Angela Sommer-Bodenburg: Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie, 12 Jahre Grundschullehrerin in Hamburg, leb...
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Angela Sommer-Bodenburg: Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie, 12 Jahre Grundschullehrerin in Hamburg, lebt in Rancho Santa Fe, Kalifornien, USA, wo sie schreibt und malt. Veröffentlichungen: „Der kleine Vampir“ und „Anton und der kleine Vampir“, 16 Bände, seit 1979; „Das Biest, das im Regen kam“, 1981; „Wenn du dich gruseln willst“, 1984; „Die Moorgeister“, 1986; „Julia bei den Lebenslichtern“, 1989; „Florians gesammelte Gruselgeschichten“, 1990; „Schokolowski“, 5 Bände, seit 1991; „Hanna, Gottes kleinster Engel“, 1995; „Das Haar der Berenice“, 1997; „Der Fluch des Vampirs“, 1998; außerdem mehrere Gedichtbände und Bilderbücher. Übersetzungen in 28 Sprachen. Verfilmung: 13teihge internationale TV-Serie „Der kleine Vampir“, 1986/87; „Der kleine Vampir 2“, 13teilige WDR-Fernsehserie 1992/93; Theaterstück „Der kleine Vampir“, Uraufführung 1988 in Tampere, Finnland; „Der kleine Vampir, Das Musical“, 250 Auftritte in Deutschland, Österreich, Schweiz, April 1998 bis Dezember 1999. Angela Sommer-Bodenburg hat ihre eigene Website: http://www.Angela Sommer-Bodenburg.com Amelie Glienke: Studium der Malerei und freien Grafik bei Professor Georg Kiefer, Hochschule der Künste in Berlin; arbeitet als Grafikerin, Zeichnerin und (unter dem Namen HOGLI) als Karikaturistin in Berlin und hat zwei Kinder. Sie illustrierte u. a. die „Geschichten ab 3“ von Hanne Schüler (rotfuchs 149, 267, 330, 397, 428); „Hexen hexen“ von Roald Dahl (rotfuchs 587), „Der Sprachabschneider“ von Hans Joachim Schädlich (rotfuchs 685) und „Das Kinderkarussell“ (rotfuchs 808).
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Angela Sommer-Bodenburg
Der kleine Vampir auf dem Bauernhof Bilder von Amelie Glienke
Rowohlt
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Lektorat Renate Boldt
283.–286.Tausend Oktober 1998 Originalausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Februar 1983 Copyright © 1983 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Umschlaggestaltung Barbara Hanke Umschlagillustration Amelie Glienke rotfuchs-comic Jan P. Schriebel Alle Rechte vorbehalten Satz Garamond (Linotronic 500) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 499 20.325 1 Die Schreibweise entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.
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Dieses Buch ist für Burghardt Bodenburg, der sich mächtig ärgert, weil Boris ihn beim Vampirzähne-Wachsen überholt hat – und für Katja, die noch immer kein Loch in ihren Milchzähnen hat. Angela Sommer-Bodenburg
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Die Personen dieses Buches
Anton liest gern aufregende, schaurige Geschichten. Besonders liebt er Geschichten über Vampire, mit deren Lebensgewohnheiten er sich genau auskennt.
Antons Eltern glauben nicht an Vampire.
Antons Vater arbeitet im Büro, seine Mutter ist Lehrerin.
Rüdiger, der kleine Vampir, ist seit mindestens 150 Jahren Vampir. Daß er so klein ist, hat einen einfachen Grund: er ist bereits als Kind Vampir geworden. Seine Freundschaft mit Anton begann, als Anton wieder einmal allein zu Hause war. Da saß der kleine Vampir plötzlich auf der Fensterbank. Anton zitterte vor Angst, aber der kleine Vampir versicherte ihm, er habe schon „gegessen“. Eigentlich hatte sich Anton Vampire viel schrecklicher vorgestellt, und 6
nachdem ihm Rüdiger seine Vorliebe für Vampirgeschichten und seine Furcht vor der Dunkelheit gestanden hatte, fand er ihn richtig sympathisch. Von nun an wurde Antons ziemlich eintöniges Leben sehr aufregend: der kleine Vampir brachte auch für ihn einen Umhang mit, und gemeinsam flogen sie zum Friedhof und zur Gruft Schlotterstein. Bald lernte Anton weitere Mitglieder der Vampirfamilie kennen:
Anna ist Rüdigers Schwester – seine „kleine“ Schwester, wie er gern betont. Dabei ist Anna fast so stark wie Rüdiger, nur mutiger und unerschrockener als er. Auch Anna liest gern Gruselgeschichten.
Lumpi der Starke, Rüdigers großer Bruder ist ein sehr reizbarer Vampir. Seine mal hoch, mal tief krächzende Stimme zeigt, daß er sich in den Entwicklungsjahren befindet. Schlimm ist nur, daß er aus diesem schwierigen Zustand nie herauskommen wird, weil er in der Pubertät Vampir geworden ist.
Tante Dorothee ist der blutrünstigste Vampir von allen. Ihr nach Sonnenuntergang zu begegnen kann lebensgefährlich werden.
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Die übrigen Verwandten des kleinen Vampirs lernt Anton nicht alle persönlich kennen. Er hat aber einmal ihre Särge in der Gruft Schlotterstein gesehen.
Friedhofswärter Geiermeier macht Jagd auf Vampire. Deshalb haben die Vampire ihre Särge in eine unterirdische Gruft verlegt. Bis heute ist es Geiermeier nicht gelungen, das Einstiegsloch zur Gruft zu finden.
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Landluft „Ist es nicht schön hier?“, rief Antons Mutter und stellte ihren Koffer auf den staubigen Boden, genau neben einen getrockneten Kuhfladen, wie Anton schadenfroh feststellte. „Sehr schön!“, knurrte er und sah missgelaunt zum Bauernhaus hinüber. Hier musste er nun eine Woche bleiben, zusammen mit seinen Eltern, die sich diesen blöden Bauernhof ausgesucht hatten! Ferien auf dem Bauernhof – wie langweilig das schon klang! Ihn hatten sie natürlich nicht gefragt, ob er seine paar Ferientage zwischen Kühen, Hühnern und Schweinen verbringen wollte! Spazieren gehen und auf Ackergäulen reiten sollte er und dazu die gute Landluft atmen. Gute Landluft – dass er nicht lachte! „Übrigens“, sagte er zu seinen Eltern, „mit der guten Landluft müsst ihr euch wohl getäuscht haben. Es stinkt nämlich.“ „Überhaupt nicht“, widersprach seine Mutter. „Ich finde die Luft herrlich. So frisch! Ganz anders als bei uns in der Stadt. Findest du nicht?“, fragte sie den Vater. „Doch, doch“, sagte er. „Trotzdem stinkt es“, beharrte Anton. „Die Luft mag vielleicht gesund sein, aber sie stinkt.“ Seine Mutter warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Ich wusste gar nicht, dass du so eine empfindliche Nase hast. Wenn ich da an deinen Freund denke, an diesen Rüdiger von Schlotterstein...“ „Wieso, was ist mit dem?“ „Weißt du nicht mehr, wie sein Umhang gestunken hat?“ Anton musste grinsen. „Der Umhang ist auch schon hundert Jahre alt“, sagte er stolz. „Vielleicht sogar noch älter.“ Übermütig fügte er hinzu: „Bei Vampiren ist das eben so.“ 9
Er wusste ja, dass seine Eltern nicht an Vampire glaubten. Alles, was er über seinen Freund, den kleinen Vampir, erzählte, hielten sie für reine Erfindung. Deshalb war es für Anton immer am ungefährlichsten, bei allem, was die Vampire betraf, die Wahrheit zu sagen, denn die glaubten ihm seine Eltern am allerwenigsten. So auch diesmal. „Vampire, jaja!“, sagte die Mutter ärgerlich. „Gott sei Dank sind wir jetzt auf dem Land. Da haben wir erst mal Ruhe vor deinen ewigen Vampiren – Vampiren im Fernsehen, im Kino und in deinen schrecklichen Büchern.“ „So?“ Anton biss sich auf die Lippen. Wenn sie wüssten, dass der kleine Vampir seit der vergangenen Nacht hier auf dem Bauernhof wohnte... „Ich bring das Gepäck rüber“, sagte er vergnügt. Er nahm eine Reisetasche und zwei Tüten und trug sie zur Tür des Bauernhauses. „Anton ist plötzlich so eifrig“, hörte er seinen Vater sagen. „Alles nur wegen seiner Vampire“, hörte er die Mutter antworten. „Er kann es nicht vertragen, wenn ihm mal jemand die Meinung darüber sagt.“
Bauernmalerei Anton hatte eine gute Meinung über Vampire. Jedenfalls über Rüdiger von Schlotterstein und seine kleine Schwester Anna, die mit ihrer Vampirfamilie in der Gruft Schlotterstein lebten. – Aber lebten Vampire wirklich?, überlegte Anton. Tagsüber schliefen sie wie Tote in ihren Särgen. Erst wenn die Sonne unterging, erwachten sie und verließen ihre Särge, um im Schutz der Dunkelheit auf Jagd zu gehen – auf die Jagd nach menschlichem Blut! 10
Anton erschauerte. Sogar hier, in dem kleinen Gästezimmer, wurde ihm ganz komisch zumute, als er an die Lieblingsspeise der Vampire dachte – und an die blutrünstigen Verwandten des kleinen Vampirs: Ludwig der Fürchterliche, Hildegard die Durstige, Sabine die Schreckliche – und Tante Dorothee, die Schlimmste von allen! In diesem Augenblick klopfte es an seiner Tür. Erschrocken fuhr Anton zusammen. „J-ja?“, sagte er zaghaft. Die Tür wurde geöffnet, und Antons Vater trat ein. „Ach, du“, sagte Anton erleichtert. Einen Moment lang hatte er tatsächlich geglaubt, ein Vampir stünde vor seiner Tür. Dabei war das gar nicht möglich, denn es war erst kurz nach elf am Vormittag. „Frau Hering will uns den Hof zeigen“, erklärte der Vater. „Ich muss noch auspacken“, wehrte Anton ab. „Gefällt dir dem Zimmer?“, fragte der Vater und sah sich um. Ohne Antons Antwort abzuwarten, stellte er fest: „Ist doch hübsch!“ „Na ja“, sagte Anton. Der mit Bauernmalerei verzierte Schrank, das altmodische Bett und die Blümchenvorhänge am Fenster entsprachen nicht unbedingt seinem Geschmack. „Weißt du, dass Frau Hering alles selbst bemalt hat?“ „Hm“, machte Anton gleichmütig. „Das hätte ich in deinem Alter mal haben müssen – Urlaub auf dem Bauernhof und dazu ein eigenes Zimmer! Weißt du, wie ich Urlaub machen musste?“ „Nö.“ „Bei uns am Baggersee. Mit dem Rad sind wir hingefahren, und das Einzige, was wir bekommen haben, waren zehn Pfennig für ein Eis.“ Anton stöhnte leise. Wenn der Vater mit seinen alten Geschichten anfing, war es am besten, nichts zu sagen, dann hörte er am schnellsten wieder auf. 11
„Wegfahren, so etwas gab es überhaupt nicht. Heute dagegen muss es mindestens ein Kurort sein, am besten mit Schwimmbad und Disco.“ Genau!, stimmte Anton in Gedanken zu. „Aber wir können auch noch einfachen Urlaub machen. Nicht wahr, Anton?“ Anton brummte etwas Unverständliches. „Mir gefällt es ja auch“, sagte er dann. Er klappte den Deckel seines Koffers zu und stellte die Schultasche, in der er unter Schulbüchern den zweiten Umhang des kleinen Vampirs versteckt hatte, in den Schrank. „Ich bin fertig.“
Anton der Empfindliche Frau Hering stand im Hof und unterhielt sich mit Antons Mutter. Sie trug Reitstiefel und eine Reithose, hatte kurzes blondes Haar und sah gar nicht wie eine Bäuerin aus, fand Anton. „Bist du zufrieden mit deinem Zimmer?“, fragte sie. Dass Erwachsene immer dasselbe fragen mussten! Anton nickte. „Ja.“ „Eigentlich ist es das Zimmer von Johanna“, sagte sie. „Aber wenn wir Feriengäste haben, schläft sie bei Hermann im Zimmer. – Ist es dir nicht zu mädchenhaft?“ „Da ist Anton nicht so empfindlich“, behauptete Antons Mutter. „Wir haben nämlich in unserer Erziehung besonderen Wert darauf gelegt, dass er lernt, Mädchen zu respektieren.“ „Wie bitte?“, sagte Anton entrüstet. Woher wollte sie das wissen? In allem, was mit Mädchen zusammenhing, war er sogar sehr empfindlich!
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„An diesem Wochenende sind Hermann und Johanna allerdings bei den Großeltern“, erklärte Frau Hering. „Wie schade!“, meinte Antons Vater. „Dann hat Anton gar keine Spielkameraden.“ „Ich kann mich auch so beschäftigen“, sagte Anton verärgert. Auf Hermann, von dem er wusste, dass er nur mit Rittern spielte, konnte er gut verzichten. Und Johanna, die er kurz gesehen hatte, als er mit seinen Eltern das erste Mal auf dem Bauernhof war, um die Zimmer zu bestellen, war auch nicht sein Fall. „Haben Ihre Kinder auch Schulferien?“, fragte Antons Mutter. „Nein, erst übernächste Woche.“ Überrascht horchte Anton auf. Dann würde er wenigstens vormittags seine Ruhe haben! „So, und jetzt zeige ich Ihnen den Hof!“ Frau Hering öffnete eine grün gestrichene Holztür. „Hier geht es zum Kuhstall.“ Antons Eltern folgten ihr – freudig und aufgeregt, als hätten sie noch nie eine Kuh gesehen!, dachte Anton verächtlich. Er trottete langsam hinterher. Sie sollten ruhig merken, dass er für einen Urlaub auf dem Bauernhof schon viel zu alt war!
Rindviecher Im Kuhstall hätte Anton beinahe laut aufgelacht: Es stank zwar erbärmlich nach Kuhmist, der Stall jedoch war leer! Nur eine graue Katze saß auf einem Holzbalken und putzte sich. Mit einer gewissen Schadenfreude sah Anton zu seinen Eltern hinüber. „Tolle Kühe!“ „Du glaubst wohl, die stehen das ganze Jahr im Stall“, sagte Frau Hering. „Wieso nicht? Sie müssen doch gemolken werden.“ 13
„Gemolken?“ Frau Hering begann zu lachen. „Wir haben nur Bullen. Und die sind jetzt auf der Weide.“ Anton merkte, wie er rot anlief. Woher sollte er das wissen! Und überhaupt – Rindviecher interessierten ihn sowieso nicht. „Und andere Tiere haben Sie nicht?“, fragte er forsch. „Doch.“ Frau Hering ging zu einem Holzverschlag. „Ein Lämmchen, das wir mit der Flasche aufziehen. Es heißt Balduin.“ Fast hätte Anton „süß“ gerufen, aber er konnte sich gerade noch zurückhalten. Nur kleine Kinder kreischten beim Anblick von Tierbabys! Antons Eltern streichelten das Lämmchen. „Möchtest du es nicht streicheln?“, fragte Frau Hering. „Nö“, brummte er und steckte seine Hände in die Hosentaschen. „Anton fühlt sich zu groß dafür“, sagte sein Vater. „Überhaupt nicht!“, widersprach Anton. „Aber das ist nur was für Mädchen.“ „Wie bitte?“, rief die Mutter empört. „Du bist wohl völlig übergeschnappt!“ Plötzlich kam seine ganze Wut über diesen dämlichen Urlaub in ihm hoch. „Und ob das was für Mädchen ist! Tiere streicheln, reiten – Mädchen finden das toll! Aber ich nicht!“
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Er drehte sich hastig um, weil ihm die Tränen in die Augen stiegen. Wenn seine Eltern jetzt wütend auf ihn waren, war ihm das auch egal! 15
Ein peinliches Schweigen entstand. Dann hörte er den Vater fragen: „Haben Sie keine Fledermäuse? Anton schwärmt nämlich für Fledermäuse und Vampire.“ „Fledermäuse? Oben in der Scheune sind ein paar. Wollen Sie die sehen?“ „O nein, bloß nicht!“, rief Antons Mutter. „Ich möchte einmal eine Woche lang nichts mit Vampiren und Fledermäusen zu tun haben!“ Anton atmete auf. Er war nämlich davon überzeugt, dass der Vampir seinen Sarg oben in der Scheune versteckt hatte. „Hermann schwärmt für Ritter“, sagte Frau Hering. „Jedes Kind hat wohl so seinen Tick!“ „Das kann man nicht vergleichen!“, rief Anton – ziemlich unvorsichtig, wie er gleich darauf merkte. Neugierig fragte Frau Hering: „Warum kann man das nicht vergleichen?“ „Weil –“Anton zögerte. Auf keinen Fall wollte er etwas Falsches sagen. „Anton glaubt an Vampire“, sagte an seiner Stelle der Vater. „Er hat sogar einen Freund, von dem er behauptet, er sei ein Vampir.“ Frau Hering lachte: „Dann kann ich ja froh sein, dass Hermann nur mit Spielzeugfiguren spielt!“ In Anton brodelte es. Aber diesmal beherrschte er sich. Sollten sie ruhig über ihn lachen – damit bewiesen sie nur, dass sie keine Ahnung hatten!
Der Held des Hübnerhofs „In Ihrem Prospekt stand, dass Sie auch Schweine haben“, sagte Antons Mutter.
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„Ja, Mastschweine“, bestätigte Frau Hering. „Die kann ich Ihnen jetzt allerdings nicht zeigen. Da müssen Sie warten, bis mein Mann um sechs das Futter einlässt.“ Anton stand da und gähnte. Schweine – als ob ihn die interessierten! „Aber wir können zu den Hühnern gehen“, sagte Frau Hering. Mit einem Blick auf Anton fügte sie hinzu: „Vielleicht gefällt dir unser Pfau.“ „Vielleicht“, sagte Anton gelangweilt. Er war aber doch beeindruckt, als er sah, wie der Pfau seine Schwanzfedern zu einem großen farbenprächtigen Rad aufrichtete. Dazu stieß er einen Schrei aus, der Anton durch Mark und Bein ging. Zum Glück war der Hühnerhof von einem hohen Drahtzaun umgeben. „Das klingt unheimlich, nicht wahr?“, meinte Frau Hering. „Manchmal weckt er uns sogar damit.“ „Nachts schreit er auch?“ Anton musste an den kleinen Vampir denken, der ja nur das Stadtleben kannte. Wie würde der sich ängstigen, wenn in der Nacht dieser fürchterliche Schrei ertönte! Vielleicht würde er vor Schreck abstürzen und sich ein Bein brechen. Er musste ihn unbedingt warnen, wenn er ihn heute Abend traf! Außer dem Pfau gab es noch Hühner – dreißig oder mehr. Frau Hering warf ihnen eine Handvoll Körner zu, und sie stürzten gackernd darüber her. Die Eltern lachten. Anton verzog nur geringschätzig die Mundwinkel – über Hühner konnte er nicht lachen. „Du magst wohl keine Hühner?“, fragte Frau Hering. „Doch“, sagte Anton, „wenn sie in der Suppe sind!“ „Anton!“, rief seine Mutter, aber Frau Hering lachte nur. Sie zeigte auf ein kleines Haus in der Mitte des Hühnerhofs. „Wenn du so für Hühner sehwärmst, solltest du dir mal die Legehenne angucken. Sie sitzt in dem Häuschen und brütet.“ 17
Mit diesen Worten öffnete sie die Tür zum Hühnerhof und schob Anton hinein. Plötzlich fand er sich von einer Schar Hühner umringt. Aus lauter Angst, sie könnten ihm in die Beine picken, hüpfte er von einem Fuß auf den anderen. Frau Hering lachte. „Die tun dir nichts.“ „Das kann man nie wissen“, verteidigte sich Anton. Er hatte einmal in einem Film gesehen, wie Vögel über Menschen herfielen. Die Bilder von hackenden Schnäbeln waren ihm noch sehr deutlich in Erinnerung. „Vor Vampiren hat er keine Angst, aber vor Hühnern!“, spottete sein Vater von der anderen Seite des Zauns. Anton warf ihm einen wütenden Blick zu. „Ich bin eben vorsichtig!“ Langsam ging er zur Tür zurück. Dabei ließ er die Hühner nicht aus den Augen, um zu sehen, ob sie nicht etwa in Panik gerieten, wie in dem Film. Doch die Tiere scharrten im Sand und pickten Körner. Er hatte glücklich die Tür erreicht, als der Pfau einen Schrei ausstieß – so laut und so schrill, dass Anton leichenblass wurde. Zitternd schloss er die Tür hinter sich. „Der Held des Hühnerhofs!“, witzelte der Vater. Anton machte ein finsteres Gesicht. Mit langen Schritten ging er zum Reck hinüber, das neben dem Hühnerhof auf einer Wiese stand, zog sich hoch und stellte sich auf die Reckstange. „Lachen, das könnt ihr!“, rief er. „Du wirst dich schon an alles gewöhnen“, meinte Frau Hering, „auch an die Hühner. Komm, jetzt zeige ich dir die Pferde.“ „Pferde?“, sagte Anton unwillig. „Mohrchen, unser Reitpferd, und Tinka, ihr Fohlen.“ Anton zögerte. Aber dass er auch Angst vor Pferden hatte, wollte er nicht zugeben. „Also gut“, sagte er. „Aber die Pferde sind das Letzte, was ich nur angucke.“ 18
„Danach gibt es sowieso Mittag“, antwortete Frau Hering.
Der Schimmelreiter Anton sprang von der Reckstange herunter und ging hinter Frau Hering und seinen Eltern her. Vor einem niedrigen Holzzaun blieben sie stehen. Frau Hering rief: „Mohrchen!“ Zu Antons Überraschung kam ein weißes Pferd an den Zaun. Ihm folgte ein braunes Fohlen. Während Frau Hering die Pferde begrüßte, stand Anton dabei und dachte, wie albern es war, mit Pferden zu reden, als wären sie Menschen. Nach einer Weile zog Frau Hering einen Apfel aus der Tasche und reichte ihn Anton. „Hier, den kannst du Mohrchen füttern.“ „Ich?“ „Ja. Dann lernt sie dich kennen, und du kannst leichter auf ihr reiten.“ „Ich will aber gar nicht reiten!“ „Du willst nicht reiten?“ Frau Hering tat überrascht. „Alle Feriengäste bei uns reiten! Du bist doch sportlich, oder?“ „Jaa –“, sagte er gedehnt. „Na also. Und jetzt solltest du Mohrchen endlich ihren Apfel geben, sie wird schon ungeduldig.“ Zaghaft streckte Anton seine Hand aus. Der große Pferdekopf kam näher, das Maul öffnete sich, und Anton sah zwei Reihen riesiger Zähne.. Unwillkürlich zitterte seine Hand, und der Apfel fiel ins Gras. Frau Hering hob den Apfel auf und gab ihn Mohrchen.
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„Mohrchen beißt nicht“, sagte sie. „Nicht wahr, Mohrchen?“, fuhr sie, zum Pferd gewandt, fort. „Du bist das geduldigste und bravste Pferd hier auf dem Hof.“ „Anton ist das erste Mal auf einem Bauernhof“, erklärte seine Mutter. „Und das letzte Mal!“, sagte Anton giftig. „Anton, bitte!“, rief die Mutter. Es war deutlich zu hören, wie peinlich ihr Antons Verhalten war. „Der erste Tag ist immer der schwierigste“, sagte Frau Hering ungerührt. „Morgen gefällt es dir bestimmt schon besser, und du hast dich an die neue Umgebung gewöhnt. – So, und jetzt sollst du ein paar Runden reiten.“ Sie musterte Antons Kleidung und nickte zufrieden. „Jeans und Gummistiefel, genau das Richtige zum Reiten!“ Anton warf seiner Mutter einen hilfesuchenden Blick zu. Immerhin waren es die neuen Jeans, die er trug. Doch sie sagte nur: „Hast du nicht gehört?“ „Okay, okay!“ Dann war es eben ihre Schuld, wenn er vom Pferd fiel und sich den Hals brach! Schicksalsergeben folgte er Frau Hering auf die Pferdekoppel. Sie fasste Mohrchen am Halfter und lächelte Anton aufmunternd zu. „Du kannst aufsitzen.“ „Ohne Sattel?“ „Ja. Dann bekommst du ein besseres Gefühl für das Pferd.“ Aus der Nähe wirkte das Pferd noch riesiger! „Und wie soll ich da raufkommen?“
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„Du fasst in die Mähne und schwingst dich nach oben.“ „Bleibt das Pferd denn solange stehen?“ „Natürlich. Außerdem halte ich Mohrchen fest.“ „Auf eure Verantwortung!“, rief Anton seinen Eltern zu, bevor er in die Mähne fasste und sich auf den Pferderücken hinaufzog. Es war gar nicht so schwierig, wie er gedacht hatte. 21
Als er oben saß, konnte er sich ein siegreiches Lächeln nicht verkneifen. Er drückte die Beine fest an Mohrchens Flanken und setzte sich gerade hin – so, wie er es in Cowboyfilmen gesehen hatte. Frau Hering beobachtete ihn dabei. „Nicht schlecht für den Anfang“, meinte sie. „Wenn du dich anstrengst, wirst du einmal ein guter Reiter.“ „Glauben Sie?“, sagte Anton geschmeichelt. „Bestimmt.“ Gleich darauf war sich Anton nicht mehr so sicher, ob das stimmte, denn nach einem ermunternden „Hü! Mohrchen!“ setzte sich das Pferd in Bewegung. Anton hatte Mühe, nicht hinunterzufallen. Als er nach einer Viertelstunde wieder festen Boden unter den Füßen hatte, ging er mit steifen Beinen zu seinen Eltern zurück. Sein Vater lobte: „Du hast dich gut gehalten!“ „Findest du?“ Frau Hering kam dazu und sagte listig: „Heute Nachmittag sind Sie übrigens mit Reiten dran.“ „Ich?“, rief der Vater. „Und Ihre Frau auch.“ Die betretenen Gesichter seiner Eltern entschädigten Anton für alles, was er heute Vormittag durchgemacht hatte. „Aber sicher“, sagte er. „Alle Feriengäste reiten. Oder habt ihr vorhin nicht zugehört?“
Hermann und Johanna Nach dem Mittagessen ging Anton in sein Zimmer. Angeblich, um zu lesen – in Wirklichkeit war er hundemüde, vom Reiten und vom Sargtragen in der letzten Nacht.
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Er warf sich auf sein Bett und schaffte es gerade noch, die Stiefel abzustreifen. Dann schlief er schon. Kurz nach vier klopfte Antons Mutter an seine Zimmertür. Anton blinzelte. „Ja?“ „Vati und ich wollen jetzt reiten.“ „Ich komme“, murmelte Anton verschlafen. Er hörte, wie sie über den Flur ging. Was er als nächstes hörte, war die Stimme seines Vaters. „He, Schlafmütze!“ „Ich... komme schon.“ Anton öffnete die Augen und sah seinen Vater neben dem Bett stehen. „Weißt du, wie spät es ist? Halb sechs!“ „So spät?“, fragte Anton ungläubig. Dann musste er, nachdem seine Mutter bei ihm geklopft hatte, wieder eingeschlafen sein! So ein Pech!, dachte er, denn nun hatte er seine Eltern nicht beim Reiten gesehen. Es war bestimmt sehr lustig gewesen! „Bist du vom Pferd gefallen?“, fragte er. „Nein.“ „Und Mutti?“ „Auch nicht.“ „Schade.“ Der Vater lachte nur. „Hermann und Johanna sind gerade angekommen.“ Mit den Füßen angelte Anton nach seinen Stiefeln und stieg hinein. „Die wollen doch nicht etwa mit mir spielen?“ „Hermann will dir die Scheune zeigen. Er kennt ganz tolle Verstecke, hat er mir erzählt.“ Anton erschrak. Daran hatte er noch gar nicht gedacht, dass Hermann und Johanna beim Spielen in der Scheune den Sarg entdecken könnten. Auf einmal hatte er es sehr eilig, in den Hof zu kommen. An der Haustür hätte er fast Herrn Hering umgerannt. „Du wolltest die Schweine sehen?“, fragte Herr Hering. 23
„Die Schweine? Nein, ich...“ Anton stockte. Wenn er noch lange hier stand und redete, fanden sie in der Zwischenzeit vielleicht den Sarg, und das musste er auf jeden Fall verhindern! „Ich guck mir die Schweine morgen an!“, rief er und rannte einfach los, bevor Herr Hering etwas erwidern konnte. Die Tür zur Scheune war nur angelehnt. Sie quietschte, als Anton sie öffnete. Er machte ein paar vorsichtige Schritte und blieb stehen. Durch zwei kleine, fast blinde Fenster neben der Tür kam nur spärliches Licht. In dem Halbdunkel sah alles seltsam und unwirklich aus: die Werkzeuge und der Traktor an der Wand, die alte Kutsche. Eine einfache Holztreppe ohne Geländer führte nach oben. Voller Unbehagen betrachtete Anton die schmalen Stufen. Sie wirkten alt und morsch und verlockten nicht gerade dazu hinaufzusteigen! Außerdem war es dort oben noch dunkler und unübersichtlicher als hier unten! Ob er einfach wieder umkehren sollte? Während er noch überlegte, hörte er ein leises Kichern. Dann rief eine helle Stimme: „Hallo, Anton!“ Erschrocken blickte er nach oben, konnte aber niemanden entdecken. „Wo seid ihr?“, rief er. „Such uns doch!“, antwortete die Stimme. „Oder hast du Angst?“, fragte eine zweite Stimme. „Angst? Ich doch nicht!“, log Anton. Mit weichen Knien stieg er die Holztreppe hinauf. Bei jedem Schritt krachten die Stufen, als würden sie gleich zusammenbrechen. Doch er kam wohlbehalten oben an. Beklommen sah er sich um. Überall lagen Strohballen gestapelt. Es waren so viele, und zwischen ihnen gab es so viele Verstecke, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte zu suchen.
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Aber er hatte eine Idee. Leise, um sich nicht zu verraten, ging er zu einer kleinen Höhle im Stroh, kroch hinein – und wartete. Es würde sicherlich nicht lange dauern, bis Johanna und Hermann aus ihren Verstecken kamen, weil sie sich wunderten, wo er blieb! Und richtig: Nach einer Weile hörte er aufgeregtes Flüstern. Gleich darauf schlich jemand über den Strohboden und blieb in Antons Nähe stehen. „Siehst du ihn?“, fragte eine Stimme. „Nein.“ „Ist er wieder nach unten gegangen?“ „Ich weiß nicht.“ Anton beugte sich etwas vor, sodass er gelbe Gummistiefel, eine blaue Hose, einen blauen Pullover und kurze helle Haare sehen konnte – das war Hermann! Anton lachte verstohlen. „Wahrscheinlich hat er sich versteckt“, sagte Hermann. „Wollen wir ihn suchen?“, fragte Johanna. „Ja. Komm!“ Es knackte und raschelte, Schritte liefen hin und her, und dann tauchte Johannas Kopf zwischen den Strohballen auf. „Ich hab ihn!“, rief sie. Sie schob die Strohballen zur Seite. „Du bist ja ganz schön gerissen! Einfach zu warten, bis wir rauskommen!“ Anton freute sich, dass es ihm gelungen war, sie zu überlisten.
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„Das hattet ihr wohl nicht erwartet!“, sagte er und stand auf. Während er seinen Pullover abklopfte, sah er Johanna von der Seite an. Mit ihren Jeans, den roten Gummistiefeln und 26
ihrem hellen, im Nacken zusammengebundenen Haar gefiel sie ihm eigentlich ganz gut. Als sie seinen Blick bemerkte, wurde sie rot. „Wir hatten so ein tolles Versteck“, sagte sie schnell. „Hinter einer Holzkiste.“ Anton erschrak. Hoffentlich war es nicht der Sarg des kleinen Vampirs! „Wo denn?“ Sie zeigte auf eine Kiste an der Wand. „Da drüben. Hinter der Kiste von unserer Großmutter.“ „Ach so“, sagte er erleichtert. Die große, mit einem altmodischen Schloss gesicherte Kiste war bestimmt nicht Rüdigers Sarg! Aber vielleicht konnte er herauskriegen, ob sie etwas über den Vampirsarg wussten! Also fragte er: „Andere Kisten habt ihr nicht?“ „Wieso fragst du?“, erkundigte sich Hermann. „Weil –“ Was sollte er darauf antworten? Da ihm keine vernünftige Erklärung einfiel, sagte er: „Nur so.“ „Nur so!“, machte Hermann ihn nach. „Du bist wohl Schatzsucher, wie?“ „Warum sagst du ihm nicht, dass du noch eine Kiste hast?“, fragte Johanna und kicherte. Hermann warf ihr einen wütenden Blick zu. „Das geht Anton überhaupt nichts an. Und dich auch nicht!“ „Was für eine Kiste?“, fragte Anton besorgt. „Eine Kiste für seine Gummimonster!“ „Gummimonster?“ „Solche wabbeligen Viecher aus Gummi. Meine Mutter wollte sie wegwerfen. Da hat er sie hier oben versteckt.“ „Na und?“, knurrte Hermann. Offensichtlich war ihm die Sache unangenehm, denn er lenkte schnell ab: „Spielst du Tischtennis?“ „Nicht sehr gut“, meinte Anton. „Hermann auch nicht“, sagte Johanna. „Aber ich bin ziemlich gut.“ 27
„Haha“, machte Hermann und ging zur Treppe. „Ich bin besser als du!“, riet Johanna. Anton stieg hinter Hermann die Stufen hinunter. Einerseits war er froh und erleichtert, dass der Vampir seinen Sarg nicht in der Scheune versteckt hatte – andererseits wusste er nun noch immer nicht, wo er ihn heute Abend treffen konnte.
Unheimliche Bewohner Anton hatte gerade ein Tischtennisspiel gegen Hermann gewonnen, als Frau Hering sie zum Abendbrot rief. „Spielen wir nachher noch in meinem Zimmer?“, fragte Hermann. „Ich geb dir auch ein paar Ritter.“ „Mal sehen“, sagte Anton ausweichend. „Vielleicht geh ich auch schlafen“, meinte er dann und gähnte, obwohl er gar nicht müde war. „So früh schon?“ „Na ja. Die Landluft...“ Hermann machte ein enttäuschtes Gesicht. „Du bist ja eine trübe Tasse!“ Normalerweise hätte sich Anton so etwas nicht an den Kopf werfen lassen, aber jetzt grinste er nur. „Dann spiele ich eben mit Johanna“, sagte Hermann wütend. Anton war das nur recht! So konnte er wenigstens ungestört weiter nach dem Sarg suchen. Vielleicht fand er ihn noch, bevor der kleine Vampir abflog! Doch Rüdiger von Schlotterstein hatte seinen Sarg anscheinend sehr gut versteckt. Nirgendwo entdeckte Anton eine Spur von ihm, als er sich nach dem Abendbrot auf dem Hof umsah. Schließlich blieb er vor einem flachen Gebäude stehen. Es hatte keine Fenster und sah wie eine Garage aus.
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Vorsichtig öffnete Anton die Eisentür – und prallte zurück, denn in demselben Augenblick erhob sich ein ohrenbetäubendes Schreien und Kreischen. Entsetzt schlug er die Tür zu und rannte zum Haus zurück. An der Haustür wagte er sich zum ersten Mal umzudrehen. Er wunderte sich, dass ihm keins dieser schrecklichen Wesen gefolgt war. Noch immer zitternd, stieg er die Treppe zu seinem Zimmer hinauf. Er setzte sich auf sein Bett und versuchte nachzudenken. Waren das – Tiere gewesen? Aber welche Tiere lebten in völliger Finsternis und konnten so entsetzlich schreien? Ob der kleine Vampir etwas damit zu tun hatte? Aber ein Vampir würde niemals ein solches Gebrüll ausstoßen – Vampire bewegten sich leise und vorsichtig. Da kam ihm plötzlich ein furchtbarer Gedanke: Wenn nun der Vampir bei seiner Suche nach einem Versteck für seinen Sarg ebenfalls diese Tür geöffnet hatte und wenn diese grässlichen Wesen ihn gepackt und zu sich hereingezogen hatten... Dann saß er vielleicht noch immer dort drin und wartete verzweifelt darauf, dass Anton ihn befreite? Anton beschloss, nach unten zu gehen und Johanna zu fragen, was es mit diesem flachen Gebäude und seinen unheimlichen Bewohnern auf sich hatte! Johanna saß im Wohnzimmer und sah fern – einen Tierfilm, wie Anton naserümpfend feststellte. „Ich muss dich was fragen“, sagte er. „Jetzt nicht“, antwortete sie. „Wenn der Film zu Ende ist.“ Anton stöhnte leise. Der Film lief bestimmt noch eine halbe Stunde, und das war vielleicht schon zu lange, wenn er dem Vampir noch rechtzeitig helfen wollte! „Ich muss aber unbedingt wissen, was in dem flachen Gebäude ist!“, sagte er drängend. „Vorhin, als ich die Tür aufmachte, da –“ 29
„Du hast die Tür aufgemacht?“ Johanna lachte leise. „Dann kann ich mir vorstellen, was passiert ist!“ „Was ist denn da drin?“ „Das weißt du nicht?“, kicherte sie. „Hast du nicht ihr Quieken gehört?“ „Quieken?“ Auf einmal begann er zu verstehen. „Waren das etwa – Schweine?“ „Ja!“ Anton merkte, wie er rot wurde. Er hatte sich vor Schweinen gefürchtet! Doch dann überlegte er, dass irgendetwas daran nicht stimmte: So sah kein Schweinestall aus! Und Schweine lebten auch nicht im Dunkeln! „Das glaube ich nicht“, sagte er kühn. „Ein Schweinestall hat Fenster!“ „Es ist auch kein normaler Schweinestall“, erklärte Johanna. „Wir haben Mastschweine.“ „Und die leben im Dunkeln?“ „Ja. Sie sehen nur Licht, wenn mein Vater kommt und das Futter einlässt. Deshalb schreien sie dann auch so laut.“ „Das ist ja Tierquälerei“, empörte sich Anton. Johanna zuckte mit den Schultern. „Jetzt braucht mein Vater wenigstens nicht mehr auszumisten. Das geht alles automatisch.“ „Trotzdem ist es Tierquälerei.“ „In dem alten Schweinestall hatten sie es auch nicht viel besser. Du kannst ihn dir ja mal angucken. Er ist allerdings voller Gerümpel.“ Anton horchte auf. Ein alter Schweinestall voller Gerümpel – ob der kleine Vampir sich den als Versteck gewählt hatte? „Und wo ist der alte Schweinestall?“ „Hinterm Kuhstall. – So, und jetzt will ich endlich meinen Film sehen!“ „Ich geh ja schon“, sagte Anton vergnügt. Er war sehr zufrieden mit dem, was er herausgefunden hatte!
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Vampirzähne Draußen war es inzwischen dunkel geworden. So finster wurde es bei ihm zu Hause, in der Stadt, nie!, dachte Anton schaudernd. Der Mond war hinter Wolken verschwunden, und durch die hohen Bäume am Straßenrand schimmerte nur ganz schwach das Licht der Straßenlampen. Wie gut hätte er jetzt seine Taschenlampe gebrauchen können! Aber ausgerechnet die hatte er im Durcheinander des Kofferpackens vergessen! Als er endlich die Rückseite des Kuhstalls erreicht hatte, atmete er auf, trotz des durchdringenden Gestanks: denn hinter dem Misthaufen erblickte er das Dach eines Schuppens. Das musste der alte Schweinestall sein! Im Näherkommen sah er, dass der Stall aus Backsteinen erbaut war, kleine Fenster und eine Holztür hatte. Und diese Tür... stand halb offen...! Anton blieb stehen. Sein Herz klopfte wie verrückt. War da nicht ein Lichtschein im Fenster? Und strich nicht ein merkwürdiger Schatten um die Tür herum? Er spürte, wie es ihn kalt überlief. Wenn nun gar nicht der kleine Vampir in dem alten Schweinestall wohnte, sondern – Tante Dorothee zum Beispiel! Oder ein anderer Vampir, einer von hier... Und in der Stille ringsum hörte er plötzlich ein Geräusch: es war das helle Klickklack, mit dem messerscharfe Zähne aufeinanderschlugen! Vampirzähne...! Unwillkürlich ging Anton ein paar Schritte zurück – und blieb mit einem Stiefel in dem aufgeweichten Boden stecken. „Mist!“, fluchte er leise, mit zusammengepressten Lippen. Soviel er auch zog und zerrte – der Stiefel rührte sich nicht!
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Und das musste ihm gerade jetzt passieren, wo vielleicht drüben am Schweinestall ein Vampir auf ihn lauerte! Starr vor Schrecken sah Anton, wie sich eine Gestalt aus dem Dunkel der Tür löste und geschmeidig und lautlos auf ihn zukam. Der bodenlange Umhang bauschte sieh, sodass sie wie eine riesenhafte schwarze Fledermaus aussah. In diesem Augenblick trat der Mond hinter den Wolken hervor, und Anton blickte in das totenblasse Gesicht des kleinen Vampirs! „Rüdiger!“, rief er, und seine Stimme zitterte vor Freude und Aufregung. „Hallo, Anton“, sagte der Vampir dumpf. Anton sah seine blutunterlaufenen Augen und den großen Mund mit den weit herausragenden nadelspitzen Eckzähnen. Beim Anblick der Vampirzähne lief es ihm kalt den Rücken herunter . „Ich – ich wollte dich nur besuchen“, sagte er schnell. „Besuchen?“ Der Vampir lachte heiser.
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„Eine gute Idee! Wenn du wüsstest, wie hungrig ich bin!“ „So meinte ich das nicht!“
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„Wie dann?“, sagte der Vampir und machte einen Schritt auf Anton zu. Anton wollte zurückweichen, aber sein Stiefel steckte noch immer im Matsch fest. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Nur den Vampir nicht merken lassen, dass er Angst hatte! „Ich wollte wissen, wo dein Sarg steht“, sagte er mutig. „Mein Sarg?“ Das Gesicht des Vampirs nahm einen misstrauischen Ausdruck an. „Und wieso?“ Darauf konnte es nur eine Antwort geben! „Wir sind doch Freunde!“, sagte Anton und legte all seine Überzeugungskraft in diese Worte. Der Vampir verzog den Mund und brummte: „Freunde! – Jetzt hab ich Hunger!“ Bei diesen Worten schielte er auf Antons Hals. „Hab ich dir etwa nicht geholfen, deinen schweren Sarg hierher zu schaffen?“, rief Anton. „Doch“, knurrte der Vampir. „Und die Karten für die Bahnfahrt hab ich sogar von meinem Taschengeld bezahlt!“ Der Vampir warf Anton einen grimmigen Blick zu. „Du tust gerade so, als hättest du das alles meinetwegen gemacht!“ „Etwa nicht?“, rief Anton. „Du wolltest mich nur dabeihaben, weil es dir sonst auf dem Bauernhof zu langweilig geworden wäre! Deshalb hast du mich überredet mitzukommen!“ Anton musste grinsen. Das stimmte zwar – aber schließlich hatte der Vampir auch seine Gründe gehabt, die heimatliche Gruft für ein paar Tage zu verlassen! „Und was war mit Jörg dem Aufbrausenden?“, rief er. „Hatte Lumpi ihn vielleicht nicht zu euch in die Gruft eingeladen? Und musstest du nicht seinetwegen verschwinden?“
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„Schon –“, sagte der Vampir gedehnt. „Aber ich wäre bestimmt nicht auf diesen lausigen Bauernhof gefahren!“, fügte er heftig hinzu. „Hier gibt es überhaupt nichts Vernünftiges zu essen für mich. Die halbe Nacht bin ich gestern unterwegs gewesen und hab nur eine Maus gefangen!“ „Du kennst dich eben noch nicht aus“, meinte Anton. „Ich wette, du weißt noch nicht mal, wo die Bullen sind!“ „Bullen... wenn das alles ist!“, sagte der Vampir unwirsch. „Und Hühner“, fuhr Anton fort, „ich kann dir zeigen, wo der Hühnerhof ist. Und ich weiß sogar, wo ein L–“ ‹Lämmchen›, wollte Anton sagen, doch als er an das weiße, wollige Bündel dachte, stockte er. „Was L–?“, fauchte der Vampir. Aber Anton hatte beschlossen, ihm nichts von dem Lämmchen zu verraten. „Legehenne!“ „Legehenne!“, echote der Vampir. „Lass mich bloß in Ruhe mit dem Viehzeug!“ Anton holte tief Luft und zog noch einmal an seinem Stiefel – und diesmal schaffte er es, ihn freizukriegen. Aufatmend sagte er: „Kann ich jetzt zu dir reingucken?“ „Wie – reingucken?“, fragte der Vampir argwöhnisch. „In den Schweinestall. Oder wohnst du da nicht?“ „Doch. – Aber nur ganz kurz! Wie du weißt, habe ich entsetzlichen Hunger!“
Das Versteck des kleinen Vampirs Anton schlüpfte hinter dem kleinen Vampir durch die Stalltür. Sie gelangten in einen Vorraum, der mit alten Möbeln voll gestellt war. An der Wand stand ein hoher Schrank mit einem großen Spiegel.
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Bei dem Lichtschein, der aus dem Stall kam, sah Anton sein eigenes Spiegelbild... nur dort, wo der Vampir ging, war der Spiegel leer! Er fuhr herum – und sah den Vampir leibhaftig vor sich, sein struppiges, schulterlanges Haar und den fleckigen Umhang mit den Mottenlöchern. Anton schluckte. Er wusste natürlich, dass Vampire kein Spiegelbild haben. Aber es war doch ein Unterschied, ob man das in einem Buch las oder hautnah miterlebte! Doch dann musste er fast lachen: Es war ja nicht irgendein Vampir, sondern Rüdiger von Schlotterstein, sein bester Freund! Vor dem brauchte er sich nicht zu fürchten... oder? Trotzdem war es ihm etwas mulmig zumute, als er dem Vampir in den Schweinestall folgte. Es war ein lang gestreckter Raum mit halbhohen gemauerten Boxen für die Schweine. Überall standen Bretter, Latten, alte Türen, Möbel, Werkzeuge, Drahtrollen und Eisenstangen. Die dicke Staubschicht auf den Möbeln zeigte, dass sich fast nie jemand hierher verirrte. Außerdem stank es erbärmlich: nach Schweinemist und Moder. Anton schüttelte sich. Aber für den Vampir war es genau der richtige Unterschlupf. Sein kleiner schwarzer Sarg, den er hinten in der Ecke zwischen einer wurmstichigen Kommode und einer großen Truhe versteckt hatte, wäre unter all dem Gerümpel gar nicht aufgefallen – hätte nicht eine Kerze am Sargrand gebrannt. Die Kerze, wusste Anton, brauchte der Vampir, um nach dem Aufwachen immer noch ein wenig zu lesen – Vampirgeschichten natürlich!
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„Ein fabelhaftes Versteck!“, meinte er anerkennend. Der Vampir lächelte geschmeichelt. „Nicht wahr! Wie hast du mich überhaupt gefunden?“ 37
Anton machte eine weit ausholende Bewegung. „Zuerst hab ich dich in der Scheune und bei den Mastschweinen gesucht. Und dann hat mir Johanna erzählt, dass es noch einen alten Schweinestall gibt.“ „Johanna?“, fragte der Vampir argwöhnisch. „Wer ist das? Weiß die etwas?“ Anton räusperte sich verlegen. „Sie wohnt auf dem Hof. Aber sie hat keine Ahnung, dass du hier bist. – Und an Vampire glaubt sie sowieso nicht“, fügte er hinzu, obwohl er das gar nicht wusste. „Du bist also vollkommen in Sicherheit!“ Das schien den Vampir zu beruhigen. Er ging zu seinem Sarg, holte einen Hut hervor und setzte ihn auf. Anton biss sich auf die Lippen, um nicht laut zu lachen: es war der Tirolerhut, den er dem Vampir für die Bahnfahrt geliehen hatte. Mit dem Hut, an dem bei jeder Bewegung eine lange Feder auf und ab wippte, sah der Vampir wie eine Witzfigur aus! Doch Rüdiger fand sich offenbar sehr schön, denn er lächelte selbstgefällig. „Gehen wir?“, sagte er. „Wohin?“, fragte Anton überrascht. „Du wolltest mir doch zeigen, wo ich etwas zu essen finde.“
Hühneraugen Draußen vor eiern Stall fragte der Vampir: „Und wo sind die Bullen?“ „Die Bu-Bullen?“ Anton wusste selbst nicht genau, wo die Weide mit den Bullen lag. „Wolltest du nicht zuerst in den Hühnerhof?“, versuchte er den Vampir abzulenken. „Hühner!“, sagte der Vampir abfällig. „Die bestehen ja nur aus Federn und Knochen. Davon werde ich nicht satt.“ „Es sind aber sehr viele“, wandte Anton ein. 38
„Brrr!“, machte der Vampir nur. „Die Bullen sind nämlich sehr wild!“, behauptete Anton. „Wild?“ Die Stimme des Vampirs klang plötzlich gar nicht mehr so selbstsicher. „Meinst du, sie würden mir was tun?“ „Na ja –“ „Dann... dann geh ich doch erst mal in den Hühnerhof!“ Anton grinste in sich hinein. Der kleine Vampir tat immer, als wäre er besonders mutig und unerschrocken – dabei hatte er genauso viel Angst wie Anton! Ob er sich auch vor Hühnern fürchtete? Anton hatte jedenfalls beschlossen, nicht noch einmal in den Hühnerhof zu gehen. Er würde vor dem Zaun stehen bleiben und zugucken, wie sie den kleinen Vampir in seine alte löchrige Strumpfhose zwickten! Bei dem Gedanken daran, wie der Vampir mit flatterndem Umhang zwischen ihren pickenden Schnäbeln hin und her laufen würde, lachte er leise auf. Doch seine Heiterkeit verflog rasch: Im Hühnerhof war nämlich kein einziges Huhn zu sehen. „Wo sind denn nun deine Hühner?“, knurrte der Vampir mit deutlicher Enttäuschung. „Ja, also die –“, begann Anton. Er hatte erwartet, sie laut gackernd im Hof anzutreffen. „Die sch-schlafen schon.“ „Und wo?“, fragte der Vampir zähneknirschend. Anton konnte natürlich nicht zugeben, dass er das selbst nicht wusste. Er zeigte auf das kleine Haus, in dem die Henne brütete. „Da drin.“ „Alle?“, fragte der Vampir ungläubig. „Sagtest du nicht, es wären sehr viele?“ „Einige schlafen auch in den Bäumen.“ „Hühner? In den Bäumen?“ „Wieso? Es sind doch Vögel.“ „Wir Vampire verstehen zwar nicht viel von Viehzucht“, erklärte der Vampir, „aber dass Hühner in Bäumen schlafen, hab ich noch nie gehört!“ 39
Ich auch nicht!, stimmte ihm Anton insgeheim zu. Laut sagte er: „Siehst du nicht die Hühneraugen?“ Der Vampir wusste offenbar nicht, was Hühneraugen waren, denn er blieb ganz ernst und spähte mit seinen scharfen Augen, die im Dunkeln viel besser sehen konnten als Antons, zu den Baumkronen hinauf. „Da oben sitzt wirklich etwas“, sagte er. „Ich kann zwar keine Augen erkennen, aber einen Schatten, der sich bewegt!“ „Einen Schatten, der sich bewegt?“, rief Anton erschrocken. Schließlich hatte er sich die Sache mit den Hühnern, die in Bäumen schlafen, nur ausgedacht! „Ist es ein Tier?“, fragte er beklommen. „Vielleicht ist es ja ein Vampir!“, sagte Rüdiger und grinste breit. „Ein Vampir?“, sagte Anton mit zitternder Stimme. Rüdiger warf ihm einen belustigten Seitenblick zu. „Seit wann fürchtest du dich vor Vampiren?“ „Ich... es könnte ja auch Tante Dorothee sein.“ „Tante Dorothee ist viel fetter.“ „Oder Sabine die Schreckliche.“ „Meine Oma lauert nicht in Bäumen“, erwiderte der Vampir hoheitsvoll. „Aber es könnte Anna sein!“ „Anna? Wollte sie denn kommen?“ „Wo du bist, da will sie doch auch sein!“ Anton merkte, wie er rot wurde. „Und ist sie es?“ Der Vampir kicherte: „Anna, die Verliebte, saß in dem Baum und piepte, und Anton, ihr verliebter Schatz, wär gern bei seinem Anna-Spatz!“ „Sehr witzig!“, sagte Anton wütend. Um sich zu rächen, bemerkte er hinterhältig: „Ich vermute, es ist Geiermeier!“ Er kannte die Angst der Vampire vor dem Friedhofswärter Geiermeier, der ihnen ständig hinterherschnüffelte und der geschworen hatte, sie alle zu vernichten. Rüdigers Onkel Theodor war ihm bereits zum Opfer gefallen. 40
Doch der kleine Vampir sagte seelenruhig: „Seit wann kann Geiermeier fliegen?“ Jetzt sah auch Anton das Wesen, das langsam und etwas schwerfällig von den Bäumen zum Hühnerhof flog. Als es sich auf den Drahtzaun setzte und einen grellen, durchdringenden Schrei ausstieß, wusste Anton plötzlich, wer das Wesen war... Aber es war zu spät, um es dem kleinen Vampir zu sagen, denn der war in demselben Augenblick Hals über Kopf davongerannt. „Nun ja“, sagte sich Anton, während er zum Bauernhaus zurückging, „er hat mich mit dem Gedicht geärgert, und ich hab vergessen, ihn vor dem Pfau zu warnen...“
Die Leute auf dem Land Am nächsten Morgen bestanden Antons Eltern darauf, dass er sie auf ihrem Spaziergang begleitete – obwohl er überhaupt keine Lust dazu hatte! „Sonst sitzt du doch nur in deinem Zimmer“, behauptete die Mutter. „Oder du langweilst dich auf dem Hof“, ergänzte der Vater. „Spazieren gehen ist auch nicht gerade aufregend“, erwiderte Anton. „O doch“, sagte der Vater. „Du wirst schon sehen, dass es hier eine Menge interessanter Sachen gibt, die man sich angucken kann.“ Anton zeigte auf ein paar Müllsäcke am Straßenrand. „Meinst du die?“ „Du hast schon verstanden, was Vati meint“, sagte die Mutter. Anton schwieg verärgert. Immer wollten sie bestimmen, was für ihn gut war!
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Verdrossen ging er hinter ihnen her und versuchte, möglichst wenig von ihrer Unterhaltung über Bauernhäuser, Butzenscheiben und Bauerngardinen mitzukriegen – was gar nicht so leicht war, da sie sich gegenseitig lautstark auf angebliche „Sehenswürdigkeiten“ aufmerksam machten. Wie Touristen!, dachte er verächtlich. Als sie sich auch noch für eine ungefähr dreißig Zentimeter große Windmühle begeisterten, die in einem Vorgarten stand, und die Bewohner des Hauses neugierig zu ihnen herüberstarrten, bekam Anton einen roten Kopf. „Könnt ihr nicht leiser sprechen?“, zischte er. Doch seine Eltern begannen ungerührt, die Leute über ihr Haus, die Windmühle und weitere „Sehenswürdigkeiten“ von Klein-Oldenbüttel auszufragen. Anton ging auf die andere Straßenseite und tat, als würde er nicht dazugehören. Dabei zählte er leise. Wenn sie bei vierzig nicht wieder da waren, wollte er allein zurückgehen. Als er bis fünfundzwanzig gezählt hatte, kamen seine Eltern über die Straße. „Auf dem Land sind die Leute so offen und herzlich!“, sagte die Mutter schwärmerisch. „– im Gegensatz zu Anton!“, fügte der Vater nach einem Blick in Antons mürrisches Gesicht hinzu. „Zu Hause geht ihr auch nicht zu jedem hin und redet mit ihm“, knurrte Anton. „Ihr seid richtige Touristen!“ Seine Mutter lachte nur. „Und jetzt wollen wir uns, wie richtige Touristen, die Kirche angucken.“ „Auch das noch!“, sagte Anton. Dann fiel ihm ein, dass zu einer Kirche auch ein Friedhof gehört – und der Gedanke stimmte ihn versöhnlicher. Doch es war ein moderner Friedhof, wie Anton enttäuscht feststellte: von einer halbhohen Steinmauer umgeben, mit 42
säuberlich geharkten schnurgeraden Wegen und nur wenigen Büschen und Bäumen. Die Grabsteine standen so ordentlich in Reih und Glied, und die Gräber waren so sorgfältig bepflanzt, dass er gähnen musste. Auf diesem Friedhof gab es bestimmt kein Vampirgrab – oder doch? In der letzten Reihe entdeckte er den Grabspruch: Was wir bergen in den Särgen, ist das Erdenkleid. Was wir lieben, ist gehlieben, bleibt in Ewigkeit. Doch für ein Vampirgrab war die Grabstätte viel zu gepflegt! Vampirgräber, so wie Anton sie kannte, hatten alte verwitterte Grabsteine und waren von Unkraut überwuchert. „Na, hast du ein Vampirgrab entdeckt?“, fragte sein Vater, als sie vor der Kirche wieder zusammentrafen. „Klar!“, sagte Anton, der sich über den spöttischen Ton seines Vaters ärgerte. „Der ganze Friedhof ist voll davon. Und ein Vampir läuft mit einer Schubkarre und einer Schaufel herum und will sich gerade ein Grab ausheben. Wenn du dich beeilst, kannst du ihn noch sehen. Er trägt eine blaue Mütze und raucht Pfeife.“ „Und ich dachte immer, Vampire seien nur nachts unterwegs“, bemerkte der Vater belustigt. Anton warf ihm einen grimmigen Blick zu und sagte: „Schlaues Bürschchen.“ „Könnt ihr nicht endlich von etwas anderem reden?“, sagte die Mutter gereizt. „Zum Beispiel von den alten Häusern?“ „Die Häuser sind wirklich hübsch!“, sagte Antons Vater prompt. „Sieh doch mal, das Haus da mit dem Erker...“ 43
Und so weiter, und so weiter!, dachte Anton, während er ihnen missgelaunt folgte. Seine schlechte Laune besserte sich erst, als sie auf dem Rückweg vor einem Laden anhielten, über dem KAUFHAUS GFRTRUDE GRAPSCH stand. Der Laden sah nicht gerade wie ein Kaufhaus aus!, fand Anton. In den beiden Schaufenstern war nichts ausgelegt oder aufgebaut – sie waren einfach bis zur Hälfte mit buntem Schrankpapier beklebt. „Schönes Kaufhaus!“, grinste er. „Auf dem Land ist das eben so“, antwortete seine Mutter. „Komm, wir gehen mal rein.“ „O ja“, sagte Anton. Wenn es auch ein Dorfladen war – Kekse und Schokolade würde es bestimmt geben. Und er hatte heute nur ein halbes Brötchen gegessen. Doch kaum waren sie im Laden, sagte seine Mutter beim Anblick eines langen Regals voller Süßigkeiten: „Aber wir kaufen nichts zum Naschen!“ „Wieso nicht?“ „Weil du nicht richtig gefrühstückt hast.“ „Das ist gemein!“, knurrte er. Seine Lieblingsschokolade gab es hier – ihm lief schon das Wasser im Mund zusammen. „Es sind schließlich meine Zähne, die Löcher kriegen!“ Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Ich will aber etwas Süßes!“, sagte Anton trotzig. „Ich schenk dir einen Lolli“, erklärte da die Frau an der Kasse. Antons Mutter öffnete den Mund, um zu protestieren – sagte aber nichts. Wahrscheinlich wollte sie nicht unhöflich erscheinen! An der Falte auf ihrer Stirn erkannte Anton jedoch, dass sie wütend war, weil sich die Kassiererin in ihre Erziehung eingemischt hatte. Grinsend nahm er den Lolli entgegen und steckte ihn schnell in den Mund. „Du hattest Recht“, sagte er zu seiner Mutter, „die Leute auf dem Land sind wirklich nett!“ 44
Dann ging er vergnügt durch den Laden, in dem es fast alles zu kaufen gab – vom Besenstiel bis zur Leberwurst. Sogar Bücher entdeckte er. Aber es war keins dabei, das ihn interessierte. Seine Mutter dagegen war hellauf begeistert. „Schau mal, Anton, was für tolle Bücher: Tierbücher! Bastelbücher! Abenteuerbücher! Märchen, Sagen... soll ich dir eins kaufen?“ „Nein, danke.“ „Aber dann kannst du heute Nachmittag lesen!“ Das kann ich sowieso!, dachte Anton. Laut sagte er: „Die sind nur was für Dorfkinder.“ „Was möchtest du denn lesen?“, erkundigte sich die Frau an der Kasse. Um seine Mutter zu ärgern, sagte Anton: „Vampirgeschichten!“ Zu seiner Überraschung lachte die Frau nicht über seine Antwort, sondern kam hinter der Kasse hervor, stieg auf eine kleine Leiter und holte aus einem Regal ein paar Bücher – Bücher mit einem schwarzen Umschlag, wie er erfreut feststellte. „Hier“, sagte sie und reichte Anton drei Bücher. „Gefallen dir die besser?“ Es waren – Vampirgeschichten! Zwei der Bücher kannte Anton allerdings schon, doch das dritte mit dem verheißungsvollen Titel „Dein rotes Blut, Katharina“ kannte er nicht! Er drehte sich zu seiner Mutter um und fragte: „Kaufst du mir das?“ „Ganz bestimmt nicht!“, antwortete sie verärgert. „Bei uns werden diese Bücher gern gelesen“, sagte die Frau. „Siehst du!“, triumphierte Anton. „Die Leute auf dem Land wissen, was gut ist!“
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Die Kassiererin lächelte geschmeichelt – aber das brachte sie leider nicht dazu, Anton das Buch zu schenken, wie er gehofft hatte. So musste er das Buch von seinem Geld bezahlen. Aber das war auch nicht schlimm – jetzt hatte er ein gutes Buch mehr und wusste obendrein, wie er den Nachmittag herumkriegen sollte!
Der kleine Vampir und die Ungeheuer Als Anton am Abend den alten Schweinestall betrat, lag der Vampir noch im Sarg. Die Kerze brannte, doch der Vampir las nicht, wie es sonst seine Gewohnheit war. Er hatte seine zerlöcherte schwarze Decke bis zum Kinn hochgezogen und sah Anton aus geröteten Augen an. „Geht es dir nicht gut?“, fragte Anton. Der Vampir schlug die Decke zurück, sodass Anton einen Kratzer an seinem Hals sehen konnte. „Ich bin verletzt!“ Fast hätte Anton aufgelacht – so schlimm fand er den Kratzer wirklich nicht! Mit Leidensmiene sagte der Vampir: „Bestimmt krieg ich eine Blutvergiftung. Lumpi hatte mal eine. Um ein Haar wär er daran gestorben!“
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„Aber Vampire sind doch schon tot“, meinte Anton. Der Vampir warf ihm einen wütenden Blick zu – wie immer, wenn Anton herausfand, dass er maßlos übertrieb. „Und?“, zischte er. „Eine Blutvergiftung können wir trotzdem kriegen.“ Vorsichtig befühlte er den Kratzer. „Ist er sehr tief?“ „Nein!“, versicherte Anton. „Wenn ich die Stelle wenigstens sehen könnte! In den Spiegel kann ich auch nicht gucken... Hab ich schon einen roten Streifen am Hals? Lumpi hat gesagt, bei Blutvergiftungen bekommt man einen roten Streifen!“ Anton musste grinsen. Der Vampir hatte nur einen schwarzen Streifen am Hals – einen Schmutzstreifen. Aber das würde er lieber nicht laut sagen! „Du siehst ganz normal aus“, erklärte er.
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Das stimmte auch. Der Vampir war so leichenblass und so ungekämmt wie immer. Nur die Schatten unter seinen Augen waren vielleicht etwas tiefer als sonst. „Normal!“, knurrte der Vampir. „Nach so einer Nacht kann ich gar nicht normal aussehen!“ Neugierig fragte Anton: „Was ist denn passiert?“ Der Vampir sah Anton mit funkelnden Augen an. „Der Hof steckt voller Ungeheuer!“ „Ungeheuer?“ Anton versuchte, ernst zu bleiben. Er konnte sich schon vorstellen, welche Ungeheuer dem kleinen Vampir begegnet waren! „Wenn du das Wesen meinst, das so geschrien hat –“ Doch bevor Anton erzählen konnte, dass sie nur einen Pfau gesehen hatten, unterbrach ihn der Vampir. „Das war ja noch harmlos!“, rief er. „Aber als ich über die Wiese lief, kam ein Ungeheuer auf mich zugerannt, so hoch wie ein Haus, und schlug mich!“
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Anton hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Das konnte nur eins der Pferde gewesen sein! „Hast du daher den Kratzer?“ „Den was?“, fragte der Vampir beleidigt.
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„Deine – ähem – Verletzung am Hals“, verbesserte sich Anton. „Hast du die von dem Ungeheuer?“ „Nein“, sagte der Vampir mit Grabesstimme. „Es kam noch ein zweites Ungeheuer angelaufen. Da sprang ich mit letzter Kraft in ein Gebüsch.“ „Und dabei hast du dir den Hals an den Dornen aufgerissen?“ Der Vampir schloss die Augen, als bereite ihm die Erinnerung daran große Qual. „Nein“, sagte er langsam. „In dem Gebüsch saß noch ein drittes Ungeheuer.“ Anton schluckte, um nicht zu lachen. „Noch eins?“ „Ja. Es musste dort schon gelauert haben, denn es fiel sofort über mich her und biss mich in den Hals. Ich wurde ohnmächtig.“ „Wie schrecklich!“, sagte Anton. Es war sicher am besten, wenn er so tat, als ob er die Geschichte mit dem Ungeheuer im Gebüsch glaubte! In Wirklichkeit war er überzeugt davon, dass der Vampir sich nur an den Dornen geritzt hatte. Betont ernsthaft sagte er: „Dann war es bestimmt ein Vampir!“ „Wieso?“ „Weil es dich in den Hals gebissen hat!“ Der kleine Vampir machte ein entrüstetes Gesicht. „Vampire beißen sich doch nicht gegenseitig! Nein, es war ein Ungeheuer!“ Anton musste lachen, wie der Vampir voller Abscheu „Ungeheuer“ sagte. Das einzige Ungeheuer, das es hier auf dem Hof gab, war – der kleine Vampir selbst! „Aber ich werde schon noch herausbekommen, was für ein Ungeheuer es war!“ Mit diesen Worten stand der Vampir auf und stieg aus dem Sarg. „Jetzt?“, rief Anton freudig. Mit Rüdiger auf Ungeheuersuche zu gehen, das konnte spannend werden! 50
„Nein. Zuerst muss ich etwas essen!“ Wie immer überlief Anton bei dem Gedanken an die Nahrung des Vampirs ein Schauer. Trotzdem fragte er mutig: „Gehen wir zusammen?“ Er konnte ja weggucken, wenn der Vampir sich stärkte! „Ich bin auch ganz leise!“ Der Vampir schüttelte den Kopf. „Nein. Du störst mich nur.“ „Bestimmt nicht!“, versicherte Anton eifrig. „Warum willst du unbedingt mitkommen?“, fragte der Vampir unwillig. „Warum?“ Anton holte tief Luft. „Wenn du wüsstest, wie ich mich heute gelangweilt hab! Den ganzen Tag nur spazieren gehen, lesen, essen...“ Der Vampir sah Anton mitleidig an. „Ich hab mich so auf den Abend mit dir gefreut!“, fuhr Anton drängend fort. „Und was ist, wenn ich fliegen will?“, knurrte der Vampir. Auf diese Frage hatte Anton gewartet. Mit einem strahlenden Lächeln zog er den zweiten Vampirumhang unter seinem Pullover hervor. „Hier! Daran hab ich natürlich gedacht!“ Das schien den Vampir zu überzeugen, denn er verzog seinen Mund zu einem anerkennenden Grinsen. „Also gut“, sagte er, „du kannst mitkommen. Aber misch dich unterwegs nicht in meine – ähem – Angelegenheiten ein!“ „Ganz bestimmt nicht!“, versprach Anton nur allzu gern. „Wo ist eigentlich dein Hut?“, fragte er draußen. „Der ist weg“, sagte der Vampir düster. „Weg?“ Anton erschrak. Ihm war es egal, was mit dem Tirolerhut geschah – aber seinen Eltern nicht! „Und wie ist das passiert?“ „Ich hab ihn verloren, als das erste Ungeheuer kam.“ „Dann liegt er sicherlich noch auf der Wiese“, sagte Anton erleichtert. „Komm, wir holen ihn.“ 51
Der Vampir schrie entsetzt auf. „Mit leerem Magen soll ich zu den Ungeheuern? Niemals!“ Und als fürchtete er, dass Anton ihn doch noch überreden könnte, erhob er sich schnell in die Luft. „Warte!“, rief Anton. Er streifte sich hastig den Umhang über, der nach abgestandener, moderiger Sargluft roch. Der Umhang war aus schwarzem Stoff, schon ziemlich abgetragen und voller Mottenlöcher. Mit klopfendem Herzen breitete Anton die Arme aus und bewegte sie vorsichtig auf und ab – und sogleich begann er zu schweben. Er machte ein paar kräftige Armstöße – und flog! Bald sah der Bauernhof unter ihm so klein wie ein Modell aus dem Spielzeugladen aus. Anton dachte an seine Eltern, an Johanna und Hermann, an Frau Hering und ihren Mann, die im Bauernhaus saßen und keine Ahnung hatten, dass er hier draußen durch die Nacht flog – und plötzlich musste er laut lachen. „Bist du wahnsinnig geworden?“, zischte der Vampir wütend. „Willst du unbedingt alle auf uns aufmerksam machen?“ „Aber hier oben hört uns doch niemand“, verteidigte sich Anton. „Meinst du?“, sagte der Vampir giftig. „Und was ist, wenn Tante Dorothee gerade vorbeifliegt?“ Anton erstarrte. „Siehst du sie etwa?“ „Nein. Aber man kann nie wissen“, antwortete der Vampir. „Und jetzt beeil dich. Ich komme um vor Hunger.“
Der mutige Vampir „Wohin fliegen wir?“, fragte Anton. Der Vampir zeigte auf eine Kirchturmspitze in der Ferne, die wie eine Zwiebel aussah. 52
„Nach Zwiebel-City“, sagte er und fügte hinzu: „Hoffentlich sind da keine Ungeheuer!“ Ungeheuer bestimmt nicht!, dachte Anton, aber Menschen! Dazu passte das Lied, das er sich heute Nachmittag ausgedacht hatte. Während sie nebeneinander durch die Nacht segelten, sang er leise vor sich hin: „Rüdiger war hundert Jahr, da gab ihm die Großmama einen schwarzen Wollumhang, dass er auch schön fliegen kann wie ein Vampir.“ „Was singst du da?“, fragte der Vampir, hellhörig geworden. „Meinst du etwa mich damit?“ Anton grinste. „Vielleicht.“ „Sing das nochmal!“, verlangte der Vampir. „Aber nur, wenn du nicht wütend wirst“, sagte Anton und begann zu singen, während der Vampir aufmerksam zuhörte: „Rüdiger war hundert Jahr, da gab ihm die Großmama einen schwarzen Wollumhang, dass er auch schön fliegen kann wie ein Vampir. Rüdiger flog aus der Gruft, schwebte fröhlich durch die Luft. In der Luft, da war es kalt. Rüdiger flog in den Wald. Doch im Wald, da war der Bär, Rüdiger erschrak sich sehr. 53
Schnell flog er zur Stadt zurück, doch auch dort hatt’ er kein Glück. In der Stadt, da war es hell, tausend Lampen schienen grell. Viele Leute sahn ihn fliegen und versuchten ihn zu kriegen. Ja, mit Netzen und mit Stangen wollten sie den Armen fangen. Ängstlich flog er in ein Loch, und da sitzt er heute noch.“ „Nicht schlecht“, meinte der Vampir, als Anton fertig war. „Aber ziemlich wirklichkeitsfremd.“ „Wieso?“, fragte Anton empört. Er fand, dass er in seinem Lied den Vampir genau so dargestellt hatte, wie er in Wirklichkeit war. „Weil sich kein Vampir in ein Loch verkriechen würde“, behauptete der kleine Vampir. „Und ängstlich sind Vampire auch nicht! Ich würde so singen: Rüdiger biss einfach zu, und schon hatte er seine Ruh!“ Er lachte, heiser und krächzend. Anton verzog nur spöttisch den Mund. Gleich würde sich zeigen, wie mutig der Vampir tatsächlich war, denn vor ihnen tauchten die ersten Häuser der kleinen Stadt auf.
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Grinsend zeigte Anton auf ein hell erleuchtetes Haus, dessen Eingangstür weit offen stand. Gerade gingen mehrere festlich gekleidete Leute hinein. „Wenn du so mutig bist“, sagte er, „dann ist die Gelegenheit günstig!“ „Welche Gelegenheit?“ „Da unten scheint heute Abend ein Dorfball zu sein.“ „Ich will aber gar nicht tanzen.“ „Du sollst ja auch nicht tanzen!“ Anton versuchte ernst zu bleiben. „Aber denk doch mal an die vielen Menschen! Das ist die Chance für dich!“ Jetzt hielt ein Taxi vor dem Haus, und zwei Männer stiegen aus. „Siehst du“, sagte Anton. „Und da hinten auf der Straße kommen noch welche!“ Ironisch fügte er hinzu: „Du bist doch so mutig!“ „Sooo mutig auch nicht“, sagte der Vampir kläglich. Angesichts der vielen Menschen war er noch blasser als sonst geworden. „Ich... such mir lieber ein ruhigeres Plätzchen“, murmelte er, drehte sich um und flog fluchtartig davon. Anton folgte ihm. Dabei sang er halblaut vor sich hin: „Mutig flog er in ein Loch, und da sitzt er heute noch.“
Hellseher Zuerst dachte Anton, dass der kleine Vampir zum Bauernhof zurückfliegen wollte, weil er denselben Weg einschlug, den sie gekommen waren. Doch dann bog er an einem Schild, auf dem Neu-Motten 4 km stand, rechts ab. 55
Als ein kleines reetgedecktes Bauernhaus in Sicht kam, verlangsamte er seinen Flug und wandte sich zu Anton um. Mit einem Kopfnicken deutete er auf das Haus. Es lag versteckt zwischen hohen Bäumen. Über der blau gestrichenen Eingangstür brannte eine altmodische Lampe, und zwei Fenster im Erdgeschoss waren erleuchtet. „Genau das Richtige für mich“, sagte der Vampir mit heiserer Stimme. „Ich schätze, da wohnt ein altes Ehepaar mit seinen sechs Enkelkindern. Die Kinder schlafen schon, und die Großeltern gehen auch gleich ins Bett. – Die Eltern der Kinder sind bestimmt bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen“, fügte er flüsternd hinzu. Anton staunte über die blühende Phantasie des Vampirs. „Im Stall haben sie Kühe und Pferde und Lämmer –“ Bei der Aufzählung der Tiere bekam die Stimme des Vampirs einen so sehnsüchtigen, heißhungrigen Klang, dass es Anton kalt überlief. „Die Eingangstür haben sie sicherlich verschlossen“, fuhr der Vampir aufgeregt fort. „Alte Leute sind vorsichtig. Aber ich wette, sie haben vergessen, die Hintertür abzusperren. Alte Leute sind nämlich vergesslich.“ Er stieß ein krächzendes Gelächter aus und landete im Schatten eines großen Baumes. „Komm, Anton!“ „Willst du nicht lieber allein gehen? Du hast selbst gesagt, ich würde nur stören!“ „Nein! Du kennst dich mit Menschenhäusern besser aus“ „Aber mit Bauernhäusern kenn ich mich nicht aus.“ „Du willst dich bloß drücken.“ „Überhaupt nicht!“, widersprach Anton. „Umso besser!“, grinste der Vampir. „Dann gucken wir jetzt nach, ob die Hintertür offen ist.“ Anton blickte zum Haus hinüber. Mit den hellen Vorhängen, den Blumenkästen vor den Fenstern und der blauen Tür sah es
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wirklich nicht sehr unheilverkündend aus – eher so, als würden dort nette, harmlose Leute wohnen. „Also gut“, sagte er, „wenn du vorangehst.“ „Meinetwegen“, knurrte der Vampir. Langsam und vorsichtig ging er auf das Haus zu und öffnete die kleine schmiedeeiserne Tür, die in den Garten führte. „Komm!“, zischte er Anton zu. Anton folgte ihm auf Zehenspitzen, aber so lautlos wie der kleine Vampir konnte er sich zwischen den Beeten und Sträuchern des Gartens nicht bewegen: Hin und wieder knackten Äste, knirschte Kies unter seinen Füßen – oder ein Vogel, den er nicht gesehen hatte, flatterte mit erschrecktem Flügelschlagen auf. Bei jedem Geräusch wandte der Vampir den Kopf und blickte Anton grimmig an. Zum Glück schien niemand im Haus ihre Anwesenheit zu bemerken, denn die Fenster zum Garten blieben dunkel. Schließlich kamen sie zu einer Terrasse, auf der ein runder Tisch, vier Stühle und ein Grill standen. „Du gehst rüber und prüfst, ob die Terrassentür offen ist!“, kommandierte der kleine Vampir. „Wieso ich?“, protestierte Anton. „Weil ich mit meinen guten Augen hier Wache halten muss“, erwiderte der Vampir – nicht sehr überzeugend, fand Anton. Trotzdem ging er mit weichen Knien zur Tür und drückte die Klinke zaghaft nach unten. Die Tür war abgeschlossen! Der Vampir knackte nervös mit den Fingern. „Dann müssen wir es vorne versuchen“, sagte er und fügte wichtigtuerisch hinzu: „Ich schätze, die alten Leute haben die Türen verwechselt. Bestimmt haben sie vergessen, die Vordertür abzuschließen!“ „Du solltest Hellseher werden“, sagte Anton bissig. Doch anstatt beleidigt zu sein, lächelte der Vampir nur.
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Mit ungewöhnlich sanfter Stimme sagte er: „Ich doch nicht! Du wirst Hellseher!“ „Wie meinst du das?“, fragte Anton misstrauisch. Der Vampir grinste: „Du wirst jetzt zur Vordertür gehen, sie aufmachen und ins Helle sehen.“ Anton verschlug es sekundenlang die Sprache. Dann rief er voller Empörung: „Das könnte dir wohl so passen! Immer schickst du mich vor! Und nur, weil du zu feige bist!“ „Wie soll ich sein? Feige?“ Die Stimme des Vampirs überschlug sich vor Entrüstung. „Das ist die unverschämteste Verdächtigung, die ich je –“ Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick ging in dem Zimmer, das zur Terrasse führte, das Licht an. Die Terrassentür wurde geöffnet, und eine junge Frau in einem langen grünen Kleid trat heraus. „Da seid ihr ja endlich!“, rief sie, und ihre Stimme klang freudig und aufgeregt.
Zwei Berliner Anton und der kleine Vampir waren so verblüfft, dass sie wie vom Donner gerührt stehen blieben – auch dann noch, als hinter der Frau ein großer, breitschultriger Mann in einem blauen Bademantel erschien. „Unsere Ferienkinder sind da!“, rief die Frau ihm zu. „Bruno und Rudi aus Berlin!“ „Das ist ja eine Überraschung“, rief er mit dröhnender Stimme. „Ihr habt wohl euren Zug verpasst?“ Anton überlegte blitzschnell. Die Frau und der Mann warteten anscheinend auf zwei Kinder aus Berlin, die bei ihnen Ferien machen sollten und die sich aus irgendeinem Grund
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verspätet hatten. Offenbar hielten sie Anton und Rüdiger für diese Ferienkinder! Diese Verwechslung war für ihn und den kleinen Vampir ein Glücksfall! Sie brauchten nur so zu tun, als ob sie die Ferienkinder wären – und zu warten, bis sich eine günstige Gelegenheit zur Flucht ergab! Mutig sagte er: „Wir sind aus Versehen in den falschen Zug gestiegen.“ „In den falschen Zug gestiegen?“, fragte die Frau. „Ja, hat euch denn eure Mutter nicht in den Zug gesetzt?“ „Doch“, sagte Anton, „aber in den falschen.“ Grinsend fügte er hinzu: „Sie hatte ihre Brille nicht auf, wissen Sie.“ Die Frau schüttelte ungläubig den Kopf. „Und wann habt ihr das gemerkt?“ „Dass sie ihre Brille nicht aufhatte?“ „Dass ihr im falschen Zug wart!“ Bevor Anton sich eine Antwort ausdenken konnte, sagte der Mann: „Das ist doch jetzt nicht so wichtig. Wir freuen uns auf jeden Fall, dass ihr da seid, und hoffen, dass ihr euch in den vier Wochen bei uns gut erholen werdet.“
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„Vier Wochen?“, schrie der Vampir voller Entsetzen auf. Der Mann lachte. „Für dich dürften vier Wochen noch zu kurz sein, so blass, wie du bist!“ 60
„Mein Freund muss sich erst an die Landluft gewöhnen“, sagte Anton schnell. „Er ist nämlich ein echter Berliner!“ „Dein Freund?“, fragte die Frau überrascht. „In dem Schreiben vom Jugenderholungswerk stand, dass ihr Brüder seid!“ „Halbbrüder“, sagte Anton. Er hatte das Gefühl, dass es langsam brenzlig wurde. Außerdem machte der Vampir ein Gesicht, als wollte er gleich davonrennen. Und damit wäre alles verdorben, denn bestimmt schöpften die Frau und der Mann dann Verdacht. Und was dann passierte, wollte sich Anton lieber gar nicht erst ausmalen! Hastig sagte er: „Wir müssen jetzt unser Gepäck holen. Komm, Rudi!“ Der Vampir sah Anton verständnislos an. „Welches Gepäck?“, knurrte er. Anton versuchte, ruhig zu bleiben, obwohl sein Herz wie rasend klopfte. „Unsere Koffer. Du weißt schon!“ Dabei blickte er den Vampir beschwörend an. Endlich schien bei Rüdiger der Groschen zu fallen. „Ach ja“, nickte er, „unsere Koffer.“ Anton atmete auf. „Eure Koffer?“, wunderte sich der Mann. „Sind die nicht in der Gepäckaufgabe?“ „Die... die sind da hinten“, sagte Anton und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Wir haben sie unterwegs abgestellt. – Komm jetzt, Rudi!“, drängte er den Vampir. „Moment“, rief der Mann. „Ich komme natürlich mit. Ich muss mir nur schnell etwas anderes anziehen.“ Damit ging er ins Haus. Anton holte tief Luft: Das war die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte! „Wir gehen schon vor“, sagte er zu der Frau. 61
Dann winkte er dem Vampir, und sie verschwanden in den Büschen und Sträuchern. Als sie außer Sichtweite waren, breiteten sie ihre Umhänge aus und flogen. Oben in der Luft erschien Anton ihr Abenteuer eher lustig und er sagte: „Morgen steht im Neu-Mottener Tageblatt: Zwei Berliner spurlos vom Erdboden verschwunden. Es wird vermutet, dass jemand sie gegessen hat.“ Doch der Vampir war nicht zu Scherzen aufgelegt. Mit finsterer Miene flog er zu dem Schild, auf dem Neu-Motten 4 km stand. Dort erklärte er: „Ich flieg jetzt allein weiter.“ „Wieso?“, fragte Anton überrascht. „Mit dir hab ich nur Pech!“, sagte der Vampir. „Wie bitte?“, rief Anton empört. „Du vergisst wohl, dass ich dir eben fast das Leben gerettet habe!“ „Pah –“, der Vampir schnaubte verächtlich. „Du hast mich überhaupt erst zu diesem Bauernhof gelockt!“ „Ich soll dich dahin gelockt haben?“, sagte Anton verblüfft. „Und wer hat gesagt: ‹Genau das Richtige für mich›?“ Mit Grabesstimme antwortete der Vampir: „Du!“ „Ich?“ Anton war sprachlos. „Jawohl!“, rief der Vampir. „Und wenn du mir nicht das Märchen von den alten Leuten erzählt hättest, die immer vergessen, ihre Hintertür abzuschließen, wäre ich gleich weitergeflogen.“ Anton schnappte nach Luft. „Du kannst immer nur anderen die Schuld geben!“, schrie er. „Du... du... Egoist!“ Ein Leuchten ging über das Gesicht des Vampirs. „Egoist – das klingt gut! Ist es etwas Schlimmes?“ Anton gab keine Antwort. „Bestimmt ist es etwas Schlimmes“, freute sich der Vampir. „Das werde ich Lumpi und Tante Dorothee erzählen, dass mich jemand ‹Egoist› genannt hat.“
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„Dann kannst du ihnen auch gleich noch erzählen, dass du der gemeinste, unzuverlässigste Kerl bist, der mir je begegnet ist!“, rief Anton. „Und mit so einem will ich nichts mehr zu tun haben!“ Er machte eine heftige Drehung in der Luft. Im Abfliegen sah er noch, wie der Vampir auf dem Schild hockte und eitel lächelte.
Vampire – nein, danke! Den nächsten Vormittag verbrachte Anton im Bett. Seinen Eltern sagte er, er hätte Bauchweh. Das stimmte zwar nicht, aber nach dem Streit mit dem Vampir und dem einsamen Rückflug musste er sich erst mal ausruhen. Er holte die „Vampirgeschichten für Fortgeschrittene“ aus dem Schrank, wo er sie unter seinem Pullover versteckt hatte, und schlug eine seiner Lieblingsgeschichten auf: „Die Fledermäuse“ von David Grant. Sie erzählt von einem Jungen, der sich in einem alten Schuppen Fledermäuse hält. Er versucht sie zu zähmen. Wie er das macht, verraten zwei kleine Einstiche an seinem Hals... Beim Lesen dieser Geschichte überlief Anton sonst immer ein wohliger Schauer. Doch heute spürte er plötzlich eine heftige Abneigung gegen Fledermäuse, die ihn selbst überraschte. Ob das mit seiner Wut auf den kleinen Vampir zusammenhing? Missgelaunt klappte er das Buch zu und legte es in den Schrank zurück. Dann las er die Titel der Bücher, die in dem kleinen Regal über Johannas Bett standen: „Mein Pony und ich“, „Abenteuer auf dem Ponyhof“, „Der alte Mann und das Pony“, „Das goldene Pony-Buch“. Nach kurzem Zögern nahm er die „Abenteuer auf dem Ponyhof“ heraus. Auf der Rückseite des Umschlags stand, dass 63
es in der Geschichte um einen Pony-Diebstahl ging. Er legte sich wieder ins Bett und begann zu lesen. Als er am Nachmittag Johanna und Hermann vor der Scheune traf, sagte er zu Johanna: „Deine Bücher sind gar nicht so übel.“ „Findest du?“, sagte sie erfreut. „Die ‹Abenteuer auf dem Ponyhof› sind sogar richtig spannend.“ „Ich dachte, du interessierst dich nur für Vampirbücher.“ Anton machte eine wegwerfende Handbewegung. „Vampire – nein, danke!“, sagte er so laut, dass es auch der kleine Vampir in seinem Sarg hätte hören können. „Aber hast du nicht einen Freund, der Vampir ist?“ „Wer sagt das?“ „Unsere Mutter.“ „Die muss es ja wissen“, sagte Anton spöttisch. „Stimmt es etwa nicht?“, fragte Hermann neugierig. „Glaubst du an Vampire?“, erwiderte Anton. „Nein.“ „Na, siehst du.“ Johanna blieb hartnäckig: „Hast du nun einen Freund, der Vampir ist, oder nicht?“ „Ich habe keinen Freund, der Vampir ist“, antwortete Anton, und das entsprach durchaus der Wahrheit, denn Rüdiger von Schlotterstein war zwar immer noch ein Vampir, aber nicht mehr sein Freund! „Wenn du nichts mehr von Vampiren wissen willst, können wir ja mit meinen Rittern spielen“, sagte Hermann. Warum eigentlich nicht?, dachte Anton. Vielleicht war das Spielen mit Rittern gar nicht so langweilig, wie er glaubte. Außerdem hatte er sich fest vorgenommen, dem kleinen Vampir, der so eingebildet, selbstgefällig und undankbar war, in Zukunft aus dem Weg zu gehen. Rüdiger von Schlotterstein sollte ruhig sehen, wie er ohne ihn zurechtkam! 64
„Also gut“, sagte Anton. „Und nach dem Abendbrot können wir auch zusammen spielen“, fügte er hinzu. „Ich hab nämlich nichts Besonderes vor!“
Die Sache mit den Eiern Am nächsten Morgen war Anton der Erste am Frühstückstisch. „Du bist schon wach?“, staunte sein Vater, als er zehn Minuten später herunterkam. „Na ja“, sagte Anton verlegen, „das kann doch jedem mal passieren.“ Er würde seinem Vater natürlich nicht verraten, dass er mit dem kleinen Vampir Streit gehabt hatte und deshalb schon um neun ins Bett gegangen war, nachdem er sich zwei Stunden mit Hermann und seinen Rittern gelangweilt hatte. Ritter waren eben doch keine Vampire! „Ist Mutti noch nicht wach?“, fragte er. „Nein. Sie konnte heute Nacht kaum schlafen.“ In diesem Augenblick traten die beiden Frauen ein, die auch Feriengäste auf dem Hof waren. Bisher war Anton einem Zusammentreffen mit ihnen wohlweislich aus dem Weg gegangen – denn die beiden Frauen waren mit demselben Zug wie er und der kleine Vampir gefahren! Ängstlich spähte er zu ihnen hinüber, doch sie beachteten ihn überhaupt nicht. Aufgeregt wandte sich die Kleinere der beiden an Antons Vater: „Ihre Frau konnte auch nicht schlafen? Wir sind seit Samstag hier, und wir haben noch keine Nacht richtig geschlafen!“ „Wegen der Geräusche!“, sagte die Größere. „Was denn für Geräusche?“, fragte Antons Vater.
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„Entsetzliche Schreie! Als würde jemandem der Hals umgedreht!“, antwortete die Größere. „Und dann streichen riesige Falter ums Haus“, fuhr die Kleinere fort. „Gestern, als wir nicht schlafen konnten, wollten wir ein Fenster öffnen, und da sahen wir einen Falter, so groß wie ein Kind! Er hockte auf dem Fenstersims und starrte uns an. Ach, seine schrecklichen roten Augen werde ich mein Lebtag nicht vergessen!“ Antons Vater schmunzelte. „Schade, dass mein Sohn ihn nicht gesehen hat.“ „Wieso ich?“, riet Anton, empört darüber, dass sein Vater die Aufmerksamkeit der Frauen auf ihn lenkte. „Das klingt doch nach einem Vampir, oder nicht?“ Die beiden Frauen wechselten einen Blick. „Gibt es hier Vampire?“, fragte die Kleinere. „Bestimmt!“, sagte der Vater. „Diese alten Schuppen und Ställe sind doch wie geschaffen für sie.“ Anton sah seinen Vater erschrocken an: wusste er etwas von dem Versteck des kleinen Vampirs? An seinem belustigten Gesichtsausdruck erkannte er jedoch, dass es nur ein Witz sein sollte. „Aber es gibt doch gar keine Vampire!“, behauptete er. Sein Vater tat überrascht. „Und was ist mit deinem Freund?“ „Mit welchem Freund?“ „Mit diesem – Rüdiger von Leichenfels!“ „Das ist nicht mein Freund“, sagte Anton verärgert. Ausgerechnet jetzt mussten ihn alle auf Rüdiger von Schlotterstein ansprechen! „Freund oder nicht – hast du nicht immer behauptet, er sei ein Vampir?“, fragte der Vater. Glücklicherweise kam gerade Frau Hering mit dem Frühstückstablett herein, sodass Anton eine Antwort erspart blieb.
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Sie stellte das Tablett auf den Tisch und sagte: „Heute Morgen kann ich Ihnen leider keine Eier servieren. Irgendjemand ist bei den Hühnern gewesen und hat alle Eier zerstochen.“ „Wer macht denn so etwas?“, rief Antons Vater entrüstet. „Das möchte ich auch wissen!“, sagte sie und sah Anton forschend an. Doch er blieb ganz ruhig – schließlich war er unschuldig! „Wahrscheinlich war es ein Kinderstreich“, meinte sie, „aber ein sehr schlechter, finde ich!“ Der Ausdruck Kinderstreich empörte Anton. „Es könnte ebenso gut ein Erwachsener gewesen sein“, widersprach er. „So?“, sagte Frau Hering zweifelnd. „Glaubst du, dass ein Erwachsener auf die Idee kommen würde, alle Eier anzubohren und auszutrinken?“ Sie nahm ein kleines braunes Ei aus ihrer Jackentasche und reichte es Antons Vater. „Hier, sehen Sie sich das an!“ „Vollkommen leer“, sagte er kopfschüttelnd. Anton bemühte sich, möglichst unbeteiligt zu wirken. Dabei brannte er darauf, die beiden Löcher in dem Ei, die so groß wie die Spitze eines Bleistifts waren und ungefähr zwei Zentimeter auseinander lagen, genauer zu untersuchen. „Vielleicht war es ein Landstreicher“, sagte die kleinere der Frauen. „Oder ein Fuchs“, meinte die größere. „Ein Fuchs auf zwei Beinen!“, sagte Frau Hering und sah Anton an. Er spürte, wie er unter ihren prüfenden Blicken errötete. Nun glaubte sie sicherlich, dass er es gewesen war! Dabei wurde er immer rot, wenn ihn jemand scharf anguckte. „Ich... ich hab damit nichts zu tun!“, riet er hastig. „Ich war um neun im Bett!“ 67
Frau Hering lächelte nur ungläubig. „Wir werden wohl nie erfahren, wer es wirklich war“, sagte sie. „Aber derjenige ist hoffentlich so klug, es nicht noch einmal zu versuchen. Das nächste Mal kommt er nämlich nicht so glimpflich davon!“ „Wieso derjenige?“, protestierte Anton. „Fs könnte auch eine Frau oder ein Mädchen gewesen sein!“ Aber für Frau Hering war das Thema offenbar beendet. „Du hast mich schon verstanden!“, sagte sie knapp. Dann deckte sie den Tisch und ging in die Küche zurück. „Das war ein ziemlich dummer Einfall von dir“, sagte Antons Vater, als sie gegangen war. „Was?“, fragte Anton verständnislos. „Die Sache mit den Eiern.“ „Aber ich war das nicht!“ Antons Vater sagte ungerührt: „Ich möchte, dass du jetzt zu Frau Hering gehst und dich entschuldigst.“ „Wie bitte?“ Anton schnappte nach Luft. „Ich soll mich entschuldigen, obwohl ich nichts getan habe?“ Er sprang auf. „Sucht euch doch einen anderen Sündenbock!“, rief er und rannte hinaus. In seinem Zimmer warf er sich wütend aufs Bett. So eine Gemeinheit!, dachte er. Laut und deutlich hatte er seine Unschuld beteuert! Aber Erwachsene waren stur und rechthaberisch. – Und dumm! Denn man brauchte nur genau hinzugucken, um zu erkennen, dass die beiden Löcher die Spuren eines Vampirbisses waren! Wenn Anton wollte, könnte er ihnen zeigen, wer die Löcher in die Eier gebohrt hatte. Er müsste sie nur in den alten Schweinestall führen... Nein! Das würde er niemals tun! Schließlich war der kleine Vampir sein bester Freund gewesen – oder war er es immer noch? Anton spürte, dass seine Wut auf Rüdiger von Schlotterstein schon fast verflogen war.
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Jetzt war er viel empörter über die Unverfrorenheit, mit der Frau Hering und sein Vater versuchten, ihm die Schuld in die Schuhe zu schieben. Heute Abend, so beschloss er, würde er zu dem kleinen Vampir gehen und sich mit ihm versöhnen – und ihm raten, in Zukunft einen großen Bogen um den Hühnerstall zu machen! Plötzlich hatte Anton Lust, die Geschichte über die Fledermäuse zu Ende zu lesen.
Gegen Langeweile muss man etwas tun Es war kurz vor dem Mittagessen, und Anton übte gerade Aufschwung an der Reckstange, als er seine Mutter aus dem Haus kommen sah. Sie machte so große, entschlossene Schritte, dass er sich schnell nach oben auf die Stange setzte. Vor der Reckstange blieb sie stehen. „Kommst du mal herunter?“, sagte sie. „Warum denn?“ „Ich möchte etwas mit dir besprechen.“
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„Wenn’s sein muss...“, sagte er mit gespieltem Gleichmut.
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Bestimmt hatten sein Vater und Frau Hering ihr von den ausgetrunkenen Eiern berichtet, und nun wollte sie versuchen, ob es ihr als Mutter gelang, ihm ein Geständnis zu entlocken. Aber damit würde sie keinen Erfolg haben! Betont langsam rutschte Anton die Eisenstange hinunter. „Und was wolltest du besprechen?“, tat er ahnungslos. „Vati hat mir alles erzählt“, begann sie. Das überraschte Anton nicht im Geringsten. „Also, wir meinen... wir haben dich ja zu dieser Reise überredet...“ Überredet? Gezwungen hatten sie ihn!, dachte Anton. „Vielleicht bist du wirklich zu alt für einen Urlaub auf dem Bauernhof.“ Sie machte eine Pause. „Und deshalb langweilst du dich hier auf dem Hof und kommst auf verrückte Ideen.“ „Wie bitte?“, rief Anton empört. „Was für verrückte Ideen meinst du?“ Ausweichend sagte sie: „Du weißt schon, welche.“ „Nein!“, sagte er heftig – obwohl er natürlich wusste, worauf sie anspielte. Aber damit hatte er, verdammt nochmal, nichts zu tun! „Wenn du glaubst, ich hätte die Eier kaputtgemacht, dann irrst du dich!“ Doch sie lächelte nur. Anscheinend hatte sie beschlossen, die Sache taktvoll zu übergehen. „Und gegen Langeweile muss man etwas tun“, fuhr sie unbeirrt fort. „Darum wollen wir heute Abend mit dir eine Nachtwanderung machen.“ Sie sah ihn gespannt an und schien darauf zu warten, dass er sich freute. Normalerweise hätte er sich auch gefreut – nur heute nicht! „Geht es nicht auch morgen?“ „Nein. Morgen wollen Vati und ich mit dir eine Schnitzeljagd machen.“
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Oje! Anton stöhnte leise. Wenn ihm nur eine Ausrede einfiele! „Mein... mein Bein tut weh!“ „Auf einmal?“ „Ja. Ich bin umgeknickt.“ „Soso. Aber bis heute Abend hat sich dein Bein bestimmt wieder erholt. Wir gehen nämlich erst nach dem Abendbrot los.“ „Können wir nicht wenigstens vor dem Abendbrot gehen?“ „Warum sollten wir das?“ „Weil es dann nicht so dunkel ist.“ Anton merkte selbst, wie lächerlich es klang, wenn er, der für Vampire, Gruselgeschichten und Horrorfilme schwärmte, so etwas sagte. Seine Mutter warf ihm nur einen spöttischen Blick zu. Dann drehte sie sich um und ging zum Haus zurück. „Ich kann aber nur eine halbe Stunde laufen!“, rief Anton ihr nach. „Höchstens!“ Aber natürlich dauerte die Nachtwanderung viel länger: Erst um halb elf kamen sie wieder auf dem Bauernhof an! Anton war vollkommen erledigt. Dreimal hatten sie sich unterwegs verlaufen, und schließlich war er bei dem Versuch, über einen Bach zu springen, in das kalte Wasser gefallen. Danach taten ihm sogar beide Beine weh. Im Heizungsraum neben der Küche zog er seine durchweichten Turnschuhe aus. Die Jeans, die bis zu den Hüften nass geworden waren, hängte er über die Leine. „Du machst ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter“, witzelte sein Vater. „Ich hab Halsschmerzen“, knurrte Anton wütend. Er hatte wirklich ein Kratzen im Hals. „Hast du dich etwa erkältet?“, fragte seine Mutter.
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„Bestimmt“, sagte er mit heimlicher Schadenfreude. Sollten sie sich doch ruhig Sorgen um ihn machen! Schließlich hatten sie sich diese blöde Nachtwanderung ausgedacht! „Dann musst du gleich heiße Milch mit Honig trinken! Hoffentlich ist Frau Hering noch wach.“ „Im Wohnzimmer brannte Licht“, bemerkte Anton und hustete einmal laut und kräftig. Seine Mutter zuckte zusammen. „Geh schnell in dein Bett!“ „Und die Milch?“ „Die bring ich dir.“ Anton grinste zufrieden. Er trank gern heiße Milch mit Honig, vor allem im Bett! Diesmal allerdings musste er ungewöhnlich lange auf seine Honigmilch warten. Er war schon fast eingeschlafen, als seine Mutter ihm endlich ein großes Glas Milch brachte. Vorsichtig trank er einen Schluck. „Die ist ja ganz kalt!“, rief er entrüstet. „So? Tatsächlich?“ „Ja! Sonst ist sie immer so heiß, dass ich sie kaum trinken kann!“ „Dann muss sie wieder abgekühlt sein“, meinte seine Mutter. „Frau Hering hatte mir so viel zu erzählen, weißt du.“ Anton horchte auf. „Was denn?“ „Es ist wieder jemand im Hühnerstall gewesen und hat die Eier ausgetrunken.“ Anton fuhr in die Höhe. „Hat Frau Hering ihn gesehen?“ „Wen?“ „Den...“ ‹kleinen Vampir›, hätte Anton um ein Haar gesagt. „Den... den Eierdieb.“ „Nein. Als Frau Hering um zehn in den Hühnerstall ging, war es schon passiert. Und alle Eier haben dieselben Löcher wie gestern.“ „Nun könnt ihr mich nicht mehr verdächtigen!“, rief Anton.
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„Nein, du kannst es nicht gewesen sein“, sagte seine Mutter und lächelte – ein wenig verlegen, wie Anton befriedigt feststellte. „Aber bald werden wir wissen, wer im Hühnerstall sein Unwesen treibt“, erklärte sie. „Wieso?“ „Frau Hering hat einem Nachbarn Bescheid gesagt. Er kommt morgen Abend und bringt seinen Hund mit.“ „O nein!“, entfuhr es Anton. Der arme Rüdiger von Schlotterstein! „Warum erschrickst du so?“, wunderte sich seine Mutter. „Fürchtest du dich neuerdings vor Hunden?“ „Vor Hunden nicht“, sagte Anton, „aber vor Nachbarn...“
Der Schmetterlingssammler Wie Recht er damit hatte, erfuhr Anton am nächsten Nachmittag, als er Johanna im Hof traf. „Wer ist eigentlich dieser Nachbar, der heute Abend kommen will?“, fragte er. „Ach, der“, sagte Johanna leichthin, „das ist unser alter Dorfarzt.“ Anton atmete auf – aber nur für einen Augenblick, denn gleich darauf sagte sie: „Er hat übrigens dasselbe Hobby wie du!“ „Welches denn?“, fragte er argwöhnisch. Sie kicherte: „Vampire!“ Anton erstarrte. „Er heißt Stöbermann“, fuhr sie unbekümmert fort. „Ernst Albert Stöbermann. Der Name passt zu ihm, weil er überall herumstöbert!“ Sie lachte, aber Anton war überhaupt nicht lustig zumute. „Wie meinst du das mit den Vampiren?“, fragte er. 74
„Du müsstest mal in sein Haus kommen!“, sagte Johanna. „Er hat alle Bücher, die es über Vampire und Fledermäuse gibt. Und in seinem Wohnzimmer steht ein Glasschrank – rate mal, was darin ist!“ „Weiß ich doch nicht“, sagte Anton, der schon ahnte, dass es nichts Gutes sein konnte, was Herr Stöbermann in seinem Glasschrank aufbewahrte. Flüsternd sagte Johanna: „Aufgespießte Nachtfalter!“ „Aufgespießte Nachtfalter?“, wiederholte Anton erschrocken. „Ja! Stell dir vor, er hat ihnen ein angespitztes Streichholz durch den Körper gebohrt!“ Anton schluckte. „Sind die Nachtfalter – ähem – groß?“ „Nein. Es sind doch Schmetterlinge“, antwortete sie. „Ach so“, sagte Anton erleichtert. Im ersten Moment hatte er befürchtet, es könnten auch aufgespießte kleine Vampire sein... Trotzdem – Herr Stöbermann war ihm schon durch und durch unsympathisch geworden! Und für Rüdiger von Schlotterstein wurde die Lage immer bedrohlicher! „Weißt du auch, wann er kommen will?“, fragte Anton. „Nach dem Abendbrot“, sagte Johanna.
Herr Stöbermann Zum Abendessen gab es Bratkartoffeln, aber Anton brachte kaum einen Bissen herunter. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her und blickte immer wieder nach draußen. Als ein Auto in den Hof fuhr und hielt, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Doch es war nur Herr Hering, der ausstieg. „Ich glaube, du hast Fieber!“, meinte seine Mutter, die ihn beobachtet hatte.
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„Nein, bestimmt nicht!“, beeilte er sich zu versichern. Auf keinen Fall durfte sie denken, dass er krank war. Dann schickte sie ihn gleich ins Bett! „Und deine Halsschmerzen?“, fragte sie. „Die sind weg“, log er. „So?“, sagte sie zweifelnd. „Deine Augen glänzen aber ganz fiebrig.“ „Ich fühl mich prima!“, behauptete er. Vielleicht hatte sie sogar Recht, vielleicht war er krank – aber darauf kam es im Augenblick nicht an! Jetzt war nur eins wichtig: Er musste den kleinen Vampir warnen, bevor Herr Stöbermann mit seinem Hund erschien! „Darf ich rausgehen?“, fragte er und versuchte, seine Eltern nicht merken zu lassen, wie nervös er war. „Willst du wirklich nichts mehr essen?“, fragte seine Mutter. „Ich... ich nehm noch einen Apfel mit!“, sagte Anton schnell. Mit Obst und Gemüse konnte er immer einen guten Eindruck bei seinen Eltern machen. Das schien auch diesmal zu klappen, denn seine Mutter sagte mit sanfter Stimme: „Na gut. – Aber wenn es dunkel wird, kommst du wieder rein.“ „Ja“, versprach er und fügte in Gedanken hinzu, dass er sowieso nichts mehr ausrichten konnte, wenn es draußen erst mal richtig dunkel geworden war, weil dann der Vampir vermutlich längst abgeflogen sein würde. Nein, Anton musste ihn treffen, solange er noch im Sarg lag. Als er aus der Haustür trat, bog gerade ein schwarz lackierter kleiner Lieferwagen in die Auffahrt ein. Wie ein Beerdigungswagen!, dachte Anton und blieb erschrocken stehen. Ein Mann in einer dunklen Jacke stieg aus. Das musste Herr Stöbermann sein! Er war mittelgroß und hatte graues, zurückgekämmtes Haar. Die kräftigen schwarzen Augenbrauen und die lange, gebogene 76
Nase gaben seinem Gesicht einen finsteren, drohenden Ausdruck, fand Anton, und unwillkürlich wich er ein paar Schritte zurück. Doch Herr Stöbermann beachtete ihn gar nicht. Er ging zur Heckklappe seines Wagens und öffnete sie. Ein riesiger schwarzer Hund sprang heraus. Anton stand wie angewurzelt da und starrte auf den Hund. Er hatte die Größe einer Dogge, aber sein Fell war lang und zottig. In seinem Gesicht waren nur die Zähne zu erkennen – und die waren so lang und so scharf, dass Anton eine Gänsehaut bekam! Der Hund musste gut abgerichtet sein, denn als sein Herr „Fuß“ sagte, lief er ohne Leine neben ihm zur Tür. Im Vorbeigehen streifte Herr Stöbermann Anton mit einem Blick, dann nickte er ihm kurz zu und verschwand im Haus. Nachdem sich die Tür hinter ihm und dem Hund geschlossen hatte, holte Anton tief Luft. Dieser Hund war kein Hund – sondern eine Bestie! Zum Glück war diese Bestie jetzt erst einmal im Haus. Und Herr Stöbermann würde bestimmt noch ein paar Minuten mit Frau Hering reden...
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Diese kurze Zeit musste ausreichen, um den kleinen Vampir davon zu überzeugen, dass er keinen Augenblick länger auf dem Bauernhof bleiben durfte! Hoffentlich ist der Vampir wenigstens schon wach!, dachte Anton, während er um die Scheune herum zum alten Schweinestall lief.
Damenbesuch Vorsichtig schob Anton den alten rostigen Riegel nach oben, der die Tür zum Schweinestall versperrte. Es war ein Riegel, der von außen und innen geöffnet werden konnte. Langsam und mit einem quietschenden Ton ging die Tür auf... 78
Der kräftige Modergeruch, der ihm entgegenschlug, verriet Anton, dass der kleine Vampir zu Hause war. Und er musste wach sein, denn aus dem hinteren Raum kam ein schwacher Lichtschein. Anton zog die Tür hinter sich zu und rief: „Rüdiger? Ich bin’s, Anton.“ Ein sehr helles Kichern antwortete. Anton stutzte – klang so die Stimme des kleinen Vampirs? „Rüdiger?“, rief er noch einmal. „Ich bin’s!“ „Komm rein!“, sagte eine knarrende Stimme – die Stimme des kleinen Vampirs! „Bist du allein?“, fragte Anton besorgt. Wieder hörte er ein helles Kichern. Dann sagte der Vampir: „Eine Dame erwartet dich!“ „Eine Dame?“, fragte Anton erschrocken. „Etwa – Tante Dorothee?“ „Guck doch selbst nach“, antwortete der Vampir mit einem krächzenden Lachen. Dass er lachte, beruhigte Anton. Dann war es bestimmt nicht Tante Dorothee! „Ist es Anna?“, fragte er mit belegter Stimme. Heftiges Kichern war die Antwort. Also war es Anna! Anton atmete auf. Mit klopfendem Herzen ging er in den Stall hinein. Anna saß am Fußende des Sargs. Im Kerzenlicht schien ihr kleines rundes Gesicht zu leuchten. Ihre großen Augen sahen ihn so zärtlich an, dass ihm ganz heiß wurde.
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„Guten Abend, Anton“, sagte sie und lächelte. „Hallo, Anna“, antwortete er und wurde rot. „Ich musste dich unbedingt sehen“, sagte sie und errötete auch. „M-mich?“ Eine bessere Antwort fiel ihm nicht ein. „Glaubst du vielleicht, sie hatte Sehnsucht nach mir?“, krächzte der Vampir aus seinem Sarg heraus. „Ich hab etwas mitgebracht“, sagte Anna und zog ein rotes Buch unter ihrem Vampirumhang hervor. „Mein Poesiealbum!“ Voller Stolz zeigte sie es ihm. „Du sollst als erster Mensch hineinschreiben!“ „Von mir steht auch schon ein Gedicht drin“, verkündete der kleine Vampir. „Willst du es hören?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, rief er mit salbungsvoller Stimme: „Hab ich Blut, geht’s mir gut. Hab ich Sekt, geht’s mir schlecht.“ 80
Anna sah ihn von der Seite an und sagte spitz: „An deiner Stelle würde ich damit nicht so angeben.“ „Wieso?“, rief der Vampir mit funkelnden Augen. „Weil es gar kein richtiges Gedicht ist. ‹Sekt› und ‹schlecht› reimen sich nicht!“ „Na und?“, knurrte der Vampir. „Dafür reimen sich ‹Blut› und ‹gut›!“ „Bei einem richtigen Gedicht müssen sich alle Zeilen reimen“, widersprach Anna. Der Vampir zuckte mit den Schultern. „Dann dichte ich es eben um: ‹Hab ich Blut, geht’s mir gut. Hab ich Sekt, geht’s mir schleckt.›“ „Iieh!“, sagte Anna verächtlich. „Das ist ja falsches Deutsch!“ Der kleine Vampir verzog beleidigt den Mund und schwieg. „Schreibst du mir etwas hinein?“, sagte Anna zu Anton und sah ihn bittend an. Doch Anton gab keine Antwort. Er war auf einmal kreidebleich geworden. „Hast du etwas?“, fragte sie. „Draußen ist jemand“, sagte er mit zitternder Stimme. Der kleine Vampir fuhr erschrocken in die Höhe. „Draußen vor dem Stall?“ „Ja. Und ich weiß auch, wer es ist: Herr Stöbermann! Er ist extra heute Abend hergekommen, weil er herausfinden will, wer im Hühnerstall immer die Eier austrinkt.“ „Und warum sagst du das erst jetzt?“, schrie der Vampir. „Weil –“, begann Anton und brach dann ab. Sollte er zugeben, dass ihn Anna völlig durcheinander gebracht hatte? Dass er alles andere vergessen hatte, weil sie ihn mit ihren großen Augen so angeschaut hatte?
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Doch der Vampir schien gar keine Antwort zu erwarten. Er sprang aus dem Sarg und rief seiner Schwester zu: „Wir müssen fliehen!“ „Ihr würdet aber nicht weit kommen“, erwiderte Anton düster. „Herr Stöbermann hat einen Hund, eine Bestie, so groß wie ein Kalb!“ „Dann müssen wir die Tür verrammeln!“, schrie der Vampir und zerrte an der großen Kiste, die neben seinem Sarg stand. „Helft mir doch!“ Anna rührte sich nicht. Sanft sagte sie: „Ich habe eine viel bessere Idee – falls Anton mitmacht“, fügte sie mit einem innigen Blick auf Anton hinzu. „Was für eine Idee?“, fragte Anton argwöhnisch. „Du gehst jetzt nach draußen und redest mit diesem Herrn Stöbermann!“ „Ich?“, rief Anton. „Aber ich...“ ‹... hab auch Angst vor ihm!›, wollte er protestieren. Doch dann überlegte er es sich anders, weil er sich nicht blamieren wollte. „Worüber soll ich denn mit ihm reden?“, fragte er stattdessen vorsichtig. „Das ist ganz egal! Du musst ihn nur von hier weglocken!“ Anton zögerte. Die Idee war nicht schlecht – und für die Vampire wahrscheinlich die einzige Möglichkeit zur Flucht. Und trotzdem... „Immer soll ich alles machen“, murrte er. Anna lächelte süß. „Dafür bist du ein Mensch! Und ihr Menschen habt es in fast allen Dingen viel leichter als wir.“ „Das kann man wohl sagen!“, stimmte ihr der kleine Vampir zu. Anton seufzte – schicksalsergeben. „Also gut“, sagte er, „ich gehe.“
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Der große Unbekannte Anton hatte kaum die Stalltür hinter sich geschlossen, als etwas Schwarzes auf ihn zugeschossen kam – und auf einen Zuruf hin ein paar Schritte vor ihm sitzen blieb. Es war der Hund von Herrn Stöbermann! Anton wagte sich nicht zu bewegen. Er hatte das Gefühl, dass ihn die Bestie zerfleischen würde, wenn er auch nur mit dem kleinen Finger zuckte! Als Herr Stöbermann auftauchte, war er sogar erleichtert. „Was machst du denn hier?“, fragte Herr Stöbermann. „Ich – ich hab was gesucht“, murmelte Anton. „Und was?“ „Einen – ähem – Zettel mit einer Telefonnummer.“ „Den hast du ausgerechnet hier verloren?“ „Ja, hier irgendwo –“ „In dem Schuppen drüben hast du auch schon nachgeguckt!“ Herr Stöbermann zeigte auf den alten Schweinestall. „Ich hab nämlich gehört, wie du darin herumgegangen bist.“ Anton versuchte, ganz ruhig zu bleiben. „Das stimmt“, sagte er. „Aber da war der Zettel auch nicht.“ „Ist dir im Schuppen etwas Verdächtiges aufgefallen?“ „Etwas Verdächtiges? Nein, überhaupt nicht!“ Herr Stöbermann sah unschlüssig zum Schweinestall hinüber. „Gerade wollte ich nachsehen, was in dem Schuppen los ist“, erklärte er. „Aber wenn du sagst, dass du nichts Verdächtiges bemerkt hast... Es steht doch bestimmt nur Gerümpel darin, oder?“ „Ja! Nur Gerümpel!“ „Dann kann ich mir den Weg ja sparen.“ „Das können Sie!“, bekräftigte Anton und musste ein Lachen unterdrücken. „Sag mal, weißt du, wer hier immer die Eier austrinkt?“ 83
Auf einmal klang die Stimme von Herrn Stöbermann vertraulich, fast freundschaftlich. Offensichtlich war es Anton gelungen, sein Vertrauen zu gewinnen! „Ich könnte mir schon vorstellen, wer das macht“, sagte Anton. „So? Wer denn?“ „Ein Mann in einem schwarzen Mantel.“ Herr Stöbermann horchte auf. „Ein Mann in einem schwarzen Mantel? War der Mantel sehr lang und sehr weit?“ Anton ahnte, worauf er hinauswollte, und genoss es, ihn an der Nase herumzuführen. „Ja, er reichte bis zum Boden. Es war auch kein richtiger Mantel, sondern eher ein Umhang.“ „Wirklich?“ Herr Stöbermann pfiff leise durch die Zähne. „Und wie sah der Mann aus?“ „Er war sehr blass und hatte lange ungekämmte Haare.“ „Hat er muffig gerochen?“ Jetzt war Herr Stöbermann richtig aufgeregt. „Ich musste mir fast die Nase zuhalten“, antwortete Anton. „Also doch!“, sagte Herr Stöbermann. „Und wo hast du diesen Mann gesehen?“ „In der Scheune. Ich beobachtete zufällig, wie er zwischen den Strohballen verschwand.“ Er musste an sich halten, um nicht zu lachen: Herr Stöbermann glaubte ihm anscheinend jedes Wort! „Und zu welcher Tageszeit hast du ihn gesehen?“ „Abends!“ Das war natürlich die einzig richtige Antwort – wenn er Herrn Stöbermann glauben machen wollte, dass es ein Vampir war, den er gesehen hatte! „Kannst du mir die Stelle zeigen, wo er verschwunden ist?“, fragte Herr Stöbermann mit nur schlecht unterdrückter Erregung. „Selbstverständlich!“ 84
Während Anton vorausging, sah er noch einmal zum alten Schweinestall zurück. Wenn die mich nicht hätten!, dachte er.
Poesie für Vampire Natürlich entdeckte Herr Stöbermann in der Scheune keinen Mann. Sein Hund stöberte nur ein paar kleine Katzen auf, die in einem Karton saßen und kläglich miauten. Jetzt lag Anton im Bett und dachte mit Vergnügen daran zurück, als jemand leise an sein Fenster pochte. Er lief zum Fenster und schob den Vorhang zurück. Draußen saß Anna! Erschrocken öffnete Anton das Fenster. „Du kannst nicht hier bleiben!“, rief er. „Meine Mutter kommt gleich!“ „Ich wollte dir nur mein Poesiealbum bringen“, erwiderte sie lächelnd und gab ihm das rote Buch. „Du schreibst doch hinein?“ „Ja“, sagte er verlegen – da wurde an seine Tür geklopft. Gleich darauf hörte er die entsetzte Stimme seiner Mutter: „Anton, willst du dir eine Lungenentzündung holen?“ „Ich... mir war so heiß“, stotterte Anton und schob das Poesiealbum in den Bund seiner Schlafanzughose. „Dir ist heiß, weil du Fieber hast!“, schimpfte seine Mutter und schlug das Fenster so hastig zu, dass sie den kleinen Schatten nicht bemerkte, der sich in eine Fensterecke drückte. „Hast du Fieber gemessen?“ „Ja“, nickte Anton und ging langsam zum Bett zurück. Hoffentlich fiel ihm das Buch nicht aus der Hose!, dachte er. Glücklicherweise war seine Mutter mit dem Thermometer beschäftigt. „38,1!“, rief sie. 85
Anton hatte sein Bett erreicht und ließ sich erleichtert auf die weiche Matratze sinken. „Ist das viel?“, tat er ahnungslos. „Du musst morgen im Bett bleiben“, erklärte sie. „Und jetzt machst du dein Licht aus und schläfst.“ „Ja, Mutti“, sagte er und zog am Lichtschalter. „Doch nicht, wenn ich noch im Zimmer bin!“, sagte sie verärgert und tappte im Dunkeln zur Tür. „Dann darf ich es wieder anmachen?“, fragte er grinsend. Ohne ein weiteres Wort knallte sie die Tür hinter sich zu. Anton wartete, bis sie die Treppe hinuntergegangen war. Dann machte er Licht und zog das Poesiealbum hervor. Es hatte einen roten Samteinband, der an einigen Stellen schon recht zerschlissen war. Ein modriger Geruch ging von dem Stoff aus, der ihn an Anna erinnerte. Ob sie noch immer auf dem Fenstersims hockte? Anton ging zum Fenster und spähte hinaus, aber draußen war niemand zu sehen. Er legte sich wieder ins Bett und schlug voller Spannung die erste Seite auf. POESIEALBUM VON ANNA IRMGARD VON SCHLOTTERSTEIN stand dort in einer runden Kinderschrift und darunter: Wer in dieses Büchlein schreibt, den bitte ich um Sauberkeit. Diese Bitte hatte offenbar nicht viel geholfen, denn gleich auf der zweiten Seite wimmelte es von Tintenflecken: Ach, wie schön das Leben ist, wenn das Blut so richtig fließt. Dies schrieb dir zur Beherzigung dein Bruder Lumpi Anton blätterte weiter:
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Willst du glücklich sein im Leben, such bei anderen dein Glück, denn das Blut, das sie dir geben, kehrt ins eigne Herz zurück. Zur Erinnerung an deine Tante Dorothee Anton spürte ein angenehmes Schaudern. Es machte Spaß, die blutrünstigen Sprüche zu lesen und gleichzeitig zu wissen, dass die Vampire, die sie geschrieben hatten, draußen in der Nacht herumschwirrten und ihm nichts anhaben konnten! Begierig las er weiter: Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, denn wer Blut hat, hat auch Lieder. Diesen Ratschlag gibt dir deine Großmutter Sabine die Schreckliche Nun folgte Rüdigers Gedicht, das Anton schon kannte, mit der Unterschrift: Zum Andenken an deinen Bruder Rüdiger den Grässlichen. Von diesem Beinamen des kleinen Vampirs hatte Anton noch nie etwas gehört, und er nahm an, dass Rüdiger sich damit nur wichtig machen wollte – schließlich hatten fast alle Vampire einen Beinamen. Wie zum Beispiel Wilhelm der Wüste, dessen Spruch auf der nächsten Seite stand: Hab Blut auf den Lippen, ob’s stürmt oder schneit, der Himmel voll Wolken, die Erde voll Streit. Zur Erinnerung an deinen Großvater Auf der folgenden Seite prangte ein großer Blutfleck. Darunter stand:
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Weißer Schwan auf blauer Flut, liebe Anna, merk dir gut, halte stets dein Blut so rein wie der Schwan sein Federlein. Dies schrieb dir dem Onkel Theodor Onkel Theodor – das war der Vampir, der auf dem Sarg Quartett gespielt hatte und dabei von dem Friedhofswärter Geiermeier beobachtet worden war. Seitdem stand sein Sarg in der Gruft Schlotterstein leer... Umso schauerlicher fand Anton den Blutfleck! Rasch blätterte er um: Reden ist Silber, Bluten ist Gold. Das schrieb dir dein Vater Ludwig der Fürchterliche In seinem Poesiealbum zu Hause standen nur langweilige, brave oder dumme Sprüche!, dachte Anton neiderfüllt. Kein einziger war darunter, bei dem man sich gruseln konnte! Wie bei dem Spruch, den Hildegard die Durstige in einer altertümlichen, verschnörkelten Schrift hineingeschrieben hatte: Hast du einen Vampirzahn im Mund, bleibst du glücklich und gesund. Zum Gedenken an deine Mutter Die übrigen Seiten waren leer – bis auf das kleine Wort Anton, das Anna oben auf die nächste Seite geschrieben hatte. Wenn er nur wüsste, was er schreiben sollte! Aber alle Sprüche, die ihm einfielen, waren genauso langweilig wie die in seinem eigenen Poesiealbum!
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„Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blümlein welken, nur das eine nicht, das heißt...“, murmelte er vor sich hin und suchte angestrengt nach einem Reim. „Friss-mich-nicht?“ Nicht besonders witzig! „Verdurste nicht?“ Auch nicht viel besser! „Verblute nicht?“ Nein, das passte nicht! Anton seufzte. Das würde ein schweres Stück Arbeit werden, bis er den richtigen Spruch hatte! Aus seiner Nachttischschublade nahm er einen Block und einen Stift. „Ein Häuschen aus Rosen, aus Nelken die Tür...“, schrieb er und strich es gleich wieder durch. „Sei wie das Veilchen im Moose, sittsam, bescheiden und rein, nicht wie der stolze Vampir, der stets nur bewundert will sein...“ Das klang schon besser – aber würden sich die Vampire nicht dadurch beleidigt fühlen? Das Risiko wollte er lieber nicht eingehen! „Sei gehorsam, sei bescheiden, folge stets der Eltern Wort, lerne Reden, lerne Schweigen, aber nur am rechten Ort...“ Anton fielen die Augen zu. Für ihn war es jetzt der rechte Ort, um zu schlafen – nachdem er Annas Poesiealbum in seinem Koffer versteckt hatte.
Stöbermanns Entdeckung Als Anton am nächsten Morgen aufwachte, stand ein Frühstückstablett neben seinem Bett. Ob seine Mutter ihn für so krank hielt, dass sie meinte, er könnte nicht einmal zum Frühstück aufstehen? Sein Hals tat zwar noch weh, als er jetzt einen Schluck Kakao trank – aber das würde sich schon geben, sobald er aufgestanden war! Im Bett wollte er jedenfalls nicht bleiben!
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Außerdem musste er herauskriegen, ob heute Nacht noch etwas Aufregendes passiert war! Er zog sich an und ging nach unten. Seine Eltern saßen am Tisch und blickten überrascht auf, als er hereinkam. Die beiden Frauen hatten offenbar schon gefrühstückt, denn ihre Plätze waren abgeräumt. „Du solltest doch im Bett bleiben!“, sagte Antons Mutter vorwurfsvoll. „Ich bin aber nicht krank!“ „Hast du Fieber gemessen?“, fragte sein Vater. „Ja“, log er. „Und?“ 36,1. Seine Eltern wechselten einen Blick. „Das glaube ich nicht“, erklärte die Mutter. „Du bist blass, und deine Augen glänzen fiebrig, genau wie gestern!“ „Ich bin nicht krank!“, sagte Anton wütend. „Wenn du meinst –“ Die Stimme seiner Mutter klang beleidigt. „Möchtest du ein Brötchen?“ „Ich...“ ‹hab keinen Appetit›, hätte Anton fast gesagt, aber das durfte er natürlich nicht zugeben. „Gerne.“ Sein Vater bestrich ein Brötchen mit Marmelade und reichte es ihm. „Übrigens – hat Herr Stöbermann den Eierdieb gefunden?“, erkundigte sich Anton vorsichtig. Seine Mutter warf ihm einen vielsagenden Blick zu. „Nein. Aber etwas anderes hat er gefunden. – Etwas, das dich besonders interessieren dürfte!“, fügte sie spitz hinzu. Anton wurde noch bleicher. „Was denn?“ Sie zeigte auf ein altes, zerlesenes Buch, das auf der Fensterbank lag. „Das gehört dir doch, oder?“
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Es war „Gelächter aus der Gruft“, das er vor einigen Wochen dem kleinen Vampir geliehen hatte! „Woher habt ihr das?“ „Das lag im Hühnerstall. Herr Stöbermann hat es hinter ein paar Kisten entdeckt.“ „Aber...“, sagte Anton und brach dann ab. Es hatte ohnehin keinen Sinn, ihnen zu erklären, dass er das Buch verliehen hatte. Dann fragten sie sofort, an wen! „Es stimmt also?“, sagte sein Vater. „Ja. Das Buch gehört mir.“ „Dann stimmt es auch, dass du im Hühnerstall warst.“ Wenn sie wüssten! Um nichts in der Welt würde er noch einmal durch den Hühnerhof gehen! Aber das durfte er natürlich nicht sagen. Also log er: „Ja.“ „Aha!“, sagte der Vater sichtlich befriedigt. „Und dabei hast du ein bisschen an den Eiern... herumgespielt!“ „Wie bitte?“, rief Anton entrüstet. „Ich soll an den Eiern herumgespielt haben? Ich hab sie überhaupt nicht angefasst!“ „So?“, entgegnete sein Vater kühl. „Wer war es dann?“ Anton war so empört über die Sturheit und Voreingenommenheit seines Vaters, dass er alle Vorsicht vergaß. Er sprang von seinem Stuhl auf und rief: „Wenn ihr’s genau wissen wollt: der kleine Vampir!“ Damit rannte er zur Tür. Zuerst wollte er nach oben in sein Zimmer laufen, aber dann überlegte er sich, dass seine Eltern bestimmt hinterherkommen würden, um ihn zur Rede zu stellen. Und er hatte nicht die geringste Lust, noch weiter verhört zu werden! Ihm fiel ein, dass in der Scheune ein paar alte Fahrräder standen, die auch die Gäste benutzen durften. Ja, das würde er machen: einfach wegfahren – und seinen Eltern, die immer
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wissen wollten, wohin er ging, einen ordentlichen Schrecken einjagen! Vielleicht erkannten sie dann, wie ungerecht und gemein es war, ihn zu verdächtigen!, dachte er, während er auf einem grünen Rad ohne Klingel und ohne Handbremse in Richtung „Zwiebel-City“ davonfuhr. Doch er kam nicht weit. Schon nach kurzer Fahrt musste er absteigen, weil ihm schwindlig wurde. Unsicher blieb er neben dem Fahrrad stehen. Sollte er zu Fuß weitergehen? Aber er spürte, dass er eigentlich gar nicht mehr weglaufen wollte. Auf einmal war er so müde... Er brachte das Rad in die Scheune zurück und ging in sein Zimmer.
Visite „Er hat 38,3 Fieber!“, hörte Anton seine Mutter sagen. „Dann sollten wir den Arzt rufen!“ Das war die Stimme seines Vaters. Anton blinzelte. Er sah seine Eltern neben dem Bett stehen. Mit besorgten Gesichtern blickten sie auf ihn herunter. „Bin ich krank?“, fragte er. „Ja. Wir rufen jetzt den Arzt.“ „Nein, keinen Arzt!“, schrie Anton auf. Seine Eltern konnten ja nicht ahnen, wer hier im Dorf der Arzt war! „Warum denn nicht?“ „Weil... Es geht mir schon viel besser!“ „So plötzlich?“, sagte die Mutter zweifelnd. „Nein, der Arzt soll auf jeden Fall kommen.“ „Früher hattest du doch keine Angst vor Ärzten“, wunderte sich Antons Vater. 92
„Früher...“, sagte Anton. „Das waren auch keine Dorftrottel, so wie hier.“ „Anton!“, rief seine Mutter. „Was fällt dir ein!“ „Ist doch wahr“, sagte er. „Hier auf dem Dorf können sie bestimmt eine Spritze nicht von einer Mistgabel unterscheiden.“ „Ich glaube, du phantasierst“, sagte der Vater gereizt. „Hoffentlich!“, knurrte Anton. Doch leider war Herr Stöbermann, der kurz darauf an seinem Bett stand, keine Phantasiefigur! Nein, er war sehr lebendig mit seinem breiten Gesicht und seinen stechenden blauen Augen. „Du bist krank?“, fragte er in einer plumpen, vertraulichen Art. „Weiß ich nicht“, sagte Anton nur.
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„Das weißt du nicht?“ Die Stimme von Herrn Stöbermann klang belustigt.
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Anton hatte beschlossen, möglichst unhöflich zu antworten: „Weiß ich doch nicht, was meine Mutter Ihnen erzählt hat.“ „Anton, bitte!“, protestierte die Mutter. „Dann mach mal deinen Mund auf“, sagte Herr Stöbermann und öffnete seinen Arztkoffer. Anton gehorchte widerwillig. „Der Rachen ist entzündet“, verkündete Herr Stöbermann, nachdem er in Antons Hals geguckt hatte. „Du hast dich wohl gestern Abend erkältet.“ Anton wurde rot. „Hast du wenigstens deinen Zettel gefunden?“, fragte Herr Stöbermann weiter. Dass Anton nicht antworten konnte, weil er den Mund noch immer offen hielt, schien ihn nicht zu stören. „Kleine Jungen sollten auch nicht allein im Dunkeln herumlaufen“, meinte er, während er eine scharfe Flüssigkeit in Antons Hals sprühte. „Wer weiß, was draußen alles unterwegs sein kann! Übrigens – den Mann, von dem du mir erzählt hast, hab ich nirgendwo gesehen.“ „Welchen Mann?“, fragte Antons Vater, hellhörig geworden. Am liebsten wäre Anton im Erdboden versunken! Vor dieser Frage hatte er sich gefürchtet! „Wissen Sie das nicht?“, sagte Herr Stöbermann überrascht. „In der Scheune soll sich ein Mann verstecken. Er ist sehr blass, hat lange ungekämmte Haare und trägt einen schwarzen Umhang.“ „Hat Ihnen Anton das erzählt?“, fragte die Mutter. „Ja.“ „Das hat er sich nur ausgedacht!“, rief sie heftig. „In seinen verrückten Büchern hat er das gelesen!“ Alle Augen richteten sich auf Anton. „Stimmt das?“, fragte der Vater. „Hast du dir das ausgedacht?“ „Ja“, sagte Anton nach kurzem Zögern. „Und warum?“, fragte Herr Stöbermann. 95
„Weil er sich wichtig machen wollte!“, sagte der Vater. Anton biss sich auf die Lippen. Das war eine gemeine Unterstellung – und er konnte sich nicht einmal wehren, wenn er den kleinen Vampir nicht verraten wollte! „Ich wollte einen Spaß machen“, sagte er zähneknirschend. „Ein schöner Spaß!“, bemerkte Herr Stöbermann grimmig. „Dadurch ist uns vermutlich der echte Eierdieb entwischt!“ Anton musste grinsen: wenn Herr Stöbermann wüsste, wie Recht er damit hatte! „Ich dachte. Sie wüssten längst, wer der Eierdieb ist“, sagte er mit Unschuldsmiene. „Wieso?“ „Na ja... mein Vater kennt den Eierdieb nämlich!“ „Wie kommst du denn darauf?“, rief sein Vater entrüstet. „Stimmt es etwa nicht, dass du jemanden verdächtigst?“ „Und wen?“ Sein Vater war sogar ein wenig rot geworden, wie Anton mit heimlicher Schadenfreude feststellte. „Ja, wen?“, fragte auch Herr Stöbermann gespannt. Anton lächelte. „Mich!“, sagte er schlicht. „So ein Unsinn!“, rief der Vater, zu Herrn Stöbermann gewandt. „Ich wollte nur wissen, wie sein Buch in den Hühnerstall gekommen ist.“ „Streitet euch nicht“, bat die Mutter, „Anton ist schließlich krank.“ „Genau!“, sagte Anton. „Und ich brauch jetzt Ruhe!“ Damit legte er sich in sein Kissen zurück und schloss die Augen – aber nur so weit, dass er noch sehen konnte, wie Herr Stöbermann seinen Arztkoffer zuklappte. „Ich komme morgen früh noch einmal vorbei“, erklärte er. Als er gegangen war, sagte Antons Mutter: „Nun kannst du heute Abend gar nicht mit uns feiern.“ „Ich hatte sowieso keine Lust“, brummte Anton.
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„Trotzdem ist es schade! Ausgerechnet im Urlaub musst du krank werden!“ „Meine Schuld ist es nicht“, sagte Anton und drehte den Kopf zur Wand.
Gute Besserung! Um halb neun, als der Duft der Würstchen, die im Garten gegrillt wurden, bis in Antons Zimmer zog, klopfte es leise an seiner Zimmertür. „Ja?“, sagte er. Johanna kam herein, mit einem Pappteller und einem Becher in der Hand. „Ich dachte, du hast vielleicht Hunger“, sagte sie und stellte die Sachen auf den Nachttisch. Dabei fiel ihr Blick auf Annas Poesiealbum, das dort lag. „Ist das ein Vampirbuch?“, fragte sie neugierig. „Nein“, sagte Anton hastig und stopfte das Buch unter sein Kopfkissen. „Es ist ein Poesiealbum.“ „Ein Poesiealbum?“, Johanna kicherte. „Da schreiben bei uns nur Mädchen hinein.“ „Bei mir zu Hause sind die Jungen eben fortschrittlicher!“ „Darf ich mal reingucken?“ „Nein.“ „Bitte!“ „Ich kann dir höchstens ein paar Sprüche vorlesen“, sagte Anton und grinste hinterhältig. „O ja!“ Anton nahm das Buch und hielt es so, dass sie nicht hineingucken konnte. „Ach, wie schön das Leben ist, wenn das Blut so richtig fließt!“ Johanna sah ihn mit großen Augen an. „Das steht da drin?“
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„Willst du noch mehr hören?“, fragte er mit einem leisen Lachen, und ohne ihre Antwort abzuwarten, las er: „Hab Blut auf den Lippen, ob’s stürmt oder schneit, der Himmel voll Wolken, die Erde voll Streit!“ „Iih, das sind ja scheußliche Gedichte!“, sagte sie. „Die möchte ich in meinem Poesiealbum nicht haben!“ Anton grinste. „Andere mögen so was.“ „Wem gehört das Album denn?“ „Das... das gehört meiner Freundin.“ „Deiner Freundin?“, sagte Johanna erstaunt. „Ich wusste gar nicht, dass du eine hast –“ „Du kannst ja auch nicht alles wissen“, sagte er. „Kenne ich sie?“ „Natürlich nicht.“ „Und wie heißt sie?“ „Anna.“ „Ja, dann –“, sagte sie verlegen und ging zur Tür. „Gute Besserung!“ „Danke für das Essen!“, rief Anton ihr nach.
Rosen, Tulpen und Narzissen Johanna hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als jemand ans Fenster pochte. Anton wartete, bis sich ihre Schritte entfernt hatten. Dann stand er auf und ging leise zum Fenster. Er schob den Vorhang zur Seite und spähte hinaus. Zuerst sah er nur den dunklen Nachthimmel und den Mond darin. Dann sah er noch etwas – Annas Gesicht! Sie saß auf dem Fenstersims und hatte ihren Umhang fest um sich gezogen, als würde sie frieren. Anton öffnete das Fenster. „Darf ich hereinkommen?“, fragte sie. 98
„Wenn du willst“, sagte er und ärgerte sich, dass seine Stimme so zitterig klang. „Natürlich will ich“, lächelte sie und sprang leichtfüßig ins Zimmer. Während sie sich umsah, fragte sie: „Du hattest Besuch?“ „Woher weißt du das?“ „Ich hab euch gehört.“ Anton merkte, wie sein Gesicht rot anlief. „Hast du auch verstanden, worüber wir gesprochen haben?“ „Ja. Du hast ihr erzählt, dass ich deine Freundin bin!“ „Das hab ich nur gesagt, weil sie wissen wollte, wem das Poesiealbum gehört“, versuchte er sich herauszureden. Dass sie alles mit angehört hatte, war ihm äußerst peinlich! Doch Anna schien nichts Schlimmes daran zu finden. „Es macht doch nichts, wenn sie über uns Bescheid weiß“, sagte sie leichthin, als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Dann ging sie zum Bett hinüber, wo das Poesiealbum lag. „Hast du hineingeschrieben?“ „Nein. Mir ist nichts eingefallen.“ „Aber es gibt doch so viele Sprüche. Soll ich dir einen sagen? Rosen, Tulpen und Narzissen, alles darf die Mutter wissen, nur das eine nicht: wenn dich erst ein Junge küsst!“ Sie kicherte heftig, aber Anton zog nur die Augenbrauen hoch. „So was schreibe ich nicht!“, erklärte er. „Warum bist du eigentlich nicht im Garten?“, fragte sie unvermittelt. „Da wird nämlich ein Fest gefeiert.“ „Keine Lust“, brummte Anton, der nicht wollte, dass sie von seiner Rachenentzündung erfuhr und ihn deshalb bemitleidete. 99
„Es ist aber ein ganz, tolles Fest!“, sagte sie schwärmerisch. „Mit einem großen Feuer, und in den Bäumen hängen Laternen...“ „... für kleine Kinder!“, sagte er abfällig. „Nein. Es sind auch Erwachsene dabei! Ich würde jedenfalls gerne mitfeiern.“ „Tu’s doch!“ „So leichtsinnig bin ich nicht!“, erwiderte sie. „Außerdem hab ich keine Zeit. Ich muss Rüdiger helfen, seinen Sarg in die Gruft zurückzubringen.“ „Ihr wollt den Sarg in die Gruft zurückbringen?“, rief Anton bestürzt. „Aber... wieso?“ „Es ist wegen Stöbermann. Rüdiger hat den ganzen Tag kein Auge zugemacht, und jetzt will er unbedingt wieder nach Hause.“ „Und warum sagt er mir das nicht selbst?“ „Weil er Angst hat. Er denkt nämlich, dass Stöbermann draußen im Garten sitzt.“ „Aber ohne mich findet er den Rückweg nie.“ „Meinst du?“, sagte Anna spöttisch. „Immerhin hat er mich! Ich kann mich sehr gut im Dunkeln orientieren. Und hergefunden hab ich schließlich auch.“ „Aber ihr kennt die Gefahren auf dem Land nicht! Hier gibt es sogar noch Leute, die an Vampire glauben!“ Anna sah ihn zärtlich an. „Machst du dir Sorgen um mich?“ „Ich... w-will nur, dass euch nichts passiert!“, stotterte er. Annas große Augen glänzten. „Ach, Anton“, seufzte sie, dann wandte sie schnell den Kopf ab. „Noch nie hat sich jemand um mich Sorgen gemacht“, sagte sie leise. Anton hustete verlegen. „Ich kann euch bis zum Bahnhof bringen“, sagte er, um das Gespräch auf ein weniger verfängliches Thema zu lenken. „Von dort aus könnt ihr an den Schienen entlangfliegen.“ „Das ist wirklich nicht nötig!“, widersprach sie. 100
„Trotzdem!“, sagte Anton. „Drei schaffen mehr als zwei.“ „Also gut“, sagte sie, und während sie ihn unverwandt anblickte, fügte sie sanft hinzu: „Dann sind wir beide noch ein bisschen länger zusammen!“ „Wir... wir sollten jetzt gehen“, murmelte er. „Im Nachtanzug?“, sagte sie und lachte. Anton sah an sich hinunter und erschrak: zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er im Schlafanzug vor Anna stand – in seinem alten, knitterigen, ausgebeulten Schlafanzug! Anna schien seine Verlegenheit zu spüren. Sie kletterte aufs Fensterbrett und sagte: „Wir warten im Stall auf dich.“ Dann flog sie davon.
Neuigkeiten aus der Gruft Anton zog seinen dicksten Pullover an und band sich einen Schal um den Hals. Seine Halsschmerzen waren eher schlimmer geworden – trotz der Tabletten, die ihm Stöbermann gegeben hatte. Wahrscheinlich waren es die falschen Tabletten, dachte er giftig – gegen Darmgrippe oder Fußpilz. Trotzdem steckte er sich noch eine Tablette in den Mund, bevor er nach unten ging. Vor der Haustür blieb er stehen und lauschte. Zum Glück lag der Garten auf der anderen Seite des Hauses. Von dort klang Musik herüber und er hörte eine Frauenstimme lachen. Hoffentlich dauerte die Feier noch recht lange! Wenigstens so lange, bis er vom Bahnhof zurückgekehrt war! Und wenn nicht – ihm würde schon eine Ausrede einfallen! Anna und Rüdiger erwarteten ihn bereits an der Stalltür, in deren Schatten sie den Sarg abgestellt hauen. „Kommst du endlich?“, knurrte der kleine Vampir.
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„Sei nicht so unfreundlich zu Anton!“, tadelte ihn Anna. „Schließlich will er dir helfen.“ „Jaja! Erst lockt er mich hierher und dann soll ich auch noch dankbar sein!“ „Ich soll dich hierher gelockt haben?“, rief Anton erbost. „Und wer musste vor Jörg dem Aufbrausenden fliehen?“ Der Vampir lächelte breit. „Niemand, Jörg der Aufbrausende ist nämlich aus der Gruft ausgezogen.“ Anton schnaubte vor Empörung über die Art, wie der Vampir wieder einmal die Tatsachen verdrehte. „Das stimmt doch gar nicht!“ „So?“, grinste der Vampir. „Frag doch Anna, ob er ausgezogen ist.“ „Das meine ich nicht!“, rief Anton wütend. Natürlich wusste Rüdiger genau, wovon Anton sprach – aber rechthaberisch, wie er war, wollte er das nicht zugeben. Und jetzt mit ihm darüber zu streiten war zwecklos. „Er ist wirklich ausgezogen“, sagte Anna, die nicht ahnen konnte, worum es ging. „Jörg der Aufbrausende wollte seine Krawattennadel wiederhaben, die er Lumpi geschenkt hatte. Lumpi wollte sie ihm aber nicht zurückgeben, und da hat er ihn aus der Gruft geworfen.“ Sie kicherte. „Siehst du“, triumphierte der kleine Vampir. „So, und nun kannst du Anna helfen, den Sarg zu tragen!“ „Und was machst du?“, fragte Anna. „Ich weise euch den Weg.“ „Das könnte dir so passen! Entweder du trägst das vordere Ende oder ich fasse überhaupt nicht mit an!“ „Und Anton?“, mäkelte der Vampir. „Anton zeigt uns den Weg“, erklärte sie und ging an das hintere Ende des Sargs. „Was ist? Soll dein Sarg hier stehen bleiben?“ „Ich komme ja schon“, brummte der Vampir unwillig und hob das vordere Sargende an. 102
„Wir sind so weit“, lächelte sie Anton zu, der sich noch einmal vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war. „Gut!“, sagte er. „Die Luft ist rein.“
Niedriger Blutdruck Sie gingen um die Scheune herum und über den Hof, auf dem das Auto von Antons Eltern und der hellblaue Kombi der Herings standen. Zwischen den hohen Bäumen hindurch gelangten sie auf die Alte Dorfstraße.
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Nachdem sie eine Weile gelaufen waren, setzte der kleine Vampir sein Sargende ab. „Mein Rücken tut weh“, ächzte er.
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„Du willst nur, dass Anton den Sarg für dich trägt!“, schimpfte Anna. „Ich hab den ganzen Tag nicht geschlafen“, beklagte er sich. „Und gegessen hab ich auch nichts. Mir ist ganz schwarz vor Augen.“ „Wer’s glaubt...“, sagte sie nur. „Ich hab einen niedrigen Blutdruck!“, rief der kleine Vampir. „Und deshalb kann ich sehr leicht ohnmächtig werden!“ „So?“, sagte Anna zweifelnd. „Und woher willst du wissen, dass du einen niedrigen Blutdruck hast?“ „Das spürt man eben.“ „Ich spür nur, dass du ein Faulpelz bist“, erwiderte sie wütend. Der Vampir machte ein beleidigtes Gesicht. „Das kannst du gar nicht beurteilen. Schließlich bist du noch ein halbes Baby.“ „Meinst du, Opa?“, antwortete Anna und ließ ihr Sargende auf Rüdigers Fuß poltern. „Bist du verrückt geworden?“, schrie der Vampir. Mit schmerzverzerrter Miene begann er auf einem Bein hin und her zu hüpfen. „Ihr seid beide verrückt geworden!“, zischte Anton. „Ihr macht einen Krach, als wärt ihr allein auf der Welt.“ Anna und Rüdiger erschraken. Auf einmal waren sie mucksmäuschenstill. „Hat uns jemand gehört?“, fragte der kleine Vampir besorgt. Anton deutete mit einem Kopfnicken auf ein Haus, das hinter einer hohen Hecke versteckt lag und von dem nur ein erleuchtetes Dachfenster zu sehen war. „Schon möglich...“ „Wir müssen weiter!“, drängte Anna. „Nein, warte“, sagte der Vampir. „Vielleicht kann ich mich da drüben erst mal stärken...“ „Das würde ich nicht tun“, sagte Anna.
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„Aber ich!“, erwiderte der Vampir. „Danach wird mir das Sargtragen auch viel leichter fallen...“ Mit halb geöffneten Lippen und einem starren, abwesenden Blick schritt er langsam auf das Haus zu. Anna zerrte den Sarg hastig hinter einen Busch. „Komm, wir gehen hinterher“, flüsterte sie Anton zu. „Sonst geschieht noch ein Unglück!“
Spione Wie ein Schlafwandler ging der kleine Vampir den sorgfältig geharkten Weg hinauf zum Haus, gefolgt von Anna und Anton. Es war ein modernes rotes Backsteinhaus mit einer Eingangstür aus Metall und Glas, über der eine kleine Lampe leuchtete. Die Fenster im Erdgeschoss waren dunkel. Nur hinter einem Fenster im Dach brannte Licht. Der kleine Vampir hielt sich nicht damit auf, die Vorderseite zu erkunden. Zielstrebig ging er auf die Rückseite des Hauses zu. „Er glaubt, alle Leute würden vergessen, den Hintereingang abzuschließen“, sagte Anton leise zu Anna. Sie sah ihn erstaunt an. „Stimmt das denn?“ „Nein. Aber das wird er schon selbst merken.“ „Wollen wir nicht hinterhergehen?“ „Ich bleib lieber hinter den Büschen stehen“, antwortete Anton. „Außerdem kommt er sowieso gleich wieder.“ Nach einer Pause meinte Anna: „Ich würde gerne mal gucken, wie es drinnen aussieht. Ich interessiere mich nämlich für Inneneinrichtungen.“ „Willst du etwa reingehen?“ „Nein. Nur durch die Fenster gucken“, sagte sie. „Wartest du so lange?“ 106
Anton nickte. Schnell lief sie zum Haus hinüber und spähte in die Fenster. Dann kam sie mit enttäuschter Miene zurück. „Puh, ist das langweilig eingerichtet!“, sagte sie. „Im linken Zimmer steht nur ein Esstisch mir vier Stühlen. In dem Zimmer rechts neben der Tür ist ein Schreibtisch, und dann sind da noch Bücherregale.“ Anton gähnte, um ihr zu zeigen, wie wenig ihn das interessierte. „Und daneben ist das Wohnzimmer“, fuhr sie fort, „mit einem Sofa, einem Tisch und zwei Sesseln. Ach ja, und an der Wand steht ein Glasschrank.“ Anton hatte nur halb zugehört. Er schreckte erst auf, als sie sagte: „Und in dem Glasschrank sind ganz viele Schmetterlinge.“ „Was ist in dem Schrank?“, fragte er. „Schmetterlinge?“ „Ja. Ich konnte sie genau sehen, weil der Mond ins Zimmer schien. Und stell dir vor: jemand hat sie auf Streichhölzer aufgespießt!“ „O nein!“, stöhnte Anton. „Dann ist es das Haus von Stöbermann!“ Annas Augen weiteten sich vor Schreck. „Das Haus von Stöbermann? Und Rüdiger...?“ „Hoffentlich war der Hintereingang verschlossen“, sagte Anton dumpf. Jetzt hörten sie ein wütendes Gebell, das von der Rückseite des Hauses kam. Anton erstarrte. „Stöbermanns Hund! Die schwarze Bestie!“ „Ich seh nach, ob Rüdiger etwas passiert ist“, erklärte Anna und wollte gehen. „Moment!“, rief Anton und hielt sie am Umhang fest. Gereizt fragte sie: „Hast du eine bessere Idee?“ „Wir dürfen nichts überstürzen!“, sagte er beschwörend. „Oder willst du, dass Stöbermann dich auch noch kriegt?“ 107
„Glaubst du etwa...“ Sie ließ den Satz unvollendet, denn in diesem Augenblick ging in dem rechten Zimmer, dem Arbeitszimmer, das Lieht an. Und was sie dort sahen, ließ ihnen den Atem stocken: Herr Stöbermann betrat das Zimmer – und vor sich her schob er den kleinen Vampir! Rüdiger hatte den Kopf gesenkt, wie ein Tier, das zur Schlachtbank geführt wird. „Oh, wie entsetzlich!“, flüsterte Anna. „Was wird er jetzt mit ihm machen?“ Als hätte er ihre Worte gehört, zog Herr Stöbermann mit einem Ruck die Vorhänge zu. „Zuerst einmal wird er ihn aushorchen“, vermutete Anton. „Ja, und dann...“ Er sprach nicht weiter, der Gedanke war zu grauenhaft. Überdeutlich hatte Anton die angespitzten Holzpfähle gesehen, die aus Stöbermanns Jackentasche ragten... „Am liebsten würde ich das Fenster einschlagen!“, sagte Anna und schüttelte ihre kleinen Fäuste. „Das würde gar nichts nützen“, antwortete Anton. „Wir müssen es anders machen, listiger. Und ich weiß auch schon, wie...“ „Und wie?“, fragte Anna mit weit aufgerissenen Augen. „Ich werde jetzt klingeln. Dann wird Stöbermann an die Tür kommen...“
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„... und Rüdiger kann entwischen!“, fügte sie aufgeregt hinzu. „Oh, Anton, ich hab Angst!“
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Ich auch!, dachte Anton, aber das sagte er lieber nicht. Er schob sein Kinn entschlossen vor und ging mit selbstbewusster Miene auf die Haustür zu – dabei fühlte er sich wie ein Stierkämpfer auf dem Weg in die Arena. „Viel Glück!“, rief Anna ihm nach. „Danke“, sagte er leise, bevor er auf den Klingelknopf drückte.
Keine Sprechstunde Anton hörte, wie es im Innern des Hauses läutete. In seinen Ohren klang es schrill und misstönend, und sein Herz begann heftig zu klopfen. Aber nichts rührte sich. Er schluckte. Dann klingelte er noch einmal. Jetzt näherten sich Schritte. Am liebsten hätte Anton sich umgedreht und wäre davongelaufen – doch er dachte an den kleinen Vampir und biss die Zähne zusammen. Herr Stöbermann öffnete die Tür, aber nur einen Spaltbreit. Aus schmalen Augen sah er Anton misstrauisch an. „Was gibt es?“, fragte er barsch. „Ich...“ Anton hatte sich vorher genau zurechtgelegt, was er sagen wollte, aber unter Stöbermanns prüfenden Blicken kam er doch ins Stottern. „Ich... es ist wegen meiner... meiner Halsschmerzen!“ Stöbermanns abweisende Miene hellte sich auf. „Ach so... Jetzt erkenne ich dich wieder: du bist das Ferienkind mit dem Rachenkatarrh!“ Er öffnete die Tür halb. „Sag mal, was machst du hier draußen? Wieso bist du nicht im Bett?“
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„Meine... meine Mutter hat mich hergeschickt“, log Anton. „Ich soll... ich soll andere Tabletten holen. Die, die Sie mir gegeben haben, helfen nicht.“ „Die können auch nicht helfen, wenn du nachts unterwegs bist!“, sagte Herr Stöbermann verärgert. „Aber ich will dir trotzdem andere geben. Warte hier!“ „Au-Augenblick!“, stotterte Anton. Er merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Auf jeden Fall musste er Stöbermann noch länger an der Tür aufhalten, wenn dem kleinen Vampir die Flucht gelingen sollte! „Mei-meine Mutter hat gesagt, Sie sollen mir auch in den Hals gucken!“ „Deshalb schickt sie dich durch die kalte Nachtluft hierher?“ Herr Stöbermann schüttelte den Kopf. „So ein Leichtsinn! Wenn ich nicht gerade Besuch hätte, würde ich deine Mutter anrufen, damit sie herkommt und dich abholt. Aber ich habe, wie gesagt. Besuch –“, fuhr er mit veränderter Stimme fort und blickte nervös hinter sich, als erwarte er das Erscheinen des kleinen Vampirs – der hoffentlich längst entkommen war! Unwirsch sagte er: „Ich hab jetzt keine Sprechstunde! Außerdem muss ich mich um meinen Besuch kümmern. Komm morgen wieder.“ Anton nahm seinen ganzen Mut zusammen: „Und die Tabletten?“ Herr Stöbermann war sichtlich noch unruhiger geworden. „Ich hol dir ein paar Tabletten aus meinem Arbeitszimmer“, sagte er. „Warte!“ Bangend verfolgte Anton, wie er in einem der Zimmer verschwand. Eine Weile hörte er nichts – und dann einen Aufschrei. „Das Fenster! Dass ich daran nicht gedacht habe...“ Anton machte einen Luftsprung vor Freude. Jetzt konnte er sicher sein, dass dem kleinen Vampir die Flucht geglückt war. 111
Nur Herrn Stöbermann wollte er in diesem Augenblick lieber nicht begegnen... Rasch drehte er sich um und rannte davon. Er lief den Gartenweg hinunter und schlug die Pforte hinter sich zu. Erst als er den Busch erreicht hatte, hinter dem Anna den Sarg versteckt hatte, hielt er an. Doch der Platz war leer! Keine Spur von Anna oder dem kleinen Vampir – nur das zerdrückte Gras zeigte, wo der Sarg gestanden hatte. Sollte er allein zum Bahnhof gehen, um unterwegs vielleicht Anna und Rüdiger zu treffen? Nein! Die beiden Vampire kamen auch ohne ihn zurecht! Er zog den Schal fester um den Hals und lief zum Hof zurück.
Wenn du noch eine Mutter hast Mit einem beklommenen Gefühl näherte Anton sich dem Bauernhaus. Er horchte angestrengt – doch aus dem Garten klang keine Musik mehr; kein Stimmengewirr, kein Lachen waren zu hören. Sollte das Fest schon zu Ende sein? Er sah, dass in seinem Zimmer Licht brannte. Aber es konnte auch sein, dass er selbst vergessen hatte, es auszuschalten. Die Haustür war nicht verschlossen. Während er leise die Treppe hinaufging, hörte er, dass der Fernseher lief. Lass sie alle da unten sitzen und einen Film sehen!, betete er. Doch als er vorsichtig seine Zimmertür öffnete, fiel sein Blick als Erstes auf seine Mutter, die neben seinem Bett auf einem Stuhl saß. „Hallo, Mutti“, sagte er so liebenswürdig wie möglich. Sie schwieg, nur ihre Mundwinkel zuckten. „Bist du schon lange hier?“ Schnell zog er seinen Schlafanzug an und stieg ins Bett. 112
„Wo warst du?“, fragte sie scharf. Der gereizte Ton ihrer Stimme ließ ihn zusammenfahren. „Beim Arzt“, sagte er wahrheitsgemäß. „Beim Arzt?“, wiederholte sie zweifelnd. „Das soll ich glauben?“ „Du kannst ihn ja anrufen.“ „Und was, in aller Welt, wolltest du bei ihm?“ „Ich wollte mir andere Tabletten holen.“ „Du wolltest dir...“ Sie brach ab. Damit hatte sie anscheinend nicht gerechnet. „Und ich dachte, du geisterst draußen herum, auf der Suche nach Vampiren!“ „Aber Mutti!“, sagte er. „So unvernünftig bin ich nicht!“ Seine Mutter musterte ihn argwöhnisch. „Und du warst wirklich bei Dr. Stöbermann?“ „Ja!“ „Und warum hast du uns nicht Bescheid gesagt? Wir hätten dir die Tabletten holen können.“ „Ich wollte euch nicht stören“, antwortete er listig – Höflichkeit schätzte seine Mutter besonders! „Und frische Luft ist doch gesund. Jedenfalls sagt ihr das immer.“ „Und hast du die Tabletten bekommen?“ „Die Tabletten? N-nein. Herr Stöbermann hatte nämlich noch einen anderen – ähem – Patienten. Aber ich brauch sie gar nicht mehr, weil ich schon fast wieder gesund bin.“ „Eine ziemlich verworrene Geschichte“, meinte die Mutter. „Aber gerade deshalb glaube ich, dass sie stimmt.“ Anton machte ein beleidigtes Gesicht. „Warum sollte sie nicht stimmen? Denkst du, ich lüg dich an?“ Und erlogen war die Geschichte ja wirklich nicht... Anton hatte nur das weggelassen, was seine Mutter nicht wissen sollte! „Wann wollen wir eigentlich losfahren?“, fragte er, um sie abzulenken. Hoffentlich, bevor Herr Stöbermann zur Visite kam!, dachte er. 113
„Gleich nach dem Frühstück“, antwortete die Mutter. „Vati muss am Nachmittag nochmal ins Büro.“ Anton hätte jubeln können! Aber das ließ er seine Mutter natürlich nicht merken. „Schade!“, sagte er mit gespielter Enttäuschung. „Hat es dir denn gefallen?“, fragte sie überrascht. „Ja!“, log er. „Und du hast deine Vampire gar nicht vermisst?“ „Wie – wie meinst du das?“ „Deine komischen Freunde, die immer in Vampirumhängen herumlaufen...“ „Überhaupt nicht!“, versicherte Anton. Wie hätte er sie auch vermissen sollen!, dachte er und musste grinsen. „Wenn das so ist, können wir ja bald wieder Urlaub hier auf dem Bauernhof machen!“ „Von mir aus“, sagte er gleichmütig. Was in der Zukunft lag, war ihm im Augenblick egal! „Nur auf deine Vampirbücher konntest du nicht verzichten!“, bemerkte sie spitz. „Wie meinst du das?“ „In dem kleinen Laden hattest du nichts Eiligeres zu tun, als dir ein Vampirbuch zu kaufen!“ „Ja und?“ „Und von zu Hause hast du dir ‹Gelächter aus der Gruft› mitgebracht!“ „Du musst es ja wissen!“ „Und noch ein Vampirbuch habe ich bei dir entdeckt!“ Anton erbleichte. „So? Welches denn?“ Mit einem siegreichen Lächeln holte sie hinter ihrem Rücken Annas Poesiealbum hervor. „Vampirgedichte!“, sagte sie und betrachtete das Buch voller Abscheu. „Hast du etwa reingeguckt?“, rief Anton entrüstet.
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„Natürlich.“ Sie schlug es auf. „Anna Irmgard von Schlotterstein – ist das ein Mädchen aus deiner Schule? Der Name kommt mir so bekannt vor.“ „Sie... sie ist aus der zweiten Klasse.“ Antons Mutter blätterte weiter. „Ein paar verrückte Namen haben die sich ausgedacht! Wilhelm der Wüste, Ludwig der Fürchterliche... Soll man darüber lachen?“ Kopfschüttelnd las sie: „‹Hab Blut auf den Lippen, ob’s stürmt oder schneit...› Zu meiner Zeit schrieben wir nur schöne Gedichte.“ „Die Zeiten haben sich eben geändert“, sagte Anton, der heilfroh war, dass sie die Gedichte anscheinend nicht ernst nahm. Sie klappte das Buch zu und reichte es Anton. „Und was wirst du schreiben?“ Anton grinste breit: „Wenn du noch eine Mutter hast, so danke Gott und sei zufrieden, nicht allen auf der Erde Rund ist dieses große Glück beschieden.“ Seine Mutter spürte den versteckten Spott, mit dem er das Gedicht aufsagte. Sie stand auf. „Du bist wirklich schon fast wieder gesund!“, sagte sie verärgert und ging aus dem Zimmer. Anton warf noch einen Blick auf das Poesiealbum. Aber er war zu müde, um über einen Spruch nachzudenken. Das konnte er morgen tun – während der Rückfahrt!
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Arbeitsteilung Zum Frühstück brachte Anton seinen Koffer und die Schultasche, in der er seine Vampirbücher und den Umhang versteckt hatte, mit herunter. Annas Poesiealbum trug er ganz offen unter dem Arm – das brauchte er jetzt nicht mehr zu verbergen! Im Esszimmer traf er seine Mutter. Sie saß am Tisch, hatte eine Tasse Kaffee vor sich stehen und unterhielt sich mit den beiden Frauen. „Heute Nacht haben wir zum ersten Mal richtig fest geschlafen“, sagte die eine Frau. Die andere ergänzte: „Es war himmlisch ruhig! Schade, dass Sie ausgerechnet jetzt abreisen müssen.“ „Wirklich, sehr schade!“, bemerkte Anton. „Anton hat seine schlechte Meinung über Bauernhöfe gründlich geändert“, verkündete die Mutter stolz. „Nicht wahr, Anton, es hat dir doch Spaß gemacht?“ „Und wie!“, sagte er – ziemlich gefahrlos, denn durch das Fenster konnte er seinen Vater sehen, der das Auto belud. „Leider sind seine Schulferien schon wieder zu Ende“, sagte die Mutter. „Leider!“, stimmte ihr Anton aus vollem Herzen zu. Dann fiel ihm etwas ein: „Darf ich überhaupt zur Schule gehen?“ „Warum nicht?“ „Ich bin doch krank.“ „Du bist noch immer krank? Dann müssen wir doch auf Dr. Stöbermann warten.“ „S-soo krank nun auch nicht!“, versicherte er hastig. „Eigentlich bin ich vollkommen gesund!“ Das stimmte zwar nicht – aber er wollte nicht noch einmal mit Herrn Stöbermann zusammentreffen!
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„Ich kann sogar meinen Koffer allein zum Auto tragen. Und die Tasche dazu.“ Damit raffte er sein Gepäck an sich und verließ schnell das Zimmer – bevor sie ihn daran erinnern konnte, dass er überhaupt noch nichts gegessen hatte. Er stellte seinen Koffer neben das Auto. „Fahren wir bald?“, fragte er. „Du kannst es wohl nicht mehr erwarten!“, grinste sein Vater. „Im Gegenteil“, sagte Anton. In der Gewissheit, dass es sich doch nicht verwirklichen ließ, fügte er keck hinzu: „Von mir aus können wir noch eine Woche bleiben.“ Das schien sein Vater sogar zu glauben! „Leider muss ich heute Nachmittag ins Büro gehen“, erklärte er. „Deshalb müssen wir gleich losfahren – sobald ich fertig bin.“ Na bitte!, dachte Anton. „Kann ich dir noch helfen?“, fragte er fröhlich. „Du kannst Mutti Bescheid sagen.“ An der Haustür kam ihm seine Mutter entgegen. „Schau mal, was Johanna gefunden hat!“, sagte sie und zeigte Anton einen Hut, den sie in der Hand hielt. „Sieht er nicht genauso aus wie deiner? Der gleiche Filz, die gleiche grüne Feder...“ Anton versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Doch, ja, sehr ähnlich –“ Natürlich war es sein eigener Hut – der, den der kleine Vampir verloren hatte! „Wo hat sie ihn gefunden?“, fragte er. „Bei den Pferden, glaube ich. Komisch – es könnte wirklich dein Hut sein.“ Mit diesen Worten hängte sie ihn an die Garderobe. „Wollen wir ihn nicht lieber mitnehmen?“, sagte Anton. „Falls mein Hut mal wegkommt...“
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Sie sah ihn überrascht an. „Ich dachte, du magst keine Tirolerhüte?“ „Doch. Vor allem im Winter –“ Keine sehr überzeugende Erklärung, das merkte er selbst. „Ein Hut genügt!“, entschied seine Mutter daher auch. „Außerdem gehört er uns nicht. Der Eigentümer wird ihn schon abholen.“
„Wie du meinst!“, sagte Anton wütend. Dann war es eben ihre Schuld, wenn er beim nächsten Besuch seiner Oma den Tirolerhut, den sie ihm geschenkt hatte, nicht vorzeigen konnte! Um sie zu ärgern, sagte er: „Übrigens – warum lässt du Vati die ganze Arbeit allein machen? Du bist doch sonst immer für Arbeitsteilung!“ Sie sah ihn giftig an. „Ausgerechnet du musst das sagen!“ 118
Er grinste. „Ich bin ja auch nicht für Arbeitsteilung – sondern du“, erklärte er und ging mit hocherhobenem Kopf zum Auto. Dort warteten schon Frau Hering und Johanna. „Wie schön, dass es dir bei uns gefallen hat“, sagte Frau Hering, ohne ihn auch nur gefragt zu haben. Sie sah Johanna an. „Und wir freuen uns, wenn du bald einmal wiederkommst – nicht wahr?“ Johanna nickte, dann errötete sie. „Und Hermann wird sich auch freuen“, meinte Frau Hering. „Er ist heute nur mit meinem Mann zum Einkaufen gefahren.“ „Wenn Ihre Kinder Lust haben, uns zu besuchen, sind sie herzlich eingeladen“, sagte Antons Mutter – ebenfalls, ohne ihn gefragt zu haben! „O ja!“, freute sich Johanna. „O nein!“, stöhnte Anton. „Was Anton sagt, müssen Sie nicht so ernst nehmen“, erklärte seine Mutter. „Er ist etwas schüchtern. Außerdem hat er heute noch nichts gegessen, dann ist er immer so brummig.“ Damit reichte sie ihm ein in Butterbrotpapier gewickeltes Päckchen. „Hier! Das hab ich eben noch gestrichen. Für unterwegs.“ „Danke“, knurrte er, nahm ein Brot aus dem Papier und biss hinein. So kam er wenigstens nicht in Versuchung, etwas zu erwidern und dadurch das Gespräch noch weiter in die Länge zu ziehen. „Können wir jetzt endlich losfahren?“, fragte er unfreundlich. „Sehen Sie?“, lachte die Mutter. „So brummig ist er, wenn er einen leeren Magen hat.“
Vampire und andere Freunde „Du hast mich unmöglich gemacht“, beschwerte sich Anton, als sie im Auto saßen. 119
„Findest du?“, sagte die Mutter nur und ließ den Motor an. Langsam fuhren sie über den Hof, an Frau Hering und Johanna vorbei, die eifrig winkten. „Stimmt es etwa nicht, dass du brummig warst?“, fragte der Vater. „Ich hatte auch einen Grund dazu!“, verteidigte sich Anton. „Sie einfach einzuladen, ohne mich zu fragen... Nachher sollen sie noch in meinem Zimmer schlafen!“ „Besser als deine Vampirfreunde sind sie allemal“, entgegnete die Mutter. „Und ich denke, es wird Zeit, dass du dir neue Freunde suchst.“ „Ich aber nicht!“, sagte Anton trotzig. Insgeheim fand er, dass sie vielleicht sogar Recht hatte. Der kleine Vampir hatte sich wirklich nicht wie ein Freund benommen! Anton brauchte nur daran zurückzudenken, wie sie gemeinsam den Sarg zum Bauernhof geschafft hatten und wie sich der Vampir am Ende nicht einmal bedankt hatte! Oder wie Anton ihm bei den Leuten, die auf ihre Berliner Ferienkinder warteten, fast das Leben gerettet hatte und der Vampir ihn dafür nur beschimpft hatte – anstatt froh und dankbar zu sein! Oder wie der Vampir, als es um Jörg den Aufbrausenden ging, einfach die Tatsachen verdrehte, um Anton die Schuld geben zu können! Man musste ihm zwar zugute halten, dass er als Vampir ein härteres Leben führte und deshalb mehr auf seinen eigenen Vorteil bedacht sein musste als ein Mensch – und trotzdem! Freundschaft bedeutete, dass man nicht nur an sich dachte, sondern auch mal an den anderen... So wie Anna! Während er bei dem Gedanken an Rüdiger nur Wut und Enttäuschung spürte, wurde ihm bei dem Gedanken an Anna ganz warm...
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Er schlug das Poesiealbum auf und las nacheinander noch einmal alle Gedichte. Als er auf die Seite kam, wo in Annas kindlicher Schrift Anton stand, wusste er plötzlich, was er schreiben sollte. „Habt ihr einen Stift?“, fragte er. Sein Vater gab ihm einen Kugelschreiber, und er schrieb: Der braune Bär lebt in Sibirien, in Afrika, da haust das Gnu, das schwarze Schwein lebt in Sizilien, in meinem Herzen haust nur du! Zur Erinnerung an deinen Freund Anton Das Wort Freund unterstrich er zweimal. Dann lehnte er sich zufrieden und erleichtert zurück. Bestimmt würde auch der kleine Vampir sein Gedicht lesen – und sich ordentlich ärgern! Und vielleicht würde er sogar ein bisschen nachdenklich werden? Antons Mutter hatte ihn durch den Innenspiegel beobachtet. „Dieses Poesiealbum mit seinen albernen Sprüchen zeigt doch nur, dass es nicht die richtigen Freunde für dich sind!“, meinte sie, und der Vater fragte: „Wann warst du eigentlich das letzte Mal beim Handballtraining?“ Anton zögerte. „Vor einem halben Jahr.“ „Willst du nicht wieder hingehen? Es hat dir doch immer Spaß gemacht!“ „Hm –“ „Und was ist mit deinem Freund Ole?“, sagte die Mutter. „Wolltest du nicht mit ihm zu einem Töpferkurs gehen?“ „Doch –“ „Na, siehst du! Und deinen Freunden mit den Vampirumhängen gibst du auf dem schnellsten Weg ihr Album zurück!“ Anton grinste in sich hinein. 121
Wenn das so einfach ginge...! Aber der Gedanke an den Töpferkurs gefiel ihm auf einmal. Man konnte ja auch etwas anderes töpfern als Blumenvasen; zum Beispiel – Vampire!
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