierungen rekonstruiert werden. Die Intensität und Emotionalität persönlicher Beziehungen bildete auch in räumlich kleinen Krippen – selbst bei einer grundsätzlichen Befürwortung der staatlich vorgeschriebenen Pädagogik – einen deutlichen Gegenpol zur Objektposition des Kindes und zur führenden Rolle der Erzieherin. An der Überschaubarkeit der Einrichtungen sowohl in räumlicher Hinsicht als auch die Personenzahl betreffend, machten die Erzieherinnen aus kleinen Krippen, und zwar auf der Grundlage einer ausdrücklichen Selbstverortung in einem räumlich-organisatorisch definierten konjunktiven Erfahrungsraum, ihren positiven Gegenhorizont fest. Am Beispiel einer Erzieherin, die aus einer „Kinderkombination“33 in eine kleine Einrichtung mit nur fünf Gruppen wechselte, verdeutlichte ein Team, die Gruppe Nase, wie stark dieser Kontrast empfunden wurde (ebd., 143): Cf: ne ganz liebe ruhige Kollegin also, weil wir ja denn immer XY-Bezirk war uns immer oh Gott ne? ?: ja Cf: ¬ Rieseneinrichtungen und so, so und sie war och ganz entsetzt und war froh och wie se hierher kam och is det schön; und trotzdem hatte die denn noch so diesen Stil, an sich also, putsch putsch bomm. Fertig; so. Mehrere: ((Lachen)) Cf: inne Reihe, hinternander. Da ham wir jesacht (.) ?: die wusste jar nich was wir machen da. Cf: ((veränderter Tonfall)): was macht ihr denn da? Denn ham wir die auf die Box jenommen ham mit denen rumjeknuddelt einjecremt hier jepopelt da jepopelt, (.) sagt se, du die Zeit hatten wir da ehrlich nicht; sagt se. Du wir hatten die im Bett, (.) die letzten, (.) dann mussten wir die ersten schon wieder rausnehmen. Denn ham wir jesagt, du Ilse erzähl doch mal, wir konnten det ehrlich nich fassen
Diese Erzieherinnen aus einer kleinen Einrichtung empfanden den – von der Gruppe Zwerg, der räumlich kleinsten Einrichtung meiner Untersuchung – auch als „Massenabfertigung“ bezeichneten Stil ihrer neuen Kollegin als so fremd, dass sie ein gegenseitiges Verständnis über den Austausch von gegensätzlichen Erfahrungen kommunikativ erst herstellen mussten. Die aus einer 33
Die sogenannten Kinderkombinationen, bestehend aus Krippe und Kindergarten, waren im ganzen Gebiet der DDR vorzufindende Zweck- oder Typenbauten, mit Plätzen für 160 bzw. 180 Kinder.
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Kinderkombination kommende neue Kollegin konnte auf der Grundlage ihrer milieuspezifischen Erfahrungen und habitualisierten Arbeitsweisen weder auf der Ebene der Orientierungen noch auf der der Alltagspraxis einen unmittelbaren, selbstverständlichen Anschluss an das neue Team finden. An der räumlichen und damit auch auf die Personen bezogenen Überschaubarkeit der Einrichtung wird ein persönlicherer und familiärerer Umgang mit den Kindern festgemacht: Die Erzieherinnen gingen davon aus, sich die Zeit nehmen zu können, intensiv und emotional auf des einzelne Kind einzugehen. Der familiärere, von persönlichen Beziehungen geprägte Erfahrungszusammenhang in kleinen Einrichtungen bildete damit ein Gegengewicht zum übermächtigen, kontrollierenden Staat und dessen Kontrollinstanzen. Die Gruppe Marienkäfer ist ein Beispiel dafür, wie sich zwei Erfahrungsdimensionen – die ländliche Umgebung und die kleinräumige Organisation – überlagern und dies eine prägende Grundlage für die große Sensibilität der Erzieherinnen für Diskrepanzen zwischen den Normen des Erziehungsprogramms und ihrer alltäglichen pädagogischen Arbeit darstellte. Darüber hinaus wurden während der empirischen Analyse Unterschiede in Bezug auf die Rezeption und den Umgang mit den normativen Vorgaben bzw. den wahrgenommenen Diskrepanzen zwischen Norm und Habitus sichtbar, die sich zunächst – vor dem Hintergrund meiner bisherigen Analysen und Erkenntnisse – nicht zufriedenstellend erklären ließen. Im Sinne einer abduktiv gebildeten Hypothese ging ich dann – beginnend mit einer Durchführung weiterer Gruppendiskussionen und einem neuen Interpretationsgang durch das bereits analysierte Material – der Frage nach, ob dies mit der Position der Einrichtung bzw. der einzelnen Erzieherin in der Hierarchie zusammenhing, ob sich also eine organisationsspezifische bzw. positionstypische Ausprägung bei der Bearbeitung dieser Problematik rekonstruieren ließ. Der Vergleich zwischen Gruppen bzw. Erzieherinnen unterschiedlicher hierarchischer Stellung ergab, dass Diskrepanzen zwischen Vorgaben bzw. Normen und deren Umsetzungsfähigkeit zwar generell wahrgenommen wurden, diese aber nur in bestimmten, höheren hierarchischen Positionen thematisiert bzw. offen kritisiert werden konnten. Selbst bei Gruppen, die den Inhalten und Zielen des Erziehungsprogramms kritisch gegenüberstanden, wurde deutlich, dass vor allem Erfahrungen, die mit einer niedrigen Position in der beruflichen Hierarchie zusammenhingen, zu einem resignativen Sich-Fügen in Zusammenhänge führten, die aus der eigenen Position heraus als unabänderlich wahrgenommen wurden. Dies wurde dann durchbrochen, wenn z.B. die Leiterin als Verbündete und Vertrauensperson empfunden wurde, an die der Widerstand gegen Vorgaben erfolgreich delegiert werden konnte. Die Gruppe Marienkäfer soll hier wiederum als Beispiel genommen werden, um einen entsprechenden Erlebnishintergrund zu verdeutlichen. Die zuvor schon interpretierte – und weiter oben auch zitierte – Passage, in der die Erzieherinnen berichten, dass sie eine
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weiße Decke mit roten Marienkäferchen nur deshalb nicht – wie von der Fachberaterin gefordert – entfernten, weil ihre couragierte Leiterin das System sozusagen mit seinen eigenen Waffen schlug und eine formal-schriftliche Direktive einforderte, wurde nun noch einmal ‚neu‘ gelesen und wiederum in komparativer Analyse interpretiert. So konnte bei einem Neudurchgang durch das empirische Material im Hinblick auf einen in der Hierarchie fundierten Erfahrungszusammenhang eine weitere Typik rekonstruiert und ausgearbeitet werden. Auf der einen Seite stehen demnach Erzieherinnen – wie zum Beispiel die der Gruppe Marienkäfer – die ihre Kritik nicht offen äußerten und eine kritische Diskussion nicht einforderten. Ihnen blieb als Form des Widerstandes nur die Verweigerungshaltung, das Ignorieren von Anweisungen und die individuelle emotionale Hinwendung zu den Kindern. Während hier die eigenen Kontrollmöglichkeiten als sehr gering eingeschätzt werden, werden externe Faktoren, wie die periphere Lage des Dorfes, das familiäre Klima in den kleinen Einrichtungen und das couragierte Verhalten der Leiterin gegenüber der Fachberaterin, als notwendige Voraussetzung betrachtet. Fiel auch die Leiterin in dieser Beziehung aus, wurde sie als Bestandteil des übermächtigen, bedrohlichen Systems wahrgenommen, war das Gefühl, sich dem „Druck“ von oben machtlos beugen zu müssen, überwältigend. Die Möglichkeit zu „Zivilcourage“ wird überhaupt nur in Gruppen oder bei Erzieherinnen gesehen, die in der beruflichen Hierarchie eine höhere Position einnahmen. Erst im Rahmen der umfassenden Fallkontrastierung wurde deutlich, dass diese hierarchische Position eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für einen nicht nur kritischen, sondern auch offenen Umgang mit der staatlichen Pädagogik und den sie vertretenden Vorgesetzten war. Eine ehemalige Mentorin34, die eine Funktion auf der Schnittstelle zwischen der ‚normalen‘ Erzieherin und den der Krippe übergeordneten Entscheidungs- und Kontrollinstanzen hatte, berichtet zum Beispiel (ebd., 81 f.): Af: das is nich mehr dieses (.) dieses monotone (.) also zu DDR-Zeiten ich war da Mentorin (.) und ich hab mich immer schon dagegen geweigert irgendwo für die Kinder schon en Ziel vorprogrammieren oder mir vorher schon auszumalen so morgen wird Beschäftigung nur in-ner Puppenecke gemacht oder morgen wird nur mit dem gespielt (.) und das is ja heute nich mehr; also ich hab mich da schon manches Mal m- mit Leuten auseinandergesetzt (.) wo ich denen die Frage gestellt hab äh (2) sie sollen sich doch mal in die Situation des Kindes reinversetzen; was will das Kind eigentlich
Im Zusammenhang mit ihrer Funktion als Mentorin wich die Erzieherin hier also nicht nur stillschweigend von der durch das Programm vorgeschriebenen Arbeit ab, sondern verweigerte sich ganz offen und forderte einen radikalen
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Die Mentorinnen leiteten die angehenden Erzieherinnen während des praktischen Teils ihrer Ausbildung an.
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Perspektivenwechsel ein, der die „führende Rolle“ im pädagogischen Prozess von der Erzieherin auf das Kind verschob.35 Am Ende des Forschungsprozesses stand damit eine mehrdimensionale Typologie, in der die Überlagerungen der Typiken der sozialräumlichen und räumlichen Erfahrungsdimensionen, des hierarchischen Profils von Einrichtungen und der Leitungsstile rekonstruiert werden konnten.36 Während der dörfliche konjunktive Erfahrungsraum ein positives Korrektiv zur staatlichen Verregelung des Erziehungsprozesses bilden konnte, verdichteten sich in der Metropole die normativen Strukturen und Kontrollmechanismen, die von außen an die Krippen herangetragen wurden. Anders als in großen wurde in kleinen Einrichtungen ein emotionalerer und persönlicherer Charakter von Beziehungen gefördert, der die Dominanz der normativen, leistungsorientierten Pädagogik zu überlagern vermochte. Während ein kontrollierend lenkender, autoritärer Stil der Leiterin ebenso wie eine überwiegend niedrige formale Ausbildung der Erzieherinnen eine um Konformität mit dem Erziehungsprogramm bemühte Haltung förderte, bildete ein Autonomie gewährender, demokratischer Leitungsstil ebenso wie eine überwiegend hohe formale Ausbildung der Erzieherinnen eine wesentliche Grundlage für die Nutzung von Gestaltungsfreiräumen. Die dokumentarische Methode mit ihrer die Mehrdimensionalität von Erfahrungsräumen rekonstruierenden Typenbildung ermöglichte, zum einen einen empirischen Zugang zur Ebene des handlungsleitenden Wissens, der habitualisierten Alltagspraxis der Erzieherinnen jenseits der theoretischen und normativen Ansprüche zu finden. Zum anderen konnte die (Sozio-)Genese von Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Fällen herausgearbeitet werden, die in den unterschiedlichen sozialen Umfeldern und der jeweiligen (professionellen) Sozialisationsgeschichte der Erzieherinnenteams begründet ist. Nur auf der Grundlage eines Zuganges zu einander überlagernden konjunktiven Erfahrungsräumen kann letztlich eine Typologie generiert werden, die Erkenntnisse darüber zu vermitteln vermag, welche Orientierungen in einem Zusammenhang mit welchen Erfahrungsräumen stehen, also für diese ‚typisch‘ sind.
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In diesem und ähnlichen Fällen mündete die Demonstration von Nonkonformität allerdings nicht in übergreifende Diskussionen oder Veränderungen. Offen thematisierte Diskrepanzen zwischen programmatischen Vorgaben und der pädagogischen Realität wurden systematisch auf die individuelle Ebene zurückverlagert und damit als persönliches Problem der Erzieherin festgeschrieben. Eine derart strukturierte Auseinandersetzung verhinderte damit nicht nur, dass die Verantwortlichen gezwungen wurden, mit konkreten Veränderungen auf vereinzelte Kritik zu reagieren, sondern stand einem Diskussionsprozess über die Paradigmen der Erziehungskonzeption diametral entgegen. Eine ausführliche Zusammenfassung der Typologie findet sich in Nentwig-Gesemann 1999, 177 ff. sowie in Nentwig-Gesemann 2003.
Ralf Bohnsack/Arnd-Michael Nohl
Exemplarische Textinterpretation: Die Sequenzanalyse der dokumentarischen Methode Der für die dokumentarische Methode konstitutiven (Leit-) Differenz von kommunikativem bzw. immanentem Sinngehalt auf der einen und konjunktivem bzw. dokumentarischem Sinngehalt auf der anderen Seite entspricht in der Forschungspraxis die Differenzierung von formulierender und reflektierender Interpretation.
Formulierende Interpretation Der Übergang von der formulierenden (immanenten) zur reflektierenden (dokumentarischen) Interpretation markiert den Übergang von den Was- zu den Wie-Fragen. Grundgerüst der formulierenden Interpretation ist die thematische Gliederung, die Entschlüsselung der thematischen Struktur der Texte. Es gilt das, was thematisch wird und als solches Gegenstand der formulierenden Interpretation ist, von dem zu unterscheiden, wie ein Thema, d.h. in welchem (Orientierungs-) Rahmen oder nach welchem Modus Operandi es behandelt wird, was sich in dem Gesagten über die Gruppe oder das Individuum dokumentiert.
Reflektierende Interpretation Die Regelhaftigkeit des Orientierungsrahmens bzw. des Habitus, welche in der reflektierenden Interpretation zur Explikation gebracht wird, ist grundlegend eine soziale und erkenntnislogisch dem subjektiv gemeinten Sinn der Akteure vorgeordnet. Wenn also (u.a. im Sinne von Mead) eine Geste oder Äußerung ihre Signifikanz oder Bedeutung im Kontext der Reaktionen der anderen Beteiligten erhält, so konstituiert sich in der Relation von (empirisch beobachtbarer) Äußerung und (empirisch beobachtbarer) Reaktion die (implizite) Regelhaftigkeit, die es zu erschließen bzw. zu explizieren gilt. Die Rekonstruktion dieser Regelhaftigkeit vollzieht sich in der reflektierenden Interpretation derart, dass nach der Klasse von Reaktionen gesucht wird, die nicht nur als thematisch sinnvoll erscheinen, sondern die auch homolog oder funktional äquivalent zu der empirisch gegebenen Reaktion sind. Somit ist 303
die dokumentarische Methode bereits auf dieser elementaren Ebene der Sequenzanalyse eine empirisch fundierte komparative Analyse. Diese ist jedoch nicht erschöpfend charakterisiert, wenn wir sie als Suche nach Homologien oder Gemeinsamkeiten fassen. Denn diese Suche nach Gemeinsamkeiten, genauer: nach homologen, funktional äquivalenten, d.h. zur selben Klasse gehörigen Reaktionen, setzt immer auch einen Vergleichshorizont nicht dazugehöriger, kontrastierender, d.h. zu anderen Klassen gehörender Reaktionen voraus, einen Vergleichshorizont, der implizit bleibt: „Alles Beobachten ist Benutzen einer Unterscheidung zur Bezeichnung der einen (und nicht der anderen) Seite. Die Unterscheidung fungiert dabei unbeobachtet“ (Luhmann 1990, 91). Dieser „blinde Fleck“ (vgl. ebd., 85) ist das, was die Standortgebundenheit oder auch Seinsverbundenheit des Interpreten im Sinne von Mannheim (1952a, 227) ausmacht. Sie kann in begrenztem Umfang derart einer methodischen Kontrolle zugeführt werden, dass empirisch überprüfbare Vergleichshorizonte in Form eines Fallvergleichs dagegengehalten werden (wie wird dasselbe Thema in anderen Gruppen, d.h. innerhalb eines anderen Orientierungsrahmens, bearbeitet?). Dies hat die methodologische Konsequenz, dass der Fallvergleich möglichst frühzeitig in die Analyse einbezogen werden sollte.1 Die formulierende und die reflektierende Interpretation werden im Folgenden am Forschungsbeispiel einer Gruppendiskussion demonstriert, welches einer neueren Untersuchung über Jugendliche türkischer Herkunft entstammt.2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 1 2
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Dm: Y2: Hm: Dm:
Ja stell mal paar Fragen; auch du ja, Ŋ Vielleicht was ihr so macht zu Hause, in der Familie, Ŋ Schlafen; Ŋ Wir sind also wir eh bei uns is so also ich kann jetzt auch für mich nur reden also; bei mir ist es so (.) zum Beispiel auch wenn ich nicht oft zu Hause bin so, (.) ich denk immer an die Familie so. Es is nicht so dass ich so sage (.) lan3 so Scheiß Familie oder dies das das geht mich nichts an oder so. So bei manchen Deutschen ist ja so weil die von andren Kultur kom-men aber (.) bei mir ist so wenn ich von Arbeit komme dann geh ich nach Hause essen, meine Mutter hat schon Essen gemacht und so, dann guck ich bisschen Fernsehen, (1) dann redet sie und so und so und so; dann hör ich zu, dann geh ich wieder raus auf die Straße so; rumhängen. Dann
Zur Sequenzanalyse als komparativer Analyse – auch in Abgrenzung zu ihrer objektivhermeneutischen Fassung – siehe Bohnsack (2001a) und Nohl i .d. Band. Das Erkenntnisinteresse dieses Projekts zielt auf Orientierungsprobleme in der Adoleszenzphase in unterschiedlichen Milieus unter Bedingungen der Migration (vgl. dazu allgemein: Bohnsack/Nohl 1998, 2000, 2001a–c und zum Kontext des hier wiedergegebenen Transkriptauszugs aus der Diskussion mit der Gruppe „Katze“: Nohl 2001a, 178 ff.). Für die komparative Analyse dieses Transkriptauszugs siehe auch den Beitrag von Nohl i. d. Band. dt.: Ey Mann
15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35
Am: Dm: ?m: Fm: Dm: Am: Dm: Am: Dm: ?m: Dm:
komm ich so abends um zehn oder so wieder nach Hause, (.) dann redet sie wieder so also da unterhalten wir uns so bisschen, und dann (.) geh ich wieder schlafen so. (1) So aber man erledigt auch so Wochenende so einkaufen oder wenn man irgendwelchen Amt hat und sowas so. (3) Man redet nich so über Vergnügen und so Spaß und so, nur was so anfällt muss man bisschen erledigen. (4) Ŋ Das is auch so ganz anders was zu Hause zum Beispiel abläuft oder so; also (.) man ist zu Hause ganz anders als man draußen ist oder so. Weil man muss Ŋ Jaa ŊMhm Ŋ Draußen. Ŋ Ja zu Hause die die haben von gar nichts ne Ahnung so; die denken so mein Sohn geht jetz bisschen raus, Ň Ŋ Ja. schnappt sein frische Luft und kommt so (.) eh Reisessen Ŋ (Lachen) steht wieder vorm Tisch so, würklich jetz; die denken so Ŋ (Lachen) die die ham noch so alte Denkweise so (.)
Formulierende Interpretation 1–4 1 2–4
5–10 5–8
8–10
10–26 10–17
OT: Themenfindung UT: Aufforderung zur Fragestellung Dm bittet um Fragen und spricht dabei direkt Y2 an. UT: Aktivitäten zu Hause Y2 wirft das Thema der häuslichen Tätigkeiten auf, das Hm mit dem Hinweis auf das „Schlafen“ konkretisiert. OT: Einstellung zur Familie UT: Die stete geistige Präsenz der Familie Für Dm ist die Familie stets präsent, wenn sich dies auch weniger auf die physische, denn auf die geistige Anwesenheit bezieht. Er beschränkt dabei seine Aussage auf die eigene Person. UT: Die Missachtung der Familie Diese Präsenz wird von einer Haltung abgegrenzt, in der die Familie beschimpft und als irrelevant eingeschätzt wird, wie dies bei Deutschen aufgrund ihrer kulturellen Zugehörigkeit zu beobachten ist. OT: Tätigkeiten in der Familie UT: Dms Tagesablauf in der Familie Nach der Arbeit kommt Dm nach Hause, nimmt sein Essen ein. Seine Mutter spricht über etwas, woraufhin Dm zuhört, um schließlich
305
17–20
21–26
27–35 27–35
wieder hinauszugehen, ohne sich dort mit klar bestimmbaren Aktivitäten zu beschäftigen. Nach seiner Heimkehr am Abend geht er, nach einem Gespräch mit seiner Mutter, ins Bett. UT: Gesprächsthemen und Aufgaben in der Familie Die außerhäuslichen Aufgaben der Familie sind für Dm zu erfüllen. Diese sind ausschließlich das Gesprächsthema der Familie, während der „Spaß“ keines ist. UT: Die Unterschiedlichkeit der Tätigkeiten in der Familie und außerhalb Für Am, wie auch für Dm und Fm, unterscheiden sich die Geschehnisse und Tätigkeiten innerhalb der Familie von denen außerhalb. OT: Die Einstellung der Familie zu den Söhnen UT: Die Unkenntnis der Familie über das Leben der Söhne Die Familie zu Hause ist ‚ahnungslos‘ hinsichtlich der außerhäuslichen Aktivitäten ihres Sohnes. Sie konzentriert sich auf die innerfamilialen Angelegenheiten der Versorgung. Das ist ein Aspekt der „alten Denkweise“.
Reflektierende Interpretation 01–03
Gemeinsame Initiierung einer Frage durch Dm und Y2 Y2, die Diskussionsleiterin, reagiert auf die direktive Äußerung von Dm, indem sie sich diese dadurch in kooperativer Weise quasi zu eigen macht, dass sie seine Aufforderung und ihre eigene Äußerung syntaktisch zusammenzieht, so dass dadurch eine vollständige Frage entsteht: „Ich stelle mal die Frage, was Ihr so zu Hause macht“.
04
Proposition durch Hm In der Äußerung von Hm (bzw. in der Relation von Frage und Antwort) dokumentieren sich folgende Orientierungsmuster (deren Darstellung bezeichnen wir als „Propositionen“4): Zum einen kommt hier zum Ausdruck, dass die Beziehung zur Familie eine wenig kommunikative und somit distanzierte ist. Wobei hier noch nicht geklärt werden kann, ob dies eher auf das Rekreationsbedürfnis von Hm oder eine soziale Grenzziehung zurückzuführen ist (denn funktional äquivalent zu „schlafen“ können hier unterschiedliche Reihen oder „Klassen“ von Äußerungen sein: Zu der einen Klasse gehören Äußerungen wie: „sich ausruhen“, „sich erholen“ etc., zu der anderen Äußerungen wie: „alleine sein wollen“, „sich zurückziehen“
4
306
Den Begriff der „Proposition“ verwenden wir in Anlehnung an Garfinkel 1960 („propositions“). Genauer dazu siehe: Bohnsack 2007a, 135 f. Anm. 43.
etc.). Es bedarf also zur genaueren Klärung der Interpretation des weiteren Diskursverlaufs. Zum anderen dokumentiert sich in dieser knappest möglichen Reaktion aber auch eine geringe Bereitschaft, den Forschern Auskünfte über diese Sphäre zu geben und somit auch eine gewisse Grenzziehung ihnen gegenüber. 05–20
Differenzierung der Proposition (05–20) und Elaboration dieser Differenzierung im Modus der Beschreibung (10–20) durch Dm In der Reaktion von Dm auf die Proposition von Hm wird deren konjunktive, also gruppenspezifische Bedeutung zunehmend präzisiert: Die Distanz gegenüber der Familie beruht zwar auf einer sozialen Grenzziehung, aber nicht auf mangelndem Respekt („Scheiß Familie“; 08–09) und auch nicht auf Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit (Dm „denkt immer“ daran; 07). Da dies „manchen Deutschen“ (09) unterstellt wird, kommt zugleich auch ihnen gegenüber eine Grenzziehung zum Ausdruck. In der Beschreibung (10–20), mit der Dm gleichsam noch einmal auf seine eigene Proposition reagiert, wird diese, also die familienbezogene Grenzziehung, nun von Dm in einer interaktiven Szenerie kontextuiert und auf diese Weise präzisiert. Hierin dokumentiert sich: - die Kommunikation mit der Mutter ist eine einseitige - weder die Redebeiträge noch die anderen Aktivitäten der Beteiligten sind (reziprok) aufeinander bezogen, stehen vielmehr beziehungslos nebeneinander (z.B: „dann redet sie ... dann hör ich zu“; 13–14) - lediglich die notwendigen pragmatischen Erledigungen, nicht (biographisch relevante) Orientierungen werden verhandelt
21–35
Anschlusspropositionen durch Am und Dm Die Unvermitteltheit und fehlende Reziprozität der Perspektiven von Eltern und Kindern (bzw. Söhnen) wird nun dahingehend präzisiert, dass sie mit einer strikten Trennung zweier Sphären in Verbindung gebracht wird: der inneren („zu Hause“) und der äußeren („draußen“). Diese Sphärendifferenz beruht auf unterschiedlichen Seinsoder Existenzweisen bzw. Identitäten („man ist zu Hause ganz anders“; 22–23). Die Genese der Sphärendifferenz ist in der „Denkweise“ der älteren Generation (35) zu suchen.
307
Ralf Bohnsack/Burkhard Schäffer
Exemplarische Textinterpretation: Diskursorganisation und dokumentarische Methode An der folgenden Passage aus einer Gruppendiskussion wird das Auswertungsverfahren nach der dokumentarischen Methode in den beiden grundlegenden Arbeitsschritten der formulierenden Interpretation und reflektierenden Interpretation forschungspraktisch demonstriert.1 Dabei stellt die Rekonstruktion der Diskursorganisation im Falle der Auswertung von Gruppendiskussionen eine wesentliche Komponente der reflektierenden Interpretation dar. Im Diskurs dokumentieren sich nicht nur kollektive Orientierungen, sondern der kollektive Charakter des Diskurses findet seinen Ausdruck auch in der Performanz: in spezifischen Formen oder Modi der Diskursorganisation.2 Damit ist die Art und Weise gemeint, wie die Redebeiträge in formaler Hinsicht aufeinander bezogen sind. Beispielsweise macht es einen Unterschied, ob der Diskursverlauf durch ein argumentatives Gegeneinander nach dem Muster These-Antithese-Synthese organisiert ist („antithetische“ Diskursorganisation) oder ob in den Redebeiträgen Erzählungen und Beschreibungen ‚nebeneinander gestellt‘ werden, in denen ein identisches Orientierungsmuster in Variationen immer wieder zum Ausdruck gebracht wird („parallelisierende“ Diskursorganisation). In den Fokussierungsmetaphern, also in jenen Passagen, in denen sich die Interaktionsbeteiligten auf ein Zentrum, einen Fokus gemeinsamer Erfahrung, ‚einpendeln‘, findet die Diskursorganisation ihren besonders prägnanten Ausdruck. Beim folgenden Textbeispiel handelt es sich um eine solche Fokussierungsmetapher. An ihr wird die Rekonstruktion einer „antithetischen“ Diskursorganisation exemplarisch dargelegt. Erhebung, Transkription und Auswertung der ausgewählten Passage sind im Kontext eines von der DFG geförderten Forschungsprojekts3 durchgeführt 1 2 3
Theoretische und methodologische Ausführungen zu beiden Arbeitsschritten finden sich u.a. in Bohnsack 1989, 2001a, 2007a (Kap. 8.1.); Bohnsack/Schäffer 2001; Loos/Schäffer 2001 und Przyborski 2004. Siehe dazu genauer: Bohnsack 1989, 2007a (Kap. 8.1), 2007c; Bohnsack/Przyborski 2006; Przyborski 2004 sowie Loos/Schäffer 2001, Kap. 4. Der Titel des Projekts lautet: „Entwicklungs- und milieutypische Ausgrenzungs- und Kriminalisierungserfahrungen in Gruppen Jugendlicher“. Zu den Ergebnissen dieses Projekts
309
worden, dessen Erkenntnisinteresse auf die Besonderheiten der Adoleszenzentwicklung bei Jugendlichen türkischer Herkunft gerichtet war. Der Diskussionsgruppe, die in diesem Fall lediglich aus zwei jungen Männern besteht, haben wir den (Code-) Namen Sand gegeben. Die beiden jungen Männer bilden keine Realgruppe oder ‚Clique‘, verfügen aber über Gemeinsamkeiten des sozialisationsgeschichtlichen Hintergrunds und kennen einander von früher (aus gemeinsamen Gang-Aktivitäten). Sie waren zum Zeitpunkt der Erhebung 24 Jahre alt, hatten beide keine formale Berufsausbildung und waren arbeitslos. Die Auswahl dieser Passage aus dem gesamten Diskussionsverlauf erfolgte nach folgenden Kriterien: -
-
aufgrund ihrer metaphorischen Dichte, d.h. der Dichte der beschreibenden und erzählerischen Darstellungen, gewinnt sie den Charakter einer Fokussierungsmetapher, zugleich ist sie von thematischer Relevanz für die Forscher, da sich die Thematik der Geschlechterverhältnisse in anderen Diskussionen als eine fokussierte erwiesen hatte und die Forscher nunmehr überprüfen, ob und inwieweit dies auch für diese Diskussion gilt, somit also eine komparative Analyse anstreben.
s. u.a. den Beitrag von Bohnsack zur Typenbildung in diesem Band sowie Bohnsack/Nohl 1998 u. 2001b; Bohnsack 2000b, Bohnsack/Loos/Przyborski 2001; Nohl 2001.
310
1. Transkript: Gruppe Sand, Passage Heirat Text: Sand TR: MW Seite B 3/6 ___________________________________________________ Passage: Heirat (Länge: ca. 5 Min.) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
Y1: Wollt Ihr denn mal Familie ham? (1) Bm: Ŋ Ja wenns (1) wenn unsere Zeit dafür da is, ich weiß nich (.) kann ich nich sagen; (2) Am: Ŋ Ja Familie haben is schon was Schönes abber ist nich was Einfaches weißt Du, (2) Y1: Ŋ mhm Bm: Ŋ Ich bin sowieso arbeitslos und so (2) ick glaub ick heirat gar nicht so schnell. Am: Ŋ Ein Familie was heißt ein Familie °weißt Du?° (1) °(nej)° (3) Bm: Ich hätte schon die möglichen paar Male zu heiraten, hab ich dann aber nich gemacht. Am: Ŋ Man muß die Richtige finden weißt Du, ich find das. (.) Natürlich (.) will ich heiŇ Y1: Ŋ mhm Am: raten odder ehh will ich eine mit eine Frau zusammenleben; (3) aber jetz im Moment, (4) °ehh° (.) ist nicht auch @so einfach verstehst Du?@ Y1: Ŋ @jaja@ Bm: Ŋ Wenn ich später ( geboten ) Am: Ŋ Also Du kannst die Richtige nicht finden ne, zum Beispiel (.) ich hab ehhh ich hab jetz, sag ich (.) viele Frauen ne? ((Räuspern)) Abber (.) es gefällt mir keine von denen; ich kann sie nich eine nehmen weißt Du? (.) Ich kann nich sagen okay Du bist meine Frau °odder° (3) Ň Y1: Ŋ mhm Am: weil für mich muß eine Frau (.) perfekt sein ne, (2) also sie muß für mich (.) immer da sein verstehst Du, und ich auch für Y1: Ŋ mhm Am: sie; (1) ich denk das so abber eh viele denken das nicht so. (2) °Ja.° (7) Am: Und wenn ich heirate dann heirat ich nach meiner Art °weißt Du,° (3) Bm: Ŋ Nach Deiner Art? Am: Ŋ Ja. Also es kann mir nichts sagen Bm: Ŋ Wie denn? Am: also (.) zum Beispiel meine Mutter sagt zu mir (1) Ja ich lebe wie ich: das richtig finde; verstehst Du, Bm: Ŋ Ja; (2) ja ich weiß auch nich (.) aber ick gloob manchma muß man sich auch der Familie anpassen ne, Am: Ŋ Naja: jetz will sie (.) mir sagen Ň Bm: Ŋ der Kultur halt anpassen und so.
311
43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95
312
Am: Bm:
Am: Bm: Y1: Bm: Am:
Y1: Am:
?m: Bm: Y1: Am:
Bm: Am: Bm: Y1: Am: Y2: Bm: Am: Bm: Am: Bm: Am: Bm: Am: Y1: Am:
Ŋ Ja was Kultur ja, °ich° Ŋ Ja doch eigentlich Du kannst doch nicht vergessen Deine Kultur; Du hast ja au ne Kultur; kannst ja nich plötzlich ja nee sagen (.) wenn De ne wenn (.) wenn De nich weeßt wer Du bist kannst De au nich (2) biste auch Ŋ °Ja::° nichts. (.) °Irgendwie so.° Mußt doch wissen wat Du bist und Ŋ mhm wer Du bist Ŋ Ja jetz bei uns sind ja zwei verlobt; ja jetzt mal meint zu mir, (.) meine Mutter meint zu mir jetz, (.) nimm Du lieber eine von (.) ehh (2) von unsern Gegend weißt Du, also von Ŋ mhm unsern Familienumgebung. (1) Meint se zu mir; °(also)°. (1) Und wo ich jetz: voriges Jahr war, (2) ein Bekannter hat sein eine Tochter weißt Du, (1) und der sagt zu mir, (.) willst Du den mal anschaun, odder (.) wie findest Du sie, hab ich gesa- nein ich will nix @weißt Du was soll ich mit sie ja (.) (.)@ Ŋ @(.)@ Ň Ŋ @Ja@ Ŋ Die vermitteln; die machen Vermittlung Ŋ Ja. Ň Ŋ So Vermittlung weißt Du, dann war ich in Istanbul, mein (.) Onkel meint zu mir, ich fahr nach Kocaeli; is die nächste (.) Stadt ja, (1) so is (.) ganz in der Nähe zwei Stunden. (.) Kannste mitkommen ja wenn er sagt, hat er gesagt, wenn Du willst (.) ja: ehh (3) baldiz was heißt das? Baldiz, (1) Ŋ Schwager? Ŋ Also (ein is) von sein Frau die Schwester (.) soll da wohnen ne, (2) hat gesagt wenn Du Ň Ň Ŋ Achso ja. Ň Ŋ (Schwägerin is des) willst mein Schwägerin ist auch da, kannst Du sie kennenlernen weißt Du, (2) hab ich gesagt ich komme nur um ehh den Stadt mir anzugucken weißt du, @(.)@ Ŋ @Jaja. (2) ( Ŋ @(2) Nein echt jetz (2)@ )@ Ŋ @Klar deswegen biste auch dahingegangen weeßte,@ Ŋ Nee weil für mich war des @(2)@ Ŋ @Ja sag doch daß De dahingegangen bist! (.) Is doch irgendŇ Ŋ @(2)@ Ŋ Sen (Erdo) anlatwie nicht so schlimm;@ sana Ŋ Für mich war das, Kocaeli (.) wollt ich sowieso sehn, weißt Du, und dabei hab ich mir gesagt ach egal Ŋ mhm ich fahr hin und ich esse ehh eh mit denen was zusammen und dann kommen wir wieder zurück is sowieso in der Nähe, (2) Dann war ich da, (.) is so ein bißchen Kleinstadt, (.) ham mer was gegessen zusammen, (1) und dann hat er mir gefragt, und °eh° wie findest Du sie? Ich hab gesagt na was für Frage @ist das, weißt Du, (4)@
96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135
Y2: Ŋ @(.)@ Bm: Ŋ @Jaha was issen hier los; kriegste erstma Paranoia@ Am: Ŋ Hab ich ges- laß ma weißt Du ich will nich darüber hörn; jetz wenn ich sage sie gefällt mir nich odder dann (.) wird er sich Y1: Ŋ mhm Am: gleich (.) beleidigt ja (2) dann ist er immer auf mich zugehn Y1: Ŋ mhm Am: ich hab gesagt nein ich will nicht weißt Du; sie gefällt mir nicht hab ich gesagt sie sieht nich gut aus @(3)@ Da meinter me: Ŋ @(.)@ Am: (2) dann sind wir wieder der die wolln irgendwo mich vermitteln weißt Du? Also (.) wenn der nich geschafft hat dann kommt der Y1: Ŋ mhm Am: nächste weißt Du, ey: Am, @ich hab eine (1)@ (1) sag ich ja Y2: Ŋ @(3)@ Am: hör auf ich will nich. Und wo ich dann im Dorf war, (3) angebY1: Ŋ mhm Am: lich hat mein Mutter angerufen und gesagt ((Räuspern)) Am kommt, (.) und (.) der sucht ein Mädchen oder der will ein Mädchen haben ne, (.) hat so gesagt (einmal); und auf einmal komm ich raus im Dorf so, bei uns gibs son Wasserfall weißt Du wo die Leute (.) Bm: Ŋ Wasser schöpfen. Am: Ŋ Wasser schöpfen ne, (.) bin ich rausgekommen so: (1) war ganz morgens, und alle Frauen da am Wasser weißt Du, (2) @(7)@ Y1: Ŋ mhm Bm: Ŋ @Plötzlich standst Du dann da wird geguckt oder watt (.) nach alter Tradition wird geguckt so (2) Y2: Ŋ @(.)@ Bm: ja war so?@(1)@ wie schön weißte da (hättste) en Film gedreht Am: Ŋ @(ah: es) es standen viele jaa@ Bm: ey. (2)@ Am: Ŋ @Es standen viele ja Bm: Ŋ Türkische Filme sind so ah (.)@ Am: Ŋ @Echt.@ (2) th=th=th=th (8) Y1: puhhh! (1) Am: Ŋ @(.)@ War witzig ja. Bm: Ŋ @(.)@
313
2. Formulierende Interpretation Dieser erste Interpretationsschritt läßt sich noch einmal unterteilen in die ‚thematische Gliederung‘ und die ‚detaillierte formulierende Interpretation‘. Die thematische Gliederung, also die Ausdifferenzierung von Oberthema (OT), Unterthemen (UT) und Unter-Unter-Themen (UUT) und ggf. UnterUnter-Unter-Themen (UUUT), wird (da dieser Schritt wenig Raum einnimmt) an diesem Beispiel für die gesamte Passage wiedergegeben. Demgegenüber wird die detaillierte formulierende Interpretation lediglich exemplarisch für das erste Unterthema dargestellt.
2.1 Thematische Gliederung OT: Das Heiraten nach „eigener Art“ und die „Vermittlung“ UT: 02–28 Schwierigkeiten bei der Familiengründung
UUT: 02–11
Eine Familiengründung ist schön, aber nicht einfach und die Zeit dafür muss „gekommen sein“
UUT: 12–28
Man muss „die Richtige“ finden
UT: 30–131 Die Heirat nach „eigener Art“ versus „Vermittlung“ UUT: 30–51
Das Heiraten nach „eigener Art“ versus „Anpassung an die Kultur“ (41–42)
UUT: 52–112
Die Heiratsvermittlung durch die Familie, Verwandtschaft und Bekanntschaft in der Türkei UUUT: 56-62 Die Vermittlung in der Herkunftsregion der Familie UUUT: 64-112 Der Vermittlungsversuch durch den Onkel
UUT: 112–131
314
Die Vermittlung ist wie ein „türkischer Film“ (130)
2.2
Detaillierte formulierende Interpretation
UT : 02–28 Schwierigkeiten bei der Familiengründung Eine Familiengründung wird bejaht, da sie etwas „Schönes“ ist. Sie ist jedoch – obschon sich den jungen Männern schon öfter die Gelegenheit geboten hat – nicht etwas „Einfaches“. Die Möglichkeiten einer Familiengründung hängen von der weiteren – nicht so leicht vorhersagbaren – Entwicklung ab. Hier spielt u.a. auch das Problem der Arbeitslosigkeit eine Rolle. Es geht aber vor allem auch darum, dass der Sinn bzw. die Bedeutung dessen, was eine Familie ausmacht, schwierig zu bestimmen ist und dass es problematisch ist, die „Richtige“ zu finden. Am hat hier allerdings auch höhere Ansprüche als andere.
3.
Reflektierende Interpretation Die grundlegenden Analyseeinheiten der dokumentarischen Interpretation von Gesprächen sind nicht einzelne Redebeiträge, also einzelne Rede-Akte oder Sprechakte. Vielmehr stellen interaktiv hergestellte Sequenzen von Redebeiträgen, also InterAkte, die grundlegenden Analyseeinheiten dar (s. dazu auch den Beitrag von Bohnsack/Nohl in diesem Band sowie Bohnsack 2001a). Der einzelne Redebeitrag erhält seine Signifikanz erst im Kontext der Reaktion der anderen. Die grundlegenden Analyseeinheiten als Sequenzen von Redebeiträgen sind in ihrer Abgrenzung und ihrer Struktur durch die thematische Strukturierung oder Gliederung des Gesprächs bestimmt, also durch die Ausdifferenzierung in Unterthemen (ggf. auch: Unter-UnterUnter-Themen), wie sie durch die Rekonstruktion des thematischen Verlaufs im Rahmen der formulierenden Interpretation zur Explikation gebracht worden ist. Aus diesen Gründen wird die thematische Gliederung hier, also in der Darstellung der reflektierenden Interpretation, noch einmal aufgegriffen.
01
Frage durch Y1 Es handelt sich um eine exmanente Frage, also um eine Frage, die nicht an ein bereits behandeltes Thema anknüpft. Zwar ging 315
es in der vorhergehenden Passage um türkische junge Frauen und das Problem der Jungfräulichkeit. Allerdings wurde diese Thematik bereits exmanent eingebracht und von den jungen Männern kaum aufgegriffen. In der Frage fehlen Versuche einer Initiierung von Erzählungen oder Beschreibungen (Vgl. dazu: „Reflexive Prinzipien der Initiierung und Leitung von Gruppendiskussionen“; Kap. 11.1 in: Bohnsack 2000a). UT: 02–28 Schwierigkeiten bei der Familiengründung UUT: 02–11
Eine Familiengründung ist schön, aber nicht einfach, und die Zeit dafür muss „gekommen sein“
02–11
Proposition durch Bm und Elaboration der Proposition in Interaktion mit Am
02–05
Impliziert ist hier ein Entwicklungsmodell, und zwar ein Modell kollektiver („unsere Zeit“; 02) Entwicklung. Bm hat also Vorstellungen über die weitere Entwicklung. Diese sind aber noch sehr unbestimmt und nicht (allein) durch seine Planung bestimmbar, sondern eher schicksalhaft. Deshalb kann er auch keine genaueren Angaben machen. Am verdeutlicht, dass die Unbestimmtheit nicht mit dem Fehlen entsprechender Wünsche oder Entwürfe, sondern nur mit Enaktierungsproblemen (d.h. mit Problemen der Realisierung der Entwürfe) zusammenhängt, die nicht in ihrer eigenen Hand liegen: Es ist nicht einfach, die vorhandenen Wünsche, die biographischen Entwürfe, zu realisieren.
07–08
Elaboration der Enaktierungs-, der Realisierungsproblematik, durch Bm: „Ich bin sowieso arbeitslos“ heißt: ich bin arbeitslos und deshalb ist es sowieso nicht einfach. Bm nennt einen der Gründe, die eine Enaktierung/Realisierung verhindern. Dieser betrifft aber eher die Rahmenbedingungen für eine Familiengründung, nicht die Familie, d.h. die sozialen Beziehungen selbst.
09
Steigerung der Problematik durch Am: Es ist nicht nur aufgrund der äußeren Rahmenbedingungen unklar, wann die Zeit dafür gekommen ist, sondern auch deshalb,
316
weil für die jungen Männer nicht geklärt ist, was überhaupt unter Familie zu verstehen ist. Fortführung der Proposition durch Bm im Modus einer globalen Erzählung: Bm hätte „schon die Möglichkeit gehabt“. Nach all dem bisher Ausgeführten bedeutet dies wohl, dass die jungen Frauen bereit gewesen wären. Die Familie oder Ehe scheiterte also nicht an der Attraktivität von Bm, sondern an anderen, offensichtlich an den bereits erwähnten Problemen. Zugleich verweist Bm somit darauf, dass er sich nicht leichtfertig auf eine Beziehung einlässt, sondern dass er sich in verantwortungsbewusster Weise Gedanken über seine biographischen Möglichkeiten gemacht hat.
10–11
UUT: 12–28
Man muss „die Richtige“ finden
12–28
Elaboration der Proposition durch Am
12–16
Am arbeitet nun die von ihm (in 04–05 u. 09) eingebrachte Komponente der Proposition weiter aus: Es ist deshalb nicht so einfach, eine Familie zu haben bzw. mit einer Frau zusammenzuleben, weil man die „Richtige“ finden muss (damit ist vor allem – wenn wir den Bezug zu 09 herstellen – eine Frau gemeint, mit der man sich darüber einig ist, was ‚Familie‘ überhaupt heißt, was eine Familie überhaupt sein soll). Somit geht Am hier genauer auf den Hintergrund seiner Proposition in Zeile 09 ein. In der Gleichsetzung von „Familie-Haben“, „Heiraten“ und „Zusammenleben“ bzw. in der Gleich-Gültigkeit dieser Alternativen ist impliziert, dass hier eine Bindung an traditionale Vorgaben nicht gegeben ist. Impliziert ist also eine gewisse Offenheit gegenüber der Art der Beziehung bzw. der Art der Familie. (Am geht somit über den durch die Fragen von Y1 gesetzten Rahmen, der auf die Familie eingegrenzt war, hinaus).
20–27
Steigerung der Problematik der eigenen Lage (gegenüber 12): Derzeit können sie die Richtige nicht finden - Wie Bm in 10–11 betont nun auch Am, dass dies nicht an seiner mangelnden Attraktivität liegt.
317
-
-
-
Die Forderung eines wechselseitigen Füreinander-da-Seins (25–26) wie auch diejenige nach der perfekten Beziehung implizieren (vor dem Hintergrund der Offenheit gegenüber der Art der Beziehung) nicht eine Orientierung an traditionalen Rollenvorgaben, sondern die Orientierung an einer offenen, aushandelbaren Beziehung. In den langen Pausen (15, 16, 23, 29), in die Bm nicht einsteigt, die er also mitträgt, kommt performatorisch das zum Ausdruck, was in 02–03, 05 u. 15–16 explizit gemacht wird: dass sie es nicht so genau wissen, nicht so genau sagen können, dass sie ratlos sind und dass es nicht so einfach ist. Zugleich dokumentiert sich in 28 wie auch in den Bestätigung heischenden angehängten Fragen, den „questiontags“ (05, 09, 16, 22–23, 26), dass Am antizipiert, dass seine Haltung nicht so ohne Weiteres verständlich ist. Da Y1 hierauf reagiert (mit Ausnahme von 09), scheint dies auch an ihn adressiert zu sein. (Es zeigt sich, dass der Diskurs zwischen Forschern und Erforschten in diesem Stadium der Passage noch relativ dominant ist; dies ändert sich später). Am antizipiert/vermutet hier aber eine Fremdheit nicht nur – wie die Zeile 28 zeigt – gegenüber den deutschen Interviewern, sondern auch gegenüber den ihm bekannten Gleichaltrigen. Dies verweist auf milieuspezifische Differenzierungen (die durch die komparative Analyse mit anderen Gruppen dann überprüft werden können).
UT: 30–131 Die Heirat nach „eigener Art“ versus „Vermittlung“ UUT: 30–51
Das Heiraten nach „eigener Art“ versus „Anpassung an die Kultur“ (41–42)
30–51
Antithetischer Diskurs zwischen Am und Bm: Proposition durch Am, Antithese durch Bm
30, 33 35–36 u. 39–40
Proposition durch Am im Modus einer Orientierungstheorie Elaboration der Proposition im Modus einer abstrahierenden Beschreibung durch Am Am heiratet nach „seiner Art und seine Mutter kann ihm da nicht hineinreden“: Die Mutter kann ihm nichts sagen bzw. das, was die Mutter sagt, kann ihm nichts sagen.
318
31–32 u. 34 Antithese durch Bm im Modus einer Frage 37–38 41–42
Elaboration der Antithese durch Bm im Modus einer Orientierungstheorie
43
Antithese durch Am zur Antithese (von Bm) durch Am im Modus einer Frage
44–51
Fortführung der Antithese durch Bm im Modus einer Orientierungstheorie bzw. einer Theorie über das (eigene) Selbst: Antithetisch gegenübergestellt werden hier: „nach meiner Art“ (Am in 30) sowie: „Ich lebe, wie ich das richtig finde“ (Am in 35–36) versus: „Anpassung an die Kultur“ durch Bm (42). Nur die „Anpassung an die Kultur“, d.h. an die Herkunftskultur, ermöglicht die Beantwortung der Frage: „Wat du bist und wer Du bist“ (49 u. 51 sowie 46), also die Beantwortung der Frage nach der eigenen Identität. Man kann an dieser Stelle versuchen, die hier implizierten Identitätsbegriffe metatheoretisch genauer zu fassen: In der Begrifflichkeit von Goffman formuliert, findet sich bei Bm die Tendenz, die Frage ‚wer er ist‘ im Modus der sozialen (der zugeschriebenen) Identität zu beantworten („der Kultur anpassen“; 42), wohingegen Am sich eher an der persönlichen (individuellen) Identität orientiert („nach seiner Art“; 30). Antithetisch gegenübergestellt werden also hier zwei Modi der Identitätsbildung, zwei Modi der Sozialität.
UUT: 52–112
Die Heiratsvermittlung durch die Familie, Verwandtschaft und Bekanntschaft in der Türkei UUUT: 56-62 Die Vermittlung in der Herkunftsregion der Familie
52–62
Anschlussproposition auf dem Wege der Exemplifizierung im Modus von Erzählungen durch Am und Formulierung der Proposition durch Bm (61–62): Am veranschaulicht an zwei Beispielen, wohin es seiner Ansicht nach führt, wenn man sich der Kultur „anpasst“, bzw. macht Am deutlich, welche Art der Anpassung er ablehnt: nämlich diejenige, die auf eine Ehestiftung auf dem Wege einer „Vermittlung“ hinausläuft. 52-56 Exemplifizierung I im Modus der Erzählung:
319
Die Mutter nimmt Bezug auf zwei Verlobungen aus der Verwandtschaft oder ethnischen Community („uns“ verweist auf eine unhinterfragte Wir-Gemeinschaft) und entwirft damit einen negativen Gegenhorizont. Diese Verlobungen haben sich offensichtlich nicht an dem von ihr präferierten Modus der Ehestiftung (wie später deutlich wird: demjenigen der „Vermittlung“) orientiert, bei dem die Partnerin aus der Herkunftsregion der Familie des Partners stammt („von unserer Gegend“). 56-59 Exemplifizierung II im Modus der Erzählung: Ein Bekannter (der offensichtlich aus der türkischen Herkunftsregion von Am stammt) hat versucht, seine einzige Tochter an Am zu vermitteln (ohne allerdings seine Absichten direkt zu benennen). In dem Orientierungsrahmen, wie er in den beiden Exemplifizierungen impliziert ist und von dem Am sich distanziert, kommt zum Ausdruck, dass die Herkunft der Partnerin aus der Region, aus der die Familie stammt, als eine geeignete Basis für die Vermittlung bzw. die Ehe angesehen wird. Die verwandtschaftliche und/oder sozialräumliche Herkunft scheint Garant für die Ehe zu sein (bzw. für eine habituelle Übereinstimmung, wie sie Voraussetzung für die Ehe ist). Somit ist eine durch die soziale Herkunft zugeschriebene soziale Identität Voraussetzung für die Ehe. – Von dieser Orientierung distanziert sich Am. (Möglicherweise kommt aber auch hinzu, dass auf diese Weise eine effektive soziale Kontrolle der ehelichen Beziehung gesichert ist, da sich alle Beteiligten untereinander kennen. In diesem Sinne sind die Angehörigen, die Verwandten und Bekannten aus der „Gegend“ bzw. der „Familienumgebung“ nicht allein für die Ehe, also als Ehepartner/innen, sondern auch als Ehevermittler prädestiniert.) In soziologischer Begrifflichkeit formuliert, distanziert sich Am hier also von einem Modus der Herstellung habitueller Übereinstimmung auf der Basis ‚sozialer Identität‘. 61–62
320
Formulierung der Proposition durch Am: In seiner Formulierung der Proposition bringt Bm zum Ausdruck, dass er Am genau verstanden hat. dass er, indem er sich nicht gegen die Darstellung von Am bzw. gegen die in dieser Darstellung zum Ausdruck ge-
brachte Distanz wendet, die Orientierung von Am validiert und somit einen ersten Schritt zu einer Synthese erbringt. UUUT: 64-112 64–112
Der Vermittlungsversuch durch den Onkel
Weitere Exemplifizierung (III) im Modus einer detaillierten Erzählung durch Am, Validierung und damit Synthese durch Bm (97): Am entfaltet in seiner Erzählung weitere Komponenten des tradierten Orientierungsrahmens der Vermittlung: - das Ziel der Vermittlung wird zwischen Vermittler und Vermitteltem nicht direkt, sondern lediglich indirekt thematisiert: „kennenlernen“ (75). - Am verweigert sich dem Vermittlungsversuch ebenfalls indirekt, schafft damit aber Mehrdeutigkeiten, indem er sich überhaupt darauf einlässt, mit dem Onkel mitzufahren (mit der Begründung, sich lediglich die Stadt ansehen zu wollen: 76). - Aufgrund der nicht eindeutigen Situationsdefinition insistiert der Onkel auf seinem Vermittlungsversuch (93–94). Hier dokumentiert sich, dass die Art, wie Am indirekt seine Ablehnung zum Ausdruck bringt, nicht recht verstanden wird. Auch hierin (wie in der Distanz gegenüber der Vermittlung) zeigt sich, wie weit Am von der Herkunftskultur seiner Eltern entfernt ist.
97
Bm leistet Formulierungshilfe: Er formuliert eine Komponente der Proposition von Am, also eine Rahmenkomponente: „Paranoia“. Bm kennt aus eigener Erfahrung die Situation, in der man plötzlich erkennt, dass man – ohne eigene Absicht – in die Verlaufskurve eines Vermittlungsversuchs verstrickt ist und somit die Gefahr besteht, einen Verfolgungswahn („Paranoia“) zu erleiden. Damit bringt aber auch Bm gegenüber der „Vermittlung“ bzw. gegenüber bestimmten Formen dieser Vermittlung seine Ablehnung bzw. Distanz zum Ausdruck. Bm führt somit eine Synthese fort (Dies ist der zweite Schritt der Synthese. Der erste Schritt erfolgte durch die Formulierungshilfe in 61-62): Die von ihm selbst zunächst gegenüber Am geforderte
321
Bindung oder Anpassung an die Herkunftskultur darf soweit doch nicht gehen. 77–88
Eingelagerter metakommunikativer Disput: Die anderen (zumindest Bm) finden das Desinteresse von Am an der jungen Frau nicht ganz glaubwürdig (Die Äußerungen von Y2 u. Bm erhalten hier auch hinsichtlich des wörtlichen oder immanenten Sinngehalts ihre Signifikanz für den Interpreten erst durch die Reaktion von Am in Zeile 79).
98–107
Fortführung seiner detaillierten Erzählung durch Am im Zuge der Exemplifizierung seiner Proposition: Am legt dar, welche Probleme es mit sich bringt, wenn man sich der Kultur anpasst. Am gerät dabei in ein Dilemma. (Dies findet seinen performatorischen Ausdruck in den Pausen und Abbrüchen in 105 u. 107 und in der Unordnung im Satz in 107.- Das Erlebnis der Verstrickung ist so nachhaltig, dass es bis in die aktuelle Erzählsituation durchschlägt). Die Ablehnung des Vermittlungsversuches ist nicht gelungen. Offensichtlich ist Am nicht in der Lage, dies in einer der Herkunftskultur angemessenen Weise zum Ausdruck zu bringen. Nunmehr kann er sich nur noch durch die Ablehnung der potenziellen Braut aus der Affäre ziehen. Dies birgt die Gefahr der Beleidigung des Onkels (vgl. 102).
107–112
Formulierung der eigenen Proposition durch Am
UUT: 112–131 112–126
322
Die Vermittlung ist wie ein „türkischer Film“ (130)
Weitere Exemplifizierung im Modus der Fortführung der detaillierten Erzählung durch Am in Interaktion mit Bm: Da Am seiner Ablehnung des gesamten Vermittlungsverfahrens nicht in adäquater Weise bzw. entschieden genug Ausdruck verleihen kann, setzen die Dorfbewohner und/oder die Mutter die Vermittlungsversuche fort. Schließlich wird Am nicht nur durch die Vermittler, sondern auch durch potenzielle Ehepartnerinnen verfolgt (vgl. „Paranoia“ 97). Trotz des Verfolgungscharakters hat die Situation ihre Reize: sie ist ebenso antiquiert („nach alter Tradition“; 124) und zugleich romantisch wie das morgendliche Wasserschöpfen. Durch das Interesse der jungen Frauen an Am wird sowohl die Attraktivität seiner Familie wie auch seine ei-
gene bestätigt (vgl. 10–11 u. 21–22: Das Problem ist nicht die mangelnde Attraktivität). Bm kommentiert nun nicht lediglich die Erzählung von Am, sondern beteiligt sich kooperativ an dieser. Hierin dokumentiert sich in formaler Hinsicht ein weiterer Schritt der Synthese. Inhaltlich dokumentiert sich hier, dass beide – jenseits der Differenzen zwischen ihnen – über strukturidentische Erfahrungen verfügen. Es zeigt sich hier nun allmählich eine gemeinsamer, d.h. konjunktiver, Erfahrungsraum, der offensichtlich etwas mit der gemeinsamen Migrationsgeschichte zu tun hat, also ein konjunktiver migrationsspezifischer Erfahrungsraum. 126–131
Konklusion durch Bm in Interaktion mit Am Die Ehevermittlung und der damit verbundene Modus sozialer Beziehungen ist ein tradiertes Orientierungsmuster, welches für die Elterngeneration Bedeutung hatte, für die Jugendlichen selbst aber kaum mehr Realitätsgehalt hat als ein Film: Eine männliche Existenzweise, in der die Stiftung der Ehe und die Familiengründung sich nach den Prinzipien der Vermittlung und auf der Basis von Gemeinsamkeiten der regionalen Herkunft vollzieht, erscheint den Jugendlichen als ein Film, als ein Klischee und als antiquiert, hat aber dennoch ein erhebliches Maß an Attraktivität. (Gerade auch in dieser Konklusion zeigt sich der kollektive Charakter der Orientierungen und Erfahrungen der beiden Beteiligten. Bm und Am verfügen so weitgehend über gemeinsame, genauer: ‚strukturidentische‘ Erfahrungen, dass beide die Erzählung und deren Inszenierung arbeitsteilig gestalten können). Eine Gesprächsanalyse, welche den Diskursverlauf in seiner Dramaturgie und in seiner spezifischen Diskursorganisation – hier in seiner antithetischen Struktur – zu rekonstruieren vermag, gelingt es, komplexe Orientierungsfiguren und Ambivalenzen herauszuarbeiten, wie sie für unseren Alltag charakteristisch sind. Es zeigt sich auf diese Weise, dass die Ambivalenz, die sich im antithetischen Gegeneinander der Redebeiträge dokumentiert, eine kollektiv geteilte, eine den beiden Sprechern gemeinsame ist (Rahmenkongruenz) – auch wenn es oberflächlich so aussieht, als würden die beiden sehr unterschiedliche Orientierungsrahmen (Rahmeninkongruenz) zum Ausdruck bringen.
323
Ralf Bohnsack
„Heidi“: Eine exemplarische Bildinterpretation auf der Basis der dokumentarischen Methode* Am Beispiel einer Werbefotografie werde ich im Folgenden in exemplarischer Weise forschungspraktische Arbeitsschritte einer Bildinterpretation entfalten, die in ihrer Systematik von grundsätzlicher Bedeutung für die Weiterentwicklung von Methoden der Bild- und Fotointerpretation sind. Es handelt sich um die erste forschungspraktische Umsetzung der dokumentarischen Methode im Bereich der Bildinterpretation. Die dokumentarische Methode ist bisher nahezu ausschließlich im Bereich der Interpretation von Texten – wenn auch sehr unterschiedlicher Arten oder Gattungen – angewandt worden.1 Ich trage mit der hier vorgelegten exemplarischen Bildinterpretation der Eigenart des Bildes, der Ikonizität, in grundlegender Weise Rechnung und verstehe mit Max Imdahl (1994, 300) „das Bild als eine solche Vermittlung von Sinn, die durch nichts anderes zu ersetzen ist“. In diesem Rahmen habe ich die dokumentarische Methode vor allem unter Einbeziehung der methodologischen und forschungspraktischen Arbeiten der Kunsthistoriker Panofsky und Imdahl neu diskutiert und weiterentwickelt (die methodologische Diskussion und Begründung dieser Fortentwicklung ist Gegenstand meines anderen Beitrages zur Bildinterpretation in diesem Band). Es ist schon allein deshalb naheliegend, die dokumentarische Methode für die gegenwärtige methodische Diskussion um die Interpretation von Ikonizität fruchtbar zu machen, weil bereits der ursprüngliche Entwurf der dokumentarischen Methode von Mannheim (1964a) u.a. an der Kunstinterpretation orientiert war und sich Panofsky in seinen bahnbrechenden Arbeiten zur Kunstinterpretation (vgl. u.a. 1932) auf die dokumentarische Methode bezogen hatte. Die Werbefotografie, die ich im Folgenden einer intensiven Rekonstruktion unterziehen möchte, wurde im Internet im Rahmen einer dort angebotenen Posterserie der Zigarettenmarke „West“ unter dem Titel „Heidi“ geführt. * 1
Diese Bildinterpretation habe ich meiner Schwester Heidi in der Schweiz zu ihrem „runden“ Geburtstag gewidmet, den sie am 27.08.2001 begangen hat. Inzwischen liegen weitere exemplarische Bildinterpretationen vor: Bohnsack 2003 (Kap. 12.4), 2006d, 2007a (Kap. 12.4) u. 2007b, Nentwig-Gesemann 2006a u. 2007, Nohl 2002. Zur Interpretation von Bild- und Textmaterial im komplexen Zusammenhang (am Beispiel von Tagebuchaufzeichnungen) s. auch Sabisch 2007.
325
Ausgewählt wurde dieses Werbefoto, weil es nicht – wie z.B. die zumindest auf den ersten Blick ästhetisch interessanteren Fotos in Lifestyle-Magazinen – lediglich an eine relativ kleine Zielgruppe adressiert ist. Die Verbreitung der Serie, der dieses Foto entstammt, und insbesondere die Verbreitung speziell dieses Fotos war in den Jahren 2000/2001 im öffentlichen Raum vergleichsweise groß und breit gestreut (ohne dass ich hier allerdings Zahlen kennen würde). In der hier zugrunde gelegten Version (s. dazu die Abbildungen am Ende dieses Beitrages) war das Foto als Plakat an zentralen Plätzen immer mal wieder präsent. Diese Fotografie ist auch in unterschiedlichen Magazinen (z.B. „Spiegel“, „Stern“, aber auch „Titanic“) erschienen – dort allerdings im DIN A4 Hochformat. Die meiner Interpretation zugrundeliegende (Plakat- bzw. Poster-)Version im Querformat umfasst gegenüber der anderen im Hochformat rechts und links zusätzliche Bildgegenständlichkeiten; vor allem ist hier links eine Kuh zu sehen. Die Version im Querformat ist gegenüber hochformatigen am oberen Bildrand nur geringfügig beschnitten. Die beiden grundlegenden Arbeitsschritte der „formulierenden“ und „reflektierenden Interpretation“, die im Bereich der dokumentarischen Textinterpretation vielfach erprobt worden sind und die der methodologischen Leitdifferenz von immanentem und dokumentarischem Sinngehalt entsprechen, sind auch für die Bildinterpretation von methodischer Relevanz – auch wenn sie in ihrer internen Ausdifferenzierung entscheidende Unterschiede zur Textinterpretation aufweisen.
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1. Formulierende Interpretation 1.1 Vorikonographische Ebene
Zum Bildvordergrund: Im Vordergrund des Bildes sind zwei nebeneinander sitzende Personen, links eine Frau und rechts ein Mann, zu sehen, beide im Alter von 30–35 Jahren. Sie befinden sich – wie der Bildhintergrund nahe legt – auf einer Wiese im Hochgebirge, einer Alm also. Links von den beiden Personen steht eine schwarz-weiße Kuh, die – frontal zur Bildebene positioniert – den Bildbetrachter anschaut. Die Frau im Vordergrund sitzt ebenfalls frontal zur Bildebene, schaut jedoch nicht auf den Bildbetrachter, sondern wendet leicht ihren Kopf, stärker aber noch ihren Blick dem (vom Bildbetrachter aus) rechts neben ihr sitzenden Mann zu. Die frontale Haltung der Frau zum Bildbetrachter (bzw. der Bildebene) wird unterstrichen durch ihre Sitzhaltung mit deutlich gespreizten Beinen auf einem Holzschemel oder -stuhl. Von diesem sind nur zwei Beine zu sehen, da über den Schemel und zwischen ihre gespreizten Beine ein rotes Kleid mit weißen Punkten fällt. Die Knie bleiben dabei entblößt. Unter dem roten Kleid, welches an der Brust und in der Taille wie ein Mieder geschnürt ist, schaut ein integriertes weißes Unterkleid sowohl unten als auch oben in Form einer weißen Bluse mit weißen Ärmeln hervor. Die Bluse umrahmt ein sehr offenes Dekolleté.
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Die Bekleidung hat insgesamt den Charakter einer Dirndltracht. Diese ist allerdings kombiniert mit hochrot lackierten spitzen Schuhen mit Pfennigabsätzen (vermutlich: high heels) sowie mit einer goldglänzenden blonden Frisur mit einem Pony, die durch einen relativ hohen und üppigen geflochtenen Kranz (im wahrsten Sinne des Wortes:) gekrönt wird. Dieses Outfit der jungen Frau wird abgerundet durch die stark rot (in der Farbe der Schuhe und des Dirndl-Oberkleides) geschminkten Lippen und einen üppigen Anhänger am linken Ohr (das rechte Ohr ist aufgrund der seitlichen Kopfhaltung nicht zu sehen). Um den Hals trägt die junge Frau eine mehrfach gewundene silberfarbene Halskette, an der eine Art Amulett befestigt ist. Die Frau stützt sich mit dem rechten Arm auf einen verzinkten und ein wenig abgenutzten Blecheimer, den sie seinerseits auf den rechten Oberschenkel stützt. In der linken Hand, die auf das linke Knie gestützt ist, hält sie eine Zigarette. Links vom Eimer und ein wenig im Hintergrund steht eine abgenutzte Milchkanne aus verzinktem Blech. Wiederum links von dieser und noch weiter hinten – im Mittelgrund des Bildes – ist die Kuh positioniert. Der junge Mann sitzt auf einem Findling und ist von der gesamten Körper- und Kopfhaltung wie auch von der Blickrichtung her der Frau zugewandt, die er anlächelt bzw. anstrahlt, so dass eine blendend weiße obere Zahnreihe erkennbar ist. Demgegenüber schaut die junge Frau ihn weniger lächelnd, als vielmehr freundlich und beobachtend an. Zugleich bleibt der junge Mann hinsichtlich der Haltung seines Oberkörpers bzw. der Schultern aber auch (halb) dem Bildbetrachter zugewandt. Der junge Mann mit kurzem Haarschnitt ist mit einem unauffälligen dunkelblauen T-Shirt, einer modischen, aber unauffälligen khakifarbenen Hose mit großen aufgesetzten Taschen (Cargo-Hose) und mit Jogging-Schuhen und weißen Socken bekleidet. In der linken Hand, die auf den linken Oberschenkel gestützt ist, hält er eine rotweiße Zigarettenschachtel mit der Aufschrift „West“. Der rechte Arm ist mit dem Ellenbogen auf den rechten Oberschenkel gestützt, so dass Unterarm und Hand nach oben gerichtet sind. In der nach oben gereckten rechten Hand hält der junge Mann etwa in Mundhöhe eine brennende Zigarette. Die schwarz-weiß gescheckte Kuh links außen im hinteren Teil des Vordergrundes steht – wie gesagt – frontal zum Bildbetrachter, den hinteren Körperteil leicht schräg nach links versetzt – ebenso wie den Kopf, der dadurch eine leicht misstrauisch-beobachtende Haltung einnimmt. Dadurch, dass nur ein Auge zu sehen und dies durch die schwarze Fellfärbung auch kaum erkennbar ist, bleibt auch der ‚Gesichtsausdruck‘ der Kuh unidentifizierbar. Ganz im Vordergrund rechts befindet sich die gleiche rot-weiße Zigarettenschachtel, die auch der junge Mann in der rechten Hand hält. Sie trägt den Aufdruck des Markennamens „West“ sowie über dem Namen „American Blend“ und unter dem Namen „Full Flavour“. Ganz unten steht: „Der Gesundheitsminister: Rauchen gefährdet ihre Gesundheit“. Darüber befindet sich das
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Marken-Logo der Firma West, welches in vergrößerter Form auch oben rechts im Bild neben dem Schriftzug positioniert ist (s. auch Kap. 3). Zum Bildhintergrund: Im vorderen Teil des Bildhintergrundes, also im Mittelgrund, befinden sich rechts – durch den Oberkörper des Mannes weitgehend verdeckte – viereckige längliche Ballen aus gepresstem Stroh. Dahinter nimmt eine nach rechts leicht ansteigende Alm die gesamte Breite des Bildes ein, in die eine von rechts oben kommende und bis ca. zur Bildmitte reichende Gruppe von Tannen hineinragt. Hinter der Alm befindet sich weiterer, nicht klar identifizierbarer Baumbewuchs, dahinter eine bewaldete Bergkuppe und schließlich ganz im Hintergrund ein z.T. verschneites felsiges Gebirgsmassiv. Vordergrund und Hintergrund sind sonnenbeschienen. Die Sonne befindet sich – dem Schattenwurf zufolge – ein wenig rechts hinter dem Rücken des Betrachters.
1.2 Ikonographische Elemente: Common Sense-Typisierungen Methodologische Vorbemerkung: Die ikonographische Ebene soll lediglich insoweit einbezogen werden, als es sich um kommunikativ-generalisierte Wissensbestände handelt (vgl. dazu meinen anderen Beitrag zur Bildinterpretation in diesem Band), also ein Wissen um gesellschaftliche Institutionen und Rollenbeziehungen, nicht aber ein Wissen, welches auf das, was hier zu sehen ist, in je fallspezifischer Weise eingeht, also konjunktive Wissensbestände einbezieht. Wenn letzterer Weg der ikonographischen Interpretation beschritten würde, würde danach gefragt, welche (konkrete) Geschichte das Bild erzählt. Von dem her betrachtet, was der jungen Frau als ‚Zeug‘ zuhanden ist, also dem Handwerkszeug: Melkeimer, Milchkanne und Melkschemel, dem ‚Viehzeug‘, also der Kuh, und auch was – zumindest in Teilen – die Bekleidung anbetrifft, also das Dirndl, ist die junge Frau in der Rolle der Sennerin dargestellt. Dies korrespondiert mit dem Hintergrund, der Hochgebirgswiese oder -weide und mit den Strohballen im Mittelgrund. Der junge Mann ist in neutraler sportlicher Freizeitbekleidung, aber nicht Sportbekleidung, und ohne weiteres ‚Zeug‘, also Instrumente oder Accessoires, abgebildet, die auf spezifische berufliche oder andere Tätigkeiten und Ambitionen verweisen könnten (wie z.B. Bergsteigen oder Joggen). Er ist somit als jemand identifizierbar, der sich ohne weitere Hilfsmittel und Vorbereitungen in die Hochgebirgslandschaft begeben hat, also als typischer Spa-
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ziergänger, der eine Rast einlegt und dabei die Gelegenheit zu einer Plauderei nutzt. Durch die den rechten Vordergrund dominierende Zigarettenschachtel wird die Fotografie bzw. das Poster als Zigarettenwerbung identifizierbar.
2. Reflektierende Interpretation 2.1 Formale Komposition Methodologische Vorbemerkung: Dass die formale und insbesondere die planimetrische Komposition am Anfang der Reflektierenden Interpretation stehen soll, habe ich in meinem anderen Beitrag zur Bildinterpretation in diesem Band begründet. Hier noch einmal ein Zitat von Max Imdahl (1996a, 435) dazu: „Eine solche auf die Planimetrie der Bildkonstruktion achtende Analyse kann prinzipiell von der Wahrnehmung des literarischen oder szenischen Bildinhalts absehen, ja sie ist oft besonders erfolgreich gerade dann, wenn die Kenntnis des dargestellten Sujets sozusagen methodisch verdrängt wird“.
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2.1.1
Planimetrische Komposition
Die Gesamtkomposition des Fotos ist entscheidend geprägt durch mehrere parallele Linien von rechts unten nach links oben, die im Winkel von 15° zur Bildunterkante bzw. Erdlinie verlaufen (s. dazu die anliegende Zeichnung). Die dominante 15°-Linie wird bestimmt durch den linken Unterarm der Sennerin, an dessen Unterkante sie entlangläuft und die durch die Unterkante der linken Hand (in der auch die Zigarettenpackung sich befindet) gestützt wird. Hierdurch gewinnt man den Eindruck, dass sich beide auf dieselbe imaginäre Linie stützen. Es ist diese Linie, durch die auch der scharfe Vordergrund vom unscharfen verschwommenen Hintergrund getrennt wird, wenn wir dieselbe Linie als hinter den Personen und der Kuh verlaufend denken. Darüber hinaus wird durch diese Linie das Bild in eine gleich große obere und untere Partie getrennt.2 Parallel zu dieser dominanten Linie verläuft die Linie, welche die Spitze der Köpfe der beiden Personen miteinander verbindet. Und parallel dazu verläuft auch jene Linie, die durch den Winkel gebildet wird, in dem der junge Mann zur Sennerin ‚aufblickt‘. Dies wird durch die Richtung, in der der junge Mann seine Zigarette hält, noch einmal unterstrichen. Insgesamt ist die Beziehung der beiden Personen kompositionell durch dieses Gefälle entscheidend geprägt. Wenn wir die Spitze des linken Schuhes der Sennerin und 2
Vgl. dazu die Rekonstruktion der dominanten Linie oder Schräge in Max Imdahls Interpretation von Giottos „Die Gefangennahme Jesu“ (Imdahl 1996, 93 ff. u. Abb. 45), durch die das Bild in ähnlicher Weise halbiert wird.
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die Unterkante der Milchkanne links im Bild durch eine Linie verbinden, so erhalten wir eine weitere Parallele zur dominanten Linie. Diese Linie schneidet sich mit dem rechten Schenkel des gleichschenkligen Dreiecks, welches die Sennerin umrahmt, auf der Erdlinie, auf welcher auch die Basis des gleichschenkligen Dreiecks verläuft. Die Linie, welche die Milchkanne mit dem linken Schuh der Sennerin verbindet, würde den unteren Abschluss der Bildkomposition bilden, würde nicht der rechte der beiden hochroten spitzen Schuhe der Sennerin aus der Gesamtkomposition dadurch herausfallen, dass er diese Linie überschreitet und dadurch in besonders auffälliger Weise in den Vordergrund hinein- bzw. aus der Komposition herausragt. Die Sennerin fällt damit im wahrsten Sinne des Wortes partiell aus dem (kompositionellen) Rahmen. Dies verleiht der Haltung und damit dem Habitus der Sennerin eine gewisse Aufdringlichkeit bzw. unterstützt diesen Eindruck. Die Linie der Fußspitzen verläuft waagerecht parallel zur Erdlinie und bildet die Verlängerung der Unterkante der überdimensionalen Zigarettenpackung, die rechts in das Bild hinein- bzw. vor das Bild montiert ist. Parallel hierzu verläuft die Linie, welche die beiden Knie der Sennerin mit der Oberkante der Zigarettenpackung verbindet. Weitere Parallelen hierzu bilden einerseits der Saum des Dekolletés und anderseits die Schultern der Sennerin. Hierdurch formieren sich Sennerin und Zigarettenschachtel zu einem aus der sonstigen Komposition herausgehobenen Ensemble. Damit korrespondiert, dass das Dirndl-Oberkleid, die Schuhe und die Zigarettenschachtel in demselben ‚knalligen‘ Rot erstrahlen und das Bild farblich dominieren. Ebenso wie die junge Frau und die Zigarettenschachtel aus den ästhetischen Grundprinzipien der planimetrischen Komposition herausfallen, ‚beißt‘ sich aufgrund dieses ganz starken Komplementärfarbenkontrasts das Rot in ästhetischer Hinsicht mit der sonstigen Farbgebung, insbesondere mit dem Grün der Alm. Andererseits ist die Sennerin aber durch die dominanten 15°-Linien wiederum in die dominante planimetrische Komposition integriert. Und dies in besonderer Weise noch einmal dadurch, dass auch der Bildhintergrund durch diese Linien kompositorisch dominiert ist. Die Landschaft im Hintergrund ist entscheidend durch ein 15°-Gefälle geprägt, da die Alm in entgegengesetzter Richtung zum Vordergrund, also von links unten nach rechts oben in eben diesem Winkel ansteigt und somit sozusagen eine ausgleichende Konterkarierung zum Gefälle des Vordergrundes leistet. Auch die beiden Hänge des nächstgelegenen, dunkelgrün bewaldeten Berges im Hintergrund weisen einen Winkel von 15 Grad auf, von rechts oben nach links unten und umgekehrt. Hierdurch wird dieses Kompositionsprinzip bestätigt und gestützt und die beiden gegenläufigen Linien werden zugleich integriert. Suchen wir den Schnittpunkt der dominanten von rechts unten nach links oben laufenden 15°-Linie mit einer der hervortretenden in entgegengesetzter
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Richtung laufenden 15°-Linien, so befindet sich dieser exakt am Nabel der jungen Frau. 2.1.2
Szenische Choreographie
Die Sennerin ist also genau im Zentrum der dominanten planimetrischen Komposition platziert. Zugleich bildet sie aber (zusammen mit der Zigarettenschachtel) auch ein aus dieser Komposition herausgehobenes Ensemble. Sie sitzt damit wie auf einer Bühne oder besser noch: wie auf einem Thron. Dies korrespondiert damit, dass sie von dem jungen Mann gleichsam wie eine Sehenswürdigkeit bestaunt wird: Er blickt, wie dargelegt, zu ihr auf und strahlt sie dabei an. Er huldigt ihr, während sie ihm eine lediglich freundlichbeobachtende Aufmerksamkeit gewährt. Diese distanzierte Mimik wird durch ihre sehr aufrechte Haltung des Oberkörpers unterstrichen. Lediglich der Blick, nicht aber der Oberkörper ist dem jungen Mann zugewandt.3 2.1.3
Perspektivische Projektion
Die Horizontlinie, also die Linie, die durch die Augenhöhe des KameraBetrachters bestimmt ist, verläuft in etwa dort, wo der dunkle (Wiesen-) Vordergrund und der helle (Wiesen-)Hintergrund voneinander getrennt sind, also etwa in Höhe der oberen Kante des oberen Strohballens, genauer: ein wenig darunter. Die Horizontlinie teilt das obere Drittel des Bildes von den unteren beiden Dritteln ab. Die perspektivische Wirkung des Hintergrundes wird im Wesentlichen ‚atmosphärisch‘ dadurch erreicht, dass mit zunehmender Entfernung der Objekte deren Farbgebung kälter ist – vom saftigen Grün und Rot des Vordergrundes bis hin zu Blau und Blaugrau. Im Vordergrund haben wir es, da die abgebildeten Objekte, die Modelle bzw. Figuren (der junge Mann, die Kuh, der Findling und die Strohballen) überwiegend schräg zur Bildebene stehen, mit der ‚Schrägperspektive‘ zu tun. In diesem Fall haben wir zwei Fluchtpunkte, von denen der eine, der linke, sich direkt neben dem linken Bildrand, der zweite, der rechte, weiter außerhalb neben dem rechten Bildrand befindet. Es wird deutlich, dass die Sennerin auf der einen Seite wiederum aus der perspektivischen Projektion herausfällt, da ihre Körperausrichtung insgesamt nicht in die Schrägperspektive integriert ist. Auf der anderen Seite steht ihr rechter Fuß auf der Verlängerung der Fluchtlinie, auf der auch die rechten Beine der Kuh positioniert
3
Bei Bildern, deren Sujet wesentlich durch eine soziale Szenerie bestimmt ist, gehen die Rekonstruktionen der planimetrischen Komposition und diejenigen der szenischen Choreographie direkt ineinander über.
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sind, und ihr linker Fuß auf der Verlängerung der Fluchtlinie der linken Beine der Kuh.
2.2 Ikonische Interpretation Die herausgehobene Position der Sennerin wird also vor allem durch ihre Doppelstellung, d.h. durch einen ästhetischen Bruch sowohl hinsichtlich der perspektivischen Projektion als auch – und vor allem – hinsichtlich der planimetrischen Position hergestellt: Sie befindet sich im Zentrum der dominanten Planimetrie und wird zugleich aus ihr herausgehoben. Diese Doppelstellung – im Sinne ihres zugleich Integriert- wie Heraus- oder Hervorgehobenseins – wird aber auch, wie dargelegt, durch die Farbgebung unterstrichen. Die Sennerin befindet sich zugleich in zwei Dimensionen oder Welten. Mit diesem Bruch in der formalen Komposition korrespondiert ein ästhetischer Bruch bzw. eine Dissonanz auf der Ebene kommunikativ-generalisierter Stile, also auf der ikonographischen Ebene. Durch das, was der jungen Frau an Zeug zuhanden ist, d.h. durch die Accessoires und Werkzeuge (Melkeimer, Milchkanne und Melkschemel), die sie benutzt, und durch die Kleidung und Frisur, die sie trägt (Dirndltracht und die zum Kranz geflochtene Zopf-Frisur), ist sie in die Arbeits- und Lebenswelt der Alm integriert. Lediglich die Schuhe und möglicherweise der Ohrhänger fallen hier heraus sowie auch das sehr weit geöffnete Dekolleté. Hier könnte aber vielleicht noch eine stimmige Ikonographie dahingehend konstruiert werden, dass die Sennerin ein (dörfliches) Fest kurz verlassen hat, um die allernotwendigsten Arbeiten zu verrichten. Der entscheidende ästhetische Bruch bzw. die Dissonanz liegt aber auf der Ebene des Meta-Stils sozusagen, nämlich darin, wie dieser Kleidungsund Verhaltensstil noch einmal stilisiert wird. Dies betrifft zunächst die Aufdringlichkeit einerseits und Makellosigkeit andererseits, mit der Bekleidung und vor allem Frisur gestylt sind, so dass sie mit der Arbeit auf der Alm kaum in Einklang zu bringen sind. Die zum Kranz geflochtene Zopf-Frisur erscheint durch ihre Höhe und ihren beinahe unwirklichen Goldglanz wie eine Krone. Dies korrespondiert der durch die planimetrische Komposition und die szenische Choreographie herausgehobenen Sitzposition, die, wie erwähnt, der eines Throns entspricht. Dem korrespondiert auch der Schmuck sowie der durchaus ‚charmante‘, aber gleichwohl unnahbare Blick und schließlich die aufrecht-frontale, dem Interaktionspartner nicht zugewandte Haltung des Oberkörpers. Es sind vor allem die direkt körpergebundenen Ausdrucksformen, die Mimik, in erster Linie der Blick und dann die Gestik sowie die Beinstellung, die mit dem Habitus bzw. der sozialen Identität einer Sennerin nicht vereinbar erscheinen. Hier zunächst der Blick: Er ist auf der einen Seite distanziert
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und selbstsicher und somit nicht aufreizend, vielmehr unnahbar. Dies könnte den generalisierten Stilelementen einer Sennerin noch korrespondieren. Auf der anderen Seite dokumentiert sich hier aber auch, dass die junge Frau keine Probleme hat, sich unkonventionell zu verhalten. Vielmehr genießt sie – wie auf einer Bühne ohne jede Bescheidenheit oder Verlegenheit – den Reiz, den die eigene Attraktivität auf das Gegenüber ausübt. Und dies alles, obschon der junge Mann sehr nahe an sie herangerückt ist. Überlagert wird hier eine – zumindest von den stereotypen Erwartungen her – ausgesprochen traditionelle Rolle und Lebenswelt mit einem ausgeprägt unkonventionellem Habitus. Letzterer verrät eine Routine des Sich-zurSchau-Stellens und des distanzierten Umgangs damit, die einer ganz anderen Welt als derjenigen der Berge angehören. Eine vergleichbare Doppelstruktur zeigt sich in der Beinstellung: Die gespreizten Beine, durch die der Schoß sich zum Betrachter hin öffnet, stellen eine – für Frauen – äußerst unkonventionelle oder ‚unschickliche‘ Sitzposition dar. Sie könnte allerdings der Arbeitshaltung geschuldet sein, also der Melkposition, die noch beibehalten wird, nachdem die Kuh bereits entlassen worden ist. Entscheidend ist hier allerdings, wie diese gespreizte Haltung dadurch noch einmal stilisiert wird, dass die junge Frau sich auf den Zehenspitzen abstützt, was auch, aber nicht allein, den Schuhen mit den high-heels geschuldet ist. Hierin dokumentiert sich zum einen eine Ironisierung des Klischées von der heilen Welt der Alm und des an derartigen Klischées orientierten Lebensstils. Weitergehend dokumentiert sich hier aber auch eine Hybridisierung von Stilelementen: Die junge Frau bewegt sich zwischen unterschiedlichen Stilen oder Welten. Sie transzendiert die Welt der Berge und der Alm, der sie hier rollenförmig und von der räumlichen Umwelt zunächst zugeordnet ist und produziert damit Dissonanzen, präsentiert sich in einer ‚schrillen‘ und auch etwas ‚schrägen‘ Weise, bleibt dabei aber durchaus attraktiv; bzw. macht dies überhaupt erst ihre spezifische Attraktivität aus. Es sind offensichtlich solche Menschen – dies scheint eine wesentliche Komponente dieser ‚message‘ zu sein –, die „West“ rauchen. „West“-Raucher/innen verkörpern nicht die heile Welt eines intakten Milieus, sondern sind Grenzgänger/innen zwischen den pluralistischen Stilelementen und haben dabei auch keine Angst vor Dissonanzen, sondern wissen sie produktiv und im Sinne einer attraktiven Selbstpräsentation zu nutzen. Es ist offensichtlich diese Haltung der stilistischen Grenzgängerin und die daraus resultierende spezifische dissonante Attraktivität, die der junge Mann bewundert. Dieser ist nun wiederum durch eine ganz andere – ausgeprägt unauffällige – Stilistik geprägt. Er macht den Eindruck des freundlichen jungen Mannes von nebenan, der an einem schönen Sommertag die Alm besucht. In seinem stilistisch eher unauffälligen ‚Allerwelts‘-Outfit wie auch durch seine Rolle des Besuchers und schließlich durch die von ihm einge-
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nommene Zuschauerhaltung bietet er dem Bildbetrachter oder auch der Bildbetrachterin breite Identifikationsmöglichkeiten. Der junge Mann besucht eine Alm, eine Landschaft, die in besonderer Weise als Stereotyp für eine natürliche und heile (Um-)Welt steht. Er erfährt hier, dass hier nicht mehr diese heile Welt, aber dennoch – oder gerade deshalb – eine auf andere Weise attraktive Welt existiert. Das Foto spielt mit dem Klischee von der heilen Welt. Einerseits wird dies – soweit es die junge Frau bzw. deren Bekleidung oder Accessoires betrifft – durch die bereits skizzierte Meta-Stilisierung hergestellt, zum anderen aber auch durch die verschwommene Unschärfe des Hintergrundes, also der Landschaft und der dadurch erreichten Unvermitteltheit mit oder auch Unwirklichkeit gegenüber dem Vordergrund. Der Vordergrund wirkt wie vor einer Landschaftstapete aufgebaut – und dies entspricht wohl auch der Realität des technischen Herstellungsprozesses, der ‚Kamerahandlung‘. Durch die Mitdarstellung der Herstellung dieses plakativen Bezuges zur schönen heilen Landschaft der Alm wird auch in dieser Hinsicht eine Meta-Stilisierung oder auch Meta-Pose erreicht. Da diese Welt der Alm als natürliche, gesunde oder heile ein Klischee darstellt, fügt es sich auch in die Distanz gegenüber diesem Klischee, wenn hier geraucht wird. Eine solche Distanz berechtigt dazu bzw. fordert es geradezu heraus, auch in der gesunden Luft der Alm zu rauchen. Mehr noch aber fügt sich die Zigarette in die für die Komposition der jungen Frau konstitutive Dissonanz. „West“-Raucher halten nicht nur – wie bereits gesagt – derartige Dissonanzen aus und wissen sie in attraktiver Weise zu nutzen. Sie überwinden somit auch Stereotype und vermitteln zwischen den Milieus. Eine derartige Vermittlung dokumentiert sich auch darin, dass sich zwischen dem jungen Mann, der aus einer anderen Welt auf die Alm aufgestiegen ist, einerseits und der Welt der jungen Frau andererseits auf dem Weg über die gemeinsame Zigarette eine unkomplizierte, wenn auch vorübergehende Gemeinsamkeit herstellen lässt. Trotz dieser erheblichen stilistischen Unterschiede haben beide eines gemeinsam: Sie rauchen „West“. Die Marke steht somit auch in dieser Hinsicht für einen, wenn nicht: den Weg der Vermittlung unterschiedlicher Stile und sozialer Welten wie zugleich für die Ironisierung einer Suche nach dem authentischen Stil. 2.2.1
Theoretischer Exkurs
Um die Differenz von Stilisierung und ‚Pose‘ auf der einen Seite und der Meta-Stilisierung oder ‚Meta-Pose‘ auf der anderen Seite noch einmal zu
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verdeutlichen: Wenn wir uns – in imaginativer Kompositionsvariation4 – vorstellen, dass das gesamte Foto so aufgebaut wäre wie die Figur des jungen Mannes mit der Packung „West“-Zigaretten in der Hand, so hätten wir lediglich jene einfache Stilisierung oder Pose, die für jegliche Art von Bildwerbung charakteristisch ist. Konstitutiv ist für die Pose auch, dass sie durchschaut und – zum Teil auch – ironisiert wird. „Der Posierende posiert im Dienste der zum Kauf angebotenen Ware. Aber die Werbung wirbt mit Posen, die als Posen auch durchschaut werden dürfen. Ein ironisches Verhältnis zu den Posen der Werbung ist zwar nicht unbedingt erwünscht, es bleibt aber erlaubt“ (Imdahl 1995a, 575f.). Dies unterscheidet die Pose in der kommerziellen von derjenigen in der „politischen“ Werbung (wie Imdahl am Beispiel des Nationalsozialismus darlegt): „Dann nämlich soll die in der Pose enthaltene Entindividualisierung des Posierenden oder des in Pose Versetzten keinesfalls durchschaubar sein“ (ebd.). In der kommerziellen Werbung – so wären die Ausführungen von Imdahl zu ergänzen – kommt der mit der stereotypisierenden Pose verbundenen Entindividualisierung eine besondere Bedeutung zu. Diese Stereotypisierung, die Goffman (1979, 327) auch „Hyper-Ritualisierungen“ nennt, und ihre Entindividualisierung haben ihre spezifische Funktion wohl darin, dass – indem die Modelle bzw. die Akteure vor der Kamera lediglich eine soziale Identität und nicht persönliche Identität erhalten – sie einen (stereotypen) life-style zu transportieren vermögen, der durch individuelle oder persönliche Stilelemente nicht getrübt wird. Dies bietet die Möglichkeit, ohne Umwege jene Zielgruppe mit ihrer spezifischen sozialen Identität zu erreichen, die mit dem life-style-Konzept erreicht werden soll, und ihr jenseits der je individuellen und persönlichen Stile die Möglichkeit zur Identifikation zu geben. Im vorliegenden Werbefoto ist diese Stilisierung im Sinne einer HyperRitualisierung oder Stereotypisierung, also die Vermittlung eines life-styles durch die Pose, aber noch einmal gebrochen. Denn hier soll nicht ein lifestyle vermittelt werden, sondern eine Ironisierung von (mit Ansprüchen der Authentizität versehenen) Lebensstilen wie z.B. demjenigen der ‚heilen Welt‘ der Sennerin. In diesem Sinne kommt es zu einer Meta-Stilierung oder MetaPose.
4
Die Kompositionsvariation stellt eines der methodischen Grundprinzipien der dokumentarischen Bildinterpretation dar (vgl. dazu den anderen Beitrag zur Bildinterpretation von mir i. d. Band) und ist als eine Ausprägung der für die dokumentarischen Methode ganz allgemein konstitutiven komparativen Analyse, der Operation mit Vergleichshorizonten, zu verstehen. Die Kompositionsvariation ist umso valider, je mehr die imaginativen Vergleichshorizonte durch empirische ersetzt werden. So könnten hier als Vergleichshorizonte Werbefotos einer anderen Zigarettenmarke (z.B. ‚Marlboro‘) herangezogen werden.
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3. Das Bild- bzw. Markenlogo Oben rechts im Bild befindet sich das Logo, welches in alle Werbefotografien der Marke „West“ montiert ist. Es besteht aus einem Textteil („Test it.“) und rechts daneben einem grafischen Symbol. Das grafische Symbol befindet sich auch auf den Zigarettenschachteln (vgl. dazu die Schachtel rechts unten im Bild). Die Zigarettenschachtel mit dem Schriftzug „West“ lässt sich als Teil des Markenlogos verstehen.
Zum grafischen Symbol des Logos Vorikonographische Interpretation: Das Logo zeigt vorne eine hochgradig stilisierte, aus spitzwinkligen Dreiecken montierte skizzenhafte Figur in Rückenansicht, die mit hocherhobenen, seitwärts gestreckten Armen und ebenso gespreizten Beinen vor einem skizzierten Rahmen posiert. Hinter dem Rahmen und überwiegend auch im Durchblick durch diesen ist dieselbe Figur mit derselben Gestik in Vorderansicht zu sehen, die somit wie ein Spiegelbild erscheint. Allerdings ragt das Spiegelbild mit der Spitze eines Armes über den Rahmen hinaus. Reflektierende bzw. ikonische Interpretation: Indem wir das Logo auf der Basis bzw. im Kontext der eigentlichen Bildinterpretation auf seinen ikonischen bzw. dokumentarischen Sinngehalt hin befragen, finden wir hier einige Homologien zu bereits erarbeiteten zentralen Elementen bzw. Komponenten wieder: -
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Wir haben es beim Logo mit einer Pose zu tun, die als solche, d.h. in ihrer (stereotypisierenden) Stilisierung, durch den übersteigerten Ausdruckscharakter der emporgerissenen Arme noch einmal unterstrichen, in gewisser Weise karikiert wird. Unterstrichen wird der stilisierte Charakter auch durch die skizzenhafte Ausführung der Darstellung. Da die Pose vor einem Spiegel stattfindet, wird sie noch einmal stilisiert, indem sie den Charakter des intendierten Ausdrucks, der Selbstpräsentation, des Darstellerischen erhält, der seinerseits den Charakter der Pose, der Stilisierung unterstreicht, indem er das Gemachte, das Dargestellte der Pose herausstreicht. Zugleich wird, eben weil die Pose vor dem Spiegel stattfindet, dieser Charakter des Gemachten, des Dargestellten, der Stilisierung der Pose selbstreflexiv eingeholt bzw. gebrochen. Darin, dass das Spiegelbild über
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den Rahmen des Spiegels hinausreicht, dokumentiert sich, dass der Spiegel und die mit ihm verbundene Bedeutung der Selbstreflexion hier metaphorischer Art und nicht im Sinne des ‚Wörtlichen‘ oder ‚Tatsächlichen‘ zu verstehen sind. Zum anderen aber und mehr noch dokumentiert sich hierin, dass das „West“-Rauchen bzw. die Aktivitäten, die hier mit dem „West“-Rauchen assoziiert sind, prinzipiell geeignet sind, den Rahmen (des Konventionellen) zu sprengen bzw. zu transzendieren.
Zum Text des Logos Zunächst lässt sich festhalten, dass durch den Text „Test it.“ nicht einfach zum Konsum aufgefordert wird, sondern dazu, sich auf der Grundlage eines Tests erst einmal ein eigenes Bild zu machen. Die Aufforderung zum Konsum bzw. zum Kauf wird also durch einen Appell an die Urteilskraft jedes einzelnen kontextuiert bzw. konterkariert. Damit wird der persuasive Charakter, der der Werbung qua Kontext zugeschrieben ist, in gewisser Weise zurückgenommen. Ein ähnliches bzw. homologes Muster zeigt sich darin, dass selbst diese Aufforderung (im Sinne eines Appells an die Testbereitschaft) noch einmal zurückgenommen wird. Denn da die Äußerung einer Klasse von Sprechakten zuzuordnen ist, die man im Sinne der Sprechakttheorie (vgl. u.a. Habermas 1971) als „Regulativa“ bezeichnen kann (z.B.: befehlen, auffordern, bitten, empfehlen, ermuntern, raten, überreden), wäre hier ein Ausrufungszeichen zu erwarten. Indem stattdessen ein Punkt gesetzt wird, wird der Aufforderungs-/ Empfehlungs-Charakter des Sprechaktes, nämlich sich auf der Grundlage eines Testes ein eigenes Bild zu machen (der ja bereits die Konterkarierung einer Konsumaufforderung, einer Persuasion darstellt), noch einmal durch ein Satzzeichen konterkariert, welches der Äußerung „Test it.“ den Charakter einer schlichten Information bzw. Tatsachenfeststellung (sprechakttheoretisch: „Konstativa“) zu insinuieren sucht. Unterstrichen wird dieser ‚sachliche‘ Charakter durch die vollkommen nüchterne, d.h. schmuck- bzw. schnörkel- und farblose (weiße) Schrifttype. Der Schriftzug ist – analog zu einem Stempel mit amtlichem Dokumentcharakter – auf alle Werbefotografien dieser Serie ‚gedruckt‘. Im Bildtext dokumentiert sich also – wenn wir unsere Interpretation des Logos einbeziehen – ein deutlicher Appell an die (Selbst-)Reflexionsfähigkeit des Betrachters bzw. Konsumenten. Wenn wir weitergehend die oben entfaltete eigentliche Bildinterpretation und ihren dokumentarischen oder ikonischen Sinngehalt mit einbeziehen, ist der Text „Test it.“ dahingehend zu verstehen, dass nicht nur der Geschmack einer Zigarette, sondern auch unkonventionelle Wege einer Vermittlung zwischen unterschiedlichen Welten
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und Milieus ‚getestet‘ werden sollen. Erprobt werden kann hier eine ironische Distanz gegenüber der heilen Welt des intakten Milieus und eine Art Grenzgängerhaltung, eine Orientierung an einem hybridisierenden Umgang mit pluralistischen Stilelementen, ohne Angst vor Dissonanzen und ohne Vorstellungen von Authentizität, die letztlich doch nur in die Irre führen. Vor diesem Hintergrund stellt dann auch – auf einer etwas unmittelbareren und oberflächlicheren Ebene – die heile Welt der Alm mit ihrer gesunden Luft kein Hinderungsgrund mehr dar, in dieser Umgebung zu rauchen – im Gegenteil, sie fordert dies geradezu heraus.
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Richtlinien der Transkription: Talk in Qualitative Research1 Ŋ ŋ (.) (2) nein nein °nee°
Beginn einer Überlappung bzw. direkter Anschluss beim Sprecherwechsel Ende einer Überlappung Pause bis zu einer Sekunde Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert betont laut (in Relation zur üblichen Lautstärke des Sprechers/der Sprecherin) sehr leise (in Relation zur üblichen Lautstärke des Sprechers/der Sprecherin) . stark sinkende Intonation ; schwach sinkende Intonation ? stark steigende Intonation , schwach steigende Intonation vielleiAbbruch eines Wortes oh=nee Wortverschleifung nei::n Dehnung, die Häufigkeit vom : entspricht der Länge der Dehnung (doch) Unsicherheit bei der Transkription, schwer verständliche Äußerungen ( ) unverständliche Äußerungen, die Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der unverständlichen Äußerung ((stöhnt)) Kommentar bzw. Anmerkungen zu parasprachlichen, nicht-verbalen oder gesprächsexternen Ereignissen; die Länge der Klammer entspricht im Falle der Kommentierung parasprachlicher Äußerungen (z.B. Stöhnen) etwa der Dauer der Äußerung. In vereinfachten Versionen des Transkriptionssystems kann auch Lachen auf diese Weise symbolisiert werden. In komplexeren Versionen wird Lachen wie folgt symbolisiert: @nein@ lachend gesprochen @(.)@ kurzes Auflachen @(3)@ 3 Sek. Lachen 1
Wir sprechen hier von der Transkription zu Talk in Qualitative Research (TiQ) im Unterschied zu den Transkriptionssystem MoViQ (Movies and Videos in Qualitative Research). Diesen Regeln wird in den Beiträgen dieses Bandes in unterschiedlichem Maße Rechnung getragen.
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für biographische Interviews zusätzlich: //mhm// Hörersignal des Interviewers, wenn das „mhm“ nicht überlappend ist
Groß- und Kleinschreibung: Hauptwörter werden groß geschrieben, und bei Neuansetzen eines Sprechers/einer Sprecherin am Beginn eines „Häkchens“ wird das erste Wort mit Großbuchstaben begonnen. Nach Satzzeichen wird klein weitergeschrieben, um deutlich zu machen, dass Satzzeichen die Intonation anzeigen und nicht grammatikalisch gesetzt werden.
Zeilennumerierung: Zum Auffinden und Zitieren von Transkriptstellen ist es notwendig, eine durchlaufende Zeilennumerierung zu verwenden. Bei allen Transkripten zu Beginn vermerken: Codename der Gruppe, Name der Passage, wo die Passage auf der Kassette beginnt (bspw.: „1/5“ oder: Zählwerkangabe der verwendeten Geräte – die Zählwerkangaben sind je nach Gerät unterschiedlich), Dauer der Passage (bspw. 10 Minuten), Kürzel für die Personen, die transkribiert und die Transkription korrigiert haben.
Maskierung: Allen Personen einer Gruppendiskussion wird ein Buchstabe zugewiesen. Diesem wird je nach Geschlecht „f“ (für weiblich) oder „m“ (für männlich) hinzugefügt. Die Zuweisung lautet bei einer Diskussion mit 2 Mädchen und 3 Jungen bspw.: Af, Bf, Cm, Dm, Em. Dieser Buchstabe bleibt auch bei allen etwaigen weiteren Erhebungen bzw. bei der teilnehmenden Beobachtung bestehen, bei denen die Person beteiligt ist. Ist eine Person neben der Gruppendiskussion auch an einem biographischen Interview beteiligt, so erhält sie einen erdachten Namen, der mit dem zugewiesenen Buchstaben beginnt (bspw.: Bm, Berthold). Alle Ortsangaben (Straße, Plätze, Bezirke) werden maskiert. Namen, die im Interview genannt werden, werden durch erdachte Namen ersetzt. Dabei versuchen wir, einen Namen aus dem entsprechenden Kulturkreis zu nehmen, bspw. könnte „Mehmet“ zu „Kamil“ werden.
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Autorenangaben
Ralf Bohnsack, Jg. 1948, Dr. rer. soc., Dr. phil. habil., Dipl.-Soziologe, Universitätsprofessor. Leiter des Arbeitsbereichs Qualitative Bildungsforschung, Freie Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Rekonstruktive Sozialforschung, praxeologische Wissenssoziologie, Dokumentarische Methode, Gesprächsanalyse, Bildinterpretation, Evaluationsforschung, Milieuforschung Eva Breitenbach, Jg. 1957, Dr. phil. habil, Professorin für Erziehungswissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe. Arbeitsgebiete: Kindheits- und Jugendforschung, Geschlechterforschung, rekonstruktive Sozialforschung Bettina Fritzsche, Jg. 1968, Dipl. Päd., Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Lernkultur- und Unterrichtsentwicklung an Ganztagsschulen“ am Institut für Erziehungswissenschaft der Technischen Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Bildungs- und Sozialforschung, Geschlechterforschung, Evaluationsforschung Yvonne Gaffer-Schenk, Jg. 1972, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Qualitative Bildungsforschung der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Jugend- und Geschlechterforschung, Familienforschung und Qualitative Forschungsmethoden Brigitte Liebig, Jg. 1959, lic. phil., Dr. phil., Professorin für Angewandte Psychologie, Fachhochschule Nordwestschweiz (CH), Gastprofessorin für interdisziplinäre Gender Studies an der Universität Trier, Arbeitsschwerpunkte: Geschlechterforschung, Organisationssoziologie und -psychologie, Wissenschafts- und Bildungsforschung, interkulturelle Kooperation, Qualitative Sozialforschung Christoph Liell, Jg. 1972, Dipl.-Soziologe, freiberuflich, Arbeitsschwerpunkte: Kultursoziologie, Jugendsoziologie, Gewaltforschung, Handlungstheorien Michael Meuser, Jg. 1952, Dr. phil. habil., Privatdozent für Soziologie an der Universität Bremen, Lehrbeauftragter an der Universität Basel. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie der Geschlechterverhältnisse, Methoden der qualitativen Sozialforschung, politische Soziologie, Wissenssoziologie, Soziologie des Körpers
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Burkard Michel, Jg. 1968, Dipl.-Kommunikationswirt, Dr. phil., Professor für Werbung und Marktkommunikation an der Hochschule der Medien Stuttgart, Arbeitsschwerpunkte: Audiovisuelle Kommunikation, Bildsemiotik, Rezeptionsforschung, Milieutheorie Iris Nentwig-Gesemann, Jg. 1964, Dr. phil., Professorin für Bildung im Kindesalter an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin, Studiengang Erziehung und Bildung im Kindesalter. Vorsitzende des centrums für qualitative evaluations- und sozialforschung (ces). Arbeitsschwerpunkte: Erziehung und Bildung im Kindesalter, qualitative Bildungs- und Sozialforschung, Kindheitsforschung, Evaluationsforschung Arnd-Michael Nohl, Jg. 1968, Dr. phil., Dr. phil. habil., Professor für Erziehungswissenschaft, insbesondere systematische Pädagogik an der HelmutSchmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, Vorstandsmitglied des centrums für qualitative evaluations- und sozialforschung (ces); Arbeitsschwerpunkte: Qualitative Bildungsforschung, Allgemeine und interkulturelle Erziehungswissenschaft, Migrationsforschung, Methodologie rekonstruktiver Sozialforschung Burkhard Schäffer, Jg. 1959, Dr. phil., Dr. phil. habil., Professor für Erwachsenenbildung/Weiterbildung an der Universität der Bundeswehr München; Vorstandsmitglied des centrums für qualitative evaluations- und sozialforschung (ces), Arbeitsschwerpunkte: Medienpädagogik und Erwachsenenbildung, Weiterbildungs- und Medienforschung im Kontext demographischen Wandels, Rekonstruktive Sozialforschung (Gruppendiskussionen, Bild- und Videoanalyse, dokumentarische Methode)
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