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Angela Sommer-Bodenburg: geboren 1948 in Reinbek, Studium der Pädagogik, Soziologie und Psychologie, 12 Jahre Grundschullehrerin in Hamburg, lebt in Rancho Santa Fe, Kalifornien, USA. Veröffentlichungen: „Der kleine Vampir“ und „Anton und der kleine Vampir“, 16 Bände, seit 1979; „Sarah bei den Wölfen“, Gedichte, 1979; „Das Biest, das im Regen kam“, 1981; „Ich lieb dich trotzdem immer“, Gedichte, 1982; „Wenn du dich gruseln willst“, 1984; „Die Moorgeister“ 1986; „Coco geht zum Geburtstag“, Bilderbuch, 1986; „Möwen und Wölfe“, Gedichte, 1987; „Julia bei den Lebenslichtern“, Bilderbuch, 1989; „Gerneklein“, Bilderbuch, 1990; „Florians gesammelte Gruselgeschichten“, 1990; „Schokolowski“, vier Bände, seit 1991. Übersetzungen in 21 Sprachen. Verfilmung: 13teilige internationale TV-Serie „Der kleine Vampir“, 1986/87, auch in Belgien, England, Frankreich, Island, Italien, Schweden, Spanien; „Der kleine Vampir 2“ 1992/93; Theaterstück „Der kleine Vampir“, Uraufführung 1988 in Tampere, Finnland. Hörspielkassetten: „Der kleine Vampir“ und „Anton und der kleine Vampir“, seit 1979. Amelie Glienke: Studium der Malerei und freien Grafik bei Professor Georg Kiefer, Hochschule der Künste in Berlin; arbeitet als Grafikerin, Zeichnerin und (unter dem Namen HOGLI) als Karikaturistin in Berlin und hat zwei Kinder. Sie illustrierte u. a. die „Geschichten ab 3“ von Hanne Schüler (rotfuchs 149, 267, 330, 397, 428); „Hexen hexen“ von Roald Dahl (rotfuchs 587) und „Der Sprachabschneider“ von Hans Joachim Schädlich (rotfuchs 685). 2
Angela Sommer-Bodenburg
Der kleine Vampir zieht um Bilder von Amelie Glienke
Rowohlt 3
Lehrerheft siehe Seite 124 Nöstlinger...
Lektorat Renate Boldt
339.–332. Tausend Juni Originalausgabe Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, April 1980 Copyright © 1980 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Umschlagillustration Amelie Glienke rotfuchs-comic Jan P. Schniebel Alle Rechte vorbehalten Gesetzt aus der Garamond (Linotron 404) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 499 20.245 x
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Dieses Buch ist besonders für Katja, die mit ihren Kuscheltieren gespielt hat, wenn ich am Schreibtisch saß – und für alle, denen die Vampirzähne schon gewachsen sind oder die, wie Burghardt Bodenburg, noch darauf warten. Angela Sommer-Bodenburg
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Die Personen dieses Buches
Anton liest gern schaurige Besonders liebt er Vampire, mit deren er sich genau
aufregende, Geschichten. Geschichten über Lebensgewohnheiten auskennt.
Rüdiger, der kleine Vampir, ist seit mindestens 150 Jahren Vampir. Daß er so klein ist, hat einen einfachen Grund: er ist bereits als Kind Vampir geworden. Seine Freundschaft mit Anton begann, als Anton wieder einmal allein zu Hause war. Da saß der kleine Vampir plötzlich auf der Fensterbank. Anton zitterte vor Angst, aber der kleine Vampir versicherte ihm, er habe schon „gegessen“. Eigentlich hatte sich Anton Vampire viel schrecklicher vorgestellt, und nachdem ihm Rüdiger seine Vorliebe für Vampirgeschichten und seine Furcht vor der Dunkelheit gestanden hatte, fand er ihn richtig sympathisch. Von nun an wurde Antons ziemlich eintöniges Leben sehr aufregend: der kleine Vampir brachte auch für ihn einen Umhang mit, und gemeinsam flogen sie zum Friedhof und zur Gruft Schlotterstein. Bald lernte Anton weitere Mitglieder der Vampirfamilie kennen:
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Anna die Zahnlose Schwester. Ihr sind Zähne gewachsen, so einzige in der Milch ernährt. „Aber betont sie. Auch sie Geschichten.
ist Rüdigers kleine noch keine Vampirdaß sie sich als Vampir-Familie von nicht mehr lange!“ liest gruselige
Lumpi, der Starke, Rüdigers großer Bruder, ist ein sehr reizbarer Vampir. Seine mal hoch, mal tief krächzende Stimme zeigt, daß er sich in den Entwicklungsjahren befindet. Schlimm ist nur, daß er aus diesem schwierigen Zustand nie heraus kommen wird, weil er in der Pubertät Vampir geworden ist.
Antons glauben nicht Antons Mutter sein Vater Büro.
Eltern an Vampire. ist Lehrerin, arbeitet im
Tante Dorothee blutrünstigste allen. Ihr nach Sonnenuntergang kann werden.
ist Vampir
der von
zu begegnen lebensgefährlich
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Friedhofswärter Jagd auf Vampire. Vampire ihre unterirdische heute ist es gelungen, das Gruft zu finden.
Geiermeier macht Deshalb haben die Särge in eine Gruft verlegt. Bis Geiermeier nicht Einstiegsloch zur
Die übrigen Verwandten des kleinen Vampirs lernt Anton nicht persönlich kennen. Er hat aber einmal ihre Särge in der Gruft Schlotterstein gesehen.
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Schreck in der Badewanne Anton lag in der Badewanne und las „Im Haus des Grafen Dracula“, als es an der Wohnungstür klingelte. Hoffentlich nicht für mich! dachte er und sah von seinem Buch auf. Er hörte, wie seine Mutter zur Tür ging und öffnete. Dann kam sie über den Flur und klopfte an die Badezimmertür. „Für dich!“ sagte sie. „Ich lese“, brummte Anton. „Wer ist es denn?“ „Ein Vampir!“ „Ein Vampir?“ rief Anton entsetzt. Fast wäre ihm das Buch ins Wasser gefallen. Aber eigentlich konnte die Mutter das nur spöttisch gemeint haben, denn schließlich glaubte sie nicht an Vampire! Obwohl sie erst neulich zwei von ihnen kennengelernt hatte. Doch genau wie Antons Vater glaubte sie, daß die beiden mit ihren modrig riechenden Vampirumhängen nichts weiter als zwei ganz normale Kinder gewesen seien, die nur ein bißchen zu tief in Omas Mottenkiste gegriffen hätten. „Welcher Vampir ist es denn?“ fragte Anton jetzt vorsichtig. „Rüdiger“, antwortete sie. Anton erschrak. Wenn Rüdiger zu ihm in die Wohnung kam, mußte etwas Schreckliches passiert sein! „Moment!“ rief er und stieg aus der Badewanne. „Ich komme.“ Im Flur stand der kleine Vampir. Sein Gesicht sah grau und eingefallen aus, und seine roten Augen flackerten wie im Fieber. „Ich muß dich sprechen“, flüsterte er. Anton schluckte. „Hier?“ sagte er und sah ins Wohnzimmer hinüber, wo seine Eltern saßen.
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Der Vampir warf ihm einen beschwörenden Blick zu. „Du mußt mir helfen!“ flüsterte er. „Ich?“ stammelte Anton. „Ja. Du bist mein einziger Freund.“ „Und – wie?“ „Komm in den Fahrradkeller, sobald du kannst.“ Damit drehte der Vampir sich um und verschwand. „Ist er schon weg?“ rief die Mutter. „Ich hatte Saft für euch.“ „Trinkt er sowieso nicht“, sagte Anton, der jetzt andere Sorgen hatte. Wie sollte er abends um sieben in den Fahrradkeller gelangen, ohne Verdacht zu erregen? Während er sich anzog, sagte er beiläufig: „Ich muß noch mal nach unten.“ „Jetzt?“ sagte die Mutter. „Dein Haar ist doch ganz naß. – Oder hat es etwas mit deinem komischen Freund zu tun?“ fragte sie, plötzlich mißtrauisch geworden. 10
„Nein“, sagte Anton. „Und wohin willst du?“ „Mein Rad in den Keller bringen.“ „Dein neues Rad?“ Das war die Stimme des Vaters. „Soll das heißen, daß du es draußen vergessen hast?“ „Ja.“ Beinahe hätte Anton laut gelacht, denn immerhin stand es schon seit zwei Stunden im Fahrradkeller! „Und da liegst du seelenruhig in der Badewanne!“ schimpfte der Vater. „Geh ja schon“, sagte Anton. Grinsend zog er die Wohnungstür ins Schloß und drückte auf den Fahrstuhlknopf. Was für ein Theater wegen eines lausigen Fahrrads! Fehlte nur noch, daß der Vater aus der Tür guckte und „vergiß nicht abzuschließen“ rief! Der Fahrstuhl kam, und Anton stieg ein. Als er nach unten fuhr, fiel ihm ein, wie erschöpft der kleine Vampir ausgesehen hatte und wie bedrückt seine Stimme geklungen hatte! Plötzlich war ihm gar nicht mehr lustig zumute. Was mochte Rüdiger dazu gebracht haben, zu ihm in die Wohnung zu kommen und ihn um Hilfe zu bitten? Wenn nun der Friedhofswärter die Gruft der Vampire ausfindig gemacht hatte – vielleicht war Rüdiger der einzige Überlebende? Bei diesem Gedanken begann Antons Herz schneller zu schlagen: das würde ja bedeuten, daß auch Anna, Rüdigers kleine Schwester... Nein! So leicht waren die Vampire nicht zu kriegen, auch von Geiermeier, dem Friedhofswärter, nicht! Obwohl – ungefährlich war der nicht, überlegte Anton. Von Rüdiger wußte er, daß Geiermeier den Ehrgeiz hatte, den ersten vampirfreien Friedhof Europas zu haben. Anton hatte den Kellergang erreicht. Er öffnete die Tür und horchte. – Nichts! Vorsichtig machte er ein paar Schritte, dann drückte er auf den Lichtschalter: Der Kellergang war leer, die Tür zum Fahrradkeller geschlossen.
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Langsam ging er weiter. Vor dem Fahrradkeller blieb er stehen und lauschte. Noch immer rührte sich nichts. Er holte tief Luft und schob den Eisengriff nach unten. Ein vertrauter Geruch schlug ihm entgegen: Es roch nach Moder und Sargluft! „Rüdiger?“ fragte er zaghaft. „Psst!“ kam es aus dem Dunkel des Kellers. „Komm rein und mach die Tür zu!“
Gruftverbot Während Anton die Tür hinter sich schloß, konnte er in dem Licht, das vom Kellergang hereinfiel, gerade noch die Fahrräder erkennen, die an der Wand lehnten, sowie eine große Kiste, auf der sich zwei Gestalten schattenhaft abzeichneten. Dann war alles dunkel, und es dauerte ein paar Minuten, bis sich seine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, das durch zwei kleine Kellerfenster kam. Jetzt sah er, daß die Gestalten Umhänge trugen und totenbleiche Gesichter hatten. Vampire also! Der kleinere, schmächtigere war sicherlich Rüdiger – aber wer mochte der zweite, größere und kräftigere Vampir sein? „Rüdiger?“ fragte Anton unsicher. „Ja!“ kam die Antwort. „Warum setzt du dich nicht?“
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„S-setzen? Wo denn?“ „Hier! Zu uns auf den Sarg!“ „Sarg?“ Dann war die große Kiste ein Sarg! Ein furchtbarer Gedanke durchfuhr Anton: Wenn nun der Sarg für ihn war...
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Schließlich hatte er oft genug gelesen, wie aus normalen Menschen Vampire wurden... „Komm schon!“ rief Rüdiger ungeduldig. Mit weichen Knien tappte Anton zum Sarg hinüber und setzte sich auf den äußersten Rand. „Hast du etwa Angst?“ lachte Rüdiger neben ihm. „Ich...“ „Na klar hat er Angst“, ließ sich eine zweite, polternde Stimme vernehmen, die Anton bekannt vorkam, „er weiß ja nicht, was ihn erwartet!“ „Ich – muß gleich wieder hoch“, murmelte er. „Hast du etwa gesagt, wohin du gehst?“ fragte Rüdiger schneidend. „N-nein“, stotterte Anton. „Na gut.“ Rüdigers Stimme klang wieder versöhnlich. „Dann will ich dir erklären, worum es geht.“ Er machte eine Pause und horchte. Anton versuchte, einen Blick auf den großen Vampir zu werfen, konnte aber nichts Genaues erkennen. „Hör zu!“ Obwohl alles ruhig war, senkte Rüdiger seine Stimme zu einem Flüstern. „Ich bin zu Hause rausgeflogen. Ich hab Gruftverbot.“ „Gruftverbot?“ fragte Anton verständnislos. „Ja! Ich darf die Gruft nicht mehr betreten.“ „Nicht? Warum darfst du denn nicht mehr nach Hause?“ „Weil ich freundschaftlichen Kontakt zu Menschen hatte. Das ist für Vampire strengstens verboten!“ „Und woher wußten sie das?“ fragte Anton. „Von meiner Tante Dorothee“, antwortete Rüdiger. „Die hat wochenlang hinter mir hergeschnüffelt. Dann hat sie alles vor den Familienrat gebracht, und der hat das Gruftverbot beschlossen.“ „So eine Gemeinheit!“ sagte Anton empört. „Und wo willst du jetzt wohnen?“ 14
„Na ja“, sagte Rüdiger und hüstelte, „bei dir!“ „Bei mir?“ rief Anton erschrocken. „Wie stellst du dir das vor? Meine Eltern...“ „Doch nicht in der Wohnung“, unterbrach ihn Rüdiger, „im Keller natürlich!“ „Aber hier kann doch jeder rein!“ Anton wies auf die Fahrräder, die an der Wand standen. „Jeder kann hier sein Rad abstellen.“ Rüdiger machte eine ungeduldige Handbewegung. „Hier doch nicht! In eurem Keller!“ „Was?“ rief Anton entsetzt. „Aber das merken meine Eltern doch sofort.“ „Unsinn“, sagte der zweite Vampir, „du mußt clever sein!“ „Und wenn meine Mutter etwas aus dem Keller holen will? Zum Beispiel Wein?“ „Dann gehst eben du!“ krächzte der große Vampir. „Und wenn mein Vater basteln will?“ „Dann – dann mußt du ihn einfach ablenken. Fernseher einschalten – oder Sportzeitung bringen...“ „Mein Vater liest keine Sportzeitung“, sagte Anton. „Verflucht noch mal!“ rief der Vampir. „Dann bringst du ihm etwas anderes, so blöd bist du doch nicht!“ „Ja ja“, lenkte Anton schnell ein, um ihn nicht noch mehr zu reizen. Ob der zweite Vampir Lumpi war? So aufbrausend war eigentlich nur Rüdigers Bruder Lumpi, und vor dem hatte Anton eine Heidenangst, wenn er an seine früheren Begegnungen mit ihm zurückdachte! „Und der S-Sarg? Soll der auch mit?“ wandte er sich mit zitternder Stimme an Rüdiger. „Der Sarg ist doch das Wichtigste! Wo soll ich sonst schlafen?“ rief Rüdiger. „Oder glaubst du, wir hätten ihn nur zum Vergnügen von der Gruft bis hierher geschleppt?“ „Nein“, murmelte er, „ich dachte nur, weil – unser Keller ist ziemlich voll.“ 15
„Dann müssen wir eben Platz schaffen!“ erklärte Rüdiger und stand auf. Auch der große Vampir rutschte vom Sarg herunter. „Gehen wir jetzt endlich?“ donnerte er. „Mo-Moment“, sagte Anton, „ich – hab doch keinen Kellerschlüssel.“ „Und wo ist der?“ „O-oben. Ich wußte doch nicht...“ „Na los, dann hol ihn!“ rief der große Vampir ärgerlich. „Und beeil dich!“ „Ja“, sagte er und stolperte zur Tür.
Falsches Spiel Ohne Licht zu machen, rannte Anton durch den Kellergang, die Kellertreppen hoch bis zum Fahrstuhl. Was sollte er bloß seinen Eltern sagen, warum er noch mal in den Keller müßte? Oder sollte er sich heimlich in die Wohnung schleichen, um den Kellerschlüssel zu holen? Aber er war schon viel zu lange weg gewesen, und wenn er jetzt nicht gleich zurückkam, gingen sie bestimmt nach unten, um nachzusehen! Vielleicht sollte er sich eine Ausrede zurechtlegen? Ja, das war die richtige Idee! Erleichtert betrat er den Fahrstuhl und fuhr nach oben. „Anton?“ fragte seine Mutter, als er die Wohnungstür aufschloß. „Ja?“ sagte er mit seiner freundlichsten Stimme. „Komm doch mal her! – Wo warst du so lange?“ „Ich? – Im Keller. Ich hab noch einen aus der Schule getroffen.“ „So so“, sagte sein Vater spöttisch. „Im Keller, ja?“ „Natürlich nicht! Im Treppenhaus.“ „Und wen?“ fragte die Mutter. „Andreas.“ 16
„Ich dachte, den magst du nicht?“ „D-doch“, sagte er gedehnt. „Außerdem hat er mich eingeladen. Zum Monopoly-Spielen. Darf ich mein Spiel mit runternehmen?“ „Jetzt?“ rief die Mutter. „Ist doch erst kurz nach sieben!“ Er dachte an die Vampire, die nun schon fast zehn Minuten auf ihn warteten! Und falls der zweite Vampir wirklich Lumpi war – der würde bestimmt einen schrecklichen Wutanfall bekommen, wenn er ihn noch länger warten ließ! „Merkwürdige Einladung, bei der du dein Spiel mitbringen sollst“, brummte der Vater. „Wieso?“ sagte Anton. „Er hat keins.“ „Und wo wohnt dieser Andreas?“ erkundigte sich die Mutter. „Im – äh – zweiten Stock.“ Die Mutter sah ihn einen Augenblick lang prüfend an, dann sagte sie: „Aber um acht bist du wieder oben!“ „Klar“, rief Anton und biß sich auf die Zunge, um nicht loszulachen, „also dann...“ Auf Zehenspitzen ging er zum Schlüsselbrett, nahm den Kellerschlüssel vom Haken und ließ ihn in seine Hosentasche gleiten. Er war schon an der Wohnungstür, als sein Vater rief: „Wolltest du das Spiel nicht mitnehmen?“ „Ach so“, murmelte er, „na-natürlich.“ Schnell lief er in sein Zimmer. Wo hatte er das Spiel nur zuletzt gesehen? Im Schreibtisch? Vergeblich durchsuchte er alle vier Schubladen. Auch im Regal lag es nicht, und im Kleiderschrank fand er nur Briefmarkenalben und Comichefte. Schließlich fiel sein Blick auf die Spielesammlung. Dann würde er eben die nehmen! Er klemmte sich den Karton unter den Arm und ging in den Flur. „Bis nachher!“ rief er und zog die Wohnungstür hinter sich zu.
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Sargträger „Endlich!“ empfing der große Vampir Anton im Fahrradkeller. „Das hat ja eine Ewigkeit gedauert!“ „Ich – mußte meinen Eltern erst noch erzählen, wohin ich gehe.“ „Und?“ rief Rüdiger. „Was hast du gesagt?“ „Daß ich zu einem Freund gehe.“ „Pah – Freund!“ zischte der große Vampir. „Hilf lieber beim Tragen!“ „Und das Spiel?“ fragte Anton hilflos. „Welches Spiel?“ Der Vampir musterte den Karton unter Antons Arm. „Gib her!“ Damit packte er den Karton und ließ ihn unter seinen Umhang verschwinden. „He!“ protestierte Anton und sah Rüdiger hilfesuchend an. Doch der zuckte nur mit den Schultern. „Na los!“ brüllte der große Vampir. „Faß an! Du vorne, Rüdiger hinten!“ „Und du?“ fragte Anton, während er den Sarg anhob. „Ich halte die Tür auf!“ Der Sarg war schwerer, als er gedacht hatte – und Rüdiger auch nicht gerade der Kräftigste! Ächzend erreichten sie Antons Kellertür. „Na?“ sagte der große Vampir und beobachtete grinsend, wie sich Anton und Rüdiger die schmerzenden Finger rieben. „W-wie habt ihr den Sarg bloß bis hierher bekommen?“ fragte Anton. „Lumpi hat ihn getragen“, antwortete Rüdiger. „Und zwar allein!“ rief Lumpi. „Ach so“, murmelte Anton. Es war also tatsächlich Lumpi der Starke. Ehrfürchtig sah er ihn von der Seite an. Sich mit Lumpi anzulegen konnte lebensgefährlich werden! „Willst du nicht endlich aufschließen?“ knurrte Lumpi.
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„So-sofort“, sagte Anton und zog den Kellerschlüssel hastig aus der Tasche. Mit zitternden Händen steckte er ihn ins Schloß – quietschend öffnete sich die Tür. Lumpi schob den Sarg in den Keller und schloß die Tür hinter ihnen. „S-soll ich Licht machen?“ stotterte Anton. „Licht?“ schnaubte Lumpi. „Bist du verrückt?“ „Aber wir können doch gar nichts sehen!“ „Ich schon!“ erklärte Lumpi und begann, die Pappkartons, die in der Mitte des Kellers standen, zur Seite zu schieben. „Vorsicht!“ schrie Anton. „Das sind Weinflaschen!“ Zu spät – es klirrte, und auf dem Boden bildete sich eine große Pfütze. „Macht nichts“, erklärte Lumpi, „trocknet wieder.“ „Und wohin soll mein Sarg?“ rief Rüdiger. „Der! Nach hinten, zum Gerümpel!“ „Zum Gerümpel?“ rief Rüdiger empört. „Na klar! Da fällt er am wenigsten auf!“ „W-wir haben gar kein Gerümpel“, sagte Anton. „Mein Vater räumt jeden Monat den K-Keller auf.“ „Was?“ schrie Rüdiger. „Das sagst du erst jetzt? Und wenn er mich dabei findet?“ „Das wird Anton schon zu verhindern wissen“, sagte Lumpi und schlug Anton leutselig auf die Schulter, „nicht wahr?“ „Äh – ja“, murmelte Anton, dem bei dem Gedanken daran, was ihn in den nächsten Wochen erwarten mochte, ganz elend wurde. „Ich – äh – sammle mal die Scherben zusammen.“ Er griff in den Karton und schrie auf. „Au, mein Finger!“ Interessiert kam Lumpi näher: „Laß sehen!“ Und mit vor Aufregung heiserer Stimme rief er: „Blut?“ „J-ja, äh – nein“, sagte Anton und steckte den heftig blutenden Finger schnell in den Mund, „ha-hat schon aufgehört.“
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Vampire und – Blut! Er wußte, daß Vampire sich von Blut ernähren, und irgendwo hatte er mal gelesen, daß sie einen Blutstropfen sogar meterweit riechen könnten! „W-wollen wir nicht den Sarg verstauen?“ fragte er ablenkend. „Ich muß auch gleich wieder hoch...“ „Das hat Zeit“, antwortete Lumpi. „Erst will ich deinen Finger sehen!“ „Hi-hier“, stammelte Anton. Der Schnitt war noch da, aber es blutete nicht mehr! Lumpi beschnüffelte jeden einzelnen Finger. „Nichts“, murmelte er. Wütend drehte er sich um. „Komm“, herrschte er Rüdiger an, „stellen wir den Sarg endlich weg! Ich hab’ Hunger!“ „Soll ich nicht doch Licht machen?“ fragte Anton. Wer wußte, was sonst noch zu Bruch ginge! „Meinetwegen“, knurrte Lumpi. Anton drehte den Lichtschalter an und blieb erschrocken stehen: Lumpi sah so entsetzlich aus, daß sich ihm die Haare sträubten – kreidebleich, mit einem großen, blutroten Mund, aus dem die Eckzähne wie Raubtierfänge hervorguckten. „Was ist?“ rief Lumpi. „Willst du nicht mit anfassen?“ „D-doch“, stotterte Anton. „Ich möchte hinter die Kiste da!“ erklärte Rüdiger. „Das geht nicht“, sagte Anton. „Das ist die Kartoffelkiste. Die steht fest an der Wand.“ „Dann neben die Kiste“, bestimmte Rüdiger. Lumpi schob den Sarg an die Wand und sah sich suchend im Keller um. Er entdeckte einen Stapel Holzlatten, mit denen Antons Vater die Küchenwand verkleiden wollte. „Na bitte“, rief er, „genau das Richtige!“ Er lehnte sie schräg gegen die Kellerwand, so daß der Sarg dahinter verschwand. „Und jetzt“, brüllte er, „muß ich sofort etwas essen, wenn ich nicht umfallen will! Kommst du mit, Rüdiger?“ 20
Anton zuckte zusammen. Aber Lumpis Hunger schien sich nicht auf ihn zu beziehen, denn er stand schon am Kellerfenster und öffnete das Drahtgitter. Mit einem mächtigen Satz sprang er hinauf und kletterte ins Freie. Rüdiger folgte ihm. „Und laß das Fenster offen, verstanden?“ zischte Lumpi und breitete die Arme unter seinem Umhang aus. „Ja“, sagte Anton. Er hörte, wie sich die Vampire in die Luft erhoben. Dann war alles ruhig. Wenn ich das alles doch nur geträumt hätte! dachte Anton. Aber dort an der Wand standen die Latten, und dahinter war Rüdigers Sarg! Trübselig ging er zur Tür, knipste das Licht aus und hängte das Schloß wieder ein. Das konnten schlimme Wochen werden!
Trübe Aussichten Antons Eltern saßen noch immer vor dem Fernseher. „Na, wie war’s?“ rief der Vater. „Gut“, sagte Anton und wollte an der Wohnzimmertür vorbei in sein Zimmer gehen. Er war hundemüde. „Und wie war das Monopoly-Spielen?“ Anton blieb stehen. „Auch gut“, sagte er und gähnte. „Hast du’s wieder mitgebracht?“ „Ja.“ „Komisch“, sagte der Vater, „ich hätte schwören können, daß du eben ohne Monopoly-Spiel an der Tür vorbeigegangen bist.“ „Hab’s schon in mein Zimmer gebracht.“ „So so. Und wie erklärst du dir, daß es hier auf dem Fernseher liegt?“ „Auf dem Fernseher?“ sagte Anton erschrocken. „Allerdings!“ rief der Vater. „Was sagst du nun?“ 21
„Ich – ich hab’s vorhin nicht gefunden“, murmelte Anton, „und – da...“ „Ja?“ „... da hab’ – ich die Spielesammlung genommen.“ „Und wo ist die jetzt?“ „Die hab’ ich vergessen.“ Der Vater schnaubte empört. „Reizend!“ rief er. „Wenn alle so mit ihren Sachen umgehen würden...“ In diesem Augenblick begann die Tagesschau. Sofort bekam das Gesicht des Vaters einen gespannten Ausdruck, und er machte eine abwinkende Handbewegung in Antons Richtung, die bedeuten sollte, daß er jetzt zu schweigen hätte. „Darf ich gehen?“ fragte Anton mit nur schlecht unterdrückter Wut. Der Vater gab keine Antwort, aber die Mutter stand auf und legte ihren Arm um Antons Schulter. „Geh nur!“ sagte sie freundlich. „Ich komme auch mit.“ Im Flur meinte sie: „Du kennst doch Vati mit seiner Tagesschau.“ „Erst quetscht er mich wie eine Zitrone aus“, sagte Anton empört, „und dann hat er nichts Wichtigeres zu tun, als Tagesschau zu sehen!“ „Er möchte eben wissen, was in der Welt vor sich geht!“ „Ach“, schimpfte Anton, „das ist doch jeden Tag dasselbe. Irgendwo ist immer Krieg, und die Politiker kommen auch nicht vom Fleck mit ihren Verhandlungen. Er sollte sich lieber um das kümmern, was um ihn herum passiert!“ „Und worum sollte er sich da, deiner Meinung nach, kümmern?“ fragte die Mutter und lächelte. „Darum, daß ich jetzt zum Beispiel wütend auf ihn bin“, erklärte Anton, „und daß er sich mehr für die Tagesschau als für uns interessiert!“
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„Er ist doch nicht immer so“, sagte die Mutter beschwichtigend, „am Wochenende will er sogar die Küche mit Holz verkleiden.“ „Was?“ schrie Anton entsetzt. „Ich dachte, das wollte er im Urlaub machen?“ „Eigentlich schon“, antwortete die Mutter, „aber nun will er doch am Wochenende anfangen.“ „Ich – helf ihm dann“, sagte Anton schnell. Vielleicht gelang es ihm ja, den Vater vom Keller fernzuhalten. „Das ist lieb von dir“, sagte die Mutter, „und nun schlaf gut, ja?“ „Gute Nacht“, murmelte Anton. Heute war Dienstag, überlegte er in seinem Bett. Also hatte er noch drei Tage Zeit bis Samstag. Morgen würde er auf jeden Fall mit Rüdiger sprechen! Vielleicht fiel ihnen gemeinsam etwas ein?
Morgenmuffel Der nächste Tag war trüb und regnerisch. Gegen sechs Uhr begann es schon zu dämmern. Antons Vater kam nie vor halb sieben nach Hause, und Antons Mutter saß in ihrem Zimmer und sah Aufsätze nach, wobei sie „keinesfalls gestört“ werden wollte, wie sie erklärt hatte. Die Gelegenheit, unbemerkt zu Rüdiger in den Keller zu kommen, war also günstig! Leise ging Anton durch den Flur, nahm den Kellerschlüssel und zog die Wohnungstür geräuschlos ins Schloß. Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl nach unten. Niemand begegnete ihm, und auch der Kellergang lag wie ausgestorben da. Ein muffiger Geruch stieg ihm in die Nase, den er hier unten noch nie bemerkt hatte – ob der von Rüdiger kam?
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Vor der Kellertür mit dem Schild Bohnsack blieb er stehen und lauschte. „Rüdiger?“ flüsterte er und klopfte gegen das Holz. „Ich bin’s, Anton.“ Keine Antwort. Ob Rüdiger schon abgeflogen war? Aber dafür war es doch eigentlich noch zu hell! Denn solange die Sonne nicht untergegangen ist, können die Vampire ihre Särge nicht verlassen. „Rüdiger?“ fragte er, diesmal lauter. Wieder blieb alles ruhig. Vielleicht war Rüdiger gar nicht in den Keller zurückgekehrt und hatte anderswo übernachtet? Aber nein, er mußte ja in seinem Sarg schlafen! Anton klopfte noch einmal. Als auch dann keine Antwort kam, schloß er die Tür auf und trat ein. Im Dämmerlicht sah er, daß das Fenster verriegelt war. Folglich mußte Rüdiger im Sarg sein! Vorsichtig ging er um die Latten herum und besah den Sarg dahinter. Der Deckel war geschlossen, und nur der Modergeruch deutete an, daß er belegt war. Im Innern des Sarges erklang jetzt ein dumpfes Ächzen, es polterte und krachte, und gleich darauf hob sich langsam der Deckel. Rüdigers aschfahles Gesicht tauchte auf. Die Augen waren noch geschlossen, nur der Mund war zu einem herzhaften Gähnen geöffnet, bei dem Anton die kräftigen Eckzähne sehen konnte. „Rüdiger?“ flüsterte er. Der kleine Vampir fuhr in die Höhe. „Wer ist da?“ krächzte er. „I-ich“, stotterte Anton. „Ach du“, sagte der Vampir erleichtert und reckte sich. „Ist was passiert?“ „Ja – ich meine, nein“, sagte Anton, „das heißt, mein Vater braucht die Bretter.“ „Welche Bretter?“ fragte der Vampir gähnend. 24
„Na, diese hier!“ Anton zeigte auf die Holzlatten. „Und außerdem hat er sein gesamtes Werkzeug im Keller.“ Der Vampir setzte sich auf den Sargrand und seufzte. „Und was hab’ ich damit zu tun?“ „Begreifst du denn nicht?“ Antons Stimme überschlug sich. „Wenn er in den Keller kommt, findet er dich!“ „Ach so –“ Verschlafen rieb sich der Vampir die Augen. „Und das alles auf nüchternen Magen!“ sagte er kläglich. „Wir müssen uns etwas überlegen!“ rief Anton. „Dann stellen wir die Latten eben wieder zurück“, schlug der Vampir vor. „Und der Sarg?“ fragte Anton. „Was machen wir mit dem?“ „Wenn ich bloß nicht so müde wäre!“ sagte der kleine Vampir weinerlich. „Ich kann überhaupt nicht denken.“ „Heute ist Mittwoch!“ rief Anton. „Am Samstag will er die Bretter holen!“ Der Vampir drehte den Kopf zur Wand und schluchzte. „Ich hab’s ja verstanden“, sagte er, „aber mit leerem Magen bin ich zu nichts zu gebrauchen... Und außerdem hast du meinen Tageslauf durcheinandergebracht“, rief er plötzlich wütend. „Im Sarg lese ich immer, bevor ich aufstehe!“ Mit beleidigter Miene legte er sich in den Sarg zurück, griff unter das Kopfkissen und zog eine Kerze, Streichhölzer und ein Buch hervor. Ohne Anton eines weiteren Blickes zu würdigen, zündete er die Kerze an, klemmte sie am Sargrand fest und schlug sein Buch auf. Wie vor den Kopf geschlagen blieb Anton stehen und starrte auf den Vampir, der in aller Seelenruhe „Draculas Rache“ las. Sollte das bedeuten, daß er ihm die ganze Arbeit aufhalsen wollte? Das wäre ja ganz schön unfair – sich in den gemachten Keller zu legen und darauf zu vertrauen, daß er, Anton, alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen würde! „Mit Freundschaft hat das aber nichts zu tun!“ rief Anton aufgebracht. 25
„Psst!“ fauchte der Vampir. „Wenn ich beim Lesen gestört werde, kann ich furchtbar werden!“ Verärgert biß sich Anton auf die Lippen. Und nun? Er sah sich im Keller um und überlegte. Sollte er die Latten an den ursprünglichen Platz zurückstellen? Aber womit sollte er dann den Sarg verdecken? Warum war der Keller auch so verflucht aufgeräumt! Andere Leute hatten einen Haufen Gerümpel im Keller, hinter dem Rüdigers Sarg mühelos hätte versteckt werden können! Wenn er nun ein großes Tuch über den Sarg deckte? Aber dann würde der Vater wissen wollen, was darunter war. Nein, das ging auch nicht. Blieb nur die Möglichkeit zu verhindern, daß der Vater überhaupt in den Keller kam! „Ich geh’ jetzt“, sagte er. „Und komm bloß nicht wieder so früh!“ rief der Vampir. „Morgens bin ich nämlich ungenießbar!“ „Kann man wohl sagen“, brummte Anton, während er hinausging.
Faule Ausreden Samstag war der Tag, an dem Anton gern lange schlief. Wenn er gegen zehn oder halb elf aufwachte, hatten die Eltern meistens schon gefrühstückt und waren zum Einkaufen gegangen. Nur Antons Teller stand dann noch auf dem Küchentisch, mit Brötchen und einem gekochten Ei unterm Eierwärmer. Doch an diesem Samstag erwachte Anton ganz früh. Er machte Licht und sah sich in seinem Zimmer um – war er nicht eben noch mit seinem Vater im Keller gewesen? Und hatte der Vater nicht gerade den Sargdeckel öffnen wollen...? Aber nein! Er mußte alles geträumt haben, denn er lag ja noch im Bett und trug seinen Nachtanzug! 26
Er sah auf den Wecker: Viertel nach sieben! Sogar die Eltern schliefen noch! Seufzend zog sich Anton die Decke bis zum Kinn. Einschlafen würde er bestimmt nicht wieder, dafür war er viel zu aufgeregt! Ob sein Plan klappen würde? Und wenn nicht? Er nahm sein neues Buch, „Gelächter aus der Gruft“, und versuchte zu lesen. Aber was dort von den Schrecken der Gruft berichtet wurde, kam ihm, verglichen mit dem, was ihn heute morgen erwartete, geradezu lächerlich vor, und so legte er das Buch beiseite. Vielleicht sollte er Frühstück machen? Er stand auf und ging ins Bad. Im Spiegel betrachtete er sein Gesicht. Richtig käsig sah er aus – so wie die Eltern manchmal am Sonntag, wenn sie zu lange gefeiert hatten! Er nahm den Seifenlappen und rieb die Haut, bis sie rot wurde. Dann zog er sich an und ging in die Küche. Er füllte die Kaffeemaschine, setzte den Milchtopf auf den Herd und stellte den Eierkocher an. Nachdem er das Frühstücksgeschirr aufgedeckt hatte, überlegte er, ob noch etwas fehlte. Ach ja, die Brötchen! Er wartete, bis die Eier fertig waren, dann lief er zum Bäcker und holte sechs Brötchen. Na, wenn das keinen Eindruck bei den Eltern machte! Er ging zur Schlafzimmertür und klopfte. „Ja?“ fragte die Mutter verschlafen. „Frühstücken!“ rief Anton. Ein paar Minuten vergingen. Dann erschien die Mutter auf der Schwelle. „Hast du wirklich Frühstück gemacht?“ fragte sie. „Klar“, sagte Anton, als sei das nichts Besonderes, „und jetzt kommt! Die Eier werden kalt!“ „Ja – gleich“, sagte die Mutter, „ich muß Vati wecken. Er soll ruhig schon aufstehen, schließlich will er heute die Küche machen!“ Ein Schauer durchfuhr Anton. Als ob er das vergessen hätte!
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„Was? Schon alles fertig?“ rief der Vater mit schlecht gespieltem Erstaunen, als er die Küche betrat. Er setzte sich, nahm das Ei aus dem Eierbecher und schüttelte es. „Steinhart, was?“ grinste er. Anton machte ein beleidigtes Gesicht. „Du glaubst wohl, ich kann keinen Eierkocher bedienen!“ „Und der Kaffee?“ wandte sich der Vater an die Mutter. „Wie schmeckt der?“ „Gut“, sagte die Mutter, und Anton brummte: „Automatisch gekocht.“ „Sogar Brötchen!“ Der Vater griff sich eins und biß hin ein. „Ich kenne meinen Sohn nicht wieder!“ „Und warum das alles?“ fragte er nach einer Weile und sah Anton prüfend an. „Hast du etwas ausgefressen?“ „Ich?“ rief Anton entrüstet. „Ich doch nicht.“ „Schlechte Arbeit geschrieben?“ „Nein.“ Während der Vater sein Brötchen mit Butter bestrich, ließ er Anton nicht aus den Augen. „Aber irgend etwas muß doch sein“, sagte er. Anton zögerte. „Ich – hab’ den Kellerschlüssel verloren“, sagte er dann. „Was hast du?“ rief der Vater. „Den Kellerschlüssel verloren? Und wie soll ich an die Latten und an das Werkzeug kommen?“ „W-weiß ich nicht“, murmelte Anton und versuchte, möglichst geknickt auszusehen. „Und wie hast du ihn verloren?“ „Beim Fahrradfahren.“ „Und wann?“ „Gestern.“ „Hast du ihn wenigstens gesucht?“ „Nein“, sagte Anton, „es war schon dunkel.“
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„Dann suchst du ihn eben jetzt!“ rief der Vater wütend. „Wie kann man nur so lahm sein!“ „Bin ja schon unterwegs“, antwortete Anton. „Laß ihn zumindest in Ruhe frühstücken“, sagte die Mutter verärgert, „so wichtig ist der Kellerschlüssel auch nicht!“ „Ich hab’ sowieso keinen Hunger mehr“, murmelte Anton. An der Tür blieb er stehen. „Fä-fängst du trotzdem schon an?“ fragte er vorsichtig. „Wie denn – ohne Werkzeug?“ knurrte der Vater. „Nein, ich warte auf dich!“ Im Fahrstuhl sang Anton, so laut er konnte. Ein Siegesgefühl erfüllte ihn: Sein Plan hatte geklappt! Niemand hatte erraten, daß der Kellerschlüssel in seiner Hosentasche steckte! Und wenn er am Nachmittag mit dem Schlüssel zurückkam, würde es sich für den Vater nicht mehr lohnen, in den Keller zu gehen. Außerdem wollten die Eltern heute abend ins Kino. Und morgen, am Sonntag, kamen die Großeltern zu Besuch – da konnte der Vater auch nicht in den Keller gehen! Noch immer singend, schlug Anton den Weg zu seinem Freund Ole ein, bei dem er bis zum Nachmittag Monopoly spielen würde – natürlich mit Oles Spiel!
Später Besuch Es war halb neun. Anton lag auf seinem Bett und hörte Musik. Kurz vorher waren seine Eltern aufgebrochen, wie immer in Eile. Auf Antons gewohnte Frage: „Und wann kommt ihr wieder?“ hatte der Vater: „So um Mitternacht“ geantwortet. Anton konnte es nur recht sein! Wahrscheinlich dachten seine Eltern, er bliebe nicht gern allein – was ja auch im allgemeinen stimmte, nur dann natürlich nicht, wenn ein guter Film im Fernsehen lief! Zum Beispiel so ein toller Krimi wie 29
heute abend – er drehte sich zur Seite und griff nach der Programmzeitung vor seinem Bett –, und noch dazu mit seinen Lieblingsschauspielern! Es klopfte am Fenster. Erschrocken hob Anton den Kopf. Die Vorhänge waren noch nicht geschlossen, und er konnte eine Gestalt vor seinem Fenster erkennen. War es Rüdiger? Oder seine kleine Schwester Anna? Er merkte, wie sein Herz schneller schlug. Wieder klopfte es, und dann hörte er Rüdigers Stimme: „Mach schnell!“ Er lief zum Fenster und öffnete es. Mit einem Satz sprang der kleine Vampir ins Zimmer. „Puh!“ schnaubte er. „Fast hätte sie mich erwischt!“ „Wer?“ fragte Anton. „Tante Dorothee. Die spioniert draußen herum.“ „Was?“ schrie Anton. „Tante Dorothee? Weiß die etwa, daß ich hier wohne?“ „Klar“, sagte der Vampir, und kichernd fügte er hinzu: „Aber daß ich hier wohne, davon hat sie keine Ahnung!“ Anton war kreidebleich geworden. „Wo-woher weiß sie denn, wo ich wohne?“ „Woher?“ sagte der Vampir und lachte. „Sie ist mir doch immer nachgeflogen, bevor ich Gruftverbot bekam.“ Entsetzt starrte Anton ihn an. Hatte der kleine Vampir nicht mal gesagt, Tante Dorothee sei die Schlimmste von allen...? Wenn sie nun nachts an sein Fenster käme und klopfte und wenn er dann ahnungslos öffnete... „Und w-was wollte sie?“ stotterte er. „Herausbekommen, wo mein Sarg ist!“ Der Vampir spähte hinaus in die Dunkelheit, rieb seine knochigen Finger und lachte: „Diesmal bin ich schlauer als sie!“ Anton zitterte noch immer. Der Gedanke, Tante Dorothee könnte es auf ihn abgesehen haben, war zu schrecklich! 30
„Und – kommt sie noch mal wieder?“ fragte er ängstlich. „Heute bestimmt nicht“, sagte der Vampir. „Und m-morgen?“ Der Vampir zuckte die Schultern. „Die Hauptsache ist, daß sie meinen Sarg nicht findet.“ Wütend biß Anton die Lippen zusammen. „Du bist der selbstsüchtigste Mensch, der mir je begegnet ist!“ rief er dann. „Sagtest du Mensch?“ erwiderte der Vampir spöttisch. „Dann eben Vampir!“ rief Anton. „Jedenfalls gehst du über Leichen, und Freundschaft zählt bei dir nicht!“ Doch statt sich getroffen zu fühlen, sah der Vampir äußerst geschmeichelt aus. „Ah, das hätten die anderen Vampire hören müssen“, stöhnte er, „die behaupten immer, ich sei zu gut!“ Erbost wandte sich Anton ab. Mit Ausnahme seiner eigenen Probleme schien den Vampir nichts zu interessieren, und sogar die Vorstellung, daß seine blutrünstige Tante über Anton herfallen könnte, ließ ihn kalt! „Jedenfalls – ein richtiger Freund bist du nicht!“ sagte er. „Nicht?“ rief der Vampir. „Wäre ich dann gekommen, um dich zum Vampirtreffen abzuholen?“ „Zum – was?“ fragte Anton. „Zum Vampirtreffen“, sagte der Vampir stolz und zog seinen Umhang aus. Darunter trug er einen zweiten verschlisseneren. „Oder sind deine Eltern etwa zu Hause?“ „Nein“, sagte Anton, „aber was ist denn ein Vampirtreffen?“ „Ach“, meinte der Vampir und machte eine weitausholende Bewegung, „das mußt du selbst erlebt haben.“ Und geschäftig setzte er hinzu: „Komm, jetzt machen wir dich zum Vampir!“ Fast hätte Anton laut aufgeschrien – wußte er doch aus seinen Büchern, auf welche Weise Menschen zu Vampiren wurden! Unwillkürlich legte er seine Hände schützend um den Hals.
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Aber der Vampir lachte nur. „Doch nicht so, wie du denkst! Anmalen mußt du dich!“ „Anmalen?“ fragte Anton verständnislos. „Na klar! Habt ihr keine Babycreme? Keinen Lippenstift?“ „D-doch“, sagte Anton, „im Badezimmer...“ „Dann komm!“
Antons zweites Gesicht Im Badezimmer streifte der kleine Vampir Anton den Umhang über. Dann ging er ein paar Schritte zurück und betrachtete ihn prüfend. „Also – deine Jeans gucken raus“, erklärte er und machte ein bedenkliches Gesicht, „kein Vampir trägt Jeans!“ „Was dann?“ fragte Anton. Der Vampir hob seinen Umhang, so daß Anton seine schwarze Wollstrumpfhose sehen konnte. „So was“, sagte er, „handgestrickt.“ „Ich hab’ aber keine Strumpfhose“, murmelte Anton. „Nicht?“ sagte der Vampir. „Und was trägst du im Winter?“ „Lange Unterhosen“, sagte Anton, „weiße.“ „Igitt!“ rief der Vampir. „Weißt du was? Ich gebe dir meine!“ „Deine?“ sagte Anton erschrocken. Vampir-Strumpfhosen anziehen zu müssen, das war ja wohl das letzte! Doch der Vampir begann sie bereits auszuziehen. „Ich habe ohnehin noch zwei drunter“, sagte er. „Was?“ rief Anton ungläubig. „Noch zwei?“ „Na ja“, sagte der Vampir und reichte ihm die Strumpfhose, „wegen der Löcher...“ Anton zog seine Jeans aus und legte sie auf den Hocker. „Ho-hoffentlich paßt sie“, murmelte er, während er mit den Füßen in die Strumpfhose stieg. „Bestimmt“, sagte der Vampir, „ist ja von Lumpi.“ 32
Auch das noch! Nicht nur, daß er dieses schreckliche Ding anziehen sollte – jetzt mußte er auch noch damit rechnen, Ärger mit Lumpi zu kriegen! Obendrein kratzte die Wolle erbärmlich. „Vie-vielleicht sollte ich doch lieber zu Hause bleiben“, schlug er zaghaft vor, doch davon wollte der Vampir nichts wissen. „So eine einmalige Gelegenheit willst du dir entgehen lassen?“ rief er. „N-nein“, sagte Anton, „nur- kommen viele Vampire?“ „Alle! Deshalb müssen wir dich auch todsicher verkleiden!“ „T-todsicher?“ stotterte Anton. „W-wie meinst du das?“ „So, daß dich keiner erkennt und niemand Verdacht schöpft! Fangen wir mit den Haaren an!“ Er nahm die Bürste und fuhr Anton so wild über den Kopf, daß der aufschrie. „Aua! Außerdem machst du den ganzen Umhang schmutzig!“ „Wieso?“ sagte der Vampir. „Hast du Schuppen? Na, ist ja herrlich, dann sieht der Umhang schön gebraucht aus! – So, und nun das Gesicht! Wo ist die Babycreme?“ „Im Schrank“, antwortete Anton und faßte nach seinen Haaren, die ihm wie Federbüschel vom Kopf abstanden. Der Vampir hatte inzwischen die Babycreme gefunden und trug sie Anton in einer dicken Schicht auf das Gesicht auf. „Und jetzt verreiben!“ „Erst mal können!“ knurrte Anton und bemühte sich, die feste, weiße Paste gleichmäßig zu verteilen. „Reicht schon“, erklärte der Vampir, „und nun überpudern!“ Damit hob er die Puderdose und bestäubte kräftig Antons Gesicht. Während Anton nach Luft schnappte, rieb er sich die Hände und schrie begeistert: „Todschick, Anton! – Und jetzt die Lippen! Wo ist der Lippenstift?“
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„Im untersten Fach“, ächzte Anton mit erstickter Stimme. Der Vampir drehte den Lippenstift aus der Hülse und besah ihn mit verzückter Miene. „Hm“, sagte er, „blutrot!“ Er hielt ihn unter die Nase und schnupperte daran. Doch sogleich nahm sein Gesicht einen angewiderten Ausdruck an, und voller Verachtung rief er: „Bah, süß wie Bonbons! – Na ja“, sagte er dann, „soll auch nicht zum Essen sein.“ Mit schnellen Strichen begann er Antons Lippen zu bemalen. „Mit oder ohne Blutstropfen?“ fragte er. „Was würdest du mir empfehlen?“ „Mit“, antwortete der Vampir und machte ein paar rote Tupfer in Antons Mundwinkel, „sieht echter aus. Jedenfalls für Vampirkinder. Oder glaubst du, unsere Eltern würden ständig hinter uns herfliegen, um uns den Mund abzuwischen?“ Er kicherte. „Jetzt fehlen nur noch die Augenränder“, stellte er fest. „Augenränder auch noch?“ rief Anton. Ihm war schon heiß genug unter der Creme! „Klar“, sagte der Vampir, „damit du richtig verstorben aussiehst. Aber womit machen wir die?“
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„Mit dem Augenbrauenstift“, erwiderte Anton, „da, im zweiten Bord!“ Der Vampir nahm den Stift heraus und umrandete Antons Augen mit schwarzen Strichen. „Nicht wiederzuerkennen!“ rief er. „Und – wenn das abgeht?“ fragte Anton. „Quatsch“, sagte der Vampir, „solange du niemandem zu nahe kommst!“ „D-das bestimmt nicht“, sagte Anton, der an Tante Dorothee und all die anderen schrecklichen Verwandten des kleine Vampirs denken mußte. „Na also!“ Befriedigt rückte der Vampir von ihm ab. „Du darfst dich angucken!“ Mit weichen Knien erhob sich Anton vom Badewannenrand, auf dem er die ganze Zeit gesessen hatte, und sah in den Spiegel. Das Bild, das sich ihm bot, übertraf noch seine schlimmsten Erwartungen: Eine grauenhafte kalkweiße Fratze starrte ihm entgegen, der blutrote Mund war zu einem teuflischen Grinsen verzogen, und aus finsteren Höhlen starrten ihn zwei Augen lauernd an. „D-das bin ich?“ stotterte er. „Zufrieden?“ grinste der Vampir. „So wird dich niemand erkennen! – Nicht mal Anna“, fügte er kichernd hinzu. „Anna ist auch da?“ rief Anton. „Klar! Sie wartet schon auf dich!“ Anton hustete verlegen. „Ich – hab’ übrigens ganz schöne Schwierigkeiten bekommen“, sagte er schnell, um den Vampir abzulenken, „mein Vater wollte unbedingt in den Keller!“ „So?“ sagte der Vampir ziemlich gleichgültig. „Nächsten Samstag kann ich ihn bestimmt nicht mehr davon abhalten! Könntest du nicht bis dahin in die Gruft zurück...“ „Mal sehen“, sagte der Vampir, „vielleicht gibt es Neuigkeiten.“ „Hoffentlich“, seufzte Anton. 35
„Und nun fliegen wir!“ erklärte der Vampir und ging zum Fenster. „Ich – trau’ mich nicht“, sagte Anton. „Nicht?“ lachte der Vampir und knuffte ihn freundschaftlich in die Seite. „Dann geht’s dir wie mir. Weißt du, wie ich mir helfe? Ich schließe die Augen und fliege los!“ „Du hast auch Angst?“ rief Anton verwundert. „Jetzt nicht mehr“, antwortete der Vampir, und dabei schwang er sich vom Fensterbrett in die Nacht hinaus. „I-ich auch nicht“, sagte Anton, schloß die Augen und – flog.
Flug ins Jammertal Ein leichter Wind blähte Antons Umhang und strich durch sein wild aufgetürmtes Haar. Er breitete die Arme aus und – schwebte. „Komm!“ zischte Rüdiger und zog an seinem Umhang. „Das Fest hat längst angefangen.“ Mit kräftigen Bewegungen stieg er höher, und Anton hatte Mühe, ihm zu folgen. „Warte!“ rief er. „Ich kann nicht so schnell.“ Er warf einen ängstlichen Blick unter sich: Wie Spielzeug sahen die Häuser aus, und sein eigenes Zimmer, in dem er die Schreibtischlampe hatte brennen lassen, war nur noch ein winziges helles Viereck. Der Vampir verlangsamte seinen Flug. „Dir wird doch nicht schwindlig?“ sagte er und grinste. „Nein“, murmelte Anton schnell, als er im Mondlicht den spöttischen Ausdruck des Vampirs sah. Rüdiger machte ein zufriedenes Gesicht. „Wäre auch schlecht“, meinte er, „schließlich müssen wir noch fünfzig Kilometer fliegen!“ „So weit?“ rief Anton. 36
„Glaubst du, hundert Vampire könnten mitten in der Stadt ein Treffen abhalten?“ „Hundert?“ fragte Anton erschrocken. „Und wo treffen die sich?“ „In der Ruine im Jammertal.“ „Im Jammertal?“ rief Anton. „Sollen da nicht Werwölfe umgehen?“ Der Vampir kicherte. „Glaubst du solche Märchen?“ „Na ja“, sagte Anton, „ich glaub’ ja auch an Vampire.“ „Was?“ fauchte Rüdiger. „Du wagst es, Vampire und Werwölfe auf eine Stufe zu stellen?“ „Nein, nein“, sagte Anton schnell, „nur – die meisten Leute glauben weder an Vampire noch an Werwölfe.“ „Das sind auch Dummköpfe“, sagte der Vampir verächtlich. „Natürlich hat es niemals Werwölfe gegeben. Sie sind eine Erfindung der Vampire.“ „Der Vampire?“ „Aber ja! Es war die einfachste Art, sich neugierige Schnüffler vom Leib zu halten!“ Anton machte ein so überraschtes Gesicht, daß der Vampir lachen mußte. „Unser Ur-Ur-Ur-Ur-Urvampir hat sich das ausgedacht, Elisabeth die Naschhafte. Sie war es leid, bei den Vampirtreffen immer wieder von Menschen belauscht zu werden.“ „Hatten die Leute denn keine Angst vor den Vampiren?“ fragte Anton. „Doch. Es war aber bekannt, daß die Vampire auf ihren Feiern weder aßen noch tranken. Das“, fügte der Vampir grinsend hinzu, „hatten sie nämlich vorher erledigt.“ „Komisch“, murmelte Anton. „Bei unseren Feiern sind Essen und Trinken immer das Wichtigste.“ Der Vampir winkte ab. „Ihr Menschen habt ja auch keine Ahnung von Geselligkeit.“ 37
Anton kratzte sich am Kinn und überlegte. „Dann haben die Vampire, die sich heute nacht in der Ruine treffen, auch schon gegessen?“ „Klar“, sagte der Vampir. „Ach so.“ Ein Seufzer der Erleichterung entrang sich Anton. „Das wußte ich nicht.“ Plötzlich freute er sich sogar auf das Fest! „Und wie war das nun mit den Werwölfen?“ fragte er. „Ganz einfach“, sagte der Vampir. „Damals gab es noch überall Wölfe. Elisabeth die Naschhafte brauchte nur das Gerücht zu verbreiten, daß die Wölfe, die um die Ruine her umstrichen, in Wirklichkeit besonders üble Menschen waren, die sich nach Sonnenuntergang in reißende Bestien verwandelten. Schon traute sich niemand mehr an die Ruine heran, und die Vampire konnten in Frieden ihre Feste feiern!“ „Sind denn heute auch noch Wölfe dort?“ fragte Anton zaghaft. „Nein“, lachte der Vampir. „Aber seinen schlechten Ruf hat das Jammertal bis heute behalten. Übrigens, die Vampire waren nicht ganz schuldlos daran, daß die Zahl der Wölfe im Laufe der Jahrzehnte abnahm.“ „Wieso?“ „Nun ja – in Zeiten der Not, der Hungersnot gewissermaßen...“ Anton spürte, wie er blaß wurde. Mußte der Vampir ihn ständig an seine gräßlichen Eßgewohnheiten erinnern? „Achtung“, rief der Vampir da aufgeregt, „das Jammertal!“ Im blassen Mondlicht sahen sie auf ein dunkles Gemäuer hinab, das düster und drohend auf einer Lichtung lag. Es war ein weitläufiger Bau, von dessen Seitenflügeln nur noch die Außenmauern standen. Das Haupthaus dagegen schien recht gut erhalten zu sein, soweit Anton das erkennen konnte. „Es ist so dunkel“, flüsterte er.
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„Vampire brauchen kein Licht“, antwortete Rüdiger. „Aber im Festsaal sind Kerzen angezündet.“ Zielstrebig flog er den Burgturm an und landete auf seinen Zinnen. „Hier?“ fragte Anton überrascht. Er war neben dem Vampir gelandet und blickte ängstlich auf eine halbverfallene Treppe, die ins Innere des Turms führte. „Wir kommen immer von oben“, belehrte ihn der Vampir. „Jedenfalls – fast immer.“ Er sprang auf die Plattform und betrat die oberste Stufe. „W-warte!“ rief Anton, und mit zitternden Knien kletterte er hinterher.
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Mißtrauischer Empfang Noch fiel Mondlicht auf die brüchigen Stufen und zeigte Anton, wohin er seine Füße setzen konnte. Aber nach der ersten Biegung wurde es stockfinster. Mit den Fußspitzen tastend, suchte er sich seinen Weg, und mehr als einmal mußte er sich an die kalte Turmwand klammern, um nicht zu stürzen. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich auf einem Absatz der Treppe ein matter Lichtschimmer auftauchte. Dort stand der kleine Vampir. Beklommen sah Anton sich um. Alles wirkte schaurig und düster: die schon halb eingestürzte Treppe, die noch weiter in die Tiefe führte, die feuchtglänzenden Mauern des Turmes mit ihren Spalten und Öffnungen, in denen sicherlich Hunderte von Fledermäusen hausten, und der dunkle Gang ins Innere der Ruine. „Komm!“ sagte der Vampir und faßte ihn leicht am Arm. „Wir wollen gehen.“ „Und wohin?“ fragte Anton zögernd. „In den Festsaal“, antwortete der Vampir. „Hörst du die Musik? Sabine die Schreckliche spielt auf der Orgel!“ Er betrat den Gang und zog Anton mit sich. Jetzt vernahm auch Anton die fernen Orgelklänge, feierlich wie in einer Kirche. „Und das spielt Sabine die Schreckliche?“ wunderte er sich. „Aber ja“, sagte der Vampir, und schwärmerisch fügte er hinzu: „Wir Vampire lieben Musik!“ Sie kamen in eine große leere Halle, durch deren zerbrochene Scheiben das Mondlicht hereinfiel. Scherben und Steine bedeckten den Boden. „Wir sind gleich da“, sagte der Vampir flüsternd. Sein bleiches Gesicht hatte einen gespannten Ausdruck bekommen, und seine Zähne schlugen mit ihrem scheußlichen Klicken aufeinander. Eine noch größere Halle öffnete sich vor ihnen.
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Schwarze Grabtücher hingen vor den Fensterhöhlen, und in Leuchtern an den Wänden brannten schwarze Kerzen. „Hier ist es“, flüsterte der Vampir, und schon löste sich eine dunkle Gestalt aus dem Schatten der Tür und kam auf sie zu. Es war ein hagerer Vampir mit einem von langen Narben entstellten Gesicht. Aus seinen funkelnden Augen sah er sie mißtrauisch an und fauchte: „Wer seid ihr?“ Der kleine Vampir machte eine Verbeugung. „Ich bin Rüdiger von Schiotterstein, und das hier –“ damit wies er auf Anton – „ist mein Freund.“ „Dein Freund? Ist er auch Vampir?“ „Na sicher!“ „Aber er sieht so menschlich aus!“ Anton merkte, wie es ihm kalt den Rücken herunterlief. „Er kommt aus dem Ausland“, erklärte der kleine Vampir. „Aus dem Ausland?“ „Ja. Aus Italien.“ „Gibt es dort überhaupt Vampire?“ „Na klar. Da gibt es so eine Villa, Matschimo oder so ähnlich, die steckt voller Vampire.“ „Und wie heißt die Sippe?“ forschte der hagere Vampir. „Die Sippe?“ sagte Rüdiger gedehnt. „Die heißt Bohnsackio die Vielköpfige.“ „Die Vielköpfige?“ fragte der andere. „Ja. Weil es so viele sind.“ „Und dein Freund, wie heißt der?“ „Das ist Antonio Bohnsackio der Düstere.“ Anton grinste verstohlen. Antonio Bohnsackio – das klang gut, viel besser jedenfalls als Anton Bohnsack. „Na“, sagte der hagere Vampir und machte ein unentschlossenes Gesicht, „man lernt nie aus...“ Er überlegte, dann beugte er sich plötzlich vor und beroch Antons Umhang. Zum erstenmal hellte sich seine Miene auf. „Hm“, säuselte er, „liebliche Sargluft!“ 42
Er musterte Anton noch einmal von Kopf bis Fuß, jetzt aber viel wohlwollender. „Geht in Ordnung“, brummte er, „ihr könnt hineingehen!“ Anton und Rüdiger wechselten einen erleichterten Blick. Gerade wollten sie eintreten, als der hagere Vampir Anton bei der Schulter packte. „Moment mal!“ Anton drehte sich zitternd um. „Ja?“ „Wie ist denn das Klima bei euch?“ „Das Klima?“ sagte Anton erschrocken. „Gu-Gut“, stotterte er dann. „Vielleicht komme ich euch mal besuchen“, erklärte der Vampir und ließ seine Hand sinken. „Hier werde ich mein Rheuma nämlich nie los!“ Damit stellte er sich wieder neben die Tür und sah gleichmütig über Anton und Rüdiger hinweg in den Festsaal.
Tanzvergnügen Auf der Schwelle blieb Anton stehen und hielt die Luft an. Der Modergeruch war so stark, daß er einen Augenblick lang glaubte, er müßte davonrennen. Dazu roch es nach Zwiebeln und faulen Eiern. Der kleine Vampir sog die Luft in vollen Zügen ein. „Ah“, seufzte er, „wie das duftet!“
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Anton hustete verlegen. „K-kann man hier nicht ein bißchen lüften?“ murmelte er.
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„Was?“ fauchte Rüdiger. „Lüften? Du bist wohl von allen guten Vampiren verlassen!“ Und nachdem er sich ängstlich umgesehen hatte, zischte er: „Laß das bloß keinen hören! Damit verrätst du gleich, daß du kein Vampir bist! – Außerdem wird nachher der große Duft-Preis verliehen“, fügte er hinzu. „Duft-Preis?“ fragte Anton verständnislos. „Ja. Dem Vampir, der am kräftigsten riecht!“ In diesem Augenblick setzte die Orgelmusik wieder ein, und sogleich erhoben sich die Vampire an den Tischen und gingen paarweise in die Mitte der Halle. „Komm“, sagte der kleine Vampir, „tanzen wir auch!“ „Wi-wir?“ stotterte Anton. „Komm schon!“ Er hakte sich bei Anton ein und führte ihn. Dabei fletschte er sein raubtierartiges Gebiß und nickte freundlich nach allen Seiten. „Du bist das Mädchen“, flüsterte er. „Du legst mir die Hände auf die Schultern, beugst den Kopf zurück, und guckst mich verliebt an!“ „Ich?“ stammelte Anton empört. „Als Mädchen?“ „Na klar! Das ist am unauffälligsten. Vampirkinder sehen ohnehin alle gleich aus.“ Anton schluckte, aber angesichts der vielen Vampire, die schon neugierig zu ihnen herübersahen, schien es ihm doch das Beste zu sein, Rüdigers Anweisungen zu folgen. Also legte er den Kopf in den Nacken und blickte träumerisch zur Decke, während Rüdiger ihn im Kreis herumwirbelte, bis sich ihm alles vor den Augen drehte. „Mir ist schlecht“, ächzte er. Aber Rüdiger faßte ihn nur noch fester. „Du tanzt traumhaft!“ hauchte er. „Ja?“ sagte Anton verwirrt. Er und – tanzen! „Wirklich“, sagte der Vampir und kicherte. „Dagegen müßtest du mal Lumpi sehen!“ 45
„So?“ rief da eine heisere Stimme. „Was ist mit mir?“ Ein großer Vampir löste sich aus der Menge und kam mit langsamen, wiegenden Schritten auf sie zu. Es war Lumpi! Anton erbleichte. Wenn er ihn nun verriete... „Nichts ist mit dir“, sagte Rüdiger schnell. „Aber ihr habt doch über mich gesprochen!“ rief Lumpi mit sich überschlagender Stimme. „Ich habe nur gesagt: da ist Lumpi“, erklärte Rüdiger, dem in der Eile nichts Vernünftiges einzufallen schien. „Und warum?“ knurrte Lumpi. „Weil...“ sagte Rüdiger und sah Anton hilfesuchend an, „mein Freund aus Italien wollte ein Autogramm von dir.“ „Ein Autogramm?“ Lumpi sah Anton aus den Augenwinkeln heraus prüfend an. „Und wieso von mir?“ Rüdiger hob überschwenglich die Arme. „Das fragst du noch?“ rief er. „Dein Ruf hat sich schon bis Italien herumgesprochen!“ „Ehrlich?“ sagte Lumpi geschmeichelt, und plötzlich wurde sein Gesicht dunkelrot. Schnell kehrte er um und verschwand zwischen den Tänzern. „Jetzt wissen sie’s“, murmelte Rüdiger. „Wer?“ fragte Anton. „Meine Familie. Lumpi wird ihnen berichten, daß ich hier bin.“ „Ist das schlimm?“ „Mal sehen. Schließlich hab’ ich ja Gruftverbot. – Aber Gruftverbot ist nicht Tanzverbot“, sagte er dann faßte Anton um die Taille und schob wieder mit ihm los.
Der erste Kuß „Anton?“ Jemand zupfte erschrocken fuhr er herum.
an
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seinem
Umhang,
und
„Anna?“ Sie schlug verschämt die Augen nieder. „Lumpi hat mir erzählt, daß ihr hier seid. Wollen wir tanzen?“ „Äh – ich“, murmelte Anton und sah ratlos von Anna auf ihren Bruder, „ich bin schon vergeben.“ Anna kicherte. „An den da?“ Rüdiger machte einen Schritt zur Seite. „Bitte, ich überlasse ihn dir!“ Anna knickste. „Danke“, sagte sie. „Übrigens“, meinte sie dann zu Rüdiger, „wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich lieber gehen.“ „Und warum?“ „Wenn Tante Dorothee dich sieht...“ Der kleine Vampir zuckte gleichmütig mit den Schultern. „Hier ist nicht die Gruft“, knurrte er und drehte sich um. „Wo-wohin gehst du?“ rief Anton, aber der kleine Vampir war bereits ihren Blicken entschwunden. „Jetzt läßt er mich einfach allein“, murmelte er. „Aber du hast doch mich“, lächelte Anna Damit schlang sie ihre Arme um Antons Hals und drängte sich an ihn. Anton spürte, wie ihm ganz flau im Magen wurde – und das lag bestimmt nicht an der schlechten Luft! Während sie tanzten, betrachtete er sie verstohlen: sie hatte die Augen geschlossen und summte leise mit. Ihr kleiner kirschroter Mund lächelte, und ihre Wangen hatten sich rosig verfärbt, als lebte sie wirklich. Nur ihr zerschlissener Umhang erinnerte daran, daß sie ein Vampir war. Aber war sie das überhaupt, solange sie noch keine Vampirzähne hatte? Jetzt schlug sie die Augen auf. „Schön, nicht?“ flüsterte sie. „J-ja“, stotterte Anton. „Und wie findest du mich?“ „Dich?“ sagte er und schluckte. „Süß.“
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„Wirklich?“ rief sie, und ihre Wangen färbten sich noch dunkler. „Ach Anton!“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf den Mund. Anton blieb wie angewurzelt stehen. Ihm kam es vor, als müßten alle Vampire im Saal zu ihnen herüberstarren. Er konnte gar nicht verstehen, daß sie weitertanzten, als sei nichts geschehen. „Du bist mir doch nicht böse?“ fragte Anna nach einer Weile vorsichtig. „Nein“, murmelte Anton verlegen. Sie seufzte erleichtert. „Weißt du, ich bin immer so überschwenglich“, erklärte sie. „Rüdiger sagt, ich müßte mich besser beherrschen. Aber ich will ja gar kein Herr werden“, fügte sie schelmisch hinzu, „höchstens eine Dame!“ Als sie sprach, fuhr Anton schnell einmal mit der Zunge über den Mund. Seine Lippen fühlten sich trocken und glatt an, und nicht der kleinste Blutstropfen war zu entdecken. „Wie gefällt dir eigentlich das Fest?“ fragte Anna. „Das Fest?“ sagte Anton und sah sich unsicher um. „Etwas verstaubt, finde ich.“ „Nicht wahr?“ nickte Anna. „Ich wollte, daß eine Disco eingerichtet wird, unten im Burgverlies. Aber die alten Vampire waren dagegen.“ Sie sah zur Orgel hinauf und verzog ihr Gesicht. „Immer dieses Gedudel“, schimpfte sie. „Wir können doch ein bißchen an die frische Luft gehen“, schlug Anton vor, dem inzwischen der Kopf dröhnte. „O ja!“ rief Anna begeistert. „Wir gehen im Mondschein spazieren!“ Zärtlich faßte sie ihn an der Hand und zog ihn zum Ausgang.
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Das Grauen im Mondschein Die beiden durchquerten die Halle und gelangten in ein düsteres Treppenhaus. Die große Eingangstür stand nur angelehnt, und sie traten in einen verwilderten Garten hinaus. Das Gras wuchs hier kniehoch, und Sträucher und Büsche hatten längst die Wege überwuchert. Anna nahm Antons Hand und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Mein – Bein ist eingeschlafen“, stotterte Anton, dem die allzu große Vertraulichkeit Annas unbehaglich wurde. Er bückte sich und begann, sein Bein zu massieren. „Ich liebe Mondscheinnächte“, schwärmte Anna, und mit erhobener Stimme sagte sie: „Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehn.“ Anton warf ihr einen überraschten Blick zu. „Von dir?“ fragte er. „Nein“, lachte sie, „aber ist es nicht schön? Wenn der Mond scheint, werde ich immer schwermütig.“ Sie sah Anton mit großen Augen an, und langsam rann eine Träne ihre Wange hinunter. „Wa-warum weinst du denn?“ fragte Anton hilflos. „Weil ich so glücklich bin!“ flüsterte sie und lief davon. „Anna!“ rief Anton bestürzt. Niemand antwortete. Nur bei den Haselsträuchern raschelte es leise. „Anna!“ rief er noch einmal. Diesmal antwortete eine Stimme: „Hier bin ich!“ Sollte das Annas Stimme sein? Hatte sie nicht viel zu dunkel geklungen? Ein furchtbarer Verdacht tauchte in Anton auf. Er blieb reglos stehen und hielt den Atem an.
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„Wo bleibst du?“ rief die Stimme, und jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Das konnte unmöglich Anna sein! Aber wer
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dann? Ihm fielen die Geschichten über Werwölfe ein, die Rüdiger erzählt hatte... Etwas leuchtete zwischen den Sträuchern. Er fühlte plötzlich eine unerklärliche Sehnsucht, dort zu sein, und ohne sich dagegen wehren zu können, machte er ein paar zögernde Schritte – Da wurde er von hinten am Umhang gepackt. „Anton!“ hörte er es beschwörend rufen. Es war Anna! „Schnell! Ins Haus! Da drüben, Tante Dorothee...“ Anton sah einen Schatten zwischen den Sträuchern hervorkommen, der sich ihnen mit großer Schnelligkeit näherte, aber da hatten sie die Tür erreicht und schlugen sie hinter sich zu. Am ganzen Körper zitternd, lehnte sich Anna gegen die geschlossene Tür. „Fast hätte sie dich gehabt“, flüsterte sie. „Und es wäre meine Schuld gewesen.“ „Ich dachte, sie sei auf dem Fest“, sagte Anton. „Das dachte ich auch“, sagte Anna leise. Ihre Lippen bebten, und ihr Gesicht war kreideweiß geworden. „Anton, du darfst nie wieder allein da draußen im Mondlicht bleiben!“ „N-nein“, sagte Anton verblüfft, „das wollte ich auch nicht...“ „Ich weiß“, sagte sie beschämt. „Wollen wir jetzt zum Fest zurückgehen?“ „Und Tante Dorothee?“ fragte Anton. „Die kann dir dort drinnen nichts tun“, erklärte Anna. „Deshalb wollte sie sich ja vorher stärken.“ „Stärken nennst du das?“ sagte Anton empört und faßte sich an den Hals. Sie lachte. „Komm! Vielleicht wird schon der Duft-Preis verliehen.“
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Wer duftet am besten Als die beiden den Festsaal betraten, hatte die Orgelmusik aufgehört. Die Vampire waren an ihre Tische zurückgekehrt und starrten gebannt auf einen kleinen, etwas gebückten Vampir, der in der Mitte des Saals auf einem Podest stand. „Elisabeth die Naschhafte“, flüsterte Anna, die noch zwei freie Plätze in der Nähe des Eingangs gefunden hatte. Anders als die meisten Vampire, die wenig Wert auf ihr Äußeres zu legen schienen, war Elisabeth die Naschhafte sehr sorgfältig zurechtgemacht: Sie trug einen fleckenlosen Umhang aus schwarzem Samt, ihr graues Haar war zu feinen Löckchen aufgedreht, und an ihren dürren Fingern steckten funkelnde Ringe. „Liebe Freunde!“ hob sie jetzt an. „Ich freue mich, daß ihr gekommen seid! Und nun wollen wir mit unserem Wettbewerb ‹Wer duftet am besten?› beginnen! Das Preisgericht besteht diesmal aus: Rosalinde der Doppelzüngigen, Ottokar dem Gutmütigen, Erna der Niederträchtigen. Ich bitte das Preisgericht, seine Plätze einzunehmen.“ Die Aufgerufenen stiegen zu ihr auf das Podest. „Die mit der Brille ist Rosalinde“, flüsterte Anna. „Sie ist der Meinung, von allen Vampiren die schönsten Beine zu haben!“ „Ehrlich?“ sagte Anton und kicherte. Unter Rosalindes Umhang, der nur bis zum Knie reichte, guckten zwei kurze dicke Beine heraus, die alles andere als wohlgeformt waren. „Warum heißt er Ottokar der Gutmütige?“ fragte Anton. „Siehst du nicht, wie dünn er ist?“ lachte Anna. „Er ist so gutmütig, daß er immer anderen Vampiren den Vortritt läßt.“ Erna die Niederträchtige überragte die beiden um Haupteslänge. Für einen Vampir sah sie erstaunlich gut aus, fand Anton, aber Neid und Mißgunst hatten tiefe Falten in ihr Gesicht geschnitten. 52
„Und nun ersuche ich alle, die am Wettbewerb teilnehmen möchten, herzukommen und sich in einer Reihe aufzustellen!“ rief Elisabeth die Naschhafte. Sogleich erhoben sich etwa zehn Vampire von ihren Plätzen. „Wenn ich nun den ersten Bewerber bitten dürfte, sich der versammelten Vampirschaft vorzustellen!“ Ein bulliger Vampir mit einem kantigen, völlig haarlosen Schädel betrat das Podest. „Ich bin Jörg der Aufbrausende“, sagte er mit knarrender Stimme. „Ich habe mich zum Wettbewerb gemeldet, weil ich glaube, daß ich besonders würzig dufte!“ „Laß riechen!“ flötete Rosalinde die Doppelzüngige und schnupperte prüfend an ihm herum. Ottokar der Gutmütige und Erna die Niederträchtige folgten ihrem Beispiel. Dann sahen sie sich an und nickten. „Der nächste!“ rief Elisabeth die Naschhafte. Ein großer, magerer Vampir folgte. „Ich bin Hannelore die Hastige“, sagte sie mit hoher Fistelstimme. „Meine Spezialität ist der Geruch nach frischen Pferdeäpfeln.“ Nachdem die Preisrichter auch sie beschnüffelt hatten, kamen noch ein aufgedunsener Vampir mit Doppelkinn und Schweinsäuglein, ein hohlwangiges Vampirmädchen, ein Vampir mit Augenklappe und ein uralt wirkender Vampir, der nur noch zischend sprechen konnte, da ihm bis auf die Eckzähne alle Zähne fehlten. Dann bestieg ein großer, breitschultriger Vampir das Podest. „Mein Name ist Lumpi der Starke“, rief er in den Saal hinein, „und ich bin berühmt für meinen Modergeruch!“ Anna schlug die Hände vor den Mund. „Lumpi duftet doch nicht“, murmelte sie, „der riecht nur...“ Mit siegesbewußter Miene stolzierte Lumpi über das Podest und ließ sich beriechen. „Ganz schön eingebildet“, zischte Anna.
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Nach Lumpi stellten sich noch zwei weitere Bewerber dem Preisgericht und Publikum vor. Damit war der erste Teil des Wettbewerbs beendet.
Sabine die Schreckliche setzte sich wieder an die Orgel und spielte, während die Preisrichter mit Elisabeth der Naschhaften zusammentraten, um den Sieger zu ermitteln. „Meinst du, daß Lumpi gewinnt?“ fragte Anton flüsternd.
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Anna schüttelte den Kopf. „Nie! Ich hab’ vorhin neben Hannelore der Hastigen gesessen. Gegen die ist Lumpi gar nichts! Und wer weiß, wie die übrigen duften!“ Jetzt hob Elisabeth die Naschhafte die Arme, und augenblicklich verstummte die Musik. „Liebe Freunde!“ rief sie mit bewegter Stimme. „Der Sieger unseres heutigen Wettbewerbs, der Vampir, der am besten duftet, heißt –“ hier machte sie eine kleine Pause und sah alle Kandidaten noch einmal der Reihe nach an – „Jörg der Aufbrausende!“ Stürmischer Beifall setzte ein. Jörg der Aufbrausende kam auf die Bühne gestolpert und verneigte sich. „Und als Preis: die Kuscheldecke für den Sarg!“ rief sie und reichte ihm ein schwarzes Tuch. „Jetzt ist Lumpi sauer“, flüsterte Anna. „Aber es ist doch gerecht zugegangen“, meinte Anton. „Lumpi fühlt sich immer ungerecht behandelt“, erklärte Anna, „und dann ist es besser, ihm nicht über den Weg zu laufen. Komm, wir gehen lieber!“ „Und Rüdiger?“ fragte Anton. „Der findet schon allein zurück.“
Heimflug „Und wenn mich nun Tante Dorothee erwischt?“ fragte Anton, als sie auf die Plattform des Burgturms hinaustraten. „Ach“, sagte Anna und machte eine abwinkende Handbewegung, „die wird noch im Garten lauern.“ Sie schwang sich in die Luft, und auch Anton breitete die Arme aus und flog. „Frische Luft!“ seufzte er und atmete tief ein. „Und mein Mufti eleganti?“ fragte Anna beleidigt. „Riechst du mein Parfüm gar nicht?“ 55
„Doch, doch“, sagte Anton schnell. Ein gewisser übler Geruch war unverkennbar, aber hier unter freiem Himmel fiel er kaum ins Gewicht. „Ich hab’ mich heute extra stark parfümiert!“ erklärte sie. „Und nur für dich!“ „Nett von dir“, murmelte Anton. „Willst du eigentlich schon nach Hause?“ fragte Anna und sah Anton mit leuchtenden Augen an. „Wieso nicht?“ fragte er überrascht. „Na ja“, meinte sie und lächelte, „wir könnten doch noch etwas unternehmen. Zum Beispiel wollte ich schon immer mal in eine Disco.“ „Disco!“ sagte Anton verächtlich. „Ist doch langweilig.“ „Findest du?“ fragte Anna. „Klar!“ sagte Anton. „Alles nur Geschäftemacherei!“ „Dann können wir schwimmen gehen“, schlug Anna vor. „Mondscheinschwimmen, das ist sehr romantisch!“ „Ich – hab’ keine Badehose mit“, sagte Anton verlegen. „Und?“ lachte sie. „Ich doch auch nicht.“ „Ich bin erkältet“, sagte Anton und nieste zur Bekräftigung. „Ach“, brummte Anna. „Du hast zu nichts Lust.“ „Mei-meine Eltern kommen auch bald wieder“, stotterte Anton. „Schon gut“, sagte sie wütend. Eine Weile flogen sie schweigend nebeneinander her. Anton ärgerte sich über sich selbst. Immer mußte er für Mißstimmung sorgen! „Soll ich dir einen Witz erzählen?“ fragte er schließlich. „Wenn du willst“, sagte Anna gleichmütig. „Also: Fritz will seinem Vater zum Geburtstag ein Oberhemd kaufen. ‹Ich möchte ein Oberhemd›, erklärt er dem Verkäufer. ‹So eines, wie ich trage?› fragt der. ‹Nein›, antwortet Fritz, ‹ein sauberes!›“ „Haha“, sagte Anna, ohne eine Miene zu verziehen. 56
Immerhin, dachte Anton, sie hat etwas gesagt. Fieberhaft überlegte er, welchen Witz er noch erzählen könnte. „Ein Boxerhund geht auf der Straße spazieren. Über ihm, zwei Stockwerke höher, steht ein Schäferhund auf dem Balkon. ‹He!› ruft der Boxer. ‹Spring doch runter, dann können wir zusammen gehen!› – ‹Bin ich verrückt?› antwortet der Schäferhund. ‹Glaubst du, ich will solche Schnauze wie du kriegen?›“ Anna mußte grinsen. Aber noch immer sah sie stur geradeaus. „Kennst du den Witz mit dem Dackel?“ fragte Anton. „Ein Mann sitzt mit seinem Dackel im Kino. Der Dackel lacht ununterbrochen. Da dreht sich eine Dame um und meint: ‹Sie haben aber einen merkwürdigen Hund.› – ‹Ja›, antwortet der Mann. ‹Ich finde ihn auch komisch. Wissen Sie, das Buch, nach dem sie diesen Film gedreht haben, hat ihm nämlich überhaupt nicht gefallen.›“ Jetzt lachte Anna leise hinter vorgehaltener Hand. Das Eis war gebrochen! Anton mußte es nur noch gelingen, sie richtig zum Lachen zu bringen. Und nun war ihm auch der passende Witz eingefallen! „Zwei Kühe grasen friedlich auf einer Weide. Plötzlich fängt die eine furchtbar an zu zittern. ‹Was hast du denn?› fragt die andere besorgt. ‹O nein›, stöhnt die erste, ‹da kommt schon wieder der Melker mit den kalten Händen!›“ Das war zuviel für Anna. Sie sah Anton an und lachte los. Auch Anton mußte lachen, und so flogen sie kichernd und prustend dahin. „Den muß ich Lumpi erzählen!“ sagte Anna. Anton lächelte geschmeichelt. „Kennst du noch mehr?“ fragte sie. Anton schüttelte den Kopf. „Aber ich kenne noch einen!“ sagte Anna. „Da geht eine Frau zum Arzt. ‹Herr Doktor›, klagt sie ihm ihr Leid, ‹jedesmal 57
wenn ich Kaffee trinke, habe ich so ein Stechen im rechten Auge!› Der Arzt weiß Rat: ‹Dann nehmen Sie doch den Löffel aus der Tasse!›“ Anton schnappte nach Luft. „Mein Zwerchfell platzt!“ lachte er. „Nicht so laut!“ sagte Anna. „Wir sind gleich in der Stadt!“ Vor ihnen tauchten die ersten Häuser auf. Anton fiel ein, daß er noch etwas Wichtiges mit Anna besprechen mußte. „Wie lange hat Rüdiger eigentlich noch Gruftverbot?“ fragte er. Sie zuckte mit den Schultern. „Zwei Monate, drei Monate. Je nachdem, was der Familienrat beschließt.“ „Was?“ rief Anton. Das war ja entsetzlich! Wie sollte er seine Eltern so lange vom Keller fernhalten? „Alles überläßt er mir!“ beschwerte er sich. „Er liegt nur faul im Sarg, liest Vampirgeschichten und erwartet von mir, daß ich ihm alle Schwierigkeiten aus dem Weg räume.“ „Typisch Rüdiger!“ grinste Anna. „Aber du hast selbst Schuld, wenn du dich von ihm ausnutzen läßt!“ „Was soll ich denn machen?“ rief Anton empört. „Zusehen, wie mein Vater ihn findet?“ „Natürlich nicht“, sagte Anna, „aber du mußt ihm klarmachen, daß er nicht ewig bei dir im Keller bleiben kann. Nächste Woche tagt wieder der Familienrat, und vielleicht...“ „Ja?“ rief Anton. „... vielleicht wird dann ja das Gruftverbot aufgehoben. Ich werde jedenfalls ein gutes Wort für ihn einlegen.“ „Bist du denn im Familienrat?“ fragte Anton überrascht. Sie machte ein würdevolles Gesicht. „Sicher“, sagte sie, „oder glaubst du, ich lasse meine Interessen von anderen vertreten?“ Sie hatten Antons Haus erreicht. In seinem Zimmer brannte noch immer die Schreibtischlampe. Er atmete erleichtert auf: Demnach waren seine Eltern noch nicht zurückgekehrt. 58
Er landete auf dem Fenstersims und schob den Fensterflügel auf, den er nur angelehnt hatte. „Gute Nacht, Anna“, sagte er. „Gute Nacht, Anton“, lächelte sie, „und vergiß nicht, dich abzuschminken!“
Hähnchen mit Reis Am Sonntagmorgen erwachte Anton mit einem merkwürdigen Brummen im Kopf, und als er aufstehen wollte, wurde ihm schwarz vor den Augen. Er setzte sich auf sein Bett zurück und dachte nach: Hatte er gestern etwas gegessen oder getrunken, das ihm nicht bekommen war? Aber auf dem Vampirtreffen hatte er überhaupt nichts zu sich genommen, und das Essen zu Hause war bestimmt in Ordnung gewesen. Vielleicht hatte er noch nicht ausgeschlafen? Er sah auf die Uhr: gleich Elf! Folglich hatte er fast elf Stunden geschlafen. Sollte er etwa zuviel geschlafen haben? Oder war der gestrige Abend zu anstrengend gewesen? War ihm der Geruch im Festsaal vielleicht nicht bekommen? Ein leises Klopfen an der Tür riß ihn aus seinen Überlegungen. „Anton, bist du wach?“ Das war die Stimme seiner Mutter. „Nein!“ rief er und zog sich schnell die Bettdecke über den Kopf. Er hörte, wie seine Zimmertür geöffnet wurde, dann griffen zwei Hände unter die Decke und kitzelten ihn. „Nicht!“ japste er. „Aufhören!“ „Bist du jetzt wach?“ Seine Mutter saß auf der Bettkante und sah zu, wie er unter der Decke hervorkam. „Wie siehst du denn aus?“ rief sie erschrocken. „Wieso?“ murmelte Anton. „Du hast ganz verschmierte Augen, und deine Haut ist so streifig!“ 59
„Ja?“ brummte Anton. Sollte er sich doch nicht gründlich genug abgeschminkt haben? Ihm waren gestern nacht vor dem Spiegel immer die Augen zugefallen, und so war er sich nur ein paarmal mit dem nassen Lappen durchs Gesicht gefahren. Daß das Zeug so haltbar war... „Wasch dich schnell!“ sagte sie. „Um zwölf kommen Opa und Oma zum Essen!“ „Ach ja“, fiel ihm ein. „Was gibt’s denn?“ fragte er im Vorbeigehen den Vater, der am Küchentisch saß. „Dein Lieblingsessen: Hähnchen mit Reis.“ „Und zum Nachtisch?“ „Selbstgemachtes Vanilleeis.“ „Hm!“ sagte Anton und leckte sich die Lippen. Sie schmeckten noch immer nach Lippenstift. Kurz vor zwölf klingelte es. Anton hatte sich mittlerweile gewaschen und angezogen – allerdings nicht die schwarze Leinenhose, zu der ihn die Mutter hatte überreden wollen. „Du weißt doch, Oma...“ hatte sie gesagt, aber Anton war hartnäckig geblieben und hatte seine Jeans angezogen. Rüdigers stinkenden Umhang und die löchrige Strumpfhose hatte er in einen Kissenbezug gesteckt und zuunterst im Schrank verstaut. Antons Oma war ein kleine, kugelrunde Frau. Wenn sie lachte, sah man eine Reihe gleichmäßiger weißer Perlzähne. Früher hatte Anton seine Oma sehr bewundert wegen ihrer Zähne – bis zu dem Tag als er bei seinen Großeltern übernachtete und am Morgen ihre Zähne im Wasserglas liegen sah! Antons Opa war nicht viel größer. Meistens trug er Cordhosen und karierte Hemden. Heute jedoch hatte er seinen guten Anzug angezogen.
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Er wickelte einen Strauß Tulpen aus und reichte ihn der Mutter. Anton drückte er wie üblich ein flaches Päckchen in die Hand – Vollmilchschokolade mit ganzen Nüssen! „Aber erst nach dem Essen!“ ermahnte ihn die Oma. „Klar!“ sagte Anton. Die Großeltern hängten ihre Mäntel auf, dann nahmen sie im Wohnzimmer am gedeckten Tisch Platz. „Anton hat so eine gesunde Gesichtsfarbe heute!“ lobte die Oma. Anton grinste. So, wie er sein Gesicht mit Seife geschrubbt hatte! „Aber immer diese Jeans!“ schimpfte sie. „Kannst du nicht wenigstens am Sonntag andere Hosen anziehen?“ „Ach, Omi, alle tragen Jeans!“ „Opa nicht!“ erwiderte sie. „Darf ich auffüllen?“ fragte der Vater. „Mir einen Schenkel, bitte!“ sagte die Oma. „Was willst du? Einen Schenkel?“ Anton lachte. Die Oma sah ihn strafend von der Seite an. „So nennt man das, mein Junge.“ „Bei uns heißt das Keule“, erklärte Anton. „Mir bitte ein Stück Brust!“ verlangte der Opa, und wieder mußte Anton lachen. Schnell füllte er sich Reis auf den Teller und beugte sich darüber, als würde er essen. Dabei lachte er in sich hinein, bis er kaum noch Luft bekam. „Sehr lecker!“ ließ sich der Opa vernehmen. „Brust esse ich am liebsten, wenn sie gut durchgebraten ist!“ Anton lachte leise. „Übrigens“, sagte der Opa, „habt ihr eure Küche jetzt mit Holz verkleidet?“ Antons Vater, der gerade den Mund voll Reis hatte, schüttelte den Kopf. „Anton hat den Kellerschlüssel verloren.“ „Was?“ sagte der Opa und sah Anton empört an. „Einfach so verloren?“ 61
„Ich hab’ ihn ja wiedergefunden“, brummte Anton. „Sprich nicht mit vollem Mund!“ wies ihn die Oma zurecht. „Und nun?“ wandte sich der Opa an den Vater. „Wann machst du jetzt die Küche?“ „Nächstes Wochenende bin ich auf einer Tagung, von Freitag bis Sonntag. Und am Wochenende darauf muß ich erst mal ausspannen.“ „Was?“ rief Anton begeistert. Das war ja wunderbar! Aber er hatte sich zu früh gefreut! „Weißt du was?“ sagte der Opa. „Du nimmst dir in der nächsten Woche einen freien Tag, und ich helfe dir! Was hältst du davon?“ Der Vater machte ein überraschtes Gesicht. „Keine schlechte Idee“, sagte er dann. „Anton ist sowieso keine große Hilfe“, fügte er hinzu. „Wie bitte?“ rief Anton entrüstet. „Ich wollte die Bretter und das Werkzeug aus dem Keller holen.“ „Das mach ich lieber selbst“, sagte der Vater. „Oder mit Opa. Paßt es dir am Donnerstag, Opa?“ „Ja“, nickte der Opa. „Also gut!“ Alle sahen zufrieden aus, nur Anton nicht. „Iß, Junge!“ sagte die Oma, die bemerkt hatte, wie bleich er geworden war. „Das gibt Kraft!“ „Ja ja“, murmelte Anton und stocherte in seinem Reis herum. Ihm war der Appetit gründlich vergangen!
Warten auf die Dämmerung „Mußt du nicht zum Training?“ fragte Antons Mutter am Montag nachmittag kurz vor fünf. „Doch“, sagte Anton. „Es fängt heute aber später an.“ „So? Und wann?“ „Um sechs.“ 62
„Und warum?“ „Warum?“ Eine passende Ausrede hatte er sich noch gar nicht überlegt. „Der Trainer muß zum Zahnarzt“, sagte er. „Ausgerechnet dann, wenn ihr Training haben sollt?“ Die Mutter schüttelte ungläubig den Kopf. „Dann kommst du ja im Dunkeln nach Hause.“ „Na ja“, sagte Anton und kicherte in sich hinein, „ist doch nicht so schlimm. Außerdem ist Ole auch dabei.“ „Ach so. Na gut.“ Die Mutter wandte sich wieder den Mathematikarbeiten zu, die sie nachsehen wollte. Anton ging in sein Zimmer und las bis kurz vor sechs. Dann nahm er seinen Sportkoffer vom Schrank, suchte den Kissenbezug mit Rüdigers Sachen hervor und stopfte den Umhang und die Strumpfhose zu seinem Turnzeug. Natürlich ging er heute nicht zum Training, das wie immer von fünf bis sechs stattfand. Er würde von sechs bis Viertel vor sieben bei Ole sein, dem er schon Bescheid gesagt hatte, und anschließend, sobald es dämmerte, den kleinen Vampir im Keller besuchen. „Wann kommst du wieder?“ fragte die Mutter, als er sich verabschiedete. „Kurz nach sieben.“ Bei seiner Rückkehr von Ole kam Anton zu seinem Schrecken Frau Puvogel entgegen, eine Nachbarin aus dem vierten Stock, die bei den Kindern der Siedlung „Petztante“ hieß. Sie trug wie immer ihre gräßliche Kittelschürze und auf dem Kopf das durchsichtige Nylontuch, unter dem ihre Haare auf Lockenwickler gedreht waren. „Na, Anton“, sagte sie und lächelte scheinheilig. „Noch so spät unterwegs? Hast du gar keine Angst im Keller?“
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„Nee“, brummte er und wollte an ihr vorbeigehen. Sie hielt ihn jedoch am Arm fest und zischte: „Hast du schon gemerkt, wie es jetzt im Keller stinkt? Nicht zum Aushalten ist es!“ Sie machte eine Pause und schnappte nach Luft.
„Wenn das nicht besser wird, müßte jeder gezwungen werden, seinen Kellerraum zu öffnen, damit festgestellt werden kann, woher der Gestank kommt!“ Anton erschrak. „D-darf man denn das?“ stotterte er. „Aber sicher“, sagte sie, „in einem solchen Fall...“ Damit ließ sie seinen Arm los und stieg weiter die Treppen hinauf. „Schweinerei, so was!“ hörte Anton sie noch im Treppenhaus zetern. Er blieb im Kellergang stehen, bis alles ruhig war. Dann ging er leise an die Tür zu seinem Keller, klopfte und öffnete. 64
Ein trauriger Vampir Der moderige Geruch kam Anton heute viel durchdringender vor – oder hatte ihn Frau Puvogel mit ihrem Gerede schon angesteckt? Er blieb neben der Tür stehen und blinzelte. „Rüdiger?“ sagte er leise. „Ich hab’ deine Sachen mitgebracht!“ „Schon wieder so früh?“ kam die unfreundliche Antwort aus der Tiefe des Kellers. „Darf ich Licht machen?“ fragte Anton vorsichtig. „Nein!“ kreischte der kleine Vampir. „Um Teufelswillen kein elektrisches Licht kurz nach dem Aufwachen!“ Ein Streichholz flammte auf, und Anton sah, wie der Vampir die Kerze am Sargrand entzündete. „Ich hab’ noch nicht mal Zähne geputzt“, muffelte er und zog eine rote Zahnbürste mit verbogenen Borsten aus dem Sarg hervor. „Aber du hast doch gar kein Wasser“, meinte Anton. „Na und?“ sagte der Vampir und sah ihn giftig an. „Brauche ich vielleicht Wasser, um mir das Zahnfleisch zu bürsten?“ „Nein“, sagte Anton, „ich dachte nur...“ „Was du alles denkst!“ knurrte der Vampir, während er sich mit der Zahnbürste im Mund herumfuhr. Anton nahm den Umhang und die Strumpfhose aus dem Sportkoffer und legte sie über den Sargrand. Der Vampir schien weder von ihm noch von den Sachen Notiz nehmen zu wollen. „Bist du sauer?“ fragte Anton schließlich. „Ja!“ brummte der Vampir. „Wegen gestern?“ „Ja.“ 65
Anton überlegte. „Weil ich mit Anna getanzt habe?“ „Nein!“ Obwohl er sonst so vorsichtig war, brüllte der Vampir. „Weil du einfach abgehauen bist und ich dich überall in der Ruine gesucht habe und dabei Tante Dorothee in die Arme gelaufen bin!“ „Oh!“ sagte Anton, der Rüdigers Schrecken nur allzugut nachempfinden konnte. „Und?“ „Sie hat es Elisabeth der Naschhaften gemeldet, unserem Obervampir, und die hat mir einen Verweis erteilt.“ „Einen Verweis? Und warum?“ „Weil es, so sagte sie, eine Unverschämtheit sei, trotz des Gruftverbots das Vampirtreffen zu besuchen. Dabei wußte ich überhaupt nicht, daß ich auch Festverbot hatte!“ fügte er aufgebracht hinzu. „Dann ist das Gruftverbot wohl auch noch nicht aufgehoben worden?“ erkundigte sich Anton. „Im Gegenteil!“ rief der Vampir. „Ich habe noch zusätzlich zweitägiges Flugverbot bekommen.“ „Flugverbot?“ sagte Anton verständnislos. „Ja. Ich muß mir meine – äh – Nahrung zu Fuß besorgen.“ „Ich höre nur immer Verbot, Verbot!“ rief Anton entrüstet. „Gruftverbot, Festverbot, Flugverbot... Das ist ja – Diktatur!“ Der kleine Vampir zuckte traurig mit den Schultern. „Was soll ich machen?“ sagte er. „Dich wehren!“ rief Anton. Doch der Vampir schüttelte nur müde den Kopf. „Bei euch Menschen ginge das vielleicht, aber bei uns Vampiren hätte das die schrecklichsten Folgen.“ „Welche denn?“ fragte Anton neugierig. Der Vampir warf ihm einen abgründigen Blick zu und flüsterte: „Berufsverbot.“ „Berufsverbot?“ wiederholte Anton. „Und was ist das?“ „Der Hungertod“, sagte der Vampir mit Grabesstimme.
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Anton schwieg erschrocken. Die Erziehungsmethoden der Vampire schienen ja wirklich grausam zu sein. Da konnte man sich nur freuen, kein Vampir zu sein! „Kann ich dir irgendwie helfen?“ fragte er mitleidig. Die Augen des Vampirs begannen zu leuchten. „Das würdest du für mich tun?“ rief er und leckte sich aufgeregt die Lippen. Anton merkte, wie ihm das Blut stockte. „S-so doch nicht“, stotterte er, „ich meinte – anders.“ Sogleich verdüsterte sich die Miene des Vampirs wieder. „Wie wohl – anders?“ murrte er. „Willst du mir beim Mäusefangen helfen?“ „N-nein“, sagte Anton schnell. Er hatte wirklich eine einmalige Fähigkeit, sich immer wieder in die Nesseln zu setzen! „Am besten, ich mach’ mich gleich auf die Socken“, sagte der Vampir trübsinnig. „Wer weiß, wie lange ich für meine – äh – Geschäfte brauche!“ Er blies die Kerze aus und stand auf. „Viel Glück!“ sagte Anton leise. Plötzlich tat ihm der Vampir furchtbar leid. Er selbst konnte jetzt nach oben gehen und sich das Stückchen Käse, auf das er Appetit hatte, einfach aus dem Kühlschrank nehmen! „Danke“, fauchte der Vampir und kletterte durchs Kellerfenster, „werd’s gebrauchen können!“ Als Anton die Kellertür zuschloß, fiel ihm ein, daß er dem kleinen Vampir nichts davon erzählt hatte, was sich für Donnerstag über ihm zusammenbraute. Aber dann war er ganz froh darüber, dem Vampir in seiner niedergeschlagenen Stimmung nicht auch noch diesen neuen Schock versetzt zu haben. Und außerdem waren noch drei Tage Zeit bis dahin...
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Aufregung im Kellergang Sein Lieblingslied „War einst ein kleines Segelschiffchen“ vor sich hin summend, kam Anton am Dienstag nach Hause. Sie hatten die Diktate zurückbekommen, und Anton, der sonst nur Dreien oder Vieren schrieb, hatte eine 2+! Dafür würde er sich ein Buch wünschen dürfen, und er wußte auch schon, welches: „Vampirgeschichten für Fortgeschrittene“. Mit Schwung stieß er die schwere Haustür auf und ging zum Fahrstuhl hinüber. Dort blieb er plötzlich erschrocken stehen: Aus dem Keller drang erregtes Stimmengewirr herauf, und mehrmals kläffte ein Hund. Sollte das etwas mit Rüdiger zu tun haben? Er stellte sich auf die oberste Kellertreppe und horchte. „Hier muß es sein!“ keifte eine Frauenstimme. „Genau hier, wo sich meiner Susi das Fell sträubt!“ Eine Männerstimme antwortete: „Das ist der Keller von Bohnsack!“ „Von Bohnsack?“ rief die Frauenstimme. „Gestern abend hab’ ich den Bengel noch getroffen, wie er mit einem großen Koffer in den Keller schlich! Klammheimlich, sag’ ich Ihnen, und als ich ihn fragte, wohin er wollte, wurde er puterrot!“ „Alles gelogen!“ zischte Anton. „Wann war das?“ fragte die Männerstimme. „Um sieben. Ich hab’ gleich Verdacht geschöpft.“ „Und seitdem haben Sie diesen – ähem – Geruch stellt?“ „Nein. Den hab ich schon früher bemerkt.“ „Und wann?“ „Vor einer Woche ungefähr.“ Ein wildes Kläffen folgte, und die Frauenstimme rief: „Sehen Sie? Ganz verrückt wird meine Susi vor der Kellertür!“ In diesem Augenblick wurde die Haustür geöffnet, und Antons Mutter trat ein. 68
„Du?“ rief sie überrascht, als sie Anton auf der Kellertreppe stehen sah. „Wieso bist du nicht oben?“ „Sind Sie es, Frau Bohnsack?“ fragte die Frauenstimme aus dem Keller. „Ja! Was ist?“ antwortete die Mutter. „Kommen Sie doch mal herunter!“ rief die Männerstimme. „Weißt du, worum es geht?“ wandte sich die Mutter flüsternd an Anton. „Keine Ahnung“, brummte er. Besonders wohl war ihm nicht in seiner Haut. Hoffentlich hatte die Mutter den Kellerschlüssel nicht dabei! Sie stiegen die Kellertreppen hinunter. Ein Dackel mit Hängebauch kam mit wütendem Gebell auf sie zugewackelt: Es war der überfütterte Schoßhund von Frau Puvogel. „Gut, daß Sie den Bengel gleich mitbringen!“ begrüßte sie Frau Puvogel. In der Aufregung hatte sich ihr Nylontuch gelöst, und die Lockenwickler hingen nun wirr um ihren Kopf herum. „Was sagten Sie? Bengel?“ fragte die Mutter befremdet. „Ist das etwa kein Bengel, der abends um sieben mit einem Koffer durch den Kellergang schleicht?“ zeterte Frau Puvogel. Die Mutter warf Anton einen Blick zu, der „wir sprechen uns noch“ verriet, dann sagte sie: „Deshalb haben Sie noch lange nicht das Recht, meinen Sohn Bengel zu nennen. Ich nenne Sie ja auch nicht – Klatschmaul.“ „Wie bitte?“ kreischte Frau Puvogel. „Klatschmaul haben Sie zu mir gesagt? Sie, Sie...“ Sie suchte nach Worten, um ihrer Empörung Luft zu machen. „Sie haben mich mißverstanden“, sagte die Mutter kühl. „Ich sagte: Ich nenne Sie nicht Klatschmaul!“ Frau Puvogel war sprachlos. Dafür mischte sich jetzt der Hausmeister, der bisher stumm neben Frau Puvogel gestanden hatte, ins Gespräch: „Frau
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Puvogel hat sich bei mir über den schlechten Geruch im Keller beschwert.“ „Und was habe ich damit zu tun?“ sagte die Mutter. „Frau Puvogel meint, der Geruch käme aus Ihrem Keller!“ „Aus meinem Keller?“ rief die Mutter. „Das ist das Unglaublichste, was ich je gehört habe! Aus meinem Keller, der alle zwei Wochen aufgeräumt wird! Ich bin ja einiges an üblem Tratsch von Ihnen gewöhnt, Frau Puvogel“, sagte sie dann. „Aber das ist nun wirklich zuviel!“ Frau Puvogel war ganz blaß geworden. „Und meine Susi?“ fragte sie kleinlaut. „Warum bellt sie ausgerechnet immer vor Ihrer Kellertür?“ „Was weiß ich?“ sagte die Mutter und maß den Hund mit einem verächtlichen Blick. „Gewisse Hunde finden immer was zum Bellen.“ Anton fiel ein Stein vom Herzen! Daß sich die Mutter so für ihn einsetzte! Natürlich würde sie wissen wollen, was er gestern abend um sieben im Keller gemacht hätte. Aber dafür würde ihm schon eine glaubhafte Erklärung einfallen! Frau Puvogel jedenfalls war erst mal der Wind aus den Segeln genommen, und auch dem Hausmeister schien die Sache sehr peinlich zu sein. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er zu Antons Mutter, „aber ich muß natürlich jeder Beschwerde nachgehen.“ Ohne ein Wort zu sagen, nahm Frau Puvogel ihren Dackel auf den Arm und rauschte davon. „Komm, Anton“, sagte die Mutter, „du hast doch bestimmt noch nichts gegessen!“
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Nudeln machen lustig „Nun“, fragte die Mutter am Küchentisch, nachdem sie die Spaghettis aufgefüllt hatte, „was hattest du im Keller zu suchen, abends um sieben?“ Anton wickelte sich betont langsam ein paar Nudeln um die Gabel. „Das ist ein Geheimnis“, sagte er. „Ist es auch ein Geheimnis, weshalb du gestern das Training geschwänzt hast?“ Erschrocken sah Anton auf. Woher wußte sie das nun schon wieder? „Ja, da staunst du!“ sagte sie. „Ich hab’ eben Oles Mutter getroffen, und die hat mir erzählt, daß ihr gestern bei Ole Monopoly gespielt habt.“ „Äm, ja“, murmelte Anton verlegen. „Ich hatte gestern einfach keine Lust zum Training. Immer im Kreis rennen, Bänke stemmen...“ „Aber du bist doch sonst so gern gegangen?“ Das stimmte zwar. „Und Ole? Hatte der auch keine Lust?“ fragte die Mutter. Anton überlegte. Wahrscheinlich wußte sie die Wahrheit ohnehin schon, und so sagte er: „Der ist vor einem halben Jahr aus dem Verein ausgetreten.“ „Da hast du mich ja ganz schön beschwindelt mit deiner Geschichte vom Trainer, der unbedingt zum Zahnarzt mußte!“ Die Stimme der Mutter klang gar nicht böse, eher lustig. „Ich möchte nur wissen, womit du dein Herumgeistern im Keller erklären willst.“ „Herumgeistern? Mit solchen Dingen soll man nicht spaßen!“ sagte Anton würdevoll. „Und was hattest du nun im Keller zu tun?“ Anton schüttelte den Kopf. „Das ist ein Geheimnis“, wiederholte er. 71
„Aber ich bin doch so neugierig!“ sagte die Mutter. „Darf ich’s denn nicht erfahren?“ „Doch. Donnerstag.“ „So spät erst? Na, wenn du meinst!“ Sie schien die Sache für einen Scherz zu halten, und das war natürlich das Beste, was ihm passieren konnte! Solange sie keinen Verdacht schöpfte, war der Vampir einigermaßen in Sicherheit. Und bis Donnerstag mußte er unter allen Umständen aus dem Keller verschwunden sein, so daß er dann seiner Mutter in Seelenruhe erzählen konnte, das Geheimnis sei ein Vampir gewesen, der eine Woche lang in ihrem Keller gewohnt hätte! Anton mußte schon jetzt kichern, als er sich das Gesicht vorstellte, das sie bei einer solchen Eröffnung machen würde! „Das Nudelessen scheint dich ja sehr zu erheitern“, bemerkte sie. „Nudeln machen lustig“, sagte Anton. „Wußtest du das nicht?“ In seinem Zimmer setzte sich Anton an den Schreibtisch, schlug sein Lesebuch auf und begann mit den Hausaufgaben: „Wie die Schildbürger auf einem Acker Salz ausgesät haben.“ Doch seine Gedanken wanderten immer wieder zu Rüdiger in den Keller, bis er schließlich das Buch zuklappte. Auf jeden Fall mußte er noch heute mit Rüdiger sprechen und ihm klarmachen, daß er nicht länger in ihrem Keller bleiben konnte! Aber was sollte er seinen Eltern sagen, warum er schon wieder abends in den Keller mußte? Wenn er nun schon um fünf nach unten ginge und einfach zu spät zum Abendbrot käme? ... Das konnte doch jedem passieren, oder? Er schlug sein Buch wieder auf. So dumm wie die Schildbürger war er jedenfalls nicht!
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Leerer Magen „Ich geh’ noch ein bißchen runter“, sagte er kurz vor fünf. „Meinetwegen“, antwortete die Mutter. „Aber vergiß nicht: um halb sieben gibt’s Abendbrot!“ Unten stieg Anton auf sein Fahrrad. Zwei Stunden waren eine ganz schön lange Zeit, aber er würde sie schon herumkriegen! Außerdem hatte er „Gelächter aus der Gruft“ dabei, in dem er, solange es noch hell war, lesen konnte. Um sieben war er zurück. Leise öffnete er die Haustür. Niemand war zu sehen, und so holte er schnell sein Rad und trug es die Treppen hinunter. Der Kellergang war leer, und bis auf den muffigen Geruch, der noch stärker geworden war, schien alles unverändert. Er stellte sein Rad ab, dann schloß er die Tür zu seinem eigenen Kellerraum auf. Der kleine Vampir war bereits aufgewacht. Beim Schein der Kerze saß er im Sarg und sah Anton mit großen, hungrigen Augen entgegen. Doch kaum hatte er ihn erkannt, als sein Gesicht einen enttäuschten Ausdruck annahm. „Ach, du“, sagte er verstimmt. Seine Haare standen wüst vom Kopf ab, und seine Zähne klickten so heftig aufeinander, als habe er Schüttelfrost. „Rüdiger!“ rief Anton erschrocken. „Bist du krank?“ „Krank?“ sagte der Vampir und versuchte zu lachen. „Fast verhungert bin ich!“ „Hast du denn nichts – gefangen?“ erkundigte sich Anton. Der Vampir stöhnte, daß sich Antons Haare sträubten. „Nicht mal eine Maus!“ ächzte er und preßte seine Hände auf den Leib. „Wenn du wüßtest, wie leer mein Magen ist!“ Dabei sah er Anton mit funkelnden Augen an und fuhr sich mit der Zunge langsam über die Lippen. Anton erschrak: Ihm kam es plötzlich vor, als starrte der Vampir unentwegt auf seinen Hals! 73
„D-du willst doch nicht etwa...“ stotterte er und wich zurück. Wer wußte, wozu ein ausgehungerter Vampir fähig war! Aber der Vampir schüttelte den Kopf und stöhnte noch lauter. „Kannst du denn überhaupt laufen?“ fragte Anton mitfühlend. Der Vampir erhob sich, machte ein paar taumelnde Schritte und ließ sich wieder in den Sarg zurücksinken. „Wenn mir nur nicht so schwindlig wäre!“ schluchzte er. Er sah so jämmerlich aus, daß er Anton richtig leid tat. War es überhaupt zu verantworten, Rüdiger jetzt mit zusätzlichen Sorgen zu belasten? Mußte er nicht vorher wenigstens eine Kleinigkeit zu sich genommen haben? Anton merkte, wie es ihm bei dem Gedanken an die Lieblingsspeise des Vampirs heiß und kalt den Rücken herunterlief, aber tapfer dagegen ankämpfend sagte er: „Ich – könnte dir ja helfen.“ „Wie denn?“ fragte der Vampir. Anton zögerte. „Ich bin gar nicht so schlecht im Kaninchenfangen.“ „Wirklich?“ sagte der Vampir. Seine düstere Miene hellte sich auf. „Versuchen können wir’s ja!“ Sogleich sprang er aus dem Sarg und lief ans Kellerfenster. Die Aussicht auf Nahrung hatte ihn offenbar so belebt, daß er sich wieder ganz normal bewegen konnte. Fast bereute Anton es schon, ihm seine Hilfe angeboten zu haben. „Du, Rüdiger“, begann er zaghaft. „Wegen des Kellers – also mein Vater – und mein Opa...“ Aber der Vampir hatte schon das Fenster geöffnet und kletterte nach draußen. „Komm“, rief er, „da sitzen zwei Kaninchen!“
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Künstlerpech Mißmutig folgte Anton ihm. Wenn es um seine, Antons, Belange ging, stellte der Vampir sich am liebsten taub! Jetzt kauerte er auf dem Rasen und sah sich suchend um. „Eben waren sie noch da“, flüsterte er. „Gehen wir lieber!“ sagte Anton und warf einen ängstlichen Blick auf die erleuchteten Wohnzimmerfenster über ihnen. „Sonst sehen meine Eltern uns noch!“ „Und wohin?“ sagte der Vampir gereizt. „Da d-drüben“, stotterte Anton und zeigte auf den Spielplatz, den hohe Büsche vor neugierigen Blicken schützten. „Gibt es denn da Kaninchen?“ fragte der Vampir mißtrauisch. „Na klar!“ sagte Anton, obwohl er sich dessen gar nicht so sicher war. Vorsichtig schlichen sie über den Rasen. Als sie die Büsche erreicht hatten, atmete Anton erleichtert auf. „Und wo sind nun die Kaninchen?“ fragte der Vampir und betrachtete unlustig die Klettergerüste. Anton schob ein paar Äste zur Seite. „Hier“, sagte er, „das ist ihr Lieblingsplatz.“ „Wirklich?“ sagte der Vampir. Seine Stimme klang plötzlich ganz rauh, und seine Augen begannen zu leuchten. Mit einem Satz verschwand er zwischen den Büschen. Doch gleich darauf kam er zurück. Sein Gesicht war zerkratzt, und sein Umhang hatte mehrere große Risse bekommen. „Das nennst du Kaninchen?“ rief er und hielt Anton zwei fette Spinnen entgegen. „Iieh!“ entfuhr es Anton. Spinnen konnte er überhaupt nicht leiden. Rasch wandte er sich ab, denn auf keinen Fall wollte er mitansehen, wie der Vampir Spinnen verzehrte! Da packte ihn der Vampir am Ärmel. „Denkst du, ich esse Spinnen?“ rief er, und mit angewiderter Miene ließ er sie zu 75
Boden fallen. „Du siehst anscheinend zu viele schlechte Vampirfilme!“ „Ich dachte nur...“ murmelte Anton. Dann kam ihm eine Idee. „Ich könnte für dich in die Apotheke gehen!“ „In die Apotheke?“ fragte der Vampir argwöhnisch. „Und warum?“ „Da gibt es B-Blutkonserven“, sagte Anton. Doch der Vampir schien davon gar nichts zu halten. „Pfui! Konserven!“ fauchte er. „Ich esse nichts aus Dosen!“ „Kann ich ja nicht wissen“, sagte Anton gekränkt. In diesem Augenblick hörten sie Schritte, die sich dem Spielplatz näherten. Sofort nahm Rüdigers Gesicht einen gespannten Ausdruck an. „Ein Mensch“, flüsterte er, und aufgeregt klickten seine Zähne. Anton erstarrte. Rüdiger würde es doch nicht wagen... „Wir wollten nur Ka-Kaninchen fangen!“ stammelte er. „Und wenn du jetzt was anderes fängst, dann...“ „Was dann?“ knurrte der Vampir. „... dann ist das Verrat!“ Die Schritte waren jetzt auf ihrer Höhe. Der Vampir hatte seine nadelspitzen Zähne entblößt und starrte in das Dunkel der Büsche. Vor Erregung zitterte er am ganzen Körper. „Nicht!“ flehte Anton. Der Vampir sah ihn wutschnaubend an. „Misch dich nicht in meine Angelegenheiten!“ zischte er. „Wenn du das tust“, sagte Anton mit bebender Stimme, „bin ich nicht mehr dein Freund!“ Die Schritte entfernten sich. Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen, dann war alles ruhig. Mit einem Aufschrei schlug sich der Vampir die Hände vor den Kopf. „So eine Gelegenheit!“ jammerte er. „So eine einmalige Gelegenheit!“
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Zähneknirschend sah er Anton an. „Das nennst du helfen?“ rief er. „Verhungern werde ich, elend verhungern! Aber jetzt suche ich allein weiter!“ Entschlossen zog er seinen Umhang glatt und wandte sich zum Gehen. „Und was ist mit dem Keller?“ rief Anton, aber der Vampir gab keine Antwort mehr. Anton sah ihn zwischen den Büschen verschwinden. Traurig ging er nach Hause. Keinen Schritt war er vorangekommen, und nun blieb nur noch der Mittwoch! „Soll das vielleicht halb sieben sein?“ sagte seine Mutter, als er die Wohnungstür aufschloß. „Nein“, brummte er. Im Wohnzimmer lief schon die Tagesschau. „Und warum kommst du so spät?“ „Ich – wir haben Verstecken gespielt.“ „So lange?“ „Nein. Aber mein Versteck war so gut, daß mich bis jetzt niemand gefunden hat.“ Die Ausrede war nicht schlecht, und gegen seinen Willen mußte er grinsen. „So witzig finde ich das nicht“, sagte die Mutter ärgerlich. „Wenn das noch mal passiert, gehst du abends nicht mehr runter!“ Will ich auch gar nicht, dachte Anton auf dem Weg in sein Zimmer. Nur noch morgen.
Jagdfieber Die Kirchturmuhr schlug halb neun. Fröstelnd kam der kleine Vampir zwischen den Baumstämmen hervor, hinter denen er sich seit einer halben Stunde versteckt gehalten hatte. Es waren zwar ein paar Leute vorbeigekommen, aber leider nie die richtigen: Entweder waren sie zu zweit, was einen 77
Überfall sehr erschwerte, oder sie rochen schon von weitem nach Knoblauch. Aber jetzt bog eine einzelne Frau um die Ecke. Rasch verbarg sich der Vampir hinter einer Anschlagsäule. Mit klappernden Schritten kam die Frau näher – eine große kräftige Frau, wie der Vampir gesehen hatte, und bestimmt nicht blutarm! Schon hatte sie die Anschlagsäule fast erreicht, als sie plötzlich stehenblieb. Ein eisiger Schreck durchfuhr den Vampir. Sollte sie etwas bemerkt haben?
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Vorsichtig spähte er auf die Straße: Nur wenige Meter von ihm entfernt stand die Frau und drehte ihm den Rücken zu. Ihre blonden Haare wurden im Nacken von einer Spange zusammengehalten, und ihr Mantel hatte nur einen schmalen, eng anliegenden Kragen, so daß der Vampir ihren makellos 79
weißen Hals sehen konnte. Er stöhnte auf, und wie von einer magnetischen Kraft angezogen, krümmte er die Finger und trat hinter der Säule hervor. In diesem Moment rief die Frau: „Rudolf!“ und klatschte in die Hände. Ein großer Schäferhund kam um die Ecke gerannt, und der Vampir konnte sich gerade noch mit einem Sprung in die Hecke retten. Da blieb er sitzen, während der Schäferhund an den Sträuchern schnüffelte und schließlich, als hätte der Vampir nicht schon genug gelitten, sein Bein hob. „Komm, Rudolf!“ sagte die Frau. „Jetzt gehen wir nach Hause.“ Grimmig verfolgte der Vampir, wie sie sich entfernten. „So ein Mist!“ schimpfte er und zog sich die Dornen aus den Fingern. Obwohl sein Magen jämmerlich knurrte, rührte er sich nicht – zum Heulen war das Vampirleben, und da brauchte er sich gar nicht zu schämen, wenn ihm ein paar Tränen über das Gesicht rannen! „Guck mal, da weint einer!“ hörte er plötzlich eine helle Stimme sagen. „Der sieht aber komisch aus“, antwortete eine zweite Stimme. „Ja, wie ein Vampir“, sagte die erste Stimme und kicherte. Vor ihm standen zwei Kinder, jedes Kind mit einem langen Stock in der Hand, an dessen Ende eine bunte Laterne leuchtete. Erschrocken fuhr sich der Vampir über sein nasses Gesicht. „Was wollt ihr?“ fragte er und bewegte seine steif gewordenen Beine. Die Kinder begannen zu lachen. „Bist du echt?“ fragte das größere der beiden Kinder. „Klar“, knurrte der Vampir. Die Kinder waren höchstens acht Jahre alt – keine sehr lohnende Beute! Aber dennoch, besser als gar nichts...
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„Wollen wir zusammen Laterne laufen?“ fragte er, auf einmal sehr freundlich. „Ich weiß einen ganz dunklen Weg, auf dem eure Laternen noch viel besser leuchten!“ „Und wo?“ fragte das kleinere Kind. „Wo?“ sagte der Vampir und zeigte seine spitzen Zähne. „Am Friedhof natürlich.“ „Da müssen wir erst unsere Eltern fragen“, erklärte das andere Kind. „Wieso denn?“ sagte der Vampir. „Ohne Erwachsene macht es doch viel mehr Spaß!“ „Da hinten kommen sie sowieso schon“, sagte das Kind, und mit aufgeregter Stimme rief es: „Mutti, Vati, kommt mal! Hier ist was ganz Tolles! Ein echter...“ Aber bevor es zu Ende gesprochen hatte, war der Vampir davongerannt. Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief er bis zur Friedhofsmauer, sprang hinüber und ließ sich aufatmend ins Gras fallen. Hier war er wenigstens in Sicherheit! Als der Vampir sich umsah, überkam ihn fast ein wehmütiges Gefühl, und voller Sehnsucht dachte er an die schönen Zeiten in der Gruft. Nicht weit entfernt erkannte er die Tanne, unter der sich das Einstiegsloch befand. Wie gern hätte er einen Blick in die Gruft geworfen! Ob die Särge noch an ihren alten Plätzen standen? Oder waren die Vampire nach seinem Auszug zusammengerückt? Ob Anna jetzt neben Lumpi schlief? Eigentlich konnte gar nichts passieren, wenn er mal nachguckte – um diese Zeit waren die Vampire bestimmt unterwegs! Da raschelte es auf einmal neben ihm, und eine Gestalt im Arbeitskittel, aus dessen Taschen lange, gespitzte Holzpfähle guckten, sprang hervor. Es war Geiermeier, der Friedhofswärter, der mit teuflischem Grinsen auf ihn zukam.
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„Hab ich dich endlich!“ rief er, und dabei nahm er einen Holzpfahl aus der Tasche und hob den Hammer, den er in der Hand hielt. „Warte, Bürschchen“, sagte er, „jetzt bist du dran!“ Immer näher kam er... „Nicht!“ schrie Anton. „Nicht!“ Als er die Augen öffnete, lag er in seinem Bett. Hatte er geträumt? „Anton“, hörte er die Stimme seiner Mutter. „Was ist denn?“ Er schaltete das Licht an. Auf dem Bettrand saß seine Mutter. „Ist dir nicht gut?“ fragte sie. „Doch“, murmelte er. „Ich hab nur geträumt.“ „Willst du’s mir nicht erzählen?“ Er schüttelte den Kopf. „Dann schlaf gut!“ sagte die Mutter. „Wir sprechen morgen noch mal darüber.“
Schwere Last Nach dem Mittagessen am nächsten Tag sagte die Mutter: „Du träumst in letzter Zeit so schreckliche Dinge! Ich bin schon ein paarmal aufgewacht, weil du im Schlaf geschrien hast. Und dann rufst du ganz merkwürdige Namen – Tante Dorothee und Lumpi der Starke und Elke die Niederträchtige...“ Anton biß die Lippen zusammen, um nicht zu lachen. „Wirklich?“ tat er ahnungslos. „Ja.“ Und während sie ihn aufmerksam ansah, sagte sie: „Ich mache mir Sorgen, Anton.“ Ich auch, hätte Anton am liebsten geantwortet – aber das durfte er natürlich nicht zugeben. Deshalb sagte er betont unbekümmert: „Das ist doch ganz normal, Mutti.“ 82
„Findest du?“ sagte sie zweifelnd. „Oder kommen die schlechten Träume von deinen nächtlichen Ausflügen?“ fragte sie auf einmal ahnungsvoll. „W-wie meinst du das?“ stotterte Anton. Sollte sie etwas von seinem Flug ins Jammertal wissen? „Nun“, sagte sie, „immerhin fällt auf, daß du in den letzten Tagen ungewöhnlich lange draußen geblieben bist. Einmal sogar bis um acht!“ „Das ergab sich so“, murmelte Anton. „Und was hast du draußen tatsächlich gemacht?“ „Was ich gemacht habe? Verstecken gespielt.“ „Das soll ich glauben?“ Er zuckte gleichmütig die Schultern. „Und was ist mit dem Geheimnis im Keller?“ fragte sie. Sofort war Anton hellwach. „Wieso?“ sagte er. „Hat es vielleicht etwas mit deinen Alpträumen zu tun?“ „Nein! Das bestimmt nicht!“ sagte Anton rasch. „Kann ich denn jetzt in den Keller gehen?“ „J-jetzt?“ sagte Anton erschrocken. „Und warum?“ „Weil ich mir etwas aus einer Zeitschrift heraussuchen möchte.“ „Geht das nicht morgen?“ „Morgen brauche ich den Artikel schon für die Schule.“ Anton überlegte. „Ich könnte dir die Zeitschrift holen!“ „Das würdest du tun?“ „Klar!“ sagte er, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Ich weiß aber nicht, in welcher Zeitschrift es steht.“ „N-nicht?“ sagte Anton. „Dann bringe ich dir eben alle!“ „Tatsächlich?“ Die Stimme der Mutter klang ungläubig. „Den ganzen Stapel?“ „Na ja, warum nicht?“ sagte er. „Und wann?“ „Am besten gleich.“
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So fuhr Anton zehn Minuten später mit dem Fahrstuhl nach unten. Wenn er auch vor seiner Mutter so getan hatte, als machte ihm das gar nichts aus – jetzt hätte er heulen können vor Wut! Und alles war nur die Schuld des kleinen Vampirs! Er schloß die Kellertür auf und machte Licht. Der Sargdeckel war verschlossen, und darunter hörte er leises Schnarchen. Der läßt es sich gutgehen! dachte er böse. Schließlich hat er mich, der alles für ihn macht! Am liebsten hätte er den Vampir kräftig geschüttelt und ihm seinen ganzen Zorn ins Gesicht geschrien! Unschlüssig blieb er stehen. Ob er ihn sich wenigstens einmal ansehen sollte? Er hatte gelesen, daß Vampire tagsüber wie Tote schliefen. Also könnte der Vampir gar nicht merken, was mit ihm geschah. Vorsichtig faßte er den Sargdeckel an und schob ihn zur Seite. Die Schultern des Vampirs wurden sichtbar, dann sein Kopf. Unwillkürlich erschauerte Anton. So leichenfahl hatte er den Vampir noch nie gesehen! Seine Augen starrten blicklos und gläsern geradeaus. Seine Wangen waren eingefallen, und nur sein leicht geöffneter Mund mit den getrockneten Blutflecken deutete darauf hin, daß er nicht vollständig tot war. „Rüdiger?“ sagte er leise. Keine Antwort. „Rüdiger?“ sagte er noch einmal. Der Vampir regte sich nicht. Nur ein starker Modergeruch stieg von ihm auf und nahm Anton fast den Atem. „Brr!“ sagte er und schloß den Deckel wieder. Dagegen rochen Antons Füße auch an ihren schlimmsten Tagen wie Maiglöckchen-Parfüm!
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Unlustig sah er sich nach den Zeitschriften um. Säuberlich gestapelt lagen sie neben dem Werkzeugschrank. Wie viele mochten es sein? Fünfzig? Sechzig? Hundert? Er nahm die obersten zehn. Sie waren schwerer, als er angenommen hatte. Vor der Kellertür mußte er sie noch einmal absetzen, um abzuschließen. Dann hob er sie ächzend wieder auf. „Die ersten zehn!“ sagte er, als seine Mutter die Wohnungstür öffnete. „Ach, Anton!“ lachte sie. „Du bist ja ganz rot vor Anstrengung! Soll ich nicht doch mitkommen?“ Anton schüttelte heftig den Kopf. „Das ist doch Training“, versicherte er hastig. Nachdem er sechsmal hin und her gefahren war, hatte er alle Zeitschriften nach oben geschafft. Erschöpft ließ er sich auf sein Bett fallen. Seine Arme fühlten sich an, als hätte er eine Stunde lang Bänke gestemmt, und seine Knie waren weich wie Kaugummi. „Einen guten Freund erkennst du in der Not“, sagte er zähneknirschend. Das war Omas Lieblingsspruch, den er oft belächelt hatte – diesmal paßte er! 85
Um sich von seinem Ärger abzulenken, nahm er „Gelächter aus der Gruft“ vom Regal. Aber er hatte kaum eine Seite gelesen, da war er schon eingeschlafen.
Ein gefahrvoller Plan Als Anton aufwachte, war es ganz still in der Wohnung. Er sah auf seine Uhr: kurz vor sechs! Das bedeutete, daß er mehr als drei Stunden geschlafen hatte! Und das ausgerechnet heute, wo es auf jede Minute ankommen konnte! Mit einem Satz sprang er aus dem Bett und ging zur Tür Um sechs war seine Mutter meistens in der Küche und bereitete das Abendbrot vor. Aber heute war alles ruhig, kein Geschirr klapperte, kein Radio spielte – sollte sie weggegangen sein? Leise öffnete Anton die Tür. Auch jetzt hörte er nichts, und so ging er auf Zehenspitzen in den Flur. Niemand war da. Nur auf dem Küchentisch lag ein Zettel: Lieber Anton, las er, ich bin zu Vati ins Büro gefahren. Da findet heute eine kleine Feier statt. Bitte, mach Dir selbst Abendbrot, und sei spätestens um halb acht wieder oben. Wir rufen um acht an. Tschüs, Mutti. Überwältigt ließ Anton den Zettel sinken. Ein Wunder war geschehen! Seine Eltern würden den ganzen Abend unterwegs sein, und er konnte so lange draußen bleiben, bis er die Sache mit Rüdiger erledigt hatte! Vor Freude machte er einen Luftsprung. Ein komisches Gefühl im Magen erinnerte ihn daran, daß er noch etwas essen mußte. Er schnitt sich eine Scheibe Brot ab und bestrich sie dick mit Butter. Dazu aß er ein großes Stück Käse. Während er kaute, dachte er angestrengt nach. Sollte er noch einmal zu Rüdiger in den Keller gehen? Vielleicht ließe er jetzt mit sich reden? Aber schnell verwarf er diese Möglichkeit 86
wieder. Er brauchte sich nur vorzustellen, wie Rüdiger gähnend im Sarg saß und über seinen leeren Magen jammerte, um einzusehen, daß er sich etwas Besseres einfallen lassen mußte! Und wenn er versuchte, Anna zu treffen? Sie würde bestimmt Verständnis für seine Probleme haben und ihm helfen, eine Lösung zu finden! Bei dem Gedanken an Anna fühlte sich Anton gleich viel wohler. Sein Plan hatte nur einen Nachteil: Der einzige Ort, an dem er sicher sein konnte, Anna zu treffen, war die Gruft auf dem Friedhof! Er müßte sich also in der Nähe des Einstiegs auf die Lauer legen und warten, bis Anna herauskäme... Schaudernd dachte er an die anderen Vampire, die ebenfalls aus diesem Loch steigen würden. Aber dieses Risiko mußte er auf sich nehmen! Und für alle Fälle würde er sich die Kette seiner Mutter mit dem silbernen Kruzifix um den Hals hängen und ein paar Knoblauchzehen in die Tasche stecken! Er sah aus dem Küchenfenster: Noch war es hell, aber bald würde es anfangen zu dämmern, und dann mußte er auf dem Friedhof sein! Er nahm die Kette aus dem Schmuckkästchen, brach sich vier Knoblauchzehen ab und ging.
Die offene Tür Vor der Haustür traf Anton Frau Puvogel. Sie führte ihren Dackel an der Leine, der sogleich heftig zu bellen begann. Frau Puvogel machte eine säuerliche Miene, und ohne Antons Gruß zu erwidern, schritt sie an ihm vorbei. „Früher war Ihr Dackel höflicher!“ rief er ihr nach. Als Antwort kläffte der Dackel noch lauter, und mit einem ängstlichen Blick auf die Fenster der Nachbarn zog Frau Puvogel ihn schnell in den Hauseingang. 87
Die Welt ist eigentlich voller Vampire, dachte Anton, und die echten Vampire sind keineswegs die schlimmsten! Zum Glück blieb Frau Puvogel die einzige Bekannte, die ihm begegnete, und so kam er unbehelligt auf dem Friedhof. Still und verlassen lag der Friedhof da. Niemand war zu sehen, und beruhigt ging Anton den Hauptweg hinunter. Hier waren die Hecken geschnitten und die Gräber gepflegt – ganz anders als auf dem hinteren Teil des Friedhofs, in dem sich die Gruft der Vampire befand. Auf einem frischen Grab am Wegrand häuften sich Blumen und Kränze, und er las die Aufschrift: „Alfred – du bleibst unter uns!“ Anton grinste. Sollte es sich bei Alfred auch um einen Vampir handeln? Jäh verging ihm das Lachen, als sein Blick auf die Kapelle am Ende des Weges fiel: Ihre große, eisenbeschlagene Tür stand offen! Starr vor Schreck blieb Anton stehen. Er merkte, wie sein Herz schneller schlug, und unwillkürlich faßte er nach dem Kreuz an der Halskette. Wer oder was mochte sich in der Kapelle zu schaffen machen? Während er noch überlegte, ob er umkehren oder weitergehen sollte, kam ein Mann heraus, schlug die Tür zu und versperrte sie mit einem großen Vorhängeschloß. Geiermeier, der Friedhofswärter! durchfuhr es Anton. Das lange Gesicht, die große Nase und der Arbeitskittel mit den tiefen Taschen, aus denen tatsächlich spitze Holzpflöcke und ein Hammer ragten, konnten nur zu Geiermeier gehören. Der wußte ja genau, daß Vampire nur ein Holzpfahl töten kann, der ihnen mitten durchs Herz gestoßen wird. Jetzt hatte Geiermeier Anton erspäht. Sein Gesicht nahm einen unheilvollen Ausdruck an, und mit langsamen Schritten kam er auf ihn zu. Es war wie in seinem Traum, und Anton spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Gleich würde Geiermeier den Hammer heben...
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Aber statt dessen sah er ihn aus seinen Schweinsäuglein unfreundlich an und fragte mit heiserer Stimme: „Was willst du?“ Sein Atem roch so stark nach Knoblauch, daß Anton die Luft anhielt. „Ich g-geh hier nur“, stammelte er. Während er ein paar Schritte zurückwich: „Ich wollte sowieso gerade nach Hause!“ „So?“ sagte der Friedhofswärter, und ihm war deutlich anzumerken, daß er Anton kein Wort glaubte. „Du bist aber in die falsche Richtung gegangen.“
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Er zog einen Holzpflock aus der Tasche und fuhr gedankenverloren mit dem Daumen über die Spitze. Anton lief es kalt den Rücken herunter. „J-jetzt will ich aber nach Hause“, stotterte er, drehte sich um und rannte davon, den Hauptweg entlang bis zur Eingangstür. Dort erst wagte er sich umzudrehen. Geiermeier folgte ihm, aber er schien es nicht sehr eilig zu haben. In der Hand hielt er 90
ein großes Schlüsselbund, mit dem er, so vermutete Anton, die Tür abschließen wollte. Schnell machte Anton die Pforte hinter sich zu und lehnte sich aufatmend gegen die Friedhofsmauer, die hier am Eingang glatt und weiß war. Eine Tanne schützte ihn vor den Blicken Geiermeiers, und so konnte er sich ein paar Minuten ausruhen und nachdenken. Es begann bereits zu dämmern – höchste Zeit für ihn, zur Gruft zu kommen! Und da ihm Geiermeier den Weg über den Friedhof versperrte, gab es nur eine Möglichkeit: Er mußte über die hintere Friedhofsmauer klettern! Keine sehr angenehme Aussicht, fand Anton, denn diesen Weg nahmen auch die Vampire, wenn sie auf die Jagd gingen. Und falls ihm ein Vampir begegnete, bevor er sich hinter einem Grabstein in der Nähe der Gruft verstecken konnte... Aber er mußte es jetzt darauf ankommen lassen, und so lief er, bis er den grauen, verwitterten Teil der Mauer erreicht hatte. Er sah sich aufmerksam nach allen Seiten um, und als er nichts Verdächtiges entdeckte, stieg er auf einen Mauervorsprung und sprang hinüber.
Die Vampire kommen Diese Ecke des Friedhofs hatte Anton schon immer einen Schauder eingeflößt: Das Gras wuchs hier fast kniehoch, und umgestürzte Grabsteine und schiefe Kreuze gaben dem Platz etwas Gespenstisches. Heute war ihm noch flauer als sonst zumute, und mit ängstlichen Blicken sah er zu der hohen Tanne hinüber, unter der sich das Einstiegsloch zur Gruft befand. Hatte sich dort nicht etwas bewegt? Antons Mund fühlte sich auf einmal ganz trocken an, und er hockte sich rasch hinter den nächsten Grabstein. Sein Herz klopfte so laut, daß er dachte, es müßte 91
bis zur Tanne zu hören sein, aus deren Schatten jetzt eine dunkle Gestalt hervortrat. Es war ein kleiner, untersetzter Vampir, der sich lange und eingehend umblickte, bevor er die Arme unter dem Umhang ausbreitete und abflog. Anton seufzte erleichtert, denn ein paarmal hatte der Vampir in seine Richtung gesehen! Da erschien eine zweite Gestalt: ein großer kräftiger Vampir, der sich sogleich in die Luft erhob. Lumpi der Starke? Jetzt klapperte der Stein über dem Einstiegsloch. Anton hielt den Atem an. Ein kleiner, schmächtiger Vampir kam, auf einen Stock gestützt, mühevoll aus dem Dunkel der Tanne gehumpelt. Anton hörte ihn leise stöhnen. Nun steckte der Vampir den Stock unter den Umhang und flog los. Wer mochte das gewesen sein? Elisabeth die Naschhafte? Sabine die Schreckliche? Wieder bewegten sich die Zweige der Tanne, und eine Gestalt trat hervor. Sie blieb stehen und sog prüfend die Luft ein. Anton merkte, wie sein Herz einen Sprung machte und dann wie rasend schlug: Die Gestalt sah zu ihm herüber! Ja, es gab keinen Zweifel mehr, daß sie ihn erspäht hatte, denn nun kam sie mit langsamen Schritten näher – es war Tante Dorothee! Anton war vor Schreck wie gelähmt. Am ganzen Körper zitternd, sah er ihr entgegen, ohne auch nur einen Finger rühren zu können. Schon war sie so nah, daß er ihren großen Mund sehen konnte. „Nein!“ schrie er voller Entsetzen. „Warum nicht?“ hörte er Tante Dorothees Stimme. „Es tut nur am Anfang weh. Danach ist es schön!“ Sie streckte die Hände nach ihm aus, und Anton roch ihren kalten Grabesatem. „Nein!“ rief er noch einmal. „Aber nicht doch!“ sagte Tante Dorothee. „Sonst beiße ich daneben, und du behältst häßliche Narben.“
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Anton fühlte, daß er gleich in Ohnmacht fallen würde, als plötzlich der Stein klapperte und eine helle, vertraute Stimme rief: „Tante Dorothee, was machst du da?“ Tante Dorothee stockte. „Ja, was ist?“ sagte sie überrascht. Anton öffnete die Augen und erkannte Anna. Ein freudiger Schreck durchfuhr ihn – vielleicht war er doch noch nicht verloren? „Tante Dorothee, du sollst nach unten kommen!“ hörte er Anna sagen. „Nach unten?“ Tante Dorothees Stimme verriet Mißtrauen. „Und warum?“ „Du sollst belohnt werden!“ „Belohnt?“ sagte Tante Dorothee geschmeichelt. „Weil ich Rüdiger entlarvt habe?“ „Ja!“ antwortete Anna. „Aber beeil dich!“ „Und der hier?“ fragte Tante Dorothee und warf einen gierigen Blick auf Anton. „Auf den passe ich solange auf“, erklärte Anna. „Ja, dann –“ sagte Tante Dorothee, sah noch einmal sehnsüchtig auf Antons Hals und ging zum Einstiegsloch zurück. „Laß ihn aber unberührt!“ rief sie von dort aus – ganz unbegründet, da Anna ohnehin nur Milch trank! Als sie verschwunden war, packte Anna Anton am Arm. „Komm, wir müssen weg!“ sagte sie. „Und Tante Do-Dorothee?“ stotterte Anton, der noch immer ganz benommen war. „Ja, eben!“ rief Anna. „Gleich wird sie zurückkommen, und wenn du dann immer noch hier bist...“ Sie sprach nicht weiter, sondern zog Anton hinter sich her zur Friedhofsmauer. Willenlos folgte er ihr. Sein Kopf dröhnte, und auch jetzt noch glaubte er Tante Dorothees Blick zu spüren, mit dem sie ihn ganz schwach und widerstandslos gemacht hatte.
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„Wir dürfen keine Zeit verlieren“, sagte Anna, nachdem sie über die Friedhofsmauer geklettert waren. „Tante Dorothee kann fliegen, und wir haben nur einen Umhang.“ „Wo-wohin wollen wir denn?“ fragte Anton. „Möglichst weit weg“, antwortete Anna. „Bis Tante Dorothee die Lust verloren hat, uns zu verfolgen!“
Auf der Flucht „Und wenn wir uns verstecken?“ fragte Anton. „Und wo?“ sagte Anna. „Bei mir zu Hause.“ Anna schüttelte den Kopf. „Tante Dorothee weiß doch, wo du wohnst.“ „Und in der Schule?“ „In deiner Schule?“ Anna war stehengeblieben und sah sich um. Mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtete sie den Himmel. „Und wo sollen wir uns da verstecken?“ „In meiner Klasse.“ „Ist die Schule denn nicht abgeschlossen?“ Anton mußte grinsen. „Doch“, sagte er, „aber mein Haustürschlüssel paßt ins Schloß.“ „Ehrlich?“ Anna lachte. „Ich wollte schon immer mal eine Schule von innen sehen“, fügte sie hinzu, „also komm!“ Kurz darauf standen sie vor Antons Schule. In dem kleinen Anbau, den der Hausmeister bewohnte, brannte Licht. Sonst war alles dunkel. „Ich geh’ voran“, flüsterte Anton. Er stieg über den Holzzaun, und Anna folgte ihm. Sie gingen über den Schulhof, der im Dunkeln fast unheimlich aussah, und kamen an ein flaches Gebäude. Anton zog seinen Schlüsselbund aus der Tasche, während Anna nach Tante Dorothee Ausschau hielt. „Siehst du sie?“ fragte Anton beklommen. 94
„Ich weiß nicht“, antwortete Anna. „Da hinten fliegt etwas, aber ob das Tante Dorothee ist?...“ Jetzt hatte Anton den passenden Schlüssel gefunden und aufgeschlossen. Rasch schlüpften sie in den Flur und zogen die Tür hinter sich zu. Dann blieben sie stehen und lauschten. „Hörst du etwas?“ fragte Anton. „Ja“, sagte Anna leise. „Draußen schleicht jemand herum.“ Anton hörte nichts, aber er bekam eine Gänsehaut. „Tante Do-Dorothee?“ stotterte er. „Vielleicht...“ Einige Minuten vergingen, die Anton wie eine Ewigkeit vorkamen. Dann sagte Anna: „Sie ist weg.“ „War es Dorothee?“ fragte Anton. „Ja“, sagte Anna. „Hast du nicht ihr Zähneklappern gehört?“ Bei dem Gedanken, daß Tante Dorothee eben nur wenige Meter von ihm entfernt gewesen war, sträubten sich Antons Haare. „Meinst du, sie hat gemerkt, daß wir hier sind?“ fragte er. „Bestimmt nicht“, beruhigte ihn Anna. „Sonst wäre sie nicht weitergeflogen.“ Anton fiel ein Stein vom Herzen. Endlich war Tante Dorothee verschwunden, und er konnte in Ruhe mit Anna über Rüdiger sprechen.
In Antons Klasse Aber Anna schien sich im Augenblick für ganz andere Dinge zu interessieren. „Und welches ist nun deine Klasse?“ fragte sie aufgeregt. „Die linke oder die rechte?“ „Die linke“, brummte Anton. Schon öffnete sie die Klassentür. „Komm, Anton!“ rief sie. „Du, Anna“, begann er, „ich muß mit dir reden...“ 95
„Ja, ja“, sagte sie leichthin, „nachher. Jetzt bin ich viel zu neugierig.“ Im Schein des Mondlichts lief sie durch den Raum und zählte die Stühle. „Fünfunddreißig!“ rief sie. „Wie gesellig!“ „Gesellig?“ staunte Anton. „Findest du das gut, wenn jeder pro Stunde nur einmal drankommen kann?“ „Klar!“ sagte Anna. „Dann kannst du den Rest der Stunde schlafen, ohne daß es jemand merkt.“ „Und bei den Arbeiten schreibst du ’ne Sechs“, erwiderte Anton. Anna war vor dem Lehrerpult stehengeblieben. „Wem gehört eigentlich dieser Riesentisch?“ fragte sie. „Meiner Lehrerin“, antwortete Anton, dem die Besichtigung schon viel zu lange dauerte. „Ach so“, sagte Anna nachdenklich, „damit sich die Kinder mehr vor ihr fürchten, nicht wahr?“ Sie bückte sich und guckte in die Schubladen. „Aber hier sind ja gar keine Rohrstöcke!“ rief sie enttäuscht. „Rohrstöcke sind nicht mehr erlaubt“, erklärte Anton. „Nicht?“ rief Anna überrascht. „Aber Lumpi erzählt immer...“ „Heute gibt es viel bessere Methoden“, sagte Anton. Anna überlegte, dann rief sie: „Gummiknüppel?“ „Zensuren“, antwortete Anton. „Zensuren?“ Anna machte ein ratloses Gesicht. „Wie geht das denn?“ „Ganz einfach“, sagte Anton. „In der Schule bekommst du für alles Zensuren. Wenn du gute Zensuren hast, darfst du, wie meine Eltern immer sagen, eine ‹weiterführende› Schule besuchen und kannst später einen guten Beruf lernen und viel Geld verdienen. Wenn du allerdings schlechte Zensuren hast...“ „Aber das ist ja ungerecht!“ rief Anna. „Wenn einer nicht so lernen kann...“ „Eben“, sagte Anton. 96
„Und was für Zensuren hast du?“ fragte Anna. „So mittel.“ „Darfst du dann auf eine ‹weiterführende› Schule?“ „Mal sehen“, sagte Anton. „Ich müßte ja auch Lust dazu haben.“ Anna sah gedankenvoll aus dem Fenster. „Dann ist es doch nicht so schön in der Schule, wie ich dachte“, meinte sie. Auf einmal fiel ihr etwas ein: „Wo ist eigentlich dein Platz?“ rief sie. „Hier“, sagte Anton und zeigte auf einen Tisch in der vorletzten Reihe. „Und wer sitzt neben dir?“ fragte Anna. „Doch kein – Mädchen?“ Anton mußte lachen. „Ein Junge“, sagte er. Anna atmete erleichtert auf. „Setz dich doch mal auf deinen Stuhl!“ bat sie. „Und warum?“ fragte Anton, während er sich hinsetzte.
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„Weil ich gern neben dir sitzen möchte“, lächelte sie. „Jetzt ist es so, als wären wir Klassenkameraden“, sagte sie schwärmerisch, als sie neben Anton Platz nahm. „Dann würde ich dich jeden Morgen in der Schule sehen, wir könnten zusammen über den Schulhof gehen und nachmittags Hausaufgaben machen...“ Bei den letzten Worten hatte ihre Stimme plötzlich ganz traurig geklungen, und jetzt fuhr sie sich mit der Hand über die Augen. „Ach, Anton!“ seufzte sie und sah ihn mit großen schimmernden Augen an. Anton wandte schnell den Kopf ab. „Können wir jetzt über Rüdiger sprechen?“ sagte er verlegen. „Über Rüdiger?“ rief sie. „Ich bin dir wohl ganz gleichgültig!“ „Nein“, sagte er rasch. Er durfte sie jetzt auf keinen Fall kränken! Aber wie sollte er die richtigen Worte finden, wenn
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Anna heftig schluchzte und ihm selbst auch ganz komisch zumute war? „Du, Anna“, sagte er zögernd, „es ist doch nur wegen der Latten.“ „Wegen der Latten?“ „Ja. Morgen kommt mein Opa, und dann wollen mein Vater und mein Opa die Latten aus dem Keller holen.“ „Aus deinem Keller?“ fragte Anna erschrocken. „Und Rüdiger? Wie soll er seinen Sarg so schnell in die Gruft zurücktragen? Das Gruftverbot ist zwar aufgehoben worden, aber...“ „Aufgehoben?“ Anton glaubte, nicht richtig gehört zu haben. „Das Gruftverbot ist wirklich aufgehoben?“ Vor Freude überschlug sich seine Stimme. „Ja“, sagte Anna, „heute abend.“ „Das ist ja...“ Anton fehlten die Worte. „Dann kann er ja heute nacht in die Gruft zurückkehren!“ „Und der Sarg?“ gab Anna zu bedenken. „Den kann er unmöglich allein zurückbringen. – Außerdem ist er jetzt bestimmt unterwegs“, fügte sie hinzu. „Wir beide könnten den Sarg tragen!“ rief Anton. „Und wenn Rüdiger wiederkommt und seinen Sarg nicht mehr vorfindet?“ sagte Anna. „Wir heften ihm einen Zettel ans Kellerfenster“, sagte Anton. Und als Anna schwieg und nachdenklich aus dem Fenster guckte: „Bitte, Anna!“ Sie sah ihn von der Seite an, und jetzt lächelte sie wieder. „Wenn du mich bittest, kann ich nicht nein sagen!“ Fast hätte er die Arme ausgebreitet und sie umarmt, aber dann schlug er ihr doch nur freundschaftlich auf die Schultern. „Du bist Klasse!“ sagte er, und auf einmal klang seine Stimme ganz belegt.
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„Findest du?“ sagte sie, und obwohl nur das Mondlicht zu ihnen hereinschien, konnte er doch erkennen, wie ihr Gesicht dunkelrot wurde. „Übrigens“, sagte sie und hob prüfend die Nase, „irgend etwas in eurer Klasse stinkt!“ „So?“ sagte Anton. Ihm war, von Annas leichtem Modergeruch einmal abgesehen, nichts aufgefallen. „Ja“, sagte sie und verzog den Mund. „Ein ganz abscheulicher Gestank nach – Knoblauch!“ „Knoblauch?“ murmelte Anton. Da fielen ihm die Knoblauchzehen ein, die er sich eingesteckt hatte. Unsicher faßte er in die Taschen und zog sie heraus, als Anna aufschrie: „Nicht! Willst du mich umbringen?“ „E-entschuldige!“ stotterte Anton. „Ich dachte nicht, daß...“ „Kennst du nicht den alten Vampirspruch: ‹Knoblauchdämpfe, Magenkrämpfe›?“ rief Anna, die bis zum Pult zurückgewichen war. „Schnell, wirf sie raus!“ Anton öffnete das Fenster und warf sie auf den Schulhof. „Sie waren wegen Tante D-Dorothee“, erklärte er. „Glaubst du, sie hätten dir etwas genützt?“ sagte Anna. „Im Gegenteil. Sie hätten Tante Dorothee nur noch wilder gemacht.“ Anton erschauerte. „Und das Kreuz?“ fragte er und zeigte auf die Halskette. Anna winkte ab. „Alles nur Aberglaube. In Wirklichkeit hilft nur eins.“ „Und was?“ fragte Anton gespannt. „Selbst Vampir zu sein“, sagte Anna und kicherte.
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Peinlichkeiten Auf dem Rückweg fragte Anton: „Und das Gruftverbot ist tatsächlich aufgehoben worden?“ Es kam ihm noch immer wie ein Wunder vor. „Zuerst sollte es für vier Wochen verlängert werden“, erklärte Anna. „Vor allem meine Großmutter, Sabine die Schreckliche, bestand darauf – als Warnung für uns andere Vampirkinder, meinte sie. Aber nachdem ich ihnen erzählt hatte, daß Rüdiger seit Tagen nichts Richtiges mehr gegessen hätte und schwermütig durch die Gegend liefe, fürchteten sie, daß er sich aus Verzweiflung in die Sonne legen und verglühen könnte, und erlaubten ihm, in die Gruft zurückzukehren.“ „Meinst du, das hätte er getan?“ fragte Anton bestürzt. Er dachte daran, wie schwach und kränklich der kleine Vampir bei den Kellerbesuchen ausgesehen hatte... Ob er seine Schwierigkeiten nicht ernst genug genommen hatte? Aber Anna lachte nur. „Keine Sorge!“ sagte sie. „Ich mußte etwas übertreiben.“ Mit heimlicher Bewunderung sah Anton sie von der Seite an. Wenn er Anna nicht hätte...! Doch war sie nicht genauso gefährdet wie Rüdiger? „Und wenn sie dich – ich meine, du hast doch auch Kontakt zu Menschen“, sagte er. „Ach“, meinte Anna sorglos, „mich erwischen sie nicht.“ Und während sie sich bei Anton einhakte, lächelte sie. „Aber es ist lieb von dir, daß du dir Gedanken um mich machst.“ Anton hustete verlegen. Daß Anna immer so unverblümt ihre Gefühle äußern mußte! Vorsichtig zog er seinen Arm zurück und sagte: „G-gleich sind wir da.“ „Sind deine Eltern zu Hause?“ erkundigte sich Anna. „Nein“, sagte Anton. „Und vor zehn kommen sie bestimmt nicht wieder. – Aber um acht wollten sie anrufen“, fiel ihm ein, 101
und erschrocken sah er auf seine Armbanduhr: Es war schon zehn Minuten nach acht! „Dann muß ich schnell nach oben!“ rief er. „Willst du mitkommen?“ „Wenn ich darf“, sagte Anna und lächelte. Sie hatten die Wohnungstür kaum hinter sich geschlossen, als das Telefon klingelte. Antons Mutter war am Apparat. „Hallo, Mutti!“ sagte er und bemühte sich, so wie immer zu sprechen, obwohl sein Herz heftig klopfte. „Wo ich eben um acht war?“ Er sah zu Anna hinüber, die ihr Haar vor dem Flurspiegel bürstete. Mußte sie ausgerechnet dort stehen, wo sie jedes Wort mitanhören konnte? Und außerdem – in den Geschichten, die er kannte, hatten Vampire überhaupt kein Spiegelbild! „Ich war auf dem – Klo“, sagte er. Anna lachte auf. „Ob ich allein bin? Natürlich, Mutti! W-wer eben gelacht hat? Das war im Radio.“ Er machte Anna ein Zeichen mit der Hand, daß sie ins Wohnzimmer gehen sollte, aber sie blieb seelenruhig stehen und fuhr fort, sich zu bürsten. „Was ich jetzt mache? Ich geh’ ins Bett“, sagte er. Anna lachte wieder. „Nein“, rief Anton ins Telefon, „hier ist niemand. Das ist eine Witzsendung im Radio. Ob ich schon gewaschen bin? Ja! Gute Nacht, Mutti!“
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Aufatmend hängte er ein. „Fast hätte sie etwas gemerkt“, sagte er vorwurfsvoll zu Anna. „Was kann ich dafür, wenn ich lachen muß“, verteidigte sie sich. Sie legte die Bürste hin und drehte sich zu ihm um. „Bin ich hübsch?“ „J-ja“, sagte er. „Gehst du denn jetzt – ins Bett?“ fragte sie. „Nein“, brummte Anton. „Schade“, sagte sie. „Ich hätte gern mal ausprobiert, wie es sich in deinem Bett liegt.“ Dabei sah sie ihn sehnsüchtig an. Anton merkte, wie sein Gesicht rot anlief. „W-wir sollten jetzt den Sarg holen“, stotterte er. „Jetzt schon?“ sagte sie enttäuscht. „Wenn deine Eltern erst um zehn kommen...“ „Vie-vielleicht kommen sie auch früher.“ „Na gut.“ Ihre Stimme klang beleidigt. „Wenn du meinst.“ Anton schluckte. Hatte er wieder etwas falsch gemacht? „Ich – hab’ ein Buch für dich“, sagte er rasch, um sie zu versöhnen. „Für mich?“ „Ja.“ Er ging in sein Zimmer und holte „Gelächter aus der Gruft“. Mit einem kummervollen Blick betrachtete er das Buch, das er erst zur Hälfte gelesen hatte, und gab es ihr. „Danke!“ freute sie sich und steckte es unter ihren Umhang. 103
„Und das war wirklich für mich?“ „Ja“, murmelte er. „Dann holen wir jetzt den Sarg!“ sagte sie. „Du, Anna?“ sagte er, als sie mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren. „Ja?“ „Stimmt es, daß Vampire kein Spiegelbild haben?“ Sie senkte beschämt den Kopf. „Hab’ ich mich so schlecht frisiert?“ „Nein, nein“, versicherte Anton schnell, „es hat mich nur interessiert.“ „Wir Vampire sind überall benachteiligt“, sagte sie anklagend. „Nicht nur, daß wir in wurmstichigen Särgen schlafen und muffige Umhänge tragen müssen! Obendrein können wir nicht mal in den Spiegel gucken, wenn wir uns verschönern wollen!“ In Gedanken stimmte ihr Anton zu, denn wenn er sich vorstellte, wie sie in Jeans und Pulli, mit gekämmten Haaren und einer gesunden Gesichtsfarbe aussehen würde... Er merkte, wie sein Herz schneller klopfte, und war froh, als der Fahrstuhl hielt und sie aussteigen konnten. „Aber du magst mich doch auch so?“ fragte sie schüchtern. „K-klar“, sagte Anton. Gut, daß die Beleuchtung über der Kellertreppe so dunkel war! Sonst hätte sie gesehen, wie er rot wurde. Anton öffnete die Tür zum Kellergang und drückte auf den Lichtschalter. Der Modergeruch war noch stärker geworden, und er mußte grinsen, als er an Frau Puvogel mit ihrer empfindlichen Nase dachte. Bald würde sie aufatmen können! „Das ist unser Keller“, sagte er, und obwohl niemand zu sehen war, flüsterte er. „Man riecht’s“, kicherte Anna.
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Anton schloß auf, und sie traten ein. Alles war unverändert: die Latten an der Wand, Rüdigers Sarg mit dem zur Seite geschobenen Deckel dahinter. „Nicht sehr gemütlich“, meinte Anna. „Nicht?“ sagte Anton. „Und so einsam. Der arme Rüdiger!“ „Wie bitte?“ rief Anton empört. Er nahm einen Haufen Scherereien in Kauf, damit der kleine Vampir einen Zufluchtsort hatte, und das einzige, was Anna zu bemerken hatte, war: der arme Rüdiger! „Ich hätte wohl einen roten Teppich ausbreiten sollen, wie?“ sagte er verärgert. Anna lachte. „Nein. Aber weißt du, für einen Vampir wie Rüdiger, der immer in Gemeinschaft geruht – äh, gelebt – hat...“ „Vielleicht hätte ich mich dazulegen sollen“, sagte Anton giftig. Er hatte eine Ecke von einem Karton abgerissen und schrieb mit Bleistift eine Notiz für Rüdiger darauf: Lieber Rüdiger, Das Gruftverbot ist aufgehoben. Wir haben Deinen Sarg in die Gruft zurückgebracht. Anton Dann schob er den Zettel zwischen das Drahtgitter und die Glasscheibe des Kellerfensters und schloß es von innen. „Bist du beleidigt?“ fragte Anna. Er brummte nur. „Anton“, sagte sie sanft. „Ich meinte doch nur, daß ich... Also ich an Rüdigers Stelle hätte viel lieber bei dir geschlafen!“ Er gab keine Antwort, sondern begann, die Latten fortzuräumen. „Soll ich helfen?“ fragte Anna. „Wenn du den Sargdeckel mit anfassen könntest?“ 105
Gemeinsam hoben sie den Sargdeckel auf den Sarg. Er war so schwer, daß Anton die Schultern weh taten. Besorgt sah er zu Anna hinüber. Wie sollte er mit ihr, die mehr als einen Kopf kleiner war als er, den Sarg mitsamt dem Deckel bis zur Gruft schaffen? Aber Anna lächelte zuversichtlich, als könnte sie seine Gedanken lesen. „Ich bin stark“, versicherte sie. „Stärker als Rüdiger.“ „Wirklich?“ sagte Anton ungläubig. Zum Beweis hob sie den Sarg in der Mitte an. „Siehst du?“ „Tatsächlich!“ staunte Anton. „Das denkt man gar nicht.“ „Nicht wahr?“ sagte sie stolz. Sie ging ans Fußende des Sargs, und Anton faßte am Kopf an. Vorsichtig trugen sie ihn bis zur Kellertür.
Drei auf einem Sarg Niemand war zu sehen, und so stellten sie den Sarg neben die Tür, und Anton hängte das Schloß wieder ein. Plötzlich hatte er ein mulmiges Gefühl in der Magengegend: Wenn nun gerade jemand in den Keller käme? Oder wenn ihnen unterwegs einer begegnete? Anna unterbrach seine Überlegungen, indem sie den Sarg anhob. „Komm!“ flüsterte sie. Ohne Licht zu machen, gingen sie durch den Kellergang, die Treppen hinauf bis zur Haustür. Als alles still blieb, trugen sie den Sarg nach draußen und setzten ihn im Schatten der Büsche ab. „Puh!“ sagte Anton und rieb seine schmerzenden Hände. „Bist du schon erschöpft?“ lachte Anna, der die Anstrengung überhaupt nicht anzumerken war. „N-nein“, sagte Anton, „kein bißchen.“ Vor Anna würde er nicht schlappmachen! 106
„Also los!“ sagte er und faßte wieder an. Sie wählten den dunkleren Weg über den Spielplatz und kamen, ohne jemanden getroffen zu haben, auf die Straße. Fast alle Autos standen schon auf den Parkplätzen, und kein Mensch war in der Nähe. „Die sitzen vor dem Fernseher“, erklärte Anton. „Weiß ich“, antwortete Anna. „Solange das Abendprogramm läuft, ist es für Vampire zwecklos, draußen auf Jagd zu gehen.“ „Und was machen sie in der Zeit?“ erkundigte sich Anton. Anna kicherte. „Sie fliegen um die Häuser und suchen einen Einstieg!“ „Brr!“ sagte Anton und faßte sich an den Hals. Wie oft stand bei ihm zu Hause das Fenster offen! Und wenn er an Tante Dorothee dachte... „Gehen wir?“ fragte Anna. Sie hoben den Sarg wieder an und trugen ihn den Fußweg entlang, als plötzlich auf der gegenüberliegenden Seite eine Gestalt auftauchte. Es war ein Mann mit einem merkwürdig schwankenden Gang. Neugierig sah er zu ihnen herüber. „Kennst du den?“ fragte Anna. Anton schüttelte den Kopf. „Der ist betrunken“, sagte er. Langsam, mit wiegenden Schritten, überquerte der Mann die Straße und kam auf sie zu. Anton merkte, wie seine Knie zitterten. Sollten sie weglaufen und den Sarg stehenlassen? Aber was würde dann mit dem Sarg geschehen? Anna schien dasselbe gedacht zu haben, denn sie flüsterte: „Wir setzen uns einfach drauf! Dann sieht er ihn nicht!“ Sie sprang auf den Sarg und breitete ihren Umhang aus, während sich Anton neben sie setzte. Der Mann war jetzt so nah, daß Anton den Bierdunst riechen konnte, den er ausströmte. Anna drehte den Kopf zur Seite und nieste. „Na, Kinder, ruht ihr euch aus?“ sagte er. „Macht dem Onkel mal Platz!“ Anna und Anton wechselten einen erschrockenen Blick. 107
„Oder ist das etwa keine Bank?“ Er beugte sich vor, um den Sarg zu betrachten, verlor aber das Gleichgewicht und fiel gegen das Holz. „Wenn ich nicht so viel getrunken hätte, würde ich sagen, das ist ein Sarg“, murmelte er und sah Anna und Anton aus rot unterlaufenen Augen an. „Ist das nun eine Bank oder nicht?“ lallte er. „Eine B-Bank“, sagte Anton. „Na also!“ Schwerfällig setzte er sich und zog eine Bierflasche aus der Tasche. „Prost!“ sagte er und trank. Dann wischte er mit dem Daumen über die Flaschenöffnung und hielt sie Anna hm. „Da! Trink!“ „Nein, danke!“ sagte Anna. „Und du?“ fuhr er Anton an. „Du bist hoffentlich nicht so zimperlich.“ „D-doch“, stotterte Anton. „Ich – mag kein Bier.“ „Was? Du magst kein Bier?“ staunte der Mann. Er setzte die Flasche wieder an den Mund und trank. „Na so was. Als ich in deinem Alter war...“ „Aber du rauchst doch?“ sagte er und bot Anton Zigaretten an. Anton hob abwehrend die Hände. „Auch nicht?“ Der Mann machte ein verständnisloses Gesicht. „Wie willst du’s dann lernen, wenn du nicht bald anfängst?“ „Ich will’s ja gar nicht lernen“, sagte Anton. Der Mann hatte seine Bierflasche ausgetrunken und ins Gebüsch geworfen. Nun steckte er sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Als sie brannte, lehnte er sich behaglich zurück – und fiel mit einem lauten Poltern hintenüber. Das sah so komisch aus, daß Anna auflachte. „Psst!“ zischte Anton. „Betrunkene darf man nicht reizen! Am besten, wir verschwinden, bevor er hochkommt!“ 108
Sie packten den Sarg an und liefen los. „He, bleibt stehen!“ rief der Mann. „Ihr habt mich reingelegt! Das war gar keine Bank! Bänke haben Lehnen!“ Sie sahen noch, wie er sich mühevoll erhob und ein paar schwankende Schritte in ihre Richtung machte, aber sie waren schon so weit entfernt, daß er ihnen nicht mehr folgen konnte.
Gemischte Gefühle „Trinkst du auch Bier, wenn du erwachsen bist?“ fragte Anna. „So viel bestimmt nicht!“ antwortete Anton. „Und warum trinkt der Mann so viel?“ „Warum?“ Wie sollte er das erklären? „Vielleicht hat er Probleme und will sie vergessen...“ „Ach so!“ meinte Anna. Endlich tauchte die Friedhofsmauer auf. Anton atmete erleichtert auf. Seine Hände waren schon fast gefühllos, und sein Rücken schmerzte. Anna dagegen trug den Sarg mit einer Leichtigkeit, als täte sie das jede Nacht. „Kannst du noch?“ fragte sie und sah sich freundlich lächelnd nach ihm um. „J-ja“, murmelte er. „Es ist auch nicht mehr weit“, sagte sie. „Da vorn können wir den Sarg über die Mauer heben.“ Sie bog in einen schmalen Weg ein, und Anton folgte ihr – mit sehr gemischten Gefühlen. Die dichten Büsche zu beiden Seiten des Weges waren ein ideales Versteck – für Tante Dorothee zum Beispiel... Doch ohne Zwischenfälle erreichten sie die Friedhofsmauer. Sie stellten den Sarg ab, und Anna flüsterte: „Ich geh’ nach drüben, und du schiebst mir den Sarg rüber.“ 109
Schon kletterte sie über die Mauer, die hier so hoch war, daß Anton mit ausgestreckten Armen gerade ihren Rand berühren konnte. „Warum nehmen wir nicht die hintere Mauer?“ fragte er leise. „Die ist viel niedriger.“ „Das ist zu gefährlich“, erklärte Anna. „Denk mal an Geiermeier.“ Ratlos sah Anton zwischen dem Sarg und der Mauer hin und her. Das würde er nie schaffen! „Schiebst du?“ fragte Anna. Er faßte unter den Sarg und versuchte ihn hochzuheben. „Es geht nicht“, sagte er kläglich. „Erst den Deckel!“ flüsterte Anna. Anton nahm den Deckel und stemmte ihn mit aller Kraft nach oben. „Hast du ihn?“ rief er. „Nein“, sagte Anna, aber da war es schon zu spät: Der Deckel entglitt seinen Händen und fiel mit einem lauten Krachen auf die andere Seite. Ein erstickter Aufschrei erklang. „B-bist du verletzt?“ stotterte Anton. „Ja“, kam die Antwort. „S-soll ich dir helfen?“ „Nein!“ Während er noch überlegte, was er machen sollte, kam Anna mühselig über die Mauer geklettert. Ihr Gesicht war tränenverschmiert, und den einen Fuß hielt sie weit von sich gestreckt. „Ist er – gebrochen?“ fragte Anton erschrocken. „Nein“, knurrte sie, und zornig packte sie das Unterteil des Sargs und stellte es auf die Mauer. Fassungslos sah Anton zu. „Halt mal!“ fuhr sie ihn an, während sie über die Mauer stieg. „Soll ich schieben?“ fragte er zögernd. „Bloß nicht!“ rief sie, und rasch zog sie das schwere Teil zu sich hinüber. Anton hörte, wie sie den Deckel daraufsetzte. 110
„Bist du mir böse?“ fragte er. „Ja“, sagte sie, und mit heiserer Stimme fügte sie hinzu: „Tolpatsch!“
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„Aber ich hab’s doch nicht mit Absicht getan!“ Sie gab keine Antwort. „Anna! Entschuldige bitte!“ Auch jetzt antwortete sie nicht. Sollte sie allein mit dem Sarg losgegangen sein? Anton stieg auf einen Stein und zog sich so weit hoch, daß er über die Mauer gucken konnte. Schattenhaft erkannte er Anna, die den Sarg durch das hohe Gras trug. Sie humpelte, und er hörte, wie sie leise stöhnte. „Anna!“ rief er. „Lauf doch nicht weg! Ich wollte dir nicht weh tun!“ Doch sie ging einfach weiter. „Anna!“ rief er noch einmal, aber da war sie schon zwischen den Bäumen verschwunden. Anton ließ sich von der Mauer gleiten und blieb unschlüssig stehen. Dann drehte er sich um und lief den Weg nach Hause zurück. Seltsam – plötzlich dachte er nicht mehr an die Büsche und an die möglichen Gefahren, die dahinter lauern mochten. Immer wieder sah er Anna vor sich, wie sie mit dem schweren Sarg durch das Gras gehumpelt war, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen. Und dabei hatte er ein komisches Gefühl im Magen, als hätte er Stachelbeeren gegessen und dazu Wasser getrunken. Er stockte: War das etwa – Liebeskummer? Merkwürdig war auch, daß sich gar keine Erleichterung einstellen wollte, obwohl er doch nun endlich den Sarg losgeworden war... Aber er hatte sich wie ein Elefant im Porzellanladen benommen, und wenn Anna nun wütend auf ihn war, konnte er das gut verstehen! Er ging ins Haus, fuhr im Fahrstuhl nach oben und schloß die Tür auf. Niemand war da. Wie ein Stein fiel er ms Bett. Hoffentlich verzeiht sie mir! dachte er noch, bevor er einschlief.
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Alles umsonst „Anton!“ Von weit her kam die Stimme der Mutter. „Anton, aufstehen!“ „Ja“, brummte er. „Anton, es ist schon Viertel nach sieben!“ Er rieb sich die Augen und blinzelte. Das Licht, das die Mutter eingeschaltet hatte, blendete ihn, und als er sich jetzt auf die Seite drehte, taten ihm alle Glieder weh. „Au!“ ächzte er. „Bist du krank?“ fragte die Mutter besorgt. „Krank?“ Das war eine gute Idee! Außerdem fühlte er sich tatsächlich nicht besonders wohl. Er machte eine leidende Miene. „Ich glaub’, ich hab Grippe.“ „Grippe?“ sagte die Mutter und faßte an seine Stirn. „Aber du bist gar nicht heiß.“ „Mir tut alles weh“, jammerte er. „Dann müssen wir Fieber messen!“ erklärte sie, ging ins Badezimmer und kam mit dem Fieberthermometer zurück. „Hier! Und ohne Tricks!“ „Was denn für Tricks?“ fragte Anton beleidigt. Aber sie blieb ohnehin am Bettrand sitzen und sah auf die Uhr. „Sag mal, du hast ja gar kein Nachtzeug an!“ rief sie plötzlich. „N-nicht?“ tat Anton überrascht und zog die Bettdecke bis ans Kinn. „Nein“, sagte sie und zeigte auf seinen Schreibtischstuhl. „Du hast nur die Hose und den Pulli ausgezogen. – Übrigens, wie riechen deine Sachen wieder?“ Mißtrauisch hielt sie Antons Pulli an die Nase. „K-kleines Lagerfeuer“, sagte Anton schnell. „Lagerfeuer?“ „Ja. Gestern abend.“ 113
Überzeugt schien sie nicht zu sein, doch jetzt waren die fünf Minuten herum, und prüfend betrachtete sie das Thermometer. „37,1. Kein Fieber. Nur erhöhte Temperatur.“ „Aber ich fühle mich so schlecht...“ „Und wer soll sich um dich kümmern, wenn du zu Hause bleibst?“ „Vati ist doch da. Und Opa.“ „Vati?“ sagte sie und lachte. „Der ist längst ins Büro gefahren.“ „Aber er wollte doch heute...“ sagte Anton und hielt verwirrt inne. „W-wollte er nicht mit Opa die Küche verkleiden?“ „Schon. Aber es ist ihm etwas dazwischengekommen.“ Anton merkte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen, und er mußte sich auf die Zunge beißen, um nicht loszuheulen. Er brachte sich fast um, damit der Sarg aus dem Keller verschwand – und dann, wenn er es endlich geschafft hatte, kam dem Vater etwas dazwischen, einfach so! Eine Gemeinheit war das, immer wurde alles auf seinem Rücken ausgetragen! „So schlimm wird’s doch nicht sein“, sagte die Mutter und strich ihm über den Kopf. „Wir sind doch alle mal krank.“ Wenn es nur das wäre! dachte er, und aufschluchzend drehte er sich zur Wand. „Ich mach’ dir einen Tee“, sagte die Mutter. „Aber danach muß ich los.“ Als sie gegangen war, blieb Anton im Bett liegen und starrte an die Decke. Er war ein richtiger Pechvogel! Andererseits – wenigstens war der Sarg jetzt nicht mehr da, und wenn seine Eltern mal wieder etwas aus dem Keller brauchten, konnten sie es ruhig selbst holen! Er seufzte noch einmal tief, dann kroch er unter die Bettdecke. Kurz darauf schlief er schon wieder.
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Das Geheimnis wird gelüftet Als die Mutter am Mittag wiederkam, saß Anton im Bett. Er hatte sich ein paar Kissen in den Rücken geschoben und las. „Hallo, Mutti!“ lächelte er. „Du siehst aber schon wieder viel besser aus“, meinte sie. „Na ja“, sagte er verlegen. Daß er einfach nur todmüde gewesen war, würde er lieber nicht verraten. „Was gibt es denn heute?“ erkundigte er sich. Nach den Anstrengungen des gestrigen Abends hatte er einen Bärenhunger. „Kartoffelpuffer“, antwortete die Mutter. „Aber ich muß erst noch Kartoffeln aus dem Keller holen.“ „Ach so“, sagte er, und ein Gefühl tiefer Zufriedenheit überkam ihn: Sollte sie nur gehen – ab heute war ihm der Keller einerlei! Aber er merkte, daß sie ihn gespannt beobachtete. „Hast du nichts dagegen, wenn ich in den Keller gehe?“ fragte sie. „Nein“, sagte er, „wieso?“ Sie lachte. „Als ich die Zeitschriften im Keller durchsehen wollte, warst du nicht einverstanden. Ist denn dein Geheimnis nicht mehr da?“ „Mein Geheimnis?“ Gegen seinen Willen mußte Anton grinsen. Nun blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als die Mutter aufzuklären. „Der Vampir ist ausgezogen“, sagte er. „Der – was?“ rief sie. „Der Vampir, der im Keller gewohnt hat“, antwortete Anton. „Du mit deinen Vampiren!“ schimpfte sie und schüttelte den Kopf. „War denn dein Geheimnis so schlimm, daß du mir nicht die Wahrheit sagen kannst?“ „Findest du einen Vampir, der Gruftverbot bekommen hat, nicht schlimm genug?“ entgegnete er.
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„Vampire, Vampire!“ Wie immer, wenn dieses Thema zur Sprache kam, hatte ihre Stimme einen gereizten Klang. „Kannst du dich nicht auch mal mit anderen Dingen beschäftigen?“ „Doch“, sagte er und grinste. „Ich hab mir letzte Woche ein Buch über Werwölfe aus der Bücherhalle geholt.“ „Ach!“ machte sie verärgert und ging aus dem Zimmer. Anton lachte leise hinter vorgehaltener Hand. Wie erwartet, hatte sie ihm kein Wort geglaubt – um so besser! Er hörte, wie die Haustür klappte. Dann war es eine Weile still, bis sich der Schlüssel im Schloß drehte. Gleich darauf stand die Mutter im Zimmer. In der Hand hielt sie einen Korb mit Kartoffeln – und die Vampirzahnbürste. „Was ist das?“ fragte sie und betrachtete mit deutlichem Widerwillen die Bürste, die nur oben und unten je ein Büschel abstehender Borsten hatte. „D-das?“ stotterte Anton. „Kenn ich nicht.“ Manchmal war es besser, die Unwahrheit zu sagen! „Brr!“ sagte die Mutter und warf sie in den Papierkorb. „Die hat wohl jemand unter der Tür durchgesteckt! Und gestunken hat es da unten!“ Sie nahm eine Kartoffel aus dem Korb und roch daran. „Hoffentlich hat sich das nicht auf die Kartoffeln übertragen.“ Damit ging sie in die Küche, und Anton sprang schnell aus dem Bett und zog die Zahnbürste zwischen den Papierschnipseln hervor. Dann steckte er sie unter sein Kopfkissen und lehnte sich gemütlich dagegen. „Sagst du Bescheid, wenn das Essen fertig ist?“ rief er.
Nächtliches Dankeschön „Aber morgen gehst du wieder zur Schule!“ sagte die Mutter am Abend. 116
„Hm“, machte Anton und hoffte, daß sich seine Stimme recht kläglich anhörte. Natürlich fiel die Mutter nicht darauf herein. „Wenn du wirklich noch krank wärst, würdest du längst schlafen“, meinte sie. „So?“ sagte Anton und sah auf die Uhr: fast acht! „Bin ja auch müde“, murmelte er und gähnte. In Wirklichkeit war er hellwach – schließlich hatte er bis Mittag geschlafen! Aber es war sicher am besten, wenn er in sein Zimmer ging und dort so lange las, bis er müde wurde. „Gute Nacht!“ sagte er. „Gute Nacht!“ antwortete der Vater aus dem Badezimmer, wo er Hemden auf die Leine hängte. „Schlaf gut!“ sagte die Mutter. In seinem Zimmer schloß Anton die Vorhänge, zog seinen Nachtanzug an und stieg in sein Bett. Wehmütig dachte er an das Buch über die Werwölfe, von dem er seiner Mutter erzählt hatte. Das wäre jetzt genau die richtige Lektüre gewesen – aber leider stand es in der Abteilung mit den Erwachsenenbüchern, die Anton noch nicht ausleihen durfte. Und „Gelächter aus der Gruft“ hatte er Anna geschenkt. Folglich blieb ihm nichts anderes übrig, als eins seiner Bücher noch einmal zu lesen! Gerade hatte er „Vampire – die zwölf schrecklichsten Geschichten“ aus dem Regal genommen, als es leise ans Fenster klopfte. Ein heftiger Schreck durchfuhr ihn: Sollte das – Tante Dorothee sein? Schließlich wußte sie, wo er wohnte... Auf Zehenspitzen ging er zum Fenster und spähte durch den Spalt zwischen den Vorhängen. Auf dem Fenstersims saß der kleine Vampir und lächelte freundlich. „Du?“ sagte Anton überrascht. Mit allen möglichen Vampiren hatte er gerechnet, mit Tante Dorothee, mit Lumpi, mit Anna... aber nicht mit Rüdiger! Immerhin hatte Rüdiger gerade erst ein Gruftverbot hinter sich! 117
„Meine Eltern sind da!“ sagte er warnend, während er das Fenster öffnete und der Vampir hereinstieg. „Und was machen sie?“ fragte der Vampir mit einem mißtrauischen Blick auf die Tür. „Sie sehen fern. Tagesschau.“ „Ach so!“ Das Gesicht des Vampirs entspannte sich. „Dann sind sie ja beschäftigt.“ „Hast du keine Angst, daß Tante Dorothee dich erwischt?“ fragte Anton. „Doch“, sagte der Vampir. „Aber ich komme wegen Anna.“ „Wegen Anna?“ Anton merkte, wie er rot wurde. „Ja. Sie hat gesagt, ich müßte mich unbedingt bei dir bedanken.“ „Bedanken?“ Antons Gesicht war inzwischen dunkelrot geworden. „Wofür denn?“ „Na ja“, sagte der Vampir verlegen. „Weil du so gastfreundlich warst und mich in deinem Keller aufgenommen hast...“ „Ach dafür!“ sagte Anton und seufzte erleichtert. Einen Augenblick hatte er geglaubt, Rüdiger wollte ihn auf seinen Kummer mit Anna ansprechen – aber davon schien er glücklicherweise nichts zu wissen! „War doch selbstverständlich!“ erklärte er großspurig. „Das hättest du in meiner Lage genauso gemacht!“ „Klar!“ nickte der Vampir eifrig. „Du kannst auch jederzeit zu mir kommen...“ Er machte eine Pause und sah Anton nachdenklich an. „Wenn du erst mal Vampir bist, meine ich...“ „Was?“ rief Anton erschrocken. „Vampir?“ Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und sogar das Lächeln Rüdigers kam ihm bedrohlich vor. Er schluckte. „Ich will überhaupt kein Vampir werden“, sagte er. „Nicht?“ meinte der Vampir erstaunt. „Auch nicht für – Anna?“ 118
„Nein“, antwortete Anton und ärgerte sich, daß seine Stimme so zitterig klang. „Außerdem hab’ ich Streit mit ihr.“ „Ich weiß.“ „Hat Anna es dir erzählt?“ „Ja. Und ich soll dich was fragen.“ „Mich?“ Gleich würde er wieder rot werden! „Ich soll dich fragen, ob du ihr noch böse bist.“ Fast hätte Anton laut gelacht. Er sollte ihr böse sein? „Nein!“ rief er, und auf einmal fühlte er sich wie erlöst. „Ich war ihr überhaupt nie böse!“ „Wirklich nicht?“ fragte der Vampir. „Nein!“ „Na gut!“ Mit diesen Worten trat der kleine Vampir ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Da saß im äußersten Winkel des Fensters, ganz in ihren Umhang gewickelt, Anna. „Alles in Ordnung“, erklärte Rüdiger. „Kannst reinkommen, aber leise!“ Geschmeidig erhob sie sich und kletterte ins Zimmer. „Hallo, Anton!“ sagte sie.
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