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Angela Sommer-Bodenburg: geboren 1948 in Reinbek, Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie, 12 Jahre Grundschullehrerin in Hamburg, lebt in Rancho Santa Fe, Kalifornien, USA. Veröffentlichungen: „Der kleine Vampir“ und „Anton und der kleine Vampir“, 16 Bände, seit 1979; „Sarah bei den Wölfen“, Gedichte, 1979; „Das Biest, das im Regen kam“, 1981; „Ich lieb dich trotzdem immer“, Gedichte, 1982; „Wenn du dich gruseln willst“, 1984; „Die Moorgeister“ 1986; „Coco geht zum Geburtstag“, Bilderbuch, 1986; „Möwen und Wölfe“, Gedichte, 1987; „Julia bei den Lebenslichtern“, Bilderbuch, 1989; „Gerneklein“, Bilderbuch, 1990; „Florians gesammelte Gruselgeschichten“, 1990; „Schokolowski“, vier Bände, seit 1991. Übersetzungen in 21 Sprachen. Verfilmung: 13teilige internationale TV-Serie „Der kleine Vampir“, 1986z87, auch in Belgien, England, Frankreich, Island, Italien, Schweden, Spanien; „Der kleine Vampir 2“ 1992z93; Theaterstück „Der kleine Vampir“, Uraufführung 1988 in Tampere, Finnland. Hörspielkassetten: „Der kleine Vampir“ und „Anton und der kleine Vampir“, seit 1979.
Amelie Glienke: Studium der Malerei und freien Grafik bei Professor Georg Kiefer, Hochschule der Künste in Berlin; arbeitet als Grafikerin, Zeichnerin und (unter dem Namen HOGLI) als Karikaturistin in Berlin und hat zwei Kinder. Sie illustrierte u. a. die „Geschichten ab 3“ von Hanne Schüler (rotfuchs 149, 267, 330, 397, 428); „Hexen hexen“ von Roald Dahl (rotfuchs 587).
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Angela Sommer-Bodenburg
Der kleine Vampir verreist Bilder von Amelie Glienke
Rowohlt
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Lektorat Renate Boldt
297. – 299. Tausend September 1998 Originalausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, März 1982 Copyright 1982 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Umschlaggestaltung Barbara Hanke Umschlagillustration Amelie Glienke rotfuchs-comic Jan P. Schniebel Alle Rechte vorbehalten Satz (Garamond (Linotron 404) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 499 20.297 2
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Dieses Buch ist für alle Freundinnen und Freunde des kleinen Vampirs – und für Katja, die inzwischen lesen gelernt hat (und natürlich am liebsten Vampirgeschichten liest), und für Burghardt Bodenburg, dessen mürbe Zähne schon etwas spitzer geworden sind. Angela Sommer-Bodenburg
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Die Personen dieses Buches Anton liest gern aufregende, schaurige Geschichten. Besonders liebt er Geschichten über Vampire, mit deren Lebensgewohnheiten er sich genau auskennt.
Antons Eltern glauben nicht an Vampire. Antons Vater arbeitet im Büro, seine Mutter ist Lehrerin.
Rüdiger, der kleine Vampir, ist seit mindestens 150 Jahren Vampir. Daß er so klein ist, hat einen einfachen Grund: er ist bereits als Kind Vampir geworden. Seine Freundschaft mit Anton begann, als Anton wieder einmal allein zu Hause war. Da saß der kleine Vampir plötzlich auf der Fensterbank. Anton zitterte vor Angst, aber der kleine Vampir versicherte ihm, er habe schon „gegessen“. Eigentlich hatte sich Anton Vampire viel schrecklicher vorgestellt, und nachdem ihm Rüdiger seine Vorliebe für Vampirgeschichten und seine Furcht vor der Dunkelheit gestanden hatte, fand er ihn richtig sympathisch. Von nun an wurde Antons ziemlich eintöniges Leben sehr aufregend: der 6
kleine Vampir brachte auch für ihn einen Umhang mit, und gemeinsam flogen sie zum Friedhof und zur Gruft Schlotterstein. Bald lernte Anton weitere Mitglieder der Vampirfamilie kennen:
Anna ist Rüdigers kleine Schwester, das jüngste Mitglied der Vampirfamilie. Sie ernährte sich bisher von Milch, weil sie noch keine Vampirzähne hatte – sehr zur Erleichterung Antons, dem es jedesmal kalt über den Rücken läuft, wenn er an die Eßgewohnheiten der Vampire denkt. Jetzt aber scheint Anna Vampirzähne zu bekommen...
Lumpi der Starke, Rüdigers großer Bruder ist ein sehr reizbarer Vampir. Seine mal hoch, mal tief krächzende Stimme zeigt, daß er sich in den Entwicklungsjahren befindet. Schlimm ist nur, daß er aus diesem schwierigen Zustand nie herauskommen wird, weil er in der Pubertät Vampir geworden ist.
Tante Dorothee ist der blutrünstigste Vampir von allen. Ihr nach Sonnenuntergang zu begegnen, kann lebensgefährlich werden.
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Die übrigen Verwandten des kleinen Vampirs lernt Anton nicht persönlich kennen. Er hat aber einmal ihre Särge in der Gruft Schlotterstein gesehen.
Friedhofswärter Geiermeier macht Jagd auf Vampire. Deshalb haben die Vampire ihre Särge in eine unterirdische Gruft verlegt. Bis heute ist es Geiermeier nicht gelungen, das Einstiegsloch zur Gruft zu finden.
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Kartenleser Es war ein milder Frühlingsabend. Die Jasminsträucher dufteten süß, und der Mond tauchte die Häuser der Siedlung in ein weiches silbernes Licht. Gerade rückte der große Zeiger der Rathausuhr auf die Zwölf vor, und die Uhr begann zu schlagen: Eins, zwei... Der kleine Vampir, der in der Krone des Kastanienbaums saß, zählte leise mit: „... sieben, acht, neun.“ Neun Uhr – das war doch sicherlich nicht zu früh, um seinen Freund Anton zu besuchen? Bestimmt waren Antons Eltern wieder ausgegangen, ins Kino oder zu Freunden, wie sie es fast jeden Samstag taten. Glücklicherweise! dachte der kleine Vampir, denn nur so war es möglich gewesen, daß Anton ihn bei vielen seiner nächtlichen Abenteuer hatte begleiten können. Zum Vampirfest beispielsweise, auf dem Anton, als Vampir verkleidet, mit ihm getanzt hatte, damit die anderen Vampire nicht merkten, daß Anton ein Mensch war. Wie ulkig Anton ausgesehen hatte beim Tanzen, als er ein verliebtes Gesicht machen sollte! Der kleine Vampir kicherte. Ihm wurde langsam warm in seiner wollenen Strumpfhose und unter den zwei Umhängen, von denen der eine für Anton bestimmt war. Er beschloß, zu Antons Fenster zu fliegen und anzuklopfen. Die Vorhänge in Antons Zimmer waren zugezogen, aber der kleine Vampir fand einen Spalt, durch den er ins Zimmer spähen konnte. Er sah Anton auf dem Boden sitzen und sich beim Licht der Schreibtischlampe über eine große Karte beugen. Mit seinen langen Fingernägeln pochte der Vampir an die Scheibe und rief, während er die Hände um den Mund legte: „Ich bin’s, Rüdiger!“
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Anton hob den Kopf. Sein Gesicht, das einen Augenblick lang verschreckt ausgesehen hatte, hellte sich auf. Er kam ans Fenster und öffnete es. „Hallo“, sagte er. „Ich dachte schon, es sei Tante Dorothee, die geklopft hätte.“ Der Vampir lachte. „Vor Tante Dorothee brauchst du dich heute nicht zu fürchten. Sie ist zu einem Dorfball geflogen“, sagte er, während er ins Zimmer kletterte. „Zum Tanzen?“ „Bestimmt nicht. Wahrscheinlich lauert sie vor dem Lokal, bis die ersten Gäste nach Hause gehen. Und dann...“ Er stieß ein krächzendes Gelächter aus, und Anton sah seine Eckzähne: scharf und nadelspitz. Wie immer bekam er eine Gänsehaut. „Dabei verträgt sie diese Leute gar nicht“, fuhr der Vampir vergnügt fort. „Beim letztenmal hatten sie soviel getrunken, daß Tante Dorothee zwei Nächte lang mit einer Alkoholvergiftung im Sarg lag.“ „Iieeh“, sagte Anton leise. Am liebsten wurde er überhaupt nicht daran erinnert, daß sich Vampire – und damit auch sein bester Freund – von Blut ernährten. Zum Glück war Rüdiger immer schon satt, wenn er zu ihm kam. Der kleine Vampir wies auf die Landkarte. „Schularbeiten?“ „Nein“, sagte Anton finster. „Heute nachmittag mußte ich mir mit meinen Eltern einen Bauernhof angucken. Hier, in diesem verlassenen Nest!“ Er zeigte einen Punkt auf der Karte, und der Vampir beugte sich vor, um den Ortsnamen zu lesen: „Klein-Oldenbüttel.“ „Ja, so heißt das Kaff“, sagte Anton. „Da wollen meine Eltern eine Woche Urlaub auf dem Bauernhof machen!“ „Allein?“ „Ich muß natürlich mit. Um mal richtig auszuspannen, wie mein Vater sich ausdrückt. Fern vom Großstadtlärm, gute Landluft atmen, Spazierengehen –“ Bei den letzten Worten
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hatte seine Stimme so wütend geklungen, daß der kleine Vampir lachen mußte. „So schlimm wird es schon nicht werden“, meinte er. „Hast du eine Ahnung!“ rief Anton, und sein Gesicht lief rot an vor Ärger. „Weit und breit nur Rindviecher, gackernde Hühner und wiehernde Pferde! Nichts kann man da machen!“ „Vielleicht reiten?“ „Pah, reiten! Auf diesen Ackergäulen!“ „Oder auf dem Traktor mitfahren.“ „Langweilig! Ich möchte irgendwo Urlaub machen, wo man wirklich was erleben kann. Aber in Klein-Oldenbüttel –“ Aufgebracht fuhr er mit dem Finger über die Karte. „Hör dir bloß an, wie die Nachbardörfer heißen: Groß-Oldenbüttel, Totenbüttel, Alt-Motten, Neu-Motten. Was kann in solchen Nestern schon los sein?“ Ihm kamen die Tränen, und rasch wischte er sich mit der Hand über die Augen, damit der kleine Vampir es nicht merkte. Da planten seine Eltern eine Woche Urlaub und fragten ihn nicht einmal! Suchten sich einen Bauernhof in einer trostlosen Gegend aus und erwarteten auch noch, daß er sich darüber freute! Ah, er hätte schon gewußt, wohin man fahren könnte! In einen echten Kurort zum Beispiel, wo es ein Schwimmbad gab, jede Menge Restaurants, Kinos, Discos! Aber an ihn und seine Bedürfnisse dachten sie zuletzt! „Ich könnte es mir ganz nett vorstellen“, meinte der Vampir. „Ich aber nicht!“ sagte Anton unwirsch. Dann stutzte er. Ihm war eine Idee gekommen. „Könntest du das wirklich?“ fragte er. „Na ja. Die Ortsnamen klingen vielversprechend – als ob es dort Vampire gäbe! Vielleicht lernst du ein paar kennen, wenn du nach Einbruch der Dunkelheit über den Friedhof von Totenbüttel gehst!“
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„Ich?“ sagte Anton hintergründig, und grinsend fügte er hinzu: „Wir!“ Der Vampir machte ein verständnisloses Gesicht. „Wieso wir?“ „Ganz einfach!“ sagte Anton. „Du kommst mit! Mit dir zusammen wird es der aufregendste Urlaub meines Lebens!“ „Aber –“ Dem Vampir hatte es die Sprache verschlagen. „Hast du nicht gesagt, du könntest es dir ganz nett vorstellen?“ rief Anton. „Für dich, meinte ich.“ „Was für mich gut ist, ist auch für dich gut. Oder sind wir keine Freunde?“ „Doch –“ „Und hab ich dir nicht geholfen, als du Gruftverbot hattest und mit deinem Sarg auf der Straße standest? Hab ich dich etwa nicht bei mir im Keller versteckt?“ „Doch –“ „Siehst du. Und jetzt kannst du einmal etwas für mich tun!“ Der Vampir wandte sich ab und begann an den Nägeln zu kauen. „Das kommt mir alles zu plötzlich“, murmelte er kläglich. „Wir Vampire lieben keine überstürzten Entschlüsse!“ „Wer spricht denn davon?“ rief Anton. „Meine Eltern fahren erst am nächsten Sonntag. Da haben wir Zeit genug, alles in Ruhe zu überlegen. Wie wir deinen Sarg nach KleinOldenbüttel kriegen, zum Beispiel.“ Der Vampir zuckte zusammen. „Und wenn er unterwegs verloren geht?“ schrie er auf. „Dann bin ich vernichtet!“ „Eben. Deshalb müssen wir alles genau planen. Wir könnten vielleicht –“ In diesem Augenblick hörten sie Stimmen an der Wohnungstür. „Meine Eltern!“ rief Anton erschrocken. „So früh kommen sie sonst nie zurück.“ 12
Mit einem Satz war der Vampir aufs Fensterbrett gesprungen, wo er seinen Umhang ausbreitete. „Komm morgen abend wieder!“ rief Anton ihm nach. „Dann besprechen wir alles Weitere.“
Schwache Nerven Anton schloß das Fenster, zog die Vorhänge zu und begann die Landkarte zusammenzulegen. Gleich würde seine Mutter anklopfen, weil sie das Licht unter seiner Tür gesehen hatte. „Anton, bist du noch wach?“ fragte sie jetzt und pochte gegen die Tür. „Hm“, brummte er. Sie kam herein und sah ihn überrascht an. „Du hast dich noch nicht ausgezogen?“ „Nein.“ „Und eine stickige Luft ist hier wieder...“ Mit schnellen Schritten ging sie zum Fenster und machte es weit auf. „Vor dem Schlafengehen mußt du immer lüften, Anton. Verbrauchte Luft ist ungesund!“ „Jaja“, sagte Anton und kicherte in sich hinein. Schließlich konnte sie nicht wissen, daß es Rüdigers besondere Duftnote war, die sie gerochen hatte. „Warum seid ihr eigentlich so früh wiedergekommen?“ fragte er. „Du hast wohl noch etwas vorgehabt?“ „Nein. Ich wollte nur...“ „... ein bißchen fernsehen, nicht wahr?“ „Ich? Fernsehen? Die Landkarte hab ich mir angeguckt!“ Da es ihm ohnehin nicht gelang, sie richtig zu falten, breitete er sie wieder auf dem Boden aus. 13
„Ich wollte wissen, was in der näheren Umgebung von Klein-Oldenbüttel los ist.“ „Und was hast du herausgefunden?“ „Totenbüttel – das hört sich ganz interessant an. Vielleicht gibt es dort – Vampire?“ „Vampire, Vampire!“ Auf einmal klang die Stimme der Mutter verärgert. „Du hast wohl überhaupt nichts anderes im Kopf! Das kommt nur von den Vampirgeschichten, die du immer liest!“ Sie ging ans Bücherregal und nahm Antons Lieblingsbücher heraus. „Dracula – Draculas Rache – Vampire. Die zwölf schrecklichsten Geschichten – Im Haus des Grafen Dracula – Gelächter aus der Gruft –“ Nacheinander ließ sie die Bücher aufs Bett fallen. „Wenn ich nur die Titel lese, läuft es mir schon kalt über den Rücken.“ Jedesmal wenn ein Buch auf dem Bett landete, fuhr Anton schmerzlich zusammen. Er sagte jedoch nichts dazu, um seine Mutter nicht noch mehr zu reizen, sonst nahm sie ihm die Bücher vielleicht weg. „Du hast eben schwache Nerven“, meinte er nur, während er die Bücher aufhob und sie sorgfältig ins Regal zurückstellte. „Du etwa nicht? Wenn du hören könntest, wie du manchmal im Schlaf stöhnst und schreist!“ „Dann träum ich von der Schule.“ „Soso. Habt ihr denn eine Dorothee in der Schule?“ „Dorothee?“ Anton erbleichte. „Letzte Nacht hast du gerufen: ‹Tante Dorothee, bitte, beiß mich nicht!› Kannst du mir das erklären?“ „Also das –“ er suchte mühsam nach Worten – „das ist die Aushilfsputzfrau. Die – hat so spitze Zähne. Und neulich, da hab ich meinen Turnbeutel in der Klasse vergessen und bin noch mal reingegangen, und da... da hat sie mich so angeguckt mit ihren spitzen Zähnen...“ 14
Er war richtig ins Schwitzen gekommen bei seiner Erzählung. Doch seine Mutter lächelte nur ungläubig. „Wie ich dich kenne, würdest du wegen eines vergessenen Turnbeutels keinen Finger rühren.“ „Es war Geld drin“, sagte er schnell. Daß seine Mutter ihm jedesmal auf die Schliche kommen mußte! Die tollsten Sachen konnte er sich ausdenken, doch sie durchschaute ihn trotzdem. Da half nur eins: die Wahrheit sagen. „Also gut.“ Er holte tief Luft. „Tante Dorothee ist die Tante von Rüdiger, dem kleinen Vampir, von Anna der Zahnlosen und von Lumpi dem Starken. Außerdem ist sie der gefährlichste Vampir der Familie von Schlotterstein.“ Einen Moment lang war die Mutter zu verblüfft, um antworten zu können. Dann begannen ihre Augen zu funkeln, und sie rief: „Diese ewigen Vampirgeschichten kann ich nicht mehr ertragen!“ „Vati offenbar schon“, meinte Anton. „Wieso?“ Anton deutete mit einem Kopfnicken auf die angelehnte Tür. „Gerade hat er den Fernseher eingeschaltet. Es läuft nämlich ein Vampirfilm: Dracula, der einsame Wanderer.“ Schwach drang der Fernsehton zu ihnen herüber. „Du weißt aber verdächtig gut Bescheid“, sagte die Mutter. Er merkte, wie er rot wurde. Natürlich konnte er nicht zugeben, daß er sich schon den ganzen Abend auf den Film gefreut hatte. „Dann stimmt es doch.“ „Was?“ „Daß du fernsehen wolltest. Und wenn wir nicht so früh gekommen wären –“ „Aber Mutti!“ entrüstete sich Anton.
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„Doch, doch“, sagte die Mutter. „Nur diesmal wird nichts draus, weil du dich jetzt ausziehen und ins Bett gehen wirst.“ „Ja“, brummte Anton und versuchte, ein zerknirschtes Gesicht zu machen. Dabei mußte er sich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen: seine Mutter hatte offensichtlich vergessen, daß er einen eigenen Fernseher in seinem Zimmer hatte!
Schlechte Bücher Beim Frühstück am nächsten Morgen sagte sein Vater: „Und du hast also doch Lust bekommen, auf den Bauernhof zu fahren?“ „Hm“, murmelte Anton unbestimmt. „Ich konnte es mir auch gar nicht anders vorstellen“, erklärte der Vater. Er schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und schwärmte: „Der Traum jedes Großstadtjungen: auf Bäume klettern, Baumhäuser bauen, Schnitzeljagden machen, Nachtwanderungen –“ Anton sah überrascht von seinem Teller auf. „Machen wir denn so was? Ich dachte, ihr wolltet nur Spazierengehen?“ Die Eltern wechselten einen Blick. „Hauptsächlich wollten wir natürlich Spazierengehen“, sagte der Vater dann. „Wir möchten uns ja erholen. Und Schnitzeljagden sind vielleicht etwas zu anstrengend für uns.“ Als er Antons enttäuschtes Gesicht sah, fügte er schnell hinzu: „Aber auf dem Bauernhof gibt es genug Abwechslung für dich. Du kannst beim Füttern helfen, mit dem Bauern aufs Feld fahren. Und dann sind da noch die Kinder der Familie. Ist der Junge nicht genauso alt wie du?“ „Anton ist ein Jahr jünger“, sagte die Mutter. „Ach, der“, meinte Anton und machte eine abwinkende Handbewegung. „Der interessiert sich nur für Ritter. 16
Fünfhundert Stück hat er in seinem Zimmer, hat er mir erzählt.“ Der Vater lachte. „Dann paßt ihr doch gut zusammen. Er hat seine Ritter, du hast deine Vampire!“ Anton schnappte nach Luft. Das war ja ungeheuerlich, Ritter mit Vampiren gleichzusetzen! „Ritter sind schon vor Jahrhunderten ausgestorben!“ rief er. „Rittertum ist finsterstes Mittelalter!“ „Aber Vampire, die gibt es noch?“ fragte die Mutter bissig. Anton beugte sich rasch über seinen Teller. „Natürlich nicht“, sagte er mit mühsam unterdrücktem Lachen. „Vampire kommen nur in Büchern vor. – In schlechten Büchern“, ergänzte er. „Oder?“ Wie verreisten Vampire? Darüber zerbrach sich Anton den ganzen Sonntag lang den Kopf. Doch statt einer Lösung fielen ihm immer nur neue Schwierigkeiten ein. Das Problem begann damit, daß Vampire stets in ihrem eigenen Sarg schlafen mußten. Sie konnten also nur verreisen, wenn sie ihren Sarg mitnahmen. Aber wie? In einen Koffer paßte er nicht. Sich den Sarg während des Fliegens unter den Arm klemmen konnte der Vampir auch nicht. Und wenn man ihn im Gepäckwagen beförderte? überlegte Anton. Er hatte schon des öfteren in der Zeitung gelesen, daß Leute, die unterwegs starben, im Sarg in ihre Heimatstadt zurückgebracht wurden. Nur, würden die Bahnbeamten nicht mißtrauisch werden, wenn er, Anton, einen Sarg als Gepäckstück aufgeben wollte? Er seufzte. Wenn er wenigstens jemanden hätte, mit dem er darüber reden könnte! Aber vor seinen Eltern mußte er alles geheimhalten, und der kleine Vampir wollte nicht mit Problemen behelligt werden.
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Antons Blick fiel auf seine Bücher: Gab es denn keine Geschichte, in der ein Vampir eine Reise machen wollte und aus der er lernen konnte, wie er es anstellen mußte? Doch: ‹Dracula› – das Buch von Bram Stoker! Graf Dracula wollte darin von seinem Schloß in Transsylvanien nach England übersiedeln! Aufgeregt nahm Anton das Buch aus dem Regal. Es war schon ein paar Monate her, daß er es gelesen hatte, und er konnte sich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern. Aber er wußte noch, daß fünfzig große Kisten eine wichtige Rolle bei den Reisevorbereitungen des Grafen spielten. Das Buch begann mit den Tagebuchaufzeichnungen des Jonathan Harker, eines Rechtsanwalts aus England, den Dracula zu sich auf sein Schloß gelockt hatte. „30. Juni, morgens –“ las Anton, „die große Kiste stand noch auf demselben Platze, dicht an der Mauer; der Deckel lag schon darauf, war aber noch nicht festgemacht; die Nägel staken im Holze und brauchten nur mehr eingeschlagen zu werden... Ich hob den Deckel ab und lehnte ihn an die Wand... Da lag der Graf, aber es sah aus, als sei seine Jugend wieder zurückgekehrt... der Mund war röter als je, denn auf den Lippen standen Tropfen frischen Blutes... Während ich dies schreibe, ist unten im Durchgang der Lärm stampfender Füße hörbar und das Poltern schwerer Lasten, offenbar der erdgefüllten Kisten. Man hört etwas hämmern, es ist die Kiste, die zugenagelt wird...“ Die Kiste – das war Draculas Sarg. Doch wozu brauchte er die anderen Kisten? Damit er nicht so leicht gefunden werden konnte? Bei nur einer Kiste könnte es leicht geschehen, daß jemand sie öffnete, aber bei fünfzig... Keine schlechte Idee, dachte Anton bewundernd. Leider kam sie für ihn und Rüdiger nicht in Betracht, denn sie hatten weder Kutschen, um die Kisten zu befördern, noch wollten sie eine Schiffsreise machen. 18
Draußen dämmerte es bereits. Antons Vater kam und brachte einen Teller mit belegten Broten und ein Glas Milch. „Mutti meint, es sei Zeit zum Schlafengehen für dich“, sagte er und stellte den Teller neben Anton aufs Bett. Neugierig beugte er sich vor und versuchte, den Buchtitel zu lesen. „Vampirgeschichten?“ fragte er. „Ich hab ein Problem zu lösen“, erklärte Anton hoheitsvoll und klappte das Buch zu. Er legte es mit der Rückseite nach oben auf sein Kopfkissen und nahm sich ein Käsebrot. „Vielleicht kannst du mir helfen“, sagte er. „Ich?“ „Du arbeitest doch bei einer Versandfirma.“ „Ja –“ „Da habt ihr doch öfter was zu verschicken.“ Der Vater lachte. „Allerdings.“ „Ich hab einen Freund“, sagte Anton, „der möchte etwas verschicken.“ „So? Was denn?“ „Eine Kiste. Ungefähr so lang.“ Anton breitete die Arme aus. „Vielleicht auch noch etwas länger.“ „Ziemlich sperrig, wie?“ meinte der Vater. Er schien Antons Frage nicht besonders ernst zu nehmen. „Was hat er denn in seiner Kiste, dein Freund? Perlen? Gold? Edelsteine?“ Wütend biß Anton die Lippen zusammen. „Ich dachte, du wolltest mir helfen.“ „Will ich doch! Aber schließlich muß ich wissen, um was für einen Transport es sich handelt.“ Und mit einem Blick auf Antons Buch fügte er hinzu: „Es könnte ja auch ein Vampirsarg sein, oder? Und solche Dinge befördern wir nicht. Wir sind ein anständiges Unternehmen.“ Im ersten Augenblick hatte Anton befürchtet, sein Vater könnte Verdacht geschöpft haben, aber dann merkte er, daß er sich nur über ihn lustig machen wollte. Also brauchte Anton auch kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen! 19
Giftig sagte er: „Wie schade! Es ist nämlich tatsächlich ein Vampirsarg.“ Natürlich glaubte ihm sein Vater kein Wort. „In einem solchen Fall“, witzelte er, „sollte sich dein Freund lieber an ein Beerdigungsinstitut wenden.“ Er ging zur Tür. „Wir wollen übrigens noch Spazierengehen, Mutti und ich“, sagte er. „Bleibt ihr länger weg?“ fragte Anton überrascht. „Wenn wir wiederkommen, wirst du hoffentlich schlafen“, antwortete der Vater. „Morgen hast du Schule.“ „Denkst du, das könnte ich vergessen?“
Mufti super Das klappt ja wie am Schnürchen! dachte Anton, als es, kurz nachdem seine Eltern gegangen waren, leise an sein Fenster klopfte. Freudig schob er die Vorhänge zur Seite – und erstarrte. Draußen auf dem Fenstersims hockte jemand und sah ihn mit großen Augen an, und obwohl die Gestalt im Dunkeln saß und ihren Umhang bis zum Kinn hochgezogen hatte, glaubte Anton deutlich zu erkennen, daß es nicht der kleine Vampir war. Sollte es Tante Dorothee sein? Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn, und hastig zog er die Vorhänge zu. Da klopfte es wieder, und eine helle Stimme rief: „Hier ist Anna!“ Rüdigers kleine Schwester! Erleichtert, aber auch ein wenig verärgert öffnete Anton das Fenster und ließ sie herein. „Mußt du mich so erschrecken?“ murrte er. Anna strich ihren Umhang glatt und kicherte. Im hellen Licht seiner Schreibtischlampe fiel ihm auf, daß ihr kleines rundes
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Gesicht ungewöhnlich rosig aussah. Ihre Haare waren gekämmt und mit zwei Spangen aus dem Gesicht gesteckt. „Ich wollte nur mal sehen, ob du auch noch andere Vampirmädchen kennst“, sagte sie neckend. „Wenn du zum Beispiel ‹Hallo, Julia› gerufen hättest, hätte ich dich nicht zu meiner Vampirtagsfeier eingeladen.“ „Vampirtagsfeier?“ „Heute ist der Tag, an dem ich Vampir geworden bin“, erklärte sie stolz. „Mein Geburtstag sozusagen. Der einzige Feiertag, den wir Vampire kennen. Sieh mal, was mir Rüdiger geschenkt hat.“ Sie zog ein stark zerlesenes Buch unter ihrem Umhang hervor und zeigte es ihm. „Sehr spannend!“ „Ich weiß“, antwortete Anton, der das Buch genau kannte: es war ‹Blutige Bisse›, das er dem kleinen Vampir vor ein paar Wochen geliehen hatte. „Wieso, kennst du es?“ fragte Anna. „Nein, nein“, sagte er schnell, „ich dachte nur.“ „Und von Lumpi hab ich die Haarspangen bekommen“, erzählte sie. Sie sahen nicht besonders neu aus, fand Anton, aber immerhin war es nett von Lumpi, seiner Schwester etwas zu schenken. „Und jetzt das schönste Geschenk!“ sagte sie. „Es ist an mir, aber du kannst es nicht sehen.“ „Nicht sehen?“ wunderte sich Anton. „Nur – riechen.“ „Ach so!“ Dann hatte er sich doch nicht getäuscht, als er an Anna einen merkwürdig stechenden Geruch wahrzunehmen meinte. „Ein neues Parfüm?“ fragte er. „Richtig!“ rief sie. „Extra für mich: Mufti super.“ Anton schluckte. Mufti eleganti, das Anna früher gelegentlich benutzt hatte, war schon schlimm gewesen, aber
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Mufti super... Das roch nach Harzer Käse, Schweißfüßen und Stinkbomben. „Und was hast du noch bekommen?“ fragte er schnell, bevor sie sich erkundigen konnte, wie ihm das Parfüm gefiel. Sie zögerte, und ein verlegenes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Das sag ich nur, wenn du nicht lachst!“ Sie griff unter ihren Umhang und holte einen Schnuller hervor. Es war ein länglicher, schon ziemlich zernagter Gummisauger mit einem schmutzigweißen Mundstück und einem Ring darin, durch den ein schwarzes Band, vermutlich ein Schuhband, gezogen war. Anton mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht zu lachen. Anna mit Schnuller! Das war zu komisch! Sie hatte ihn ängstlich beobachtet. Als er jedoch ernst blieb und seine Züge sich eher schmerzlich verzogen, weil ihm die Zunge weh tat, atmete sie erleichtert auf. „Das ist zur Zahnpflege“, erklärte sie. „Jeder heranwachsende Vampir muß das tragen, damit die Vorderzähne klein bleiben und die Eckzähne schön lang werden.“ Anton erschrak. Bisher war sie Anna die Zahnlose gewesen und hatte sich von Milch ernährt. „Bekommst du denn Eckzähne?“ fragte er. „Nun ja“, sagte sie ausweichend, „ein bißchen – aber meinen Schnuller werde ich überwiegend im Sarg tragen“, fügte sie schnell hinzu, „und sonst nur, wenn mir danach zumute ist.“ Damit ließ sie ihn wieder unter ihrem Umhang verschwinden. „Jetzt sollten wir aber losfliegen!“ sagte sie nachdrücklich. „Wohin denn?“ „Zur Gruft natürlich!“ „Zur Gruft?“ rief Anton bestürzt. „Und was wollen wir da?“ „Meinen Vampirtag feiern“, sagte Anna fröhlich. 22
Er merkte, wie sein Herz schneller schlug. Geburtstagsfeiern kannte er, die waren lustig und machten Spaß. Aber Vampirtagsfeiern...? Die waren bestimmt schrecklich. Vielleicht hatte Anna schon Vampirzähne und wollte sie in der Gruft an ihm ausprobieren? Ihm wurde ganz seltsam zumute, und er mußte sich mit beiden Händen an der Schreibtischplatte festhalten. „I-ich kann gar nicht“, stotterte er. „Ich muß auf Rüdiger warten.“ „Aber der ist doch in der Gruft!“ Sie warf ihm einen zweiten Umhang zu, den sie unter ihrem eigenen verborgen gehalten hatte. „Komm jetzt!“ sagte sie. „Sonst wird Lumpi ungeduldig.“ „Lumpi macht auch mit?“ „Na sicher“, erwiderte Anna. „Vampirtagsfeiern sind seine Leidenschaft.“ „Und die a-anderen Verwandten?“ fragte Anton. „Tante Dorothee und Wilhelm der Wüste und Hildegard die Durstige und Sabine die Schreckliche und Ludwig der Fürchterliche?“ „Sind alle unterwegs.“ Eine Pause entstand. Anton betrachtete ratlos den mottenzerfressenen, modrig riechenden Umhang in seinen Händen, während Anna auf das Fensterbrett stieg. Sollte er wirklich mitfliegen? Auf jeden Fall würde er Rüdiger dort treffen, der heute, am Vampirtag seiner Schwester, bestimmt nicht zu ihm käme, obwohl sie verabredet waren. Und viel Zeit blieb nicht mehr bis zum nächsten Sonntag... „Also gut“, sagte er mit rauher Stimme, streifte sich den Umhang über und kletterte zu Anna aufs Fensterbrett. Sie sah ihn an und lächelte. Dann breitete sie die Arme aus und schwebte davon. Unsicher folgte er ihr.
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In der Luft Wie immer, wenn er einen Vampirumhang trug und fliegen konnte, hatte Anton zuerst einen komischen Druck im Magen. Zögernd bewegte er die Arme auf und ab und schielte furchtsam nach unten, wo sechs Stockwerke tiefer die Autos wie Kinderspielzeug aussahen. Doch dann spürte er, daß die Luft ihn trug. Seine Bewegungen wurden kräftiger, seine Schwünge gleichmäßiger. Es war, als würde er schwimmen – nur viel leichter, viel müheloser.
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„Du fliegst schon wie ein richtiger Vampir“, meinte Anna, die ruhig neben ihm dahinglitt. „Ehrlich?“ sagte er und grinste verlegen.
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Obwohl sie es sicherlich nett gemeint hatte, beschlich ihn doch ein unbehagliches Gefühl bei ihren Worten: War er etwa schon dabei, sich in einen Vampir zu verwandeln? Andererseits wußte er, daß ein Mensch nur durch den Biß eines Vampirs selbst Vampir werden konnte... Sein Argwohn, Anna könnte in der Gruft ihre neuen Zähne an ihm erproben wollen, erwachte wieder, und ängstlich blickte er sie von der Seite an. Im Mondlicht wirkte sie merkwürdig fremd. Wie eine weiße Blume schimmerte ihr Gesicht unter ihren dunklen Haaren. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und er sah ihre Zähne, klein und rund wie Perlen. Eckzähne, falls sie wirklich welche bekam, konnte er nicht erkennen. Ob er sich seine Ängste nur einredete? „Achtung!“ riß Anna ihn aus seinen Gedanken. Fast hätte er den Schornstein übersehen, der vor ihnen aufragte. Im letzten Augenblick konnte er einen Bogen darum fliegen. „Du mußt besser aufpassen!“ sagte Anna vorwurfsvoll. „Die Luft ist voller Gefahren. Dort hinten sehe ich zum Beispiel Tante Dorothee.“ „W-was?“ stotterte Anton. Vor Schreck vergaß er, die Arme zu bewegen. Anna hielt ihn am Umhang fest, bevor er abstürzen konnte. „Sie fliegt zu einem Feuerwehrball“, beruhigte sie ihn. „Das hat sie mir erzählt.“ Er seufzte erleichtert auf. Nun brauchte er nicht mehr zu befürchten, daß Tante Dorothee überraschend in der Gruft auftauchte, während sie dort Annas Vampirtag feierten! Vor ihnen lag die alte, verwitterte Friedhofsmauer. Sie führte um den hinteren, verlassenen Teil des Friedhofs, in dem die Kreuze und Grabsteine umgestürzt zwischen kniehohem Gras lagen und in den sich nur selten ein Besucher verirrte.
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Hier hatten sich die Vampire der Familie von Schlotterstein ihre unterirdische Gruft gebaut, um vor den Nachstellungen des Friedhofswärters Geiermeier sicher zu sein. Anna flog langsam die Mauer entlang und spähte angestrengt ins Dunkel. Anton, der ihr in einigem Abstand folgte, fragte flüsternd: „Siehst du Geiermeier?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich ist er in seinem Haus und schnitzt Holzpfähle“, sagte sie bitter. Sie überquerten die Mauer und landeten vor einer hohen Tanne. Rasch hob Anna einen moosbewachsenen Stein auf, der im Schutz der Tanne verborgen lag. Es war der Einstieg zur Gruft. „Komm“, flüsterte sie Anton zu, dann verschwand sie in einem schmalen Schacht. Anton rutschte hinterher und zog den Stein wieder über das Loch.
Faulpelze Ein Geruch von Moder und Mufti super schlug ihnen entgegen, der Anton fast den Atem nahm. Mit weichen Knien tappte er hinter Anna die Stufen hinunter, während ihm das Herz bis zum Hals schlug. Warum war er bloß so dumm gewesen mitzugehen? Bestimmt hätte sich auch noch eine andere Gelegenheit ergeben, mit Rüdiger zu sprechen. Hier unten war er Lumpi ausgeliefert – Lumpi und all den anderen Vampiren, die jeden Augenblick zurückkehren konnten... oder vielleicht schon auf ihn lauerten? Doch im Schein der Kerzen sah er nur Lumpi und Rüdiger, die in ihren Särgen lagen. Die übrigen Särge waren geschlossen.
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Anton atmete auf: es stimmte also, daß die Verwandten unterwegs waren. Trotzdem fand er es ratsam, vorsichtig zu sein, und so blieb er auf der letzten Stufe stehen, dort, wo es am dunkelsten war. Anna lief zu den beiden geöffneten Särgen und rief empört: „Ihr Faulpelze! Habt ihr nicht versprochen, alles für meine Vampirtagsfeier vorzubereiten?“ Rüdiger erhob sich aus dem Sarg und machte ein zerknirschtes Gesicht. „Mein Buch war so spannend“, sagte er. „Und Lumpi?“ „Ist eingeschlafen.“ „Und meine Vampirtagsfeier? Wolltet ihr nicht die Särge zusammenstellen und die Gruft schmücken?“ „Doch“, sagte Rüdiger kleinlaut, „wir hatten auch schon angefangen.“ „Ja, und?“ „Dann wurde es Lumpi schwarz vor Augen, und er mußte sich hinlegen.“ „Sein üblicher Trick!“ schimpfte Anna. „Was soll Anton jetzt von uns denken?“ „Anton?“ fragte Rüdiger überrascht. „Ist er denn hier?“ „J-ja“, sagte Anton und machte ein paar zaghafte Schritte in die Gruft hinein. „Aber ich kann gleich wieder gehen“, stammelte er. „Mei-meinetwegen braucht ihr euch keine Umstände zu machen.“ „Das wäre ja noch schöner!“ rief Anna aufgebracht. „Nein, du bleibst. Eingeladen ist eingeladen. Komm, Rüdiger, wir müssen Lumpi wecken!“ „Lumpi wecken?“ Rüdiger sah sie erschrocken an. „Du weißt doch, wie er ist, wenn er beim Schlafen gestört wird!“ „Bin ja schon wach!“ knurrte da eine heisere Stimme, und Lumpis aschfahles Gesicht tauchte aus dem Sarg auf. „Bei dem Krach, den ihr macht.“ Seine Augen, die in tiefen Höhlen
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lagen, waren halb geschlossen. „Von Rücksichtnahme habt ihr wohl noch nie was gehört“, fauchte er. Rüdiger beeilte sich, ihm beim Aussteigen zu helfen. „Es ist ja nur wegen Annas Vampirtag“, sagte er besänftigend, „und wegen Anton.“ „Anton?“ Plötzlich war Lumpi hellwach. Ein durchdringender Blick traf Anton, dem es kalt über den Rücken lief. „Wie konnte ich das vergessen!“ rief Lumpi, und auf einmal klang seine Stimme ganz freundlich. „Unser Besuch!“ Breit lächelnd kam er auf Anton zu, packte ihn und krächzte: „Herzlich willkommen!“ Anton war leichenblaß geworden. Herzlich – das konnte nur eins bedeuten: Blut!
Raubtierkrallen Doch an Flucht war nicht zu denken: Lumpi war viel größer und kräftiger als er, und seine Hände hielten ihn wie Schraubstöcke fest. Ganz nah sah Anton seine weiße Gesichtshaut, die roten Pickel am Kinn und auf der Nasenspitze, die unheilvoll funkelnden Augen mit den dunklen Schatten darunter und den breiten Mund mit den makellos weißen, weit herausragenden Eckzähnen. Und er roch Lumpis Grabesatem – schlimmer als Mufti super! Gleich würde er ohnmächtig werden, das fühlte er – da stellte sich Anna neben Lumpi, zupfte an seinem Umhang und sagte: „Wenn du dich so über Anton freust, solltest du ihm das auch zeigen und ganz schnell die Gruft für ihn umräumen.“
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„Gruft umräumen?“ meinte Lumpi unwirsch. „Das macht ja Arbeit.“ Dabei sah er Anton unverwandt an. „Drückeberger“, antwortete Anna, aber so leise, daß Lumpi es gnädig überhörte. „Du hast einen hübschen Pulli“, sagte er zu Anton. „Reine Schurwolle, was?“ „I-ich weiß nicht“, stammelte Anton und machte einen Schritt rückwärts. Lumpi hielt ihn am Pulli fest, wobei er so tat, als prüfe er das Material. „Oder mit Kunstfaser? Laß mich raten: 40 Prozent Schurwolle, 60 Prozent Kunstfaser! Hab ich recht?“ Mit einem kräftigen Ruck zog er Anton zu sich heran, schob den Rollkragen herunter und entblößte Antons Hals. Wie durch einen Nebel sah Anton Lumpis Kopf näher kommen... sich zu seinem Hals herabbeugen... Entsetzt schrie er auf. Sofort ließ Lumpi die Hände sinken. „Was regst du dich auf?“ knurrte er. „Ich wollte nur das Etikett lesen, das hinten in deinem Pullover eingenäht ist.“ Gemessenen Schrittes ging er zu seinem Sarg zurück und setzte sich auf den Rand. „Ich hatte übrigens recht“, sagte er. „40 Prozent Schurwolle und 60 Prozent Kunstfaser.“ Damit holte er eine Nagelfeile unter seinem Kopfkissen hervor und begann, die langen, gekrümmten Nägel seiner linken Hand zu feilen. Beim Anblick dieser Raubtierkrallen sträubten sich Anton die Haare. Lumpi schien ganz in seine Arbeit versunken. Ein verzücktes Lächeln lag auf seinen Lippen, und immer wieder hielt er inne, um seine noch spitzer gewordenen Nägel zu betrachten. „Ihr könnt übrigens anfangen“, sagte er mit sanfter Stimme. Seine Beschäftigung nahm ihn so sehr in Anspruch, daß er nicht einmal den Kopf hob. 31
„Womit?“ rief Anna. „Mit dem Umräumen.“ „Aber –“ wollte Anna protestieren, doch Rüdiger warf ihr einen beschwörenden Blick zu und schüttelte heftig den Kopf. Rasch ging er zu den fünf Särgen hinüber, die an der linken Wand standen, und machte sich daran, sie zu einer Sitzgruppe zusammenzuschieben. Zähneknirschend faßte Anna mit an. „S-soll ich helfen?“ fragte Anton. „Du nicht“, sagte Anna, „aber–“ „Ja?“ horchte Lumpi auf. „Wer?“ „Ich natürlich“, sagte Anton geistesgegenwärtig. Nur Lumpi nicht reizen! dachte er. Er trat ans Fußende des letzten Sarges, der sehr schwer sein mußte, da Anna und Rüdiger ihn nur mit großer Mühe vorwärts bewegen konnten. Mit Schrecken erkannte er, daß es der Sarg von Tante Dorothee war... sollte sie etwa noch darin liegen? Anna hatte seine Bestürzung bemerkt, denn sie sagte leise: „Darin ist der Familienschmuck. Tante Dorothee hütet ihn wie ihren Augapfel. Bevor sie abfliegt, stellt sie die Kiste mit dem Schmuck immer in ihren Sarg.“ „Und der Schmuck ist so schwer?“ „Was glaubst du? Alles Gold!“ „Tragen Vampire denn Schmuck?“ „Wenn sie jemandem gefallen wollen... Außerdem brauchen wir den Schmuck als Rücklage. In Notzeiten tauschen wir manchmal etwas Schmuck gegen Bargeld. Vampire können sich schließlich kein Bankkonto einrichten.“ „He, was habt ihr da zu tuscheln?“ Das war Lumpis knarrende Stimme. „Ihr redet wohl über mich, was?“ „Nein, nein“, sagte Anna schnell. „Über die Sitzordnung. Zwei Särge haben wir als Tisch genommen und die anderen drei als Bänke. Ist das richtig so?“
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„Drei als Bänke, sagtest du? Wir sind aber vier!“ Lumpi überlegte. Dann rief er freudig: „Natürlich! Anton und ich sitzen auf einem Sarg!“ – „O nein!“ entfuhr es Anton. „Warum nicht?“ fragte Lumpi. Er hatte die Nagelfeile in den Sarg zurückgelegt und war aufgestanden. „Vielleicht spielen wir ein Ratespiel. Da kann ich dir vorsagen.“ „Ich w-würde lieber neben Anna sitzen“, stotterte Anton. „Sch-schließlich hat sie Vampirtag.“ „Wie du willst“, sagte Lumpi verärgert, drehte sich um und stieg in seinen Sarg. „Ich war sowieso noch nicht fertig mit meiner Nagelpflege.“ Wieder erklang das kratzende Geräusch der Nagelfeile. „Um so besser“, sagte Anna bissig. „Dann hat wenigstens jeder einen Sarg für sich. Komm, Anton!“
Essen und Trinken Anna legte die Hand auf seinen Arm und führte ihn zur Sitzecke hinüber. „Jetzt machen wir es uns gemütlich!“ sagte sie fröhlich – als könnte es hier, vier Meter unter der Erde und in der Gesellschaft des unberechenbaren Lumpis, jemals gemütlich werden! Beklommen setzte Anton sich auf den Sarg, der dem Ausgang der Gruft am nächsten war, während Anna auf dem Sarg neben ihm Platz nahm. „Du hast sicher Durst?“ fragte sie. „Soweit ich weiß, gibt es auf Geburtstagsfeiern immer reichlich zu essen und zu trinken.“ „Hm“, sagte Anton zustimmend. „Siehst du!“ rief sie Rüdiger zu, der an die Wand gelehnt sein Buch las. Erschrocken ließ er es sinken. „Wie gut, daß ich die Getränke noch habe“, seufzte sie. 33
„Bring sie uns bitte, Rüdiger.“ „Ge-Getränke?“ stotterte Anton. Was konnte es auf einer Vampirfeier schon zu trinken geben? Schaudernd dachte er an durchsichtige Glasflaschen, bis an den Rand mit Blut gefüllt... Doch es waren Milch- und Kakaotüten, die Rüdiger vor ihm auf die zum Tisch umgebauten Särge stellte: zwanzig oder noch mehr kleine Tüten. Verpackt in drei schon ziemlich eingestaubte Tragetaschen, hatten sie am Fußende von Annas Sarg gelegen. „Na, was sagst du?“ fragte Anna stolz. Sprachlos starrte Anton auf die vielen Tüten, die ein kleines Milchgeschäft hätten füllen können. „Ich –“ murmelte er. ‹Hab keinen Durst› wollte er hinzufügen, sagte aber lieber nichts, um Anna nicht zu verärgern. Aus einer der Tragetaschen zog sie jetzt einen zerknickten Strohhalm hervor, den sie in das vorgestanzte Loch einer Kakaotüte steckte. Freudig reichte sie Anton die Tüte. „Probier mal!“ „D-danke.“ Widerwillig nahm er die Tüte entgegen, die trotz ihrer Aufschrift Kakao-Trank. Immer frisch und lecker keineswegs appetitanregend aussah, im Gegenteil: eine dünne Staubschicht lag auf der Packung, und ihre Ecken waren eingedrückt. „Und ihr?“ fragte er. „Trinkt ihr nichts?“ Anna und Rüdiger wechselten einen Blick und kicherten. „Anna trinkt keine Milch mehr“, erklärte Rüdiger. „Keine Milch?“ sagte Anton. „Aber–“ „Und auch keinen Kakao“, ergänzte Rüdiger. „Für wen sind dann die vielen Tüten?“ „Für dich“, antwortete Anna. „Alle?“
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„Nun ja“, sagte Anna und lächelte verschämt. „Ursprünglich waren sie für mich, aber nun –“ Sie sprach nicht weiter, sondern wandte rasch den Kopf ab. Anton hatte gerade noch gesehen, wie sie über und über rot geworden war. Da fiel ihm die Sache mit dem Schnuller wieder ein, den sie tragen sollte, um schön lange Eckzähne zu bekommen. Also war sie doch... Vampir geworden! Er spürte, wie die Kakaotüte in seiner Hand zitterte. Und auch die Vampire sahen es. Auf einmal schienen sie ihn alle anzustarren. Sogar Lumpi hatte aufgehört, sich die Nägel zu feilen. „Warum probierst du nicht?“ rief er, und seine Stimme klang drohend. „Ich p-probier ja schon“, stammelte Anton und sog heftig am Strohhalm. Fast hätte er den Kakao wieder ausgespuckt – so eklig war sein scharfer, beißender Seifengeschmack! Doch dann fiel sein Blick auf die Vampire, die ihn erwartungsvoll ansahen. „Sehr l-lecker“, stotterte er. „Na also!“ knurrte Lumpi. „Wär ja auch noch schöner!“ Und Rüdiger fügte hinzu: „Schließlich hat Anna nur für ihn die Tüten so lange aufbewahrt!“ Anna lächelte geschmeichelt. „Ich brauch sie schließlich nicht mehr.“ Zu Anton sagte sie: „Wenn du ausgetrunken hast, meldest du dich, ja? Dann gebe ich dir eine neue Tüte.“ Anton nickte schwach. Bei dem Gedanken, noch mehr von dem verdorbenen Zeug schlucken zu müssen, wurde ihm übel. Aber er wußte schon, wie er es machen würde: nur so tun, als ob er trank, so daß er den ganzen Abend mit einer Tüte auskam! Anna erhob sich, zog ihren Umhang glatt und strich sich die Haare aus dem Gesicht. 35
„Und nun“, sagte sie, „nachdem wir das Essen und Trinken hinter uns gebracht haben, beginnt der lustige Teil der Feier!“
Sarghüpfen „O ja“, rief Lumpi eifrig und kam aus seinem Sarg geklettert. „Womit fangen wir an?“ „Ja, womit fangen wir an?“ Anna drehte sich zu Anton um und sah ihn fragend an. „Was spielt ihr denn so auf Geburtstagsfeiern?“ Anton zögerte. Ein harmloses Gesellschaftsspiel konnte, wenn man es mit Vampiren in einer Gruft spielte, unter Umständen lebensgefährlich werden! Auf keinen Fall durfte es ein Spiel sein, bei dem sie die Kerzen ausblasen mußten – nicht auszudenken, was Lumpi im Dunkeln anstellen würde! Oder Verstecken – da bestand die Gefahr, daß Anton in einen Sarg kriechen mußte! „Sackhüpfen“, sagte er endlich. „Sackhüpfen?“ Anna rümpfte die Nase. „Klingt langweilig.“ „Finde ich auch“, stimmte ihr Rüdiger zu. „Außerdem haben wir keine Säcke.“ „Moment mal“, rief Lumpi. „Das bringt mich auf eine Idee. Sackhüpfen, Sackhüpfen... ich hab’s: Sarghüpfen!“ „Sarghüpfen?“ Annas Stimme klang noch immer nicht sonderlich begeistert. „Ja! Wir stellen mehrere Särge hintereinander auf, mit verschieden großem Abstand dazwischen, und dann müssen wir von Sarg zu Sarg hüpfen, ohne hinzufallen. Wer das schafft, hat gewonnen!“ „Ist das alles?“ sagte Anna mürrisch. „Wart’s nur ab!“
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Lumpi setzte die Deckel auf seinen und auf Rüdigers Sarg. Dann begann er, die Hindernisbahn zusammenzustellen. Zuerst kam sein eigener Sarg, dessen einziger Schmuck ein „L“ war, um das sich ein Drache mit zwei Köpfen wand. Dann folgten Rüdigers und Annas Sarg, beide ohne jede Verzierung und viel kleiner als Lumpis. An den Schluß der Bahn stellte er einen großen Sarg mit goldenen Griffen an den Seiten. Es war, so glaubte sich Anton erinnern zu können, der Sarg von Hildegard der Durstigen, Lumpis, Rüdigers und Annas Mutter. Die ersten beiden Särge standen noch ziemlich nah beieinander, fand Anton. Dagegen war der Abstand zwischen dem zweiten und dem dritten Sarg schon größer. Der Raum zwischen Annas und Hildegards Sarg jedoch schien ihm riesig. „Das schaff ich nie“, murmelte er. „Du mußt ja auch nicht immer gewinnen“, sagte Lumpi giftig. Er zog eine Schachtel Streichhölzer unter seinem Umhang hervor, nahm drei Hölzer heraus und brach bei jedem ein unterschiedlich langes Stück ab. Dann steckte er die Hölzchen so zwischen die Finger seiner linken Hand, daß alle gleich lang aussahen. „Du ziehst zuerst“, sagte er und deutete mit einem Kopfnicken auf Anton. Nachdem alle – Lumpi ausgenommen – ein Streichholz gezogen hatten, verglichen sie die Länge ihrer Hölzer. Rüdiger hatte das kürzeste und mußte anfangen. Den Sprung vom ersten auf den zweiten Sarg schaffte er leicht. Doch schon beim zweiten Sprung verfing er sich in seinem Umhang und fiel auf die Erde. Langsam erhob er sich und setzte zum letzten Sprung an. Auch diesmal reichte es nicht. Er polterte gegen die Sargwand von Hildegard der Durstigen. Sein rechtes Bein
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nachziehend und noch bleicher als sonst, kam er zurückgehumpelt. „Einen Punkt“, verkündete Lumpi. Jetzt war Anton dran. Mühelos hüpfte er von Lumpis auf Rüdigers Sarg hinüber. Die Entfernung zum nächsten, zu Annas Sarg, war schon größer. Aber er schaffte es. „Bravo, Anton!“ rief Anna. „Psst!“ sagte Lumpi finster. „Keine Beeinflussung!“ Nur noch ein Sarg... Anton holte tief Luft und sprang. Seine Knie stießen gegen das Holz. „Aua!“ schrie er. Mit schmerzverzogenem Gesicht hinkte er zum Start zurück. „Zwei Punkte“, sagte Lumpi. Nun war die Reihe an Anna. In ihrem weiten, viel zu langen Umhang, der ihr fast bis zu den Knöcheln reichte, wirkte sie winzig und zerbrechlich. Anton spürte, wie sein Herz schneller schlug – ihretwegen! Jetzt sprang sie, leichtfüßig und wie eine Feder. Die ersten beiden Hindernisse hatte sie schon überwunden. Paß auf dich auf! wollte Anton rufen, da sauste sie durch die Luft, landete auf dem letzten Sarg – und rutschte ab. „Pech“, sagte Lumpi nur. „Zwei Punkte, wie Anton.“ Mit hoch erhobenem Kopf kam Anna zurück. „Aber ich bin die Kleinste!“ sagte sie selbstbewußt. Inzwischen war Lumpi auf seinen Sarg gestiegen und machte Kniebeugen, um sich zu lockern. Verglichen mit Anna, war er gewaltig groß, mit breiten Schultern und kräftigen, muskulösen Waden. Kein Wunder, daß er spielend von Sarg zu Sarg hüpfte. Als er den letzten Sarg erreicht hatte, warf er die Arme in die Höhe und jubelte: „Lumpi, der beste Sarghüpfer aller Zeiten!“ „Kunststück!“ brummte Anna.
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„Sagtest du etwas?“ tat Lumpi leutselig. Seine Augen blickten jedoch so unheildrohend wie immer. „Nein, nein“, sagte Anna schnell. „Anna hat nur gemeint, daß du gut springen kannst“, versicherte Rüdiger. „Nicht wahr?“ Lumpi reckte sich und atmete tief durch. „Bei meiner Ernährung und Lebensweise...“ Dabei starrte er auf Antons Hals, und ohne es zu merken, entblößte er seine schrecklichen Zähne. „He!“ rief Anna. „Jetzt wird gespielt, Lumpi!“ Lumpi zuckte zusammen. Widerstrebend wandte er den Blick ab. „Und was?“ fragte er unfreundlich.
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Mäuschen, sag mal piep „Ich weiß, ein Spiel“, sagte der kleine Vampir. „Du?“ sagte Lumpi ungläubig. „Ja.“ „Und wie heißt das?“ „Mäuschen, sag mal piep.“ „Piep, piep!“ Lumpi tippte sich an die Stirn. „Das Spiel hast du dir ausgedacht.“ „Nein“, sagte Anton. „Das Spiel gibt es wirklich.“ „Und woher kennst du das?“ fuhr Lumpi Rüdiger an. „Also –“ Rüdiger setzte eine wichtige Miene auf und räusperte sich. „Die Kinder saßen im Kreis –“ „Welche Kinder?“ „Die Kinder in dem Zimmer, das von draußen so warm und gemütlich wirkte. Durchgefroren und hungrig hockte ich auf dem Fenstersims und sah ihnen zu. In der Mitte des Kreises stand ein Kind mit verbundenen Augen. Es drehte sich ein paarmal um sich selbst, dann setzte es sich einem anderen Kind auf den Schoß. ‹Mäuschen, sag mal piep!› rief es. Laut und deutlich antwortete das Kind ‹piep›. Nun mußte das Kind mit den verbundenen Augen raten, auf wessen Schoß es saß.“ Das Spiel schien Lumpi zu gefallen, denn auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. „Gar nicht so übel, dein Mäuschen piep-piep“, meinte er. „Aber ich bin in der Mitte!“ Er griff unter seinen Umhang und holte ein schwarzes Tuch hervor. Es war voller Mottenlöcher. „A-aber da kann man durchgucken“, murmelte Anton. „Na und?“ zischte Lumpi. „Willst du etwa, daß ich hinfalle?“ „N-nein. Nur die Spielregel –“ „Pah, Regel!“ sagte Lumpi und wischte mit einer Handbewegung alle weiteren Einwendungen weg. „Bindet mir lieber das Tuch um.“ 41
„Sofort“, sagte Rüdiger. Er stieg auf einen Sarg und verknotete das Tuch an Lumpis Hinterkopf. „Fangen wir jetzt an?“ knurrte Lumpi. „Gleich.“ Mühsam schob Rüdiger die beiden Särge, die als Tisch gedient hatten, an die Wand. Anna stand dabei und lächelte spöttisch. „Du läßt dich ganz schön herumkommandieren“, sagte sie. „Wieso?“ antwortete Lumpi. „Hat er das Spiel vorgeschlagen oder nicht?“ Durch das Tuch klang seine Stimme dumpf und schauerlich. Rüdiger machte Anna heftige Zeichen mit den Händen, nicht mit Lumpi zu streiten. Doch Anna tat, als verstünde sie ihn nicht. „Du hättest ruhig mit anpacken können“, sagte sie zu Lumpi. „Schließlich bist du der stärkste.“ „Allerdings!“ sagte Lumpi hoheitsvoll. „Aber deshalb braucht ihr noch lange nicht alle Arbeit auf mich abzuwälzen. Außerdem – wenn du mich weiterhin reizt, erzähle ich Tante Dorothee, daß Anton hier war.“ „Was?“ entfuhr es Anton. Entsetzt sah er Anna an, doch sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Alles nur Angabe“, flüsterte sie. Zufrieden mit der Wirkung seiner Worte, machte Lumpi ein paar vorsichtige Schritte. „Seid ihr soweit?“ fragte er. Schnell setzten sich Anna und Anton auf Tante Dorothees Sarg. Rüdiger nahm auf dem mittleren Sarg Platz. „Jetzt“, rief er. Langsam kam Lumpi näher. Er bot einen schrecklichen Anblick: unter der zottigen Haarmähne war anstelle des Gesichts das mottenzerfressene Tuch, und aus dem weiten Umhang guckten seine kräftigen, behaarten Unterarme heraus. Er hielt die Hände vorgestreckt und bewegte seine langen, knochigen Finger suchend hin und her – als hätte er Mühe, sich 42
seinen Weg zu ertasten; während Anna, Rüdiger und Anton doch genau wußten, daß er durch die Löcher im Tuch alles sehen konnte! Zunächst schien es, als wollte er sich auf Rüdigers Schoß setzen. Anton atmete schon auf, da ging Lumpi mit schwankenden Schritten an Rüdiger vorbei und blieb vor ihm stehen. Dann drehte er sich um und setzte sich auf Antons Schoß.
Anton hatte das Gefühl, als müßte er ersticken – so schwer war Lumpi, und so durchdringend war der Modergeruch, den er ausströmte! „Mäuschen, sag piep!“ „Piep.“ „Lauter!“ 43
„Piiiep!“ ächzte Anton. „Das ist Anton!“ rief Lumpi, riß sich das Tuch vom Gesicht und blickte sich triumphierend in der Runde um. „Hab ich nun etwas gewonnen?“ „Nein. Aber du darfst Anton das Tuch umbinden“, sagte Rüdiger. „Wenn das alles ist“, brummte Lumpi. Wütend schlang er Anton das Tuch um den Kopf und machte sich daran, es zu verknoten. Plötzlich schrie er auf. Es war ein so markerschütternder Schrei, daß es Anton eiskalt durch alle Glieder fuhr. „Mein Fingernagel!“ kreischte er. „Abgebrochen!!“ Fassungslos starrte er auf seinen linken Zeigefinger. „Mein schönster, mein längster Nagel! Gehegt und gepflegt hab ich ihn, Woche um Woche! Wie stolz war ich! Und jetzt?“ Er schluchzte. Dann sah er Anton mit funkelnden Augen an. „Und alles deinetwegen!“ „Mei-meinetwegen?“ „Dein Kopf ist schuld, jawohl!“ brüllte der Vampir. „Deine Birne, dein Quadratschädel, dein Holzkopf, dein blöder, blöder Döz!“ Er lief zu seinem Sarg, holte die Nagelfeile heraus und begann, wie wild an seinem Nagel herumzufeilen. „Du hast selbst schuld“, sagte Anna. „Wenn du keinen Knoten machen kannst.“ „Wie bitte?“ donnerte Lumpi los. „Ist das der Dank dafür, daß ich so lange in der Gruft geblieben bin? Und nur, um dir einen schönen Vampirtag zu machen! Aber damit ist jetzt Schluß!“ Wutschnaubend warf er die Nagelfeile in den Sarg zurück und stapfte zum Ausgang der Gruft. „Große Brüder sollten verboten werden!“ rief Anna ihm nach. 44
Doch Lumpi gab keine Antwort mehr. Sie hörten den Stein klappern – dann war alles ruhig.
Vorschrift ist Vorschrift „Nun hat er mir die ganze Stimmung verdorben!“ schimpfte Anna. „Warum mußtest du auch mit ihm streiten!“ sagte der kleine Vampir. „Warum?“ rief Anna. „Weil ich Haustyrannen nicht leiden kann!“ „Wir könnten zu dritt weiterfeiern“, schlug Anton zaghaft vor, um die beiden zu versöhnen. Und ohne Lumpi konnte es vielleicht noch ganz nett werden... Doch Anna schüttelte heftig den Kopf. „Nein!“ Sie riß die Spangen aus dem Haar und stopfte sie wütend unter ihren Umhang. „Am liebsten würde ich ins Kino gehen.“ „Ins Kino?“ sagte Anton überrascht. „Aber das hat längst angefangen, und Kinder lassen sie sowieso nicht rein.“ Trotzig schob Anna die Unterlippe vor. „Dann gehen wir in eine Disco.“ „Aber da –“ begann Anton, ‹– kommen wir auch nicht rein›, wollte er sagen, doch das hätte Anna nur noch wütender gemacht. „Ich hab kein Geld“, sagte er deshalb schnell. „Geld? Kein Problem!“ Sie ging zu Tante Dorothees Sarg und nahm den Deckel ab. Eine alte wurmstichige Truhe kam zum Vorschein. Anna öffnete sie und holte ein paar Goldmünzen hervor. Im Licht der Kerzen funkelten und blitzten sie, daß es Anton fast den Atem nahm. „Reicht das?“ fragte sie.
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Bevor Anton antworten konnte, war Rüdiger dazwischengefahren und hatte Anna die Goldstücke abgenommen. „Das ist gegen die Vorschriften!“ donnerte er. „Die Goldstücke sollen ausschließlich für Notfälle sein.“ „Ist das etwa kein Notfall?“ schrie Anna. „Erst verderbt ihr mir meine Vampirtagsfeier, und wenn ich dann, um wenigstens etwas von meinem Vampirtag zu haben, in eine Disco gehen möchte, gönnst du mir nicht mal die lumpigen Goldstücke!“ „Vorschrift ist Vorschrift“, entgegnete Rüdiger, legte die Goldmünzen in die Truhe zurück und schloß sie sorgfältig. Dann schob er den Deckel wieder über Dorothees Sarg. Zornig schüttelte Anna die Fäuste. „Du, du... Trampeltier!“ Rüdiger grinste. „Trampeltier – wie niedlich!“ „Du ungehobelter Klotz, du Grobian!“ Tränen stürzten aus ihren Augen. Unvermittelt drehte sie sich um und rannte zum Ausgang. „Mir reicht’s“, rief sie. „Ich fliege!“ „Anna–“ sagte Anton erschrocken. „Rüdiger soll dich nach Hause bringen“, schluchzte sie, dann war sie verschwunden.
Bei Vampiren ist das anders Ein kalter Luftzug strich durch die Gruft und ließ die Kerzen flackern. Anton fröstelte. Ihm war eingefallen, daß seine Eltern nur einen Spaziergang machen wollten. Ob sie nicht längst zurückgekehrt waren und sein leeres Bett bemerkt hatten? „Du – du bringst mich doch?“ fragte er ängstlich. „Wenn du warten kannst“, sagte der kleine Vampir. Er ging zu seinem Sarg, nahm den Deckel ab und legte sich hinein. 46
„Nach dieser anstrengenden Feier brauche ich erst mal eine Ruhepause.“ „Aber ich muß jetzt nach Hause!“ protestierte Anton. Der Vampir gähnte. „So eilig wird es schon nicht sein.“ Er nahm sein Buch und blätterte darin, bis er die richtige Seite gefunden hatte. „Ah, die Geschichte von Mrs. Lunt ist so spannend“, schwärmte er. „Ich bin gerade an der Stelle, wo der Mann im Sessel sitzt und dieser Geruch auftaucht –“ Er kicherte. „Weißt du, was da so riecht?“ Natürlich kannte Anton diese Geschichte aus den ‹VampirStories› von Hugh Walpole. Der Geruch stammte von Mrs. Lunt, die seit einem Jahr tot war. Trotzdem schüttelte er den Kopf. „Hab ich vergessen.“ „Ich vergesse nie, was ich gelesen habe“, behauptete der Vampir. „Dafür vergißt du, Bücher zurückzugeben.“ „So? Welche?“ „‹Blutige Bisse›. Du hast es Anna sogar geschenkt, obwohl es mir gehört!“ „Ich hab’s ihr nur geliehen.“ „Anna hat aber gesagt, du hättest es ihr zum Vampirtag geschenkt.“ „Und wenn schon! Morgen ist ihr Vampirtag vorbei, da hätte ich’s mir wiedergeholt.“ „Aber wenn du ihr das Buch geschenkt hast –“ „Unter Vampiren ist das eben anders.“ „Ganz schön gemein!“ sagte Anton. Auch wenn er Rüdiger damit in Wut brachte – zu solchen Ungerechtigkeiten konnte er nicht schweigen! Doch der Vampir strich gelangweilt über die Buchseite. „Würdest du mich jetzt weiterlesen lassen?“ knurrte er.
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„Mo-Moment“, rief Anton mit aufgeregter Stimme. Jetzt mußte sich zeigen, ob der Vampir ein wirklicher Freund war oder nicht! „Wir müssen über den Urlaub reden.“ Schlagartig veränderte sich der Gesichtsausdruck des Vampirs. Seine mürrische Miene verschwand, und er begann zu grinsen. Sanft sagte er: „Wieso? Ist doch alles klar.“ „Wie meinst du das?“ fragte Anton verwundert. „Das heißt, daß ich mich entschlossen habe, mitzukommen.“ Sekundenlang war Anton sprachlos. Dann rief er: „Du kommst wirklich mit? Oh, Rüdiger!“ Im Überschwang seiner Gefühle breitete er die Arme aus und lief auf den Vampir zu. „Du bist ein richtiger Freund!“ „Nicht wahr?“ lächelte der Vampir selbstgefällig. „Im Gegensatz zu Lumpi, der einfach Jörg zu uns in die Gruft eingeladen hat.“ „Welchen Jörg?“ „Jörg den Aufbrausenden. Den, der auf dem Vampirfest den Duftpreis gewonnen hatte.“ „Ach, den –“ Anton konnte sich gut an den kahlköpfigen, bulligen Vampir erinnern, der eitel und aufgeblasen über die Bühne spaziert war und sich von den Preisrichtern hatte beschnüffeln lassen. „Hatte er nicht eine Kuscheldecke für den Sarg bekommen?“ fragte er. „Allerdings!“ sagte der kleine Vampir zähneknirschend. Er ging an Lumpis Sarg und zog ein schwarzes Wolltuch heraus. „Aber die hat er inzwischen Lumpi geschenkt. Weil Lumpis Füße angeblich immer so kalt sind.“ „Wieso geschenkt?“ grinste Anton. „Geliehen! Bei Vampiren...“ Doch Rüdiger beachtete seinen Einwand nicht. Mit grimmiger Miene holte er noch eine Uhrkette, ein
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Zigarettenetui, eine Krawattennadel mit Perle und einen Taschenkamm aus Lumpis Sarg. „Hier! Alles von Jörg dem Aufbrausenden! Zum Dank hat ihn Lumpi in die Gruft eingeladen. Für eine ganze Woche, ab Samstag nacht. – Dabei hatte ich ihm erzählt, daß ich Jörg dem Aufbrausenden auf keinen Fall begegnen darf!“ „Warum denn nicht?“ fragte Anton. „Weil er mich wiedererkennen könnte.“ Verständnislos schüttelte Anton den Kopf. „Und warum sollte er das nicht?“ „Es war vor sechs Wochen“, begann der Vampir. „Ich war schon auf dem Rückflug zum Friedhof, als ich einen jungen, sehr blutvoll wirkenden Mann die Straße entlanggehen sah. Ich hatte noch nicht viel gegessen, und mein Magen fing sofort furchtbar an zu knurren. Also landete ich ein paar Schritte hinter ihm und schlich mich an ihn heran. Da erhob sich plötzlich im Gebüsch neben mir ein lautes Gebrüll. Es war Jörg der Aufbrausende, der dort gelauert hatte und nun meinte, ich wolle ihm seine Beute wegschnappen. Wutentbrannt kam er auf mich zu. Ich rannte los, Jörg hinterher. Bevor er mich erreichen konnte, rutschte er jedoch auf einem Hundehäufen aus und fiel der Länge nach hin. Schnell schlüpfte ich durch ein Loch in der Hecke, während ich Jörg noch hinter mir her brüllen hörte: ‹Eines Nachts erwische ich dich. Dann mache ich Asche aus dir!›“ Der kleine Vampir brach ab und starrte düster vor sich hin.
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Anton dagegen mußte sich auf die Lippen beißen, um seine Freude nicht allzu deutlich zu zeigen. Vieles hatte er erwartet – die übliche gleichgültige Art des Vampirs, sein ewiges Seufzen und Wehklagen, hundert Ausreden –, aber nicht, daß er so einfach bereit sein könnte mitzufahren. Und nicht nur das: die Angst vor Jörg dem Aufbrausenden würde dafür sorgen, daß er es sich nicht noch einmal anders überlegte, denn nun war er selbst darauf angewiesen, irgendwo 50
unterzukriechen. Jetzt gab es nur noch ein Problem: wie kam der Vampir mit seinem Sarg nach Klein-Oldenbüttel? Doch auch darüber schien der Vampir nachgedacht zu haben. „Wir fahren am besten mit dem Zug“, meinte er. „Du bringst mir etwas von deinen Sachen zum Anziehen mit, und dann reisen wir wie zwei ganz normale Leute. Ich wollte immer schon mal in einem Zug sitzen und nicht nur darüber hinweg fliegen.“ „Und dein S-Sarg?“ „Den verpacken wir. In Geschenkpapier.“ Der Vampir kicherte. „Weißt du denn, ob überhaupt ein Zug nach KleinOldenbüttel fährt?“ fragte Anton. „Etwa nicht?“ rief der Vampir. „Vielleicht haben die nicht mal Schienen in dem Nest“, sagte Anton. Der Vampir machte ein bestürztes Gesicht. „Daran hab ich überhaupt nicht gedacht“, murmelte er. Doch gleich darauf begannen seine Augen wieder zu leuchten, und er rief: „Dann steigen wir im Nachbardorf aus. Auf jeden Fall mußt du dich genau nach den Zugverbindungen erkundigen!“ „Ich?“ sagte Anton. „Wir! Du willst doch auch nach KleinOldenbüttel.“ „Schon. Aber einem Vampir gibt doch niemand Auskunft“, antwortete Rüdiger kleinlaut. „Dann fliegen wir eben beide zum Bahnhof!“ sagte Anton.
Gespenster in Antons Zimmer Eine halbe Stunde später landeten Anton und der kleine Vampir in der mächtigen Krone des Kastanienbaums vor Antons Haus. 51
„Dein Fenster ist offen“, flüsterte der Vampir, der in der Dunkelheit viel besser sehen konnte. „Hoffentlich sind meine Eltern noch nicht da“, murmelte Anton. In diesem Augenblick wurde unten die Haustür geöffnet. Anton erkannte Frau Puvogel, die ihren fetten Dackel Susi an der Leine führte. Susi blieb stehen, hob die Schnauze und witterte. Dann begann sie zu kläffen. „Psst!“ machte Frau Puvogel. Doch Susi bellte weiter und zerrte an der Leine: sie wollte zum Kastanienbaum! Der kleine Vampir rutschte unruhig auf seinem Ast hin und her. „Ich glaube, ich fliege lieber“, knurrte er. Eindringlich fügte er hinzu: „Vergiß nicht: am Samstag an der alten Friedhofsmauer! Und bring ein paar Sachen von dir mit!“ „Und du deinen Sarg!“ antwortete Anton. Der kleine Vampir breitete seinen Umhang aus und schwebte davon. Frau Puvogel warf einen ängstlichen Blick auf die Fenster der umliegenden Wohnungen, dann zog sie Susi zu den Büschen am Spielplatz. Als sie verschwunden war, flog Anton in sein Zimmer und machte das Fenster hinter sich zu. Unter der Tür sah er Licht schimmern. Ob seine Eltern doch schon zurückgekehrt waren? Oder hatten sie vergessen, das Licht auszuschalten? Hastig zog er den Vampirumhang über den Kopf und versteckte ihn im Schrank, unter seiner alten Kniebundhose aus Leder, die er nie trug, und der dazu passenden Trachtenjacke, die seine Oma ihm gestrickt hatte. Dabei horchte er. War das nicht die Stimme seiner Mutter, drüben in der Küche? Er öffnete seine Tür einen Spalt breit, und jetzt konnte er verstehen, was gesprochen wurde: „Und ich sage dir, daß er
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nicht in seinem Bett ist!“ Die Stimme seiner Mutter klang besorgt. „Dann ist er auf dem Klo“, erwiderte sein Vater. „Nein! Da hab ich nachgesehen.“ „Dann ist er bestimmt in dein Bett gekrochen.“ „Nein! Im Schlafzimmer ist er auch nicht.“ „Dann hast du wohl nicht richtig nachgeguckt.“ „Nicht richtig nachgeguckt?“ rief die Mutter empört. „Überzeug dich doch selbst davon!“ „Also gut!“ Anton hörte, wie sein Vater den Stuhl zurückschob und aufstand. Mit einem Satz sprang Anton in sein Bett und zog sich die Decke bis ans Kinn. Gleich darauf hörte er, wie die Tür aufging. „Na bitte!“ Das war die flüsternde Stimme des Vaters. „Er schläft!“ Die Mutter machte ein paar Schritte ins Zimmer und blieb am Bett stehen. Obwohl Anton die Augen fest geschlossen hielt, spürte er, daß sie ihn prüfend von oben bis unten musterte. Doch seine Schuhe, die Jeans und der Pulli waren gut zugedeckt! „Seltsam –“ sie zögerte. „Ich hätte schwören können, daß das Bett leer war.“ „So leicht läßt man sich täuschen!“ „Aber das Fenster – eben war es noch offen...“ „Das bildest du dir nur ein.“ Anton mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht zu lachen. Seine Mutter war viel mißtrauischer als sein Vater! Glücklicherweise gelang es dem Vater meistens, sie durch seine angebliche Welterfahrung und Menschenkenntnis einzuschüchtern, so daß sie ihm, Anton, bisher noch nicht auf die Schliche gekommen war. Das schien auch diesmal zu klappen, denn sie ging zur Tür zurück und schloß sie leise hinter sich. 53
Doch im Flur sagte sie plötzlich: „Seine Sachen lagen nicht da!“ Anton blieb fast das Herz stehen. Nicht auszudenken, was passierte, wenn sie noch einmal zurückkämen und ihn vollkommen angezogen im Bett entdeckten... Aber sein Vater lachte nur. „Du bist überarbeitet, Helga. Du siehst Gespenster.“ „Wenn du meinst“, sagte sie beleidigt. Die Schritte entfernten sich. Dann wurde der Fernseher eingeschaltet. Erleichtert stand Anton auf, knipste seine Schreibtischlampe an und zog sich aus. Die Schuhe stellte er nebeneinander vor das Bett, den Pulli und die Hose hängte er über den Stuhl. So ordentlich war er sonst nicht. Aber vielleicht guckte seine Mutter noch mal rein, dachte er und grinste. Er streifte seinen Schlafanzug über, löschte das Licht und legte sich gemütlich in sein Kissen zurück. Jetzt konnte er in Ruhe noch einmal an das denken, was ihm der Bahnbeamte erzählt hatte.
In der Bahnhofshalle Während sich der kleine Vampir draußen unter einer Tanne versteckt hatte, war Anton durch die – zum Glück menschenleere – Bahnhofshalle zum Fahrkartenschalter gegangen. „Na, mein Kleiner?“ sagte der Mann hinter dem Schalter. „Ich möchte eine Auskunft“, erklärte Anton mit lauter Stimme und schluckte seinen Ärger über das „Kleiner“ herunter. „Und was möchtest du wissen?“ „Wann fährt am nächsten Samstag ein Zug nach KleinOldenbüttel?“ 54
„Da muß ich nachsehen. Vormittags oder nachmittags?“ „Abends. So um neun.“ Der Mann schlug ein Buch auf und blätterte darin. „Wie heißt der Ort?“ „Klein-Oldenbüttel.“ Schließlich schüttelte er den Kopf. „Dort hält kein Zug.“ „Nicht?“ Anton wurde ganz blaß. „Aber ich muß dahin!“ „Vielleicht kannst du im Nachbarort aussteigen. Weißt du, wie der heißt?“ „Groß-Oldenbüttel.“ Wieder guckte der Mann in seinem Buch nach. Schließlich klappte er es zufrieden lächelnd zu und sagte: „Na also! GroßOldenbüttel: Abfahrt 20 Uhr 42, Ankunft 21 Uhr 35. Sag mal, ist das nicht ein bißchen zu spät für dich?“ „Zu spät? N-nein. Mein Bruder fährt mit.“ „Ach so. Er ist wohl älter als du?“ „Viel älter“, kicherte Anton. „Dann kann ja nichts schiefgehen“, meinte der Mann. Anton bedankte sich und ging, die Abfahrts- und Ankunftszeit leise vor sich hinmurmelnd, zum Ausgang. Kurz bevor er ihn erreicht hatte, blieb er jedoch stehen. Was konnte der Mann mit „Dann kann nichts schiefgehen“ gemeint haben? Hatten er und der kleine Vampir bei ihren Reisevorbereitungen etwas übersehen – eine Gefahr, die ihnen im Abendzug drohen könnte? Am besten, er fragte den Mann selbst, überlegte er, und so schlenderte er langsam zum Fahrkartenschalter zurück. „Ich wette, du hast die Abfahrts- und Ankunftszeit vergessen“, sagte der Mann freundlich. „Hier, ich hab sie dir aufgeschrieben.“ „Danke“, murmelte Anton und steckte überrascht den Zettel ein. „Ich wollte Sie noch etwas fragen.“ „Ja?“
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„Wie haben Sie das vorhin gemeint: Dann kann ja nichts schiefgehen?“ „Ich hatte mir nur vorgestellt, was passieren würde, wenn zwei Knirpse wie du nachts allein mit der Bahn fahren wollten.“ „Wa-was denn?“ stammelte Anton. „Der Schaffner würde bestimmt Verdacht schöpfen.“ „Warum?“ „Die beiden könnten von zu Hause ausgerissen sein.“ Bestürzt schwieg Anton. Daran hatten er und Rüdiger überhaupt nicht gedacht! „Aber das braucht dich ja nicht zu beunruhigen!“ sagte der Mann. „Wieso?“ „Dein großer Bruder fährt doch mit.“ „Groß ist er nicht“, antwortete Anton düster. „Nur älter.“ „Über achtzehn?“ „Hm.“ „Na siehst du! Dann kann wirklich nichts schiefgehen. Dein großer Bruder muß nur seinen Ausweis dabeihaben!“ „Au-Ausweis?“ stotterte Anton. „Damit er sich ausweisen kann!“ „Ach so – ach ja.“ Ziemlich durcheinander kam Anton draußen bei der Tanne an. „Alles in Ordnung?“ fragte der kleine Vampir. „Wenn du einen Ausweis hast...“ „Was ist das, ein Ausweis?“ „Ein Papier, auf dem steht, daß du Rüdiger von Schlotterstein bist, geboren am –“ „Hab ich!“ unterbrach ihn der Vampir. „Ehrlich?“ „Natürlich!“
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Anton fiel ein Stein vom Herzen. „Dann bring deinen Ausweis unbedingt am Samstag mit, hörst du!“ „Klar“, sagte der Vampir. „Er ist sowieso im Sarg.“ Anton seufzte noch einmal tief, dann fielen ihm die Augen zu, und er schlief. Er merkte nicht mehr, wie seine Mutter ins Zimmer kam und fassungslos auf seine Kleidungsstücke starrte.
Kofferpacken „Du bist ja schon ganz aufgeregt!“ sagte Antons Mutter am nächsten Samstag beim Frühstück. „So?“ brummte Anton. Ihm war tatsächlich komisch zumute – aber nicht wegen der Koffer, die gleich gepackt werden sollten, auch nicht wegen des Bauernhofes, zu dem seine Eltern morgen früh mit ihm fahren wollten. Es war die Zugfahrt mit dem kleinen Vampir heute abend, die ihm im Magen lag. Nicht einmal die Brötchen, die sein Vater vom Bäcker geholt hatte, wollten ihm schmecken. „Du mußt aber richtig essen, Anton!“ „Ja!“ Lustlos bestrich er ein Brötchen mit Butter. Er biß ein kleines Stück ab und kaute darauf herum. „Du bist doch nicht etwa krank?“ sagte die Mutter. „Nein!“ rief er erschrocken aus. Seine Eltern wollten die Gelegenheit nutzen und heute abend noch einmal ms Kino gehen, bevor sie morgen nach KleinOldenbüttel fuhren. Wenn sie jedoch glaubten, er sei krank, blieben sie vielleicht zu Hause... Das durfte auf keinen Fall geschehen! „Ich bin nur etwas müde“, sagte er und schob sich hastig das halbe Brötchen in den Mund. „Ich esse noch zwei! Darf ich?“ „Natürlich!“ 57
Nach dem Frühstück lag er mit Magenschmerzen auf seinem Bett. „Anton, packst du schon?“ rief sein Vater. „Ja“, antwortete er mit schwacher Stimme. „Vergiß dein Badezeug nicht!“ „Nein.“ Langsam stand Anton auf. Ihm fiel der Wolf aus dem Märchen ein, dessen Bauch die sieben Geißlein mit Steinen gefüllt haben und der nun zum Brunnen geht und ruft: ‹Was rumpelt und pumpelt in meinem Bauch herum?› Er stellte den Koffer aufs Bett und begann, seine Lieblingsbücher einzupacken: ‹Vampire. Die zwölf schrecklichsten Geschichten›, ‹Im Haus des Grafen Dracula›, ‹Vampirgeschichten für Fortgeschrittene› Obendrauf legte er Unterwäsche und Socken, zwei T-shirts mit langen Ärmeln, zwei Pullover, einen Schlafanzug und seine Badehose. „Ich bin fertig!“ rief er laut. „Fertig?“ antwortete die Mutter aus dem Badezimmer. „Das ging aber verdächtig schnell! Bestimmt hast du die Hälfte vergessen!“ „Überhaupt nichts!“ rief er trotzig zurück und zog die Reißverschlüsse an beiden Seiten des Koffers zu. Er hörte, wie seine Mutter durch den Flur kam. Mit einem – wie Anton fand – ziemlich besserwisserischen Lächeln trat sie ins Zimmer. Sie musterte den geschlossenen Koffer. „Viel kannst du nicht eingepackt haben“, meinte sie. „Genügend“, versicherte Anton. „Auch einen Nachtanzug?“ „Klar.“ „Und Unterwäsche?“ „Hab ich.“
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„Und lange Hosen?“ fragte sie. Ohne Antons Antwort abzuwarten, ging sie an den Kleiderschrank und sah hinein. „Brr, wie das muffig riecht!“ schimpfte sie. „Du mußt deinen Schrank mal lüften, Anton!“ Anton unterdrückte ein Kichern. Er wußte, woher dieser Geruch kam: von Rüdigers Umhang, der unter seiner Trachtenhose versteckt lag! Doch jetzt hatte die Mutter Antons neue Jeans entdeckt, die noch auf dem Bügel hingen. „Warum hast du die nicht eingepackt?“ fragte sie. „Ver-vergessen“, stotterte Anton. „Siehst du! Doch etwas vergessen! Gut, daß ich noch einmal nachgeguckt habe!“ „Ja“, knurrte Anton. Er konnte ihr schlecht erzählen, daß er die Hose absichtlich nicht in den Koffer getan hatte, weil er sie heute abend dem kleinen Vampir mitbringen wollte. „Dann packen wir sie schnell dazu“, erklärte die Mutter, öffnete den Koffer und legte die Hose hinein. „An Socken hast du gedacht?“ fragte sie und schob Antons Kleidungsstücke vorsichtig zur Seite. „Ja!“ rief Anton, der das Gefühl hatte, er würde gleich vor Wut platzen. „Überall schnüffelst du herum! Was soll ich jetzt Rüdiger –“ Erschrocken schlug er die Hand vor den Mund. Fast hätte er sich verraten! Seine Mutter sah ihn von der Seite an. „Wolltest du deine neue Hose etwa einem Schulfreund leihen?“ „Nein, ich meine j-ja“, stammelte er. „Er-er wollte mir seine dafür geben.“ Das stimmte zwar nicht, aber wenn ihm seine Mutter die Ausrede sozusagen in den Mund legte... „Er wollte sie für mich eintragen“, fügte er kühn hinzu, „weil ich so nagelneue Hosen nicht mag.“ 59
„Als ob du sie nicht selbst eintragen könntest!“ schimpfte die Mutter und schüttelte mißbilligend den Kopf. „Ich glaube, es ist am besten, wenn ich deinen Koffer mitnehme. Sonst packst du noch deine Gruselbücher ein. Und du sollst dich schließlich erholen!“ Entschlossen zog sie die Reißverschlüsse zu, schloß ab und steckte den Schlüssel in ihre Hosentasche. „Aber Mutti –“ protestierte Anton. „Zu spät“, sagte sie lächelnd und ging mit dem Koffer zur Tür. Anton überlegte noch, ob er sagen sollte, er hätte vergessen, seinen dicken Norweger-Pullover einzupacken, damit sie noch einmal aufschließen mußte. Aber dann dachte er sich, daß sie ohnehin daneben stehenbleiben würde und er die Jeans für Rüdiger doch nicht bekäme. Mist! Glücklicherweise hatte er ‹Dracula› nicht mit eingepackt, sein Buch, das er gerade las. Er nahm es aus dem Regal und streckte sich auf seinem Bett aus. Schon bald hatten ihn die Ereignisse um das Schiff aus Varna, das die Kisten des Grafen Dracula nach England bringen sollte, so in ihren Bann geschlagen, daß er alles um sich herum vergessen hatte – die Jeans, den verschlossenen Koffer und auch das ungelöste Problem, welche Hose der kleine Vampir heute abend anziehen sollte.
Aufbruchstimmung Um halb acht stand Antons Vater fertig angezogen im Flur. Er trug seinen dunkelgrünen Cordanzug, das grüne Hemd und die gelbe Krawatte. „Helga, wie lange dauert es noch?“ rief er ungeduldig. „Noch fünf Minuten“, antwortete die Mutter aus dem Badezimmer.
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„Du hast dich aber schick gemacht“, meinte Anton, der an seiner Zimmertür lehnte. „Nur fürs Kino?“ „Wir gehen auch noch tanzen“, erklärte der Vater. Antons Herz klopfte freudig: dann kehrten sie bestimmt nicht vor Mitternacht nach Hause zurück! Doch er durfte seinen Vater natürlich nicht merken lassen, wie gut das in seine Pläne paßte! „Soo lange bleibt ihr weg?“ sagte er deshalb mit gespielter Enttäuschung. „Immer laßt ihr mich allein!“ „Du wirst dir schon die Zeit vertreiben!“ „Und wie?“ „Mit Fernsehen, vermute ich.“ „Erlaubst du das denn?“ „Na ja, bis zehn – schließlich hast du Ferien.“
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„Oh, prima“, tat er erfreut. Wenn sein Vater wüßte, daß er heute abend nicht vor dem Fernseher, sondern in einem Zugabteil sitzen würde! 62
Antons Mutter kam aus dem Badezimmer. Sie trug eine weiße Bluse und eine schwarze Samthose. Ihre Haare hatte sie zu Löckchen aufgedreht. Während sie ihren Mantel anzog, sagte sie zu Anton: „Und lies nicht mehr so lange, ja?“ „Vati hat gesagt, ich darf fernsehen.“ „So? Was gibt es denn?“ „Wa-was es gibt?“ stotterte Anton. Er hatte gar nicht nachgeguckt, und da er sonst immer genau Bescheid wußte, konnte sie möglicherweise Verdacht schöpfen. „Eine Unterhaltungssendung“, sagte er schnell. „Mit QuiQuiz.“ „Keinen Gruselfilm?“ fragte sie, noch immer mißtrauisch. „Nein!“ versicherte er und mußte grinsen. Heute brauchte er keinen Film, um sich zu gruseln! „Aber um halb zehn gehst du ins Bett. Schließlich sollst du morgen, wenn wir in Urlaub fahren, ausgeschlafen sein.“ „Vati hat gesagt, um zehn.“ „Na gut.“ Es war Viertel vor acht, als seine Eltern abfuhren. Draußen dämmerte es bereits. Um acht war er mit dem kleinen Vampir am Friedhof verabredet. Wenn er sich beeilte, konnte er in zehn Minuten dort sein. Es blieben ihm also noch fünf Minuten. Fünf Minuten, in denen er eine Hose für den kleinen Vampir heraussuchen, den Umhang, der in seinem Schrank lag, in eine Tasche packen und die Fahrkarten einstecken mußte...
Rüdigers neue Kleider Kurz nach acht bog Anton in den dunklen Weg ein, der zum Friedhof führte. Dichte Büsche wuchsen zu beiden Seiten und schienen ihre Zweige nach ihm auszustrecken. Es knackte und knisterte. 63
Plötzlich schrie Anton auf: etwas Weiches war um seine Beine gestrichen und mit einem klagenden Laut im Gebüsch verschwunden. Er begann zu laufen. Am Wegrand, halb verdeckt von den Büschen, stand eine Bank. Voller Schrecken erkannte er, daß sie besetzt war. Jemand saß dort im Dunkeln... Anton schlug das Herz bis zum Hals: sollte es Tante Dorothee sein? Im Näherkommen erkannte er, daß es zwei waren, die auf der Bank saßen – ein Pärchen, das sich umarmte und ihn überhaupt nicht beachtete. Er ging hastig vorbei. Erst als er die alte Friedhofsmauer vor sich sah, atmete er auf. Hier im Schutz der Sträucher mußte der kleine Vampir sein und auf ihn warten! „Rüdiger?“ rief er. Es raschelte im Gebüsch, Zweige brachen. Dann trat eine kleine, in einen Umhang gehüllte Gestalt auf den Weg. „Du?“ meinte Anton überrascht. „Hallo, Anton“, sagte Anna und lächelte. „Ich...“ murmelte er und suchte nach Worten. Auf keinen Fall durfte er sofort nach Rüdiger fragen, wenn er Anna nicht kränken wollte. Er wußte ja, wie empfindlich sie war. „Ich – äh – freu mich, dich zu treffen“, sagte er und hoffte, daß es überzeugend klang. „Ehrlich?“ Sie sah ihn an und strahlte. „Mehr, als wenn du Rüdiger getroffen hättest?“ „Na ja“, meinte er ausweichend. „Eigentlich war ich mit ihm verabredet –“ „Ich weiß“, lächelte sie. „Er wartet auch schon auf dich. Mich hat er nur vorgeschickt, weil er seinen Sarg nicht unbewacht stehen lassen wollte. Komm!“ Sie faßte ihn am Arm und führte ihn zwischen den Büschen hindurch zur Friedhofsmauer. Dort, im Schatten der Mauer, saß Rüdiger auf seinem Sarg. „Du kommst aber spät“, sagte er mit heiserer Stimme. 64
„Ich wußte nicht, welche Hose ich dir mitbringen sollte“, versuchte Anton zu erklären. „Die Jeans, die ich nehmen wollte, hatte meine Mutter in den Koffer gepackt.“ „Und was soll ich nun anziehen?“ knurrte der kleine Vampir. Verschämt zog Anton aus seiner Jutetasche die Hose, die schließlich als einzige in Frage gekommen war: die Kniebundhose aus Leder. Seine braune Cordhose hatte seine Oma mitgenommen, weil sie Flicken auf die Knie nähen wollte, und die schwarze Leinenhose war in der Reinigung. „Diese“, sagte er und hielt sie an ihrem mit Stickerei verzierten Latz in die Höhe. Anna, die neben ihm stand, kicherte leise. Sie fand die Hose offenbar genauso unmöglich wie Anton. „Ich hatte keine andere“, sagte er entschuldigend. Doch dem kleinen Vampir schien die Hose zu gefallen. Mit seinen dürren Fingern strich er über das rauhe Leder und die Stickereien. „Hübsch“, meinte er. Anna lachte lauter. „Du bist wohl neidisch“, sagte er giftig. „Aber das ist meine Hose! Die hat Anton für mich mitgebracht!“ Schnell schlüpfte er hinein. Anton mußte die Hand vor den Mund halten, um nicht zu lachen. Mit seinem kreidebleichen Gesicht, den bis auf die Schulter herabhängenden Haaren, der zu weiten Lederhose, in die er den Umhang gestopft hatte, mit dem bestickten Latz und den Hosenträgern, die um seine hagere Gestalt schlotterten, und den dünnen Beinen in der zerlöcherten Strumpfhose sah der kleine Vampir wie eine Vogelscheuche aus. Vielleicht wirkte er etwas weniger furchterregend, wenn er noch die Trachtenjacke anzog? überlegte Anton. Für alle Fälle hatte er sie eingepackt, ebenso den Tirolerhut, der nach Meinung seiner Oma so gut dazu paßte. Er griff in die Tasche und holte die Jacke heraus. 65
„Die gehört dazu“, sagte er, „wenn du willst...“ „O ja!“ rief der Vampir. Rasch zog er sie an. Ein Leuchten ging über sein Gesicht. „Schön!“ schwärmte er und drehte an den silbernen Knöpfen, die im Mondlicht blitzten. Anton verkniff sich ein Lachen. Anna kicherte verstohlen. „Du siehst aus wie ein Faschingsprinz!“ „Na und? Du bist nur eifersüchtig!“ „Ich hab noch etwas“, sagte Anton und zog den Filzhut mit der grünen Feder hervor. Der Vampir war sofort begeistert. Glücklich lächelnd drückte er den Hut auf sein struppiges Haar. „So einen mit einer Feder hab ich mir schon immer gewünscht!“ Er machte ein paar stolze Schritte um den Sarg herum, während sich Anna und Anton ansahen und ihre Gesichter verzogen, um nicht laut herauszulachen. Verglichen mit seinem „normalen“ Vampiraussehen, wirkte Rüdiger allerdings eher komisch, fand Anton. Und das war vielleicht ganz günstig, wenn sie mit der Bahn fuhren. Mit der Bahn... Siedendheiß fiel ihm ein, daß ihr Zug um 20.42 abfuhr! Und mit dem schweren Sarg brauchten sie bestimmt zehn Minuten bis zum Bahnhof. „Unser Zug fährt gleich. Komm, Rüdiger, beeil dich!“ „Immer mit der Ruhe“, entgegnete der Vampir. „Außerdem sitzt mein Hut nicht richtig.“ „Aber wir kommen zu spät!“ „Unsinn!“ knurrte der Vampir, während er umständlich seinen Hut zurechtrückte. „Typisch Rüdiger!“ zischte Anna. „Dann trage ich den Sarg eben allein!“
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Damit hob sie den Sarg in der Mitte an. Ihre kleinen dünnen Beine schienen unter der Last fast einzuknicken, aber sie reckte ihre schmalen Schultern und ging los. Anton lief neben ihr her. „Soll ich nicht mit anfassen?“ „Nein“, lächelte sie. „Ich schaff das schon.“ „Wartet!“ rief der kleine Vampir. „Ich kann nicht so schnell mit dem Hut!“
Geschenk(tes) Papier Unterwegs rief der kleine Vampir plötzlich: „Halt! Wir müssen den Sarg noch in Geschenkpapier einwickeln!“ Verblüfft blieb Anna stehen und setzte den Sarg ab. „Hast du denn Geschenkpapier?“ „Nein. Aber Anton hat welches.“ Anton erschrak. „Wieso ich?“ „Weil wir das so besprochen hatten“, knurrte der Vampir. „Du solltest etwas zum Anziehen mitbringen – und das Geschenkpapier.“ Anton schüttelte heftig den Kopf. „Das stimmt nicht! Wir hatten nur über die Sachen zum Anziehen gesprochen.“ „Hatte ich etwa nicht gesagt, daß wir den Sarg in Geschenkpapier einwickeln wollten?“
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„Doch. Aber nicht, daß ich das Papier besorgen sollte.“ „Pah!“ sagte der Vampir wütend. „Und was machen wir jetzt?“ 68
„Vielleicht könnt ihr am Bahnhof Geschenkpapier kaufen“, meinte Anna. „Nein“, sagte Anton, „da gibt es keins.“ „Wenn der Sarg nicht verpackt wird, bleibe ich hier!“ drohte der kleine Vampir. „Bei Jörg dem Aufbrausenden?“ entgegnete Anton grinsend. Diesmal würde er sich nicht einschüchtern lassen, denn er wußte ja, wieviel dem kleinen Vampir daran lag, mitzukommen! „Nein, nein“, lenkte der Vampir schnell ein. „Ich fahre natürlich mit. – Aber mein Sarg!“ fügte er mit weinerlicher Stimme hinzu. „Wenn jemand ihn findet, bin ich verloren!“ Anna war inzwischen um den Sarg herumgegangen und hatte ihn kritisch von allen Seiten gemustert. „Ich finde, er sieht gar nicht wie ein Sarg aus“, meinte sie. „Eher wie eine Kiste.“ „Matrosen haben solche Kisten“, sagte Anton. „Aber ich bin kein Matrose“, sagte der Vampir kläglich. „Wie ein Matrose siehst du wirklich nicht aus“, kicherte Anna mit einem Blick auf seinen Trachtenanzug und den Tirolerhut. „Trotzdem kann er so eine Kiste haben“, sagte Anton. „Und jetzt sollten wir endlich weitergehen, damit wir den Zug nicht verpassen!“ Gemeinsam mit Anna trug er den Sarg bis zur hell erleuchteten Bahnhofshalle. „Wenn das nur gutgeht!“ jammerte der kleine Vampir, der ihnen auf zitterigen Beinen folgte. Vor lauter Angst hatte er nicht einmal bemerkt, daß ihm sein Hut ganz schief auf dem Kopf saß. „Kannst du nicht wenigstens mal fragen?“ sagte er flehentlich zu Anton, nachdem sie den Sarg hinter einem Busch abgestellt hatten. „Was soll ich fragen?“ 69
„Ob sie nicht doch Geschenkpapier haben. In Bahnhöfen gibt es doch immer Ki-Ki-Kioske.“ Anton sah auf die große Bahnhofsuhr. Es war zwei Minuten vor halb neun. „Na gut. Aber mach dir keine großen Hoffnungen.“ Mißmutig, weil er sich nun doch hatte überreden lassen, ging er zur Bahnhofshalle hinüber. Warum sollte gerade heute ein Kiosk geöffnet haben? Am letzten Sonntag waren alle Geschäfte geschlossen gewesen. In der Bahnhofshalle fiel sein Blick zuerst auf zwei Frauen, die am Fahrkartenschalter standen. Sie trugen grüne Lodenmäntel, Trachtenhüte und Wanderschuhe. Er mußte grinsen: sie paßten so herrlich zu Rüdigers Verkleidung! Sollten sie in dasselbe Abteil steigen, könnte man die drei für eine Trachtengruppe halten! Dann sah er, daß der kleine Laden gegenüber erleuchtet war. Ein Mann saß hinter der geöffneten Scheibe. „Haben Sie Geschenkpapier?“ fragte Anton. „Ich hatte mal welches“, sagte der Mann, „aber ob das noch da ist...“ Er öffnete eine Schublade, guckte hinein und schüttelte den Kopf. „Das ist wohl verkauft worden.“ „Aber da, im Regal“, rief Anton, der eine bunte Rolle erspäht hatte. Der Mann drehte sich um. „Das ist Schrankpapier“, sagte er. „Könnte ich das nicht haben?“ „Damit wollte ich meine Regale auslegen.“ „Bitte!“ Der Mann zögerte. Er nahm die Rolle und betrachtete sie. „Meinetwegen“, sagte er dann. „Das Muster war mir sowieso zu grell.“ „Toll!“ freute sich Anton. „Und wieviel kostet sie?“ 70
Gut, daß er sich Geld eingesteckt hatte! „Nichts“, sagte der Mann. „Ich schenke sie dir. – Und das Stückchen Schleife dazu.“ Er holte eine Karte mit grünem Schleifenband aus der Schublade. „Danke“, sagte Anton überrascht. „Wenn ich mal wieder Geschenkpapier brauche, komme ich bestimmt zu Ihnen!“ „Lieber nicht“, sagte der Mann. „Das nächste Schrankpapier lege ich nämlich auf die Regale!“
Sargverband „Du hast Geschenkpapier?“ strahlte der kleine Vampir, als Anton mit der Papierrolle und dem Band zurückkam. „Hm“, brummte Anton nur. Er hatte jetzt keine Lust, ihm den Unterschied zwischen Geschenk- und Schrankpapier auseinanderzusetzen. Statt dessen drückte er ihm die Rolle in die Hand und sagte: „Da!“ „Was? Ich?“ rief der Vampir. „Du wolltest doch, daß dein Sarg verpackt wird.“ „Aber –“ hilfesuchend sah er Anna an – „ich bin viel zu ungeschickt. Bestimmt reiß ich das Papier kaputt.“ „Du mußt dir eben Mühe geben“, sagte Anton grinsend und genoß das Gefühl der Überlegenheit, das er plötzlich hatte. „Wir helfen dir“, sagte Anna. Sie hob das eine Ende des Sargs an. „Du mußt das Papier immer rundherum wickeln“, erklärte sie, „so, als wolltest du einen Verband machen.“ „Ja ja“, knurrte der Vampir. Mit beleidigter Miene begann er, das Papier auszurollen. Dabei rutschte ihm der Hut ins Gesicht. Das sah so komisch aus, daß Anna und Anton lachen mußten. Wütend schleuderte der Vampir den Hut ins Gras.
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„Lachen, das könnt ihr!“ rief er. „Aber mir beim Verpacken helfen, das könnt ihr nicht!“ „Wieso?“ sagte Anna empört. „Halte ich etwa nicht den Sarg hoch?“ „Aber Anton steht nur da und grinst!“ „Ohne mich hättest du kein Einwickelpapier“, erwiderte Anton gelassen. Wie oft hatte der Vampir tatenlos zugesehen, wenn er, Anton, sich abmühen mußte! Damals zum Beispiel, als er sich bei Anton im Keller einquartiert hatte und Antons Vater die Bretter aus dem Keller holen wollte, hinter denen sie seinen Sarg versteckt hatten! Mit seiner Müdigkeit und seiner Gleichgültigkeit hatte ihn der Vampir fast zur Verzweiflung gebracht! Nun hatte Anton Oberwasser – aber trotz dieses Triumphes wollte er das nicht ausnutzen. „Ich helf dir ja“, sagte er versöhnlich. „Stell dich drüben auf!“ Folgsam ging der Vampir auf die andere Seite des Sargs und wartete dort, bis Anton ihm das Papier zurollte. Während Anna den Sarg hochhielt, nahm der kleine Vampir die Rolle entgegen und wickelte soviel Papier ab, daß er sie Anton unter dem Sarg wieder durchreichen konnte. Anton wickelte eine weitere Bahn ab und gab die Rolle über den Sarg hinweg an Rüdiger zurück. So hatten sie in kurzer Zeit den ganzen Sarg verpackt. Anna schlang das Band um die Sargmitte und machte eine große Schleife. „Sieht er nicht toll aus?“ „Wie ein Geburtstagspaket“, meinte Anton. Der kleine Vampir seufzte tief. „Einen Sarg würde jedenfalls niemand darin vermuten!“ Mit zufriedenem Lächeln bückte er sich nach seinem Hut und setzte ihn wieder auf. „Gehen wir?“ fragte er. „Ich nicht“, sagte Anna.
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Anton drehte sich erstaunt zu ihr um. „Kommst du nicht mit auf den Bahnsteig?“ Stumm schüttelte sie den Kopf. Ihre Augen waren sehr groß und schimmerten feucht. „Mach’s gut, Anton“, sagte sie leise. „Bis bald!“ Damit breitete sie ihren Umhang aus, und bevor Anton sich von seiner Überraschung erholt hatte, war sie davongeflogen. „Mir wünscht sie nichts Gutes“, knurrte der Vampir. „Und wiederkommen soll ich wohl auch nicht.“ Anton mußte lachen. Rüdiger von Schlotterstein war– eifersüchtig! „Alles überläßt sie mir!“ schimpfte der Vampir weiter. „Bis zum Zug hätte sie den Sarg wenigstens noch tragen können!“ „Das hat sie bestimmt nur deinetwegen nicht getan“, antwortete Anton. „Wieso meinetwegen?“ „Um nicht alle Blicke auf sich zu ziehen. Schließlich hat sie keinen Trachtenanzug an, so wie du.“ „Ach ja“, fiel dem Vampir ein. „Das hätte ich fast vergessen.“ Voller Stolz sah er an sich hinunter. „Ich bin ja nun kein Vampir mehr. Jetzt bin ich –“ Er machte eine Pause und sagte dann selbstgefällig: „Rudi von Schlotterfein der Hübsche!“ Anton unterdrückte mühsam ein Lachen. „Wir müssen uns beeilen“, sagte er. „In zwei Minuten fährt der Zug.“ Der Vampir erschrak. „Um Teufels willen!“ rief er aus und lief an das eine Sargende. „Komm, Anton!“ Anton blieb ungerührt stehen. „Man sagt ‹bitte›!“ belehrte er den kleinen Vampir. „Also dann: bitte!“ sagte der Vampir zähneknirschend. „Kommst du jetzt?“ 73
„Na gut“, sagte Anton gnädig und hob das andere Sargende an.
Alle Vögel sind schon da Als sie die Bahnhofshalle durchquerten, war der Mann im Kiosk damit beschäftigt, die Flaschen auf dem Regal zu ordnen, und drehte ihnen den Rücken zu. Die Frau am Fahrkartenschalter saß über ein Buch gebeugt, in das sie etwas schrieb, und sah nur kurz und ohne ein Zeichen der Verwunderung oder des Erschreckens zu ihnen herüber. Das seltsame Äußere des kleinen Vampirs schien ihr gar nicht aufzufallen. Sonst war niemand zu sehen. Anton atmete erleichtert auf. Den Gang durch die Bahnhofshalle hatte er sich wie ein Spießrutenlaufen vorgestellt, bei dem sie von allen Seiten mißtrauisch beobachtet werden würden. Auch auf dem Bahnsteig, von dem ihr Zug abfahren sollte, zeigte sich, daß er sich offenbar grundlos Sorgen gemacht hatte. Zusammen mit den beiden Frauen in den Lodenmänteln, die langsam auf und ab gingen und sie überhaupt nicht beachteten, waren sie die einzigen, die auf den Zug warteten. „Die haben tolle Hüte!“ sagte der kleine Vampir und zeigte auf die Frauen. „Du darfst sie nicht so anstaunen!“ antwortete Anton. „Sonst schöpfen sie Verdacht.“ „Ihre Hüte sind aber viel schöner als meiner“, schmollte der Vampir. „Nicht mit einer Feder, sondern mit einem Puschel.“ „Mit einem – was?“ „Mit einem Puschel. Sieht aus wie ein Pinsel.“ Jetzt guckte auch Anton neugierig hin. Die Hüte waren mit einem dicken kurzen Haarbüschel verziert. 74
„Das ist ein Gamsbart“, erklärte er. „Der stammt von einer Gemse, so einer Art Ziege.“ Der Vampir verzog sein Gesicht. „Ieeh! Ziege!“ rief er. „Wir Vampire mögen keine Ziegen!“ Zärtlich strich er über die Feder an seinem Hut. „Aber Vögel mögen wir! Die sind mit uns verwandt.“ Sein Aufschrei hatte die beiden Frauen anscheinend erschreckt. Sie waren stehengeblieben und blickten mit besorgten Gesichtern zu ihnen herüber. Schnell stellte sich Anton vor den kleinen Vampir und begann ein Lied zu pfeifen: „Alle Vögel sind schon da...“ Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Frauen einen Blick wechselten. Dann schüttelten sie verständnislos die Köpfe und nahmen ihre Wanderung wieder auf. In diesem Augenblick lief der Zug ein. Es donnerte und dröhnte, Bremsen quietschten. Fasziniert starrte der Vampir auf die langen Wagen. „Ein Zug, ein richtiger Zug!“ murmelte er verzückt.
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„Wenn du noch lange guckst, wird er ohne dich abfahren“, bemerkte Anton bissig. Er hatte gesehen, daß die beiden Frauen bereits in den ersten Wagen stiegen. Das ohnehin bleiche Gesicht des Vampirs wurde noch weißer. „Nur das nicht!“ rief er, packte den Sarg in der Mitte und trug ihn an den Zug. Anton brauchte nur hinterherzulaufen und die Wagentür aufzuhalten.
Abteil-Suche „Geschafft!“ ächzte der Vampir, nachdem sie den drittletzten Wagen bestiegen und den Sarg neben der Eingangstür abgestellt hatten. „Noch nicht!“ erwiderte Anton. „Wieso?“ „Hier im Gang können wir nicht bleiben.“ Der Vampir machte ein ratloses Gesicht. „Warum nicht?“ „Weil hier zu viele Leute vorbeikommen. Wir müssen uns in ein Abteil setzen. Ich geh mal nachsehen, ob eins frei ist.“ „Und ich?“ rief der Vampir mit kläglicher Stimme. „Du wartest hier“, bestimmte Anton. „Und wenn jemand kommt?“ „Dann verschwindest du in der Toilette.“ Anton zeigte auf die Tür mit dem Schild WC. „Du schließt einfach von innen ab. Ich klopfe dreimal, wenn ich zurückkomme.“ „Und mein Sarg?“ „Sarg? Ich sehe keinen Sarg!“ grinste Anton. „Oder meinst du dieses längliche, in wunderschönes Geschenkpapier verpackte Überraschungspaket?“ Doch der kleine Vampir war nicht zu Scherzen aufgelegt. 77
Würdevoll erklärte er: „Meinen Sarg lasse ich nicht unbewacht stehen. Schon gar nicht in einem –“ ‹Zug› wollte er wohl sagen, aber da fuhr die Bahn mit einem Ruck an. Der Vampir machte ein paar taumelnde Schritte und setzte sich dann unfreiwillig rücklings auf seinen Sarg. Überrascht und sprachlos sah er Anton an, der Mühe hatte, ernst zu bleiben. Aber woher sollte der kleine Vampir eigentlich wissen, daß er sich beim Anfahren festhalten mußte? überlegte Anton. Schließlich war er noch nie mit der Eisenbahn gefahren. „Am besten bleibst du da sitzen, bis ich wiederkomme“, sagte er. „Es wird auch bestimmt nicht lange dauern.“ „Hm“, nickte der Vampir. Es schien ihm nur recht zu sein, daß er nicht aufzustehen brauchte. Offensichtlich verwirrte ihn das Rumpeln und Rattern des fahrenden Wagens. „Aber beeil dich“, bat er. Anton stieß die Schwingtür auf, die zu den Abteilen führte. Wie die Helden in den Fernsehfilmen wollte er sein, ganz lässig und locker. Er zog die Mundwinkel nach unten und versuchte, kalt und unerschütterlich auszusehen, während er mit langsamen, wiegenden Cowboyschritten den Gang entlangging. Immerhin war es bald neun Uhr, da durfte er nicht wie ein ängstlicher kleiner Schuljunge wirken! Doch für Antons filmreifen Auftritt gab es gar kein Publikum. Im ersten Abteil saß eine Frau am Fenster, die ihren Kopf zurückgelehnt hatte und offensichtlich eingeschlafen war. Im zweiten Abteil las ein Mann Zeitung, von dem Anton nur die Beine erkennen konnte. Die übrigen Abteile waren leer! Anton entschied sich für das vierte Abteil. Falls unterwegs noch jemand zusteigen sollte, würde der sich bestimmt in eins der freien Abteile setzen, dachte er.
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„Hast du eins gefunden?“ fragte der Vampir aufgeregt, als Anton zurückkehrte. Anton lächelte überlegen. „Komm“, sagte er.
In Sicherheit Mit einem ängstlichen Blick auf den schwankenden Boden stand der Vampir auf. „Ist es weit?“ Anton mußte grinsen. „Nur vier Abteile“, sagte er. Seufzend hob der Vampir das eine Ende des Sarges an. Anton faßte das andere Ende. So trugen sie den Sarg, der Anton noch schwerer und sperriger als sonst vorkam, durch den engen Gang bis in ihr Abteil. Dort schloß Anton rasch die Tür. Nun waren sie in Sicherheit – bis auf weiteres! Das schien auch der Vampir zu denken. Aufatmend ließ er sich in die weichen Polster fallen und reckte sich. „Und dein Sarg?“ rief Anton. „Wieso?“ „Der kann auf keinen Fall zwischen den Sitzen stehen bleiben!“ „Wohin soll er dann?“ „Wir müssen ihn ins Gepäcknetz stellen.“ Verdutzt sah sich der Vampir im Abteil um. „Gepäcknetz? Was ist das?“ „Die Ablage da oben“, sagte Anton ungeduldig. „Das nennt man Gepäcknetz.“ „Ach so. Ja, wenn du meinst –“
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Der Vampir nahm seinen Hut ab, strich liebevoll über die Feder und legte ihn auf den Sitz neben sich. Dann schlug er seelenruhig die dünnen Beine übereinander. „Du kannst ihn gerne hochstellen“, sagte er. „Ich bin damit einverstanden.“ Anton blieb vor Staunen der Mund offen stehen. „Ich???“ rief er. „Glaubst du, ich könnte dieses Ungetüm von Sarg allein da raufkriegen?“ Der Vampir warf ihm einen herablassenden Blick zu, bevor er sich hoheitsvoll erhob. „Ja, das dachte ich“, sagte er, während er den Sarg nahm und ihn scheinbar mühelos auf die Gepäckablage stellte. „Siehst du, es geht ganz einfach.“ „Aber sonst tust du immer so schwach!“ empörte sich Anton. „Es hängt eben davon ab, ob ich vorher etwas zu mir genommen habe“, sagte der Vampir von oben herab. Anton erschauerte. „Dann hast du heute schon ge-gegessen?“ „Allerdings“, antwortete der Vampir und fuhr sich in der Erinnerung daran mit der Zunge über die Lippen. „Oder wäre es dir lieber gewesen, wenn ich hier im Zug...?“ „Nein, nein!“ rief Anton erschrocken. Er merkte, wie ihm ganz komisch wurde. Plötzlich hatte er den Eindruck, als läge etwas Lauerndes in den geröteten Augen des Vampirs, dessen Blick unverwandt auf seinen Hals gerichtet war... Aber war der Vampir nicht sein Freund? Anton schluckte. „Ich – äh, hab was mitgebracht“, stotterte er und zog einen flachen Karton aus der Innentasche seiner Jacke. „‹Fang den Hut!›“ „Fang den – was?“ fragte der Vampir mit rauher Stimme. „Fang den Hut“, antwortete Anton beklommen. Doch zu Antons Erleichterung sagte der Vampir: „Hut ist gut!“ und streichelte seinen Tirolerhut. 80
Als Anton das Spiel zu Hause eingesteckt hatte, war er sich ein bißchen blöd vorgekommen: mit einem Vampir in der Eisenbahn ‹Fang den Hut› spielen zu wollen!
Doch jetzt war er froh, daß sie überhaupt etwas hatten, um sich die Zeit zu vertreiben – damit der Vampir nicht auf dumme Gedanken kam! Rüdiger musterte den Karton. „Kann man dabei gewinnen?“ knurrte er. „Natürlich“, beeilte sich Anton zu versichern. „Gut! Dann können wir meinetwegen anfangen.“
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Hütchen-Vampir Anton setzte sich dem Vampir gegenüber auf den zweiten Fensterplatz. Er nahm das Spielbrett aus dem Karton, legte es auf den Klapptisch zwischen ihnen und zeigte auf die Hütchen. „Welche Farbe möchtest du?“ Der Vampir stieß ein krächzendes Gelächter aus. „Rot, was denn sonst?“ Anton lief ein Schauer über den Rücken. Er sagte aber nichts, sondern schob dem Vampir das runde rote Feld des Spielplans und die vier roten Hütchen zu. Für sich setzte er die gelben Hütchen auf das runde gelbe Feld. „Und wie spielt man?“ knurrte der Vampir. Anton sagte: „Ich zeig es dir“, und nahm ein rotes und ein gelbes Hütchen und stellte sie mit einem Zwischenraum von drei Feldern auf den Spielplan. „Du könntest mich fangen, wenn du jetzt eine 4 gewürfelt hättest“, erklärte er, „so“: er legte den Würfel mit der 4 nach oben, nahm das rote Hütchen, ließ es vier Felder vorrücken und stülpte es über das gelbe Hütchen. „Jetzt ist das gelbe gefangen!“ Der Vampir lächelte freudig. „Und was macht man mit den gefangenen?“ fragte er. „Die versucht man in sein Feld zurückzubringen“, antwortete Anton und zeigte auf das rote Feld des Vampirs. „Und was geschieht mit ihnen?“ Die Augen des Vampirs funkelten erwartungsvoll. „Nichts“, sagte Anton, verblüfft über die Frage. „Am Schluß wird gezählt, wer die meisten Hütchen hat. Der hat gewonnen.“ „Nur zählen?“ sagte der Vampir enttäuscht. „Eure Menschenspiele sind nicht gerade spannend!“ „Wieso?“ fragte Anton erstaunt.
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„Man müßte eine neue Spielregel erfinden.“ Der kleine Vampir deutete auf das goldene Hütchen, das noch im Karton lag. „Welche Aufgabe hat das?“ „Keine Ahnung“, antwortete Anton. Der Vampir nahm das Hütchen und drehte es zwischen seinen dürren Fingern. „Ich hab eine Idee“, sagte er. „Und?“ fragte Anton. „Dieses goldene Hütchen“, erklärte der Vampir, „wird ein Hütchen-Vampir!“ „Hütchen-Vampir?“ Anton machte ein verständnisloses Gesicht. „Alle Hütchen, die von diesem gebissen – äh, gefangen worden sind, werden ebenfalls Hütchen-Vampire“, sagte der Vampir und kicherte. „Bis schließlich nur noch HütchenVampire im Spiel sind. Ist das nicht toll?“ „Na ja“, sagte Anton ausweichend. Überzeugt hatte ihn der Einfall des Vampirs nicht. „Wir könnten es mal ausprobieren.“ Eifrig schob ihm der Vampir seine vier roten Hütchen zu, so daß Anton nun acht Hütchen hatte. In die Mitte seines roten Feldes stellte der Vampir das goldene Hütchen. „Du darfst als erster würfeln“, sagte er leutselig. Anton würfelte: 6. Er nahm ein gelbes Hütchen und ließ es sechs Felder vorrücken. Dann würfelte der Vampir: 2. „He, das ist ungerecht“, empörte er sich und wollte noch einmal würfeln. „Ich bin dran!“ protestierte Anton und griff nach dem Würfel. Mißmutig ließ der Vampir sein goldenes Hütchen zwei Felder vorangehen. Jetzt würfelte Anton: 5.
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Mit dem Zeigefinger zählte der Vampir, wie viele Felder die beiden Hütchen noch voneinander trennten. „Drei...“ murmelte er. „Gleich hab ich dich!“ Er würfelte: 6! „Mist!“ schimpfte er und ging sechs Felder weiter. Anton biß sich auf die Lippen, um nicht zu lachen, und würfelte: 3! Der Vampir erstarrte. „Ich hab gewonnen!“ rief Anton mit nur schlecht versteckter Siegesfreude. Um die Mundwinkel des Vampirs begann es zu zucken. „Gewonnen?“ rief er mit dröhnender Stimme. „Da war ein Trick dabei!“ „Überhaupt nicht!“ sagte Anton. „Ich hab nur mehr Glück gehabt beim Würfeln.“ „Glück! Glück!“ fauchte der Vampir und sah Anton mit böse blitzenden Augen an. „Soll ich dir zeigen, was ich von deinem dämlichen Spiel halte?“ Damit schlug er so heftig auf das Spielfeld, daß es durch die Luft wirbelte und im Gang zwischen den Sitzen liegenblieb. Die Hütchen wurden über die Polster und den Gang verstreut. Der Würfel landete vor der Abteiltür.
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Antons erster Gedanke war, wütend aufzuspringen. Doch dann sagte er sich, daß der Vampir genau das erreichen wollte, und so blieb er ruhig sitzen und sah aus dem Fenster. Draußen 85
war es inzwischen ganz dunkel geworden, und er zählte die vorbeisausenden Lichter. Wie er vorausgesehen hatte, verwirrte sein scheinbarer Gleichmut den Vampir. Er rutschte unbehaglich auf seinem Sitz hin und her und beobachtete Anton. Nach einer Weile fragte er: „Bist du gar nicht sauer?“ „Nein“, log Anton. Mit heimlicher Freude fügte er hinzu: „Ich überlege nur, ob ich mich nicht in ein anderes Abteil setzen soll.“ „Was?“ rief der Vampir. „In ein anderes Abteil? Und was soll dann aus mir werden?“ Anton mußte grinsen. „Wir streiten uns doch sowieso nur. Bestimmt möchtest du viel lieber allein sein!“ „Nein!“ schrie der Vampir. Seine Lippen bebten, und seine roten Augen flackerten. „Ich weiß ja gar nicht, wie man sich hier im Zug benehmen muß“, stammelte er. „Allerdings“, stimmte Anton ihm zu. „Und außerdem, ich – ich bin ganz hilflos ohne dich!“ Anton lächelte geschmeichelt. „Wenn das so ist“, sagte er listig, „solltest du vielleicht etwas höflicher zu mir sein.“ „Das will ich auch“, versprach der Vampir hastig. „Gut!“ sagte Anton. „Dann kannst du als erstes die Teile des Spiels wieder aufheben.“
Rüdiger erzählt Nachdem er das Spiel wieder aufgebaut hatte, fragte der Vampir mit einer für ihn ganz ungewohnten Zuvorkommenheit: „Spielen wir noch mal?“ „Ach“, sagte Anton, „besonders spannend war es wirklich nicht.“ 86
„Aber wenn wir so spielen, wie du es vorgeschlagen hattest?“ „Nein. Mit dir hat das keinen Zweck.“ „Wieso?“ „Weil du immer gewinnen willst.“ „Ich?“ empörte sich der Vampir. „Du hast damit angefangen! Du wolltest, daß wir zählen, wer die meisten Hütchen hat.“ „Und wer hat gefragt, ob man bei dem Spiel auch gewinnen kann?“ erwiderte Anton. „Wer? Du natürlich!“ sagte der Vampir. Bei soviel Dreistigkeit verschlug es Anton einen Augenblick lang die Sprache. Dann sagte er wütend: „Du bist genau wie dein Bruder Lumpi, der es auch nicht ertragen kann, wenn er verliert.“ Doch anstatt sich getroffen zu fühlen, lächelte der Vampir hocherfreut. „Findest du?“ Versonnen fügte er hinzu: „Das hätte Lumpi hören müssen! Er behauptet immer, ich sei aus der Art geschlagen. Das weiße Schaf der Familie, sozusagen.“ „Du?“ sagte Anton giftig. „Bestimmt nicht!“ „Doch, doch, das behauptet er!“ Der kleine Vampir lehnte sich in seinem Sitz zurück und schlug die Beine übereinander. „Einmal hatten Lumpi und ich vom Familienrat den Auftrag erhalten, Geiermeier einen Denkzettel zu verpassen“, erzählte er. „Um Mitternacht sollten wir zu seinem Haus gehen und klingeln. Brr!“ Bei der Erinnerung daran schüttelte er sich. Anton konnte sich gut vorstellen, wie dem Vampir dabei zumute gewesen sein mußte, denn auch er dachte nur mit Schrecken an den Friedhofswärter, der von dem Ehrgeiz besessen war, die Vampire mitsamt ihren Gräbern zu vernichten, und der deshalb stets angespitzte Holzpflöcke und einen Hammer bei sich trug, wenn er auf dem Friedhof herumstöberte. „Und dann?“ fragte Anton. 87
„Dann sollte ich ihn vor das Haus locken. Ich sollte rufen: ‹Herr Geiermeier, Ihr Holzschuppen brennt!› Lumpi sollte ihn anbeißen. Nur ein bißchen, eben als Denkzettel. Und ich sollte mit roter Farbe Vampirgräber im Versteck, Geiermeier, Hände weg! -auf die Tür schreiben.“ Anton zitterte vor Spannung. „Ja, und?“ rief er. „Nun...“ Der Vampir genoß Antons Aufgeregtheit sichtlich. „Ich klingele also... Nichts rührt sich. Neben mir raschelt Lumpi im Gebüsch, und mir wird ganz weich in den Knien. Ich drücke noch einmal auf den Klingelknopf. Schauerlich klingt der schrille Ton durch die Stille, die ringsum herrscht...“ „He, spann mich nicht so auf die Folter!“ rief Anton. „Und plötzlich...: Schritte! Leise, schlurfende Schritte! Sie nähern sich der Tür. Dann hustet jemand. Mir wird ganz übel...“ „Mir auch“, murmelte Anton. „Jetzt höre ich die heisere Stimme Geiermeiers. ‹Was ist los?› fragt er. Eine Woge von Knoblauchdämpfen dringt durch die Türritzen und umnebelt mich, so daß mir fast schwarz vor Augen wird. Ich will sprechen, aber ich kann nicht. Keinen Ton bringe ich über die Lippen. Da ruft Lumpi: ‹Herr Geiermeier, Ihr Holzschuppen brennt!› Im selben Augenblick geht die Tür auf. Aber es ist nicht Geiermeier, der mir gegenübertritt –“ „Nicht?“ „Es ist ein Wesen mit Augen wie glühende Kohlen. Es stößt einen Schrei aus, der mir durch Mark und Bein geht, macht einen Satz... und landet auf meiner Schulter!“ Anton starrte den Vampir mit offenem Mund an. „Auf deiner Schulter? War es denn so klein?“ Der Vampir senkte den Kopf. 88
„Es war eine Katze“, sagte er beschämt. „Eine Katze?“ staunte Anton. „Ja. Geiermeiers Katze. Er war vorsichtig genug gewesen, im Schatten der Tür stehenzubleiben. So konnte ich nur die leuchtenden Augen seiner Katze sehen, die er auf dem Arm hielt. Als Geiermeier erkannt hatte, wer vor seiner Tür stand, nahm er die Katze und schleuderte sie auf mich.“ Er stockte. Auf seiner bleichen Stirn standen Schweißperlen. „Ich war so entsetzt, daß ich davonrannte, ohne mich noch einmal umzudrehen. ‹Warte, du Strolch, wenn ich dich kriege!› hörte ich Geiermeier hinter mir her rufen, aber ich lief so schnell, wie ich niemals vorher gelaufen war.“ „Und woher weißt du, daß es eine Katze war?“ fragte Anton. „Lumpi hat es mir später erzählt. Aus seinem Gebüsch heraus konnte er alles beobachten, ohne von Geiermeier entdeckt zu werden. – Und seitdem heißt es, ich sei das weiße Schaf der Familie, weil ich vor einer Katze Reißaus nehme.“ Er machte ein so trauriges Gesicht, daß Anton lachen mußte.
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„Ich hätte mich auch erschrocken“, versuchte er den Vampir zu trösten. „Außerdem finde ich es sehr mutig von dir, daß du dich getraut hast, bei Geiermeier zu klingeln.“ „Ehrlich?“ Der Vampir lächelte schon wieder. „Ehrlich! Und Angst hat jeder mal.“ „Sogar ein Vampir“, sagte der kleine Vampir und seufzte.
Böse Überraschung Der Vampir nahm seinen Hut und setzte ihn wieder auf. „Du bist ein echter Freund“, sagte er schwärmerisch. „Das sieht man schon daran, daß du mir die tollen Sachen geschenkt hast.“ Liebevoll ließ er seinen Blick über die Trachtenjacke und die Kniebundhose gleiten. „Du hast sie mir doch geschenkt?“ „Geschenkt?“ Anton mußte lachen. „Von mir aus gern! Aber ich glaub nicht, daß meine Mutter und meine Oma damit einverstanden...“ Er stockte und sah zur Abteiltür. „Hörst du nichts?“ „Nein“, sagte der Vampir. „Nur dieses schreckliche Geratter!“ „Da kommt jemand!“ flüsterte Anton. Der Vampir erschrak. „Zu uns?“ „Vielleicht der Schaffner?“ Plötzlich fiel Anton ein, was er den Vampir die ganze Zeit hatte fragen wollen: „Hast du deinen Ausweis dabei?“ Stolz sagte der Vampir: „Natürlich! Im Sarg!“ „Im Sarg?“ schrie Anton auf. Der Vampir machte ein verdutztes Gesicht. „Da ist er am sichersten.“
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„O nein!“ stöhnte Anton und faßte sich an die Stirn. Warum nur hatte er nicht rechtzeitig danach gefragt? „Und wenn der Schaffner kommt und deinen Ausweis sehen will?“ „Ach so –“ Langsam schien der Vampir zu verstehen. „Du meinst, weil wir den Sarg eingewickelt haben...“ „Genau! Dann mußt du das Papier losmachen, und der Schaffner kann sehen, daß es überhaupt kein Paket ist!“ Die Augen des Vampirs wurden starr vor Schreck. „Meinst du?“ Seine Lippen bebten. „Und was machen wir nun?“ „Keine Ahnung“, sagte Anton noch, da wurde die Abteiltür geöffnet, und eine Dame guckte, freundlich blinzelnd, zu ihnen herein. „Ist bei Ihnen noch ein Plätzchen frei?“ fragte sie.
Giftich – mit ch Anton und der kleine Vampir sahen sich erschrocken an. „Ja, also–“ begann Anton. Er mußte auf jeden Fall verhindern, daß sie sich in ihr Abteil setzte – aber wie? Wenn er allzu unhöflich wurde, bestand die Gefahr, daß sie sich beim Schaffner beschwerte. „Wissen Sie...“ Die Dame hatte Antons Zögern offenbar ganz anders gedeutet. Sie sagte: „Sehr freundlich von Ihnen!“ und trat ein. Anton blieb fast das Herz stehen. „A-aber“, stotterte er und sah ratsuchend den kleinen Vampir an. Der beobachtete mit finsterem Blick, wie die Dame eine Reisetasche, einen Korb und eine Plastiktüte hereinstellte und im Gepäcknetz verstaute. Dann schloß sie die Abteiltür und setzte sich auf den Platz an der Tür, zwei Plätze neben Anton.
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Sie schien überhaupt nicht zu merken, wie unerwünscht sie war, denn sie sagte fröhlich: „Gott sei Dank, Sie sind Nichtraucher! Bei Ihnen werde ich mich bestimmt wohl fühlen. Wissen Sie, ich habe eben in einem Abteil mit zwei Herren gesessen, sehr netten Herren, aber schon nach kurzer Zeit fingen sie an zu rauchen. Und da ich Rauch nicht vertrage, bin ich lieber ausgewandert.“ Sie lachte und sog prüfend die Luft ein. „Bei Ihnen riecht es aber auch komisch“, meinte sie. „Na ja, die alten Polster! – Übrigens, ich heiße Frau Giftich – mit ch. Und Sie?“ „Wir?“ „Ja, Sie.“ Sie drehte sich zu Anton herum und blickte ihn mit merkwürdig zwinkernden Augen an. „Ich kann Sie gar nicht richtig sehen“, sagte sie plötzlich. „Alles ist so verschwommen.“ Sie faßte sich an die Augen. „Meine Brille!“ rief sie. „Ich habe meine Brille gar nicht aufgesetzt!“ Aufgeregt fing sie an, in ihrer Handtasche zu suchen. Anton biß sich auf die Lippen, denn er konnte genau sehen, wo ihre Brille war: das Ende des einen Brillenbügels guckte aus der Brusttasche ihrer Jacke heraus! Auch der Vampir hatte es bemerkt und machte Anton mit einem bedeutungsvollen Kopfnicken darauf aufmerksam. „Wo ist sie bloß?“ murmelte sie vor sich hin. „Ob ich sie bei meiner Tochter vergessen habe? Ja, so wird es sein! Ich habe sie dort liegenlassen!“ Anton kicherte verstohlen. Er kam sich ein wenig schuftig vor, weil er ihr nicht sagte, wo ihre Brille steckte. Andererseits war es für den kleinen Vampir und ihn viel ungefährlicher, mit jemandem in einem Abteil zu sitzen, der nicht richtig gucken konnte. Nun wagte Anton auch, sie genauer zu mustern. Wie alt mochte sie sein? Fünfzig, sechzig? Bestimmt war sie jünger als 93
seine Oma, und die war schon über sechzig. Jedenfalls sah sie nicht wie eine Oma aus, fand er: sie trug einen Hosenanzug, ein buntes Halstuch, eine Perlenkette und große Ohrringe. Ihr sehr blondes Haar war sicherlich gefärbt, dachte er.
Ein schlechter Scherz Jetzt klappte die Dame ihre Handtasche zu und seufzte. „Zum Glück habe ich zu Hause eine Ersatzbrille!“ Anton und der kleine Vampir sahen sich an und lächelten verschwörerisch. Doch ihre Heiterkeit hielt nicht lange an. „Wie war noch Ihr Name?“ fragte die Dame. „Mein – Name?“ sagte Anton und warf dem Vampir einen hilfesuchenden Blick zu. Doch der zuckte nur ratlos mit den Achseln. „Also ich – ich bin Anton Bohnsack“, sagte er schließlich zögernd. „Und das – das ist mein Bruder, Rüdiger von Schlotterstein.“ „Brüder? Ach, wie nett! Aber warum haben Sie dann zwei verschiedene Familiennamen?“ „Zwei verschiedene – ach ja...“ Das hatte er nicht bedacht. Doch ihm fiel eine Ausrede ein. „Unsere Mutter hat zweimal geheiratet, wissen Sie. Mein Bruder stammt aus erster Ehe. Er ist auch viel älter.“ Anton hatte das „viel“ so betont, daß sie belustigt nachfragte: „So viel? Wie alt ist er denn?“ Anton erschrak. Was sollte er darauf antworten? „Vierzehn“, sagte an seiner Stelle der Vampir mit Grabesstimme. „Vierzehn?“ wiederholte sie und lachte. „Dann darf ich ja noch ‹du› zu euch sagen! Wie waren noch eure Vornamen? Anton und –“ „Rüdiger“, knurrte der Vampir. 94
„Anton und Rüdiger! Und ich habe euch für Erwachsene gehalten – ich mit meinen schlechten Augen! Dürft ihr denn überhaupt noch so spät abends unterwegs sein? Macht eure Mutter sich keine Sorgen?“ „Die doch nicht“, krächzte der Vampir. Schnell sagte Anton: „Wir fahren nämlich zu unserer Tante – aufs Land.“ „Und wohin?“ „Nach Klein-Oldenbüttel.“ „Nach Klein-Oldenbüttel?“ rief sie überrascht. „Dann haben wir ja dasselbe Reiseziel!“ „Wieso?“ sagte Anton erschrocken. „Fahren Sie etwa auch nach Klein-Oldenbüttel?“ Sie lachte. „Nein. Aber ich muß in Groß-Oldenbüttel aussteigen, genau wie ihr. Ich wohne in Laumühlen, einem Nachbarort.“ „Auch das noch“, flüsterte Anton dem Vampir zu. „Wie heißt denn eure Tante?“ „Wie unsere T-Tante heißt?“ Anton zuckte zusammen. Natürlich hatte er den Namen der Familie, bei der sie Urlaub machen wollten, längst vergessen. Er wußte nur noch, daß sie an der Alten Dorfstraße 13 wohnte – aber das würde er ihr natürlich nicht verraten! „Ihren Nachnamen weiß ich nicht mehr“, sagte er. „Wir nennen sie immer nur Tante Inge.“ Da es in Klein-Oldenbüttel vermutlich mehrere Frauen mit dem Namen Inge gab, würde die Dame wohl kaum merken, daß er sie angeschwindelt hatte. „Inge, Inge...“ überlegte sie. „Inge Piepenbrink?“ Anton biß sich auf die Zunge, um nicht zu lachen, und schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Inge Grotenblom?“ „Nein.“
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„Na ja“, sagte sie, „so genau kenne ich mich dort auch nicht aus. Schließlich ist Laumühlen dreißig Kilometer von KleinOldenbüttel entfernt.“ Zum Glück! Anton grinste dem Vampir zu. „Dann holt euch eure Tante sicherlich vom Bahnhof ab?“ „Wie-wieso?“ „Weil es noch zwei Kilometer bis Klein-Oldenbüttel sind!“ „Hm, ja –“ Ratsuchend blickte Anton den kleinen Vampir an, der jedoch nur nervös mit den Fingern knackte. „Sonst bringen wir euch gern nach Klein-Oldenbüttel! Mein Mann wartet nämlich am Bahnhof mit dem Auto auf mich.“ „Nein, nein, vielen Dank!“ sagte Anton hastig. „Natürlich holt unsere Tante uns ab! Außerdem würde unser Geschenk bestimmt nicht in Ihr Auto passen.“ Damit zeigte er auf den verpackten Sarg. Sie blinzelte. „Das ist aber groß!“ „Es ist auch viel drin“, erklärte Anton. „Alles, was man auf dem Lande nicht kaufen kann. Hemden, Hosen, Handtücher, Zahnbürsten, Socken, Rasierwasser –“ Er brach ab, weil ihm nichts mehr einfiel. Grinsend ergänzte der Vampir: „– und Blut! Blut in Flaschen, Blut in Gläsern, Blut in Dosen...“ „Wie bitte?“ sagte die Dame befremdet. „Blut?“ „Mein Bruder macht nur Witze“, erklärte Anton schnell, um die Dame zu beruhigen. „Mit solchen Dingen spaßt man nicht!“ belehrte sie ihn. „Blut ist etwas sehr Kostbares! Unser Lebenssaft! Aber davon versteht ihr Kinder offenbar noch nichts. Oder weißt du, wozu unser Körper das Blut braucht?“ „Ob ich weiß, wozu unser Körper –“ Anton stockte. Mit einem Seitenblick streifte er den Vampir. „Nein!“ „Na siehst du! Das Blut versorgt unseren Körper mit Nährstoffen und mit Sauerstoff. Das weiß ich, weil ich früher Blutspenderin war.“ 96
„Blutspenderin?“ Auf einmal glänzten die Augen des Vampirs, und seine Zähne schlugen klickend aufeinander. „Hatten Sie denn so gutes Blut?“ Sie lachte selbstgefällig. „Und ob! Ich habe noch immer gutes Blut!“ „Aber jetzt spenden Sie keins mehr?“ fragte der Vampir mit rauher, kehliger Stimme. „Nein.“ „Dann müßten Sie ja voller Blut sein!“ „Ja.“ Sie lachte. Glücklicherweise schien sie nicht zu bemerken, daß der Vampir sein schreckliches Raubtiergebiß entblößt hatte und sich nun mit verzücktem Blick langsam, Zentimeter um Zentimeter, von seinem Sitz erhob. Sekundenlang war Anton vor Schreck wie gelähmt. Dann sprang er auf, stürzte sich auf den Vampir und drückte ihn in seinen Sitz zurück. „Rüdiger!“ rief er und schüttelte ihn. „Was ist?“ fragte die Dame besorgt. „Ist deinem Bruder schlecht geworden, weil wir so viel über Blut gesprochen haben? Er ist wohl etwas empfindlich, wie?“ „Ja, ja“, stimmte Anton hastig zu. „Sehr empfindlich. Vor allem sein Magen. Wahrscheinlich hat er nicht genug gegessen.“ „Ach, dein Bruder hat Hunger!“ sagte sie. „Wenn das alles ist!“ Sie stand auf und nahm ihren Korb aus dem Gepäcknetz. „Zu essen habe ich genug!“
Nachtmahl zu dritt Die Dame legte ein weißes Tuch auf den Sitz zwischen sich und Anton und begann, die Dinge, die sie in ihrem Korb hatte, 97
vor ihnen auszubreiten: zwei Brötchen mit Wurst, zwei mit Käse, drei hartgekochte Eier, zwei Äpfel, zwei Tomaten, eine Tafel Pfefferminzschokolade und eine Thermoskanne. Alles sah so lecker aus, daß Anton das Wasser im Mund zusammenlief. Zu Hause beim Abendbrot hatte er vor Aufregung kaum etwas herunterbekommen, nur Tee und eine Scheibe Knäckebrot. Jetzt knurrte sein Magen. „Greift nur kräftig zu!“ ermunterte sie die Dame. „Danke“, sagte Anton und nahm sich ein Brötchen mit Käse. „Und dein Bruder? Was möchte der?“ „Der? Ein Wurstbrötchen!“ Der Vampir hob abwehrend die Hände, doch Anton reichte ihm entschlossen ein Brötchen mit Wurst. „Nimm schon!“ zischte er. „Du brauchst es ja nicht richtig zu essen!“ Voller Abscheu betrachtete der Vampir das Brötchen in seiner Hand, zwischen dessen Hälften eine dicke Mettwurstscheibe hervorquoll. „Und was soll ich damit?“ fragte er. Anton warf einen besorgten Blick zu der Dame hinüber, bevor er antwortete. Doch sie war damit beschäftigt, Kaffee aus der Thermoskanne in einen Becher zu gießen, und achtete nicht auf sie. „Du gibst es mir einfach wieder“, erklärte er flüsternd. „Ach so!“ Der Vampir seufzte erleichtert. Die Dame trank einen Schluck Kaffee und fragte: „Schmeckt’s?“ „Sehr!“ antwortete der Vampir. Dabei gab er das Brötchen an Anton zurück, der es genüßlich verzehrte. „Das freut mich! Und eure Mutter hat euch überhaupt nichts mitgegeben?“ „Nö“, sagte Anton mit vollem Mund.
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Sie schüttelte ungläubig den Kopf. „Um euch Kinder muß man sich doch kümmern! – Na, nun habt ihr ja mich“, fügte sie lachend hinzu. „Ihr dürft mich auch Tante Gretel nennen. Aber ihr eßt ja gar nichts!“ „Doch, doch“, sagte Anton, der sich bei „Tante Gretel“ fast verschluckt hätte, und nahm sich einen Apfel. „Und Rüdiger? Ist der schon satt?“ Unsicher blinzelnd sah sie in die Richtung des kleinen Vampirs. „Noch nicht ganz“, erwiderte der Vampir mit knarrender Stimme. „Er möchte nur noch eine Tomate“, sagte Anton schnell. „Nur eine Tomate?“ Sie holte einen Pappteller aus ihrem Korb. „Obwohl er so ausgehungert war, dein Bruder? Nein! Ich stelle ihm ein richtig schönes Menü zusammen!“ Sie legte ein hartgekochtes Ei, einen Apfel, eine Tomate, zwei Riegel Schokolade und das zweite Wurstbrötchen auf den Teller. Dann reichte sie ihn Anton. „Hier! Das wird deinem Bruder guttun!“ Anton mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht zu lachen.
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Der Teller zitterte in seiner Hand, als er ihn dem kleinen Vampir gab. „Danke – Tante Gretel!“ knurrte der Vampir.
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Er stellte den Teller auf den kleinen Tisch neben das Fangden-Hut-Spiel und tat, als würde er essen, während er heimlich Anton die Schokolade zuschob. „Und fahrt ihr öfter allein mit der Bahn?“ erkundigte sich die Dame. „Wir? Nein!“ sagte Anton. „Auch nicht zu eurer Tante?“ „Sonst fliegen wir immer“, sagte der Vampir und lachte krächzend. „Dein Bruder ist wirklich ein Spaßvogel!“ Die Stimme der Dame klang ein wenig verärgert. „Idiot!“ fauchte Anton den Vampir an. Zur Dame gewandt, sagte er: „Das müssen Sie nicht so ernst nehmen. Er ist nämlich in den Flegeljahren, sagt unsere Mutter.“ Sie nickte verständnisvoll. „Ach, deshalb!“ Sie konnte nicht sehen, wie der Vampir, der sich in seiner Eitelkeit gekränkt fühlte, wütende Grimassen schnitt. „Aber das gibt sich wieder“, meinte sie, „spätestens in einem Jahr ist aus deinem Bruder ein netter junger Mann geworden.“
Nur Geschichten „... wie dieser junge Mann in dem Buch, das ich gerade lese, dieser Rechtsanwalt, wie heißt er noch gleich?“ Die Dame nahm ein Buch aus ihrer Handtasche und blätterte darin, um es gleich darauf ärgerlich wieder zuzuschlagen. „Ach, ich kann ja gar nicht lesen ohne Brille!“ Das Buch hatte Antons Neugier geweckt: auf dem schwarzen Einband erkannte er eine Fledermaus! Er reckte den Kopf und versuchte, den Titel zu lesen. „Das Buch soll sehr spannend sein“, fuhr die Dame fort. „Ich habe es von meiner Tochter, die es in einer Nacht durchgelesen hat. Es erzählt von einem jungen Mann, einem Engländer, der 101
auf eine Geschäftsreise in die Karpaten geschickt wird. Dort soll er einen seltsamen Grafen in seinem Schloß besuchen –“ „Etwa Graf Dracula?“ rief Anton atemlos. Auch der Vampir horchte auf. Überrascht fragte sie: „Kennst du das Buch?“ „Ein bißchen“, sagte Anton verschämt. Daß es sein Lieblingsbuch war, brauchte sie ja nicht zu erfahren! „Liest du auch so gern spannende Bücher?“ Ihre Stimme bekam einen schwärmerischen Ton. „Meine Tochter und ich sind ganz versessen auf Gruselgeschichten! Aber richtig schaurig müssen sie sein, damit es einem kalt über den Rücken läuft. Man muß sie nach Einbruch der Dunkelheit lesen, wenn der Wind ums Haus heult und wenn es überall so unheimlich knackt und wispert...“ Sie stieß einen wohligen Seufzer aus. „Vampirgeschichten lesen wir besonders gern. Die sind so –“ sie suchte nach dem passenden Wort, „– so romantisch!“ Der kleine Vampir lachte hohl auf. Vampir sein zu müssen war alles andere als romantisch! „Das sind auch nur Geschichten“, knurrte er. „Gott sei Dank!“ lachte sie. „Das ist gerade so schön daran! Du kannst die schrecklichsten Dinge lesen, und gleichzeitig weißt du, daß alles nur Phantasie ist!“ „Nur Phantasie?“ sagte der Vampir heiser. „In Wirklichkeit gibt es weder Geister noch Gespenster, noch Vampire –“ „So? Meinen Sie?“ rief der Vampir. Die Dame lachte. „Glaubt ihr vielleicht, daß es Tote gibt, die nachts aus ihren Gräbern steigen, um Menschen das Blut auszusaugen? Ich nicht!“ Der Vampir gab ein leises, bedrohliches Knurren von sich, während ihm Anton beschwörende Zeichen machte, sich nicht reizen zu lassen, sondern ganz ruhig und gelassen zu bleiben.
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Die Dame schien davon nichts zu bemerken. Heiter sagte sie: „Oder habt ihr schon mal einen Vampir getroffen? So einen leichenblassen, halb vermoderten, mit spitzen Raubtierzähnen?“ Sie brach ab, denn die Abteiltür wurde geöffnet. Ein Mann in einer Uniform trat ein und sagte: „Ihre Fahrkarten, bitte!“
Der Schaffner Ein eisiger Schreck durchfuhr Anton. Mit zitternden Fingern griff er in seine Jackentasche, wo die beiden Fahrkarten steckten, die er am Montag nach der Schule gekauft hatte. Zum Glück war genug Geld in seiner Spardose gewesen. „Hier“, murmelte er und reichte sie dem Schaffner, der sie mit einem Kopfnicken entgegennahm. Hoffentlich ist alles in Ordnung! dachte Anton beklommen. „Ihr wollt also nach Groß-Oldenbüttel?“ Über seine Brillengläser hinweg sah er zuerst Anton und dann den kleinen Vampir an. Der Vampir hatte sich den Hut schnell so weit in die Stirn gezogen, daß nicht viel von seinem Gesicht zu erkennen war. „Ja – äh, ich meine, nein“, stotterte Anton. „Ei-eigentlich wollen wir nach Klein-Oldenbüttel.“ „Nach Klein-Oldenbüttel, soso“, meinte der Schaffner. Dabei klang seine Stimme so merkwürdig, daß Anton nicht wußte, ob das nur einer der üblichen Erwachsenen-Scherze sein sollte – oder ob er Verdacht geschöpft hatte. Zu seiner Erleichterung sagte die Dame, die noch immer in ihrer Handtasche suchte: „Sie wollen ihre Tante besuchen.“ „Sie kennen die beiden?“ fragte der Schaffner. Mit knarrender Stimme rief der Vampir: „Das ist doch Tante Gretel!“
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Der Schaffner machte ein überraschtes Gesicht. „Ach, Sie gehören zusammen!“ „Ja, ja“, sagte die Dame geistesabwesend, während sie weiter in ihrer Tasche kramte. „Na, wenn das so ist!“ sagte der Schaffner. „Es hätte mich auch gewundert, wenn zwei Jungen in dem Alter noch so spät allein unterwegs gewesen wären!“ In diesem Augenblick seufzte die Dame erleichtert auf. „Endlich habe ich sie gefunden!“ rief sie und reichte dem Schaffner ihre Fahrkarte. Er warf einen kurzen Blick darauf und gab sie der Dame zurück. Verlegen sagte sie: „Entschuldigen Sie bitte, daß es so lange gedauert hat! Aber ich habe meine Brille bei meiner Tochter vergessen.“ „Ihre Brille?“ sagte der Schaffner verwundert. „Aber die steckt doch in Ihrer Jackentasche!“ Damit drehte er sich zur Tür um. „In zehn Minuten halten wir in Groß-Oldenbüttel!“ sagte er noch, dann zog er die Abteiltür hinter sich zu und ging nach links, in Fahrtrichtung, davon.
Ein falsches Bild „Meine Brille? In der Jackentasche?“ sagte die Dame ungläubig. „Stimmt das denn?“ Anton gab keine Antwort. Er wußte nur eins: der kleine Vampir und er mußten verschwunden sein, bevor sie ihre Brille entdeckt und aufgesetzt hatte! Schon griff sie in die Seitentaschen ihrer Jacke. Dort würde sie ihre Brille allerdings vergeblich suchen, aber es konnte nicht lange dauern, bis sie auf die Idee kam, auch in der Brusttasche nachzusehen... 104
„Wir müssen fliehen!“ zischte er dem Vampir zu. „Fliehen?“ Unruhig blickte der Vampir zwischen der Tür und dem Fenster hin und her. „Und wohin?“ „Nach draußen, auf den Gang. Hauptsache, weg von hier!“ „Und mein Sarg?“ „Den nehmen wir natürlich mit.“ Ein überraschter Aufschrei der Dame unterbrach ihr erregtes Flüstern. „Da ist sie ja!“ rief sie. Kopfschüttelnd zog sie ihre Brille aus der Brusttasche. „Und ich dachte tatsächlich, sie wäre bei meiner Tochter!“ Sie nahm ein Seidentuch aus ihrer Handtasche, hauchte die Gläser an und begann, sie zu putzen. Dabei sah sie Anton mit ihren schwachsichtigen Augen an und sagte streng und vorwurfsvoll: „Und ihr habt mich einfach so sitzen lassen! Obwohl ihr genau wußtet, wo meine Brille war! Statt mir zu helfen, habt ihr euch über mich lustig gemacht!“ „Wir? Nein!“ Anton hatte gerade die Teile seines HütchenSpiels in der Jutetasche verstaut. „Komm!“ stieß er den Vampir an. „Gleich hat sie ihre Brille fertig geputzt!“ Er stand auf, und auch der Vampir erhob sich von seinem Sitz. „Doch, doch“, sagte die Dame. „Ihr habt euch sehr wohl über mich amüsiert! Die alte Tante da, habt ihr gedacht, die lassen wir mal schön suchen, die kann ja sowieso nicht richtig gucken.“ „Nein!“ widersprach Anton, während er mit dem Vampir den schweren Sarg aus der Gepäckablage herunterhob. „Wir haben Ihre Brille auch eben erst gesehen.“ Er nahm zwar nicht an, daß sie ihm das glaubte. Aber immerhin war sie doch abgelenkt und dachte im Augenblick nicht daran, ihr eifriges Putzen einzustellen und die Brille 105
aufzusetzen! Wenn es ihm gelang, sie so lange in ein Gespräch zu verwickeln, bis sie den Sarg aus dem Abteil geschafft hatten, waren sie gerettet... Das schien zu klappen, denn sie fuhr fort, ihre Gläser zu säubern. „Eben erst gesehen?“ Sie lachte erbost. „Ihr habt von Anfang an gewußt, wo meine Brille steckte!“ Anton hatte inzwischen die Abteiltür geöffnet. „Sie machen sich ein ganz falsches Bild von uns“, versuchte er sie noch einmal abzulenken. „Jetzt!“ nickte er dem Vampir zu, und gemeinsam hoben sie den Sarg an, den sie für einen Augenblick auf der Sitzreihe des Vampirs abgestellt hatten. „So? Ein falsches Bild mache ich mir?“ Ihre Stimme hatte einen gereizten Ton angenommen. „Das wird sich gleich ändern, wenn ich euch durch meine Brille sehen kann!“ Anton hatte mit dem Vorderteil des Sargs bereits den Gang erreicht. Der Vampir dagegen, der das hintere Ende trug, war noch im Abteil. In banger Vorahnung drehte Anton sich um – und sah, wie die Dame den kleinen Vampir durch ihre Brillengläser fassungslos anstarrte. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei – doch nur ein heiseres Flüstern kam über ihre Lippen: „Ein Vampir, ein echter Vampir...!“ Dann sank sie ohnmächtig in sich zusammen und blieb, an die Polster gelehnt, reglos sitzen. „Ist sie tot?“ fragte der Vampir. „Nein. Nur ohnmächtig“, erwiderte Anton, dem ganz weich in den Knien geworden war. Im Fernsehen hatte er oft gesehen, wie Leute in Ohnmacht fielen, aber so aus der Nähe war es doch etwas anderes...
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„Los, komm!“ flüsterte er dem Vampir zu, der verzückt den weißen Hals der Dame betrachtete, den das zur Seite gerutschte Halstuch freigab. „Oder willst du warten, bis sie aufwacht und den Schaffner ruft?“ „Gleich“, sagte der Vampir. Trotzdem blieb er wie angewurzelt stehen und warf gierige Blicke auf den Hals der Dame. Anton wurde immer unruhiger. Jeden Augenblick konnte jemand kommen, ein Fahrgast oder der Schaffner... „Wenn du da noch lange stehst“, sagte er wütend, „kannst du sehen, wie du ohne mich nach Klein-Oldenbüttel kommst!“ Diese Drohung schien zu wirken: das Gesicht des Vampirs nahm einen schuldbewußten, verlegenen Ausdruck an. „Ich komm ja schon“, sagte er.
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Nichts wie weg Vorsichtig hoben sie den Sarg durch die Tür, wobei sie es sogar schafften, nirgendwo anzustoßen. Auf dem Gang setzte Anton, der auch noch seine Jutetasche trug, mit einem Stöhnen den Sarg ab und rieb sich die schmerzenden Finger. „Ich möchte mal wissen, ob du dich für mich genauso abrackern würdest“, sagte er zähneknirschend. „Ich – ich kann den Sarg auch alleine tragen“, sagte der Vampir schnell. „Du mußt mir nur sagen, wohin!“ Wie immer, wenn Anton zu Recht etwas an ihm auszusetzen hatte, versuchte er abzulenken. Doch darüber konnten sie jetzt in der Eile nicht reden, und so sagte Anton nur: „Nach rechts.“ Da der Schaffner nach links gegangen war, schien es ihm am besten, wenn sie in entgegengesetzter Richtung möglichst bis zum letzten Wagen liefen, um dort auszusteigen. Mit zittrigen Beinen, den Blick sorgenvoll auf den schwankenden Boden gerichtet, trug der Vampir seinen Sarg den Gang hinunter. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, und seine spitzen Zähne klickten laut aufeinander. Hinter der Tür, die Anton ihm aufhielt, stellte er den Sarg polternd ab und setzte sich ermattet darauf. „He, wir müssen noch weiter!“ rief Anton empört. „Mir ist schlecht“, ächzte der Vampir. „Willst du etwa, daß der Schaffner uns findet?“ „Nein. Aber mir dreht sich alles vor den Augen.“ Dabei machte der Vampir ein so elendes Gesicht, daß er Anton richtig leid tat. „Kann ich nicht solange sitzen bleiben?“ „Hm“, sagte Anton unentschlossen. Auf jeden Fall wären sie im letzten Wagen sicherer gewesen – andererseits konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie in Groß-Oldenbüttel ankamen, denn der Zug fuhr bereits langsamer, und zu beiden Seiten des Bahndamms sah er Häuser mit erleuchteten Fenstern. 108
„Also gut“, sagte er. „Aber verhalte dich unauffällig!“ fügte er hinzu. Diese Ermahnung war eigentlich ganz überflüssig, da der kleine Vampir sicherlich keine Dummheiten machen würde. Aber es tat Anton trotzdem gut, ihm noch einmal zu zeigen, daß er jetzt auf seine Hilfe angewiesen war und daß er, Anton, bestimmen konnte, wie der Vampir sich zu benehmen hatte. Der Vampir warf ihm nur einen grimmigen Blick zu und erwiderte nichts. „Hoffentlich geht es dir in Groß-Oldenbüttel wieder besser“, meinte Anton. „Ich kann den Sarg nämlich nicht alleine tragen.“ „Klar“, knurrte der Vampir. „Wenn erst mal dieses schreckliche Rumpeln und Rattern vorbei ist!“ Tatsächlich besserte sich das kränkliche Aussehen des Vampirs, nachdem der Zug in den Bahnhof eingelaufen war. Ohne daß Anton ihn antreiben mußte, stand er auf und schob seinen Sarg zur Tür. Anton hatte inzwischen die Wagentür geöffnet und spähte hinaus. Erleichtert stellte er fest, daß ihr Wagen auf dem hinteren Teil des Bahnhofs hielt, schön weit von der Bahnhofshalle entfernt, vor der ein älterer Herr mit einem Blumenstrauß in der Hand auf und ab ging. Ihnen gegenüber lag ein Fahrradstand, an dem ein schmaler, von dichten Büschen gesäumter Weg vorbeiführte. Dorthin könnten sie rasch und ziemlich gefahrlos gelangen – falls der Vampir Anton nicht im Stich ließ und mit anfaßte! Beklommen drehte Anton sich zu ihm um. Doch seine Befürchtung, den kleinen Vampir wieder auf dem Sarg hocken zu sehen, erwies sich als unbegründet: der Vampir hatte sein Sargende schon angehoben und wartete nur darauf, daß Anton das Vorderteil nahm. „Alles in Ordnung?“ fragte er mit heiserer Stimme.
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Anton nickte. „Gegenüber liegt ein dunkler Gang. Da sind wir sicher.“ Als sie die Büsche erreicht hatten, blickte Anton noch einmal zurück. Er erkannte die Dame, die langsam die Stufen des Eisenbahnwagens herunterstieg und dabei von dem Herrn mit dem Blumenstrauß gestützt wurde – und weiter vorn zwei Frauen, die sich suchend auf dem Bahnhof umsahen. Sie trugen Lodenmäntel, Trachtenhüte und Wanderschuhe. „O je, die beiden!“ stöhnte er. „Nun aber nichts wie weg!“ „Welche die?“ fragte der Vampir. „Die Frauen mit den tollen Hüten“, antwortete Anton unwirsch. Jetzt hatten sie nicht die Zeit, um sich noch länger über die beiden zu unterhalten, fand er. Viel wichtiger war es herauszukriegen, wohin dieser Weg führte und wie sie nach Klein-Oldenbüttel kamen! Am Ende des Wegs blieb Anton stehen. „Wir sollten den Sarg hier absetzen und uns erst mal umsehen.“ Anton mußte sehr laut sprechen, weil in diesem Augenblick der Zug anfuhr. „Meinen Sarg soll ich unbewacht stehenlassen?“ empörte sich der Vampir. „Niemals! Lieber bleibe ich darauf sitzen, bis du wiederkommst.“ Das war Anton nur recht, denn allein konnte er sich viel freier bewegen. Grinsend sagte er: „Aber verhalte dich –“ „– unauffällig, jaja!“ fiel ihm der Vampir ärgerlich ins Wort. „Keine Sorge, Herr Oberlehrer!“
Auf dem Weg nach Klein-Oldenbüttel Als Anton weiterging, stellte er fest, daß der Weg zur Straße führte, wie er vermutet hatte. Was ihn überraschte war, daß es keinen Zaun, keine Absperrung gab, nicht einmal heruntergetretenen Maschendraht. 110
Das sind eben die Vorteile eines Dorfbahnhofs, dachte er erfreut. Er hatte schon befürchtet, daß sie den Sarg über eine hohe Mauer oder einen Stacheldrahtzaun heben oder daß sie, im schlimmsten Fall, doch noch durch die Bahnhofshalle gehen müßten. Die Straße lag im Schein der Lampen verlassen da. Nur vor der Bahnhofshalle parkten zwei Autos, eine schwarze Limousine und ein hellblauer Kombi-Wagen. Die Straße schien am Bahnhof zu enden, denn hinter dem Vorplatz war alles dunkel. Am Anfang der Straße sah Anton ein großes Gebäude, Laichgrubers Gasthof, wie er auf einer Leuchtreklame lesen konnte. Der Gasthof lag an einer breiten Straße, wahrscheinlich der Hauptstraße. Dort waren auch zwei Hinweisschilder. Alt-Motten, 12 Kilometer las Anton auf dem Schild, das nach links zeigte, und darunter, in kleinerer Schrift: KleinOldenbüttel, 2 km. Laumühlen 25 Kilometer stand auf dem nach rechts weisenden Schild. Anton seufzte erleichtert: nun wußte er wenigstens, in welche Richtung sie gehen mußten! Und verglichen mit der Fahrt im Eisenbahnwagen, würden die letzten zwei Kilometer bis KleinOldenbüttel ein Kinderspiel werden! Ein bißchen anstrengend vielleicht mit dem schweren Sarg – aber nicht halb so nervenaufreibend! Anton hörte, wie die Autos vor der Bahnhofshalle anfuhren. Er versteckte sich hinter einer großen Tanne. So konnte er die Straße überblicken, ohne selbst gesehen zu werden. Zuerst fuhr die schwarze Limousine an ihm vorbei, an deren Steuer der ältere Herr saß. Neben ihm, den Kopf zurückgelehnt, erkannte er Frau Giftich. Das Auto fuhr zur Hauptstraße und bog nach rechts ab. Dann kam der hellblaue Kombi-Wagen. Er wurde von einer Frau gesteuert. Auf den hinteren Sitzen saßen die beiden 111
Frauen mit den Trachtenhüten. Anton sah, daß sie nach links, in Richtung Alt-Motten, fuhren. Er blieb noch einen Augenblick stehen und horchte. Aus dem Gasthof klang gedämpftes Stimmengewirr zu ihm herüber. In der Ferne hupte ein Auto. Auf der anderen Seite des Bahndamms bellte ein Hund. Feierabend auf dem Dorf! dachte Anton. Zum Glück wußte niemand, daß gerade ein Vampir angekommen war! Und wenn alles gut ging, würde es auch nie einer erfahren! Anton drehte sich um und ging den Weg zurück. Der kleine Vampir erwartete ihn bereits ungeduldig. „Ich dachte schon, du kommst nicht wieder“, sagte er. Anton mußte grinsen. „Und was hättest du ohne mich gemacht? Den Dorffriedhof gesucht?“ Der Vampir warf ihm einen wütenden Blick zu. „Hilf mir lieber beim Sargtragen“, knurrte er. Und während er auf Antons Hals schielte, fügte er drohend hinzu: „Oder willst du warten, bis ich Hunger kriege?“ „Hunger?“ Anton erschrak. „Aber wir sind doch gleich in Klein-Oldenbüttel. Nur noch zwei Kilometer. Das schaffen wir ganz schnell.“ „Weißt du denn jetzt den Weg?“ „Ja.“ „Also gut, dann los!“ Der Vampir faßte das hintere Sargende an. Anton hob das vordere Ende an. So trugen sie den Sarg bis zur Straße. Dort spähte Anton nach links und rechts, dann nickte er dem Vampir zu. „Komm“, flüsterte er. Die Tür des Gasthofs stand offen, als sie vorbeigingen. Laute Musik erklang, aber niemand war zu sehen. Im Schatten eines Autos, das vor dem Gasthof parkte, blieb Anton stehen. „Was ist?“ zischte der Vampir. „Weißt du etwa nicht, in welche Richtung wir gehen müssen?“ „Doch. Ich überlege nur, welche Straßenseite günstiger ist.“ 112
Der Vampir sah zur anderen Straßenseite hinüber. „Die da drüben natürlich! Da sind keine Häuser. Außerdem können wir uns zwischen den Büschen und Sträuchern verstecken, falls ein Auto kommt.“ „Es ist aber sehr mühsam, durch das hohe Gras zu gehen“, sagte Anton. Er wäre lieber auf dieser Seite geblieben und auf dem Fußweg gegangen. Schließlich mußten sie noch weit laufen, und seine Hände taten ihm jetzt schon weh! Doch der Vampir sagte entschlossen: „Drüben ist es sicherer!“ „Wenn du meinst“, sagte Anton. Sie überquerten die Straße und gingen in Richtung KleinOldenbüttel weiter. Nach einer Weile sagte Anton: „Ich muß mal.“ „Du mußt mal?“ fragte der Vampir. „Was denn? Dich ausruhen?“ Anton räusperte sich. „Ich – äh – muß eben mal.“ Ein Auto näherte sich. Rasch setzten sie den Sarg ab und hockten sich hinter einen Busch. „Mußt du nie?“ fragte Anton. „Was sollte ich denn müssen?“ „Na ja, ich muß mal Pipi.“ „Ach so!“ Endlich hatte der Vampir ihn verstanden. „Das meinst du! Nein, das hab ich vor ungefähr hundert Jahren zum letztenmal gemacht.“ „Wirklich?“ staunte Anton. „Ist das bei allen Vampiren so?“ Der Vampir sah ihn an und grinste. „Dachtest du, bei Anna nicht?“ „Wie kommst du auf Anna?“ wehrte Anton ab. Er merkte, wie er rot wurde. Schnell sagte er: „Ich geh dann!“ und verschwand hinter einem Baum. „Aber beeil dich!“
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Danach setzten sie ihren Weg fort. Bald brannten Antons Hände, und seine Arme und Schultern fühlten sich an, als wären sie aus Blei. „Kannst du noch?“ fragte der Vampir. „Hm“, sagte Anton mit gepreßter Stimme. In einiger Entfernung sah er das Ortsschild von KleinOldenbüttel. Bis dahin würde er schon durchhalten!
Im Stich gelassen Hinter dem Ortsschild gabelte sich die Straße. Anton las, was auf den Straßenschildern stand: Mottener Landstraße, sie führte geradeaus; Alte Dorfstraße, sie ging rechts ab. „Das ist sie!“ rief er aufgeregt. „Wer?“ fragte der Vampir mißtrauisch. „Die Straße, die wir suchen. Alte Dorfstraße 13 – dahin müssen wir!“ Die Aussicht, gleich das Ziel ihrer Reise erreicht zu haben, verlieh Anton neue Kräfte. Er ging so rasch weiter, daß Rüdiger kaum Schritt halten konnte. „Da vorn ist der Bauernhof!“ Anton spürte, wie sein Herz schneller schlug. „Siehst du? Die große Scheune und der Stall und daneben das weiße Haus.“ „Woher willst du wissen, daß es ausgerechnet das Haus ist?“ „Weil ich schon mal hier war.“ „Und du bist dir ganz sicher?“ „Ja.“ „Dann brauch ich dich eigentlich gar nicht mehr“, erklärte der Vampir. Überrascht blieb Anton stehen. „Wie meinst du das?“ „Ganz einfach. Das letzte Stück schaff ich auch so.“ „Und ich?“
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„Du fährst nach Hause zurück“, sagte der Vampir gleichmütig. Anton verschlug es sekundenlang die Sprache. Dann rief er: „Allein?“ „Wieso nicht?“ tat der Vampir erstaunt. „Ohne mich kannst du doch viel gefahrloser mit der Bahn fahren.“ „Aber es fährt überhaupt kein Zug mehr!“ „Nicht?“ „Nein! Ich hab mich vorher erkundigt.“ Der Vampir sah Anton verwundert an. „Wie wolltest du dann nach Hause kommen?“ „Mit dir! Ich hab extra deinen zweiten Umhang, den ich noch von Anna hatte, eingepackt.“ „Du hast den Umhang mit? Das ist ja wunderbar!“ Der Vampir lachte heiser. „Dann brauchst du die Bahn gar nicht. Dann kannst du ja nach Hause fliegen!“ „Du machst es dir ganz schön bequem!“ sagte Anton wütend. „Ich hab dich bis hierher gebracht, deinen schweren Sarg mit getragen –“ Plötzlich wurde ihm bewußt, daß sie den Sarg immer noch trugen, und er ließ sein Sargende polternd ins Gras fallen. „He!“ schrie der Vampir auf. „– und jetzt hast du nicht mal soviel für mich übrig, daß du mit mir zurückfliegst!“ „Das mußt du verstehen“, sagte der Vampir und grinste verlegen. „Ich muß mich hier ja auch –“ Er machte eine Pause und krächzte dann: „– einleben!“ „Immer denkst du nur an dich!“ sagte Anton bitter. „Als Vampir muß man das auch! – Außerdem ist es gar nicht so schlimm, allein zu fliegen“, fügte er hinzu. „Ich mach das schließlich jede Nacht, obwohl ich mich im Dunkeln fürchte.“ „Und wie soll ich den Weg finden?“ „Du fliegst einfach an den Schienen entlang.“ „Und wenn mich jemand sieht?“ 115
Der Vampir machte eine abwinkende Handbewegung. „Um diese Zeit schlafen die Leute. Da sieht dich niemand.“ „Und wenn ich unterwegs Tante Dorothee treffe?“ „Die denkt dann, du wärst auch ein Vampir, und läßt dich in Ruhe.“ In diesem Augenblick klang ein lautes „Määh“ vom Stall zu ihnen herüber. Auf dem bleichen Gesicht des Vampirs erschien ein hungriges Lächeln, und seine scharfen Zähne blitzten im Mondlicht auf. „Hast du gehört?“ flüsterte er. „Ein Schaf! Ein lebendiges, blutvolles Schaf!“ Er packte seinen Sarg und wandte sich zum Gehen. „Bis morgen!“ sagte er. Dann war er zwischen den Bäumen verschwunden.
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Anton sah ihm nach. Wie hatte er bloß so leichtsinnig sein und glauben können, daß der Vampir ihn nach Hause zurück begleiten würde! Immerhin war es nicht das erste Mal, daß ihn der Vampir im Stich ließ! Voller Angst dachte er an den langen, einsamen Rückflug. Doch es gab keine andere Lösung: er mußte es schaffen! Er nahm den Vampirumhang aus der Tasche und zog ihn über. Dann breitete er die Arme aus und flog mit unsicheren Bewegungen davon – wie ein Nachtfalter, der sich an der Lampe verbrannt hat.
Falscher Verdacht „Anton, aufwachen!“ 117
Anton schlug die Augen auf. Verwirrt fragte er sich, woher die plötzliche Helligkeit kam. War er nicht eben noch durch den dunklen Nachthimmel geflogen? „Anton, beeil dich!“ Das war die Stimme seiner Mutter. „Wir wollen frühstücken.“ „Frühstücken?“ murmelte Anton. Aber er mußte doch nach Hause fliegen, immer an den Schienen entlang... Antons Zimmertür wurde geöffnet, und seine Mutter kam herein. „Anton!“ sagte sie vorwurfsvoll. „Wir wollen gleich losfahren, und du liegst noch immer im Bett!“ Anton blinzelte. Dann war er also längst zu Hause! „Vati hat das Frühstück schon fertig, die Koffer sind im Auto – wir warten nur auf dich.“ „Ja, gleich –“ Anton richtete sich mühsam auf. Alle Glieder taten ihm weh, besonders aber die Schultern und die Arme. Sie fühlten sich an, als hätte er stundenlang Gewichte gehoben. Er stöhnte leise. „So ein Fernsehabend ist ganz schön anstrengend, was?“ sagte seine Mutter. „Wieso?“ „Wir sind erst um zwei nach Hause gekommen, aber wir sind nur halb so müde wie du.“ „Wie spät ist es denn?“ „Halb zehn.“ „Halb zehn...“ wiederholte Anton langsam und kratzte sich am Kopf. „Sag mal ehrlich: wie lange hast du gestern ferngesehen?“ ‹Überhaupt nicht›, hätte Anton am liebsten wahrheitsgemäß geantwortet. Aber dann hätte er sich eine andere Erklärung für sein langes Schlafen ausdenken müssen, und dazu war er viel zu müde. „Bis elf“, sagte er deshalb.
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„So lange!“ rief seine Mutter entrüstet. „Wir hatten dir ausdrücklich gesagt, nur bis zehn!“ „Kommt ihr zum Frühstück?“ rief der Vater aus der Küche. „Anton hat bis um elf ferngesehen!“ rief die Mutter zurück. „Wie findest du das?“ „Es – es war so interessant“, sagte Anton. „Interessant? Was gab es überhaupt?“ Anton erschrak. Er hatte keine Ahnung, was gestern abend im Fernsehen gelaufen war. „Ich hab’s v-vergessen“, murmelte er. „Kommt ihr jetzt endlich?“ rief Antons Vater. „Ich werde in der Fernsehzeitung nachgucken“, kündigte die Mutter an. „Welches Programm war es?“ „Äh – zweites.“ Antons Mutter ging. Hoffentlich hatte es gestern keinen Gruselfilm gegeben! dachte Anton. Sonst kam er noch unverdient in einen schlechten Ruf bei seinen Eltern! Er stand auf und zog sich an. Dabei fiel ihm der Vampirumhang ein, den er gestern nacht unter die Matratze gestopft hatte. Auf jeden Fall mußte er den Umhang mit nach Klein-Oldenbüttel nehmen – aber wie? Sein Koffer war längst im Auto verstaut. Anziehen konnte er den Umhang auch nicht. Ratlos sah er sich im Zimmer um. Sein Blick fiel auf die Schultasche, die neben dem Schreibtisch stand – und da hatte er die rettende Idee. „Du, Mutti?“ rief er. „Darf ich meinen Schulranzen mitnehmen? Ich möchte noch etwas für die Schule lernen.“ „Im Urlaub?“ „Ja. Weil ich doch auf die weiterführende Schule gehen soll.“ „Natürlich darfst du!“ Die Stimme seiner Mutter klang etwas mißtrauisch, fand Anton. Immerhin war es auch noch nie vorgekommen, daß er Schulsachen mit in den Urlaub nehmen wollte. Und ihr Mißtrauen war durchaus berechtigt: für die Schule lernen wollte er tatsächlich nicht! 119
Schnell legte er den Umhang zusammen. Er hatte ihn gerade unter den Büchern und Heften in seiner Schultasche versteckt, als seine Mutter zum zweitenmal ins Zimmer kam. Argwöhnisch betrachtete sie die Schultasche. „Und da sind Schulbücher drin?“ Anton mußte sich ein Grinsen verkneifen. „Klar!“ „Darf ich mal sehen?“ „Wieso?“ „Weil ich den Verdacht habe, daß du deine Vampirbücher auf diese Weise mit nach Klein-Oldenbüttel schmuggeln willst!“ „Aber Mutti!“ protestierte Anton. „Doch, doch! Und das möchten wir auf keinen Fall.“ Anton überlegte. Wenn sie unbedingt in die Tasche gucken wollte, konnte er es sowieso nicht verhindern. Aber vielleicht hatte er Glück, und sie bemerkte den Umhang nicht! Mit einem unbehaglichen Gefühl hielt er ihr die Schultasche hin. Sie zog ein paar Bücher und Hefte heraus, las die Aufschriften. Dann schüttelte sie ungläubig den Kopf. „Alles Schulbücher“, sagte sie halblaut. „Dann hab ich dir wohl unrecht getan.“ Anton grinste zufrieden. „Aber wie es in deiner Tasche riecht!“ fügte sie befremdet hinzu. „So muffig!“
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Anton biß sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. „Findest du?“ Rasch ließ er die Schlösser seiner Schultasche zuschnappen. „Übrigens“, sagte die Mutter, „ich muß mich doch sehr wundern über deinen Fernsehgeschmack.“ „Wieso?“ „Samstag: 20 Uhr 15 Operetten-Cocktail, 22 Uhr 10 Heute, 22 Uhr 15 Lustige Dorf-Musikanten, bis 23 Uhr 05“, las sie aus der Programmzeitung vor. Anton merkte, wie er rot wurde. „Mir war eben nach Musik zumute“, sagte er verlegen. „Nach Operetten- und Dorfmusik? Das wäre ja etwas ganz Neues!“
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„Nun ja –“ Anton räusperte sich. „Man muß sich alles mal angucken, sagt Vati.“ „Vor allem sage ich, daß die Eier und der Kaffee kalt werden, wenn ihr nicht sofort kommt.“ Das war die Stimme des Vaters aus der Küche. „Wir sind schon unterwegs“, antwortete die Mutter. Sie ging voraus, und Anton folgte ihr. Er war froh, ihren bohrenden Fragen entkommen zu sein.
Landluft macht müde Auf der Fahrt nach Klein-Oldenbüttel versuchte Anton, ein Comic-Heft zu lesen. Doch schon bald begannen die Buchstaben vor seinen Augen zu tanzen. „Anton schläft gleich ein!“ bemerkte seine Mutter, die am Steuer saß und ihn im Innenspiegel beobachten konnte. „Das macht die Landluft“, meinte der Vater, der die Landkarte von Klein-Oldenbüttel und Umgebung studierte. Anton mußte sich ein Lachen verkneifen: sie waren kaum eine Viertelstunde von zu Hause fort, und schon sollte die angebliche „Land“-Luft ihn müde gemacht haben! Andererseits hatte er damit eine willkommene Ausrede für die nächsten Tage. „Ja, genau“, sagte er deshalb, „Landluft macht müde.“ Er gähnte ausgiebig, um seine Worte zu bekräftigen. „Es waren wohl eher der Operetten-Cocktail und die Dorfmusikanten“, entgegnete seine Mutter spöttisch. Anton zog es vor, darauf nicht zu antworten. Er las noch ein paar Seiten in seinem Comic-Heft. Dann fielen ihm die Augen zu, und er schlief. Es war Nacht. Anton saß auf dem Ast einer großen Eiche und wollte sich eine Weile ausruhen, bevor er weiterflog. Die 122
Eisenbahnschienen glänzten im Mondlicht. Alles wirkte still und friedlich. Anton lehnte seinen Kopf gegen den Stamm und schloß für einen Augenblick die Augen. Plötzlich ließ ihn ein lautes „Hick“ zusammenfahren. Erschrocken sah er sich um. Hatte sich dort am Bahndamm etwas bewegt? Er entdeckte ein Kaninchen, das zwischen den Sträuchern verschwand. Dann raschelte etwas, drüben bei den Birken. Antons Herz begann schneller zu schlagen. Jemand ging dort! Wieder machte es „Hick“, und gleich darauf trat eine Gestalt in einem langen schwarzen Umhang aus dem Dunkel der Bäume hervor. Im Mondlicht erkannte Anton, daß es Tante Dorothee war! Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn. Ob sie ihn schon gewittert hatte? Doch Tante Dorothee schien ganz andere Sorgen zu haben. Sie ging merkwürdig schwankend, machte mehrmals „Hick“ und guckte sich verwirrt um. Anton hörte, wie sie „Saufbold, verdammter, deinetwegen muß ich jetzt zu Fuß gehen!“ vor sich hin schimpfte. Ihre Stimme klang seltsam schleppend. Da wußte Anton auf einmal, weshalb sie sich so eigenartig benahm: Sie war wieder auf einem Dorfball gewesen – natürlich nicht, um zu tanzen, sondern um draußen vor dem Gasthof zu lauern. Anscheinend war sie dabei an einen Mann geraten, der viel getrunken hatte – so viel, daß sie nun nicht mehr fliegen konnte! Anton mußte grinsen. Er grinste noch immer, als das Auto hielt. „Anton!“ Das war die Stimme seines Vaters. Verschlafen sah Anton sich um. „Wo sind wir?“ „In Klein-Oldenbüttel.“ Anton erkannte das weiße Haus, die große Scheune. Und den hellblauen Kombi-Wagen, der vor der Scheune stand, hatte er 123
auch schon einmal gesehen: gestern am Bahnhof in GroßOldenbüttel! Also waren die beiden Frauen mit den Trachtenhüten ebenfalls Gäste auf dem Bauernhof! „Auch das noch!“ stöhnte er. „Paßt dir mal wieder etwas nicht?“ fragte seine Mutter verärgert. Mit steifen Beinen stieg Anton aus. „Nein, nein! Ich finde alles wunderbar!“ Mit einem Blick auf die Scheune fügte er hinzu: „Außerdem möchte ich wetten, daß es hier einen Vampir gibt!“ „Bestimmt!“ sagte seine Mutter giftig. „Vampire sind ja auch das Wichtigste.“ „Allerdings“, sagte Anton und rieb sich vergnügt die Hände.
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