Angela Sommer-Bodenburg
Der kleine Vampir
und die
große Verschwörung
Bilder von Amelie Glienke
Rowohlt Taschenbu...
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Angela Sommer-Bodenburg
Der kleine Vampir
und die
große Verschwörung
Bilder von Amelie Glienke
Rowohlt Taschenbuch Verlag 2
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg, September 2000
Copyright © 2000 by Rowohlt Taschenbuch
Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Neu illustrierte Fassung der im Verlag C. Bertelsmann
erstmals erschienenen Ausgabe
Umschlagillustration Amelie Glienke
Umschlaggestaltung Barbara Hanke
Rotfuchs-Comic Jan P. Schniebel
Copyright © 2000 by Rowohlt Taschenbuch
Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Alle Rechte an dieser Ausgabe vorbehalten
Satz Adobe Garamond PostScript
(PageOne)
Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 3 499 21.137 8
Die Schreibweise entspricht den Regeln
der neuen Rechtschreibung.
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Dieses Buch ist
für Burghardt Bodenburg,
der das Fliegen gerade gelernt hat, und für die große,
verschworene Vampir-Gemeinde.
Angela Sommer-Bodenburg
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Die Personen dieses Buches Anton liest gern aufregende, schaurige Geschichten. Besonders liebt er Geschichten über Vampire, mit deren Lebensgewohnheiten er sich auskennt.
Antons Eltern glauben nicht recht an Vampire. Antons Vater arbeitet im Büro, seine Mutter ist Lehrerin.
Rüdiger, der kleine Vampir, ist seit mindestens 150 Jahren Vampir. Dass er so klein ist, hat einen einfachen Grund: Er ist bereits als Kind Vampir geworden. Seine Freundschaft mit Anton begann, als Anton wieder einmal allein zu Hause war. Da saß der kleine Vampir plötzlich auf der Fensterbank. Anton zitterte vor Angst, aber der kleine Vampir versicherte ihm, er habe schon «gegessen». Eigentlich hatte sich Anton Vampire viel schrecklicher vorgestellt, und nachdem ihm Rüdiger seine Vorliebe für Vampirgeschichten und seine Furcht vor der Dunkelheit gestanden hatte, fand er ihn richtig sympathisch. Von nun an wurde Antons ziemlich eintöniges Leben sehr aufregend: Der kleine Vampir brachte auch für ihn einen Umhang mit, und gemeinsam flogen sie zum Friedhof und zur Gruft Schlotterstein. Bald lernte Anton weitere Mitglieder der Vampirfamilie kennen:
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Anna ist Rüdigers Schwester – seine «kleine» Schwester, wie er gern betont. Dabei ist Anna fast so stark wie Rüdiger, nur mutiger und unerschrockener als er. Auch Anna liest gern Gruselgeschichten.
Lumpi der Starke, Rüdigers großer Bruder, ist ein sehr reizbarer Vampir. Seine mal hoch, mal tief krächzende Stimme zeigt, dass er sich in den Entwicklungsjahren befindet. Schlimm ist nur, dass er aus diesem schwierigen Zustand nie herauskommen wird, weil er in der Pubertät Vampir geworden ist.
Tante Dorothee ist der blutrünstigste Vampir von allen. Ihr nach Sonnenuntergang zu begegnen kann lebensgefährlich werden.
Die übrigen Verwandten des kleinen Vampirs lernt Anton nicht persönlich kennen. Er hat aber ihre Särge in der Gruft Schlotterstein gesehen.
Friedhofswärter Geiermeier macht Jagd auf Vampire.
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Schnuppermaul kommt aus Stuttgart und ist Friedhofsgärtner.
Jürgen Schwartenfeger ist Psychologe. Antons Mutter hofft, dass er Anton von seiner «Fixierung» auf Vampire heilt. Was sie nicht wissen kann: Herr Schwartenfeger ist selbst brennend an Vampiren interessiert, weil er ein Lernprogramm gegen besonders starke Ängste – wie die Angst der Vampire vor dem Sonnenlicht – entwickelt hat.
Igno von Rant ist der erste Patient von Herrn Schwartenfeger, der an dem Lernprogramm teilnimmt. Anton fragt sich, ob es sich bei ihm tatsächlich um einen Vampir handelt: Igno von Rant sieht zwar wie ein Vampir aus... aber er kommt vor Sonnenuntergang in die Sprechstunde...
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Lauter Nieren Gerade hatte Anton es sich im Bett bequem gemacht und «Die Lady mit dem Silberblick, Vampirgeschichten für Kenner» aufgeschlagen, als es leise und vorsichtig an sein Fenster pochte. Anton sprang auf. So rücksichtsvoll klopfte nur ein Vampir: Anna! Er schob die Vorhänge zur Seite, und wirklich: Auf dem Fenstersims saß Anna. Hastig öffnete er das Fenster. Anna kam ins Zimmer geklettert, begleitet von einer Wolke Mufti Ewige Liebe. «Guten Abend, Anton!», sagte sie und schaute ihn mit einem zärtlichen Lächeln an, bei dem Anton ihre makellos weißen Vorderzähne sehen konnte – und die nun schon recht kräftigen Eckzähne... Ein Schauer überlief ihn. «Hallo, Anna», murmelte er verlegen. «Hast du mich nicht erwartet?», fragte sie mit einem leisen Vorwurf in der Stimme. «D-doch», stotterte er. «Nur... nur nicht so früh.» Er räusperte sich. «Hoffentlich haben meine Eltern dich nicht gesehen.» «Deine Eltern?» Anna blickte zur Tür. «Sie sind nicht hier», sagte Anton. «Sie machen einen Abendspaziergang.» «Einen Abendspaziergang? Wie romantisch!» Anna lachte leise. «Wenn wir beide nicht so viel vorhätten heute Nacht, könnten wir auch einen Abendspaziergang machen, du und ich!» «Wir haben viel vor?», fragte Anton mit leichtem Unbehagen.
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«Ja. Lauter Nieren!» Sie hielt sich die Hand vor den Mund und kicherte. Anton erschrak. Nieren, das klang so nach Blut... Doch Anna beruhigte ihn: «Telefonieren, spionieren, kombinieren!» «Ach so.» Anton atmete auf. «Du willst Johann Holzrock anrufen.» Anna nickte geschmeichelt. «Du hast gut aufgepasst gestern, bei meiner großen Rede vor dem Familienrat! Ja, ich will mich nach dem Sarg von Igno von Rant erkundigen – und was Modell I a bedeutet.» «Das brauchst du gar nicht», platzte Anton heraus. «Das kann ich dir ebenso gut sagen.» «Du?», sagte Anna; aber keineswegs erfreut, sodass Anton seine Redseligkeit schon bereute. Er hustete betreten. «Ich... ich hab gleich heute Morgen ins Telefonbuch geguckt», versuchte er sich zu rechtfertigen. «Ja, und da hab ich ihn gefunden: Johann Holzrock, Erdmöbel, Friedhofsallee 89 stand da – und die Telefonnummer natürlich. Und dann hab ich angerufen.» Anna warf ihm einen finsteren Blick zu. «Das war nicht fair! Du hast doch gestern Nacht mit eigenen Ohren gehört, dass der Familienrat mich beauftragt hat, herauszufinden, was mit Igno von Rants Sarg nicht stimmt. Selbst Lumpi hat gesagt, es wäre ungerecht, wenn er die Nachforschungen führen würde, weil ich es gewesen bin, die Johann Holzrocks Messingschild im Sarg von Igno von Rant entdeckt hat.» «Ich hab gedacht, du wärst damit einverstanden», sagte Anton kleinlaut. «Und außerdem kann ich viel problemloser telefonieren als du», fügte er hinzu. «Eben!», zischte Anna. «Deshalb ist es doppelt ungerecht!» Anton schwieg betreten. Ohne es zu wollen, schien er heute alles falsch zu machen... 9
Doch da hatte er eine Idee: «Der Sargtischler, Johann Holzrock – der hat abends geschlossen. Du würdest jetzt gar keinen mehr ans Telefon bekommen.» «Er hat geschlossen?» «Ja, um sechs macht er seine Sargtischlerei zu, und danach erreichst du nur den Anrufbeantworter», behauptete Anton. «Den Anrufbeantworter?» Anna zuckte mit den Schultern. «Na, dann hätte ich mit dem gesprochen!» Anton unterdrückte ein Grinsen. «Ich glaube, er hätte aber nicht mit dir gesprochen.» Vor allem nicht, wenn Johann Holzrock – wie Anton vermutete – überhaupt keinen Anrufbeantworter besaß!
«Und wieso hätte er nicht mit mir gesprochen?», fragte Anna misstrauisch. «Weil er nur Gespräche annehmen kann», sagte Anton. «Er ist so etwas Ähnliches wie ein Tonband.» «Ein Tonband?»
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«Ja. Der Anrufer soll eine Nachricht auf das Band sprechen. Die hört sich Johann Holzrock am nächsten Morgen an, und dann ruft er zurück.» «Er ruft zurück?», sagte Anna erschrocken. «Aber ich hab doch gar kein Telefon! Und morgens kann ich auch nicht...» «Genau deswegen hab ich es ja übernommen, mit ihm zu telefonieren!», erklärte Anton. «Ach so», murmelte Anna. «Und ich hab geglaubt –» «– dass ich mich einmischen will, stimmt’s?» «Ja. Und dass du wegen Olga angerufen hast – um ihr zu imponieren!» «Wegen Olga?» Fast hätte Anton gelacht! «Bestimmt ist sie inzwischen schon ein paar Mal wieder hier gewesen!», bemerkte Anna und blickte sich im Zimmer um, als suche sie irgendwelche Spuren, die ihre Vermutung bestätigen würden. «Nein!», widersprach Anton energisch. «Nach ihrer Rückkehr ist Olga erst ein einziges Mal in meinem Zimmer gewesen: vor zwei Tagen. Und seitdem nicht mehr.» «Hoffen wir, dass es so bleibt!» Anna seufzte.
Zum Beispiel für... Vampire «Und was hast du nun herausgefunden über Erdmöbel, Modell I a?», fragte sie nach einer Pause. «Also –», begann Anton. «Ich hab bei Johann Holzrock angerufen und gesagt, ich müsste in der Schule ein Referat halten.» «Ein Rad halten?», wiederholte Anna irritiert. «Nein!» Anton hatte Mühe, ernst zu bleiben. «Ein Referat, einen Vortrag – zu dem Thema ‹Was ich einmal werden möchte›.»
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«Aha», machte Anna. Eine tiefe Röte hatte ihr Gesicht überzogen. Dabei war es gar keine Schande, dass sie sich mit den modernen Unterrichtsmethoden nicht auskannte!, fand Anton. «Ich hab Johann Holzrock erklärt, ich würde vielleicht Sargtischler werden wollen», fuhr er fort. «Und dass ich ihm deshalb einige Fragen stellen möchte.» Anna kicherte. «Sargtischler... ganz schön trickreich!» «Ich glaube, er war richtig geschmeichelt, dass sich jemand für seinen Beruf interessierte.» Anton grinste bei der Erinnerung an das Telefongespräch. «Was hat er denn gesagt?», drängte Anna. «Zuerst hab ich mich nach Modell I a erkundigt und herausgekriegt, dass es ein so genannter Truhensarg ist. Außerdem soll es ein besonders preiswerter Sarg sein. Und ‹I a› bedeutet: Es ist das allererste Modell, das Johann Holzrock selbst entworfen hat.» «Sein allererstes Modell? Dann ist er noch nicht lange Sargtischler?» «Genau!», bestätigte Anton. «Das war die nächste Frage, die ich ihm gestellt habe. Er hat seinen Betrieb erst seit einem Jahr. Er findet übrigens, dass man ‹Erdmöbel› sagen soll und nicht ‹Särge›, weil –» Anton brach ab; aus Sorge, Anna zu kränken. Doch sie fragte ungeduldig: «Weil was?» «Nun», er räusperte sich. «‹Särge› findet er abschreckend, wählend ‹Erdmöbel›, das würde modern klingen, frisch, sauber und hygienisch.» «Frisch, sauber und hygienisch?» Anna lachte verächtlich. «Das ist ja der reinste Hohn! Wenn ich nur an Igno von Rants Sarg denke, wird mir schon schlecht – wie der voller Harz ist, total klebrig, und wie der ätzend riecht!»
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«Allerdings!», stimmte Anton ihr zu. «Und darum bleibt es auch äußerst verdächtig, dass Igno von Rant sich gerade dieses Modell I a gekauft hat.» «Hierfür gibt es nur zwei Erklärungen», meinte Anna. «Entweder, er leidet unter totaler Geschmacksverirrung –» In gewisser Weise traf das durchaus zu!, schoss es Anton durch den Kopf: Immerhin hatte Igno von Rant sich ausgerechnet in Tante Dorothee verliebt und wollte sogar mit ihr in der Gruft Schlotterstein probeweise zusammen ‹leben›! «– oder aber er ist entsetzlich geizig», ergänzte Anna. «Geizig? Du meinst, weil er einen billigen Sarg gekauft hat?» «Ja. Kein Vampir, der etwas auf sich hält, würde sich so einen Sarg antun – außer, er würde an furchtbarem Geiz leiden! Stell dir mal vor, wie ein Kiefernholzsarg nach fünfzig Jahren aussieht – falls er bis dahin nicht längst auseinander gebrochen ist. Nein, ein Vampirsarg muss aus dem besten Holz gemacht werden, damit er Jahrhunderte überdauern kann, wie unsere von-Schlotterstein-Särge: Die bestehen aus dem feinsten Holz der transsylvanischen Mooreiche!» «Tatsächlich?», sagte Anton und dachte an die neun Vampirsärge in der Gruft Schlotterstein. Dass sie aus besonders wertvollem Holz sein sollten, hätte er nie für möglich gehalten! «Vielleicht ist es nur ein Sarg auf Probe», wandte er ein. «Für die Ehe auf Probe!» Nachdrücklich schüttelte Anna den Kopf. «Särge auf Probe gibt es bei uns Vampiren nicht. Nein, Igno von Rant muss wirklich krankhaft geizig sein!» «So geizig ist er mir bisher gar nicht vorgekommen», bemerkte Anton. «Wenn man an die vielen Kleider denkt, die er dir geschenkt hat...» Anna kicherte verlegen. «Ja, mit Kleidern nicht.»
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«Übrigens», sagte Anton, «ich habe Johann Holzrock gefragt, ob er zufällig einen Igno von Rant als Kunden hat.» «Und?» «Er kannte ihn nicht. Mit Ignoranten, die seine preiswerten Erdmöbel nicht zu schätzen wüssten, hätte er öfters zu tun, hat er gesagt. Aber ein Igno von Rant sei ihm noch nicht begegnet.» «Das wundert mich nicht», antwortete Anna. «Kein Vampir würde unter seinem richtigen Namen einen Sarg bestellen.» «Ja, stimmt», sagte Anton. Und er hatte sich eingebildet, etwas Wichtiges herausgefunden zu haben! «Du hättest ihn lieber fragen sollen, ob er auch für ungewöhnliche Kunden arbeitet», sagte Anna. «Zum Beispiel für... Vampire!» «Ist das dein Ernst?» «Wieso nicht?» «Na, weil – ich denke, ihr seid für Geheimhaltung!» «Sind wir ja auch. Aber mit dieser Frage kannst du doch überhaupt nichts verkehrt machen! Wahrscheinlich glaubt er nicht mal an Vampire, wie die meisten Leute. Dann lacht er nur. Wenn er aber doch an Vampire glaubt, erfährst du vielleicht etwas über den Sarg von Igno von Rant – wann Johann Holzrock den getischlert hat, ob er ihn eigenhändig in die Villa Reinblick geliefert hat und so weiter.» «Hm ja», sagte Anton. Dass er nicht selbst darauf gekommen war! «Ich – ich werde ihn gleich morgen früh anrufen!» «Und jetzt sollten wir losfliegen», erklärte Anna. «Losfliegen?» «Ja. Spionieren bei Tante Dorothee und Igno von Rant.» «Ähem –», murmelte Anton. Hinter Tante Dorothee herzuschleichen, fand er nicht sonderlich verlockend. «Meine Eltern kommen gleich wieder. Und wenn sie mich dann nicht in meinem Zimmer finden...»
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«Leg ihnen doch einen Zettel hin», schlug Anna vor. «Schreib drauf, du machst auch einen Abendspaziergang; nein, einen Mondscheinspaziergang.» «Das geht nicht. Ich hab schließlich Windpocken.» «Windpocken? Wo?», fragte Anna und musterte ihn mit gerunzelten Brauen. Anton strich über sein Kinn. «Diese trockenen Krusten. Meine Eltern sagen, die können immer noch ansteckend sein.» «Ansteckend?» Anna machte einen Schmollmund. «Schön wär’s! Ich warte schon seit eineinhalb Wochen sehnsüchtig darauf, dass ich sie endlich auch kriege!» «Wahrscheinlich hast du früher, in Transsylvanien, Windpocken gehabt», meinte Anton. «Nein, das würde ich wissen.» «Oder aber Vampire können grundsätzlich keine Windpocken bekommen!» Kaum hatte Anton das gesagt, ärgerte er sich auch schon über diese wenig zartfühlende Bemerkung. Anna warf ihm einen frostigen Blick zu und fauchte: «Wenn, dann will ich ohnehin nur solche niedlichen roten Pünktchen kriegen, wie du sie am Anfang hattest. Jetzt siehst du eher wie ein schrumpliger Bratapfel aus!» «Ich? Wie ein schrumpliger Bratapfel?», tat Anton empört. Das war Annas Rache für seine Taktlosigkeit! Sie kicherte. «Ja.» Leichtfüßig kletterte sie aufs Fensterbrett. «Ich komme später nochmal wieder», kündigte sie an, und mit einem Abschiedslächeln segelte sie davon.
Johann Holzrock, Erdmöbel Doch Anna kam nicht. Bis kurz vor zwölf hielt Anton sich durch Lesen und Musikhören wach, aber dann war er so müde 15
geworden, dass er unter die Bettdecke kroch und das Licht löschte. In dieser Nacht träumte er von Särgen – Särgen, so lang wie Straßenkreuzer, die Nummernschilder mit der Aufschrift «Johann Holzrock, Erdmöbel, Modell I a» hatten. Als er am nächsten Morgen aufwachte, stand ihm das Bild dieser Riesensärge noch lebhaft vor Augen, und plötzlich reizte es Anton, mit Johann Holzrock nicht nur zu telefonieren, sondern in die Tischlerei zu gehen und sich die verschiedenen Sargtypen einmal anzusehen. Doch ein besorgter Blick auf den Wecker zeigte Anton, dass er für ein solches Vorhaben eigentlich viel zu lange geschlafen hatte: noch zwei Stunden, bis seine Mutter aus der Schule zurückkommen würde... Gut, dann musste er sich eben beeilen! Anton zog sich an, nahm ein leeres Schreibheft und einen Bleistift, und ohne sich mit Frühstücken aufzuhalten, verließ er die Wohnung. Aus dem Keller holte er sein Rad und fuhr los. Dabei war es ihm ganz egal, ob Frau Miesmann ihn beobachtete oder nicht – immerhin hatten ihm seine Eltern erlaubt, an die frische Luft zu gehen; unter der Bedingung, dass er sich von anderen Kindern fern hielt. Und Johann Holzrock war dem Kindesalter ja wohl entwachsen! Anton fuhr geradewegs zum Friedhof. Vor der Eingangspforte stieg er ab und schob sein Rad. Wie er von früheren Friedhofsbesuchen wusste, führte die «Friedhofsallee» direkt am Friedhof entlang. Von Anton aus gesehen auf der rechten Straßenseite erhob sich die weiß gestrichene Friedhofsmauer, auf der linken Seite standen Häuser, kleine und größere, in denen verschiedene Geschäfte waren: Blumenläden, Gärtnereien, Lokale für Trauergesellschaften – ja, und Sargtischlereien. Während Anton sein Rad langsam neben sich herschob, kam er an drei Tischlereien vorbei, bis er, fast schon am Ende der 16
Friedhofsallee, ein unscheinbares graues Haus erreichte, an dessen Fassade ein sehr neu aussehendes Schild prangte. «Johann Holzrock, Erdmöbel aus eigener Werkstatt» las er. An das Haus angebaut war eine Art Garage – bestimmt die Werkstatt! Durch die unglaublich staubigen Fenster erkannte Anton schemenhaft Bretter. Noch zögerte er, ob er wirklich hineingehen sollte – da wurde die Tür zur Werkstatt geöffnet, und ein untersetzter Mann mit kurzem rotblondem Haar und einem Schnauzbart trat heraus. Er trug einen staubigen Overall. Sein Alter schätzte Anton auf vierzig oder fünfzig. Anscheinend wollte der Mann zu dem grauen Lieferwagen gehen, der vor dem Haus parkte. Aber nun fiel sein Blick auf Anton. «Willst du zu mir?», fragte er, sichtlich überrascht. Anton hustete. «Ich – bin der Junge, der das Referat halten soll.» «Ach so!» Die Miene von Johann Holzrock – denn nach der Stimme zu urteilen, war er es – hellte sich auf. «Komm doch näher! Ich wollte zwar gerade wegfahren, aber für dich nehme ich mir natürlich Zeit. Man muss sich schließlich um seinen Berufsnachwuchs kümmern!» Anton stellte sein Rad an die Hauswand und holte das Schreibheft vom Gepäckträger. «Du bist aber gut vorbereitet», lobte Johann Holzrock. «Extra schulfrei bekommen, wie?» «Schulfrei? Nicht direkt –» Anton zögerte. «Hatten Sie schon Windpocken?» «Ja, im Kindergarten.» Der Sargtischler lachte. «Hast du etwa Windpocken? Du siehst doch ganz normal aus!» «Sie sind am Abheilen», sagte Anton. «Aber für mein Referat sind die Windpocken gut», meinte er dann listig. «Jetzt habe ich wenigstens Zeit, mich über meinen Wunschberuf gründlich zu informieren.» Er blickte zur Tür. 17
«Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich gern ein bisschen bei Ihnen umsehen. Es wäre nämlich wichtig, dass ich mir ein genaues Bild von den verschiedenen Sarg-, äh, Erdmöbeltypen machen kann.» «Die verschiedenen Typen? Ich fürchte, da werde ich dir nicht weiterhelfen können!» «Nicht?» «Nein. Ich habe zurzeit nur Modell I a vorrätig. An Modell I b baue ich noch», erklärte Johann Holzrock. «Aber du kannst dir Modell I a gern anschauen», fügte er hinzu, als er Antons enttäuschtes Gesicht sah. «Vorausgesetzt, du hast keine Bedenken, staubige Kleider zu bekommen.» «Staub macht mir nichts aus», versicherte Anton – sehr voreilig, wie er gleich darauf merkte. «Ein künftiger Tischler sollte sich auch frühzeitig an Staub und Hobelspäne gewöhnen», pflichtete Johann Holzrock ihm bei. Schwungvoll öffnete er die Tür zur Werkstatt und trat ein. Anton folgte ihm – und bekam einen grässlichen Hustenanfall: Durch die Luftbewegung war der feine Holzstaub aufgewirbelt worden, sodass er nun wie eine dichte Wolke im Raum stand. Es schien Minuten zu dauern, bis sich der Staub gelegt hatte und Anton einigermaßen klar sehen konnte, wo er überhaupt war.
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Ein modernes Gruselmärchen Das Erste, was ihm auffiel, war die Hobelbank in der Mitte der Werkstatt. Dann wanderte sein Blick hinüber zu den großen braunen Särgen, die hochkant an der Wand lehnten. Trotz der dicken Staubschicht erkannte Anton, dass es die gleichen Modelle waren wie der Sarg von Igno von Rant, den er in der Villa Reinblick untersucht hatte. Er spürte, wie sein Herz laut und schnell klopfte, und wusste selbst nicht genau, warum; der Anblick von Särgen stellte für ihn schließlich nichts Ungewöhnliches mehr dar! Aber vielleicht war es das Gefühl, dem Geheimnis von Igno von Rant einen Schritt näher gekommen zu sein... Ansonsten bot die Werkstatt nicht viel Aufregendes: Raspeln, Feilen, Sägen, Hammer, eine Kreissäge, Farbdosen, Leimtöpfe, Pinsel – und sogar einen großen Reisigbesen, den Johann Holzrock allerdings selten zu benutzen schien, wenn man den zentimeterhoch mit Hobelspänen bedeckten Boden betrachtete. Anton musste wieder husten. «Glaubst du, dass du dein Referat nun besser schreiben kannst?», erkundigte sich Johann Holzrock. «Mein Referat? Ich – ich hab noch ein paar Fragen.» Hastig zückte Anton sein Heft. «Dieses Modell I a – Sie haben am Telefon gesagt, dass es ein besonders preiswerter Sarg sein soll.» «Ja, leider ist der Trend zum Billigsarg nicht mehr aufzuhalten», antwortete Johann Holzrock und verzog den Mund zu einem bedauernden Lächeln. «Weißt du, früher hatten die Leute eine ganz andere Einstellung zu ihren Särgen. Auf dem Lande zum Beispiel, wo ich aufgewachsen bin, da kauften sich die Leute, sobald sie einiges Geld gespart hatten, einen besonders schönen Sarg. Der stand dann auf ihrem Dachboden, bis er gebraucht wurde. Aber heute –» Er seufzte. «Mit meinem 20
Modell I a habe ich jedenfalls versucht, einen Kompromiss zu finden.» Johann Holzrock trat an einen der Särge und wischte etwas von der Staubschicht ab. «Einerseits ist es ein sehr preiswertes Erdmöbel, andererseits spiegelt es aber auch ein Stück guter alter Tischlertradition.» Und indem er beinahe zärtlich über das Holz strich, fragte er Anton: «Sag selbst: Sieht mein Modell I a nicht sehr gediegen aus?» «Gediegen?» «Ja! So, wie die Särge früher waren – nur dass es eben nicht mehr teures Eichenholz ist, sondern Kiefer.» «Eichenholz–» Anton merkte, wie ihm der Bleistift in der Hand zitterte. «Hat man früher auch Särge aus... Mooreiche gemacht?» «O ja», bestätigte Johann Holzrock. «Aber die waren dann außergewöhnlich teuer und haltbar.» Außergewöhnlich... genau das richtige Stichwort für Anton! Er blickte angestrengt in sein Heft – für den Fall, dass er bei der Frage, die er nun stellen wollte, rot werden würde: «Haben Sie auch manchmal außergewöhnliche Kunden?» «Wie meinst du das?» «Also, es ist so –» Anton hustete. «Unsere Lehrerin hat gesagt, ein Referat dürfte nicht zu trocken und zu langweilig sein. Und deshalb sollten wir ein paar Geschichten aus dem Leben einfließen lassen.» «Ein sehr vernünftiger Standpunkt», bemerkte Johann Holzrock. «Ich mag auch keine öden Vorträge. Nur, ob ich solche Geschichten beisteuern kann...» «Aber die passieren doch überall», sagte Anton nachdrücklich. «Wenn zum Beispiel ein Kunde kommt, der irgendwie komisch aussieht, ganz blass, und der komisch riecht!»
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Bei diesen Worten hatte er den Sargtischler scharf ins Auge gefasst. Doch Johann Holzrock wirkte kein bisschen überrascht oder beunruhigt. «Der komisch aussieht?», wiederholte er und zwirbelte an seinem Schnauzbart. «Na, wenn ich mich darum auch noch kümmern würde!» «Außerdem», fügte er hinzu, «meistens sind es die Angehörigen, die zu mir kommen.» Anton biss sich auf die Lippen. Jetzt musste er aufs Ganze gehen! «Und Vampire?», fragte er. «Hat schon mal ein Vampir bei Ihnen einen Sarg – äh, ein Erdmöbel bestellt?» «Ein Vampir?», sagte Johann Holzrock und lachte wie über einen guten Witz. «Ich glaube nicht.» «Heißt das, es könnte durchaus sein?», fragte Anton mit vor Aufregung heiserer Stimme. «Na ja –», meinte Johann Holzrock, der offenbar noch immer an einen Scherz glaubte. «Niemand kann in seine Mitmenschen hineinsehen. Du könntest doch auch ein Vampir sein!» «Ich bestimmt nicht», erwiderte Anton mit fester Stimme. Dabei zerbrach er sich den Kopf, wie es ihm gelingen könnte, Johann Holzrock die Informationen zu entlocken, die er brauchte. «Liefern Sie die Erdmöbel immer direkt zum Friedhof?», fragte er nach kurzem Überlegen. «Nein, meistens liefere ich sie ins Haus», antwortete Johann Holzrock. «Und haben Sie auch schon mal in eine alte gruselige Villa geliefert?» «In eine alte gruselige Villa?» Johann Holzrock schmunzelte. «Langsam bekomme ich den Eindruck, dass du gar kein Referat schreiben sollst, sondern ein Märchen, ein modernes Gruselmärchen.»
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Anton merkte, dass er rot geworden war. Um seine Verlegenheit zu überspielen, machte er eifrig Notizen in seinem Heft. Da hörte er Johann Holzrock sagen: «Aber ich habe tatsächlich schon einmal in eine alte gruselige Villa geliefert.» Anton horchte auf. «In eine Villa mit zugenagelten Fenstern und Türen?» «Zugenagelt? Nein! Für drei alte Damen gibt es doch nichts Aufregenderes, als den ganzen Tag am Fenster zu sitzen und zu verfolgen, was draußen vor dem Haus passiert!» «Drei Damen wohnen in der Villa?» «Zwei», verbesserte Johann Holzrock, «jetzt sind es nur noch zwei.» «Dann liegt die Villa wohl auch nicht in der Straße zum Sportplatz?», fragte Anton, um sicherzugehen, dass es nicht die Villa Reinblick sein konnte. «Nein, sie liegt am entgegengesetzten Ende der Stadt», antwortete Johann Holzrock.
Aus dem Leben eines Sargtischlers «Aber was deine Frage von vorhin betrifft –», fuhr er fort, «mir ist doch noch eine Geschichte für dein Referat eingefallen; eine Geschichte, mitten aus dem Leben eines Sargtischlers gegriffen!» «Von einem Kunden, der blass war und komisch roch?» Anton hatte Mühe, seine Erregung zu unterdrücken. «Blass war er», bestätigte Johann Holzrock. «Aber ein komischer Geruch ist mir an ihm nicht aufgefallen. Na ja, bei den vielen Farbdämpfen und Leimdünsten hier –» Er machte eine Bewegung mit den Armen. «Stimmt.» Anton hüstelte.
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«Der Mann war außergewöhnlich sparsam, um nicht zu sagen: geizig», berichtete Johann Holzrock. «Geizig?» «Allerdings! Stell dir vor: Er wollte auf die Schrauben für sein Erdmöbel verzichten und dadurch einen Preisnachlass von zwanzig Mark heraushandeln.» «Er hat auf die Schrauben verzichtet?», staunte Anton. «Braucht man die nicht, um den Sarg – äh, das Erdmöbel richtig zu verschließen?» «Unbedingt. Aber er hat gesagt, er hätte schon viel zu viele Schrauben zu Hause. Er ist auch der erste Kunde gewesen, der behauptet hat, mein Modell I a sei überteuert. Dabei wirst du in dieser Stadt kaum ein preiswerteres Modell finden!» Um zu zeigen, wie sehr ihn diese Unterstellung des Kunden auch heute noch entrüstete, schlug Johann Holzrock mit der Faust gegen einen der Särge, was eine weitere Staubwolke zur Folge hatte. «Und dann als Doktor!», setzte er grimmig hinzu. «Als Doktor?», wiederholte Anton. «Ja, ein Doktor Gans von der Universität. So ein studierter Mann muss doch einen Haufen Geld verdienen! Und der sagt mir, mein Modell I a wäre zu teuer!» «Dieser Doktor Gans», fragte Anton vorsichtig, «wie sah er ungefähr aus?» «Sehr groß und spindeldürr», antwortete der Sargtischler unwirsch. «Groß und spindeldürr?», murmelte Anton. Demnach konnte sich hinter «Doktor Gans» schwerlich Igno von Rant verbergen! «Und sonst?», forschte er – in der Hoffnung, vielleicht doch noch ein paar brauchbare Hinweise zu bekommen. «Ich hab ihm den Preisnachlass gegeben – und die Schrauben!», knurrte Johann Holzrock. «Schließlich will ich mir nicht nachsagen lassen, ich sei geizig.» 24
Mit finsterer Miene fügte er hinzu: «Das Auto von diesem Doktor hättest du mal sehen müssen: ein giftgrüner Kombiwagen, der schon fast auseinander fiel! Natürlich wollte er sein Erdmöbel auch selbst abholen und hat gefragt, ob Selbstabholer Rabatt bekämen.» Er schnaubte erbost durch die Nase. «Seine Tante kann froh sein, dass sie tot ist – bei so einem Geizkragen von Neffen!» Johann Holzrock hatte sich richtig in Rage geredet. «Der Sarg war für seine Tante?», fragte Anton – enttäuscht, dass es nicht wenigstens ein Onkel war; denn der hätte – vielleicht – Igno von Rant sein können. Johann Holzrock nickte finster. «Ja. Und ich möchte wetten, die Tante hat ihm eine dicke Erbschaft hinterlassen. Aber dieser Neffe gönnt ihr noch nicht mal die passenden, stilgerechten Schrauben für ihr Erdmöbel!» Eine Pause entstand. Anton blickte auf die staubigen Särge und überlegte. Schließlich unternahm er einen letzten Versuch: «Und Sie können sich wirklich nicht an einen Kunden mit dem Namen Igno von Rant erinnern?» «Nein, den Namen hab ich das erste Mal von dir gehört», erklärte Johann Holzrock. «Dann... möchte ich mich bedanken und –» «– und mir hoffentlich bald das fertige Referat zu lesen geben!», ergänzte Johann Holzrock. «Das Referat?» Anton sah in sein Heft. Zwei Seiten hatte er mit mehr oder weniger überflüssigen Notizen und Skizzen gefüllt. «Jetzt muss ich aber gehen», sagte er und wandte sich zur Tür. «Viel Glück für dein Referat», rief Johann Holzrock ihm nach. «Ich würde dir schon jetzt eine Eins geben – bei den intelligenten Fragen, die du gestellt hast!»
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Intelligente Fragen? dachte Anton zweifelnd, als er sich auf sein Fahrrad schwang. Zufrieden mit dem, was er herausgefunden hatte, war er keinesfalls. Blieb nur die Hoffnung, dass Anna es geschafft hatte, mehr zu erfahren!
Der Ältestenrat Doch an diesem Abend wartete Anton vergeblich auf Anna. Wenn er nur hätte sagen können, ob er Annas Fernbleiben als gutes oder als schlechtes Zeichen deuten sollte... Bedrückt ging er schließlich ins Bett. Zuerst gelang es ihm nicht, einzuschlafen. Immer wieder blickte er mit Herzklopfen zum Fenster, doch jedes Mal sah er nur den Nachthimmel und ein paar Sterne. Als es an der Scheibe pochte, war Anton gerade in einen unruhigen Schlaf gefallen, und so dauerte es eine Weile, bis er zu sich kam. Aber dann sprang er aus dem Bett. Er lief zum Fenster und riss es auf. Erleichtert wollte er «Anna» rufen – da erkannte er im letzten Augenblick, dass der kleine Vampir draußen auf dem Fenstersims saß. «Hallo, Anton», sagte der kleine Vampir mit knarrender Stimme. «Du siehst ja ganz verdattert aus!» «Ich – ich habe geträumt», stotterte Anton. «Ich weiß auch, wovon du geträumt hast», meinte der kleine Vampir und kletterte ins Zimmer. «Von unserer festlichen Ausstellungs-Eröffnung, die am Montagabend – also in fünf Nächten – hier bei dir über die Sargbretter gehen wird!»
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«Wie bitte?», sagte Anton, einigermaßen fassungslos. «Du hast dich nicht verhört», kicherte der kleine Vampir. Er trat an den Schreibtisch und schaltete die Lampe ein. Dann drehte er den Schirm, sodass ihr Licht auf die Sonnenbilder fiel, die an den Wänden hingen. «Meine Gemälde sind wirklich sehr eindrucksvoll», lobte er sich selbst. «Vor allem, wenn man sie längere Zeit nicht gesehen hat. Wie stark werden sie erst auf Olga wirken, die sie noch nie gesehen hat!» Um ein Haar hätte Anton erwidert, dass Olga sie sehr wohl gesehen hatte, und zwar erst vor wenigen Tagen, als sie völlig überraschend bei Anton aufgetaucht war. Olga hatte sich nur abfällig über die Sonnenbilder geäußert, die Rüdiger unter der Anleitung von Herrn Schwartenfeger gemalt hatte – als Teil des Programms, mit dem der kleine Vampir seine Angst vor den Sonnenstrahlen verlieren sollte.
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Aber da Anton nicht wissen konnte, ob Rüdiger inzwischen von Olgas Rückkehr erfahren hatte, sagte er mit gespieltem Gleichmut: «Olga?» «Das hast du nicht erwartet, wie?» Die Wangen des kleinen Vampirs hatten sich rosig gefärbt. «Zur Verlobung wird Olga wieder bei uns sein!» «Zur Verlobung?» «Allerdings! Am Sonntag werden sich Tante Dorothee und Igno von Rant verloben; in einem feierlichen Rahmen natürlich – und mit Gästen!» «Aber –» Anton schnappte nach Luft. «Der Familienrat hat doch seine Entscheidung aufgeschoben bis – bis Montag. Warum verloben sie sich jetzt nun so plötzlich?» «Plötzlich?», sagte der kleine Vampir schnippisch. «Igno von Rant macht Tante Dorothee schon etwas länger den Hof.» «Aber Annas Bedenken – die Sache mit dem Messingschild –» Anton war so aufgeregt, dass er Mühe hatte, die richtigen Worte zu finden. «Wilhelm der Wüste hat doch gesagt, es müssten erst alle Bedenken ausgeräumt sein!» «Das hat er im Familienrat gesagt. Heute, im Ältestenrat, hat er eine andere Meinung vertreten.» «In welchem Ältestenrat?» «Im Ältestenrat der Familie von Schlotterstein», antwortete der kleine Vampir würdevoll. «Und der hat heute Abend noch einmal über Tante Dorothees Antrag beraten.» «Ja, und?», drängte Anton, als der kleine Vampir eine Pause machte. Rüdiger kicherte. «Du bist ganz schön neugierig, findest du nicht?» «Ja!», gab Anton unumwunden zu. «Der Ältestenrat hat beschlossen, dass sich etwas so Neumodisches wie eine Ehe auf Probe nicht mit unseren guten alten Vampirsitten vereinbaren lässt», erklärte der kleine 28
Vampir hochtrabend. «Und deshalb soll nun eine richtige, unseren Gebräuchen entsprechende Verlobung gefeiert werden, bevor Herr von Rant zu uns in die Gruft ziehen darf. Und bei dieser Verlobungsfeier werden dann in einem Gespräch mit der ganzen Familie – übrigens auch eine alte Vampirsitte – alle Dinge angesprochen, die noch unklar sind.» «Zum Beispiel dein Messingschild!», fügte er barsch hinzu. «Mein Messingschild?», wiederholte Anton. «Es ist Annas Entdeckung gewesen! Außerdem hat sie offiziell vom Familienrat den Auftrag erhalten, Nachforschungen über Igno von Rants Sarg anzustellen.» «Hatte», korrigierte der kleine Vampir. «Seit heute Abend ist der Auftrag hinfällig.» «Weiß Anna das schon?» «Nein, woher auch. Sie war ja nicht dabei. Schließlich ist es kein Kinderspielkreis gewesen, der getagt hat, sondern der Ältestenrat!» «Woher weißt du das alles eigentlich?» «Ich?» Der kleine Vampir reckte das Kinn. «Von Lumpi!» «Ist der etwa im Ältestenrat?» «Ja! Aus jeder Vampirgeneration der Älteste.» «Ach so –», sagte Anton.
Eine schöpferische Pause «Aber jetzt sollten wir endlich anfangen, uns um die Ausstellungs-Eröffnung zu kümmern», knurrte der kleine Vampir. «Sonst sitzen wir noch im Morgengrauen hier.» «Das würde dir doch nichts ausmachen», bemerkte Anton listig. «Du mit deinem Erfolg bei Herrn Schwartenfeger...» Anton hatte das extra eingeworfen – in der Absicht, den kleinen Vampir zu bewegen, ihm zu verraten, wie weit er
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tatsächlich gekommen war. Seine Rechnung schien aufzugehen. Der kleine Vampir zischte: «Erfolg, Erfolg. Das ist nicht das Einzige, was zählt.» «Wie –», sagte Anton verdutzt, «hat das Programm etwa doch nicht gewirkt?» «Na klar hat es gewirkt!», erwiderte der kleine Vampir unwirsch. «Allerdings mache ich im Moment eine schöpferische Pause.» «Eine schöpferische Pause?» «Genau! Rom wurde schließlich auch nicht in einer Nacht erbaut.» Der kleine Vampir lachte heiser. Als er Antons verblüfftes Gesicht sah, fügte er angeberisch hinzu: «Weil ich erst mal abwarten will, wie meine bisherigen Fortschritte auf Olga wirken. Kann ja sein, dass meine Sonnenbilder, mein gelber Trainingsanzug, die Spieluhr, die Sonnenbrille, das Stirnband, mein Buch ‹Die Schöne und der Vampir›, vor allem aber mein neu gewonnenes Selbstbewusstsein, meine gestärkten Nerven – kann doch sein, dass all das schon ausreicht, Olga zu überzeugen, dass ich in der Zeit ihrer Abwesenheit ein anderer geworden bin.» «Ein anderer?», sagte Anton und ergänzte in Gedanken: Schön wär’s! «Jawohl!», bekräftigte der kleine Vampir. «Oder würdest du es mittelmäßig und hasenherzig nennen, dass ich den Mut aufgebracht habe, mich – als Vampir – zu einem Menschen in Behandlung zu begeben?» «Am mutigsten finde ich, wie du andauernd meine Sachen als deine ausgibst!», entgegnete Anton zähneknirschend. «Welche Sachen?» «Na, zum Beispiel ‹Die Schöne und der Vampir›. Das Buch hast du mir einfach weggenommen. Und den Trainingsanzug – den muss ich auch zurückhaben, selbst wenn du ihn abgeschnitten hast; schon wegen meiner Eltern.» 30
«Keine Sorge, du kriegst ja alles wieder – irgendwann», zischte der kleine Vampir. «Aber tausendmal wichtiger als deine komischen Sachen ist Olga – und dass sie ihr negatives Urteil über mich berichtigen muss», fuhr er in schwärmerischem Tonfall fort. «Hasenherzig und mittelmäßig wird sie mich nun bestimmt nicht mehr nennen.» Ein abwesender, verklärter Ausdruck war in seine Augen getreten, den Anton nur allzu gut kannte: Es war das Stadium fortgeschrittener Liebesblindheit! «Und Herr Schwartenfeger?», fragte er. «Was sagt der zu deiner schöpferischen Pause?» «Der Warzenpfleger? Ach, der weiß noch gar nichts davon. Aber jetzt ist es wirklich höchste Zeit, dass wir uns Gedanken über die Ausstellungs-Eröffnung machen! Zuerst müssen wir die Frage der Musik klären.» Der kleine Vampir sah sich mit kritischen Blicken im Zimmer um – so, als wäre er zum ersten Mal hier. «Olga liebt Musik. Aber mit diesem schäbigen Apparat da –» Er deutete auf Antons kleines Radio, das neben dem Bett stand. «Aus diesem Jammerkasten kommt garantiert nur total verzerrtes Gedudel. Und das würde Olgas musikalisches Feingefühl verletzen. Nein, wir brauchen einen richtig guten Plattenspieler und fetzige Platten.» «Fetzige Platten?», sagte Anton spöttisch. Er wusste noch sehr genau, wie Olga sich bei der Transsylvanischen Nacht für die Platte mit den «Heiteren Dorfschwalben» aus KleinOldenbüttel begeistert hatte! «Und ob – dass die Fetzen fliegen!», kicherte der kleine Vampir und knuffte Anton schmerzhaft in die Seite. «Am besten, du schaffst für die Eröffnungsfeier den Plattenspieler aus dem Wohnzimmer rüber!» «Ja, das könnte dir so passen», knurrte Anton.
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«Oder möchtest du lieber, dass wir im Wohnzimmer feiern?», fragte der kleine Vampir ungewöhnlich sanft. «Ich möchte, dass wir überhaupt nicht feiern!», erwiderte Anton. «Ja du!» Der kleine Vampir lachte krächzend. «Aber du bist in diesem Fall nur einer von dreien.» «Zufällig ist dies aber mein Zimmer!», sagte Anton. «Heißt das, du willst nicht, dass die Ausstellungs-Eröffnung bei dir stattfindet?», fragte der kleine Vampir drohend. «Heißt das, du machst Fest-Verweigerung?» Anton nickte. Er versuchte, ganz ruhig zu bleiben, während ihm das Herz bis zum Hals schlug. «Ja!» «So eine Gemeinheit», schnaubte der kleine Vampir. «So eine unfreundschaftliche Gemeinheit!» Er lief zur Wand und begann, in fieberhafter Eile die Stecknadeln zu lösen, mit denen Anton die Bilder in der Tapete befestigt hatte. «Das wird dir noch Leid tun, Anton Bohnsack!», sagte er mit vor Zorn bebender Stimme. «Soll ich dir nicht helfen?», fragte Anton vorsichtig. Halbwegs bereute er seine ablehnende Haltung schon. Vielleicht wäre die Ausstellungs-Eröffnung gar nicht so schlimm geworden... «Ich kann es mir ja nochmal überlegen», machte er ein Versöhnungsangebot. «Zu spät!», erklärte der kleine Vampir mit Grabesstimme. Er hatte das letzte Bild abgenommen, und jetzt ließ er den Stapel unter seinem Umhang verschwinden. Dann stapfte er, ohne Anton auch nur eines Blickes zu würdigen, zum Fenster. Mit einem mächtigen Satz erklomm er das Fensterbrett und segelte grußlos davon.
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Noch ein Stückchen näher Am nächsten Abend klopfte es sehr früh an seinem Fenster. Als Anton öffnete, blickte er in das schneeweiße Gesicht von Anna. Ihr Haar stand wild vom Kopf ab, und sie wirkte sehr aufgeregt. «So eine Unverschämtheit!», schimpfte sie, während sie ins Zimmer kletterte. «Ha, wenn du wüsstest, wie zornig ich bin!» Anton fiel auf, dass sie diesmal kein süßer Rosenduft umhüllte. Sie blieb vor Anton stehen und schüttelte mit grimmiger Miene ihre kleinen Fäuste. Anton, der in den letzten Wochen immer nur eine sanfte, zärtliche Anna erlebt hatte, wich erschrocken zurück. «Und... und weshalb bist du so zornig?», fragte er. «Weshalb?» Sie lachte auf und zupfte an ihren Haarsträhnen. «Weißt du das wirklich nicht?» Anton zögerte. Auf keinen Fall wollte er sie mit einer voreiligen Antwort noch mehr in Wut bringen. Er vermutete zwar, dass Annas Zorn etwas mit dem Beschluss des Ältestenrates zu tun haben musste. Aber in ihrer gereizten Stimmung könnte sie selbst ein harmlos gemeintes Wort in die falsche Kehle bekommen! Ausweichend fragte er: «Bist du auch wütend auf mich?» Zum ersten Mal lächelte Anna. Anton atmete auf. «Nein, du bist der Einzige, auf den ich nicht wütend bin!», sagte sie. «Auf wen bist du dann wütend?» «Auf meine ganze Familie», antwortete sie düster. «Aber am meisten auf meinen Großvater, Wilhelm den Wüsten. Der hängt seinen Vampirumhang nur nach dem Wind!» «Du meinst, weil er im Ältestenrat etwas anderes gesagt hat als im Familienrat?» 33
«Ach, du weißt davon?» «Ja, Rüdiger hat es mir gestern erzählt.» «Im Familienrat hatte mein Großvater überhaupt nichts dagegen, dass ich Nachforschungen anstelle», sagte Anna erbost. «Aber dann, im Ältestenrat, hat er behauptet, ich wäre zu klein für diese Aufgabe. Pah, so ein Unsinn!» Sie sah Anton aus großen Augen an. «Findest du auch, dass ich klein bin?» Anton überlegte, was er antworten sollte. «Klein bist du schon», sagte er. «Aber nicht zu klein – jedenfalls nicht für mich.» Er räusperte sich verlegen. Anna schaute ihn mit einem innigen Lächeln an. «Wie du das gesagt hast, Anton! Wir sind wirklich gute Freunde, und wir kommen uns immer noch ein Stückchen näher!» Obwohl sie bei diesen Worten ganz ruhig stehen blieb, machte Anton doch instinktiv einen Schritt zur Seite; immerhin wusste er, worauf Anna mit dem «Sich-Näherkommen» anspielte! Ihre Miene verdüsterte sich. «Hast du etwa Angst vor mir?», fragte sie. «Nein», versicherte Anton hastig. «Ich–» Er deutete auf die weißen Tapeten. «Ich wollte dir nur aus dem Weg gehen, damit du siehst, dass die Sonnenbilder nicht mehr an der Wand hängen.» «Ach so –» Annas Züge entspannten sich. «Du hast die grässlichen Dinger verschwinden lassen!» Sie kicherte und machte eine Bewegung, als würde sie ein Streichholz anreißen. «Nicht so, wie du denkst», sagte Anton. «Rüdiger hat sie wieder mitgenommen.» «Hoffentlich ist er nicht so dumm, sie in der Gruft aufzuhängen», meinte Anna. «Sind deine Eltern da?», fragte sie nach einer Pause. «Mein Vater sitzt im Wohnzimmer und sieht fern», erklärte Anton. «Meine Mutter hat Elternabend.» 34
«Elternabend? Was ist das?» «Da treffen sich die Eltern mit der Lehrerin oder dem Lehrer und reden über alle möglichen Sachen: was man gegen Schulmüdigkeit tun kann, wie schwer ein Ranzen sein darf, wie viel Hausaufgaben die Kinder machen sollen. Eben moderne Erziehung!» «Moderne Erziehung?», wiederholte Anna. «Oh, zu so einem Abend müssten meine Eltern auch mal gehen.» Mit einem grimmigen Lachen fügte sie hinzu: «Aber noch besser wäre ein Großelternabend für verknöcherte Großväter, die keine Ahnung von den modernen Zeiten haben. Vampirmädchen sind heute nicht mehr so schüchtern und hilflos, wie mein Großvater glaubt!» «Und deshalb», fuhr sie fort, «habe ich mir vorgenommen, heute Nacht etwas zu unternehmen – etwas, das zu einem modernen Vampirmädchen passt!» «Was denn?», fragte Anton neugierig. «Ich habe mir gedacht, dass wir beide in eine Disco gehen.» «Wir?» «Willst du etwa nicht?» «Doch, natürlich», stotterte Anton. «Es ist nur – heute, am Donnerstag, sind alle Discos geschlossen!» «Geschlossen?», sagte Anna enttäuscht. «Oh, ich weiß etwas anderes: Wir gehen ins Kino!», rief sie gleich darauf. «Ins Kino?» Anton sah auf seinen Wecker. «Die Vorstellung hat längst angefangen!» «Dann gehen wir in die Spätvorstellung», rief Anna. Anton setzte eine zerknirschte Miene auf. «Spätvorstellungen finden nur am Wochenende statt, leider.» Anna blickte zur Tür. «Und im Fernsehen?», fragte sie herausfordernd. «Läuft da wenigstens etwas Vernünftiges, zum Beispiel ein schöner Vampirfilm?» «Ein Heimatfilm», antwortete Anton, «aber kein schöner.» 35
«Ah!» Anna presste die Lippen zusammen. «Und ich hatte mir geschworen, dass es ein ganz besonderer Abend werden sollte, nach der Enttäuschung mit dem Ältestenrat!» Sie drehte sich zum Fenster. Nun kehrte sie Anton den Rücken zu. Besorgt musterte er ihre kleine Gestalt – und ihre schmalen Schultern unter dem alten, zerschlissenen Umhang, die in Abständen zuckten. Ob Anna... weinte?
Der giftgrüne Kombiwagen «Also, ich halte den Beschluss des Ältestenrates für falsch», sagte er – nicht nur, um sie zu trösten. «Ich war gestern Morgen bei Johann Holzrock und habe mich persönlich mit ihm unterhalten. Und was er mir da erzählt hat, finde ich ziemlich beunruhigend.» «Was hat er dir denn erzählt?», fragte Anna, ohne ihre Stellung zu verändern. 36
«Dass bei ihm ein ungewöhnlich geiziger Kunde war, der sogar auf die Schrauben für seinen Sarg verzichten wollte, um zwanzig Mark zu sparen. Außerdem soll er gesagt haben, Modell I a wäre überteuert, und das hat Johann Holzrock maßlos empört, weil man in der Stadt kaum ein preiswerteres Modell finden kann; zumindest behauptet er das.» «Und was findest du an diesem Kunden so beunruhigend?», fragte Anna, offenbar wenig beeindruckt. «Na ja –» Anton räusperte sich. «Ich habe schon die ganze Zeit darüber nachgedacht. Zuerst kam es mir auch so vor, als wäre er nur ein x-beliebiger Kunde. Aber dann fiel mir Igno von Rant ein und dass du gesagt hast, er müsste – was seinen Sarg betrifft – unter krankhaftem Geiz leiden.» «Es gibt bestimmt noch mehr Leute, die krankhaft geizig sind», erwiderte Anna. «Und wenn ich dich richtig verstanden habe, war dieser Kunde nicht Igno von Rant!» «Nein, er soll sehr groß und dürr gewesen sein. Und trotzdem – ich werde das Gefühl nicht los, dass eine Verbindung zwischen ihm und Igno von Rant besteht. Er soll übrigens den Sarg auch selbst abgeholt haben, um Geld zu sparen – mit einem giftgrünen Kombiwagen, der fast auseinander fiel.» Anna wandte sich langsam zu Anton um. «Mit einem giftgrünen Kombiwagen, der fast auseinander fiel? Solche Autos sind doch ziemlich selten, oder?» «Ja.» «Letzte Nacht habe ich einen giftgrünen Kombiwagen gesehen», sagte sie. «Und weißt du, wo?» «Nein, natürlich nicht!», erwiderte Anton – irritiert, dass Anna selbst bei dieser Neuigkeit keinerlei Anzeichen von Aufregung erkennen ließ. «Vor der Villa Reinblick», erklärte sie.
«Nein!», entfuhr es Anton.
Nun kam ihm Annas Gefasstheit erst recht seltsam vor!
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Es schien, als wären ihr die Geheimnisse um Igno von Rant gleichgültig geworden... Oder vielleicht wollte sie sich nicht mehr dafür interessieren – aus Verärgerung und Verbitterung über ihre Familie? «Doch», antwortete sie ruhig. «Dann hat mich mein Gefühl nicht getrogen», rief Anton. «Dieser Doktor Gans hat etwas mit Igno von Rant zu tun!» «Wer?» «Doktor Gans; so heißt der Kunde, der auf die Schrauben verzichten wollte. Jedenfalls hat er sich bei Johann Holzrock unter diesem Namen vorgestellt.» «Aha», machte Anna nur. «Und diesen Doktor Gans hast du gestern Nacht vor der Villa Reinblick gesehen?», vergewisserte sich Anton. «Ihn nicht», stellte Anna richtig. «Nur den giftgrünen Kombi. Er fuhr genau in dem Moment ab, als ich von meiner Erkundungstour durch die Villa Reinblick zurückkam.» «Und Igno von Rant, wo war der?» «Mit Tante Dorothee im Park.» «Hast du das Nummernschild erkannt?» «Nein. Außerdem war das Licht beim Kombi nicht eingeschaltet.» «Das Licht war nicht eingeschaltet?» «Nein.» «Aber das macht den Wagen noch verdächtiger!», rief Anton. «Wer nachts ohne Licht fährt, hat unter Garantie etwas zu verbergen!» «Oder kaputte Lampen», bemerkte Anna. Anton musterte sie betroffen. Er hätte erwartet, dass all diese Verdachtsmomente Anna alarmieren und sie von der Dringlichkeit weiterer Nachforschungen überzeugen würden! Aber Anna stand nur da und spielte scheinbar gedankenverloren mit einem Zipfel ihres Umhangs.
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«Der grüne Kombiwagen...», nahm Anton einen neuen Anlauf. «Glaubst du, dass er heute Nacht wieder vor der Villa Reinblick steht?» «Hm, möglich wär’s.» «Wollen wir nicht zusammen hinfliegen und nachsehen?», drängte Anton. Wenigstens hob Anna nun den Kopf. «Hinfliegen?», sagte sie, und um ihre Mundwinkel zuckte es. «Wenn du glaubst, dass ich Lust habe, weiter hinter Igno von Rant herzuspionieren, dann irrst du dich gewaltig – jetzt, wo mir der Ältestenrat derartig in den Rücken gefallen ist!» Und angriffslustig fügte sie hinzu: «Ich will mich heute Abend nur amüsieren und nichts von Problemen hören. Ist das so schwer zu begreifen?» «N-nein», antwortete Anton hastig. «Wir können uns ja auch amüsieren. Ich finde nur, wir müssten uns trotzdem auch um die Sache mit dem grünen Kombi kümmern.» «Und weshalb?» «Weil mehr dahinter stecken könnte – eine große Gefahr für euch alle!» «Tante Dorothees Verlobung wird sowieso gefeiert, ob wir nun etwas über diesen Doktor Gans und seinen Kombiwagen herauskriegen oder nicht», sagte Anna gleichmütig. «Allerdings ohne mich!», ergänzte sie nach einer Pause grimmig. «Ohne dich? Ist das denn erlaubt?», fragte Anton. «Ha!» Anna lachte bitter auf. «Es ist ja auch erlaubt, dass man mich erst beauftragt, die Sache mit dem Schild und dem Sarg zu untersuchen – und mir dann am nächsten Abend den Auftrag einfach wieder wegnimmt. Nein, mir ist die Stimmung für die Verlobungsfeier gründlich verdorben!» Sie schniefte. «Alles hat sich gegen mich verschworen, selbst die Kinos und die Discos!»
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Anton schaute sie betreten an – unsicher, was er sagen sollte. Da näherten sich auf einmal Schritte. «Mein Vater!» Er lief zur Tür.
Wer ist Doktor Gans? «Komm schnell, eine Sendung für dich!», hörte er die Stimme seines Vaters. Anton öffnete – und wäre fast mit seinem Vater zusammengeprallt. Er trat in den Flur hinaus und schloss die Tür hinter sich. «Eine Sendung für mich?», tat er überrascht. «Ist der öde Heimatfilm schon zu Ende?» «Ja, und jetzt geht es um Fledermäuse!» «Fledermäuse? Die sind eigentlich nicht mein Fall.» «Vielleicht werden ja auch ein paar Vampire gezeigt», witzelte Antons Vater. «Also, wenn du Lust hast –» «Hm, glaube ich nicht», sagte Anton. «Na schön, war ja nur ein Vorschlag!» Mit beleidigter Miene stapfte sein Vater davon, und Anton ging rasch wieder in sein Zimmer. Aber wie er schon befürchtet hatte: Anna war nicht mehr da. Anton holte die «Vampirgeschichten für Kenner» aus dem Regal und begann zu lesen in der Hoffnung, Anna würde zurückkehren, oder der kleine Vampir würde ans Fenster klopfen. Doch nur Antons Mutter kam und schwärmte, wie gut die Gespräche mit den Eltern gewesen seien. Gute Gespräche... dachte Anton grimmig. Er hätte sich auch gern länger mit Anna unterhalten! Vor allem hätte er mit ihr über Herrn Schwartenfeger sprechen wollen – und darüber, dass Rüdiger das Trainingsprogramm unterbrochen hatte.
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Und wenn Anton morgen mit Herrn Schwartenfeger telefonierte? Das war sein letzter Gedanke, bevor er einschlief. Nach dem Aufwachen verwarf Anton diese Idee allerdings wieder. Herr Schwartenfeger würde ihm auch nichts Neues mitteilen können, im Gegenteil: Er würde möglicherweise versuchen, ihn auszuhorchen. Außerdem hatte der kleine Vampir selbst gesagt, er wolle erst mal abwarten, welchen Eindruck seine bisherigen Fortschritte auf Olga machen würden. Nein, was Anton an diesem Morgen viel mehr beschäftigte, war die Sache mit dem giftgrünen Kombiwagen von Doktor Gans. Alles passte plötzlich zusammen: Das Messingschild in Igno von Rants Sarg mit der Aufschrift «Johann Holzrock, Erdmöbel, Modell I a» – die Werkstatt des Sargtischlers, vollgestellt mit Särgen Modell I a – Johann Holzrocks Mitteilung, ein Doktor Gans habe ihn gefragt, ob Selbstabholer Rabatt bekämen – dann der giftgrüne Kombiwagen, der Doktor Gans gehörte – und schließlich Annas Beobachtung, nachts vor der Villa Reinblick... Dieser Doktor Gans musste im Auftrag von Igno von Rant gehandelt haben, als er bei Johann Holzrock einen besonders preiswerten Sarg gekauft hatte! Wer aber war Doktor Gans? Bestimmt ein Mensch; denn Johann Holzrock hatte mit keinem Wort erwähnt, Doktor Gans wäre erst nach Sonnenuntergang bei ihm gewesen. Und das hätte der Sargtischler unter Garantie erzählt – so nachdrücklich, wie Anton sich für außergewöhnliche Kunden interessiert hatte! Anton spürte sein Herz heftig schlagen: Demnach hatte Igno von Rant einen Gehilfen – einen aus Fleisch und Blut! Ihm fiel ein, dass es auch im «Tanz der Vampire», seinem Lieblingsfilm, einen Gehilfen gab, einen ungeheuer hässlichen Burschen, der tagsüber das Schloss von Graf Dracula bewachte. 41
Ganz so schlimm konnte Doktor Gans wohl nicht aussehen; andernfalls wäre es Johann Holzrock aufgefallen! Anton versuchte, sich an alles zu erinnern, was ihm der Sargtischler über seinen seltsamen Kunden mitgeteilt hatte: Doktor Gans sollte den Sarg für seine Tante gekauft haben und zu viele Schrauben besitzen. Ja, und schließlich der giftgrüne Kombiwagen – mit Sicherheit das Auffälligste an ihm! Als Gehilfe von Igno von Rant würde sich Doktor Gans am Tage, wenn sein Meister im Sarg ruhte, vermutlich in der Nähe der Villa Reinblick aufhalten!, überlegte Anton weiter. Und dann würde auch sein giftgrüner Kombiwagen entweder vor der Villa oder in einer Seitenstraße stehen! Zwar hatte Anton am vergangenen Freitag, als er in den Keller der Villa Reinblick eingestiegen war, niemanden gesehen, und es war ihm auch kein Auto begegnet – insbesondere kein giftgrüner Kombiwagen. Aber das konnte reiner Zufall gewesen sein! Doktor Gans hielt sich bestimmt nicht den ganzen Tag vor der Villa auf. Erst bei Einbruch der Dunkelheit musste er da sein – jedenfalls war es so im «Tanz der Vampire». Dort hatte der Gehilfe unter anderem die Aufgabe, den Vampiren aus ihren Särgen zu helfen und die Kerzen anzuzünden. Anton schaute auf die Uhr. Es war bald Mittag. Er würde noch bis zum frühen Abend warten – und dann würde er zur Villa Reinblick fahren!
Der Mann mit der Tüte Am Nachmittag verabredete er sich telefonisch mit Ole zum Radfahren. Antons Mutter fand es sehr lobenswert, dass er nach draußen gehen und sich sportlich betätigen wollte, zumal seine Krankheit nicht mehr ansteckend sei, wie sie sagte. 42
«Aber bevor es dunkel wird, bist du wieder da!», ermahnte sie ihn beim Abschied. «Klar», antwortete er. Anton fuhr auch tatsächlich mit Ole Rad; aber nur bis zu den Tischen und Bänken im Stadtpark. Dort spielten sie Karten, bis Anton vorschlug, eine Wettfahrt zu machen. Ole – wie immer begierig darauf, zu gewinnen – sauste los. Doch Anton, der keine Sekunde lang vorgehabt hatte, ihm zu folgen, schwenkte in einen Seitenweg ein und radelte schnell davon. In der Kastanienallee stieg Anton ab. Er überquerte den Erlenweg und befand sich nun in der Straße zum Sportplatz. Unter dem dichten Blätterdach der Bäume schob er sein Rad langsam neben sich her. Genau wie beim letzten Mal empfand er, dass von den baufälligen Häusern etwas Düsteres, Abweisendes ausging. Hier konnte man sich wirklich nicht wohl fühlen, selbst im hellen Sonnenschein nicht! Das vorletzte Haus auf der rechten Straßenseite war die Villa Reinblick. Schon aus der Entfernung erschauerte Anton beim Anblick der schwarzen Mauern und der dicken Bretter, mit denen die Fenster und die Tür der Villa vernagelt waren. Doch den grünen Kombiwagen entdeckte er nicht, weder vor der Villa noch auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Plötzlich hörte er ein Motorengeräusch. Hastig lehnte er sein Rad an einen dicken Baumstamm und blickte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Ein freudiger Schrecken durchzuckte ihn, als er einen leuchtend grünen Kombiwagen aus dem Erlenweg in die Straße am Sportplatz einbiegen sah. Er drückte sich eng an den Stamm. Der Wagen fuhr vorüber, ohne dass die Person am Steuer Anton bemerkt zu haben schien.
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Dann hielt der grüne Kombi vor der Villa Reinblick, und ein Mann stieg aus. Er war auffallend groß und hager. Nach der Beschreibung des Sargtischlers musste das Doktor Gans sein! Bekleidet war er mit einer dunklen Hose und einer grauen Jacke. Anton wunderte sich, wie normal er aussah – kein bisschen wie der Vertraute eines Vampirs! Mit dem grässlichen Gehilfen aus dem «Tanz der Vampire» hatte er jedenfalls nicht die geringste Ähnlichkeit. Doktor Gans blieb auf dem Fußweg stehen und blickte nach links und rechts. Anton machte sich hinter dem knorrigen Baum noch etwas kleiner. Erleichtert stellte er fest, dass sein Fahrrad offenbar keinerlei Argwohn erweckte, denn nun ging Doktor Gans mit entschlossenen Schritten zum Gartentor.
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Erst jetzt bemerkte Anton, dass er eine weiße Plastiktüte in der Hand trug, auf der ein dickes rotes Kreuz leuchtete. Seltsam – in einer solchen Tüte war auch der juckreizstillende Puder gewesen, den Antons Mutter aus der Apotheke geholt hatte! Nachdenklich kratzte Anton sich am Kopf. 45
Diese Tüte... bedeutete sie, dass Doktor Gans in einer Apotheke gewesen war? Und wenn ja – konnte Igno von Rant krank geworden sein? Gar nicht so abwegig, fand Anton. Die VampirVerlobungsfeier warf bestimmt ihre Schatten voraus, und vielleicht hatte Igno von Rant vor lauter Aufregung Probleme mit dem Herzen! Nun hatte Doktor Gans die Villa Reinblick erreicht. Wie Anton vermutet hatte, ging er nicht zur Tür, sondern links um das Haus herum; dorthin, wo der Einstieg zum Keller war.
Guter Rat ist teuer Anton überlegte, ob er ihm folgen sollte. Aber er fürchtete, von Doktor Gans überrascht zu werden. Und dem Gehilfen eines Vampirs – mochte er auch noch so normal und harmlos wirken – wollte Anton unter keinen Umständen in die Hände fallen! Nein, er würde sich erst einmal Doktor Gans’ Wagen genauer ansehen! Anton nahm sein Rad und schob es. Eigenartig, dass der giftgrüne Kombi ein auswärtiges Nummernschild hatte... Ob Doktor Gans jeden Tag aus der Nachbarstadt hierher gefahren kam? Wenn er dermaßen geizig war, wie Johann Holzrock berichtet hatte, müsste er doch bestrebt sein, Benzin zu sparen! Und den Eindruck, einen geizigen Besitzer zu haben, machte der Wagen an allen Ecken und Kanten: rostige Stoßstangen und Felgen, eingebeulte Kotflügel... Anton stellte sein Rad an den Gartenzaun und umrundete den Wagen. Eine altmodische Nickelbrille lag auf dem Armaturenbrett, und vor dem Beifahrersitz stand ein Pappkarton, gefüllt mit Flaschen.
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Auf der Rückbank sah Anton Zeitschriften und zwei Bücher. Er strengte seine Augen an, um die Titel der Bücher zu entziffern. «Guter Rat muss nicht teuer sein. Dein Körper an gesunden und an kranken Tagen» las er. Dieser Ratgeber bestätigte Antons Verdacht, dass Igno von Rants Gesundheit angegriffen war. Ein kranker Vampir würde wohl kaum zum Arzt gehen, um sich behandeln zu lassen; allenfalls würde er seinen Gehilfen in eine Apotheke schicken – oder in eine Buchhandlung. Und Igno von Rant hatte beides getan! Der zweite Titel passte haargenau zu Doktor Gans und seinem giftgrünen Kombi: «Reparaturen am Auto selbst gemacht. Der große Ratgeber zum kleinen Preis». Ansonsten war der Wagen leer. Dabei hatte Anton gehofft, dass er im Innern irgendeinen Hinweis entdecken würde, was für eine Art Doktor der Gehilfe eigentlich war. Denn viel wusste Anton bisher nicht über ihn; nur dass er – nach Auskunft von Johann Holzrock – ein Doktor von der Universität sein sollte, der bestimmt einen Haufen Geld verdiente. «Einen Haufen Geld», murmelte Anton. Zunächst hatte ihn das Geld, das Doktor Gans verdienen sollte, nicht weiter beschäftigt. Aber plötzlich fand er es doch sehr verdächtig, dass ein Doktor von der Universität ausgerechnet hierher in die Villa Reinblick kam, um seine Zeit damit zu verbringen, einen Vampir zu bedienen... Oder war Doktor Gans vielleicht gar nicht der Gehilfe von Igno von Rant? Aber welche Aufgabe hatte er sonst? Anton presste die Lippen aufeinander und dachte angestrengt nach. Wenn Doktor Gans nicht der Gehilfe von Igno von Rant war – konnte er dann möglicherweise ein Spion sein, ein Agent, der ein doppeltes Spiel spielte?
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Soweit Anton wusste, gab es an der Universität die verschiedensten Doktoren: Doktoren für Deutsch, für Englisch, für Mathematik, ja sogar für Kriminologie. Ob man da nicht auch Doktor für... Vampirologie werden konnte? Bei diesem Gedanken überlief Anton ein eisiger Schauer. Wenn Doktor Gans tatsächlich ein Doktor der Vampirologie war, dann hatte er den Kontakt zu Igno von Rant aus rein wissenschaftlichem Interesse hergestellt! Und dann richtete sich sein Forscherdrang keineswegs nur auf Igno von Rant, sondern er galt allen Vampiren – und damit natürlich auch der Familie von Schlotterstein! In diesem Fall wäre aber nicht nur Igno von Rant in Gefahr; vor allem Antons beste Freunde wären in höchster Lebensgefahr... Und niemand in der Familie von Schlotterstein wusste, dass Igno von Rant einen Gehilfen hatte, einen menschlichen Gehilfen! Vermutlich würde Doktor Gans sogar an der Verlobungsfeier teilnehmen, eingeladen von Igno von Rant... Als Anton in seinen Überlegungen an diesem Punkt angekommen war, merkte er, dass ihm vor Aufregung regelrecht die Beine zitterten. Mit weichen Knien ging er zu seinem Fahrrad und setzte sich auf den Sattel. Da hörte er, wie jemand hustete. Das Geräusch kam von der Villa Reinblick. Anton fuhr herum – und erblickte Doktor Gans, der den Gartenweg entlangkam. Ihre Blicke trafen sich. Anton spürte, dass er rot geworden war. Er stieß sich mit den Beinen ab und radelte eilig los. In der Mitte der Kastanienallee überholte ihn der grüne Kombiwagen. Anton warf einen besorgten Blick zur Seite, doch Doktor Gans beachtete ihn überhaupt nicht. In einem unverantwortlich hohen Tempo brauste er davon. Sobald er verschwunden war, bremste Anton und stieg vom Fahrrad herunter. 48
Guter Rat ist teuer!, dachte er – unschlüssig, ob er nach Hause oder wieder zur Villa Reinblick fahren sollte. Aber viel konnte er im Unterschlupf von Igno von Rant nicht ausrichten! Und Anton würde niemals so unvorsichtig sein, Igno von Rant nach Doktor Gans zu fragen! Nein, es gab nur zwei mögliche Gesprächspartner für ihn: Anna und den kleinen Vampir. Und die beiden würde Anton am ehesten bei sich zu Hause sprechen können – wenn er wartete, bis sie an sein Fenster klopften! Obwohl... der kleine Vampir würde wahrscheinlich doch nicht kommen, nach ihrem Streit über seine Sonnengemälde. Aber Anna – Anton zweifelte nicht daran, dass er Anna heute Abend sehen würde!
Ein richtiger kleiner Tyrann So war Anton auch nicht überrascht, als ihm seine Mutter an der Wohnungstür mit einem geheimnisvollen Lächeln eröffnete: «Du hast Besuch – von einem Mädchen!» «Von einem Mädchen?», tat Anton gleichgültig. «Ja. Sie ist schon vorgegangen in dein Zimmer.» Erst dann stutzte Anton. «Vorgegangen?» Das konnte wohl kaum Anna sein! Sie hatte zwar früher einmal bei Anton geklingelt, um zu beweisen, dass sie ihren Beinamen «die Mutige» zu Recht trug, aber das hatte sie seitdem nicht wieder getan. Und es passte auch nicht zu ihrem eher leisen, zurückhaltenden Wesen. Antons Mutter nickte. «Ein ganz reizendes Mädchen! So adrett und gepflegt.» «Adrett und gepflegt?», sagte Anton ahnungsvoll. «Etwa Tatjana?»
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«Nein, wir kannten sie bislang noch gar nicht», antwortete sein Vater, der aus der Küche dazugekommen war. Und scherzhaft meinte er: «Alle Achtung, dir fliegen ja die Mädchenherzen nur so zu!» «Ihr kennt sie nicht?», murmelte Anton. Das wurde ja immer eigenartiger! «Aber nun kennen sie mich», verkündete da eine raue Stimme. Anton blickte den Flur entlang – und sah zu seinem Entsetzen Olga in der Zimmertür stehen. «Du hast wirklich nette Eltern, Anton», säuselte sie und kam mit einem koketten Lächeln näher. «Deine Mutter war so liebenswürdig, mir zu erlauben, in deinem Zimmer zu warten.» Es fehlte nur noch, dass sie Kusshändchen nach links und rechts warf!, dachte Anton grimmig. «Und dein Vater ist genauso sympathisch wie du», sagte sie heuchlerisch. «Nein, sogar noch sympathischer!» «Nun übertreibst du aber», wehrte Antons Vater ab. Doch an seinem Gesichtsausdruck war zu erkennen, dass Olgas Schmeicheleien ihre Wirkung nicht verfehlt hatten. «Wenn ich gewusst hätte, wie nett deine Eltern sind, wäre ich schon früher zu dir gekommen!», flötete Olga und zupfte an ihrer großen dunkelroten Haarschleife, die aussah, als stammte sie von einer Pralinenschachtel. Süß und klebrig wie eine Praline war auch der Duft, den Olga ausströmte. Irgendein scheußliches Parfüm musste sie benutzt haben, um ihren Vampirgeruch zu überdecken. Die weiße Haut war rosig gepudert, sodass Olga eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Porzellanpuppe hatte – mit einer Porzellan-Trachtenpuppe! Anton musterte das rote Trachtenkleid, das sie trug. Ihren Vampirumhang hatte sie zurückgestreift, sodass man auch die blütenweiße Schürze sehen konnte. Wie Olga es wohl schaffte, die Schürze dermaßen fleckenlos rein zu halten? 50
Und selbst die schwarzen Lackschuhe waren auf Hochglanz poliert. Jemand, der Olga nicht kannte, musste sie in der Tat reizend, adrett und gepflegt finden. Aber wer, wie Anton, hinter die Fassade schaute... «Freust du dich gar nicht?», fragte Olga. «D-doch», sagte er gedehnt. «Wir sollten jetzt in mein Zimmer gehen», schlug er mit einem Blick auf seine Eltern vor und fügte in Gedanken hinzu: ‹Dort werden wir noch ein Wörtchen zu reden haben!› «In dein Zimmer?» Olga verdrehte affektiert ihre großen blauen Augen. «Eigentlich hätte ich gern noch ein wenig mit deinen netten Eltern geplaudert. Aber wenn du meinst...» «Ja, ich meine!», knurrte Anton und ging entschlossen auf seine Zimmertür zu. «Anton ist ein richtiger kleiner Tyrann», hörte er Olga zu seinen Eltern sagen. «Wenn er ruft, muss man fliegen – nein, springen, hihi!» «Dann kennt ihr euch schon länger?», fragte Antons Vater. «Los, komm jetzt!», sagte Anton unwirsch. «Sehen Sie, wie tyrannisch er ist?», kicherte Olga. «Aber ich mag starke Männer – äh, Jungen!» Sie stolzierte durch den Flur und betrat Antons Zimmer.
Wenn man einen guten Freund besucht Zuerst hatte Anton vorgehabt, Olga zur Rede zu stellen und ihr Vorwürfe zu machen. Aber gerade noch rechtzeitig war ihm eingefallen, dass sie bestimmt irgendeine Absicht mit ihrem Besuch verfolgte und dass es nicht klug wäre, sie zu verärgern. Vielleicht hatte sie sogar etwas über Igno von Rant herausgefunden!
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Olga ging zu Antons Bett, hob ihren weißen Spitzensaum ein wenig an und nahm mit einem gezierten Lächeln Platz. Wie in der Tanzstunde!, dachte Anton. Er setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl. «Und warum bist du hier?», begann er vorsichtig. «Warum?» Olga zwinkerte ihm vertraulich zu. «Muss man denn immer einen Grund haben, wenn man einen guten Freund besucht?» Anton räusperte sich. «Nein.» «Aber ich habe tatsächlich einen Grund», verkündete Olga nach kurzem Schweigen geheimnisvoll. «Und welchen?», fragte Anton gespannt. «Kannst du dir das nicht denken?», sagte sie neckend. «Na ja –» Antons Herz klopfte schneller. «Hängt es vielleicht mit Doktor Gans zusammen?» «Mit Doktor Gans?» Olga kicherte. «Was du für Leute kennst! Nein, es hängt weder mit Doktor Gans zusammen – noch mit Doktor Huhn.» Sie lachte schrill, offenbar fand sie ihre Bemerkung witzig. «Der Grund ist, dass ich dich einladen will», erklärte sie, als sie sich wieder beruhigt hatte. «Du sollst mich zu Tante Dorothees Verlobungsfeier begleiten!» «Ich?», sagte Anton erschrocken. «Ja! Vorher wirst du natürlich entsprechend geschminkt.» «Ich... ich weiß nicht.» «Du weißt was nicht?», fragte Olga schneidend. «Ob ich Zeit habe», sagte Anton kläglich.
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«Du wirst Zeit haben! Es ist alles geregelt. Deine netten Eltern sind einverstanden.» «Was, du hast mit meinen Eltern gesprochen?», schrie Anton auf. «Daran siehst du, wie vorausschauend ich bin!», sagte Olga. «O nein», entfuhr es Anton. «Wie – o nein?», fragte Olga leise, mit einem drohenden Unterton. «Willst du etwa nicht mit mir zu Tante Dorothees Verlobungsfeier gehen? Das ist eine Ehre für dich, eine große Ehre, und wenn du die ausschlägst...» Sie sprach nicht weiter, aber ihr Blick war viel sagend genug. «Ja, ich weiß, dass es eine Ehre ist», versicherte Anton. «Aber ich – ich bin nicht so für Verlobungsfeiern. Ich finde sie überholt, unmodern.» 53
Keine sehr originelle Ausrede, das merkte er selbst. Doch etwas Besseres war ihm so schnell nicht eingefallen, um Olga zu überzeugen, dass er unter keinen Umständen ihre Einladung annehmen konnte – zumal sie bereits die Erlaubnis seiner Eltern hatte. Olga nickte ihm verschwörerisch zu. «Ich finde Verlobungsfeiern mit ihrem ganzen Brimborium auch reichlich verstaubt», sagte sie. «Aber gegen Familientraditionen ist man machtlos!» «Diesmal kommen mir die Traditionen allerdings zugute», fügte sie mit listiger Miene hinzu. «Im Anschluss an das Verlobungsgespräch heißt es nämlich: Alles soll vergeben und vergessen sein – wohlgemerkt: alles!» Sie strich ihre Schürze glatt und lachte verschmitzt. «Deshalb habe ich auch darauf verzichtet, die Geheimnisse von Igno von Rant und seiner Villa Reinblick aufzuklären – wenn Tante Dorothee mir sowieso alles vergibt und vergisst!» «Möglicherweise war das ein Fehler!», erwiderte Anton. Olga warf ihm einen amüsierten Blick zu. «So, und warum?» «Zum Beispiel wegen Doktor Gans!» «Du mit deinem ewigen Doktor Gans», kicherte sie. «Aber er ist Igno von Rants Gehilfe!», erklärte Anton; in der Hoffnung, Olga damit aufzurütteln. Doch sie meinte nur: «Ich weiß gar nicht, was du gegen Dienstboten hast! Früher, in unserem Schloss Seifenschwein, hatten wir Scharen von Dienstboten.» «Und zum Schluss haben sie euch verraten, oder?», sagte Anton. Olga wurde leichenblass. «Erinnere mich nicht daran», ächzte sie. «Das ist das düsterste Kapitel meines Lebens.» Doch Anton war entschlossen, sie nicht zu schonen und seinen Verdacht auszusprechen. «Dieser Doktor Gans», sagte
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er. «Er ist wahrscheinlich gar kein richtiger Gehilfe – und erst recht kein Dienstbote.» «Was dann?», fragte Olga mit erstickter Stimme. Anton holte tief Luft. «Dieser Doktor Gans könnte auch ein... Vampirjäger sein!» «Ein moderner Vampirjäger», ergänzte er vorsichtshalber. Olga stieß einen Schrei aus. «Vampirjäger...», stammelte sie und erhob sich wie in Trance. Ein fürchterlicher, hasserfüllter Ausdruck verzerrte ihre Züge. Nach Luft ringend, tappte sie zum Fenster und riss es auf. Taumelnd wie eine Motte, die sich am Lampenlicht verbrannt hat, flatterte sie in die Nacht hinaus. Anton, der eine solche Reaktion nicht erwartet hatte – obwohl er durch die Erfahrungen der Transsylvanischen Nacht eigentlich hätte gewarnt sein müssen –, blickte ihr schuldbewusst hinterher. Plötzlich hörte er die Stimme seiner Mutter an der Zimmertür: «Vati hat ein paar Schnittchen für euch gestrichen. Sie sind in der Küche.» «Ich... ich hole sie sofort», stotterte Anton – froh, dass sie keinen Versuch machte, ins Zimmer zu kommen.
Fliegende Mädchen Als Anton in der Küche die Platte mit den leckeren Wurstund Käsebroten sah, spürte er auf einmal, wie leer sein Magen war. Heißhungrig nahm er sich ein Käsebrot. «Hauptsache, deine kleine Freundin greift auch tüchtig zu», sagte Antons Vater. «Ich habe mir heute besondere Mühe gegeben. Aber was tut man nicht alles für ein nettes, wohlerzogenes Mädchen!» 55
Anton musste grinsen. Ja, Olga schafft es immer wieder, dass ‹Mann› etwas für sie tut!, dachte er. Laut sagte er: «Wohlerzogen? Komisch, sie ist gerade nach Hause gegangen. Und sie hat sich doch nicht einmal verabschiedet, oder?» «Sie ist schon gegangen?», fragte Antons Mutter befremdet. «Hm», meinte sie nach kurzem Zögern. «Könnte es sein, dass du sie irgendwie gekränkt hast?» «Ich?», entrüstete sich Anton. «Ich kann doch keiner Fliege was zuleide tun!» «Zwischen einer Fliege und einem hübschen jungen Mädchen besteht ein himmelweiter Unterschied, mein lieber Anton», entgegnete sein Vater schmunzelnd. «Ach, es gibt durchaus Mädchen, die fliegen können», erwiderte Anton und freute sich an dem verblüfften Gesichtsausdruck seiner Eltern. Er nahm die Platte mit den Broten und ging in sein Zimmer zurück. Mädchen, die fliegen können... Seufzend blickte er auf das offene Fenster und dachte an Anna – und dass er unbedingt mit ihr über Doktor Gans sprechen musste. Aber Anna kam nicht, und Anton wartete vergeblich. Am nächsten Abend wollten Antons Eltern zu einem Ball gehen, zu einem Schulball. «Ich verstehe nicht, wie jemand freiwillig in die Schule gehen kann!», bemerkte Anton. «Und wir verstehen nicht, wie jemand sich freiwillig so herrichten kann wie du», konterte seine Mutter. Anton lachte in sich hinein. Er hatte sich bereits am Nachmittag das Gesicht vampirhaft geschminkt – mit Babycreme, Puder und schwarzem Augenbrauenstift; teils aus Vergnügen, teils weil er Anna damit überraschen wollte. «Tja», sagte er mit einem Blick auf das rote, tief ausgeschnittene Kleid seiner Mutter, «was dem einen sein Abendkleid, ist dem anderen sein Vampirumhang.» 56
Antons Vater prustete los. «Vampirumhang? Wo, bitte, ist dein Vampirumhang?» «Den ziehe ich erst an, wenn ihr weg seid», erklärte Anton würdevoll. «Sehr spaßig!», sagte seine Mutter, ohne zu lachen. «Und dann guckst du dir im Vampirkostüm Gruselfilme an, wie?», fragte Antons Vater gut gelaunt. «Schön wär’s...», sagte Anton. «Aber heute habe ich nur die Auswahl zwischen den ‹Lustigen Dorfmusikanten› und dem ‹Oberförster vom Silberwald›. Und in dem Fall lese ich lieber.» «Na, trotzdem viel Spaß!», wünschte sein Vater. «Und vergiss nicht, die Schminke wieder abzuwaschen, bevor du ins Bett gehst», ergänzte Antons Mutter. «Gleichfalls!», antwortete er, und zufrieden sah er, dass seine Mutter rot wurde.
Vampirisch gut Anton wartete, bis es dämmerte. Dann streifte er den Vampirumhang über und ging in den Flur, um sich dort in dem großen Garderobenspiegel zu betrachten. Bis auf die Haare, die noch viel zu glatt und zu normal am Kopf anlagen, sah er wirklich gut aus – vampirisch gut! Da hörte er plötzlich, wie leise seine Zimmertür geöffnet wurde. Er drehte sich um – und erblickte ein kleines, weißes Gesicht, das in den Flur spähte. Im ersten Moment erschrak Anton, aber gleich darauf erkannte er, dass es Anna war. «Hallo, Anna!», rief er freudig. Sie trat hinter der Tür hervor, und erleichtert sagte sie: «Anton! Ich war eben gar nicht sicher, ob du es wirklich bist.» «Ja, ich sehe richtig fremd aus, nicht wahr?»
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«Fremd?» Anna kicherte. «Nein, ganz im Gegenteil. Also, wenn du mich fragst, könntest du immer so aussehen!» Erst jetzt begriff Anton, wie Anna das meinte. Er räusperte sich. «Ich hatte nur Lust, mich zu verkleiden», stellte er klar, um zu verhindern, dass Anna sich irgendwelche Illusionen machte; denn an seiner Absicht, kein Vampir zu werden, hatte sich nichts geändert. «Jedenfalls ist es gar nicht schlecht, dass du verkleidet bist», meinte Anna; zum Glück schien sie ihm seine Offenheit nicht übel zu nehmen. «Heute Abend werden wir nämlich Zeugen eines außergewöhnlichen Ereignisses: wenn Tante Dorothee und Igno von Rant ihre Verlobung proben!» «Zeugen? Wir?» Antons Blick wanderte hinüber zum Spiegel. Ein leises Grauen beschlich ihn, als er Anna, die neben ihm stand, nicht darin erblickte.
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«Keine Angst, wir werden nur von draußen zugucken», beruhigte ihn Anna. «Und warum müssen sie ihre Verlobung extra proben?», fragte Anton beklommen.
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Sie hatte sich, noch bevor im Keller das Gespräch auf sie kam, leise erhoben und war zu Anton geschlichen. «Anna!», rief Tante Dorothee, nun lauter. «Wo steckst du? Wir müssen etwas mit dir besprechen.» «Lass uns fliegen», sagte Anna flüsternd zu Anton. Sie lief ein paar Schritte. Dann breitete sie ihre Arme aus, und leicht wie ein Vogel erhob sie sich in die Luft. Anton folgte ihr so schnell er konnte.
Auf Seife gebaut «Und wohin fliegen wir?», fragte er, als er Anna eingeholt hatte. Anna lächelte. «Wohin möchtest du denn?» «Wir könnten versuchen, den giftgrünen Kombiwagen zu finden», schlug Anton vor. «Du mit deinem giftgrünen Kombiwagen!», sagte Anna verärgert und bewegte ihre Arme so heftig, dass sie wie ein Pfeil in die Höhe schoss. «Anna!», rief Anton erschrocken. In einer eleganten Schleife kam Anna zu ihm zurückgeflogen. «Da muss man ja in die Luft gehen!», meinte sie, halb scherzend, halb anklagend. «Ich... ich will dir bestimmt nicht auf die Nerven fallen», sagte Anton betont vorsichtig. «Aber jetzt steht doch eindeutig fest, dass Igno von Rant krank ist.» «Ja, und?» «Dann sind die Sachen, die Doktor Gans gestern Nachmittag in seiner Apothekentüte hatte, tatsächlich für Igno von Rant gewesen. Und damit haben wir den Beweis, dass Doktor Gans wirklich der Gehilfe von Igno von Rant ist!» «Beweis ist wohl etwas übertrieben.» 91
«Du hast doch selbst gesehen, dass Igno von Rant krank ist, ziemlich krank sogar.» «Er hat gesagt, dass es von der Aufregung kommt», antwortete Anna. Mit einem Kichern fügte sie hinzu: «Mir ist oft auch ganz seltsam zumute, wenn ich auf dem Weg zu dir bin.» Anton hustete verlegen. «Und seine wackeligen Beine? Igno von Rant konnte kaum stehen.» «Er ist auch schließlich nicht mehr der Jüngste», entgegnete Anna, kein bisschen besorgt. Anton biss sich auf die Lippen. Er konnte offenbar vorbringen, was er wollte; Anna würde immer eine Erklärung finden, die seinen Verdacht gegenüber Igno von Rant entkräftete. Es gab nur einen Weg, um sie aus ihrem Gleichmut aufzurütteln: indem Anton ihre Eifersucht weckte! «Olga findet den giftgrünen Kombiwagen sehr verdächtig», behauptete er. «So?» Anna warf ihm einen frostigen Blick zu. «Und wann hat sie dir das gesagt?» «Gestern», antwortete er, «als sie bei mir im Zimmer war. Da habe ich ihr von Doktor Gans erzählt, von dem giftgrünen Kombiwagen und von der Apothekentüte.» «Reizend!», zischte Anna. «Und warum hast du das ausgerechnet dieser eingebildeten, heuchlerischen Olga von Seifenschwein anvertraut?» «Warum?» Anton hatte Mühe, ernst zu bleiben. «Weil du gestern Abend nicht gekommen bist – und weil ich meine Beobachtungen so wichtig fand, dass ich sie unbedingt jemandem mitteilen wollte.» «Aber doch nicht Olga!», erwiderte Anna erregt. «Immerhin hat sie mir ihr Wort gegeben, dass sie versuchen wird, den grünen Kombi zu finden», sagte Anton – ziemlich dreist, da Olga nichts dergleichen geäußert hatte. 92
«Ihr Wort?» Anna lachte spöttisch auf. «Ha, wer Olga traut, der hat auf Seife gebaut!» Anton musste grinsen. Erwartungsvoll fragte er: «Dann fahnden wir jetzt nach dem grünen Kombi?» «Wir?» Anna schüttelte den Kopf. «Nein, es ist besser, wenn ich mich allein auf die Suche mache.» – «Außerdem habe ich noch eine offene Rechnung mit Olga!», fügte sie hinzu. «Eine offene Rechnung?», wiederholte Anton mit einem gewissen Unbehagen. Immerhin hatte er, was Olga betraf, nicht ganz die Wahrheit gesagt! «Allerdings», bestätigte Anna. «Oder glaubst du, ich würde tatenlos zusehen, wie Olga sich zwischen uns drängt: an deiner Tür klingelt, sich bei deinen Eltern einschmeichelt...?» «Aber sie will doch überhaupt nichts mehr von mir wissen», warf Anton ein. «Fragt sich nur, wie lange», erwiderte Anna. «Nach der Verlobungsfeier klopft sie garantiert wieder bei dir an.» «Von mir aus kann Olga bleiben, wo der Pfeffer wächst», erklärte Anton. «Ja, das wäre schön», stimmte Anna ihm zu und ergänzte: «Schön weit weg.» «Aber jetzt muss ich mich auf die Suche machen», sagte sie nach einer Pause. «Ich – ich könnte dir bestimmt helfen, den Kombi zu finden», versuchte Anton sie noch einmal umzustimmen. Anna lächelte nur und zeigte nach unten. Überrascht erkannte Anton das Haus, in dem er wohnte. «Ich werde dir Bescheid sagen, wenn ich etwas herausgefunden habe», versprach sie. «Bis bald, Anton.» «Ja, bis bald», antwortete er, verwirrt über diesen plötzlichen Abschied. «Und viel Erfolg!», wollte er noch sagen, aber da war Anna schon nicht mehr zu sehen.
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Einen Moment lang überlegte er, ob er ihr folgen sollte. Doch Anna durfte auf keinen Fall den Eindruck bekommen, dass er sie bespitzelte, und so verwarf er diesen Gedanken wieder. In seinem Zimmer angekommen, merkte Anton erst, wie müde er war. Er schaffte es gerade noch, seinen Schlafanzug anzuziehen. Das Abschminken verschob er auf den nächsten Morgen.
Eine konkrete Spur Als Anton aufwachte, war sein Blick seltsam getrübt. Vermutlich lag das an der Schminke: dem Augenbrauenstift und der Babycreme, die er gestern Nachmittag auf seinen Lidern verteilt hatte... Er rieb sich die Augen und stieg langsam aus dem Bett. Ob es auch von der Schminke kam, dass er etwas Weißes am Fenster sah? Er ging näher heran. Nein, es war ein Zettel, den jemand dort draußen zwischen die beiden Fensterflügel geschoben hatte! Anton öffnete das Fenster; sehr vorsichtig, damit der Zettel nicht herunterfiel. Mit Herzklopfen faltete er das Papier auseinander und las: «Lieber Anton, ich habe den grünen Kombi entdeckt! Er hat wieder vor der Villa Reinblick gehalten. Als er losgefahren ist, bin ich hinterhergeflogen – bis zur ‹Pension Nebelhorn›. Der Fahrer ist in der Pension verschwunden. Ich habe eine volle Stunde gewartet, aber er ist nicht wieder aufgetaucht. Mehr konnte ich nicht herauskriegen. Schlaf gut und träum süß – von deiner Anna!» Anton las den Brief ein zweites Mal. «Mehr konnte ich nicht herauskriegen» – das klang so... unzufrieden. Dabei hatte Anna allen Grund, stolz auf sich zu sein!, fand Anton: Schließlich gab es jetzt zum ersten Mal eine
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konkrete Spur, was diesen Doktor Gans betraf, den mysteriösen Gehilfen von Igno von Rant! Er versteckte den Zettel in seinem Schreibtisch, unter ein paar Heften, und trat in den Flur. Es war ganz still in der Wohnung. Mit Sicherheit schliefen seine Eltern noch! Anton ging ins Wohnzimmer und kehrte mit dem Telefonbuch unter dem Arm zurück. Aufgeregt begann er zu blättern: «Nebel... Nebelbahn, Nebelburg, Nebelung –», hm, merkwürdig, keiner hieß Nebelhorn! Sekundenlang war Anton ratlos, aber dann kam ihm die Idee, unter «P» nachzusehen. Und wirklich, hier fand er sie: «Pension Nebelhorn, Berliner Straße 104». Anton atmete tief durch. Die Berliner Straße kannte er: Dort hatte seine ehemalige Kinderärztin ihre Praxis, und zwar im Haus mit der Nummer 107; das musste schräg gegenüber sein... Wenn das kein glücklicher Zufall war! Anton zog sich an und schlich zur Wohnungstür. Dabei fiel sein Blick in den Flurspiegel, und wie angewurzelt blieb er stehen: Ein totenbleiches Gesicht mit schwarzen Augenrändern starrte ihm entgegen. «O nein!», stöhnte er leise. Fast hätte er seinen eigenen Plan zunichte gemacht. Er wollte nämlich mit dem Rad zur Pension Nebelhorn fahren, um sie möglichst unauffällig unter die Lupe zu nehmen! Er lief ins Bad und wischte sich hastig die Schminke ab. Anschließend horchte er noch einmal an der Schlafzimmertür. Als sich nichts dahinter regte, verließ er auf Zehenspitzen die Wohnung. Nach einer Viertelstunde hatte Anton die Berliner Straße erreicht. Er fuhr langsamer. Ganz deutlich fühlte er, dass er im Begriff stand, den Schleier des Geheimnisses um Igno von Rant zu lüften.
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Noch zweihundert oder dreihundert Meter – dann musste auf der rechten Seite die Pension liegen. Ja, nun sah Anton das Schild: «Pension Nebelhorn, Hotel garni». Während Anton noch überlegte, was «garni» bedeutete, kam ein Wagen aus der Hofeinfahrt neben der Pension. Er bog in die Straße ein und parkte unmittelbar vor der Pension. Es war... der giftgrüne Kombiwagen. Und am Steuer saß – Doktor Gans! Ein jäher Schreck durchzuckte Anton. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren. Aber er fasste sich schnell wieder, und mit scheinbar unbeteiligter Miene fuhr er auf die andere Straßenseite. Vor der Praxis der Kinderärztin hielt er und tat so, als würde er die Messingtafel mit den Sprechzeiten studieren. Dabei warf er einen vorsichtigen Blick über die Schulter zurück und sah gerade noch, wie der lange, dünne Doktor in der Pension verschwand. Er spürte sein Herz schneller schlagen. Bestimmt würde Doktor Gans gleich zurückkommen; denn es musste ja einen Grund geben, weshalb er den Kombiwagen vom Hof vor die Pension gefahren hatte! Anton schob sein Fahrrad zur Straße und lehnte es gegen einen Blumenkübel. Aus der Satteltasche nahm er eine kleine Zange und machte sich am hinteren Ventil zu schaffen. So konnte er den Eindruck erwecken, dass etwas mit seinem Rad nicht in Ordnung war – und gleichzeitig die Pension Nebelhorn im Auge behalten. Es dauerte nicht lange, da erschien Doktor Gans mit vier Koffern. Er öffnete die Heckklappe seines Kombis und verstaute die Koffer im Wagen. Anschließend ging er noch einmal in die Pension und kehrte mit weiteren vier Koffern zurück. Ungläubig schüttelte Anton den Kopf. Wozu brauchte Doktor Gans acht Koffer? Nein, nicht acht, es waren sogar zehn: Gerade trug Doktor Gans zwei besonders 96
große Koffer zum Wagen. Danach schloss er die Heckklappe und verschwand in der Pension. Ob er etwa noch mehr Gepäck hatte? dachte Anton – als Doktor Gans mit einem gebückt gehenden, dunkel gekleideten Mann aus der Pension kam. Der Mann war sehr klein, und Doktor Gans musste ihn beim Gehen stützen. Anton kniff die Augen zusammen, weil er plötzlich glaubte, Opfer einer Sinnestäuschung zu sein: Dieser kleine Mann mit dem seltsam matten, wie gepudert wirkenden Gesicht und dem blauschwarzen, von Haarpomade glänzenden Haar – war das nicht... Igno von Rant? Nein, unmöglich! Schließlich zeigte Antons Armbanduhr erst elf Uhr morgens – völlig ausgeschlossen, dass ein Vampir um diese Tageszeit unterwegs sein konnte; selbst wenn er, wie Igno von Rant, an einem Programm zur Überwindung seiner Sonnenlicht-Phobie teilgenommen hatte! Außerdem hatte Igno von Rant das Training bei Herrn Schwartenfeger abgebrochen... Es musste ein Doppelgänger sein, einer, der Igno von Rant täuschend ähnlich sah!
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Andererseits... wie kam ausgerechnet Doktor Gans – der Gehilfe von Igno von Rant – dazu, einen Doppelgänger seines Herrn und Meisters zu seinem grünen Kombiwagen zu führen? Und wenn es sich doch – trotz der frühen Stunde – um Igno von Rant handelte? Anton schwirrte der Kopf. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er denken sollte. Jetzt öffnete Doktor Gans die hintere Wagentür, und der kleine, dunkel gekleidete Mann stieg ein. Doktor Gans nahm auf dem Fahrersitz Platz, und ehe Anton sich versah, war der grüne Kombi davongebraust – auch diesmal in einem unverantwortlich hohen Tempo.
Pension Nebelhorn Anton holte tief Luft. Er spürte, dass sein Kopf allmählich wieder klarer wurde. 98
«Zehn Koffer...», murmelte er. Dass die beiden so viel Gepäck hatten, zeigte, dass sie mit einem langen, mit einem sehr langen Aufenthalt gerechnet haben mussten. Er überlegte, seit wann Tante Dorothee und Igno von Rant sich kannten. Anfang April, kurz nach den Frühjahrsferien, waren sie sich vermutlich zum ersten Mal begegnet – vor ungefähr sieben Wochen. Und sieben oder acht Wochen würde man mit den Sachen aus zehn Koffern gut und gern auskommen! Ob Doktor Gans und Igno von Rant – falls er es war – während dieser ganzen Zeit in der Pension Nebelhorn gewohnt hatten? Aber Igno von Rant hatte seinen Unterschlupf in der Villa Reinblick! Oder doch nicht? Ihm fiel ein, dass Igno von Rants Sarg leer gewesen war – an jenem Freitagvormittag, als Anton in die alte Villa eingestiegen war und todesmutig den Sargdeckel geöffnet hatte. Schon damals hatte Anton vermutet, dass Igno von Rant noch ein zweites Quartier hatte. Konnte die Pension Nebelhorn diese zweite Quartier sein? Aber hätte Doktor Gans dann nicht auch einen Sarg – Igno von Rants Zweitsarg – aus der Pension heraustragen müssen? Mit gerunzelter Stirn blickte Anton zur Pension Nebelhorn hinüber. Er ahnte – nein, er wusste, dass hinter ihrer schmutzig-weißen Fassade der Schlüssel zur Lösung des Geheimnisses lag. Er brauchte nur in die Pension zu gehen und die richtigen Fragen zu stellen! Allerdings durfte er dabei auf keinen Fall den Argwohn der Besitzer erwecken... Plötzlich kam Anton eine Idee: Tante Erna, eine entfernte Verwandte, hatte vor einiger Zeit ihren Besuch angekündigt – und soweit Anton wusste, wollte sie in einem Hotel übernachten. Na bitte! Er atmete noch einmal tief durch, um sich Mut zu machen, und dann schob er sein Rad über die Straße. 99
‹Hotel› war ja wohl reichlich übertrieben!, dachte Anton, als er den mit einem fleckigen dunkelroten Teppich ausgelegten Empfangsraum betrat. Außer einem Tresen gab es noch zwei unmoderne, klobige Sessel, einen niedrigen Tisch, einen Zeitungsständer, vier halb verdorrte Topfpflanzen, eine enge, mit einem grauen Läufer bespannte Treppe – und eine Glocke, die auf dem Tresen stand. Nachdem Anton eine Weile vergeblich gewartet hatte, läutete er die Glocke. Er spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Jetzt klappte eine Tür, und dann kam eine ältere, rundliche Frau die Treppe herunter. Mit ihren grauen Locken wirkte sie durchaus sympathisch, fand Anton. «Nun, mein Junge?», fragte sie, noch ein wenig außer Atem. Ob sie die Pension Nebelhorn allein führte?, schoss es Anton durch den Kopf. «Ich...» Er räusperte sich. «Meine Tante Erna – sie sucht ein Zimmer.» «Und wann braucht deine Tante das Zimmer?» «Wann?» Anton biss sich auf die Lippen. Nur jetzt nicht rot werden!, beschwor er sich. «In drei bis vier Wochen», erklärte er und zwang sich, ganz ruhig zu bleiben. Betont beiläufig fragte er: «Könnte sie das Zimmer bekommen, das die beiden Herren hatten?» «Welche Herren?» «Die beiden, die eben abgefahren sind. Ich habe zufällig mit angehört, wie sie sich begeistert über ihr Zimmer unterhalten haben.» «Begeistert?» Die Wirtin musterte ihn überrascht. «Ja!», sagte er kühn. «Sie haben gesagt, dass sie die Pension Nebelhorn und vor allem ihr Zimmer in sehr guter Erinnerung behalten werden.»
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«Das haben sie gesagt?» Die Frau strich sich über ihre Locken und machte ein ungläubiges Gesicht. «Dabei war der Doktor so unzufrieden.» «Unzufrieden?», wiederholte Anton. «Ja. Weil er auch die Miete für den nächsten Monat bezahlen musste. Aber so war es vereinbart, und wenn die beiden Herren früher ausziehen... Sie hatten das Zimmer bis einschließlich Juli gemietet. Und es ist nicht meine Schuld, dass der Professor krank geworden ist!» «Der Professor?», sagte Anton mit mühsam unterdrückter Erregung. «Der kleine schwarzhaarige Herr war ein Professor?» Die Wirtin nickte. «Aus diesem Grund war ich auch sehr verwundert, dass sie solchen Ärger wegen der Miete gemacht haben.» Anton brannte es auf der Seele, nach dem Namen des Professors zu fragen. Aber er durfte sein Interesse nicht allzu offensichtlich werden lassen, und so fragte er nur: «Er ist krank geworden? Das hängt doch nicht mit dem Zimmer zusammen, oder?» «Mit dem Zimmer? Nein! Der Professor hat Windpocken, ganz normale Windpocken.» «W-Windpocken?», stammelte Anton. «Ja. Bei einem reiferen Menschen sind Windpocken allerdings eine ernst zu nehmende Krankheit. Professor Piepenschnurz hat hohes Fieber bekommen und Schüttelfrost. Deshalb hat es mich ja so befremdet, dass Doktor Egal dieses Theater aufgeführt hat wegen der Miete. Oben im Bett liegt sein Professor mit 40 Grad Fieber, und unten bei mir feilscht Doktor Egal um ein paar Mark!» «Wie bitte?», sagte Anton, und in seiner Aufregung vergaß er alle Vorsicht. «Er heißt gar nicht Gans, Doktor Gans?» «Nein, Egal – Hans Egal.» «Hans Egal –», murmelte Anton. 101
Dieser Name war ihm irgendwo schon einmal begegnet, genau wie der andere, dieser... «Wie heißt der Professor noch?», fragte er. «Professor Piepenschnurz», antwortete die Wirtin. «Aber warum interessieren dich die beiden eigentlich so?» «Warum? Na, wegen des Zimmers», sagte Anton nach kurzem Zögern – nicht sehr intelligent, aber er war viel zu verwirrt, um sich in dieser Situation eine glaubhafte Erklärung einfallen zu lassen. Hans Egal, Professor Piepenschnurz, Windpocken... Anton dachte daran, wie Igno von Rant gestern Abend geschwitzt und gezittert hatte. Und dann die roten Stellen an seinen Fingern, die Tante Dorothee entdeckt hatte, als Igno von Rant die linke Hand auf die Chronik legen sollte. Konnten diese roten Stellen... Windpocken gewesen sein? «Ist dir nicht gut, mein Junge?», hörte er die Stimme der Wirtin. «D-doch», versicherte er hastig. «Ich – ich habe nur über die Krankheit nachgedacht. Vielleicht sind es gar keine Windpocken. Vielleicht hat er sich erkältet, Zug bekommen...» «Er soll sich erkältet haben, in meiner Pension?», sagte die Wirtin empört. «Bestimmt nicht! Bei mir gibt es keine feuchten Wände, keine zugigen Fenster. Komm, überzeug dich selbst!» Mit diesen Worten drehte sie sich um und begann, die Treppe hinaufzusteigen. Anton folgte ihr mit weichen Knien.
Zimmer 13 Sie kamen in einen langen, dunklen Flur, von dem viele Türen abgingen. Bis auf eine waren sie geschlossen. Diese offene Tür am Ende des Flurs – ob sie in das ehemalige Zimmer von Professor Piepenschnurz und Doktor Egal führte? 102
Anton hatte plötzlich eine seltsame Vorahnung: als würde er in dem Zimmer der beiden etwas sehr Wichtiges entdecken. Doch die Wirtin war offenbar entschlossen, ihm ein anderes Zimmer zu zeigen. Aus der Tasche ihres Kittels nahm sie einen Schlüsselbund und öffnete die Tür zu dem Zimmer mit der Nummer 2. Es war – das sah Anton sofort – unbewohnt. Ja, die Luft roch so abgestanden, als wäre es wochenlang nicht mehr benutzt worden. «Das ist bestimmt nicht ihr Zimmer!», sagte Anton und gab sich keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. «Ihr Zimmer?», wiederholte die Wirtin. «Ja, das von Professor Piepenschnurz und Doktor Egal.» «Warum willst du ausgerechnet das Zimmer des Professors sehen?» «Weil –» Anton hustete. «Weil er und Doktor Egal so davon geschwärmt haben.» «Aber Nummer 13 ist nicht aufgeräumt», wehrte sie ab und warf einen Blick auf die offene Tür am Ende des Flurs. «Ich habe eben erst angefangen, die Betten abzuziehen.» Anton wollte entgegnen, dass ihm Unordnung überhaupt nichts ausmache – da läutete das Telefon. Das war ja wie bestellt!, dachte Anton. Mit Herzklopfen sah er zu, wie die Wirtin die Treppe hinuntereilte. Als er sie «Ach, du bist es, Hermine! Ja, danke, mir geht es gut, und dir?», sagen hörte, wusste er, dass er fünf Minuten oder noch länger unbeobachtet sein würde. Auf Zehenspitzen lief er durch den Flur und betrat Zimmer 13. Es machte tatsächlich keinen sehr einladenden Eindruck: Wäsche lag auf dem Boden, Putzmittel standen herum. Im Übrigen war es ein einfaches Zimmer ohne Bad, nur mit einem Waschbecken; ein Raum, der nicht so aussah, als würde er ein Geheimnis bergen. Die beiden Betten, ein Tisch, zwei Stühle,
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eine Stehlampe und ein großer dunkler Schrank bildeten das gesamte Mobiliar. Und dennoch... Anton hatte das Gefühl, dass er hier einen Hinweis, einen entscheidenden Hinweis finden würde. Aber wo sollte er mit seiner Suche beginnen? Unter den Betten? Im Schrank? Antons Blick fiel auf den Papierkorb, der bis oben hin voll gestopft war. Er zauderte einen Moment – dann kippte er kurz entschlossen den Inhalt auf dem Teppich aus.
Wie Anton vermutet hatte, waren es hauptsächlich alte Zeitungen und Zeitschriften, die Professor Piepenschnurz und Hans Egal weggeworfen hatten. Aber dazwischen fand Anton auch ein paar handbeschriebene Zettel. Aufgeregt las er die mit Bleistift verfassten Notizen. Doch enttäuscht musste er feststellen, dass es sich um Einkaufslisten handelte – für ganz banale Dinge wie Zahnpasta, Seife, Waschlappen, Rasierwasser und Schuhcreme. Anton presste die Lippen zusammen. Je länger er in dem Papierhaufen herumwühlte, desto stärker beschlich ihn das Gefühl, auf der falschen Fährte zu sein. Schon überlegte er, ob 104
er die Suche abbrechen sollte – da entdeckte er plötzlich einen zerknitterten Briefumschlag. Er hob ihn auf. «An Professor August Piepenschnurz, Pension Nebelhorn, Berliner Straße 104», las er. Jetzt schlug Anton das Herz bis zum Hals: ein Brief, ein offensichtlich privater Brief, den der Professor bekommen hatte... Mit zitternder Hand drehte er den Umschlag um – und hätte ihn vor Schreck beinahe fallen lassen: «Geiermeier, zurzeit Kurhotel Dreiteufelsbrück», stand dort in derselben krakeligen Tintenschrift. Anton kam es vor, als wäre der Schleier des Geheimnisses mit einem Ruck zur Seite gezogen worden... Aber ehe er seine Gedanken ordnen konnte, vernahm er die Schritte der Wirtin im Flur. In letzter Sekunde gelang es ihm, den Briefumschlag in die Hosentasche zu stecken. Verlegen erhob er sich und sagte: «Ich... ich bin gegen den Papierkorb gestoßen.» Mit finsterer Miene betrachtete die Wirtin den Abfallhaufen am Boden. «Wie kommst du überhaupt in dieses Zimmer?», schimpfte sie. «Ich hatte dir doch erklärt, dass es noch nicht aufgeräumt ist!» «Hm, ja.» Anton machte ein zerknirschtes Gesicht. «Und nun erzählst du deiner Tante, in der Pension Nebelhorn ginge alles drunter und drüber!», sagte sie unfreundlich. «O nein!», widersprach Anton. «Ich werde meiner Tante nur das Allerbeste von Ihrer Pension berichten.» «Soso», sagte sie, kein bisschen freundlicher. «Ja! Ich werde berichten, dass es sehr gemütlich bei Ihnen ist, sehr persönlich und –» Anton brach ab, weil ihm nichts Überzeugendes mehr einfiel. «– und sehr interessant!», ergänzte die Wirtin grimmig. «Interessant?», tat Anton überrascht.
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Die Wirtin sah ihn mit einem durchdringenden Blick an. «So interessant, dass du am Sonntagmorgen hierher kommst und im Papierkorb stöberst.» «Aber ich –», wollte Anton sich verteidigen, doch sie schnitt ihm das Wort ab: «Ich glaube, dass du überhaupt keine Tante hast!» «Ich? Keine Tante?», wiederholte Anton entrüstet. «Jedenfalls keine, die ein Zimmer in meiner Pension mieten möchte! Du hast sie nur als Vorwand benutzt, um in dem Zimmer des Professors herumzuschnüffeln!» Anton schluckte. «Ich muss jetzt gehen», sagte er. «Meine Eltern... sie warten mit dem Essen.» Er lief an der Wirtin vorbei, zur offenen Tür. «Halt!», rief sie. Doch Anton war schon im Flur. «Stehen bleiben!», hörte er die Stimme der Wirtin. Anton rannte die Treppe hinunter. Draußen schwang er sich auf sein Fahrrad, und ohne sich noch einmal umzudrehen, sauste er los.
Die große Verschwörung Zu Hause angekommen, stellte Anton fest, dass seine Eltern immer noch schliefen. «Zum Glück!», seufzte er. Es gab so ungeheuer viel, worüber er ungestört nachdenken musste... Leise schlich er in sein Zimmer. Vom Schreibtisch holte er einen Block und einen Stift und setzte sich auf sein Bett. Mit Sicherheit würde es ihm helfen, die verwickelten Zusammenhänge besser zu verstehen, wenn er sich Notizen machte! Anton legte den Block auf die Knie und begann, die wichtigsten Ereignisse aufzuschreiben: 106
Wer ist Igno von Rant? Auch wenn Anton glaubte, die Antwort auf diese Frage schon zu wissen – unter keinen Umständen durfte er zu voreiligen Schlüssen kommen! Er wollte noch einmal alles, was Igno von Rant betraf, an seinem geistigen Auge vorüberziehen lassen, von Anfang an. Besuch bei Herrn Schwartenfeger. Im Wartezimmer finde ich das Flugblatt. Auf diesem Flugblatt hatte gestanden, man solle helfen, den Alten Friedhof vor der Zerstörung durch blindwütige Fanatiker zu retten. (Mit den «Fanatikern» waren der Friedhofswärter Geiermeier und Schnuppermaul, sein Assistent, gemeint.) Und deshalb solle man der Bürgerinitiative «Rettet den Alten Friedhof» beitreten. Weitere Informationen bekäme man bei J. Schwartenfeger. Dieses Flugblatt hatte Anton schlagartig klargemacht, wer die Bauarbeiten gestoppt hatte: Herr Schwartenfeger! Dank seiner Bürgerinitiative hatte die Familie von Schlotterstein aus der Ruine im Jammertal in ihre Gruft zurückkehren können! Unabsichtlich war Herr Schwartenfeger also auch für Geiermeiers Herzanfall verantwortlich... Ja, und dann hatte Anton von Herrn Schwartenfeger erfahren, dass er mit seiner Bürgerinitiative noch eine andere Absicht verfolgt hatte: Er wollte Vampire kennen lernen, um an ihnen sein Lernprogramm gegen besonders starke Ängste – so genannte Phobien – auszuprobieren. Herr Schwartenfeger sagt, dass er einen Vampir als Patienten hat: Igno von Rant. Igno von Rant hatte zwar behauptet, er sei kein Vampir, aber der Psychologe hatte ihn durch seinen Taschenspiegel
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betrachtet und dabei festgestellt, dass sein geheimnisvoller Patient kein Spiegelbild hatte. Erste Begegnung mit Igno von Rant vor Sonnenuntergang. Damals war Anton etwas zu früh in der Praxis des Psychologen gewesen. Frau Schwartenfeger hatte ihn nicht hereinlassen wollen, sondern nur komische Andeutungen über «außergewöhnliche Patienten» gemacht und ihm vorgeschlagen, draußen vor dem Haus zu warten. Aber damit hatte sie Antons Neugier nur angestachelt! Unter dem Vorwand, er müsse mal, hatte er im Bad gewartet, bis Igno von Rant das Sprechzimmer verlassen hatte – und dann hatte er seinen ganzen Mut zusammengenommen und war ihm entgegengetreten. Noch jetzt sträubten sich Anton die Haare bei der Erinnerung an dieses erste Zusammentreffen. Das unheimliche Aussehen Igno von Rants und sein Modergeruch, in den sich ein abscheulicher Maiglöckchenduft mischte, hatten Anton sofort davon überzeugt, dass er einem Vampir gegenüberstand – und das vor Sonnenuntergang! Demnach musste das Trainingsprogramm von Herrn Schwartenfeger, mit dem er die Angst der Vampire vor den Sonnenstrahlen heilen wollte, sensationell erfolgreich gewesen sein, hatte Anton gefolgert. Zweite Begegnung am Wasserturm. Nein, Begegnung stimmte nicht; Anton hatte Tante Dorothee und Igno von Rant nur vom Kastanienbaum aus beobachtet. Anschließend war er unbemerkt hinter Igno von Rant, Tante Dorothee und Anna hergeflogen. Igno von Rants Unterschlupf: die Villa Reinblick. Dort hatte Anton am Kellerfenster gelauscht und gehört, dass Igno von Rant – wie Tante Dorothee es ausgedrückt hatte – «ein wenig nachtblind» war. 108
Von Anna hatte Anton erfahren, dass Igno von Rant unter einer gewissen «Sippenblindheit» leiden sollte und dass er außerdem schon als Kind nächtelang nur gelesen hätte, mit der Taschenlampe unter der Sargdecke. Diese Auskunft war es gewesen, die Anton misstrauisch gemacht hatte; denn sie würde bedeuten, dass Igno von Rant als Kind Vampir geworden sein musste. Aber bei Igno von Rant handelte es sich unübersehbar um einen Erwachsenen. Erster Verdacht, dass Igno von Rant vielleicht doch kein Vampir ist. Von Unruhe erfüllt, war Anton – sobald er kein Fieber mehr gehabt hatte – zur Villa Reinblick gefahren. Im Keller der Villa hatte er Igno von Rants leeren Sarg entdeckt; und das am Vormittag! Antons Verdacht war nun immer stärker geworden, aber leider hatte ihn niemand ernst genommen – bis auf Olga. Und die war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um etwas Brauchbares über Tante Dorothees zukünftigen Verlobten herauszufinden. «Johann Holzrock, Erdmöbel, Modell I a». Johann Holzrock war es gewesen, der Anton auf die Spur von Doktor Gans geführt hatte. Der war ganz offensichtlich kein Vampir, denn Anton hatte Doktor Gans tagsüber in der Villa Reinblick verschwinden sehen – mit einer Apothekentüte in der Hand. Erst als Anton bei Anna die Eifersucht auf Olga geweckt hatte, war auch Anna hellhörig geworden. Sie hatte Nachforschungen angestellt und das Messingschild in Igno von Rants Sarg entdeckt. Und die Tüte hatte Anton auf den Gedanken gebracht, Igno von Rant könnte krank geworden sein. Aber es war kein Herzanfall gewesen, wie Anton vermutet hatte: Bei der Generalprobe hatte Tante Dorothee plötzlich die 109
roten Stellen an Igno von Rants Fingern entdeckt. Igno von Rant hatte zwar erklärt, er bekäme häufig vor Aufregung rote Flecken; doch inzwischen glaubte Anton etwas ganz anderes... Er dachte noch einmal an die Szene zurück, die er vor der Pension Nebelhorn beobachtet hatte: Doktor Gans, der einen gebückt gehenden Mann aus der Pension zu seinem grünen Kombiwagen geführt hatte; scheinbar den Doppelgänger von Igno von Rant. Durch das Gespräch mit der Wirtin hatte Anton erfahren, dass dieser kleine Mann Professor Piepenschnurz hieß und so schwer an Windpocken erkrankt war, dass er vorzeitig abreisen musste. Waren das zufällige Übereinstimmungen? Nein! Aufgeregt notierte er: Professor Piepenschnurz hat Windpocken Igno von Rant hat Windpocken Professor Piepenschnurz sieht aus wie Igno von Rant Professor Piepenschnurz ist Igno von Rant! Anton machte eine Pause, weil sein Herz so wild klopfte. Dann schrieb er: Und Professor Piepenschnurz ist – ein Mensch!! Bei dem Wort «Mensch» zitterte Antons Hand so stark, dass seine Schrift fast unleserlich wurde. Aber es war ja auch eine Ungeheuerlichkeit: ein Mensch, ein Professor, der sich unter falschem Namen, geschminkt und verkleidet, bei den Vampiren eingeschlichen hatte – und dem es gelungen war, sie alle, ganz besonders aber Tante Dorothee, über seine wahre Identität zu täuschen! Allein die Vorstellung, was mit Anna und dem kleinen Vampir hätte passieren können, wenn Professor Piepenschnurz nicht an Windpocken erkrankt wäre, ließ Anton das Blut in den Adern stocken. 110
Jetzt zeigte sich, dass er mit seinem Verdacht gegen Igno von Rant nur allzu Recht gehabt hatte! Und es waren seine, Antons, Windpocken, die den Vampiren nun das – ähem – Leben retteten! Aber was konnte Professor Piepenschnurz dazu gebracht haben, sich an Tante Dorothee heranzumachen – mit dem Ziel, in die Gruft Schlotterstein aufgenommen zu werden? Immerhin hatte er sich selbst in Gefahr begeben, in sehr große Gefahr; denn es hätte ja auch Tante Dorothee sein können, die sein Geheimnis aufdeckte, und dann... Anton fröstelte. Die einzige Erklärung, die er fand, war, dass es mit Piepenschnurz’ Beruf zusammenhängen musste: dass er... Professor für Vampirologie war! Und wenn Piepenschnurz tatsächlich Professor für Vampirologie war, dann hatte er bestimmt Kontakt zu anderen Forschern, die sich mit Vampiren beschäftigten! Aber nicht nur zu Forschern... Anton schüttelte sich: auch zu – Vampirjägern! Als Anton an diesem Punkt seiner Überlegungen angekommen war, musste er tief durchatmen. Mit Herzklopfen zog er den Briefumschlag aus seiner Hosentasche. «An Professor August Piepenschnurz, Pension Nebelhorn...» «Geiermeier, zurzeit Kurhotel Dreiteufelsbrück...» Ja, dieser Brief war das letzte, noch fehlende Glied in der Kette! Anton merkte, dass er schon eine Weile nichts mehr aufgeschrieben hatte. Aber auch ohne sich Notizen zu machen, war ihm jetzt klar, wer hinter dem ganzen Unternehmen steckte: Friedhofswärter Geiermeier! Er vermutete, dass Geiermeier sich – nachdem er ins Krankenhaus gekommen war und die Vampire nicht weiter verfolgen konnte – an Professor Piepenschnurz gewandt hatte. Bestimmt hatte Geiermeier dem Professor anvertraut, dass es auf seinem Friedhof eine ganze Vampirsippe gab. Und 111
sicherlich war es Geiermeier gewesen, der vorgeschlagen hatte, sich den Vampiren über die Bürgerinitiative «Rettet den Alten Friedhof» und den Psychologen Schwartenfeger zu nähern. Anton ballte die Fäuste. Es war eine Verschwörung – eine große Verschwörung gegen die Vampire! Und wahrscheinlich ahnte Professor Piepenschnurz noch nicht einmal, dass Geiermeier mit Hilfe des Professors endlich den ersten vampirfreien Friedhof Europas schaffen wollte! Im Grunde war es genauso wie bei Schwartenfeger: Der Psychologe interessierte sich nur aus wissenschaftlichen Gründen für Vampire; von ihm und von Piepenschnurz drohte ihnen jedenfalls keine ernsthafte Gefahr! Außerdem... als Professor für Vampirologie musste Piepenschnurz sogar sehr daran gelegen sein, dass die Vampire, seine – wie nannte man das gleich? – Forschungsobjekte, ja, dass ihm seine Forschungsobjekte erhalten blieben! Ganz im Gegensatz zu Geiermeier: Der verfolgte selbst aus dem Kurhotel heraus noch seine finsteren Pläne zur Vernichtung der Vampire! Aber Ähnliches hatte Anton des Öfteren gelesen: dass Forscher, die nur ihre Wissenschaft im Kopf hatten, von skrupellosen Hintermännern ausgenutzt worden waren.
Junges Blut Anton erhob sich von seinem Bett. Er konnte nicht länger stillsitzen, er musste irgendetwas tun, mit jemandem reden... So war er richtig froh, als es im Flur rumorte und gleich darauf sein Vater den Kopf zur Tür hereinstreckte und freundlich schmunzelnd fragte: «Schon wach?» «Schon?» Anton grinste. «Das gilt wohl eher für euch! Ich bin bereits seit Stunden wach – und halb verhungert!» 112
«Warum hast du dir nicht selbst Frühstück gemacht?», erwiderte sein Vater. «Warum! Ich bin eben lieber mit euch zusammen.» Antons Vater lachte. «Wenn das so ist, wirst du bestimmt an dem Trimm-Ausflug teilnehmen wollen, den Mutti und ich nach dem Frühstück planen.» «Aber sicher», sagte Anton und genoss das verblüffte Gesicht seines Vaters. Dann vergeht die Zeit wenigstens schneller!, fügte er in Gedanken hinzu. Und wirklich: Rascher, als Anton geglaubt hatte, war es Abend geworden. Mit der Bemerkung, er müsse noch für einen Mathe-Test üben, verschwand Anton in seinem Zimmer und öffnete das Fenster weit. Dann nahm er am Schreibtisch Platz und schlug «Die Wahrheit über Frankenstein» auf; eine uralte Geschichte, die er bestimmt schon fünfmal gelesen hatte. Aber sie war ungeheuer spannend und zog ihn auch heute wieder in ihren Bann. So kam es, dass Anton fast erschrocken war, als hinter seinem Rücken jemand auf dem Fensterbrett landete. Er drehte sich um – und blickte in das süßlich lächelnde Gesicht von Olga. «Du?», sagte er und fuhr in die Höhe. «Und ich hab gedacht –» Er brach ab. Olga ließ sich ins Zimmer gleiten. «Was hast du gedacht?», säuselte sie und zupfte an ihrer dunkelblauen Haarschleife. «Dass du längst auf der Verlobungsfeier bist!», erwiderte Anton. Was er tatsächlich gedacht – oder besser: gehofft – hatte, nämlich, dass es der kleine Vampir oder Anna wäre, konnte er wohl schlecht zugeben! «Tja –» Olga kicherte. «Umso größer ist deine Freude, schätze ich!» «Du... du bist nicht mehr wütend auf mich?», fragte Anton vorsichtig.
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«Wütend?» Sie schaute affektiert zur Decke. «Olga, Fräulein von Seifenschwein, hat ein großes Herz. Ich vergebe dir!» «Ach, wirklich?», sagte Anton voller Unbehagen. Hinter Olgas Vergebung konnte, seiner Meinung nach, nichts Gutes stecken! «Ja», flötete sie. «Ich glaube jetzt, dass es nur Tollpatschigkeit von dir war, was dich zu deinen unüberlegten Bemerkungen hingerissen hat.» Anton wusste, welche «unüberlegten Bemerkungen» sie meinte: als er ihr gegenüber von seinem Verdacht gesprochen hatte, Doktor Gans könnte auch ein Vampirjäger sein, ein moderner Vampirjäger. «Tollpatschigkeit und –», Olga lachte heiser, «dein junges Blut!» «Junges B-Blut?», wiederholte Anton beklommen. «Ja! Du bist so jung und tollpatschig, dass du noch nicht mal merkst, was du anrichtest.» Unwillkürlich hatte Anton sich an den Hals gefasst; aber das mit dem «jungen Blut» schien nur eine Redensart zu sein... «Ich bin dir jedenfalls nicht mehr böse», erklärte Olga gönnerhaft. Und indem sie ihn verführerisch anlächelte, fragte sie: «Fliegen wir?» «Fliegen?», sagte Anton in banger Vorahnung. «Und wohin?» «Zur Verlobungsfeier natürlich!» Mit einer raschen Bewegung schlug Olga ihren Umhang zurück – und stand in einem dunkelblauen Samtkleid vor ihm. «Mein einmalig schönes Festkleid», prahlte sie. «Hoffentlich hast du etwas Passendes! Am besten einen nachtblauen Samtanzug, das wäre höllisch!»
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«Aber ich –», begann Anton, doch Olga unterbrach ihn: «Deine Eltern sind einverstanden, weißt du das nicht mehr? Sie haben gesagt, dass sie meine Einladung sehr nett finden!» «Sie... sie haben es sich anders überlegt», erwiderte Anton hastig. «Was, so plötzlich?», sagte Olga zweifelnd und blickte zur Tür. ‹Hoffentlich kommt sie nicht auf die Idee, nachzufragen!›, dachte Anton besorgt. So überzeugend wie nur möglich antwortete er: «Ja, weil ich morgen Schule habe.» «Schule!», zischte Olga verächtlich. «Wer denkt schon an Schule, wenn Tante Dorothee Verlobung feiert.» «Ich –» Anton räusperte sich. «Ich glaube nicht, dass die Verlobung stattfinden kann.» 115
«Und warum nicht?» «Zu einer Verlobung gehören doch immer zwei, oder?» «Du sagst es!», flötete Olga. «Und Igno von Rant ist heute Morgen abgereist!», erklärte Anton. So, jetzt war es heraus! Er atmete auf. Es tat gut, sich jemandem anvertraut zu haben – selbst wenn es nur Olga war! Doch zu seiner Verwunderung fing Olga an zu kichern. «Abgereist? Rüdiger hat Recht: Du bist wirklich spaßig mit deiner Eifersucht!» «Eifersucht? Ich?» Anton lachte trocken. «Jawohl!», bestätigte Olga. «Rüdiger sagt: Du bist ganz krank vor Eifersucht, weil Anna jetzt einen treu sorgenden, liebevollen Onkel bekommen hat.» – «Wobei ich allerdings nicht verstehe, was ihr – Herr von Rant und du – ausgerechnet an einer Langweilerin wie Anna finden könnt!», fügte sie spitz hinzu. Anton wollte etwas Heftiges entgegnen. Aber er verkniff es sich und meinte nur: «Treu sorgend und liebevoll? Ha, ihr werdet schon noch sehen...» «Sehen? Was denn?» «Wie treu er ist, euer Onkel Igno!» «Gut, sehen wir nach», sagte Olga eifrig und zog den Vampirumhang wieder über ihr Kleid. «Los, Anton, komm!» Anton schüttelte den Kopf. Unter keinen Umständen wollte er dabei sein, wenn die Verlobung platzte. Tante Dorothee würde in ihrem Zorn wie entfesselt sein! «Ich kann nicht mitfliegen. Meine Eltern wollen mich gleich in Mathematik abfragen, ob ich gut vorbereitet bin für den Test morgen.» «Streber», knurrte Olga. «Du bist kein bisschen besser als Anna!» Damit kletterte sie aufs Fensterbrett.
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Von dort aus fauchte sie: «Das hat man nun davon, dass man dir alles vergibt und verzeiht! Pah, jede Minute, die man dir schenkt, ist vergeudet!» Grußlos segelte sie davon. Keineswegs betrübt, eher erleichtert kehrte Anton an seinen Schreibtisch zurück. Doch es gelang ihm nicht mehr, sich auf «Die Wahrheit über Frankenstein» zu konzentrieren. Immer wieder musste er an die Verlobungsfeier denken. Ihm fiel auf, dass er noch nicht einmal wusste, wo sie stattfinden sollte, ob in der Villa Reinblick oder in der Gruft Schlotterstein. Doch eines wusste er ziemlich sicher: dass – im wahrsten Sinne des Wortes – die Hölle los sein würde, wenn der zukünftige Verlobte nicht erschien... Aber Anton wartete vergeblich auf den Besuch von Anna oder dem kleinen Vampir. Kurz vor Mitternacht ging er hundemüde ins Bett.
Brauchst du ein Taschentuch? Anton schlief fest, als ihn plötzlich jemand an der Schulter rüttelte und eine heisere Stimme krächzte: «He, wach auf!» Benommen fuhr er in die Höhe. Die Schreibtischlampe war eingeschaltet, und in ihrem Licht erblickte Anton den kleinen Vampir. Rüdiger musste sich stundenlang gekämmt haben: Seine Haare lagen dicht am Kopf an und glänzten, und er trug einen schnurgeraden Seitenscheitel. Er sah fast so adrett aus wie Igno von Rant mit seiner Haarpomade! Igno von Rant... schlagartig war Anton hellwach. Rüdiger kam vermutlich direkt von der Verlobungsfeier, und die gepflegten Haare waren seine Festfrisur! Jetzt schlug der kleine Vampir mit finsterer Miene seinen Umhang zurück und ließ ein Bündel auf den Boden fallen. 117
«Hier», knurrte er. «Deine Sachen. Du kannst sie wiederhaben.» «Meine Sachen?» Anton starrte auf das Bündel am Boden. Er erkannte seinen Trainingsanzug, die gelben Socken, das Stirnband, die Sonnenbrille, eine halb leere Tube Sonnencreme und eine Flasche Sonnenöl. «Ja! Ich brauch den Krempel nicht mehr», erklärte der kleine Vampir mit Grabesstimme. Krempel! Anton wollte protestieren. Immerhin gehörten die Sachen ihm, und die Creme und das Öl hatte er von seinem eigenen Geld bezahlt! Aber es wäre im Augenblick wohl nicht sehr klug, mit Rüdiger Streit anzufangen... So schluckte er seinen Ärger hinunter und fragte: «Dann weißt du es schon?» «Natürlich weiß ich es!», gab der kleine Vampir unwirsch zurück. «Ich war ja dabei, als sie abgeflogen ist.»
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«Als sie abgeflogen ist?», wiederholte Anton. Anscheinend hatte der kleine Vampir seine Frage ganz anders verstanden. Anton hatte mit «es» die große Verschwörung gemeint und dass Igno von Rant sie alle, besonders aber Tante Dorothee, hinters Licht geführt hatte. Völlig unerwartet für Anton rollten Tränen über die bleichen Wangen des kleinen Vampirs. «Und ich hatte mich so auf die Verlobungsfeier gefreut», schluchzte er. Betreten musterte ihn Anton. Selbst wenn er eben noch wütend auf den kleinen Vampir gewesen war – in dieser Verfassung tat Rüdiger ihm nur Leid! «Brauchst du ein Taschentuch?», fragte er vorsichtig. «Nein!», fauchte der kleine Vampir, um gleich darauf die Hand auszustrecken und «Ja!» zu sagen. Anton holte ein Papiertaschentuch aus seinem Schreibtisch. Rüdiger nahm es und schnäuzte sich mehrmals. «Und alles war so harmonisch zwischen uns», klagte er. «Jedenfalls dachte ich das. Bis heute Abend...» Wieder schluchzte er auf, aber zum Glück hatte er sich so weit in der Gewalt, dass keine Tränen flossen. Nun konnte Anton seine Neugier nicht länger bezähmen: «Sprichst du von Olga?» «Von wem sonst», antwortete der kleine Vampir dumpf. «Ist sie abgeflogen?», fragte Anton mit Herzklopfen. «Ja», schniefte der Vampir. «Und weißt du was?» «Nein, was?», fragte Anton. Jetzt würde er bestimmt Einzelheiten des Dramas erfahren, das sich auf der ‹geplatzten› Verlobungsfeier abgespielt haben musste!
Alles für den Wolf Doch Rüdigers Gedanken kreisten offenbar nur um Olga.
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«Sie hat gesagt, dass sie gar nicht meinetwegen zurückgekehrt ist», berichtete er. «Nicht?», tat Anton überrascht. «Nein. Sie hat sich Sorgen um Tante Dorothee gemacht.» Wütend trat der kleine Vampir gegen die Flasche mit dem Sonnenöl. «Das gesamte Training war umsonst. Nacht für Nacht die Plackerei – und alles für den Wolf!» «Für den Wolf?» «Oder für die Katz, ganz wie du willst.» Der kleine Vampir ballte zornig die Fäuste. «Jetzt ist Olga mit Hugo abgeflogen, und ich kann sehen, wo ich bleibe!» «Mit Hugo dem Haarigen?», fragte Anton aufgeregt. Der kleine Vampir blickte ihn überrascht an. «Du kennst ihn?» «N-nein», sagte Anton hastig. «Olga hat mir nur von ihm erzählt.» – «Bei einem ihrer Besuche», fügte er listig hinzu. Der Vampir horchte auf. «Besuche? Mehrere?» Anton nickte. Er hatte das Gefühl, dass es ihm diesmal vielleicht gelingen könnte, dem kleinen Vampir die Augen über «seine Olga» zu öffnen. «Bei ihrem vorletzten Besuch hat sie sogar an der Wohnungstür geklingelt!» «An der Wohnungstür?» «Ja. Und dann hat sie meine Eltern gefragt, ob sie erlauben, dass ich mit ihr auf die Verlobungsfeier gehe.» «Was, du – mit Olga?», schnaubte der kleine Vampir. «Ich hab natürlich abgelehnt», sagte Anton. «Obwohl meine Eltern schon die Erlaubnis gegeben hatten. Aber ich falle meinen Freunden nicht in den Rücken.» Mit einem gewissen Stolz fügte er hinzu: «Eigentlich hätte ich einen Orden verdient!» «Einen Orden?» Der kleine Vampir lachte höhnisch. «Ha! Olga findet mich mit meinen Übungen noch langweiliger und mittelmäßiger als früher. Sie hat mir vorgeworfen, ich würde 120
das Letzte, was noch einigermaßen interessant an mir war – nämlich mein Vampirsein – verleugnen. Und das ist das Schlimmste überhaupt, hast sie gesagt!» «Doch nicht deshalb», erwiderte Anton. «Wegen der Windpocken hätte ich einen Orden verdient!» «Pocken? Was für Pocken?» «Die Windpocken, mit denen ich Igno von Rant – oder besser gesagt: Professor Piepenschnurz angesteckt habe!» «Piep und schnurz? Ich verstehe kein Wort.» «August Piepenschnurz», erklärte Anton. «Das ist sein richtiger Name. Igno von Rant war nur sein Deckname. In Wirklichkeit ist er Professor und heißt August Piepenschnurz.» «Was will denn ein Professor von uns?» «Genau das ist der Punkt!» Anton holte tief Luft. «Er muss Professor für Vampirologie sein – Vampirforscher!» Rüdiger war noch bleicher geworden. «Vampirforscher?» «Ja!» Und nun erzählte Anton, dass er von Anfang an einen Verdacht gegen Igno von Rant gehabt hatte. Er berichtete von seinem Gespräch mit Johann Holzrock, von Doktor Gans und dem giftgrünen Kombiwagen, von der Pension Nebelhorn und dem, was er der Wirtin an Informationen entlockt hatte. «Dann... dann ist Igno von Rant ein – Mensch!», unterbrach ihn der kleine Vampir mit heiserer Stimme. «Allerdings! Er hatte sich nur geschickt verkleidet und geschminkt.» «Ja, aber was wollte dieser Professor Piepenschnurz von uns?», fragte der kleine Vampir ungeduldig. «Ich schätze, er wollte euch ausforschen und anschließend ein Buch über euch schreiben.» «Genau weißt du es aber nicht, dass er ein Buch schreiben will?» «Nein, wieso?» «Er könnte doch auch... Vampirjäger sein!»
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Anton schüttelte den Kopf. «Das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Professor Piepenschnurz ist ein harmloser Wissenschaftler.» «Harmlos?», schrie der kleine Vampir auf. «Was er uns angetan hat, ist kein bisschen harmlos!» «Das stimmt», lenkte Anton hastig ein. «Ich wollte sagen: Als Wissenschaftler ist Piepenschnurz harmlos – jedenfalls verglichen mit dem Hintermann, dem Drahtzieher dieser Verschwörung!» «Hintermann? Drahtzieher? Von wem sprichst du?» «Von einem, der gerade in Dreiteufelsbrück zu Kur ist.» Anton holte den Briefumschlag von Geiermeier unter seinem Kopfkissen hervor und reichte ihn dem kleinen Vampir. Mit gerunzelter Stirn las Rüdiger die Adresse und den Absender. «Geiermeier?» Anton nickte. «Geiermeier war es, der Professor Piepenschnurz auf euch angesetzt hat!» Der kleine Vampir studierte den Absender ein zweites Mal. «Und woher hast du den Brief?» «Aus der Pension Nebelhorn», antwortete Anton. «Ich habe dir doch erzählt, dass ich mich heimlich in das Zimmer von Professor Piepenschnurz geschlichen hatte. Zuerst konnte ich in dem Zimmer überhaupt nichts Verdächtiges entdecken. Aber dann hab ich den Papierkorb umgekippt – und da fand ich den Brief!» «Alle Achtung!» Der kleine Vampir pfiff anerkennend durch die Zähne. «Das war verdammt gewitzt von dir!» Anton merkte, wie er rote Ohren bekam. Aber schließlich wurde er nicht alle Tage – nein, Nächte! – vom kleinen Vampir gelobt! Jetzt erschien ein breites Grinsen auf Rüdigers Gesicht. «Du hast wirklich einen Orden verdient», erklärte er.
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Und indem er sich mit der Zunge über die Lippen fuhr, fragte er: «Möchtest du ihn gleich jetzt haben?» Anton räusperte sich. «Gleich jetzt? Wie meinst du das?» Rüdigers kräftige, nadelspitze Eckzähne funkelten. «Wir Vampire verleihen nur eine Art von Orden. Und diese Orden sind für die Ewigkeit...» «An so einen hatte ich nicht gedacht», wehrte Anton ab. «Nein?» Der kleine Vampir machte einen Schritt auf ihn zu. «Nein!», bekräftigte Anton. «Ich hatte das mit dem Orden im übertragenen Sinne gemeint.» «Ohne eine gewisse... ähem... Übertragung kann die Ordensverleihung tatsächlich nicht erfolgen!» Der kleine Vampir lachte krächzend. Anton stöhnte leise. «Ich wollte nur sagen: Eigentlich müsstest du mir dankbar sein, weil ich das alles herausgefunden habe!» «Dankbarkeit ist eine Tugend, die du von einem Vampir nicht erwarten solltest», belehrte ihn Rüdiger. «Aber in diesem Fall –» Er verdrehte die Augen. «In diesem Fall bin ich dir sogar ausnahmsweise einmal dankbar. Du bist eben doch... ein echter Freund!» Er gab Anton den Brief zurück. «Wir von Schlottersteins sind dir alle zu Dank verpflichtet», erklärte er. «Aber auf die Danksagungen meiner lieben Verwandten – ausgenommen Anna – legst du wahrscheinlich keinen Wert, oder?» «Überhaupt keinen!», bestätigte Anton. Der kleine Vampir wandte sich zum Fenster. «Bis bald, Anton», sagte er und schwang sich in die Luft. «Bis bald, Rüdiger!», rief Anton dem sich rasch entfernenden Schatten hinterher. «Und... pass auf dich auf!»
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Angela Sommer-Bodenburg Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie, 12 Jahre Grundschullehrerin in Hamburg, lebt in Hidden Meadows, Kalifornien, USA, wo sie schreibt und malt. Veröffentlichungen: «Der kleine Vampir» seit 1979; «Das Biest, das im Regen kam», 1981; «Wenn du dich gruseln willst», 1984; «Die Moorgeister» 1986; «Julia bei den Lebenslichtern», 1989; «Florians gesammelte Gruselgeschichten», 1990; «Schokolowski», seit 1991; «Hanna, Gottes kleinster Engel», 1995; «Das Haar der Berenice», 1997; «Der Fluch des Vampirs», 1998; außerdem mehrere Gedichtbände und Bilderbücher. Übersetzungen in 30 Sprachen. Verfilmung: 13-teilige internationale TV-Serie «Der kleine Vampir», 1986/87; «Der kleine Vampir 2», 13-teilige WDRFernsehserie, 1992/93; Theaterstück «Der kleine Vampir»; «Der kleine Vampir. Das Musical», 250 Aufführungen seit April 1998. Internationaler Kinofilm «The Little Vampire», Premiere Herbst 2000. Angela Sommer-Bodenburg hat ihre eigene Website: http://www.AngelaSommer-Bodenburg.com
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Amelie Glienke Studium der Malerei und der freien Grafik bei Professor Georg Kiefer, Hochschule der Künste in Berlin; arbeitet als Grafikerin, Zeichnerin und (unter dem Namen HOGLI) als Karikaturistin in Berlin und hat zwei Kinder. Sie illustrierte u. a. die «Geschichten ab 3» von Hanne Schüler (Band 20.149, 20.267, 20.330, 20.397, 20.478), «Hexen hexen» von Roald Dahl (Band 20.587), «Der Sprachabschneider» von Hans Joachim Schädlich (Band 20.685) und «Der Summstein» von Lydia Hauenschild (Band 20.928).
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