Als der selbst ernannte Wissenschaftler Dr. Donald Jacobi von den seltsamen Geschehnissen in der einst von einem Meteoritenhagel getroffenen Kleinstadt Smallville erfährt, sieht er seine große Chance gekommen. In Begleitung seines Partners Wolfe macht er sich auf den Weg nach Kansas, um mit Vorträgen über die „Macht der Meteoriten“ neue Anhänger für seine dubiose Stiftung zu gewinnen. Viele begegnen dem Scharlatan mit Skepsis, doch dann passiert das Unglaubliche: Bei einer seiner Shows wird ein sterbenskranker Jugendlicher durch die Kraft eines Meteoriten geheilt. Das gibt Jacobi neuen Auftrieb, aber Clark Kent und seine Freunde bleiben dem Betrüger auf der Spur. Außerdem gibt es noch jemanden, der Jacobi und Wolfe mit aller Gewalt aus der Stadt vertreiben will...
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Roger Stern
Der Besucher Aus dem Amerikanischen von Thomas Ziegler
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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Erstveröffentlichung bei DC Comics 2002 Titel der amerikanischen Originalausgabe: Smallville – Strange Visitors Smallville and all related characters, names and indicia are trademarks of DC Comics © 2002 Das Buch »Smallville – Der Besucher« entstand parallel zur TV-Serie Smallville, ausgestrahlt bei RTL © RTL Television 2002. Vermarktet durch RTL Enterprises
© der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH, Köln 2002 Alle Rechte vorbehalten. Lektorat: Anja Schwinn Produktion: Annette Hillig Umschlaggestaltung: Sens, Köln Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck: Clausen und Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-2984-7
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Für Carmela & Joanne
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Anmerkungen DAS BUCH, DAS SIE LESEN WERDEN, ist eine Originalgeschichte, die auf den Charakteren der WBFernsehserie Smallville basiert. Diese Geschichte – und somit auch die Fernsehserie selbst – hätte es ohne das Werk von Jerry Siegel und Joe Shuster nie gegeben. Vor fast siebzig Jahren erschufen sie Clark Kent und veränderten so die Welt. Seitdem haben viele talentierte Leute zu Clarks Geschichte beigetragen. Sie wurde in Hörspielen, Filmen, Zeichentrickfilmen, Fernsehserien, einem Broadway-Musical, zwei Zeitungscomicstrips und Tausenden von Comic-Heften erzählt. Clark ist in jedem öffentlichen Medium erschienen – vom gedruckten Wort bis hin zur Online-Animation –, und wenn neue Medien entwickelt werden, erscheint er auch in ihnen. Aber alles fing mit der erstaunlichen Schöpfung von Jerry und Joe auf den Seiten eines Comic-Heftes an. Viele von Ihnen mögen denken, dass Sie bereits eine ziemlich gute Vorstellung davon haben, wer Clark Kent ist. Nach außen der sanftmütige Reporter einer großen Metropolenzeitung. Insgeheim Superman, ein fremdes Wesen von einem anderen Planeten, das mit Kräften und Fähigkeiten zur Erde kam, die die der Sterblichen weit übertreffen. Er führt einen niemals endenden Kampf für Wahrheit, Gerechtigkeit und die amerikanische Lebensart. Schneller als eine abgeschossene Kugel, richtig? Nun, sicher. Aber haben Sie sich je gefragt, wie er zu diesem erstaunlichen Helden geworden ist? Davon erzählt Smallville... von Clark Kent als Teenager. Die Geschichte von Superman endet niemals und bleibt immer
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jung. (Was nicht besonders überraschend ist, wenn man bedenkt, dass sie von zwei Teenagern erfunden wurde.) So wie es Clark ohne Jerry und Joe nie gegeben hätte, so hätte es Smallville ohne Alfred Gough und Miles Millar nie gegeben, die die Pilotfolge schrieben und den Fortgang der Serie überwachen. Ich möchte vor allem Al dafür danken, dass er sich trotz seines stressigen Fernsehjobs Zeit genommen hat, um mich über den Hintergrund der Bürger von Smallville zu informieren... und über eine Menge geheimer Sachen, die für die Zukunft geplant sind. (Meine Lippen sind versiegelt.) Dank auch an all die anderen Autoren der Serie – Greg Walker, Mark Verheiden, Michael Green, Doris Egan, Cherie Bennett, Jeff Gottesfeld, Tim Schlattmann und Phil Levens –, die mit ihren Drehbüchern die Geschichten all der guten Leute von Smallville (von den bösen ganz zu schweigen!) etablierten. Und ich wäre nachlässig, wenn ich Tom Welling, Kristin Kreuk, Michael Rosenbaum, John Schneider, Annette O’Toole, Sam Jones III, Allison Mack, Eric Johnson, John Glover und Joe Morton nicht erwähnen würde. Diese Schauspieler, die Smallville ein Gesicht gaben, waren eine Inspiration und halfen mir, die Art, das Wesen und die Stimmen der Leute von Lowell County einzufangen. Oh, und für die treuen Zuschauer, die sich für derartige Dinge interessieren: Diese Geschichte spielt chronologisch zwischen der »Zero«- und der »Nicodemus«-Folge der Fernsehserie. Beim Schreiben dieses Romans erhielt ich außerdem unschätzbar wertvollen Rat und Unterstützung von einer Reihe netter Leute.
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Ich möchte den Rettungssanitätern Joel Cadbury und Mark Spadolini danken, die sich die Zeit nahmen, mich über medizinische Verfahren zu informieren. Dank auch an Jack und Rose Marie Bley für die Details in Fahrzeugfragen. Dank an Rich Thomas, John Aherne und die guten Leute von DC Comics und Warner Books, die bei der Produktion dieses Buches hinter den Kulissen mitwirkten. Dank an meinen Redakteur Steve Korté, der mich mit Telefonanrufen und E-Mails bombardierte, bis ich mich bereit erklärte, Der Besucher zu schreiben. Steve ist ein fröhlicher und wirklich witziger Mensch, dessen Tipps und Vorschläge unbezahlbar waren. Nicht nur das, er beantwortete auch sofort meine E-Mails und nervte mich nie mit Terminen. (He, ist das nicht ein großartiger Redakteur?) Mein besonderer Dank gilt meiner wundervollen Frau Carmela Merlo. Wie immer sorgte Carmela dafür, dass ich mich konzentrieren konnte, und erinnerte mich an alle wichtigen Dinge. Sie machte Anmerkungen, überprüfte meine wissenschaftlichen Angaben, behielt den Überblick über die Handlungsskizzen und zeitlichen Abläufe, führte Nachforschungen durch und las all meine Entwürfe zur Probe. Wenn Probleme auftraten, half sie mir, Lösungen zu finden. Ich hätte diese Geschichte ohne Carmelas Liebe und Hilfe wirklich nicht schreiben können. Sie bleibt meine Kraft und Inspiration. Und selbst nach zwanzig Jahren Ehe lacht sie noch immer über meine Scherze. Roger Stern 14. 4. 2002
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1 AUF HALBEM WEG ZUM MOND verharrte Clark Kent und warf einen Blick über seine Schulter. Die Erdkugel schien hinter ihm im Weltraum zu schweben und er drehte sich, um sie zu bewundern. Wie hat man sie noch gleich genannt? dachte er, die große blaue Murmel? Sie ist groß und blau, in Ordnung, aber aus dieser Entfernung sieht sie mehr wie ein Fußball aus. Wunderschön ist sie... Clark streckte eine Hand aus, als wollte er die Erde auf seiner Handfläche balancieren. Sie sieht aus, als könnte ich sie berühren! Es war schwer zu glauben, dass er auf diesem kleinen Ball auf gewachsen war und dort die letzten zwölf Jahre seines Lebens verbracht hatte. Sie ist jetzt meine Heimat... aber ich bin dort nicht geboren. Ich komme in Wirklichkeit von einem anderen Ort... Er wandte sich wieder dem Mond zu. Von irgendwo hier draußen... aber von wo? Nicht vom Mond... er ist nur ein großer grauer Felsbrocken. Die Oberfläche des Mondes schien ihm zuzuwinken. Menschen sind dort spazieren gegangen... haben ihre Fußabdrücke auf der Oberfläche hinterlassen. Das geschah zwanzig Jahre, bevor ich zur Erde kam. Jetzt fliegt niemand mehr dorthin. Aber ich kann es...! Mühelos flog er weiter durch die Leere... sich nur vage bewusst, dass er keinen Raumanzug, nicht einmal ein Sauerstoffgerät brauchte. Er war wie ein Perlentaucher, der die Luft anhielt und statt in die Untiefen des Meeres in die des Weltraums vordrang. Der Mond ragte groß vor Clark auf, als ein Meteoritenschwarm in Sicht kam. Aus einer Laune heraus flog er dem Schwarm entgegen und umkreiste ihn wie ein Tümmler.
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Eine weitere Ansammlung von Weltraumfelsen... wie die Meteore, die ihm zur Erde gefolgt waren. Spielerisch pflückte Clark einen baseballgroßen Meteor aus diesem Schwarm. Jetzt wirft für Smallville... Clark Kent! Er holte weit aus und schleuderte den Meteor zurück in den Schwarm, wo er gegen einen anderen, größeren Fels prallte, sodass beide zerbrachen. Clarks Grinsen verblasste. Aus den Überresten des größeren Meteors drang ein unheimliches grünes Leuchten. Ein phosphoreszierender Kristall, groß wie ein Gänseei, kam, sich überschlagend, direkt auf ihn zu. Verzweifelt versuchte Clark ihm auszuweichen, aber seine Geschwindigkeit nahm schnell ab. Genau wie seine Stärke und seine Widerstandskraft. Er spürte jetzt die Kälte des Weltraums, die sich in seine Knochen fraß. Der grüne Felsbrocken traf ihn. Clark riss reflexartig den Mund auf, um zu schreien, aber kein Laut drang heraus. Stattdessen entwich die kostbare Luft aus seiner Lunge. Nein! Sich unkontrolliert überschlagend stürzte Clark der Oberfläche des Mondes entgegen. Niemand wird je erfahren, was mir zugestoßen ist... sie werden meine Leiche niemals finden...!, dachte er entsetzt. Überall um Clark erschienen Krater. Alles, was er sehen konnte, war grau. Clark schlug auf und prallte ab, schlug wieder auf und prallte erneut ab. Staub wirbelte um ihn herum auf und erstickte ihn fast. »NEIN!« Mit diesem Schrei erwachte Clark. Er schnappte nach Luft. »Oh mein Gott – was?« Seine Hände gruben sich tief in eine weiche, schwammige Substanz, und noch mehr Staub stieg auf. »Was? Wo?!« Mit wogender Brust rollte er herum, fiel einen weiteren halben Meter und landete hart auf dem Rücken. Er drehte sich um, kam auf Hände und Knie und spürte unter seinen Fingern raues Holz. Holz? Es gab kein Holz auf dem 10
Mond! Clark stieß sich vom Boden ab, sah sich wild um – und fand sich in der vertrauten Umgebung des Scheunenspeichers wieder. Das Licht des Vollmonds fiel durch die offene Speichertür auf ihn. Eine milde Brise strich durch die offene Giebeltür und wehte den Geruch von Stroh und frischem Kuhdung herein. Clark streckte die Hand aus und berührte das Polster einer staubigen, alten Couch, die im Schatten der Dachsparren stand. Von dieser Couch war er soeben gefallen. Ein Traum...? Es war bloß ein Traum?, fragte er sich benommen. Clark kam auf die Beine und ging auf dem Speicher auf und ab. Er kannte diesen Ort sehr gut. Vor Jahren, als er noch ein Junge gewesen war, hatte er ihn in Beschlag genommen, nachdem seine Familie den neuen Viehstall gebaut hatte. Das Erdgeschoss der alten Scheune wurde von da an als Garage für den Traktor und andere große Maschinen benutzt und der Speicher wurde zu seiner privaten Festung. Im Halbdunkel konnte er sein altes Bücherregal und eine alte Truhe erkennen, beides mit den Schätzen seiner Kindheit gefüllt. Und in der Mitte, auf dem Stativ neben der offenen Speichertür, stand das Teleskop, das sein Vater ihm geschenkt hatte. Clark trat ins Mondlicht und fuhr mit der Hand über das Teleskop. Er blickte unbehaglich zum Himmel hinauf. Ich habe, bevor ich zu Bett ging, den Mond beobachtet. Clark stutzte. Zu Bett... Er sah auf sein T-Shirt und die Boxershorts hinunter. Er hatte in diesen Sachen geschlafen, in Ordnung. Aber was machte er in der Scheune? Clark beugte sich aus der offenen Speichertür, um das Farmhaus zu betrachten. Da war sein Zimmer im ersten Stock. Das Fenster war offen... genau wie er es zurückgelassen hatte. Nein, halt! Das Fliegenfenster war jetzt ebenfalls offen. Er konnte sich nicht erinnern, es geöffnet zu haben. Sein Pulsschlag beschleunigte sich wieder. War er im Schlaf hierhin gegangen? Oder... war er geflogen? 11
Clark war schon einmal aus einem Flugtraum erwacht und hatte sich über seinem Bett schwebend vorgefunden. Das war verwirrend genug gewesen, aber wenigstens hatte er sich damals noch immer in seinem Zimmer befunden. Dieses Mal...! Könnte es sein, dass ich aus dem Bett geschwebt bin... das Fliegenfenster geöffnet habe... und den ganzen Weg zur Schleuse und hinauf zum Speicher geflogen bin? Er wich von der offenen Tür zurück und setzte sich auf die Truhe. Ich brauche das wirklich nicht!, stellte er fest. Die Pubertät war schon seltsam genug. Aber in der Lage zu sein, der Schwerkraft zu trotzen, durch Wände zu sehen, sogar Stahl mit bloßen Händen zu verbiegen! Das Schweben... das war am unheimlichsten. Clarks außergewöhnliche Kräfte hatten sich langsam entwickelt. Fast so langsam, dass er sich an sie hatte gewöhnen können, während er heranwuchs. Er hatte schon seit langer Zeit keine Möbel mehr versehentlich kaputtgemacht – jedenfalls nicht so, dass sie sich nicht mehr reparieren ließen –, und er konnte mit Eiern jonglieren, ohne sie zu zerbrechen. Außerdem waren manche Leute einfach stärker als andere. Seine Eltern zum Beispiel. Sie waren beide in großartiger Verfassung. Seine Mom war stärker als die Väter manch anderer Kinder und sein Dad war viel stärker als die meisten Männer seines Alters. Unterschiedliche Kräfte waren normal. Selbst sein »Röntgenblick« – eine neue und plötzlich aufgetretene Fähigkeit – war ein Phänomen, das in der Natur nicht ungewöhnlich war. Clark hatte im Web einige Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass es zahlreiche Kreaturen gab, die über das Spektrum des so genannten sichtbaren Lichtes hinaus sehen konnten. Keine dieser Kreaturen war menschlich, aber sie existierten. Beim ersten Mal, als Clark entdeckt hatte, dass er durch feste Materie sehen konnte, hatte er völlig den Halt verloren. Buchstäblich.
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Er war im Turnunterricht gewesen und gerade ein Seil hinaufgeklettert, als er plötzlich durch Pete Ross’ Gesicht sehen konnte. Er konnte direkt durch die dunkle Haut seines Kumpels die darunter liegenden Muskeln erkennen. Erschrocken hatte Clark das Seil losgelassen und war auf dem Boden der Turnhalle aufgeschlagen. Dass er sich bei dem Sturz nicht verletzt hatte, machte das Erlebnis nicht weniger seltsam. In der letzten Zeit hatte er seinen Röntgenblick ziemlich gut unter Kontrolle. Schon seit Tagen hatte er sich nicht mehr ohne Vorwarnung von selbst aktiviert. Wenn er sich richtig konzentrierte, konnte er aber willentlich auf ihn zurückgreifen. Inzwischen akzeptierte er, dass er in der Lage war, Röntgenund andere durchdringende Strahlen zu sehen. In gewisser Hinsicht handelte es sich dabei nur um eine extreme Ausweitung des natürlichen Sehvermögens. Aber ohne Flügel, ohne Flugzeug fliegen zu können – das war einfach unheimlich. Selbst sein Vater war erschüttert gewesen, als Clark ihm von seinem ersten Flugtraum erzählt hatte. »Clark, ich weiß es wirklich nicht«, hatte Jonathan gesagt. »Sobald du anfängst, das Gesetz der Schwerkraft zu brechen, befinden wir uns eindeutig auf unbekanntem Territorium.« Clark lächelte trocken bei der Erinnerung. Wir hassen es, wenn unsere Eltern denken, alle Antworten zu kennen, aber wenn sie sie nicht kennen, passt es uns auch nicht. Clark stand auf und ließ seinen Blick über den Hof schweifen. Niemand war zu sehen... also würde auch ihn niemand sehen. Und dann sprang er aus der offenen Speichertür. Er landete mühelos, ging leicht in die Knie und federte den Aufprall des Sturzes ab. Clark rannte zur Seite des Farmhauses, sah sich wieder um und sprang mit einem Satz zu seinem Fenster im ersten Stock hinauf. Er hielt sich am Fensterrahmen fest und schwang beide Beine durch die Öffnung. Für eine Sekunde blieb Clark reglos 13
auf der Fensterbank sitzen und blickte zum Speicher hinüber. Dann glitt er so leise wie möglich in sein Zimmer. Er wollte nicht, dass Mom und Dad aufwachten und dachten, dass jemand einbricht. Clark drehte sich sofort um, zog das Fliegenfenster zu und spürte, wie das Schloss mit einem befriedigenden Klicken einrastete. Er sah wieder zum Mond hinauf. Selbst wenn ich hinaus zur Scheune geschwebt bin, was soll’s? Ich könnte schwerlich den ganzen Weg zum Mond schweben... oder doch?, fragte Clark sich schaudernd und erinnerte sich lebhaft an das Ende seines Traumes. Er schloss das Fenster und verriegelte es. Ja, als könnte mich ein geschlossenes Fenster aufhalten! Clark setzte sich auf den Rand seines Bettes und überlegte. Eine Wand würde mich nicht aufhalten! Aber ich würde doch aufwachen, wenn ich durch ein Fenster oder eine Wand breche, oder nicht? Ja, bei so etwas könnte ich nicht weiterschlafen! Er legte sich hin, sein Kopf sank in das Kissen, und er warf einen Blick auf seinen Wecker. Bis zum Morgengrauen waren es nur noch ein paar Stunden. Könnte ich wirklich im Weltraum überleben? Schwer zu glauben, dass ich so weit kommen könnte, ohne Luft zu holen. Wie lange kann ich meinen Atem anhalten?, überlegte Clark. Es hat eine Zeit gegeben, da konnte ich zum Grund von Jennings Teich tauchen... ich muss zehn oder fünfzehn Minuten unten gewesen sein. Mom war völlig aufgelöst, als ich endlich auftauchte. Aber ich bin jetzt viel stärker. Und das ist jetzt schon einige Jahre her. Er runzelte die Stirn. Ja, bevor ich herausfand, dass ich aus dem Weltraum stamme. Clark hatte schon seit Jahren gewusst, dass er adoptiert worden war. Seine Eltern hatten es ihm erklärt, bevor er in den Kindergarten gekommen war. Aber erst vor ein paar Monaten hatte Jonathan Kent Clark endlich hinunter in den Sturmkeller geführt und ihm das winzige Raumschiff gezeigt, das ihn zur Erde gebracht hatte. 14
Und wir wissen noch immer nicht, woher ich komme. Oder wer mich geschickt hat. Oder was ich bin... was ich wirklich bin. Die Fragen endeten nie. Es ist, wie wenn man übers Atmen nachdenkt. Wenn man erst mal damit angefangen hat, ist es schwer, es aus dem Kopf zu bekommen. Clark versuchte an etwas anderes zu denken und wandte sich wieder den Flugträumen zu. Den ersten, als er mitten in der Luft aufgewacht war, hatte er ungefähr einen Tag, nachdem Jonathan ihm erzählt hatte, dass seine biologischen Eltern »nicht gerade aus der Umgebung« kamen, gehabt. Hatte diese Information über seine Vergangenheit die Kräfte ausgelöst, die es ihm ermöglichten, der Schwerkraft zu trotzen? Und wenn dies zutraf... welche weiteren Veränderungen würden sich abspielen, wenn er die Antworten auf seine anderen Fragen bekam? Clark warf sich ruhelos auf seinem Bett hin und her. Sein Wecker zeigte ihm, dass zehn Minuten vergangen waren, und noch immer war er hellwach. Großartig, einfach großartig! Wenn das so weitergeht, werde ich morgen früh wie ein Zombie aussehen. Und ich habe Verpflichtungen... die Schule... Warum musste ich diesen blöden Traum ausgerechnet an einem Montag haben? Clark gab einen tiefen Seufzer von sich, drehte sich auf die Seite und versuchte wieder einzuschlafen. In einem dunklen Motelzimmer eine Zeitzone weiter starrte Donald Jacobi konzentriert auf den Bildschirm seines Laptopcomputers. Sein Lächeln wurde breiter, während er sich von einer Seite zur nächsten klickte. »Gestaltverändernde Teenager... Käferjungen... Pyrokinetiker!« Jacobi lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und massierte die Verspannung aus seinem Nacken. »Wundervoll! Absolut wundervoll!« Er blickte auf einen kleinen Metallkoffer auf dem Boden neben seinem Bett. 15
Jacobi kniete nieder und löste die Riegel, die den Deckel des Koffers sicherten. Als er ihn öffnete, erhellte ein weiches grünes Leuchten das Zimmer. Jacobi griff hinein und nahm einen kleinen, unregelmäßig geformten Steinbrocken heraus. Der Brocken war größtenteils kohlengrau, aber in seiner Mitte war ein kleiner grüner Kristall eingebettet, von dem das Leuchten ausging. »Und wenn man sich vorstellt, alter Freund, dass sie denken, du wärst für das Entstehen all dieser Missgeburten verantwortlich.« Jacobi tätschelte den Stein, als wäre er ein treuer Hund. »Zweifellos fürchten sie sich vor dir. Es ist dieselbe alte Geschichte. Sie fürchten, was sie nicht verstehen. Nun, wir werden ihnen einfach das Licht zeigen müssen, nicht wahr?« Jacobi erhob sich und riss die Tür auf, die sein Zimmer mit dem nächsten verband. »Jimmy! Jimmy, wach auf!« Die schwergewichtige Gestalt in dem Bett grummelte, drehte sich um und zog die Decke über den Kopf, als wollte sie das grüne Leuchten aussperren, das in den Raum drang, Jacobi packte die Seite der Matratze und schüttelte sie heftig. »Komm schon, Bruder Wolfe. Hoch mit dir!« »Schon gut, schon gut! Hör auf!« James Wolfe schälte sich aus der Decke. »Was ist los? Was ist passiert?« »Nicht das Geringste, Jimmy. Die Dinge sind besser als je zuvor. Ich habe die Zukunft gesehen!« »Toll.« Wolfe gab ein müdes Gähnen von sich und setzte sich auf. »Hätte das nicht bis in nahe Zukunft warten können? Wenigstens bis zum Tagesanbruch?« »Das ist zu gut, um bis zum Morgen zu warten. Ich weiß, wohin wir als Nächstes müssen.« »Du meinst, nach Atlanta?« »Vergiss Atlanta. Vergiss die ganze südliche Tournee! Wir fahren nach Kansas.«
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»Kansas?« Wolfe griff nach der Lampe und stieß sie fast um. Nach ein paar vergeblichen Versuchen fand er endlich den Schalter und knipste sie an. »Was zum Teufel gibt es in Kansas?« Das Licht des Kristalls erhellte Jacobis lächelndes Gesicht. »Eine kleine Stadt namens Smallville.«
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2 JAMES WOLFE STARRTE STIRNRUNZELND in seine zweite Tasse Kaffee. »Gehen wir das noch mal durch. Du willst alles fallen lassen, alle Veranstaltungen im nächsten Monat absagen und irgendein kleines Kuhdorf mitten im Nichts besuchen. Ist es das, was du mir sagen willst?« »Smallville ist kein ›Kuhdorf‹, Jimmy.« Jacobi blickte von seinem Laptop auf. »Auf der Stadtwebsite steht, dass es einst als ›blühende Maishauptstadt der Welt‹ bezeichnet wurde.« »Wundervoll.« Wolfe trank den Bodensatz seiner Tasse. »Und wie viele brave Bürger wohnen in diesem Mekka des Mais?« »Derzeit etwa 45.000.« »Don, bei der Tournee im Süden werden wir mehr Leute anziehen. Wie viele werden uns deiner Meinung nach in Smalltown hören wollen?« »Smallville. Und außer den Einheimischen werden noch viele Besucher aus Metropolis, Kansas City und Wichita kommen. Von Denver, Dallas und Chicago ganz zu schweigen...« »Einen Moment!« Wolfe nahm einen Straßenatlas aus einer ihrer Taschen und legte ihn auf den Minikühlschrank des Zimmers. Er brauchte ein paar Minuten, um Smallville auf der Karte von Kansas zu finden. »Du erwartest, dass die Leute Hunderte von Kilometern zu irgendeinem kleinen Kaff in der Wildnis reisen?« »Oh, sie werden kommen, Jimmy. Für den Fall, dass du es noch nicht bemerkt hast, wir haben in einigen Kreisen eine ziemlich treue Anhängerschaft gewonnen. Unsere neue Website verzeichnet von Woche zu Woche mehr Besucher. Wir haben bereits über dreitausend Abonnenten, und viele von ihnen folgen uns, wohin wir gehen.« 18
»Wir sind keine Rockband, Don. Warum sollten sie uns nach Smallville folgen wollen?« »Weil von dort mein Meteorit stammt, Jimmy.« Wolfe richtete sich auf. »Ich dachte, du hast dieses Ding in Arizona gefunden.« »Ich habe ihn in Arizona gekauft... von einem verärgerten ehemaligen Mitarbeiter der STAR Labs. Aber nein, mein Wundermeteorit ist in einem Meteoritenhagel auf die Erde gefallen, der im Oktober 1989 Smallville und Teile des ländlichen Lowell County verwüstet hat. Es gab eine Menge Schäden. Auch ein paar Todesopfer. Sehr traurig.« Jacobi schwieg, um darüber nachzudenken. »Sehr, sehr traurig. Die größten und eindrucksvollsten Fragmente wurden zur Untersuchung zur National Science Foundation, der Metropolis University, der NASA, den STAR Labs und allen anderen Forschungszentren gebracht. Aber die Gegend um Smallville ist noch immer von Bruchstücken der Nickel-Eisen-Meteoriten übersät. Und viele dieser Bruchstücke haben grün leuchtende Kristalle in ihrem Innern – genau wie meins.« »Okay, ich kann verstehen, dass dich das interessiert, aber wir können jederzeit weitere Fragmente besorgen.« »Nein, Jimmy. Jetzt! So bald wie möglich.« Jacobis sanfte Stimme bekam einen stählernen Unterton. »Es werden Dinge in Smallville passieren. Dinge, die wir zu unserem Vorteil nutzen müssen. Ich habe hier die denkbar erstaunlichste Website entdeckt, verstehst du?« Wolfe sah über Jacobis Schulter. »Footballtrainer geht in Flammen auf... Mädchen wechselt die Gestalt... soll das ein Witz sein?« »Nein, die Sache ist völlig ernst. Nach meinen Erkenntnissen hatte der Meteoritenschauer offenbar eine mutagene Wirkung auf jene, die der Stelle, an der es passiert ist, nahe waren. Besonders auf die Jüngeren. Und jetzt, zwölf Jahre später, werden diese Wirkungen immer offensichtlicher, immer 19
ausgeprägter. Jimmy, ich bin überzeugt, dass die Meteoriten eine genetische Veränderung ausgelöst haben.« »Was perfekt zu deinen Vorträgen passt.« »Genau! Diese Gelegenheit dürfen wir uns nicht entgehen lassen!« »Okay, das verstehe ich. Aber kann das nicht warten, bis wir in Atlanta waren?« »Nein. Das Risiko ist viel zu groß, dass uns andere zuvorkommen.« Ein Hauch von Besorgnis flackerte in Jacobis grauen Augen auf. »Um ehrlich zu sein, ich bin überrascht, dass es noch nicht passiert ist. Nein, das kann auf keinen Fall warten!« »Aber wo soll die Veranstaltung stattfinden? In Smallville kann es keine Halle geben, die groß genug ist, um die vielen Leute aufzunehmen, die wir deiner Meinung nach anziehen werden.« »Das bezweifle ich. Wir werden Zelte organisieren müssen.« »Zelte?« Wolfe spuckte das Wort aus. »Das ist verrückt! Ich habe seit fast einem Jahrzehnt keine Zeltshow mehr organisiert. Du hast keine Vorstellung, was für ein logistischer Albtraum das sein kann!« »Ich habe volles Vertrauen in deine Fähigkeiten, Jimmy. Erinnerst du dich an diesen Hurrikan, der die South-FloridaTournee ruiniert hat? Du hattest binnen vierundzwanzig Stunden neue Veranstaltungen in Louisiana gebucht. An einem Sonntag!« Wolfe unterdrückte ein Gähnen. »Das war etwas anderes.« »Unsinn! Du hast es früher schon getan, du kannst es wieder schaffen.« Jacobi drückte seinem Partner eine Tasse mit frischem Kaffee in die Hand. »Jetzt boote deinen Laptop und fang mit deinem Zauber an! Wir werden die übliche Ausrüstung brauchen, dazu das Zelt und ein ausreichend großes Grundstück, um es aufzustellen. Oh, und außerdem Transportmittel für uns alle. Du weißt, was benötigt wird.« 20
»Don, eine Menge Stellen, mit denen ich mich in Verbindung setzen muss, haben noch nicht geöffnet.« »Dann fang mit denen an, die schon offen sind.« »Hör zu, du verlangst das Unmögliche! Und woher willst du wissen, dass diese Website, die du gefunden hast, nicht nur das Werk irgendeines Idioten mit Wahnvorstellungen ist?« »Ich habe sie mir gründlich angesehen, Jimmy. Und ich habe bereits einige Bestätigungen für diese Geschichten auf der Website der Lokalzeitung gefunden. Wenn du dich dadurch besser fühlst, ich werde weitere Überprüfungen vornehmen, während du die Vorbereitungen triffst.« »Aber...« »Wenn ich auf irgendetwas stoße, das die Glaubwürdigkeit dieser Website untergräbt, werde ich die Sache abblasen, in Ordnung? Dann haben wir nur ein paar Stunden im Internet verloren. Du verschwendest jede Woche mehr Zeit mit anderen Dingen als mit dem Surfen im Web.« Wolfe sah auf seine Armbanduhr und machte ein finsteres Gesicht. »Nicht so früh am Morgen.« »Vertrau mir, Jimmy, die Mühe wird sich lohnen.« »Oh, wirklich? Hast du irgendeine Ahnung, wie viel das kosten wird? Nein, Don, ich will das nicht machen!« Jacobi verengte die Augen. Sein Ton wurde schroff. »Jimmy, wir müssen es tun, es ist notwendig.« »Es ist völlig unmöglich! Wir können es uns nicht leisten!« »Wir können es uns nicht leisten, es nicht zu tun! Vor allem du. Muss ich dich daran erinnern, was in Cleveland geschehen ist?« »Nein.« Wolfe wurde aschgrau. »Nein, das musst du nicht.« »Das dachte ich mir. Okay, dann ist das geklärt. Fang mit den Vorbereitungen an. Ich will so bald wie möglich nach Smallville aufbrechen.«
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Der Himmel über Kansas war noch immer dunkel, als Jonathan Kent die Treppe hinuntertappte. In der Küche brannte bereits Licht. Martha Kent saß am Küchentisch und nippte an einer Tasse Kaffee, während sie über einem Lehrbuch brütete. »Guten Morgen, Schatz!« Jon beugte sich zu seiner Frau hinunter und küsste sie. »Wie kommt es, dass du viel früher aufstehst als ich und trotzdem so atemberaubend aussiehst?« »Atemberaubend? Oh, bitte! Ich bin mir nur mit einem Kamm durch die Haare gefahren und habe die Sachen von gestern angezogen. Ich kann von Glück reden, dass ich nicht wie die böse Hexe des Westens aussehe.« »Nun, für mich bist du immer wunderschön.« Jonathan goss sich ein Glas Orangensaft ein. »Aber du bist schrecklich früh aufgestanden.« »Du auch!« Martha griff nach einem Marker und hob eine Textzeile hervor. »Du kannst es kaum erwarten, mit der Arbeit an diesem neuen Zaun anzufangen, nicht wahr?« »Nein. Zuerst der neue Entwässerungsgraben, dann der Zaun.« Er stürzte den Saft hinunter und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Ist das nicht ein aufregendes Leben? Aber warum bist du so früh auf? Konntest du nicht schlafen?« Martha schüttelte den Kopf. »Ich habe bis vor einer Stunde gut geschlafen, doch dann bin ich aufgewacht und habe an diesen Buchführungskurs für Fortgeschrittene denken müssen.« Sie klopfte auf das Lehrbuch. »Heute Abend ist Prüfung, schon vergessen? Also habe ich mich entschlossen, aufzustehen und ein paar zusätzliche Aufgaben durchzuarbeiten.« Sie sah auf die Uhr an der Wand. »Aber ich habe gar nicht gemerkt, dass es schon so spät ist. Ich sollte dir dein Frühstück machen...« »Nein, das ist okay. Ich will so schnell wie möglich anfangen. Du beendest deine Aufgaben und ich werde mir ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade machen.« Jonathan nahm bereits Gläser aus dem Kühlschrank. »Aber wenn du eine Pause einlegst, könntest du dann vielleicht ein 22
paar von diesen selbst gemachten Waffeln aufwärmen, die du in der Tiefkühltruhe aufbewahrst?« »In Ordnung, aber arbeite nicht zu lange. Nicht mit nur einem Sandwich!« »He, das ist eins meiner Sandwiches.« »Trotzdem, auch wenn es noch so dick ist.« Am östlichen Himmel erhellte sich gerade der Horizont, als Jonathan mit einem halb verzehrten Sandwich aus der Hintertür trat. Er umrundete den Werkzeugschuppen und blieb abrupt stehen, so verdutzt, dass er sein Sandwich fast fallen ließ. Der Entwässerungsgraben war bereits angelegt worden. Vom Originalverlauf des Grabens war keine Spur mehr zu sehen. Er war zugeschüttet und der Boden auf beiden Seiten geglättet und mit Mulch bedeckt worden. Jonathan hob mit der Spitze eines Stiefels die Ecke der Mulchschicht. Neue Erde war auch aufgetragen. Ziemlich gute Arbeit! Jonathan folgte langsam dem neuen Graben und fragte sich, ob er ganz wach war. Vielleicht lag er noch immer im Bett und träumte. Dann verfing sich sein Stiefelabsatz in etwas, das halb im Mulch verborgen lag, und er verlor fast das Gleichgewicht. Jonathan griff mit seiner freien Hand nach unten und hob einen Holzpflock auf. Okay, jetzt weiß ich, dass ich wach bin, dachte er. Er hatte den Pflock zusammen mit anderen gestern Abend in den Boden gerammt, um den Verlauf des neuen Grabens zu markieren. Jemand hatte diesen Pflock weggeworfen, wahrscheinlich dieselbe Person, die auch den Graben verlegt hatte. Und sofern nicht mitten in der Nacht eine Horde marodierender Grabengräber hier eingefallen war, vermutete er stark, dass dieser Jemand Clark war. Jonathan wog den Pflock nachdenklich in der Hand, während er sein Sandwich verzehrte. In mancher Hinsicht war das Leben mit Clark wie das Leben mit einem Poltergeist... einem freundlichen Poltergeist. Hin und wieder passierten einfach 23
Dinge... zu ungewöhnlichen Zeiten und oft ohne Vorwarnung. Vor allem, seit Clark zum Teenager geworden war. Jonathan warf den Pflock in die Luft und fing ihn wieder auf. Es sah so aus, als wären heute alle vor den Hühnern aufgestanden. Er fragte sich, was Clark wohl durch den Kopf ging. Was immer es auch war, Jon wusste, dass es ihn ziemlich beschäftigen musste. In der Umgebung des Werkzeugschuppens fand er den Rest der Pflöcke und ein breites Brett, mit dem die Erde festgeklopft worden war. Oh, nun gut. Als ich in seinem Alter war, habe ich die Sachen auch nicht immer ordentlich weggeräumt. Selbst wenn ich nicht mit etwas anderem beschäftigt war. Er lächelte bei dem Gedanken. Ich habe meinen Dad oft genug in den Wahnsinn getrieben... Jonathan wischte den Dreck von dem Brett. Es hatte keinen Sinn, es hier draußen auf dem Boden liegen zu lassen, wo es verrotten würde. Er legte die Pflöcke auf das Brett und trug es in den Geräteschuppen. Dann wandte er sich zum Holzregal, überlegte es sich aber anders und legte das große Brett auf einen Zwanziglitereimer. So würde es schneller trocknen. Einer Ahnung folgend, ging Jonathan zu der Weide, von der er einen Teil umzäunen wollte. Wie er schon erwartet hatte, waren alle neuen Pfostenlöcher bereits gegraben worden. Die Zaunpfosten, alle gerade und ordentlich, waren in Beton eingegossen. Diesmal fand er keine herumliegenden Werkzeuge oder Materialien. Keine Erdhaufen oder halb leeren Zementsäcke. Alles war so sauber, wie auch Jonathan (zumindest der erwachsene Jonathan) es hinterlassen hätte, so sauber, wie Martha es hinterlassen hätte. Ich könnte fast schwören, er macht das absichtlich, um mich aus der Fassung zu bringen. Jonathan schüttelte den Kopf, musste aber gleichzeitig lächeln. Gott weiß, ich habe auch nie gewollt, dass mein Dad dachte, er hätte mich völlig durchschaut.
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Sein Lächeln verblasste ein wenig, als er an die Arbeit dachte, die es gekostet haben musste, den Zaun aufzustellen. Die Pfostenlochgrabmaschine war laut – sehr sogar. Sie hätte ihn wecken müssen, wenn Clark sie benutzt hätte. Das bedeutete, dass er es mit Hacke und Schaufel gemacht haben musste... oder vielleicht sogar mit seinen bloßen Händen. Jonathan wusste, dass harte körperliche Arbeit ein gutes Mittel war, um Stress abzubauen; es war bei weitem die von ihm bevorzugte Therapie. Aber er fragte sich, was seinen Sohn derart gestresst haben konnte, dass er sich all diese Mühe gemacht hatte. Hatte er ein Problem in der Schule, von dem Jonathan nichts wusste? Oder hatte es mit dem großen, dunklen Geheimnis der Familie zu tun? Jonathan war sich bewusst, wie lächerlich das klang: wie aus einem Horrorthriller. Aber schließlich habe ich ein Raumschiff in meinem Keller versteckt. Mein Sohn stammt von einem anderen Planeten. Er schüttelte den Kopf. Ein HorrorSciencefiction-Thriller! Nun, wenn irgendetwas Ernstes vorgefallen ist, wird Clark es mir schon bei Gelegenheit erzählen, spekulierte er. Es sollte nicht zu schwer sein, das Gespräch in diese Richtung zu lenken. »Gute Arbeit mit den Zaunpfosten, Sohn...« Gedankenverloren war Jonathan auf halbem Weg zurück zum Haus, als er bemerkte, dass in der Scheune Licht brannte. »Clark? Bist du da drinnen?« »Ja, Dad! Guten Morgen. Ich habe gerade den Traktor überprüft. Komm, schau ihn dir an.« Jonathan ging in die Scheune. Okay, zuerst werden wir über den Traktor reden. Irgendwo muss man ja anfangen. »Guten Morgen, Sohn. Offenbar sind wir heute alle früh auf den Beinen. Also, der Traktor, hm? Hast du herausgefunden, was mit ihm nicht stimmt?« »Ich denke schon.« Clark kam um die Seite des Traktors herum und wischte sich die Hände an einem alten Lappen ab. 25
Er sah schmutzig aus, war aber bester Laune. Um genau zu sein, er sah sehr mit sich zufrieden aus. »Besser noch, ich bin ziemlich sicher, dass ich ihn repariert habe!« »Kein Witz? Das ist eine sehr gute Neuigkeit.« Der Traktor hatte in den letzten Wochen Probleme gemacht und war manches Mal nicht angesprungen. »Was hast du gefunden?« »Eine elektrische Verbindung, die sich gelöst hat.« Clark klopfte auf die Verteilerkappe. »Die Magnetspule hatte keinen Kontakt. Als ich sie mir ansah, hing das Verbindungskabel frei herum. Seit wann haben wir die Probleme? Drei Wochen? Ich wette, die Schraube hat sich letzten Monat gelöst.« »Ergibt Sinn. Ich bin letzten Monat mit diesem armen alten Traktor über ziemlich raues Gelände gefahren. Im Nachhinein ist es nicht überraschend, dass sich etwas gelöst hat.« Clark schloss die Kühlerhaube. »Ich habe das Kabel wieder angeschlossen. Probieren wir mal, ob die Kiste jetzt anspringt.« Jonathan schwang sich auf den Sitz und drehte den Schlüssel. Der Traktor erwachte sofort dröhnend zum Leben. »Gute Arbeit, Clark.« Er stellte den Motor ab und blickte leicht verdrossen drein. »Eigentlich hätte ich selbst darauf kommen können.« Clark grinste seinen Vater an. »Eigentlich! Jedenfalls, als ich den Fehler entdeckte, habe ich mich gefragt, ob das alte Mädchen vielleicht noch andere Schäden hat, deshalb habe ich das Fahrgestell untersucht, und weißt du was? Ich habe einen Haarriss im Kurbelgehäuse gefunden, in der Nähe der Vorderräder. Hier, ich zeig es dir.« Jonathan erwartete, dass Clark das vordere Ende des Traktors vom Boden heben würde. Stattdessen ging sein Sohn zur anderen Seite des Fahrzeugs und kniete nieder. »Clark...?« »Nur eine Sekunde, Dad.« Clark summte vor sich hin und fuhr mit den Handflächen über das Fahrgestell des Traktors. Er suchte nach einem sicheren Halt und vergewisserte sich, dass er zwei stabile Verstrebungen ausgewählt hatte. Dann richtete 26
sich Clark langsam auf und stemmte den Traktor so mühelos wie einen Fünfzigpfundsack Futtermittel nach oben. Der Traktor stieg in die Höhe. Jonathan trat einen Schritt zurück. Er konnte es kaum fassen. Seit seiner Kindheit war Clark stark genug, um das Ende eines Lasters hochzustemmen. In privaten Momenten lachten er und Jonathan gelegentlich über das, was sie seine »Menschlicher-Wagenheber«-Nummer nannten. Aber das hier war etwas anderes. Clark stand reglos in der Mitte der Scheune und hielt den Traktor über seinen Kopf. Jonathan keuchte bei dem Anblick. Clark lächelte. »Nicht schlecht, was?« Er streckte seine Arme ganz aus und senkte sie dann um ein paar Zentimeter, wobei er den Traktor mit den Schultern nach oben und unten bewegte. Das brach den Bann. Jonathan trat vor, verschränkte die Arme und machte ein strenges Gesicht. »Okay... jetzt gibst du bloß an.« »Meinst du?« Clark legte den Kopf in den Nacken und sah den Traktor an. Dann blickte er wieder zu seinem Vater hinüber und grinste. »Nun, vielleicht ein wenig. Ich dachte nur, du könntest besser nachschauen, wenn ich das ganze Ding vom Boden hebe.« »Ich verstehe. Du machst es also für mich.« »Genau. Komm näher.« Clark hielt den Traktor mit einem derartigen Selbstvertrauen, dass sich Jonathan dabei ertappte, wie er der Aufforderung nachkam, ohne darüber nachzudenken. Clark deutete mit dem Kinn auf das Fahrgestell. »Dort drüben, siehst du?« Jonathan nahm eine kleine Taschenlampe aus der Tasche und richtete sie auf die Stelle, die sein Sohn ihm gezeigt hatte. Tatsächlich fiel das Licht auf eine gezackte Linie, aus der Öl tropfte. »Oh, ja, ich sehe es jetzt. Gut gemacht, Sohn.«
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»Glaubst du, wir könnten das mit diesem Wunderepoxidharz kitten, auf das du immer so schwörst?« »Sicher. Ein wenig Epoxid jetzt wird uns später Riesenprobleme ersparen. Ich hole es.« Jonathan kam geduckt unter dem Traktor hervor und starrte ihn wieder an. Clark schwitzte nicht einmal. Er wurde einfach immer stärker. Er ging zu einem Metallschrank an der Wand. »Es wird zehn Minuten dauern, um die Mixtur zu mischen«, rief er über seine Schulter. »Du musst den Traktor nicht die ganze Zeit hochhalten.« »Kein Problem.« Clark senkte den Traktor ein paar Zentimeter und stemmte ihn dann wieder hoch. Und wieder. »Mir gefällt das. Ich kann ihn gut halten. Und es ist eine große, robuste Maschine, sodass ich weiß, dass sie nicht zerbrechen wird. Es ist eine gute Übung.« »Da kommt mir ein Gedanke. Vielleicht sollten wir ein Trainingsvideo drehen. Wir nennen es dann ›Farm Fitness‹!« »Ja, genau.« Clark verdrehte die Augen. »Ich kann schon den Warnhinweis sehen: ›Vorsicht. Nicht geeignet für Personen mit Bluthochdruck oder sonst jemand vom Planeten Erde.‹« »Ja, ich schätze, die Käuferzahl wäre begrenzt.« Jonathan kehrte mit einem kleinen Tablett mit Epoxid und einem Spachtel zurück. »Okay, lass uns dieses Mistding kitten! Ein wenig Epoxid hier... in den Riss schmieren... Ja, das sollte genügen, sobald es getrocknet ist.« Er trat zurück, um die Reparatur zu begutachten. »Sieht’s gut für dich aus, Sohn?« »Von hier sieht’s gut aus. Bist du zufrieden?« »Hochzufrieden!« »Okay.« Clark senkte langsam den Traktor und stellte ihn wieder auf den Boden der Scheune. »Mission erfüllt.« Jonathan sah seinen Sohn an, den Traktor, dann wieder seinen Sohn. Wenn er sich so weiterentwickelt, wird er vielleicht bald stark genug sein, um einen Panzer zu heben. Oder vielleicht sogar ein Flugzeug. Wer weiß? Er schüttelte 28
langsam den Kopf. »Sohn, ich weiß, dass deine... ungewöhnlichen Fähigkeiten manchmal wie ein zweifelhafter Segen erscheinen. Ich weiß, dass es dir Kummer bereitet hat, anders zu sein, und ich weiß, dass du dir gewünscht hast, ›normaler‹ zu sein, aber... verdammt, ich wünschte, ich könnte das tun!« Jonathan war absolut ehrlich. Eher Stolz als Neid auf die Stärke seines Sohnes schwang in seiner Stimme mit. Clarks Augen leuchteten auf und er lächelte das breite Lächeln, das im Moment bedeutete, dass alles perfekt war. »Eigentlich, Dad, muss ich zugeben, dass es Spaß macht, richtig stark zu sein. Es zu verbergen ist anstrengend. Nur die anderen Fähigkeiten... wie zum Beispiel durch Wände sehen zu können... können ein wenig unheimlich sein.« Clark zögerte, wollte etwas anderes sagen, zuckte dann aber die Schultern und lächelte wieder. »Aber stark zu sein und schneller als ein Rennwagen laufen zu können macht einfach Spaß. Eine Menge Spaß.« »Ja, das kann ich mir vorstellen.« Jonathan erinnerte sich plötzlich an einen Autoaufkleber, den er bei einem Tagesausflug nach Metropolis gesehen hatte, ein besonders hintergründiger Spruch, der erklärte: »Mein Hilfsschüler kann deinen Eliteschüler schlagen.« Nun, mein Eliteschüler kann einen Traktor heben! Überbiete das!, dachte er und schmunzelte. Als sie zurück zum Haus schlenderten, klopfte Jonathan seinem Sohn auf den Rücken. »Nebenbei, Clark, das mit den Zaunpfosten hast du hervorragend gemacht. Und das mit dem Entwässerungsgraben auch. Du hast mir mindestens ein, vielleicht zwei Tage Arbeit erspart. Danke.« »Oh, das. Kein Problem. Ich... ich war bloß ruhelos. Ich bin aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Ich musste ständig... grübeln. Verstehst du?« »Sicher«, nickte Jonathan. »Ich habe viele derartige Nächte gehabt. Gewöhnlich dann, wenn der Termin für die fälligen 29
Steuern immer näher heranrückt, aber auch bei anderen Gelegenheiten.« Clark kicherte. »Ja. Nun, schließlich kam mir der Gedanke, dass es mich vielleicht ablenken würde, wenn ich den Graben aushebe. Und es funktionierte. Dann habe ich die Löcher gegraben und die Zaunpfosten aufgestellt. Und dann dachte ich mir: Hey, warum nicht den Traktor inspizieren? Es fühlte sich einfach gut an, etwas zu tun.« »Ich kenne das Gefühl. Das funktioniert meistens auch bei mir.« »Ja. Bei mir auch. Ich wünschte nur, ich hätte schon früher daran gedacht.« Clarks angedeutetes Lächeln wich einem düsteren Gesichtsausdruck. »Ich muss mich eine Stunde hin und her gewälzt haben. Hätte ich sofort nach dem Aufwachen mit dem Graben angefangen, hätte ich die ganze Arbeit erledigen können und sogar noch etwas Zeit gehabt, vor der Schule ein Nickerchen zu machen.« »Clark! Sei nicht so hart mit dir.« Jonathan legte eine Hand auf Clarks Schulter. Gott, hatte ich auch solche Stimmungsschwankungen, als ich sechzehn war? Er versuchte sich zu erinnern. Oh, ja... ich glaube, bei mir war es ganz genau so. »Hör zu, es gibt eine Menge Anzug-und-Krawatten-Typen, die niemals – und ich meine, nicht ein einziges Mal in ihrem ganzen Leben – auf den Gedanken kommen, dass sie viel glücklicher wären, wenn sie ab und zu ihre Büros verlassen und etwas körperliche Arbeit tun würden. Etwas Handfestes!« »Vermutlich.« Clark sah nicht überzeugt aus. »Vermutlich? He, du kannst das als Evangelium betrachten!« Jonathan sah Clark in die Augen. »Komm schon, Sohn, was bedrückt dich?« »Oh... nichts.« Clark wandte den Blick ab. »Muss sonst noch was gegraben werden?«
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»Auf der Farm? Du machst Witze, stimmt’s? Hör mal, warum entspannst du dich nicht und gehst unter die Dusche?« Jonathan sah auf seine Uhr. »Dir bleibt noch etwas mehr als eine Stunde, bis du den Bus erwischen musst. Wir könnten alle auf nette, zivilisierte Weise zusammen frühstücken. An einem Schultag haben wir so was nicht mehr gemacht seit... oh, seit du in der Grundschule warst.« »Nun... sicher. Okay.« »Gut! Schließlich musst du nach dem Morgen, den du gehabt hast, richtig hungrig sein.« Wie aufs Stichwort knurrte hörbar Clarks Magen und er musste lachen. »Gute Idee, Dad.« Jonathan machte eine wegwerfende Handbewegung. »Es ist eine Gabe. Die entwickelt man, wenn man Kinder hat.« Clark hatte geduscht und sich halb angezogen, als er innehielt und schnüffelte. Es hing nicht nur der Duft von gebratenem Schinken in der Luft. Er konnte schwören, dass auch der Geruch von Waffeln in der Luft hing. Binnen Sekunden kleidete er sich an, rannte die Treppe hinunter und trat an den Frühstückstisch. Ein großer Teller Rührei mit knusprigem Schinken und Weizentoast stand bereit. Milch, Saft und Kaffee... die Milch und der Saft in schönen Krügen. Schüsseln mit Obstsalat, Marthas selbst gemachter Apfelsoße und Blaubeeren. Leicht dampfende belgische Waffeln. Ahornsirup und brauner Zucker. Clark blinzelte und sah seine Eltern an. »Ist eine Woche vergangen, seit ich unter der Dusche war? Ist schon wieder Sonntag?« »Du Neunmalkluger!« Martha zerzauste ihrem Sohn die Haare. »Du hast heute Morgen die Arbeit einer ganzen Kolonne erledigt. Das Mindeste, was wir für dich tun können, ist, dich wie eine zu füttern.«
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Jon teilte eine Waffel, legte eine Hälfte auf Marthas Teller und die andere auf seinen eigenen, und setzte sich. Dann gab er eine Waffel auf Clarks Teller. »Nimm Platz und iss eine Waffel.« Mit ernstem Gesicht reichte er ihm den Ahornsirup. »Das kommt auf die Waffel.« »Meinst du?« Clark grinste und schraubte die Sirupflasche auf. Mit einer Hand goss er den Sirup in die Taschen seiner Waffel. Mit der anderen Hand griff er nach einem Löffel und häufte Rührei auf seinen Teller. Martha fragte sich, ob sie genug gemacht hatte.
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3 »’TSCHULDIGUNG! ICH MUSS DURCH!« Chloe Sullivan drängte sich durch den schmalen Gang des Schulbusses, schlängelte sich zwischen einem schlecht abgestellten Posaunenkoffer und einem mit Pappe gepolsterten Kunstprojekt, das ihren Rucksack herunterzureißen drohte, durch. Sie sah aus dem Fenster zu ihrem Haus hinüber und warf dem alten Volvo ihres Vaters, der in der Auffahrt geparkt war, einen Kuss zu. »Eines Tages wirst du mir gehören, und dann wird all das hinter mir liegen.« Plötzlich fuhr der Bus mit einem Ruck an, und Chloe hielt sich gerade noch rechtzeitig an der Rücklehne eines Sitzes fest, um nicht zu Boden zu stürzen. Sie stellte sich breitbeinig hin, drehte sich um und ließ sich auf den Platz neben Peter Ross fallen. Pete griff hastig in seine Windjacke, brachte zwei nummerierte Karteikarten zum Vorschein und hielt sie hoch. »Neunkommaacht! Eine fast perfekte Punktzahl für unsere tapfere blonde Neue.« »Danke, danke!« Chloe erwiderte Petes Grinsen. »Mich hat noch keiner geschlagen, obwohl Gott weiß, dass sie es versucht haben.« Sie stellte den Rucksack auf ihren Schoß. »Aber... ›tapfer?‹ Das klingt, als wäre ich Rocky, das fliegende Eichhörnchen! Bin ich wirklich tapfer?« »Machst du Witze? Du bist der Inbegriff der Tapferkeit. Schau doch im illustrierten Wörterbuch unter tapfer nach. Weißt du, was du finden wirst? Ein Bild von dir... komplett mit dieser Plastikblume in deinem Haar.« »Die Blume...« Chloe griff nach ihr. »Sie ist zu... ländlich, nicht wahr?« 33
»Nein, nein. Sie sieht hübsch aus. Das Blau passt zu deinen Augen.« Chloe musterte kurz Petes dunkelbraune, fast schwarze Augen und entschied, dass er sie zwar, wie gewöhnlich, ein wenig neckte, es aber durchaus ernst meinte. »Nun, danke!« Pete neigte liebenswürdig den Kopf. »Keine Ursache. Also... was sind die großen Neuigkeiten des Morgens?« »Du meinst, die Neuigkeiten des Augenblicks. Sehen wir doch nach, in Ordnung?« Chloe zog einen schmalen neuen Laptopcomputer aus ihrem Rucksack und schaltete ihn ein. »He, das ist nicht dein alter Laptop. Ist das ein PowerBook?« »Ein Ultra-PowerBook.« Chloe strich liebevoll mit der Hand über den Rand des Bildschirms. »Es ist eine Leihgabe des Computerlabors. Ich brauchte ein Gerät, mit dem man drahtlos ins Internet kann.« »Oh, wirklich?« »Sieh mich nicht so an, Pete. Als Redakteurin der Fackel muss ich auf der Höhe der Zeit sein, ob nun zu Hause oder auf der Straße.« »Ah, die mächtige Fackel, die den Weg für die gute alte Smallville High erleuchtet.« Chloe gab ihm einen Rippenstoß. »Au! He, keine Diskriminierung Schwarzer!« »Nun, dann mach dich nicht über die Medien lustig.« Chloes Finger tanzten über die Tasten, während sie ihre E-Mails durchsah. »Oh, nein...!« »Schlechte Neuigkeiten?« »Wahrscheinlich sehr schlechte. Stuart Harrison ist wieder im Krankenhaus. Offenbar hat er am Wochenende einen Anfall gehabt.« »Oh, Mann, die ganze erste Hälfte des letzten Jahres ist er immer wieder ins Krankenhaus eingeliefert worden. Er wurde operiert und einer Chemotherapie unterzogen und mit dieser
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hochmodernen High-Tech-Medizin behandelt. Sie haben ihn fertig gemacht! Dabei sollte es ihn eigentlich heilen.« »Nun... hoffen wir, dass er geheilt wurde.« Chloe klopfte leicht auf den Rand der Tastatur. »Dass er einen Anfall hatte, bedeutet nicht unbedingt, dass der Krebs zurückgekehrt ist. Meine Mom kennt jemand, dem ein Gehirntumor entfernt wurde, und er hatte hinterher auch Anfälle. Aber sie hatten nichts mit dem Tumor zu tun, es lag bloß daran, dass sich sein Gehirn irgendwie neu verdrahtet und eine falsche Verbindung hergestellt hat, oder so was in der Art. Ihm geht’s jetzt gut.« »Ihm geht’s gut, hm? Hatte er diesen Anfall ein ganzes Jahr nach seiner Operation?« »Nun, nein. Es waren nur ein paar Wochen.« »Und wurde er vorher schon mal wegen Krebs operiert, so wie Stu?« »Nein, wurde er nicht. Aber he, entspann dich. Sonst denken die anderen noch, dass du hier der Sensationsreporter bist.« Muss am Einfluss seiner Mom liegen. War sie nicht Staatsanwältin, bevor sie Richterin wurde?, kam ihr kurz in den Sinn. »Ich meine bloß, dass wir keine voreiligen Schlussfolgerungen ziehen sollten.« »Ich weiß, ich weiß.« Pete schüttelte schuldbewusst den Kopf. »Ich wünschte nur, das Universum würde Stu zur Abwechslung mal eine Pause gönnen. Er gehört zu den Guten. Wenn alle Oberstufenschüler so wie er wären, dann wäre die Highschool viel angenehmer. Ich habe noch nie erlebt, dass er jemand herumkommandiert hat.« »Ich auch nicht. Ich kenne Stuart nicht so gut wie ihr Jungs, aber soweit ich weiß, hat niemand – vom jüngsten Schüler bis zu Direktor Kwan – je etwas Schlechtes über ihn gesagt.« »Genau. Es ist nicht fair, dass er wieder im Krankenhaus ist, nach allem, was er durchgemacht hat. Mann, das wird ein lausiger Montag.«
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Die beiden saßen still und ernst da, während der Bus über den Highway rumpelte. Chloe brach schließlich das Schweigen. »Hör mal, wir können nicht den ganzen Tag nur herumsitzen. Das bringt uns nicht weiter.« »Vermutlich.« »Wir brauchen etwas, das unsere Stimmung hebt.« Chloe warf Pete einen Seitenblick zu. »Auf wem können wir uns immer verlassen?« »Clark...!« Petes Gesicht leuchtete auf. »Und nebenbei, Ms. Media, es heißt, auf wen können wir uns immer verlassen!« »Wie auch immer. Wann bist du zur Grammatikpolizei gegangen?« Chloe sah auf ihre Uhr. »Mal sehen... die Hickory Lane ist nur fünf Minuten entfernt. Das Wetter ist gut. Es sind 13 Grad. Ich sage, dass Clark den Bus nimmt!« »Soll das ein Witz sein? An einem Montag?« Pete grinste und hielt einen zusammengefalteten Fünfdollarschein hoch. »Ich wette um fünf Dollar, dass du dich irrst!« »Mann, Pete!« Chloe spielte die Entrüstete. »Du wettest auf die Eigenheiten deines besten Freundes?« »Tun wir das nicht immer?« Clark tunkte mit einem Stück Toast den letzten Rest Sirup von seinem Teller, während Jonathan das Durcheinander aus leeren Schüsseln und Platten auf dem Küchentisch betrachtete. Ah, wenn ich doch auch noch einen derartigen Stoffwechsel hätte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie es war, derart viel zu essen – und zwar bei jeder Mahlzeit –, ohne dass es ihm anzusehen gewesen war. Clark schob seinen Teller zur Seite, streckte seine Arme und gähnte ausgiebig. Martha warf Jonathan mit hochgezogener Braue einen Blick zu und schüttelte sanft Clarks Schulter. »He, du! Vielleicht hätte ich dich diese dritte Waffel nicht essen lassen sollen. Du wirst doch nicht den ganzen Schultag verschlafen, oder?« 36
»Keine Sorge, Mom. Ich werde hellwach sein, wenn der Bus die Schule erreicht.« Clark sah sie todernst an. »Um genau zu sein, deshalb habe ich die dritte Waffel genommen. Um Kohlenhydrate zu speichern. Wie für einen Marathonlauf.« »Ich verstehe. Sehr gerissen.« Martha legte mitfühlend den Kopf zur Seite. »Also... hattest du viele schlechte Träume gestern Nacht?« »Äh... nein. Eigentlich nicht.« »Hm. Du hast also nur einen Albtraum gehabt, was?« Clark wollte gerade nach der Milch greifen, als er auf die Bemerkung seiner Mutter hin seine Hand zurückzog und sie mit großen Augen erstaunt anstarrte. »Woher weißt du...? Und sag ja nicht: ›Es ist eine Gabe. Die entwickelt man, wenn man Elternteil ist!‹« Martha hob beide Hände. »Aber es ist so.« »Nun, Martha, du weißt, dass es in deinem Fall nicht ganz richtig ist.« Jonathan goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. »Du bist schon immer sehr aufmerksam und extrem intuitiv gewesen. Fast immer hast du gewusst, was ich denke – selbst bevor Clark kam.« Er wandte sich an Clark. »Lange bevor du kamst.« »Jonathan...!« »Schatz, es stimmt.« Jonathan grinste seinen Sohn an. »Clark, denk ja nicht, dass du der Einzige in dieser Familie mit übernatürlichen Kräften und Fähigkeiten bist.« Clark holte langsam tief Luft, als würde er einen besonders dramatischen Seufzer vorbereiten. Aber noch während er die Luft wieder ausstieß, musste er lachen. »Ihr seid wirklich nervig. Ja, ich hatte einen verrückten, richtig unheimlichen Traum. Wenigstens kam er mir gestern Nacht unheimlich vor. Im Moment...?« Er zuckte die Schultern. »Ich finde ihn fast komisch.« Clark sah auf die Uhr und stand auf. »Vielleicht werde ich ihn euch später erzählen. Jetzt hole ich besser meine Sachen. 37
Ich würde mir wie ein richtiger Raketenwissenschaftler vorkommen« – er unterdrückte ein Lachen – »wenn ich jetzt den Bus verpassen würde. Vor allem, da ich doch schon in aller Frühe wach war.« Clark rannte nach oben, packte seine Bücher ein und war wieder in der Küche, bevor Martha ihn weiter mit Fragen behelligen konnte. »Tschüss, Mom! Tolles Frühstück!« Er küsste sie flüchtig auf die Wange. »Dad...!« Jonathan bekam einen sachten Klaps auf den Rücken. »Bis heute Abend!« Clark wandte sich so schnell zur Tür, dass seine Umrisse verschwammen. Und dann, nach einem letzten Wink, ging er nach draußen und die Einfahrt hinunter, als wäre er ein ganz normaler Mensch. Jon sah seine Frau an. »Er ist ein Teenager, Martha. Es ist seine Aufgabe, uns in Atem zu halten.« Martha zog eine Braue hoch. »Das sagst du mit ziemlicher Überzeugung. Als würde es alles erklären.« »Tut es das nicht?« »Nun...« Martha lachte leise. »Ich denke schon. Das Wichtigste ist, dass Clark mit uns redet. Früher oder später. Was auch immer ihn beschäftigt, wir werden es irgendwann erfahren.« »Ich würde sagen, du hast in allen Punkten Recht.« Jonathan stellte seine Kaffeetasse ab, trat näher und legte einen Arm um seine Frau. »Die andere wichtige Sache ist, dass ich dank Clark heute Morgen etwas freie Zeit habe.« Er küsste die Spitze von Marthas Nase. »Also... ahnst du, was ich im Moment denke?« »Ah! Lass mich überlegen...« Sie lächelte. »Weißt du, ich glaube, ich ahne es.« Als der Schulbus am Ende der Kent-Auffahrt mit quietschenden Bremsen zum Stehen kam, wartete Clark dort
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geduldig. Er stieg in den Bus und drängte sich durch den Gang zu Pete und Chloe. »Morgen, Musketiere!« Clark ließ sich auf dem Sitz vor ihnen nieder und streckte sich. Er unterdrückte ein Gähnen, als der Bus losfuhr. Hinter ihm formte Chloe lautlos mit dem Mund: »Her mit dem Geld!«, und Pete gab ihr seinen zerknitterten Fünfdollarschein. Clark seufzte künstlich und blickte starr geradeaus, während hinter ihm das Geld seinen Besitzer wechselte. »Wisst ihr, der Fünfer muss allein in diesem Monat mindestens ein Dutzend Mal von einem zum anderen gewandert sein! Ist es nicht an der Zeit, damit aufzuhören?« Chloe blinzelte. »Du weißt es?« Sie warf Pete einen giftigen Blick zu. »Du hast es ihm verraten!« »Nein, ich schwöre!« »Pete musste nichts sagen.« Clark drehte sich halb zu ihnen um. »Ich bin schließlich nicht blind.« »Siehst du, Chloe? Ich habe es dir gesagt. Her mit dem Geld!« Als Chloe ihm den Fünfer gab, schüttelte Clark den Kopf. »Das versteh ich jetzt nicht. Ich dachte, sie hätte gewonnen.« »Sie hat die ›Wird er den Bus verpassen‹-Wette gewonnen. Ich habe die ›Nicht völlig blind‹-Wette gewonnen.« Pete strich den Geldschein glatt und küsste ihn. »Willkommen daheim!« »Wie bitte: blind?« Clark zog eine Braue hoch. »Danke für dein Vertrauen, Chloe.« »Ich habe nie behauptet, dass du völlig blind bist, nur... zerstreut. Manchmal.« Chloe rang sich ein mattes Lächeln ab, erkannte, dass es nichts brachte, und versuchte eine andere Taktik. »Aber ich wusste trotzdem nicht, woher du von der Wette wusstest? Hast du etwa Augen im Hinterkopf? Oder kannst du meine Gedanken lesen?« Clark lächelte nur. 39
»Gib’s auf, Chloe!« Pete steckte den Geldschein wieder in seine Brieftasche. »Ich kenne Clark seit dem ersten Schuljahr. Es ist nicht einfach, vor ihm Geheimnisse zu haben.« »Oh, Mist! Geheimnistuerei ist...!« Clark gluckste unterdrückt. »Pete, hat sie gerade ›Mist!‹ gesagt?« Pete blickte besorgt drein. »Ich fürchte ja. Dabei kommt sie aus einer richtig guten Familie. Was werden die Nachbarn sagen?« »Sie werden sagen, dass ihr beide nur Mist im Kopf habt!« Chloe wollte Pete einen weiteren Rippenstoß versetzen, aber er wich ihm aus. »Sie muss es wissen, Clark. Ihr Dad ist der Manager von Luthors Düngemittelfabrik!« »Und ich habe schon genug von seinem Fäkalhumor. Ich brauche nicht auch noch euren dazu! Nun, was ich sagen wollte, bevor ich unterbrochen wurde: Geheimnistuerei scheint hier eine Lebensart zu sein. Alle in dieser Highschool – alle in dieser Stadt – stecken bis zu den Haarspitzen voller Geheimnisse, von denen niemand etwas ahnt... wahrscheinlich nicht einmal du, Clark Kent!« Clark verdrehte die Augen und wollte sich ihnen zuwenden, hielt aber plötzlich inne. Einen Moment lang starrte er vor sich hin. Dann wandte er sich langsam Chloe und Pete zu. »Du hast Recht, Chloe. Ich habe ein Geheimnis. Ein großes Geheimnis.« Er drehte sich ein Stück weiter um und senkte die Stimme. »Es ist ein schreckliches Geheimnis. Und ich habe es die ganze Zeit für mich behalten... manchmal habe ich das Gefühl zu explodieren. Verstehst du?« »Hm.« Pete klang skeptisch, aber in seiner Stimme schwang auch Unbehagen mit. Worauf wollte Clark hinaus? Chloe blickte noch skeptischer drein, aber sie beugte sich leicht nach vorn und betrachtete Clarks Gesicht. »Ein großes Geheimnis? Und du hast es...« Ihre Stimme setzte aus. Clarks 40
Aussehen verwirrte sie. Seine Haare sind so dunkel, dachte sie. Fast pechschwarz. Und dann diese unglaublichen Augen. Ich habe noch nie jemand gesehen, der derart blaugrüne Augen hat. Sie sind hinreißend. Sie schüttelte den Kopf, um wieder zur Besinnung zu kommen. Beherrsch dich!, rief sie sich selbst zur Vernunft. »... em, uns beiden vorenthalten?« Clark nickte ernst. »Es tut mir wahnsinnig Leid. Ich meine, ihr beide seid meine besten Freunde. Ich hätte es euch schon vor langer Zeit erzählen sollen.« Ein Stirnrunzeln huschte für eine Sekunde über Chloes Gesicht. Sie senkte ihre Stimme. »Was erzählen?« Clark sah sich prüfend um, wie um sich zu vergewissern, dass niemand mithörte. »Meine Eltern werden mich wahrscheinlich umbringen, wenn ich es euch erzähle, aber ich muss es mir von der Seele reden. Chloe, Pete...« Beide beugten sich nach vorn und Clark senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »... in Wirklichkeit bin ich ein Außerirdischer von einem anderen Planeten.« Eine Sekunde starrten sie ihn in schockiertem Schweigen an. Dann sank Pete in die Ecke seines Sitzes zurück. »Oh mein Gott!« Er richtete sich auf, wollte etwas sagen, warf einen Blick auf Chloes empörtes Gesicht und brach in hilfloses, gurgelndes Gelächter aus. »Komiker!« Chloe schlug Clark mit einem Notizblock auf den Kopf. »Ich bin von Komikern umgeben!« Sie lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und funkelte Clark an. »Oh, Mann, das war großartig!« Pete streckte eine Hand aus, um Clark abschlagen zu lassen. »Erinnere mich daran, nie mit dir Poker zu spielen. Ich kann nicht fassen, dass du die ganze Zeit ein todernstes Gesicht gemacht hast!« Clark lächelte. »Es ist eine Gabe.« Und nichts funktioniert so gut wie die Wahrheit, fügte er in Gedanken hinzu.
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Als James Wolfe zurück in Jacobis Motelzimmer schlurfte, zeigte der Radiowecker auf dem Nachttisch 10.53 Uhr an. Wolfe hatte blutunterlaufene Augen und war unrasiert. Er sah aus, als hätte er seit mindestens einer Woche nicht mehr richtig geschlafen. Jacobi seinerseits war ausgeruht und hellwach. Wolfe war misstrauisch. »Du hast ein Nickerchen gemacht, nicht wahr?« Jacobi lächelte nur. »Was hast du für mich, Jimmy?« »Ich habe ein paar Leute kontaktiert und einige Dinge eingefädelt. Es ist alles hier drauf.« Er gab Jacobi eine Diskette. »Denk daran, das sind nur die Vorbereitungen! Anmietung der Ausrüstung und eines Wohnwagens... Transport...« »Ich denke, wir fahren mit dem Wohnmobil nach Kansas?« »Das stimmt.« Wolfe runzelte die Stirn. »Vorausgesetzt, wir finden einen geeigneten Ort für die Veranstaltung.« »Erzähl mir nicht, dass es keinen Platz für eine Zeltshow gibt. Jemand muss Land haben, das für Feste oder Jahrmärkte verpachtet wird.« »Ich habe niemanden gefunden, der verpachten wollte.« Wolfe stürzte einen Schluck kalten Kaffee hinunter und wünschte, es wäre etwas Stärkeres. »Aber ich habe eine Möglichkeit gefunden. Das Problem ist, dass das Grundstück derzeit unter der Kontrolle der örtlichen Sparkasse steht. Ich habe dort angefragt... die Einzelheiten befinden sich auf der Diskette. Aber ich habe den Eindruck, dass es ungewöhnlich für sie ist, ein derartiges Geschäft per E-Mail abzuschließen. Ich denke, wir müssen sie ein wenig bearbeiten, zwischenmenschlichen Kontakt herstellen, und sei es nur übers Telefon.« »Ich kann das erledigen, Jimmy. Das ist schließlich meine Spezialität.« »Ja. Gut. Denn so, wie ich mich im Moment fühle, könnte ich einem Ertrinkenden nicht mal Luft verkaufen.« Wolfe gab 42
ein müdes Gähnen von sich, das tief aus seinem Inneren zu kommen schien. »Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht. Jetzt muss ich etwas schlafen, bevor mir die Augen aus dem Kopf fallen.« »Mach das, Jimmy.« Jacobi nahm den Arm seines Partners und führte ihn zum angrenzenden Zimmer. »Ich bin sicher, dass du wie immer hervorragende Arbeit geleistet hast. Von jetzt an übernehme ich.« Wolfe warf sich aufs Bett und war eingeschlafen, bevor Jacobi die Tür geschlossen hatte. Als die letzte Unterrichtsstunde am Montag endete, gingen Clark und Pete zu den Räumen, in denen die Schülerzeitung untergebracht war. Die Tür war offen, und sie sahen, wie Chloe fieberhaft an einem der Desktopcomputer im Fackel-Büro saß und etwas eintippte. Die Wand hinter ihr war zum größten Teil mit Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten bedeckt, die über die seltsamen Ereignisse nach dem Meteoritenschauer berichteten, der Lowell County verwüstet hatte. Eine Montage aus Artikeln und Fotos lieferte eine Chronik der Zwischenfälle, angefangen von ungewöhnlichen Wetterverhältnissen bis hin zu der Geburt von zweiköpfigen Kälbern. Chloe hatte ihr den Namen »Wand der Merkwürdigkeiten« gegeben. Sie bildete die Basis für all ihre Theorien über die merkwürdigen Dinge, die Smallville heimsuchten. Clark sah zu der Wand hinüber, als er und Pete eintraten. Er vergewisserte sich immer, ob es irgendwelche neuen Berichte gab. Vor allem welche, die ihn erwähnten. Bis jetzt war sein Gesicht noch nicht an der Wand aufgetaucht. Schön zu sehen, dass ich nicht offiziell als merkwürdig gelte, dachte er. »He, Chloe.« Pete trommelte mit den Fingern auf einen Aktenschrank. »Enger Termin?« »Hallo, ihr beiden. Nein, ich überprüfe nur den Rest der örtlichen Medien.« Chloe tippte mit einem Fingernagel gegen 43
das Glas des Monitors. »Seht mal! Hier ist ein weiteres Beispiel dafür, dass mit dieser verrückten Stadt etwas nicht stimmt.« Der Bildschirm zeigte das archivierte Bild einer grellbunten Reklametafel, die alle in »Smallville, Meteorhauptstadt der Welt« willkommen hieß. »Paa!« Sie warf die Hände hoch. »Erstens müsste es ›Meteoritenhauptstadt‹ heißen. Meteore fliegen durch das Weltall. Wenn sie auf die Erde fallen, werden sie zu Meteoriten.« Clark nickte. »Technisch gesehen, Chloe, sind sie Meteoroide, wenn sie sich im Weltraum befinden. Aber um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht sicher, ob selbst die NASA sie noch so nennt.« »Nun, vielen Dank, Mister Wissenschaftler. Jedenfalls, von der Terminologie abgesehen, wäre es viel treffender, wenn auf unserer Reklametafel ›Geheimnishauptstadt der Welt‹ stehen würde.« »Oh, Mann!« Pete ließ sich auf einen Stuhl sinken und starrte die Decke an. »Ich kann nicht fassen, dass du noch immer darauf herumreitest.« »Es stimmt, Pete, und du weißt es. Seit diese fliegenden Weltraumsteine das County getroffen haben, hat Smallville mehr dunkle Geheimnisse beherbergt als jede andere Stadt auf dieser Seite von Metropolis.« Pete schnaubte abfällig. »Dunkle Geheimnisse... das klingt aus deinem Mund wie eine Seifenoper.« »Exakt!« Chloes Augen funkelten. »Smallville ist genau wie Peyton Place... nur dass es hier um merkwürdige Dinge und nicht um Sex geht.« »Peyton Place? Wo liegt Peyton Place?« »Ach Peter.« Chloe seufzte und schüttelte den Kopf. »Peyton Place war ein Bestseller von Grace Metalious. Es gab eine Fortsetzung, einen Film und mindestens zwei Fernsehserien. Bin ich hier die Einzige, die sich in der Literatur auskennt?« 44
Clark runzelte die Stirn. »Das ist nicht ganz fair, Chloe. Peyton Place war kein klassischer literarischer Roman. Außerdem erschien er schon in den Fünfzigern, noch bevor unsere Väter geboren wurden.« »Und woher kennst du ihn dann? Hat Lana etwa Peyton Place gelesen?« »Uhh...« »Das dachte ich mir.« Chloes Lächeln war bittersüß. Clark war seit der Mittelschule hinter Lana Lang her. Und deshalb würde er nie mehr als ein Kumpel sein. Sie hatte keine große Chance, mit einer Cheerleaderprinzessin konkurrieren zu können... nein, halt, mit einer Ex-Cheerleaderprinzessin. Lana hatte die Cheerleadertruppe verlassen, als mehrere Smallviller Footballspieler bei einem wichtigen Examen beim Pfuschen ertappt worden waren. Chloe musste zugeben, dass diese Tatsache sie sowohl überraschte als auch beeindruckte. »Wie dem auch sei, ich sprach von Geheimnissen...« Chloe klickte sich durch die Seiten auf dem Computermonitor. »Ist euch eigentlich klar, dass in diesem Jahr schon über ein halbes Dutzend Leute in die Krankenhäuser von Metropolis gebracht worden sind? Und es hat fast genauso viele Todesopfer gegeben... und zwar seit dem Wochenende des letzten Spiels vor den Ferien!« »Erinnere mich nicht daran.« Pete fischte ein Blatt Papier aus einem Recyclingabfalleimer und faltete es. »Die Highschool ist viel merkwürdiger, als ich dachte.« »Genau! Wir kennen uns mit merkwürdigen Dingen aus, weil wir eine Menge davon gesehen haben. Und trotzdem muss man mit einem feinen Kamm das Archiv des Smallville Ledger durchforsten, nur um halbwegs eine Ahnung davon zu bekommen, was wirklich vorgeht. Unsere so genannten örtlichen Medien bringen so gut wie keine Enthüllungsberichte darüber. Und warum ist das so?« Clark zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht. Warum?« 45
Chloe blickte von ihrem Bildschirm auf. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe einen Verdacht. Hier, wirf mal einen Blick auf die Homepage des Ledger.« Sie drehte den Monitor und wies auf die obere Ecke des Bildschirms. »Siehst du das? Ein direkter Link zur PR-Site der Luthor Corp.« »Und?« »Die Luthor Corp ist der größte Anzeigenkunde des Ledger. Ich wette, sie drucken nichts, das Lionel Luthor nicht gedruckt sehen will.« »Chloe, das stimmt nicht. Denk an die Banner-Schlagzeile, die sie geschaltet haben, als die Leute dachten, sein Sohn hätte die Smallviller Sparkasse ausgeraubt.« »Ausnahmen bestätigen die Regel, Clark. Dieser Raubüberfall fand am helllichten Tag vor einem Dutzend Zeugen statt. Der Ledger konnte ihn nicht ignorieren. Aber er hat als erste Zeitung einen Widerruf gedruckt, als sich herausstellte, dass Lex Luthor zu dieser Zeit in Metropolis war. Dennoch hat er irgendwie vergessen zu erwähnen, dass derjenige, der sich für Lex ausgegeben hatte, ein Formwandler war!« »Nun, du musst zugeben, es klingt...« Clark zögerte und suchte nach dem richtigen Wort. »Merkwürdig? Es ist merkwürdig! Aber es ist passiert. Clark, du hast selbst gesehen, wie sich Tina Greer in Lana und in Whitney Fordman verwandelt hat!« »Ja, aber...« »Die Polizei muss die Wahrheit kennen. Beim Ledger muss man sie auch kennen. Aber die ganze Geschichte wird einfach nicht gedruckt.« Chloe lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme, als wollte sie seinen Widerspruch abwehren. »Meine Vermutung ist, dass Lionel Luthor den Grund dafür kennt. Niemand sonst hat hier genügend Einfluss, um etwas vertuschen zu können.«
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Pete blickte von seinem gefalteten Blatt auf. »Von Lex vielleicht abgesehen.« »Oh, komm schon, Pete!« »Nein, denkt mal drüber nach. Lex hat dieses riesige Feuerwerk für deine Party organisiert, Clark...« Pete ließ ein perfektes Papierflugzeug durch den Raum segeln. »... und er hat die Cops fern gehalten.« »Okay, er hat einigen Einfluss. Aber Lex ist in Ordnung. Er hat zu seinem Vater gehalten und in der örtlichen Fabrik eine Menge Jobs gerettet, nicht wahr? Chloe, ohne Lex wäre dein Dad jetzt vielleicht arbeitslos. Wer hat das neue Computerlabor der Schule finanziert? Lex! Und wer hat die Renovierung des Talon in der City bezahlt...?« »Hör auf, Clark!« Pete bückte sich, um sein Flugzeug aufzuheben. »Ich weiß, dass er dein Kumpel ist, seit du seinen erbärmlichen Hintern vor dem Ertrinken gerettet hast, aber was wissen wir wirklich über ihn?« »Was wussten wir über Chloe, bevor wir sie kennen gelernt haben? Was wisst ihr über mich? Pete, ich bin adoptiert worden. Ich weiß selbst nicht, wer meine leiblichen Eltern sind!« »Äh, Leute?« Chloe fuchtelte mit der Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. »Verzeiht mir, dass ich mich in euer Männergespräch einmische, aber ich wollte etwas anmerken.« »Und das ist...?« Pete legte das Flugzeug auf ihren Computer. »Aus irgendeinem Grund berichten die örtlichen Medien einfach nicht über die Dinge, die hier vorgehen. Und da komme ich ins Spiel.« Clark sah Pete an. »Ich habe fast Angst, es zu erfahren.« »Ich auch, aber ich werde fragen.« Pete wandte sich wieder an Chloe. »Sag uns, unerschrockene Reporterin, was du geplant hast. Soweit ich weiß, hat der Direktor deine Artikel über das Merkwürdige in der Schülerzeitung gestoppt.« 47
»In der Zeitung ja.« Chloe lächelte, als sie eine neue Webadresse eingab. »Tatsache ist, dass seine genauen Worte lauteten: ›Drucke nicht, was du nicht beweisen kannst.‹ Aber er hat vergessen, diese Anweisung auf die Website der Fackel auszudehnen. Also...« Sie zog das Wort wie ein Toffee in die Länge. »... habe ich ein kleines Cyberarchiv angelegt, in dem ich alle von Meteoriten ausgelösten merkwürdigen Ereignisse in der letzten Zeit zusammengetragen habe. Seht es euch an.« Clark scrollte über die Seite. »Du hast deine ›Wand der Merkwürdigkeiten‹ online gestellt. Scheinbar hast du sehr gründlich ermittelt. Willst du auch veröffentlichen, dass ich ein Außerirdischer bin?« »Sehr witzig!« Chloe drehte den Monitor von Clark weg und bedeutete Pete, einen Blick darauf zu werfen. »Ich wünschte nur, ich hätte noch immer meine JPG-Dateien über den PyroAuftritt unseres verstorbenen Trainers Arnold. Aber die sind alle zerstört worden, als die Fackel-Büros... abgefackelt wurden. Deshalb speichere ich jetzt alles auf dieser Website.« »Ich weiß nicht, Chloe.« Pete blickte zweifelnd von dem Bildschirm auf. »Ich meine, sicher, wir wissen, dass all diese Sachen passiert sind.« Er schnitt eine Grimasse. »Ich war dabei, als ein paar der Leichen gefunden wurden. Aber wenn du das alles so komprimiert zusammenträgst, liest es sich wie eine Jahresausgabe der Weekly World News. Wer wird es glauben? Wer wird es sich überhaupt ansehen?« Nach einem erfrischenden Nachmittagsbad im Pool des Motels kehrte Donald Jacobi in sein Zimmer zurück und fand seinen Partner an seinem Laptop sitzend vor. »Jimmy...? Suchst du etwas?« »Ich habe nur nachgesehen, ob es dir gelungen ist, irgendwelche Kontakte in Smallville zu knüpfen, und bin dabei auf deine neuesten Lesezeichen gestoßen.« James Wolfe war frisch geduscht und rasiert. Er sah nach sechs Stunden Schlaf 48
wesentlich besser aus als zuvor, aber sein Gesicht nahm den Ausdruck zunehmender Fassungslosigkeit an. »Ich habe nicht erwartet, einen derartigen... einen derartigen Wahnsinn zu finden!« Der Bildschirm des Monitors zeigte eine Headline, die Smallville, Kansas zum »Land der Merkwürdigen und Heimat der Seltsamen« erklärte. Unter der Schlagzeile wurde als Autorin eine gewisse Chloe Sullivan genannt. »Ich würde es nicht als Wahnsinn bezeichnen, Jimmy.« Jacobi beugte sich über seine Schulter. »In Wirklichkeit ist das da sehr inspirierend.« »Willst du im Ernst damit sagen, dass dieser...« Wolfe wies wütend auf den Bildschirm. »... dieser Mist dich dazu inspiriert hat, die südliche Tournee abzusagen? Das?« »Ich habe dir diese Website bereits gezeigt.« »Da war ich noch im Halbschlaf. Don, hinter dieser Site steckt irgendein Highschoolkid!« Wolfe versuchte sein Temperament zu zügeln, aber er verlor den Kampf. »Du hast mich deswegen aus meinem wohlverdienten Schlaf gerissen und mich dazu gezwungen, Stunden online zu verbringen und die Vorbereitungen für die gottverdammte Zeltshow zu treffen?« »Reg dich ab, Jimmy. Sonst bekommst du noch einen Herzschlag.« Jacobis Stimme klang kühl und gleichmütig. »Ich würde keine Entscheidung von einer einzigen Website abhängig machen. Aber die Arbeiten der jungen Ms. Sullivan führten mich in die richtige Richtung. Wie ich dir schon sagte, ich habe auf den seriösen örtlichen Zeitungssites die Bestätigung für viele dieser Fälle gefunden. Seitdem habe ich diese Berichte mit Artikeln verglichen, die im Daily Planet und seinem Hauptkonkurrenten in Metropolis erschienen sind, dem Inquirer.« »Der Inquirer?« Wolfe warf die Hände hoch. »Oh, das ist natürlich eine seriöse Nachrichtenquelle! Er ist fast so schlimm 49
wie diese Revolverblätter, die in den Supermärkten verkauft werden. Das Zeug, das er zu diesem Thema beigesteuert hat, ist wahrscheinlich noch abgedrehter als die Artikel dieses Teenagers!« »Der Stil des Inquirers ist ein wenig extravagant, aber die Berichte enthalten oft ein Körnchen Wahrheit. Manchmal sind sie sogar noch nützlicher als das, was im Planet veröffentlicht wird. Jedenfalls habe ich die Existenz dieser seltsamen ›Mutantenfälle‹ verifizieren können. Die Überlebenden wurden auf verschiedene Krankenhäuser und Forschungsinstitutionen verteilt, hauptsächlich im Großraum Metropolis. Und diese Einrichtungen sind extrem verschwiegen, was den Zustand ihrer Patienten anbelangt.« »Das beweist gar nichts.« »Vielleicht, Jimmy. Es ist möglich, dass nichts dahinter steckt, aber wenn ich zwischen den Zeilen lese, glaube ich nicht, dass dies der Fall ist. Nein, ich denke, dass dort draußen im Hinterland irgendetwas passiert ist, das die Behörden nicht zugeben wollen. Vielleicht ist es nicht ganz so merkwürdig oder extrem, wie Ms. Sullivan glaubt... aber sie glaubt es, Jimmy. Und andere werden es ebenfalls glauben. Genau wie sie das für bare Münze halten, was ich in diesen letzten Jahren gelehrt habe.« »Ich weiß nicht, Don...« Wolfe lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »... das hat wenig mit Vorlesungen über den kosmischen Geist oder Seminare über Aura-Reinigung zu tun. Es gibt so viele Risikofaktoren.« »Gibt es die nicht immer? Aber wir müssen der Sache nachgehen, Jimmy! Die Meteoriten-Verbindung ist da. Die Gelegenheit ist zu günstig, um sie zu verpassen.« Jacobi lächelte. »Außerdem habe ich mich bereits mit dieser Sparkasse in Verbindung gesetzt. Das Grundstück, das wir für die Zeltshow brauchen, gehört uns. Wir müssen nur noch den Vertrag unterzeichnen.« 50
»Welchen Vertrag? Wo...?« »Hier sind die Grundzüge der Vereinbarung.« Jacobi gab einen Kode in den Laptop ein. »Da ich jetzt den Weg geebnet habe, kannst du die letzten Einzelheiten online ausarbeiten. Wir haben bis Freitag dieser Woche Zeit.« »Freitag.« Wolfe rieb sich die Stirn. »Ich bin allmählich zu alt für diesen Mist.« »Sei nicht albern, Jimmy. Du bist nicht viel älter als ich. Wir beide stehen noch immer in der Blüte unseres Lebens.« Jacobis Stimme war so süß wie Honig, hatte aber einen drohenden Unterton. »Und vergiss niemals, Jimmy, wir sind ein Team. Partner bis zum Ende!« »Richtig... Partner...«, sagte Wolfe zögernd. Aber du hast trotzdem alle Asse in der Hand, Don, dachte er grimmig. »Das wollte ich hören! Lass uns jetzt an die Arbeit gehen. Wir haben in den nächsten vier Tagen eine Menge zu erledigen.«
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4 AM FREITAGNACHMITTAG SAß CLARK KENT im hinteren Teil des Studierraums und sah die große alte Uhr an der Wand an. Er hatte seine Hausaufgaben in der ersten Hälfte der Stunde gemacht, und es waren noch immer ein paar Minuten, bis es klingelte. Ich wünschte, ich hätte ein Buch zum Lesen mitgenommen... eine Zeitschrift... irgendetwas! Gelangweilt starrte Clark das Ziffernblatt an und sah mühelos hindurch, in das Innenleben des elektrischen Motors. Mit jedem verstreichenden Tag fiel es ihm leichter, durch feste Objekte zu sehen. Wer braucht noch Röntgenaufnahmen? Ich brauche nur etwas mehr Übung, überlegte er. Clark lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blickte durch die Seitenwand in den Korridor. Dort sah er Mr. Weedmore, der eine Kiste mit Trompetendämpfern zum Bandraum trug. Er konzentrierte sich etwas mehr und sah das Skelett des Musiklehrers. Er konnte sogar die Metallnägel erkennen, mit denen die Army-Ärzte Weedmores Bein gerettet hatten, nachdem er in Vietnam von einer Mörsergranate gestreift worden war. Weedmore passierte ein zweites Skelett, das einen Meter über dem Boden zu stehen schien. Clark veränderte seinen Blickwinkel und erkannte sofort Will Grady, einen der Schulhausmeister, der auf einer alten Holzleiter stand. Woran arbeitete Grady? Aus diesem Winkel war das schwer zu sagen. Oh, es musste das Notbeleuchtungssystem sein. Clark verfolgte, wie der Hausmeister die Sprossen hinunterstieg und die Leiter anderthalb Meter weiter schob. Bevor Grady einen weiteren Schritt machen konnte, drehte er den Kopf, als würde er eine Stimme hören, die nach ihm rief. Daraufhin ging der Hausmeister den Flur hinauf und ließ die Leiter zurück. Erschreckt bemerkte Clark, dass sich die Leiter in gefährlicher Nähe zur Tür des Biologielabors befand. 52
Und dann klingelte es. Während die Klassenkameraden um ihn herum ihre Sachen zusammenpackten, sprang Clark von seinem Stuhl auf. Er erreichte den Korridor in dem Moment, als die Tür des Biologielabors gegen ein Bein der Leiter stieß. Die Leiter schwankte, und von einer der oberen Sprossen fiel ein großer Eimer mit Werkzeugen. Der Eimer flog direkt auf den Kopf einer Schülerin zu, die ein angrenzendes Klassenzimmer verließ. Sie ahnte nicht das Geringste von der Gefahr. Während Clark durch den Korridor rannte, schien sich alles andere wie in Zeitlupe zu bewegen. Der Werkzeugeimer war nur noch ein paar Zentimeter von dem Kopf des Mädchens entfernt, als Clark die Hand ausstreckte und ihn zur Seite riss. Sein Schwung trug ihn noch weitere drei Meter durch den Korridor, bevor er zum Stehen kam. Clark stellte den Eimer ab, richtete sich auf und sah sich um. Die Schüler bewegten sich wieder mit normaler Geschwindigkeit durch den Korridor. Das Mädchen blickte mit einem verwirrten Ausdruck auf dem Gesicht auf und strich sich mit der Hand übers Haar. Niemand schenkte Clark besondere Aufmerksamkeit; alles war viel zu schnell passiert. Er wandte sich ruhig ab und schlenderte zurück zum Studierraum. Eine Stimme ließ ihn abrupt innehalten. »Clark?« »Lana... hi! Was gibt’s?« »Ich wollte, dass du es zuerst erfährst – ich habe meinen Algebratest bestanden!« »Das ist toll! Aber ehrlich gesagt, überrascht es mich nicht. Ich wusste, dass du es schaffst!« »Nun, ich war mir dessen nicht so sicher, bis du mir beim Lernen geholfen hast. Jetzt komme ich mit den Gleichungen prima klar. Ich kann dir gar nicht genug danken.« »Ich freue mich, dass ich dir helfen konnte.« Clark erwiderte Lanas Lächeln. Es war das schönste Lächeln, das er je gesehen hatte. Dieser Ansicht war er schon seit Jahren und er konnte 53
sich nicht vorstellen, jemals das Lächeln eines anderen Mädchens schöner zu finden. Clark erinnerte sich noch gut an das erste Mal, als ihm Lana Lang in der überfüllten Mittelschulcafeteria aufgefallen war. Sie hatte wunderschöne lange Haare, glänzend und glatt, von einer ganz erstaunlichen Farbe, einem dunklen Rotbraun. Bis zu diesem Moment war Clark der Ansicht gewesen, dass seine Mutter die schönsten Haare hatte, die er je gesehen hatte. Tut mir Leid, Mom. Du verlierst, schoss ihm damals durch den Kopf. Lana drehte sich halb zu ihm, während sie mit einer Freundin sprach, und er verliebte sich in sie. Schon damals war sie hinreißend gewesen. Eine Woche später nahm Clark all seinen Mut zusammen und sprach Lana an. Er hatte sie seit ein paar Tagen heimlich beobachtet und nie erlebt, dass sie zu irgendjemand etwas Hässliches oder Gemeines sagte. Also hatte er beschlossen, dass er es wagen konnte, sich vorzustellen. Clark war Lana nahe genug gekommen, um zu bemerken, dass sie die erstaunlichsten grünen Augen hatte, die er je gesehen hatte. Dann war er über seine eigenen Füße gestolpert und zu Boden gestürzt. Lana war sehr freundlich gewesen, hatte die Kids zum Schweigen gebracht, die ihn auslachten, und ihm geholfen, seine herumliegenden Schulbücher aufzuheben. Was die Situation natürlich noch schlimmer machte. Clark zog sich beschämt zurück, peinlich berührt wie in seinem schlimmsten Albtraum. Er war halb gelähmt und von Atemproblemen geplagt gewesen. Hätte ihn die Erde verschlucken können, wäre es ihm recht gewesen. Es dauerte fast einen Monat, bis er es erneut wagte, sie anzusprechen. In den dazwischen liegenden Wochen nahm er sich wieder und wieder vor, mit Lana zu reden. Aber jedes Mal brach ihm der Schweiß aus und er bekam weiche Knie. 54
Jonathan hatte versucht, ihn zu beruhigen. »Du musst verstehen, Clark, dass du in diesem Alter bist, in dem die Jungs anfangen, Männer zu werden, und die Mädchen Frauen. Es ist wie bei den Vögeln und Bienen...« »Wir leben auf einer Farm, Dad. Wir beide haben bereits darüber gesprochen. Außerdem habe ich schon in der Grundschule alles über Sex gelernt.« »Oh... sicher.« Diese Aussage hatte Jonathan völlig aus dem Konzept gebracht. »Ich vergesse immer... dass diese Dinge heutzutage in einem viel früheren Alter unterrichtet werden.« »Äh, Dad? Erinnerst du dich an mein Problem? Liegt es vielleicht an einem hormonellen Ungleichgewicht oder so?« »Nicht direkt. Weißt du, Clark, in deinem Alter machst du eine Menge Veränderungen durch, und es dauert eine Weile, bis du dich daran gewöhnt hast. Es kann passieren, dass du in der Gegenwart eines hübschen Mädchens verlegen wirst. Aber das ist kein Grund zur Sorge. Es ist völlig natürlich.« Es war ein guter Rat, aber Jonathan hatte sich in einem Punkt geirrt. Die Schwäche, die Clark in Lanas Nähe überfiel, hatte nichts mit pubertärer Nervosität zu tun. Sondern hauptsächlich mit ihrer Kette. Seit Jahren trug Lana einen kleinen grünen Kristall an einer Kette um ihren Hals. Es handelte sich dabei um ein winziges Bruchstück eines der Meteore, die Smallville getroffen hatten, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Erst in den letzten Monaten hatte Lana die Kette abgelegt und seitdem konnte Clark endlich auf sie zugehen und eine normale Unterhaltung mit ihr führen, ohne dass er nervöser wurde, als zu erwarten war. Sie hatte sich ihm sogar einige Male anvertraut und ihm von ihren Eltern erzählt, der Kette und... »Lana!« Whitney Fordmans dröhnende Stimme zerstörte den Moment. »Ich habe überall nach dir gesucht. Oh, hi, Kent.«
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»Whitney.« Clark versuchte ein Lächeln aufzusetzen, als der Oberstufenschüler näher trat, aber ohne viel Erfolg. Fordman war groß, fast so groß wie Clark. Er war außerdem älter, sehr beliebt und – am schlimmsten – Lanas erster fester Freund. »Whitney?« Lana sah in seinen Augen, dass etwas nicht stimmte. »Ist was passiert?« »Du weißt, dass Stu Harrison seit einer Woche wieder im Krankenhaus liegt?« »Ja...? Oh...!« Lana trat zu Whitney und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das ist schlimm, nicht wahr?« »Sehr schlimm. So schlimm, wie es nur sein kann.« Whitney kniff die Lippen zusammen und sah zu Boden. »Sie haben neue Tumore in seinem Gehirn gefunden, diesmal mehrere. Die Ärzte sagen, dass sie nicht mehr viel für ihn tun können. Deshalb hat er sich entschlossen, die Zeit, die ihm noch bleibt, zu Hause zu verbringen.« Tränen traten in seine Augen, und er wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. »Das ist... das ist einfach Mist!« Lana drückte Whitney an sich. »Ich weiß.« »Ich kenne Stu seit dem Kindergarten! Es hat nie einen netteren Kerl gegeben. Stu ist der Beste! Er hat das nicht verdient!« Clark legte eine Hand auf Whitneys Schulter. »Nein, das hat er nicht. Niemand verdient so was.« Whitney sah auf und blinzelte. Er hatte fast vergessen, dass Clark da war. »Ja. Du hast Recht, Kent. Was Stu durchmacht, wünsche ich nicht mal meinem ärgsten Feind.« »Ich habe das Gefühl, dass wir etwas für ihn tun sollten.« Lana biss sich frustriert auf die Lippe. »Wir können nicht viel tun, Süße. Die Ärzte werden Stu mit Medikamenten versorgen, damit es ihm halbwegs gut geht. Einige der Jungs im Team haben darüber geredet, ihn zu besuchen, ihm vielleicht ein paar Comedy-Videos
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mitzubringen – ihr wisst schon, Laurel & Hardy und die Stooges –, um ihn aufzumuntern.« »Das ist eine gute Idee.« Clark dachte einen Moment nach. »Was ist mit seinen Eltern? Wie halten sie sich?« »So gut es geht, aber sie leiden. Meine Mom sagte, dass ihre Versicherung ausgelaufen ist. Sie werden vielleicht eine zweite Hypothek aufnehmen müssen, um die Arztrechnungen zu bezahlen.« »Dann könnten wir vielleicht für sie sammeln. Sie sollten nicht auch noch ihr Haus verlieren. Es ist so schon schlimm genug...« Clark verstummte. »Das ist eine wundervolle Idee, Clark!« Lana zog einen Notizblock aus der Tasche. »Wir könnten einen Wohltätigkeitstanz veranstalten... ein paar Bands engagieren... der Schülerrat wird es sicher sponsern!« »Ja.« Whitneys Augen leuchteten ein wenig auf. »Ja, es wäre gut für Stu zu wissen, dass seine Eltern wenigstens keine Geldsorgen haben.« »Wir sollten den Direktor fragen, ob wir die Aula benutzen dürfen.« Lana notierte ihre Ideen. »Wir werden ein Treffen abhalten müssen, um die Veranstaltung zu planen... vielleicht nach der Schule im Talon. Whitney...?« »Ich wünschte, ich könnte kommen, Süße, aber ich muss heute Abend im Laden arbeiten. Ich kann dich höchstens in die City fahren.« »Das ist schon okay. Es ist ja auch ziemlich kurzfristig.« Sie sah von ihrem Block auf. »Was ist mit dir, Clark? Kannst du dort sein?« »Äh, sicher. Nein, warte...! Ich habe Mr. Ambrose versprochen, ihm im Erdkundelabor bei den Vorbereitungen für die Experimente in der nächsten Woche zu helfen.« Er bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen. Wenn Whitney wüsste, wie verknallt ich immer noch bin, würde er Himmel und Erde in Bewegung setzen, um einen Ersatzmann 57
für seine Schicht im Laden aufzutreiben, dachte er. »Aber das sollte nicht allzu lange dauern. Wenn du Hilfe brauchst, werde ich es schon irgendwie schaffen. Ich werde nur etwas später dazustoßen.« »Das wäre toll, Clark. Es wird eine Menge zu organisieren geben. Bis später!« »Ja, wir sehen uns, Kent.« »Richtig. Bis später.« Clark kehrte eilig in den Studierraum zurück, um seine Bücher zu holen. Zum ersten Mal stand er nicht nur herum und gab sich dem Selbstmitleid hin, während Lana und Whitney zusammen weggingen. Als die letzte Klingel das Ende des Unterrichts ankündigte, machte sich Clark auf den Weg zum Laborflügel. Er erreichte den Hauptkorridor in dem Moment, als Lana und Whitney Arm in Arm das Gebäude verließen. Trotz seiner früheren Entschlossenheit blickte Clark den beiden wehmütig nach, wie sie den Parkplatz überquerten und zu Whitneys Kleintransporter gingen. Lana war mit Whitney seit ihrer ersten Woche in der Highschool zusammen. Der Grund dafür ist leicht zu erkennen, dachte Clark. Er ist Smallvilles Wunderkind. Der Quarterback des Footballteams, seiner Familie gehört ein Kaufhaus... Für einen Farmjungen ist es schwer, mit all diesen Vorzügen zu konkurrieren. Whitney und Lana hatten sich zwar schon ein paar Mal getrennt, waren aber immer wieder zusammengekommen. Selbst als Lana von der »Smallviller Vogelscheuche« erfahren hatte... Die Vogelscheuche war eine alte Footballtradition in der Smallville High. Niemand wusste genau, wie alt sie war, denn nur wenige Schüler sprachen offen darüber. Jedes Jahr vor dem letzten Spiel vor den Ferien wählten ein paar Footballspieler einen Neuling aus, schleppten ihn aufs Riley-Feld, zogen ihn bis auf die Unterwäsche aus, malten ihm ein »V« auf die Brust 58
und fesselten ihn an einen Pfosten. Diese kleine Übung in ritueller Demütigung sollte dem Team Glück bringen. In der Woche vor dem letzten Spiel der letzten Saison hatte Whitney gesehen, wie Clark sich mit Lana vor ihrem Haus unterhalten hatte. In einem Anfall von Eifersucht hatte der Quarterback Clark zur neuen Vogelscheuche bestimmt. Normalerweise wäre es nie so weit gekommen. Clark war stark genug, um es mit dem gesamten Footballteam aufzunehmen. Aber zu der Zeit trug Whitney Lanas Halskette, damit sie ihm im großen Spiel Glück brachte. Unter dem Einfluss der Strahlung des Kristalls war Clark wie ein Sack Ziegelsteine umgekippt. Whitney und zwei seiner Teamkameraden hatten ihn auf dem Feld unweit der Düngemittelfabrik der Luthor Corp angebunden und ihm Lanas Kette um den Hals gelegt, um ihn zusätzlich zu ärgern. »Genieße es«, hatte Whitney gehöhnt. »Denn näher wirst du ihr nicht mehr kommen.« Das Unheimliche war, dass er fast Recht hatte. Dieser grüne Stein hätte ihn beinahe umgebracht. Wenn es der Vogelscheuche nicht gelang, sich selbst zu befreien, wurde sie normalerweise nach dem Spiel losgebunden. Aber das Team war so mit seinem Sieg beschäftigt gewesen, dass es ihn bis zum nächsten Tag vergessen hatte. Wäre Lex nicht vorbeigekommen, wäre wohl etwas Schlimmes passiert. Es war weit nach Einbruch der Dunkelheit gewesen, als Lex Luthor ihn auf dem Feld gefunden hatte. Lex beeilte sich, seinen Freund zu befreien. Dabei hatte sich die Kette gelöst und war zu Boden gefallen, weit genug entfernt, dass Clarks Kräfte zurückkehren konnten. Als Lana von der Sache mit der Vogelscheuche erfuhr, hatte sie sich von Whitney getrennt. Clark stand unweit vom Haupteingang an einem Fenster und verfolgte, wie Fordmans funkelnagelneuer Transporter Lana davontrug. Okay, später 59
waren sie wieder zusammengekommen. Aber Whitney hatte ein paar Trucks zu Schrott gefahren... sein Vater bekam Herzprobleme... und ihm wurde ein Stipendium an der Kansas State verwehrt. Manchmal schien es, als würde er für diese Nacht bezahlen. Der Zeiger der alten Uhr im Hauptkorridor rückte mit einem hörbaren Klicken eine Minute weiter, und Clark fiel sein Versprechen ein, das er Mr. Ambrose gegeben hatte. Er wandte sich von den Fenstern ab und ging durch den Flügel zum Erdkundelabor. Ja, vielleicht hatte Whitney ein paar Mal Pech gehabt, aber seine Probleme waren nichts im Vergleich zu Stuarts. Whitney hatte noch immer sein ganzes Leben vor sich... wie sie alle. Auf halbem Weg zwischen Metropolis und Smallville verließ ein goldener Lamborghini die I-35 und fuhr über den Argonia Pike Richtung Westen. Die alte Kansas-Landstraße war flach und gerade und der Lamborghini schoss bald mit über hundertfünfzig Kilometern pro Stunde an den Maisfeldern vorbei. Hinter dem Lenkrad schob Lex Luthor eine CD in die eingebaute Stereoanlage, und Sekunden später dröhnte aus den Lautsprechern des Zweisitzers der Walkürenritt. Lex lächelte. Das Leben ist gut. Ich habe es geschafft, die Stadt zu verlassen, ohne mich mit meinem Vater herumschlagen zu müssen. Nichts kann diesen Tag verderben. Dann entdeckte er die Sattelschlepper. Es waren mindestens zwei, die mit etwa der Hälfte seiner Geschwindigkeit nur ein paar Kilometer weiter genau an der Stelle über die Straße rumpelten, wo sie eine leichte Biegung nach rechts beschrieb. Wäre Lex noch immer auf der Interstate gewesen, wäre er einfach an ihnen vorbeigerast. Aber er wusste aus Erfahrung, dass diese zweispurigen Nebenstraßen unangenehme Überraschungen bereithalten konnten. Lex trat auf die Bremse, schaltete hastig herunter und schaffte es, knapp 60
zwei Wagenlängen von dem hinteren Truck entfernt seine Geschwindigkeit auf fünfundsiebzig Kilometer pro Stunde zu verringern. Kaum hatte der Lamborghini zu dem Sattelschlepper aufgeschlossen, rumpelte auf der nach Osten führenden Spur ein rostiger alter Kleintransporter vorbei. Als der Transporter in seinem Rückspiegel kleiner wurde, bemerkte Lex das vertraute Luthor-Corp-Logo am Heck. Das wäre eine peinliche Art zu sterben gewesen, begraben unter einer Wagenladung des Produkts der Firma. Vor allem dieses speziellen Produkts, dachte Lex. Lex atmete ein paar Mal tief durch, fiel drei weitere Wagenlängen zurück und nahm sich Zeit, die frisch aufgemalten Markierungen am Heck des vor ihm fahrenden Sattelschleppers zu betrachten. Große Buchstaben an den Doppeltüren verkündeten: ERFÜLLE DEIN SCHICKSAL! In der Mitte befand sich eine sonderbare Grafik, die wie eine seltsam verschlungene Strickleiter aussah. Und in der Tat stand unter der Grafik www.KosmischeLeiter.com. Nach einem Moment dämmerte Lex, dass die Grafik eine abstrakte Darstellung der DNS-Helix war. Was zum Teufel wollen die denn verkaufen? Und wie weit gehen sie? Lex drückte einen Knopf an seinem Soundsystem, woraufhin die wagnerianischen Klänge abrupt abbrachen und von dem statischen Knacken des CB-Funkgeräts ersetzt wurden. »Lil’ Duck, hier ist Mutter Duck... siehst du, was uns folgt? Kommen?« »Hoo-wee, ich seh’s. Das ist mal eine tolle Kiste... was könnte es sein?« Lex nahm einen kabellosen Kopfhörer aus einem Fach unter seinem Sitz und schaltete das Mikro ein. »Breaker Eins-neun, hört ihr mich, Ducks? Es ist ein Lamborghini Diablo SechsKomma-Null.« »Hier ist Mutter Duck... hallo, Fremder. Wer bist du? Wie ist deine Kennung?« 61
»Ich fahre den Diablo. Ihr könnt mich...« Lex grinste hämisch, als er mit der Hand über seinen haarlosen Schädel fuhr. »... Meister Propper nennen. Wohin seid ihr Jungs unterwegs?« »Zu einem großen Fleck an der Straße namens Smallville, Meister Propper. Schon davon gehört?« Lex unterdrückte einen enttäuschten Seufzer. »Das habe ich, Ducks. Ich fahre ebenfalls in diese Richtung. Hättet ihr was dagegen, mich vorbeizulassen?« »Ganz und gar nicht, Propper. Unsere Kolonne besteht nur aus den beiden großen Trucks und einem Wohnmobil an der Spitze. Vor uns liegt eine gerade, leere Straße ohne jeden Gegenverkehr. Drück das Pedal durch und rausche einfach vorbei. Ich würde gern sehen, was für eine Karre du fährst. Kommen.« »Vielen Dank, Ducks!« Lex lenkte den Lamborghini auf die linke Spur und drückte das Gaspedal bis zum Boden durch. Er schoss an den Sattelschleppern und dem Wohnmobil an der Spitze vorbei, als würden sie still stehen. Sekunden später waren sie nur noch ein großer Fleck in seinem Spiegel. »Viel Spaß bei eurem Besuch in Smallville.« Weit hinter ihm ließen die Trucker noch immer die Scheinwerfer aufblitzen und hupten grüßend. »He?« Don Jacobi erwachte gerade noch rechtzeitig auf dem Beifahrersitz des Wohnmobils, um den Lamborghini am Horizont verschwinden zu sehen. »Was war das?« James Wolfe saß mit offenem Mund am Lenkrad. »Ich bin mir nicht sicher. Aber es war golden und es hatte Räder.«
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5 CLARK SAH AUF SEINE UHR, als er die Haupttreppe der Schule hinuntersprang und sich den kürzesten Weg bis zum Café Talon überlegte. Clark wusste, dass er in weniger als einer Minute die City erreichen konnte, aber er konnte schlecht mit Höchstgeschwindigkeit durch das Zentrum von Smallville rennen. Glücklicherweise lagen jedoch noch immer ein paar unbebaute Grundstücke zwischen dem Schulgelände und der Stadtmitte. Sobald er sie erreichte, konnte er unbeobachtet den halben Weg zum Talon laufen. Clark wollte gerade den Parkplatz überqueren, als eine dröhnende Autohupe seine Aufmerksamkeit erregte. Er drehte sich um und sah einen exotischen goldenen Wagen nur einen Meter entfernt halten. Das konnte nur Lex sein. Als Clark näher trat, schwang die Beifahrertür nach oben auf. »Hallo da drinnen!« »Hallo da draußen! Ich dachte mir schon, dass du es bist, Clark. Soll ich dich mitnehmen?« »Sollen? Nein. Würde ich mich freuen? Darauf kannst du wetten!« Clark schlüpfte hinein und sank in den weichen Ledersitz. »Oh, das ist zu viel.« »So etwas wie zu viel gibt es nicht, Clark.« Lex legte einen Schalter um und schloss und verriegelte den Wagen. Der Lamborghini rollte unter den bewundernden und neidischen Blicken einiger Lehrer, die an einer Reihe bescheidenerer Fahrzeuge standen, über den Parkplatz. »Wohin?« »Zum Talon.« »Gute Idee. Ich könnte einen Milchkaffee gebrauchen.« »Darf ich fragen, wie schnell diese Kiste fährt?« »Sagen wir einfach, dass sie mühelos die Höchstgeschwindigkeit überschreiten kann.«
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Clark schüttelte den Kopf. »Und ich bin sicher, dass du das schon des Öfteren ausprobiert hast.« Lex lachte. »Du hättest vorhin dabei sein sollen. Ich war der Inbegriff des rücksichtsvollen Fahrers.« Clark blickte skeptisch drein. »Wirklich. Ich habe sogar den notwendigen Sicherheitsabstand eingehalten, als ich einem Truck gefolgt bin.« Lex hielt an und sah nach rechts und links, bevor er auf die Hauptstraße bog. »Im Ernst. Ich weiß, dass ich einen Bleifuß habe, aber ich arbeite daran.« »Gut. Mach das.« Denn das nächste Mal, wenn du von einer Brücke stürzt...!, fügte Clark in Gedanken hinzu. »Es gibt keine Garantien im Leben, Clark. Wenn ich noch einmal einen Sprung von einer Brücke mache, wirst du vielleicht nicht da sein, um mich herauszuziehen.« Clark blinzelte überrascht. »Das... genau das habe ich gerade gedacht.« »Was soll ich sagen?« Lex grinste. »Große Geister denken ähnlich.« »Vermutlich.« Aber nicht genau gleich. Clark sah seinen Freund an und erinnerte sich an den Tag, an dem sie sich kennen gelernt hatten. Lex hatte an diesem Tag seine eigene Sterblichkeit erfahren. Er hingegen hatte zum ersten Mal auf schmerzhafte Weise erfahren, wie anders er wirklich war... Der Unfall hatte sich erst vor ein paar Monaten ereignet, an dem Tag, als Lex Luthor in die Stadt zog, um die Geschäftsführung der Düngemittelfabrik der Luthor Corp zu übernehmen. Clark war über die Old-Mill-Brücke geschlendert und hatte gedankenverloren ins Wasser gestarrt. Er nahm kaum den vorbeifahrenden Laster wahr, der am Rand der Brücke über ein Schlagloch holperte. In dem Moment, als sich ein funkelnagelneuer Porsche, hinter dessen Steuer Lex saß, aus
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der entgegengesetzten Richtung näherte, verlor der Lastwagen eine Rolle Stacheldraht. Da klingelte Lex’ Handy. Vorübergehend abgelenkt griff er danach und bemerkte zu spät die Stacheldrahtrolle in seinem Weg. Lex ließ das Handy fallen und trat auf die Bremse, aber es war bereits zu spät. Der Porsche traf die Rolle, sodass beide Vorderreifen platzten, verlor die Bodenhaftung – und flog direkt auf Clark zu. Einen Sekundenbruchteil lang trafen sich die Blicke der beiden jungen Männer. Beide erstarrten. Lex hatte keine klare Erinnerung an das, was als Nächstes geschah, aber Clark erinnerte sich nur zu gut. Der Porsche traf ihn mit der Wucht von zweieinhalb Tonnen und drückte ihn durch das Brückengeländer. Im freien Fall schnappte Clark reflexartig nach Luft, kurz bevor er und das Fahrzeug in den Fluss stürzten. Unter Wasser brauchte er mehrere Sekunden, um zu sich zu kommen. Der Fluss war an diesem Tag kalt, doch Clark spürte nichts davon. Als er sich umdrehte und sich zu orientieren versuchte, entdeckte er den Porsche, dessen eingedrücktes Vorderteil sich in das Flussbett gebohrt hatte. Und durch die zersplitterte Windschutzscheibe sah er den Fahrer, bewusstlos, dessen Kopf auf dem Airbag lag, aus dem die Luft entwich. Mit zwei schnellen Schwimmzügen tauchte Clark zum Porsche hinunter. Er erreichte die klaffende Öffnung, wo sich zuvor die Windschutzscheibe befunden hatte, packte das Wagendach und riss es mit einem Ruck ab. Dann beugte er sich hinunter in das Wrack, zog den Fahrer heraus und schwamm mit ihm hinauf zur Oberfläche. Lex’ Lippen liefen bereits blau an, als Clark ihn an das steinige Ufer zog. Wie er es im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte, kniete sich Clark über den kahlköpfigen Mann und drückte seinen Kopf zurück. Die Luftröhre schien frei zu sein, aber er atmete nicht. Er hielt Lex die Nase zu, holte erneut tief Luft, legte seinen Mund auf den des Opfers und blies eine Lunge 65
voll Luft in die bewusstlose Gestalt. Clark überprüfte den Puls, konnte jedoch keinen finden. Er legte seine Hände auf Lex’ Brustbein und drückte wieder und wieder zu. »Komm schon, stirb mir bloß nicht!« Er drückte erneut zu und Lex kehrte plötzlich ins Leben zurück, drehte den Kopf und spuckte eine Lunge voll Flusswasser aus. Vor Kälte und Schock zitternd, blickte Lex auf. Er brauchte ein paar Sekunden, um klar sehen zu können. Dann starrte er Clark mit einer Mischung aus Staunen und Unglauben an. »Ich könnte schwören, dich angefahren zu haben.« »Nun, hättest du’s getan, wäre ich jetzt... ich wäre tot.« Clark sah zu der Brücke mit dem beschädigten Geländer hinüber. Und dann dämmerte ihm im vollen Umfang, was passiert war. Clark spürte eine stechende Kälte, ein eisiges Gefühl, das er unter Wasser nicht einen Moment empfunden hatte. Er starrte seine Hände an, die Hände, die zerbrochenes Glas gepackt und Stahl zerrissen hatten... sie wiesen nicht einen Kratzer auf. Sein Rücken schmerzte nicht. Er fuhr sich mit der Hand über die Brust. Sie war an der Stelle, wo ihn der Wagen getroffen hatte, etwas wund... aber da war kein Blut, keine gebrochenen Knochen. Clark fiel auf ein Knie, schwankte einen Moment und schaffte es trotzdem irgendwie, sitzen zu bleiben, statt auf den steinigen Boden zu sinken. Lex setzte sich auf und zitterte, als der Wind durch seine durchnässte Kleidung pfiff. »Bist du okay?« »Ja.« Clarks Stimme klang in seinen eigenen Ohren fremd und leise, als würde sie aus weiter Ferne dringen. »Ja, mir geht’s gut.« Ihm ging es tatsächlich gut – und genau das war das Problem. Clark war noch nie in einen Unfall verwickelt gewesen. Als er aufwuchs, war ihm nach und nach bewusst geworden, dass er stärker, schneller, zäher als die anderen Kinder war. Seine Eltern hatten ihn immer gemahnt, seine Körperkraft geheim zu 66
halten und keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das hatte er getan. Aber bis zu diesem Moment war ihm nicht klar gewesen, wie robust er wirklich war. Als der Deputy Sheriff und die Rettungssanitäter eintrafen, akzeptierten sie alle Clarks Geschichte... dass er auf der Brücke gewesen war, als Lex die Kontrolle über seinen Wagen verloren hatte, dass er hinterher gesprungen war und Lex herausgezogen hatte. »Es ging alles ziemlich schnell.« Eine bessere Erklärung war Clark nicht eingefallen. Was auch nicht nötig war. Sie hätten die Wahrheit ohnehin nicht geglaubt. Zu jener Zeit war ich mir nicht mal sicher, ob ich selbst es glaube, dachte er. »Ich schulde dir noch immer mein Leben, ist dir das klar?« Lex sah Clark an. »Nein, das tust du nicht. Wir sind quitt. Du hast mich davor bewahrt, die Vogelscheuche zu spielen.« Lex schüttelte den Kopf. »Ich kann noch immer nicht glauben, dass du gegen diese Idioten keine Anzeige erstattet hast. Du bist viel zu nachsichtig.« »Keine Sorge, Lex. Ich habe mich schon um sie gekümmert.« Während Whitney und seine Freunde den Tanz zur Feier des letzten Spiels vor den Ferien genossen hatten, hatte Clark ihre Kleintransporter auf dem Schulparkplatz entdeckt – und sie wie Pfannkuchen fein säuberlich übereinander gestapelt. Das war für den örtlichen Abschleppdienst zu viel gewesen. Sie hatten einen Kran heranschaffen müssen, um die Wagen wieder auf den Boden zu bekommen. Er hatte es ihnen auf seine Weise heimgezahlt... Clark sah sich um, als Lex den Lamborghini in das Herz von Smallvilles Innenstadt steuerte. »Wir ziehen eine Menge Blicke auf uns.«
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»Das ist nichts Neues für mich. Keine Sorge, sie können durch das getönte Glas nichts erkennen. Du kannst ihnen Grimassen schneiden, wenn du willst.« »Hast du jemals...?« »Schon seit Jahren nicht mehr.« Lex grinste seinen Beifahrer an. »Aber in der Zeit, nachdem ich meine Haare verloren hatte... schon. Die ersten beiden Jahre waren am schlimmsten. Die Leute nahmen an, ich würde eine Chemotherapie machen, aber als sie herausfanden, dass das nicht der Fall war, fingen sie an, Witze über Kahlköpfige zu reißen.« »Kids können ziemlich gemein sein.« »Ja, Kids auch.« Lex hielt an einem Stoppschild an. »Nach einer Weile habe ich gelernt, es zu überhören. Davor waren meine Spitznamen ›der Rote‹ und ›Pfeifer‹.« »Okay, ›der Rote‹ wegen deiner Haare. Aber warum ›Pfeifer‹?« »Ich hatte früher Asthma.« »Das wusste ich nicht.« »Inhaliergeräte sind meine ältesten Freunde. Mein Zustand verbesserte sich, kurz nachdem ich meine Haare verlor. Wahrscheinlich hatte das alles mit dem verdammten Meteoritenschauer zu tun.« Clark dachte darüber nach. Er wusste, dass Lex Smallville vor Jahren zum ersten Mal besucht hatte. Er war zusammen mit seinem Vater Lionel eingetroffen, der in die Gegend gekommen war, um ein Geschäft abzuschließen. Während Lionel einen Kaufvertrag für die Maisverarbeitungsfirma der Ross-Familie unterschrieben hatte, war Lex über die Felder gewandert. Und dann schlugen die Meteore ein. Der erste hatte nicht weit von Lex entfernt den Boden getroffen. Der Rückprall hatte ihn von den Beinen geworfen und ihn vorzeitig erkahlen lassen. »Du denkst also, die Meteore haben dein Asthma geheilt?«
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Lex zuckte die Schultern. »Vielleicht haben sie das. Vielleicht hat es aber auch nur mit dem Älterwerden zu tun. Aber ich bin sicher, dass deine Freundin Chloe die erste Erklärung vorziehen würde.« »Um eine Landmeile, wie mein Dad zu sagen pflegt. Trotzdem ist es komisch. Ich habe in dir nie einen von Chloes Meteorfreaks gesehen.« »Oh, danke, Clark. ›Kein Freak‹... das ist eins der schönsten Komplimente, die ich in diesem Monat bekommen habe. Mit einem derartigen Charme ist es kein Wunder, dass die Mädchen auf dich fliegen.« »Nein, nein! Ich meinte...!« »Nur ein Witz, Clark. Ich weiß, was du meintest.« Lex lächelte. »Es ist nicht immer leicht, mein Freund zu sein, nicht wahr?« »Nun, du bist anders. Dieser Wagen muss mehr gekostet haben als die meisten Häuser meiner anderen Freunde.« »›Anders‹, eh? Sehr diplomatisch. Ah, wir sind da...« Lex bugsierte den Wagen geschickt in eine Parklücke am Rinnstein, knapp sieben Meter von der Tür des Talon entfernt. »... Smallvilles bestes neues Café mit angeschlossener Buchhandlung.« »Du meinst Smallvilles einziges Café mit angeschlossener Buchhandlung.« »Da ist wieder dieser Charme.« Lex und Clark stiegen aus dem Lamborghini und wurden vom Dröhnen einiger Lasterhupen begrüßt. Die Fahrer zweier Sattelschlepper winkten wild, während sie einem Wohnmobil durch die Stadt folgten. Lex lachte nur und winkte zurück. Clark blickte verwirrt drein. »Haben sie etwa den alten ›Meister Propper‹-Jingle gesungen?« »Das ist durchaus möglich.« »Wer sind sie? Und was ist ›KosmischeLeiter.com‹?«
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»Ich weiß es nicht, Clark. Aber ich habe vor, es herauszufinden.« Das Wohnmobil fuhr in der Innenstadt von Smallville an den Straßenrand und James Wolfe lehnte sich aus dem Fenster. Er rief dem Fahrer des vorderen Trucks zu: »Es wird nicht lange dauern. Weiter die Straße hinauf gibt es einen Imbiss. Ihr könnt eine Pause machen und wir werden zu euch stoßen, sobald die Papiere unterschrieben sind.« »Sicher. Sie sind der Boss.« »Wenn ich wirklich der Boss wäre, wäre ich kaum hier«, murmelte Wolfe leise. Er blickte auf, als Jacobi aus der Toilette des Wohnmobils kam. »Fertig?« »Frisch, sauber und bereit fürs Geschäft. Wir sollten die Bankleute nicht warten lassen.« Wolfe blickte auf und folgte Jacobi in die Smallviller Sparkasse. Selbstbewusst trat Jacobi an eine Reihe Schreibtische und wandte sich an einen der Angestellten. »Mr. Eaton?« »Ja?« Ein erkahlender Mann blickte von einem Computermonitor auf. »Ich bin William Eaton. Kann ich Ihnen helfen?« Jacobi streckte eine Hand aus. »Ich bin Doktor Donald Jacobi und das ist mein Partner Mr. Wolfe. Wir haben Anfang der Woche miteinander telefoniert... es ging um ein freies Grundstück.« »Oh, ja. Ja!« Eaton stand auf und schüttelte beflissen die ausgestreckte Hand. »Es ist schön, Sie persönlich kennen zu lernen, Doktor Jacobi... Mr. Wolfe. Bitte nehmen Sie Platz. Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?« »Nein, danke, William. Darf ich Sie William nennen?« »Sagen Sie bitte Will zu mir.« »Will, wir arbeiten unter erheblichem Zeitdruck und würden diesen Papierkram gern so schnell wie möglich erledigen.« 70
»Natürlich, Doktor. Ich habe die fertigen Verträge hier liegen. Sie müssen sie nur noch unterschreiben.« »Ausgezeichnet. James, würdest du dich darum kümmern?« Wolfe zog eine Lesebrille aus seiner Anzugtasche und sah die Papiere durch. »Ich denke, Sie werden feststellen, dass alles in Ordnung ist.« Eaton lächelte die beiden Männer an. »Es ist ein normaler dreimonatiger Pachtvertrag mit Kaufoption... fünfzig Morgen erstklassiges Land mit Haus und Scheune... ein sehr guter Kauf.« Wolfe runzelte die Stirn. »Wenn das Land in einem derart guten Zustand ist, warum wurde es dann zwangsvollstreckt?« Eaton gab einen leisen, bedauernden Seufzer von sich. Es klang wie ein alter Reifen, aus dem die Luft entwich. »Es war eine kleine Familienfarm und es gab einen Todesfall in der Familie. Die Erben waren nicht in der Lage, die Farm erfolgreich zu bewirtschaften, und... nun, wir haben nur höchst ungern die Zwangsvollstreckung eingeleitet, aber nach einer Weile blieb uns keine andere Wahl. Außerdem hatte ich den Eindruck, dass Sie die Farm nicht weiterführen, sondern für andere Zwecke benutzen wollten.« »Ja, das ist der Fall. Unsere Stiftung wird eine Reihe von Vorträgen und Fortbildungsseminaren durchführen. Ich erwarte, dass wir während unseres Aufenthalts eine große Zahl von Besuchern anziehen werden. Viele unserer Teilnehmer werden weite Strecken zurücklegen und Parkmöglichkeiten und vielleicht sogar eine vorübergehende Unterkunft benötigen.« »Ah, ja! Wo habe ich das notiert?« Eaton blätterte in seinen Unterlagen. »Ihre früheren Mitteilungen deuteten an, dass sie einen Teil des Grundstücks vielleicht als eine Art Campingplatz benutzen wollen?« »Das ist richtig.« Wolfe runzelte erneut die Stirn. »Und wir wollen sichergehen, dass wir gegen keine Vorschriften 71
verstoßen. Haben Sie auf unsere Bitte hin die Grundbucheintragung überprüft?« »Ja, ja. Ich habe die Bestätigung des Countys hier liegen. Sie können das Land für den von Ihnen beschriebenen Zweck nutzen. Ich habe alle Genehmigungen, die Sie brauchen werden. Sobald alles unterschrieben ist, kann ich sie für Sie notariell beglaubigen lassen und beim Gericht einreichen.« Jacobi strahlte den Bankmanager an. »Ich wusste, dass Sie ein Mann sind, auf den wir uns verlassen können, Will. Nun, James?« Wolfe blickte von den Papieren auf und ließ die Andeutung eines Lächelns über sein Gesicht huschen. »Alles ist hier, genau wie es Mr. Eaton beschrieben hat. Ich glaube, wir haben nur noch eine letzte Bedingung zu erfüllen.« Er griff wieder in seine Innentasche und brachte diesmal einen riesigen Briefumschlag zum Vorschein. »Hier ist ein Barscheck über den vollen Pachtbetrag. Außerdem werden wir binnen einer Woche mehrere Konten bei der Smallviller Sparkasse einrichten, um unsere Ausgaben besser handhaben zu können, solange wir in der Gegend sind.« »Ich nehme an, das alles ist zufriedenstellend, Will?« »Überaus zufriedenstellend, meine Herren! Wir freuen uns, Ihre Konten zu führen.« »Gut. Nun, wo sollen wir unterschreiben?« Im Uptown Diner setzten sich Marc Greenwood und Mac Raeburn an die Theke und schnüffelten hungrig. In der Luft hing der Duft von Kaffee und gebratenen Zwiebeln. »Kaffee, die Herren?« Edna Mae Benson trat mit zwei großen Tassen in der einen Hand und einer frischen Kanne in der anderen heran. »Die Spezialitäten des Tages sind Leber mit Zwiebeln und Beef Manhattan. Zu beiden Menüs gibt es zwei Beilagen und Nachtisch.«
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Mac nahm eine der Tassen in die Hand und schenkte Edna Mae sein charmantestes Grinsen, als sie einschenkte. »Das klingt sehr verlockend, Süße, aber wir fahren die großen Schlepper und mein Magen ist den ganzen Monat schon an die Pazifikzeit gewöhnt. Ich fürchte, für mich ist es noch zu früh, um ans Abendessen zu denken.« Marc blätterte in der in Folie eingeschweißten Speisekarte. »Aber die Idee mit dem Nachtisch gefällt mir.« Hinter ihm bemerkte eine Stimme: »Ich hörte, der Kuchen soll besonders gut sein.« Edna Maes Augen wurden groß, als Lex Luthor in den Imbiss schlenderte und neben den Truckern Platz nahm. Sie hatte ihn schon früher durch die Stadt fahren sehen, in dem einen oder anderen schicken Wagen, aber noch nie hatte sie ihn den Imbiss betreten sehen. »He, das ist unser Kumpel Meister Propper!« Mac klopfte Lex auf die Schulter. »Mann, ich muss Ihnen sagen, Ihr Schlitten ist das Tollste, was ich je einen NASCAR-Truck überholen gesehen habe. Was haben Sie unter der Haube? Einen V-8?« »Einen V-12, um genau zu sein. Und Sie müssen... ›Mutter Duck‹ sein?« »Völlig richtig. Ich bin Mac und das ist Marc. Er ist Lil’ Duck und ich bin die Mutter!« »Und ob er das ist!«, schnaubte Marc. »Aber Sie sagten was von Kuchen?« Lex wies auf ein Schild an der Wand. »Er wird jeden Tag frisch gebacken. Was ist der Kuchen du jour, Edna Mae?« »Wa...?« Edna Mae war geschmeichelt, dass Lex ihren Namen kannte, und vergaß dabei, dass er auf ihre Bluse gestickt war. »Oh... Kuchen. Nun, heute haben wir Apfel, Blaubeere, Pfirsich, Ananas und Süßkartoffel-Pecannuss. Und ich glaube, es sind auch noch ein paar Portionen Bananencreme übrig. Ich könnte nachsehen...!« 73
»Nicht nötig, Süße. Ich nehme ein Stück von diesem Ananaskuchen.« Marc klappte die Speisekarte zu. »Süßkartoffel-Pecannuss für mich.« Edna Mae sah Lex erwartungsvoll an. »Und Sie, Sir?« »Nur Kaffee. Mit Milch. Und alles geht auf mich.« »He, danke, Alter.« »Es ist mir ein Vergnügen. Nun, was führt Sie in diese Gegend, Mac?« »Oh, wir transportieren nur was. Der Doc und sein Kumpel haben uns engagiert, um ihre Ausrüstung hierher zu bringen. Sobald wir unser Ziel erreichen, müssen Marc und ich wieder los. Wir sollen morgen in Albuquerque sein.« Mac trank einen großen Schluck Kaffee. »Deshalb haben sie Leute angeheuert, die später abladen und das Zelt aufstellen werden.« »Das Zelt?« »Ja, sie haben für irgendeine Show ein Grundstück vor der Stadt gemietet. Ein ziemlich großes, schätze ich.« »Wirklich...?« Clark war von der Gruppe beeindruckt, die Lana zusammengetrommelt hatte, um die Wohltätigkeitsveranstaltung zu besprechen. Außer ihr waren noch drei Mitglieder des Konzertkomitees des Schülerrates, Chloe Sullivan und Jeff Hetzel, der Audiozauberer der Schule, gekommen. Als Clark eintraf, kreiste die Diskussion um technische Fragen. Lana warf einen Blick auf ihre Liste. »Und was ist, wenn eine Gruppe ihre eigene Soundanlage benutzen will?« »Kein Problem!« Jeff reichte ihr ein schematisches Diagramm, das er gezeichnet hatte. »Ich würde ihre Anlage hier vorne aufstellen und ihren Verstärker mit unserem System verbinden...« Er fügte ein paar Pfeile hinzu. »... als Ersatz für den Notfall.« 74
»Das ist toll – ich kann dem nur zustimmen!« Lana blickte zu Jeff auf. »Gibt es irgendeine Chance, dass du meinen Algebrakurs unterrichten wirst?« Jeff lachte. »Glaub mir, es würde dir nicht gefallen. Mathematik gehört nicht gerade zu meinen Lieblingsfächern.« Er legte den Kopf zur Seite und verneigte sich halb. »Aber vielen Dank für das Kompliment.« Lana lächelte und errötete leicht, und Clark musste ein Grinsen unterdrücken. Schade, dass Whitney nicht hier war, um das zu sehen. Er wäre bestimmt ausgeflippt! Clark, der zufälligerweise wusste, dass Jeff mit einem sehr netten Mädchen zusammen war, das er seit der Grundschule kannte, spürte nur einen leisen Anflug von Eifersucht. Um genau zu sein, er entschied sich, diese Verneigung zu üben. Das war ein netter Gag! Nach einer hitzigen Diskussion darüber, welche Bands sie ansprechen sollten, bildeten sich kleine Gruppen, und Clark winkte Chloe zur Seite. »Ich habe mich verspätet. Wie kommt es, dass du zu dieser kleinen Versammlung gestoßen bist?« »Es war wie bei dir, Lana hat mich gefragt. Sie meinte, ich wäre die Richtige, um die Werbetrommel zu rühren.« Chloe sah, wie seine Mundwinkel zuckten. »Lach nicht!« »Tut mir Leid.« »Ich bin die Richtige!« »Ich habe nie etwas Gegenteiliges behauptet, Chloe.« Clark trank einen Schluck Kaffee. »Es ist nur so, dass diese Sache nichts Merkwürdiges oder Mysteriöses an sich hat.« »Ich schreibe alle möglichen Artikel für die Fackel. Und als Redakteurin bin ich für die Berichterstattung über alle möglichen Dinge verantwortlich, angefangen von der Stipendienvergabe bis hin zu...« »Sport?« Er grinste, denn er kannte ihre Abneigung gegen Sportler. »Ja.« Chloe biss die Zähne zusammen. »Sogar Sport.« 75
»Na ja, ich schätze, die Arbeit an einer Highschoolzeitung kann nicht immer glamourös und aufregend sein.« »Hör auf! Das ist für einen guten Zweck.« »Du hast Recht. Es tut mir Leid. Du wirst als Werbefrau großartige Arbeit leisten.« »Danke. Und ich bin sicher, dass ich auf dich und Pete als Helfer zählen kann.« »Natürlich kannst du das.« »Kann ich?« »Sicher.« Clark stellte seine Tasse ab. »Ich dachte mir schon, dass du mich darum bitten wirst, als du die Werbung erwähnt hast. Deshalb habe ich vorbeugend schon mal ein paar Sprüche geklopft.« Chloe bohrte einen Finger in seine Brust. »Du bist ein gerissener Mann, Clark Kent. Fast so gerissen wie ich. Manchmal.« Lana kam mit einem optimistischen Grinsen auf dem Gesicht herüber. »Ich denke, wir haben dafür, dass es das erste Treffen war, viel erreicht. Charlie und Sylvia kennen alle lokalen Bands und Harry hat Kontakt zu einem Konzertagenten in Metropolis. Er glaubt, die Chancen stehen gut, dass wir eine bekannte Gruppe engagieren können. Eine Menge hängt von dem Zeitplan ab. Man hat uns bereits die Aula für den ersten Samstag im nächsten Monat zugesagt.« »Es gibt noch einen anderen Faktor, den ihr vielleicht in Betracht ziehen solltet.« Lex schlenderte mit einer kleinen Ledertasche durch das Café. Bevor irgendjemand weitere Fragen stellen konnte, winkte er einer vorbeikommenden Kellnerin zu. »Einen doppelten Milchkaffee, bitte, und ein Mandelcroissant. So schnell es irgendwie möglich ist. Und ein Glas Wasser ohne Eis. Ich brauche etwas, um meinen Gaumen zu reinigen.« Lex nahm an einem Ecktisch Platz, während sich Lana, Clark und Chloe um ihn versammelten. 76
Lana blickte besorgt drein. »Wovon redest du, Lex?« »Hat es irgendetwas mit diesen Sattelschleppern zu tun?«, fragte Clark. »Stopp, stopp!« Chloe hob beide Hände. »Welche Sattelschlepper?« »Einen Moment...!« Lex nahm das Glas Wasser, das ihm die Kellnerin reichte, und stürzte ein Drittel davon sofort hinunter. »Jetzt geht’s mir besser. Eine Warnung: Solltet ihr jemals ins Uptown Diner gehen, verzichtet auf den Kaffee.« »Warte!« Chloe keuchte ungläubig. »Du – Lex Luthor – warst im Uptown? Was hast du da gemacht? Dieser Laden würde nicht mal vom Gesundheitsamt einen Stern bekommen!« »Nicht das Milieu, in dem ich mich normalerweise aufhalte, aber auf seine heruntergekommene Art ein bezauberndes Etablissement. Der Kaffee dort ist allerdings ein Verbrechen gegen die Natur. Ich glaube, sie gießen ihn noch immer in Kesseln auf. Ah...!« Lex nahm dankbar den Milchkaffee entgegen, umfasste die Tasse mit beiden Händen und genoss das Aroma, das er verströmte, während er darauf wartete, dass er abkühlte. »Nun, um eure Fragen zu beantworten... Ich bin ins Uptown gegangen, um Informationen zu sammeln.« Er prostete Chloe mit seiner Tasse zu. »Ich hoffe, dass Sie als Journalistin mein Opfer zu schätzen wissen, Ms. Sullivan.« Chloe legte eine Hand ans Herz. »Ich werde mich immer daran erinnern. Also, was hast du herausgefunden?« Lex trank einen Schluck von seinem Milchkaffee und lächelte selig. »Dass Smallville einige neue Besucher beherbergen wird. Die beiden Sattelschlepper, die Clark und ich vorhin gesehen haben, transportieren die Ausrüstung für irgendeine Attraktion, die in diese Gegend kommt. Um was genau es sich handelt, muss noch in Erfahrung gebracht werden. Aber es gehören ein Zelt, eine umfangreiche Audioanlage und eine Laserlightshow dazu.« 77
»Du meinst... wie bei einem Konzert?« »Die Männer, mit denen ich gesprochen habe, waren sich nicht sicher, Lana. Sie konnten mir nur sagen, dass sie von zwei Männern namens Jacobi und Wolfe engagiert wurden.« Lex nahm einen Bissen von dem Croissant und kaute nachdenklich. »Jacobi ist offenbar ein Doktor, nur was für einer, wussten die Männer nicht. Jacobi und Wolfe haben heute Nachmittag einen Termin bei der Sparkasse gehabt, doch als ich das erfuhr, hatte sie bereits geschlossen.« »Jacobi und Wolfe... Jacobi und Wolfe.« Chloe blickte nachdenklich drein. »Klingt nach einer Anwaltskanzlei. Oder vielleicht Veranstalter?« »Lass sie bitte keine Konzertveranstalter sein.« Lana zappelte nervös. »Das könnte alles ruinieren.« Clark berührte sanft Lanas Schulter. »He, es hat keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, bevor wir nichts Genaueres wissen. Richtig, Lex?« »Absolut.« Lex schwieg, um einen weiteren Schluck zu trinken. »Wie auch immer, Lana, ich habe den Eindruck, dass es sich um etwas anderes als ein Konzert handelt. Glaube mir, ich will der Sache genauso auf den Grund gehen wie du. Ich werde ein paar Anrufe machen. Aber in der Zwischenzeit sollten wir nachsehen, was wir in der Höhle des Löwen finden, einverstanden?« Lex öffnete den Reißverschluss der Ledertasche und klappte einen silbergrauen Laptop auf. Er drückte einen verborgenen Knopf und das System war eine Sekunde später hochgefahren. Zwei weitere Klicks und er war online. »Ich liebe das 21. Jahrhundert.« Chloe bekam Stielaugen. »Was hast du in diesem Ding?« »In meinem Reiselaptop? Nicht besonders viel.« Er tippte www.KosmischeLeiter.com ein und sofort erschien eine Homepage. »Wahrscheinlich muss ich ihn bald upgraden. Sieht aus, als hätten sie sich einige Mühe gemacht. Gutes Website78
Design. Schöner, schneller Aufbau der Homepage.« Lex las laut das Banner vor. »›Willkommen bei der AufstiegsStiftung!‹« Clark sah über seine Schulter. »›Erfülle dein Schicksal!‹ Das war der Slogan, der auch am Heck der Sattelschlepper stand.« Lex ging ins Hauptmenü der Site und klickte ›Geschichte‹ an. Die anderen traten näher, als eine aufwändigere Webpage erschien. Alle lasen schweigend die Seite. Schließlich fragte Lex in die Runde: »Hat irgendjemand Erfahrung mit derartigen Konzepten?« »Sicher, mit einigen von ihnen.« Alle drehten sich zu Jeff um. Er wartete einen kurzen Moment und fügte dann hinzu: »Wenn ich in Dungeons and Dragons einen Priester spiele!«
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6 SAMSTAGMORGEN GEHÖRTE JONATHAN KENT zu den Ersten, die sahen, wie das Zelt aufgestellt wurde. Er hatte gerade das Haus verlassen, um Viehfutter einzukaufen, als er zwei Kleintransporter entdeckte, die am Rand der Old Carter Road standen. Jonathan, der die Transporter erkannte, hielt an und rief nach ihren Besitzern. »Bob... Forrest?« »Morgen, Jon! Komm, sieh dir das an!« Jonathan folgte den Stimmen und gesellte sich zu seinen Nachbarn, die an einem neuen Zaun standen. Von dort aus konnten sie etwa ein Dutzend Männer beobachten, die über fast ein Morgen Land verteilt waren und dabei waren, das Farmland zu bearbeiten. Laster kippten Wagenladungen Kies auf einen gewundenen Weg. Mächtige Metallpfosten wuchsen aus der Prärie. Mit einem dicken Nylonseil wurde hellweißes Segeltuch über ein Gerüst aus Stangen und Kabeln gezogen. »Sie sind gestern Nacht angekommen.« Bob Gundersen deutete auf die Baustelle. »Es gab Gerüchte, dass jemand von außerhalb die alte Davis-Farm pachten wollte, aber etwas Derartiges habe ich nicht erwartet.« »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was sie da aufbauen.« Forrest Morrison nahm seine Kappe ab und kratzte sich am Hinterkopf. »Als ich sah, wie sie Sägemehl verstreuten und dieses Segeltuch anbrachten, war mein erster Gedanke, dass ein Zirkus in die Stadt gekommen ist. Aber wenn sie nicht irgendwo noch mehr Segeltuch verstecken, wird dieses Zelt nicht groß genug sein. Und es ist an einem Ende weit offen.« »Das ist kein Zirkus.« Bob schirmte seine Augen mit einer Hand ab. »Sieh mal, da hinten am anderen Ende... dort bauen sie eine Bühne auf, Forrest. Und schau dir all diese Lautsprecher an!« Er schützte seine Augen und spähte nach 80
Osten. »Für mich sieht’s aus, als würden sie diese alte Weide zu einem Lagerplatz herrichten. Ich wette, die haben vor, eins von diesen Musikfestivals zu veranstalten... wie Woodstock oder so. Was meinst du, Jon?« »Ein Festival? Sieht eher wie ein Jahrmarkt aus...« Jonathan musterte das Grundstück. »... oder eine Ausstellung. Mein Sohn Clark hat gestern davon gehört... er sagte, einer seiner Freunde hat sich ihre Website angesehen...« Forrests Brauen schossen nach oben. »Sie haben eine Website?« »Wer hat heutzutage keine? Ja, das alles wird scheinbar von einer Stiftung aus einem anderen Staat organisiert. Es sollen irgendwelche Vorträge über alternatives Heilen, ›kosmische Erfüllung‹ und ich weiß nicht was sonst noch abgehalten werden. Klingt für mich nach New-Age-Aposteln.« Jonathan verfolgte, wie ein Laster vorfuhr und die Arbeiter anfingen, Bauteile abzuladen. »Ich weiß nicht, wer diese Stiftungsleute sind oder was sie verkaufen wollen, aber sie scheinen sich auf einen großen Besucheransturm vorzubereiten.« Am Samstagnachmittag tauchten überall in Smallville Plakate mit einem ›ERFÜLLE DEIN SCHICKSAL‹-Banner auf, die von großen, für die Öffentlichkeit interessanten Neuentdeckungen kündeten. Entdeckungen, die Voraussetzungen für ein besseres, erfüllteres Leben schaffen würden. Die Öffentlichkeit wurde außerdem dazu aufgefordert, einem kostenlosen Vortrag von Doktor Jacobi von der Aufstiegs-Stiftung am nächsten Mittwoch beizuwohnen. Zusätzlich war auf den Plakaten ein Verweis auf die Website der Stiftung zu finden. Wer die Website besuchte, fand eine kurze Geschichte der Aufstiegs-Stiftung, eine neue Terminliste geplanter Vorträge und Seminare und ein Angebot, Stiftungsmitglied zu werden und so für nur $14,95 im Monat Zugang zu weiteren 81
Informationen zu bekommen. Die meisten Einheimischen gingen auf dieses Angebot jedoch nicht ein. Aber die Stiftung hatte bereits viele Mitglieder im ganzen Land gewonnen. Nur Minuten nachdem Jacobi und Wolfe den Pachtvertrag abgeschlossen hatten, war die neue Vortragsserie per E-Mail angekündigt worden. Und die treuesten Mitglieder hatten sich bereits auf den Weg nach Smallville begeben. Die ersten von ihnen trafen am späten Samstagnachmittag ein. Einige fanden Unterkunft in den Motels von Smallville. Andere kamen mit Wohnwagen oder Zelten, die sie gegen eine bescheidene Gebühr auf einem zur Verfügung stehenden Grundstück der alten Davis-Farm abstellen konnten. Sie alle waren begierig, mehr von dem großen Doktor Jacobi zu hören, und alles zu tun, was sie konnten, um die Stiftung zu unterstützen. Wolfe setzte die Frühankömmlinge dankbar bei der Arbeit ein. Nachdem die Freiwilligen das alte Davis-Farmhaus gründlich geputzt hatten, bezogen Jacobi und Wolfe Zimmer im ersten Stock und richteten ihr Büro im Erdgeschoss ein. Die anwesenden Mitglieder wurden zu Teams zusammengefasst, die ab sofort für die Sicherheit, Wartung und Logistik auf dem Stiftungsgelände, wie sie es bereits nannten, zuständig waren. Am Sonntagmorgen waren schon so viele Anhänger angekommen, dass Wolfe all seine Lohnarbeiter durch Freiwillige aus der Mitgliederschar ersetzen konnte. Als am Sonntagabend die Nacht einbrach, war der Lagerplatz des Geländes fast zu einem Viertel belegt. Jacobi stand auf der Vordertreppe des Farmhaushauptquartiers und begrüßte die Neuankömmlinge, während Wolfe sie hineinführte und dienstverpflichtete, damit sie Flugblätter verteilten und Informationsmaterial der Stiftung in Briefumschläge eintüteten. Am Montagmorgen um halb neun trat Wolfe mit einer Tasse Kaffee auf die hintere Veranda. Es war viele Jahre her, seit er 82
eine Zeltshow veranstaltet hatte. Das letzte Mal war es auf einer Tournee mit Reverend Mike durch den Südwesten gewesen. Mike konnte alles und jeden »heilen«, angefangen von Malaria bis hin zu einem Kropf, dachte Wolfe, nur nicht sich selbst. Aber er hat mir eine Menge beigebracht. Möge seine hinterhältige Seele in Frieden ruhen. Diese Show würde etwas anders sein. Jacobi hatte keinesfalls vor, als Geistheiler aufzutreten... Dafür hätte er ein paar Vollzeitmitarbeiter gebraucht, um mit den Besuchern fertig zu werden: Leute, die das Spiel kannten, Leute, die sanft die offensichtlich hoffnungslosen Fälle zurückdrängen konnten, ehe sie die Bühne erreichten. Nein, er und Jacobi hatten etwas anderes im Sinn; sie waren bisher immer mit freiwilligen Helfern ausgekommen. Wolfe blies in die Tasse, um seinen Kaffee abzukühlen. Aus Erfahrung wusste er, dass das Publikum in einem Zelt oft weniger gehemmt war als in einem Festsaal. Er würde die Helfer darauf vorbereiten müssen. Und darin lag die Herausforderung: Wenn Wolfe zu vorsichtig war, würden die Helfer nicht verstehen, dass sie Jacobi vor Peinlichkeiten bewahren sollten. Wenn er hingegen zu unverblümt war, würden sich die eifrigen jungen Freiwilligen vielleicht Gedanken über die wahren Beweggründe der Stiftung machen. Wolfe lehnte sich an das Geländer der hinteren Veranda und warf einen Blick über das Gelände. Knapp zwanzig Meter weiter dirigierte ein Freiwilliger vom Ordnungsdienst in einer orangefarbenen Weste und mit einer Stiftungskappe auf dem Kopf einen Volkswagen-Minivan zum Lagerplatz. Eine kleine Gruppe weiterer Freiwilliger überwachte das Gelände, sammelte Abfall ein und stutzte das Gras und die Büsche. Ein anderes Team stellte Leitern auf, um die Scheune zu streichen. Bei Gott, wir haben es am Ende doch wieder geschafft!, dachte er zufrieden. 83
Aus der Montagsausgabe des Smallville Ledger... NATIONALSTIFTUNG KÜNDIGT ÖRTLICHE VORTRAGSREIHE AN SMALLVILLE – Die Aufstiegs-Stiftung aus Smyrna, Delaware, wird in diesem Monat auf ihrem neuen Gelände an der 1027 Old Carter Road, Smallville, eine Reihe von Vorträgen und Seminaren veranstalten. Doktor Donald Jacobi wird über ein großes neues Potenzial für die Behandlung von Krankheiten und die Verbesserung der Lebensqualität sprechen. Jacobi, ein international anerkannter Genetiker, ist der Direktor der Aufstiegs-Stiftung. Er hat den Großteil seiner Karriere der Enträtselung der Geheimnisse des menschlichen Genoms gewidmet. »Je mehr wir über die Bausteine des Lebens und das, was sie beeinflusst, lernen, desto besser werden wir in der Lage sein, unsere Krankheiten zu heilen, sowohl die Alltagsleiden als auch die lebensbedrohlichen Gebrechen«, so Jacobi. Jacobi wird seinen Einführungsvortrag am Mittwochabend auf dem Stiftungsgelände halten. Der Eintritt ist frei. Für die Vorträge am Freitag, Samstag und Sonntag wird ein Unkostenbeitrag von $7,50 erhoben. Alle Vorträge beginnen um 19 Uhr 30. Weitere Informationen über die Vertrags- und Seminarreihe und Doktor Jacobis Arbeiten sind auf der Website der Stiftung unter www.KosmischeLeiter.com und im OnlineTerminkalender des Ledger erhältlich. Am Montag nach dem Abendessen schlurfte Stuart Harrison in das Wohnzimmer seiner Familie und ließ sich in den großen Ruhesessel vor dem Fernseher sinken. Als sich seine Mutter ein paar Minuten später zu ihm gesellte, war er dabei, mit der
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Fernbedienung von Kanal zu Kanal zu zappen. Er blieb nie länger als ein paar Sekunden bei einem Sender. »Ich weiß nicht, was daran Spaß machen soll.« »Im Moment läuft nicht viel, Mom. Die Daily Show ist eine Wiederholung, die ich bereits zweimal gesehen habe. Später kommt auf TCM ein toller Film, aber er fängt erst in einer Stunde an.« »Nun, in der Zwischenzeit könnten wir uns doch ein Video ansehen.« Mary Harrison wühlte in einer kleinen Kiste mit Videokassetten. »Weißt du, es war wirklich nett von deinen Freunden, uns die zu bringen.« »Ja, der gute alte Fordman. Er kennt meinen Geschmack besser als jeder andere.« Stuart lächelte leicht. »Was gibt’s noch mal im Angebot?« »Mal sehen... ›Die besten NFL-Schnitzer‹... ›Zombies aus der Stratosphäre‹ das sieht nach einer alten Serie aus... mehrere Bänder mit den drei Stooges...« »Die Stooges? Haben wir den Sketch, in dem sie als Klempner auftreten?« »Welche Version? ›Auf zum Klempnern‹ oder ›Faulenzende Vagabunden‹?« Stuart setzte sich im Ruhesessel auf. »Ich wusste nicht, dass es zwei davon gibt.« »Oh, ja. Curly war in dem Original, wo die Jungs so tun, als wären sie Klempner. Im Remake mit Shemp waren sie richtige Klempner. Es geht darin um den Diebstahl des wertvollen Gemäldes.« Mary zog zwei Kassetten heraus. »Oh, gut, es sind beide hier. Sie sind beide sehr komisch.« Stu starrte seine Mutter an. »Wie kommt es, dass du so viel über die drei Stooges weißt?« »Oh, ich habe sie mir als kleines Mädchen immer zusammen mit meinem Bruder Fred im Fernsehen angeschaut. Das war Freds Vorstellung vom Babysitten.«
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»Onkel Fred mag die Stooges?« Marys älterer Bruder war Grundschuldirektor in Connecticut. Stuart konnte sich keine unwahrscheinlicheren Stooges-Fans als seine Mutter und seinen Onkel vorstellen. »Als wir Kinder waren, hat er es zweifellos getan. Ich schätze, er mag sie noch immer. Ich werde ihn fragen, wenn er und Tante Ev am nächsten Wochenende anrufen.« »Klar! Ich will wissen, welcher Stooges-Sketch ihm am besten gefällt!« Er sah seine Mutter an, als könnte er es noch immer nicht ganz glauben. »Weißt du, die Mütter meiner meisten Freunde hassen die Stooges. Du magst sie wirklich, hm?« »Nun... zuerst mochte ich sie nicht. Sie haben mir Angst gemacht. Damals war ich noch ein kleines Mädchen.« Und ich wusste nichts von den richtig Furcht erregenden Dingen wie Krebsmetastasen, fügte sie in Gedanken hinzu. Mary setzte sich neben dem VCR auf den Boden. »Aber Fred erklärte mir, dass alles nur Theater war, dass sie nicht wirklich jemand wehtaten. Wo wir aufwuchsen, gab es eine Kindersendung mit einem Moderator, der jede Folge vorstellte. Er sagte dieselben netten, beruhigenden Dinge.« Sie lächelte bei der Erinnerung. »Manchmal zeigte er sogar Fotos von den Stooges mit ihren Familien. Da wurde mir klar, dass sie wirklich nette, normale Leute waren, die zufälligerweise ungewöhnliche Jobs hatten. Von da an fand ich sie auch komisch.« »Hu! Ich glaube, ich habe noch nie darüber nachgedacht. Für mich waren die Stooges wie Zeichentrickfiguren, die von Menschen dargestellt wurden.« »Das kann ich nachempfinden. Nun, was darf es sein?« Mary fuchtelte mit zwei Kassetten. »Curly oder Shemp?« »Schauen wir uns doch beide an. Ich möchte sehen, ob sie sich sehr unterscheiden.« Stuart lehnte sich in dem Ruhesessel zurück. »Und danach kannst du mir vielleicht noch mehr über Onkel Fred und deine Abenteuer beim Babysitten erzählen.« 86
In der Küche blickte Ray Harrison von einem Stapel Papiere auf und grinste, als er die Eröffnungstakte einer alten, vertrauten Titelmusik hörte. »He, ihr Holzköpfe! Seht ihr euch die Stooges an?« »Na klar!«, krähte Stuart. »Komm zu uns, Dad.« »In einer Minute.« Ray wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Papieren zu. Es waren Broschüren von alternativen Heilkliniken, Literatur von einer örtlichen Hospiz-Organisation und Rechnungen... jede Menge Rechnungen. Er legte sie beiseite und blätterte in den Broschüren. Die Kliniken schienen alle in Mexiko oder Kalifornien zu liegen. Was mich nicht überrascht, dachte Ray. Eine Reise zu einer dieser Kliniken würde teuer sein, und selbst wenn sie das Geld zusammenkratzen konnten, war er nicht sicher, ob sein Sohn die Reise überleben würde. Ray sah das Material durch, das der Hospiz-Freiwillige zurückgelassen hatte. »Die fünf Stadien der Trauer – Verleugnung, Zorn, Hader, Verzweiflung, Hinnahme.« Er kannte sie alle nur zu gut. Er hatte es früher schon einmal durchgemacht, als er ein Junge gewesen und sein Großvater gestorben war. Die Menschen hatten damals nicht viel über ihre Trauer gesprochen und noch weniger über Krebs. Ray war die ganze Zeit im Ungewissen gelassen worden. Man hatte ihm nur gesagt, dass Großvater »sehr krank« war. Ich weiß nicht, ob Gramps das, was passiert ist, akzeptiert hat oder nicht. Momma leugnete es bis zu dem Tag, an dem er starb. Ray wusste mehr über Krebs, als damals seine gesamte Familie gewusst hatte, mehr, als er wissen wollte. Er hatte beobachtet, wie sein Sohn und seine Frau zum Stadium der Hinnahme gelangt waren. Ray selbst steckte im Zorn fest, und das seit Stus erster Diagnose. Mary hatte ihm klarzumachen versucht, dass es nicht gesund war, zornig zu bleiben, aber er hatte es zurückgewiesen. Zorn war natürlich. Krebs war nicht 87
gesund. Außerdem war es nicht so, dass Ray seinen Zorn je auf irgendjemand gerichtet hätte. (Okay, er hatte ein paar Ärzte angeschrien, aber das war etwas anderes.) Er schlug keine Dinge kaputt und betrank sich nicht. Ray sah zu den leeren Bierflaschen auf der Anrichte hinüber. Zwei pro Abend, so wie immer. Verdammt wenig für einen Kerl, dessen alter Herr früher jeden Tag einen ganzen Kasten geleert hat. Rays Zorn hatte ihn dazu getrieben, alles über die Krankheit zu lernen, die ihm seinen Sohn wegnehmen wollte. Unglücklicherweise hatte ihn das, was er gelernt hatte, zutiefst deprimiert. Der erste Krebs war ein malignes Melanom gewesen – an Stuarts Schädeldecke. Ihr Friseur hatte es entdeckt. Keiner der Harrisons war besonders dunkelhäutig, aber sie waren auch keine Albinos. Ray hatte keine medizinische Ausbildung benötigt, um zu wissen, dass es ein gottverdammt schlechtes Zeichen war, als bei seinem Sohn die bösartigste Form von Hautkrebs diagnostiziert worden war. Die meisten Leute bekamen nicht einmal dann ein Melanom, wenn sie ihr ganzes Leben draußen in der Sonne verbrachten. Trotzdem, die Operation und die Nachbehandlungen waren gut verlaufen und die Ärzte hatten ihnen Hoffnung gemacht, dass sich der Krebs noch nicht ausgebreitet hatte. Stuart hatte drei recht gute Jahre gehabt und dann angefangen zu stolpern und gegen Gegenstände zu laufen. Für einen Jungen, der Baseball und Football spielte, seit er sechs war, war es ein schlechtes Zeichen. Und es war die einzige Zeit, in der Ray – vorübergehend – den Zorn lange genug überwand, um zu beten. »Bitte, Gott, wenn es eine Krankheit sein muss, dann lass es etwas wie Multiple Sklerose sein. Etwas, mit dem er weiterleben kann.« Aber es war wieder Krebs. Diesmal in seinem Gehirn. Als wäre er nicht damit zufrieden gewesen, einen Teil seiner Schädeldecke zu befallen. Oh, nein, er musste sich tiefer 88
hineinfressen. Diesmal wurden Neurochirurgie, monoklonale Antikörper, radioaktives Jod eingesetzt... eine ganze Breitseite biomedizinischen Jargons, an den sich Ray den Rest seines Lebens erinnern würde. Sie benutzten auch »komplementäre Medizin«. Alle drei Harrisons traten in Selbsthilfegruppen ein und lernten aktive Imagination. Stuart fing an, ein Tagebuch zu führen. Und diese Dinge halfen ein wenig. Die Ärzte verbreiteten weiter Hoffnung. Bösartige Gehirntumore waren früher automatisch ein Todesurteil gewesen, aber die neuen kombinierten Therapien hatten bei vielen Patienten beträchtliche Erfolge gehabt. Doch sie funktionierten nicht bei allen. Die Ärzte taten ihr Bestes und sie hatten eine Menge mehr Munition als damals, als Rays Großvater krank geworden war, aber sie waren nicht allmächtig. Jetzt war es Zeit, etwas anderes zu versuchen, etwas Drastischeres. Später würde noch genug Zeit für Trauer und Hinnahme sein, aber jetzt war es Zeit, zornig zu bleiben. Ray griff nach einer anderen Klinikbroschüre. Er würde die Situation erst dann akzeptieren, wenn sein Sohn starb. Nicht einen Moment früher. Als Ray schließlich ins Wohnzimmer kam, schlief Stuart im Ruhesessel, während der Fernseher noch lief. Ray nahm die Fernbedienung und drehte den Ton ab. Mehrere Minuten stand er in der Stille des Raumes und betrachtete Stuart im Licht des Bildschirms. »Ray?« Mary regte sich auf der Couch. Ihre Stimme war ein gedämpftes Flüstern. »Lass ihn dort schlafen. Es ist okay.« »Es ist nicht okay, Mary. Nichts ist okay.« Ray ballte seine großen Hände zu Fäusten. Mary stand auf und ging durch das Zimmer zu ihrem Gatten. Ray Harrison war ein großer, körperlich kräftiger Mann. Sie wusste, wie bitter frustrierend dies für ihn war, sie wusste, wie 89
sehr er gegen die Krankheit ankämpfen wollte, die ihren Sohn befallen hatte. Wenn es eine Möglichkeit für Ray gäbe, den Krebs zu packen und niederzuringen, dann wäre Stuart schon vor Jahren völlig geheilt worden, da war sie sicher. Ray sah auf den Jungen hinunter. »Stu braucht jeden Tag mehr Schlaf. Wie lange wird es dauern... wie viele Wochen... bis er einschläft und nie wieder erwacht?« Mary schüttelte den Kopf. Es war eine schreckliche Frage und sie wollte nicht an die Antwort denken. »Ich habe das Geschirr gespült und eingeräumt. Wenn es dich nicht stört, bleibe ich noch eine Weile hier... für den Fall, dass Stuart aufwacht und etwas will.« »Sicher. Mach das.« Ray atmete mehrmals tief durch, gab einen müden Seufzer von sich und öffnete die Fäuste. »Ruf mich, wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann.« Er küsste seine Frau sanft auf die Stirn und verließ den Raum. Nur mit Socken an den Füßen tappte Ray durch den Flur zu seinem Arbeitszimmer. Dort sank er auf seinen Stuhl und rollte näher an den Schreibtisch heran. Ein Stapel medizinischer Zeitschriften türmte sich auf einem Tisch rechts von Ray. Einige waren aufgeschlagen und Sätze mit Leuchtstift markiert. Er hatte sie Dutzende von Male gelesen und nach etwas – irgendetwas – gesucht, das zu einem Heilmittel für seinen Sohn führen konnte. Er hatte nichts gefunden. Vielleicht gab es etwas Neues im Internet. Ray schaltete seinen alten Desktop ein und überflog die Tageszeitung, während er darauf wartete, dass der Computer hochfuhr. Er wandte sich bereits der Sportseite zu, als ihm eine Zeile entgegenzuspringen schien: »... neues Potenzial für die Behandlung von Krankheiten und die Verbesserung der Lebensqualität...« Ray las den Ledger-Artikel. »Die Aufstiegs-Stiftung... Doktor Donald Jacobi... international anerkannter Genetiker...« 90
Warum klang das so vertraut? Dann fiel ihm das Plakat ein, das er im Fenster des Corner Drug Store gesehen hatte, auf dem stand: »Erfülle dein Schicksal!« Ray dachte darüber nach. Es ist einen Versuch wert, sagte er sich. Er ging online und gab www.Kosmische-Leiter.com ein. Fünfzehn Minuten später hatte Ray den Großteil des auf der Website der Aufstiegs-Stiftung frei verfügbaren Materials gelesen. Vor einem Jahr hätte er eine derartige Site ignoriert. Aber je mehr er jetzt las, desto mehr Grund zur Hoffnung sah er. Hier stand, dass Doktor Jacobi viele Jahre mit dem Studium alternativer Behandlungsmöglichkeiten verbracht hatte. Vielleicht konnte er Stu nicht in eine dieser Kliniken im Westen bringen. Aber dieser Kerl kam hierher... zu ihnen! Ray dachte darüber nach. Vielleicht war es ein Zeichen... Die nächste Seite sah allerdings nach einer Sackgasse aus. Weitere Informationen über Dr. Jacobis Forschungen waren nur zahlenden Mitgliedern zugänglich. Ray klickte ungeduldig auf ein Kästchen mit der Überschrift »Wie Sie beitreten« und las die Anweisungen. Er musste es sich nicht zweimal überlegen. Ach, zum Teufel, es waren nur fünfzehn Mäuse. Ray klickte auf »Jetzt beitreten« und gab seine Kreditkartennummer ein. Am Mittwochabend erfüllten die Stimmen der hereinströmenden Zuschauer das große Zelt auf dem Stiftungsgelände. Überall waren Helfer aktiv, die den Leuten ihre Plätze zuwiesen und über winzige drahtlose Kopfhörer die Anweisungen eines unsichtbaren Regisseurs entgegennahmen. »In Ordnung, Leute, packen wir’s an!« James Wolfe saß in seinem Kommandozentrum direkt hinter der Bühne und justierte seinen Kopfhörer. »Denkt daran, was ich euch gesagt habe... achtet auf eure Umgebung und die Leute um euch herum. Wenn euch irgendjemand auffällt, der ein Problem zu haben scheint, versucht ihn zu beruhigen... aber versucht zu 91
verhindern, dass der Ablauf gestört wird. Wenn jemand ein ernstes Problem hat, dann erklärt ihm, dass er nach dem Vortrag, wenn wir mehr Zeit haben, persönlich mit Dr. Jacobi sprechen kann.« Er trank einen großen Schluck aus einem Plastikbecher. »Okay, haltet euch bereit... noch fünf Minuten, dann beginnt die Show!« Wolfe warf einen Blick auf eine Reihe von Videomonitoren, die verschiedene Ausschnitte vom Innern des großen Zeltes zeigten. Sieht gut dort draußen aus, aber es wird Zeit, dass wir die Menge in Stimmung bringen, beschloss er. Er drückte einige Knöpfe. Leise Musik drang daraufhin aus den überall im Zelt verteilten Lautsprechern. Die große Leinwand an der Rückwand der Bühne zeigte Sternbilder, die sich bewegten. Jacobi tauchte hinter ihm auf. »Sag mir nicht, dass du wieder einen dieser schädlichen Sportdrinks zu dir nimmst!« »He, die Arbeit am Kontrollpult macht durstig.« Wolfe hielt seinen Becher hoch und ließ die bläuliche Flüssigkeit hin und her schwappen. »Außerdem tut er mir gut. Er erneuert die benötigten Elektrolyten und hilft mir, wach zu bleiben.« »Mein Fall ist es nicht, aber die Geschmäcker sind verschieden. Wie sehe ich aus, Jimmy?« Wolfe betrachtete Jacobi genauer. Sein Partner trug einen hellbraunen Rollkragenpullover, eine dunkelbraune Hose und einen hellbraunen Trenchcoat mit Flicken an den Ellbogen. Akademisch, aber nicht steif. Genau das richtige Outfit für das Vorhaben des Doktors. Jacobi hatte graue Augen, ein warmes Grau, in einem Gesicht, das sowohl freundlich als auch distinguiert wirkte. Die Menschen schienen ihm instinktiv zu vertrauen, vor allem, wenn er lächelte. Wolfes eigene Augen waren von einem hellen Eisblau; sie flößten den Leuten manchmal Unbehagen ein, ohne dass er es wollte. Es war interessant, dass eine derartige Kleinigkeit eine solch große Wirkung haben konnte... »Jimmy? Stimmt etwas nicht?« 92
»Nein. Nein, du siehst sehr vertrauenswürdig aus. Wie ein junger Carl Sagan... mit volleren Haaren.« »Perfekt. Wo ist mein Kopfhörer?« »Hier.« Wolfe reichte seinem Partner das kleine Plastikgerät. »Du bist wie gewöhnlich auf Kanal Eins. Der Moderator ist auf Kanal Zwei, die Platzanweiser sind auf Drei.« Als der Kopfhörer in Jacobis rechtem Ohr verschwand, wandte sich Wolfe halb ab und legte seine Hand um das Mikrofon seiner Sprechgarnitur. »Hörst du mich gut?« Jacobi lächelte. »Laut und deutlich, Jimmy. Wie viele Besucher haben wir?« »Ein paar Hundert. Weniger als die Hälfte der Sitzplätze ist belegt und unter unsere treuen Anhänger haben sich vielleicht dreißig oder vierzig neugierige Einheimische gemischt. Offen gesagt ist das viel besser, als ich erwartet habe, vor allem mitten in der Woche. Im Fernsehen muss es viele Wiederholungen geben.« Wolfe kratzte sich am Kinn. »Ich wünschte nur, wir hätten nicht so viele Stühle aufgestellt. Es macht einen schlechten Eindruck, wenn sie nicht besetzt sind.« »Keine Sorge. Wenn die Show beginnt, werden wir nur noch Stehplätze haben.« »Das hoffe ich. Wir können uns das hier auf Dauer nicht leisten.« »Konzentrier dich einfach auf das Kontrollpult und überlass den Rest mir. Ist unser freiwilliger Moderator bereit?« Wolfe sah auf die Bildschirme. Monitor Drei zeigte einen ernsten jungen Mann in einem neuen, ordentlich gebügelten Anzug, der hinter einer Lautsprecherbank stand. Der junge Mann sah immer wieder auf die Karteikarten in seinen Händen und murmelte leise die einleitenden Worte vor sich hin. Auf seiner Stirn glänzte etwas Schweiß. »Douglas?« Wolfe flüsterte in das Mikrofon seiner Sprechgarnitur und der junge Mann auf Monitor Drei zuckte 93
erschrocken zusammen. Dann drückte er einen Finger gegen sein rechtes Ohr und hörte sich konzentriert die Anweisungen an, die ihm Wolfe über seinen Kopfhörer gab. Über den Monitor sahen sie ihn grinsen und nervös den nach oben gerichteten Daumen zeigen. »Oh, Mann.« Wolfe hielt sich einen Finger an den Kopf und tat so, als würde er einen Schuss abgeben. »Er ist so fertig, wie er nur sein kann.« »Kopf hoch, Jimmy. Fangen wir an.« Als Wolfe die Musik dämpfte, trat der nervöse junge Mann auf ein Podium an der rechten Bühnenseite und beugte sich zu einem der Mikrofone. Sein Husten hallte wie ein Gewehrschuss durch das Zelt. Wolfe schlug sich an die Stirn. »Gehen Sie nicht so nah ans Mikro, Doug. Hören Sie, Sie werden das schon schaffen! Atmen Sie einfach tief durch und sprechen Sie Ihren Text.« Douglas nickte der unsichtbaren Stimme zu und tat, wie ihm geheißen worden war. »G-guten Abend. Mein Name ist Douglas Oliver und es ist mir ein Vergnügen, Sie alle an diesem Abend zum ersten von einer Reihe von Vorträgen über die Verbesserung des Potenzials des menschlichen Lebens zu begrüßen.« Douglas holte erneut Luft. »Unser Redner ist ein Mann, den ich seit langem bewundere... Dieser Mann hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Geheimnisse des genetischen Kodes zu erforschen... und die Menschheit und das menschliche Leben zu bereichern... Sein großes Verdienst ist es, dass er dieses Wissen uns allen zugänglich machen möchte.« Der junge Mann musterte die Menge. Die Leute hörten ihm wie gebannt zu. Am Ende war dies doch nicht so schlecht. »Er hat an der Schule für genetische Studien von San Mattese promoviert und ist einer der Gründer der Aufstiegs-Gesellschaft... Heißen Sie ihn bitte zusammen mit mir willkommen... Doktor Donald Jacobi!« 94
Als Jacobi von links die Bühne betrat, sprangen die Veteranen unter den Website-Abonnenten im Publikum auf und applaudierten wild. Die Einheimischen waren von der begeisterten Reaktion überrascht. Sie tauschten Blicke miteinander aus, betrachteten die Auswärtigen, standen dann langsam auf und klatschten höflich. Jacobi blieb ein paar Sekunden in der Mitte der Bühne stehen und nahm dankbar lächelnd den Applaus entgegen. Als er das Podium erreichte, schüttelte er Douglas’ Hand. »Vielen Dank, Douglas.« Jacobi hielt die Hand des jungen Mannes weiter fest und wandte sich an das Publikum. »Douglas Oliver, meine Damen und Herren! Begrüßen Sie auch ihn!« Der Beifall hielt an und Douglas grinste von einem Ohr zum anderen. Als der junge Mann die Bühne verließ, streckte Jacobi beide Arme aus, als wollte er die Besucher segnen, und bedeutete dem Publikum, sich zu setzen. »Danke! Vielen Dank für diesen überaus herzlichen Empfang. Ich muss sagen, die Gastfreundschaft von Kansas übertrifft meine ohnehin schon hochgesteckten Erwartungen. Ich bin ein Fremder in dieser Gegend, aber heute Abend geben Sie mir das Gefühl, hier zu Hause zu sein.« Das Publikum reagierte darauf mit einer zweiten, etwas leiseren Applausrunde, bei der die Einheimischen diesmal bereitwilliger mitmachten. Hinter der Bühne grinste Wolfe amüsiert. Jacobi verstand es, mit den Leuten umzugehen. »Du bist weniger als eine Minute auf der Bühne und hast sie bereits auf deiner Seite.« Wenn Jacobi mit diesen kalten, hellen Augen geboren worden wäre, hätte er sich vielleicht eine andere Arbeit suchen müssen. Nicht notwendigerweise ehrliche Arbeit – Wolfe konnte sich nicht vorstellen, dass Jacobi bereit wäre, wie jeder Normalbürger von neun bis fünf zu schuften – aber ein Schwindelunternehmen hätte er damit wohl nicht führen 95
können. Wenn ich das Aussehen und die Stimme hätte, dann wäre ich der Chef in diesem Team. Team...? Er schüttelte den Kopf. Nein, wenn ich all diese Eigenschaften hätte, wäre ich nie Mitglied irgendeines »Teams« geworden. Jacobi befestigte ein kleines Mikrofon an seinem Revers und trat vom Podium. »Lowell County ist für mich und vielleicht auch für viele von Ihnen wie das Ende einer langen Reise. Diese Gegend hält ein Vermächtnis für uns bereit, ein Vermächtnis, das uns vor zwölfeinhalb Jahren zuteil wurde...« Hinter ihm wurden die Sternbilder vom Foto einer Reklametafel inmitten von Maisfeldern ersetzt. Jacobi drehte sich zu ihr um und las die Aufschrift laut vor. »›Smallville – Meteoritenhauptstadt der Welt!‹ Zweifellos haben viele von Ihnen dieses Schild auf dem Weg hierher gesehen. Jene, die hier leben, sehen es wahrscheinlich jeden Tag... Es ist Teil der Landschaft geworden... wie die Felder oder die örtliche Luthor-Corp-Fabrik. Die Meteoritenhauptstadt der Welt... damit kann man vor seinen Freunden in anderen Teilen des Countys prahlen. Aber im Jahr 1989 hat niemand geprahlt!« Hinter der Bühne drückte Wolfe eine Reihe weiterer Knöpfe. Der Boden begann unter dem tiefen, im Infraschallbereich liegenden Bassbrummen aus dem Soundsystem zu vibrieren. Plötzlich war auf der Leinwand das Bild der Smallviller Innenstadt vor zwölf Jahren zu sehen. »Oktober 1989!«, dröhnte Jacobis Stimme. Er erhob sie etwas, um das beunruhigende Brummen zu übertönen. »Es war ein wunderschöner Herbsttag. Die Smallville Crows hatten gerade das letzte Spiel vor den Ferien gewonnen. Es hätte ein Tag zum Feiern werden sollen. Doch dann riss der Himmel auf!« In diesem Moment verschwand das Standbild hinter Jacobi und die Kamera machte zittrig einen Schwenk hinauf zum Himmel. 96
»Diese Bilder wurden an jenem Tag mit einem tragbaren Camcorder gemacht. Ich habe eine Kopie des Bandes von einer Presseagentur in Metropolis erhalten. Abgesehen von ein paar Retrospektiven ist der Großteil dieser Aufnahmen seit über einem Jahrzehnt nicht mehr gezeigt worden. Ich muss Sie warnen! Viele dieser Szenen sind vielleicht für einige zu drastisch.« Das Publikum verfolgte gebannt, wie grelle, feurige Punkte über den Himmel rasten und Rauchstreifen hinter sich herzogen. Jenseits des Kamerabereichs flackerte ein Lichtblitz, gefolgt von einem lauten Krachen und Fauchen, mit dem sich Benzin entzündete. Entsetzte Schreie und Rufe hallten durch das Zelt. Einige stammten vom Publikum, andere von der Leinwand. Das Bild wurde wackeliger, als der Kameramann losrannte. Die Kamera schwenkte in dem Moment abrupt zum Himmel, als ein Meteorit einen hohen Kirchturm durchschlug. Auf der Leinwand schien ein Feuerball zu explodieren und lauter Donner ertönte. Die Zuschauer zuckten mit aufgerissenen Augen zusammen. »Achtung!« Wolfes Stimme flüsterte eindringlich in Jacobis Ohr. »Wir haben eine Ohnmächtige! Reihe Vier!« Jacobi eilte an den Rand der Bühne und sah, wie eine Frau totenbleich wurde und die Augen verdrehte. Ein Platzanweiser war bereits zu ihr unterwegs, aber Jacobi sprang von der Bühne und erreichte sie zuerst. Er hielt sie an den Schultern fest, als sie von ihrem Stuhl rutschte, und legte sie sanft auf den sägemehlbedeckten Boden. Schon drängten sich die ersten Leute um sie, aber Jacobi wehrte sie mit einer Handbewegung ab. »Treten Sie zurück! Lassen Sie ihr Platz zum Atmen! Und stoppt die Vorführung!« Wolfe hatte bereits den Film unterbrochen und das Infraschallbrummen eingestellt, aber niemand im Publikum hatte es bemerkt. 97
Jacobi nahm eine Kapsel Ammoniakgeist aus seiner Tasche und zerbrach sie unter der Nase der Frau. Sie hustete kurz und blickte überrascht auf. »Sind Sie in Ordnung, Ma’am?« »Ich... ich denke schon. Was...?« »Vorsicht, setzen Sie sich nicht zu hastig auf. Sie sehen noch immer etwas blass aus.« Die Leute traten zurück und machten ihnen Platz, als Jacobi ihr zurück auf den Stuhl half. »Können wir bitte etwas Wasser haben?« Sofort brachte ein Platzanweiser eine eisgekühlte Flasche Quellwasser und einen Pappbecher. »Danke.« Die Frau nahm dankbar das Wasser entgegen und nippte an dem Becher. »Das ist mir schrecklich peinlich. So was ist mir noch nie passiert.« »Es ist nicht Ihre Schuld, gute Frau. Wenn überhaupt, dann sollte ich mich bei Ihnen entschuldigen.« Jacobi kniete neben ihr nieder. Er füllte den Becher wieder auf, schraubte die Flasche zu und setzte sich neben sie. Jacobi ergriff ihre Hand und sah ihr in die Augen. »Sie waren an jenem Tag dort, nicht wahr?« Sie nickte. »Ich... ich musste mit ansehen, wie meine Schwester und ihr Mann bei den ersten Einschlägen starben.« »Und ich habe dieses Grauen wieder heraufbeschworen. Es tut mir schrecklich, schrecklich Leid. Können Sie mir je verzeihen, Ms....?« »Potter... Nell Potter. Natürlich verzeihe ich Ihnen, Doktor. Es war nicht Ihre Schuld. Sie konnten es nicht wissen!« »Aber ich hätte mit einer derartigen Reaktion rechnen müssen. Ich weiß deshalb Ihr Verständnis umso mehr zu schätzen, Ms. Potter. Danke, vielen Dank...!« Mit sehr leiser Stimme korrigierte sie ihn. »Nell.« »Nell... ja. Vielen Dank, Nell.« Jacobi stand auf und hielt weiter ihre Hand. »Lassen Sie mich Ihnen versichern – lassen Sie mich Ihnen allen versichern –, dass wir heute Abend keine 98
weiteren Aufnahmen mehr zeigen werden. Nun, nehmen wir uns ein paar Momente Zeit zum Durchatmen, bevor wir fortfahren.« Er drückte sanft Nells Hand. »Das heißt, wenn Sie damit einverstanden sind, Nell?« »Du liebe Güte, ja. Natürlich.« Nell errötete und beugte sich näher zu ihm. »Ich möchte hören, was Sie zu sagen haben. Deshalb bin ich hier!« Jacobi schenkte ihr sein bezauberndstes Lächeln und kehrte auf die Bühne zurück. Hinter der Bühne reckte Wolfe eine Faust in die Höhe und fuhr die Musik hoch. Und in der Mitte der Zeltreihe hockte Ray Harrison auf der Kante seines Stuhles, beugte sich nach vorn und hörte konzentriert zu.
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7 AM DONNERSTAGMORGEN BLICKTE LIONEL LUTHOR von seinem Eckbüro im 96. Stock des Gebäudes, das seinen Namen trug, auf die City von Metropolis hinunter. Die riesige Stadt erstreckte sich in alle Richtungen. Tief unter ihm eilten Millionen von Menschen zur Arbeit und fast die Hälfte von ihnen bezog ihr Gehalt von der Luthor Corp oder einer ihrer Tochtergesellschaften. Die Luthor Corp hatte Filialen in der ganzen Welt, aber die Zentrale lag noch immer in Metropolis. Die Bürger der Stadt wohnten in Apartments, die von Lionel Luthors Maklern verwaltet wurden, und kauften Häuser, die von seinen Firmen gebaut wurden. Sie wurden in seinen Krankenhäusern geboren, besuchten seine Schulen, aßen in seinen Restaurants und wurden auf seinen Friedhöfen beerdigt. Metropolis gehörte ihm. Das war ihm noch immer nicht genug, aber es war ein guter Anfang. Lionel trat einen Schritt vom Fenster zurück und betrachtete sein Spiegelbild im Glas. Sein Bart war leicht gewachsen. Es wurde Zeit, ihn zu stutzen. Seine Haare reichten ihm bis zum Kragen. In der letzten Zeit wiesen sie immer mehr graue Strähnen auf, aber sie waren noch immer sehr dicht, Gott sei Dank. Männer, die in seinem Alter ergrauten, bekamen nicht so schnell eine Glatze. Die grauen Haare waren im Grunde das geringere Übel. Er wandte sich an seinen Finanzmanager. »Eine Zusammenfassung der Nacht?« »Tokio, Hongkong und Singapur sind stabil, Sir. Und auf dem europäischen Markt wurde der Handel eröffnet.« Lionel strich über seinen Bart. »Achten Sie auf die Kursentwicklung der TransNational. Wenn die Aktie die 60 erreicht, verkaufen Sie.« 100
»Ja, Sir.« Der kleine Mann neigte den Kopf, als er den Raum verließ. Lionel durchquerte das Büro, trat an einen massiven Eichenschreibtisch und blätterte in einem dünnen braunen Hefter. »Damian!« Ein großer, kräftig gebauter Mann trat aus dem Hintergrund auf ihn zu. »Ja, Mr. L?« »Gute Arbeit, wie Sie den Weg für unser Keystone-CityEntwicklungsprojekt geebnet haben.« »Danke, Sir.« »Die örtlichen Grünen haben das Projekt schon viel zu lange aufgehalten. Ich wusste, dass Sie die Blockade brechen würden. Sie können davon ausgehen, dass sich das bei Ihrem vierteljährlichen Bonus bemerkbar machen wird.« »Vielen Dank, Sir!« Lionel wirkte, für seine Verhältnisse, fast gut gelaunt, als er den Rest des Hefters durchblätterte. Damian Marco ging schon lange nicht mehr zur Messe, aber nun sprach er im Stillen ein kleines Dankgebet. Dass er den Keystone-Bericht ganz vorne im Hefter platziert hatte, hatte die gewünschte Wirkung erzielt. Wenn seine gute Laune nur anhält, bis er sich die letzten Unterlagen im Hefter angesehen hat! schickte Damian ein kurzes Stoßgebet hinterher. Heute ließ er sich wirklich Zeit. Damian versuchte sich abzulenken, indem er die gerahmten Referenzen und Fotos im Büro seines Bosses betrachtete. Lionel Luthor zusammen mit Bürgermeistern, Gouverneuren und Präsidenten. Mit ausländischen Staatsoberhäuptern. Mit anderen Wirtschaftsführern. Mit olympischen Goldmedaillengewinnern im Fechten. Lionel war in seiner Collegezeit Landesmeister im Fechten gewesen und trainierte noch immer. Er war einen halben Kopf kleiner als Marco und mindestens dreißig Pfund leichter, aber Damian würde sich niemals in einen Kampf mit seinem Boss verwickeln lassen. Nicht einmal, wenn Luthor ihn öffentlich feuerte. 101
Diese Fotos offenbarten ein interessantes Detail. Auf denen aus den Achtzigern trug Lionel Luthor entgegen der damals herrschenden Mode seine Haare relativ kurz. Von 1989 an wurden sie hingegen immer länger. Damian sah wieder zu seinem Boss hinüber, als sich Lionel erneut dem Hefter zuwandte. Er entnahm ihm ein Blatt Faxpapier. Während er las, verdüsterte sich seine Miene. Oje, dachte Damian. Jetzt kommt es. »Damian?« Lionels Stimme klang eisig. »Was ist das?« Schweißperlen bildeten sich auf Damians Oberlippe. »Ein Zeitungsartikel aus Smallville, Mr. L. Er wurde uns zugefaxt. Leider traf er zu spät ein, um es in die Morgenausgabe des Daily Planet zu schaffen. Ich dachte mir, dass Sie ihn sehen wollen.« »Und warum bin ich nicht schon früher darüber informiert worden?« »Er kam erst heute Morgen...« »Ich bezahle Sie nicht, um Faxe zu lesen. Ich bezahle Sie, damit Sie mich auf dem Laufenden halten!« Lionel warf den Hefter wütend auf den Schreibtisch. »Jetzt muss ich als Letzter erfahren, dass irgendein Quacksalber auf einem Farmland außerhalb Smallvilles eine New-Age-Show veranstaltet.« Lionel kam um den Schreibtisch herum und trat langsam auf Damian zu. »Auf der alten Davis-Farm. Die örtliche Sparkasse hat dieses Grundstück vor Monaten zwangsvollstreckt. Der geforderte Preis ist immer mehr gesunken. Ich habe Pläne für dieses Grundstück, Damian. Diese Pläne sind jetzt in Gefahr.« »Mr. L, ich...!« Die Worte blieben Damian im Hals stecken, als Lionel ihn mit einem durchdringenden Blick fixierte. »Aber das ist nicht einmal das Schlimmste.« Lionel hob das Fax auf und schlug mit dem Handrücken dagegen. »Wenn man diesem journalistischen Schwachsinn glauben kann, predigt dieser... ›Doktor Jacobi‹... über die ›Macht der Meteoriten‹. Mir gefällt das nicht, Damian. Mir gefällt vor allem nicht, dass 102
es aus Smallville kommt und seinen Weg in die landesweiten Zeitungen finden wird.« Da haben wir’s. Ich hätte wissen müssen, dass es darauf hinauslaufen wird. Damian bewegte sich unbehaglich. Alles geht auf Untergeschoss Drei zurück. Vor über einem Jahr hatte die Luthor Corp ein streng geheimes Experiment in den unteren Etagen ihrer Smallviller Düngemittelfabrik durchgeführt. Lionels Wissenschaftler hatten aus Meteoritenfragmenten Experimentaldünger entwickelt. Die Ergebnisse schienen zunächst großartig zu sein. Dieses Projekt hätte eine richtig große Goldgrube für den Konzern werden können, hätte es nicht diese verdammten Nebenwirkungen gegeben. Die Versuchstiere, die dem Dünger ausgesetzt wurden, hatten Krämpfe bekommen und sich buchstäblich zu Tode geschüttelt. Lionel hatte angeordnet, das Experiment zu beenden, das Untergeschoss zu versiegeln und Stillschweigen über das Projekt und sein Scheitern zu bewahren. Niemand, der derzeit in Smallville arbeitete, hatte gewusst, dass Untergeschoss Drei überhaupt existierte, nicht der Manager der Fabrik und ganz bestimmt nicht der neue Geschäftsführer. Und niemand hätte je davon erfahren, wäre der Hausmeister nicht gewesen, der mit dem Dünger in Kontakt gekommen war. Der Mann hatte durchgedreht und in der Firma einen Haufen Leute als Geisel genommen. Lionel hatte all sein Geschick und seinen Einfluss einsetzen müssen, um diese Geschichte unter den Tisch zu kehren. Aber sein Sohn Lex hatte einen Großteil der Wahrheit herausgefunden. Er versucht es nicht zu zeigen, aber ich weiß, dass es den alten Mann in den Wahnsinn treibt. Nicht, dass ich es ihm verdenken kann. Ich würde seinem Sprössling auch nicht trauen, überlegte Damian. »Äh, Sir? Wenn es dabei um Untergeschoss Dr...!«
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»Damian!« Lionel kniff die Augen zusammen. »Dieses Thema darf niemals zur Sprache gebracht werden.« »Ja, Sir. Aber dieser Jacobi ist nur ein Quacksalber. Wer wird ihm schon glauben...?« »Offenbar glauben ihm bereits einige.« Lionel zeigte auf das Fax. »Hier steht, dass die meisten Teilnehmer von außerhalb kommen. Viele von ihnen campieren auf dem Grundstück. Und es werden noch mehr erwartet.« Er drückte Damian das Fax in die Hand. »Ich muss mehr darüber wissen, Damian. Dieser Wisch enthält nicht genug Informationen.« »Das war alles, was...« »Nicht genug, Damian.« Lionel ergriff Damians Schulter. Seine Stimme war ein barsches Flüstern. »Ich will alles über diesen Quacksalberdoktor und seine ›Stiftung‹ erfahren. Wir müssen uns um ihn kümmern.« Lionel hielt Damians Schulter hart im Griff. »Verstanden?« Schweiß perlte in Damians Kragen. »Völlig, Mr. L.« »Gut.« Lionel löste seine Hände und kehrte ans Fenster zurück. Er war der König von allem, was in seiner Umgebung geschah. Es hatte viel harte Arbeit gekostet, so weit zu kommen. Es war noch schwerer, diese Macht zu behalten. Es war ein niemals endender Kampf. Tief im hinteren Teil eines Sturmkellers auf der Rückseite des Farmhauses der Kents schlug Clark eine staubige alte Plane zurück und starrte die Hülle des Raumschiffs an, das ihn zur Erde gebracht hatte. Es ist so unwirklich, als wäre es ein Traum... aber es erklärt so viel, dachte er. Schon als Kleinkind konnte Clark Marthas alten Rosenholztisch mit einer Hand hochheben. Dieses frühe Zeichen seiner Stärke hatte Jonathan davon überzeugt, den Jungen nicht in die Vorschule zu geben.
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Ich muss meinen Eltern eine Menge Sorgen gemacht haben. Es war für sie bestimmt nicht einfach, meine Stärke geheim zu halten. Als ich schließlich zur Schule ging, haben sie mich immer gewarnt, nicht damit anzugeben. Er grinste bei der Erinnerung daran. Ich werde nie vergessen, wie Mom mich zum ersten Mal dabei erwischte, wie ich das hintere Ende von Dads altem Kleintransporter hochgestemmt habe. Es war in dem Jahr gewesen, als er elf geworden war. Sein Ball war unter den Wagen gerollt und er war sicher gewesen, dass ihn niemand beobachtete. Martha war aus der Hintertür gekommen, um ihn zum Mittagessen hereinzurufen, und hatte ihn dabei überrascht, wie er den Transporter an der Hinterachse hochgehalten hatte. Clark lächelte in sich hinein. Ich weiß nicht, wer von uns beiden mehr überrascht war. »Clark, bist du da unten?« »Ja, Dad.« Clark drehte sich um, als Jonathan die Kellertreppe herunterkam. »Ich habe mir bloß... ein paar Sachen angesehen.« »Nun ja, ich denke, du hast ein Recht darauf.« Jonathan starrte das Raumschiff an. »Weißt du, als ich in deinem Alter war, hat dein Großvater mir noch immer Dinge vorenthalten. Und es gefiel mir ebenso wenig wie dir, im Dunkeln gelassen zu werden. Damals habe ich mir geschworen, wenn ich je einen Sohn habe, würde ich keine Geheimnisse vor ihm haben... nicht, wenn es um wichtige Dinge geht.« Er blickte zu Clark auf. »Aber ich habe es trotzdem getan. Zwölf Jahre lang haben deine Mutter und ich dir dieses Raumschiff verschwiegen. Ich habe einfach immer auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.« »Ich weiß, Dad. Ich war zuerst richtig wütend, aber... im Nachhinein bin ich mir nicht sicher, ob es je eine bessere Zeit gab. Hättest du mir davon erzählt, als ich sechs war, hätte ich wahrscheinlich all meine Freunde hierher gebracht, um ihnen mein cooles Raketenschiff zu zeigen. Als ich zwölf war, wäre 105
ich wohl jeden Tag hier unten gewesen und hätte daran herumgefummelt, um es zum Fliegen zu bringen!« Jonathan lachte leise. »Genau davor hatte ich Angst.« Clark strich erneut mit der Hand über die Metallhülle. »Dad... letzte Woche hatte ich wieder einen dieser Träume.« »Einen Flugtraum...?« »Ja. Diesmal bin ich auf dem Speicher wach geworden. Ich weiß nicht genau, ob ich dorthin geschwebt bin, aber ich fürchte, es war so.« »Vielleicht sollte ich mich setzen. Vielleicht sollten wir uns beide setzen.« Jonathan zog einen alten Melkschemel von der Wand heran und bedeutete seinem Sohn, auf einer Holzbank an der Kellerwand Platz zu nehmen. Clark setzte sich, holte tief Luft und erzählte seinen Albtraum vom vorigen Montag. »... und jetzt habe ich noch mehr Grund zur Sorge. Was ist, wenn ich eines Tages wirklich in den Weltraum fliege? Oder was vielleicht noch schlimmer ist, wenn ich aufwache und über Metropolis schwebe? Bei meinem Glück fliege ich dann bestimmt an irgendeiner Fabrik vorbei, in der die Nachtschicht gerade Pause macht.« Er verschränkte seine Arme und blickte zu Boden. »Ich wünschte nur, ich wüsste, was mit mir geschieht... und was mich sonst noch erwartet.« »Ich weiß, Clark. Und ich wünschte, ich hätte die Antworten darauf.« Jonathan beugte sich auf dem Schemel nach vorn. »Wir müssen eben mit diesen Gaben so gut zurechtkommen, wie wir können.« Er dachte einen Moment nach. »Wenn du wirklich Angst hast, irgendwann davonzuschweben, gibt es einen Weg, das zu verhindern.« »Und zwar?« »Tja, wir können einen Bewegungsmelder an deinem Fenster installieren. Ich habe welche in Kirks Eisenwarenhandlung gesehen. Sie sind nicht besonders teuer. Man muss sie nur mit einem Summer verbinden und das Problem ist gelöst. Es ist 106
besser, hin und wieder geweckt zu werden, als das Risiko einzugehen, öffentliches Aufsehen zu erregen.« »Das... das müsste funktionieren.« Clark sah seinen Vater beeindruckt an. »Und es ist so einfach.« »Nun, du kennst mich, Clark. Ich neige zu praktischen Lösungen.« »Oh, tatsächlich?« Clark zog eine Augenbraue hoch. »Deshalb haben du und Mom ein Kind aus dem Weltraum adoptiert?« »Weißt du, diese Frage habe ich mir selbst schon viele Male gestellt.« Jonathan grinste, sah das Raumschiff an und zuckte die Schultern. »Es schien mir damals eine gute Idee zu sein.« »Sehr witzig, Dad.« Clark schlug gegen die Hülle und lauschte dem tiefen, metallischen Echo. »Weißt du, ich bin früher durchs Web gesurft und habe nach Geschichten über andere Kinder mit ungewöhnlichen Fähigkeiten gesucht. Von Zeit zu Zeit sehe ich noch immer nach. Aber ich habe nie jemand gefunden, der so stark ist wie ich. Jetzt weiß ich, warum. Nach allem, was ich weiß, könnte ich der Letzte meiner Art sein... zumindest der Einzige auf der Erde.« Er trommelte wieder gegen die Hülle, ungeduldiger diesmal. »Ich weiß, wie ich hierher gekommen bin, aber ich weiß noch immer nicht, warum. Wurde ich absichtlich hierher geschickt oder bin ich zufällig auf der Erde gelandet?« »Clark...« »Ich könnte das ›Versuchskaninchen‹ in irgendeinem verrückten Experiment sein. Oder Teil einer rituellen Opferung.« Clark senkte seine Stimme um eine Oktave. »›Ich befehle dir, deinen erstgeborenen Sohn hinaus in die Weiten des Weltraums zu schicken.‹« »Alles ist möglich, Clark.« Jonathan legte eine Hand auf das Schiff. »Aber hast du je in Betracht gezogen, dass dies vielleicht ein Fluchtraumschiff ist? Vielleicht wurdest du in dieses Schiff gelegt, damit du vor irgendetwas gerettet wirst.« 107
»Ja, oder ich war vielleicht der letztgeborene Sohn und wurde einfach ausgesetzt, so wie manche Leute unerwünschte Haustiere auf dem Land aussetzen.« »Clark!« »Es passiert, Dad! Es passiert oft. Wie viele Hunde und Katzen wurden direkt hier ausgesetzt, direkt auf unserer Farm?« »Zu viele. Ich weiß, dass es passiert, Sohn. Aber all unsere Vermutungen führen zu keinem Ergebnis. Es hat keinen Sinn, dass du dich selbst quälst...« »Dad, wir werden es vielleicht nie erfahren.« Clark sprang auf und scharrte nervös mit den Füßen. Hätte es in dem Keller mehr Platz gegeben, wäre er auf und ab gegangen. »Was ist, wenn ›meine Leute‹ eines Tages nach mir suchen? Was ist, wenn sie mich zurückholen wollen?« Jonathan stand auf. »In deinen ersten Jahren bei uns verging kein Tag, an dem ich und deine Mutter uns das nicht gefragt haben. Aber man kann sich nicht jeden Tag derartige Sorgen machen. Es kostet zu viel Kraft. Wir haben schließlich entschieden, dass wir uns erst damit beschäftigen werden, wenn es tatsächlich passieren sollte.« Er legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. »Und wenn es passiert... wenn deine Eltern auftauchen und sich als anständige Leute erweisen und du sie wirklich kennen lernen willst... nun, dann müsstest du entscheiden. Deine Mutter und ich könnten damit leben. Aber wenn sie es nicht sind, wenn sie dich uns einfach wegnehmen wollen...« Jonathans Augen verengten sich und die Muskeln um sein Kinn spannten sich. »... dann sollten sie sich auf etwas gefasst machen. Denn wir werden dich nicht kampflos hergeben.« Ein Bild blitzte vor Clarks geistigem Auge auf: Jonathan und Martha, wie sie sich mit Schrotflinten in den Händen einem außerirdischen Raumschiff entgegenstellen. Er sah seinem
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Vater in die Augen. »Ich hoffe, dass es niemals dazu kommen wird, Dad, aber... danke.« Jonathan nickte. »Nun... wirst du jetzt all diese Sorgen beiseite schieben?« »Ich werde es versuchen.« Clark sah auf das Raumschiff hinunter und lächelte schwach. »Einige davon waren nicht direkt Sorgen. Es klingt albern, aber manchmal frage ich mich, ob ich das Raumschiff nicht selbst gestartet habe... versehentlich. Du weißt schon, wie in den Geschichten über Kleinkinder, die versehentlich das Familienauto starten.« »Das klingt überhaupt nicht albern. Um genau zu sein, wenn dies der Fall ist, dann bist du wirklich dazu bestimmt, mein Sohn zu sein.« »Was?« Clarks Halblächeln verbreiterte sich zu einem vollen Grinsen. »Du willst damit doch nicht sagen...?« »Oh-h-h, ja.« Jonathan lächelte trocken. »Es war der Kleintransporter meines Dads, den ich gestartet habe, als ich vier oder fünf war. Zum Glück habe ich mir nicht das Genick gebrochen.« Seine Stimme wurde wieder ernst. »Aber ich will, dass du etwas verstehst. Was auch immer der Grund für deine Landung hier ist – und ob wir es nun je erfahren sollten oder nicht –, es ist ihr Verlust. Vergiss das niemals. Ihr Verlust und unser Gewinn. Und du solltest noch etwas anderes bedenken. Das Leben hat nicht hier in Kansas oder sonst wo in den Vereinigten Staaten begonnen. Geh weit genug zurück, und du wirst feststellen, dass wir hier alle Immigranten sind. Du hast nur einen weiteren Weg zurückgelegt als die meisten anderen.« »›Nur?‹« »Okay, einen viel weiteren Weg! Clark, wichtig ist nur das, was du aus dir machst, nicht, woher du kommst.« »Ich weiß, Dad. Ich... es ist bloß... es ist nicht einfach, eine Missgeburt aus dem Weltraum zu sein.« Clark zog die Plane wieder über das Raumschiff. »Aber vorher hielt ich mich für eine Missgeburt der Natur. Wenigstens habe ich jetzt eine 109
bessere Vorstellung davon, warum ich so bin, wie ich bin, auch wenn ich nicht weiß, woher ich komme.« »He, du bist keine Missgeburt – du bist mein Sohn!« Jonathan streckte die Hand aus und zerzauste das Haar des Jungen. »Und deine Mutter und ich lieben dich sehr.« Clark lächelte bei diesen Worten, aber es war ein geistesabwesendes Lächeln, das schnell verblasste. Grübelnd starrte er die Plane an. »Dad... warum habt ihr mich adoptiert?« Er wies auf das abgedeckte Raumschiff. »Ich meine, ihr wusstet es von Anfang an, und trotzdem habt ihr mich behalten. Warum?« Clark sah wieder seinen Vater an. »Und keine Witze wie ›Es schien mir damals eine gute Idee zu sein.‹ Ich muss die Antwort auf wenigstens eine von meinen Fragen wissen.« »Clark, dies mag seltsam klingen – aber ich schwöre, dass ich dich nicht auf den Arm nehme –, Tatsache ist, dass du einen großartigen ersten Eindruck gemacht hast.« »Dad!« »Das ist die Wahrheit, Sohn. Die reine, schlichte Wahrheit. Außerdem haben deine Mutter und ich es nicht direkt von Anfang an gewusst.« »Oh, sicher, wann habt ihr es herausgefunden?« Clark zog wieder eine Braue hoch und runzelte die Stirn. »Ganze fünf Minuten später?« »Ich kann es nicht auf die Sekunde genau sagen, aber es verging einige Zeit. Mehr als genug Zeit.« Jonathan legte eine Hand auf Clarks Schulter. »Was ist los mit dir, Sohn? Wir haben das alles schon mal besprochen.« Clark wandte verärgert den Blick ab. »Richtig.« Jonathan nickte nachdenklich. »Deine Mutter und ich leben schon seit Jahren damit. Du weißt es erst seit ein paar Monaten.« Er schüttelte sanft Clarks Schulter. »Ich sag dir was. Was hältst du davon, diese Diskussion nach dem Abendessen
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fortzusetzen? Ich vermute stark, dass auch deine Mutter eine Menge dazu zu sagen hat.« »Ja. Ja, einverstanden.« »Großartig. Denn ich vermute außerdem, dass das Abendessen fast fertig ist!« Martha stand am Herd, halb auf eine Bratpfanne mit Pfefferkörnern und Zwiebeln und halb auf die neue Ausgabe des Ledger konzentriert. Sie blickte kaum auf, als Clark und Jonathan durch die Hintertür hereinkamen. »Das wurde auch Zeit. Wo seid ihr beide gewesen?«, rief sie den beiden zu. »Unten im Sturmkeller.« Jonathan zwinkerte Clark kurz zu. »Wir haben an seinem Raumschiff gearbeitet.« »Was?« Martha fiel eine Gabel aus der Hand und ein Pfefferkorn flog durch die Luft. Clarks Hand schoss nach vorn und fing das fliegende Korn auf, bevor es auf den Boden fallen konnte. Er lehnte sich an die Wand und kaute auf dem scharfen Pfeffer. »Ich schätze, wir haben alle Schäden an diesem Triebwerk behoben. Nicht wahr, Sohn?« »Ja, es schnurrt wie ein Kätzchen. Jetzt werde ich nie mehr zur Schule gehen müssen.« Clark sah Martha an. »Möchtest du einen kleinen Ausflug machen, Mom?« Martha sah ihre Männer misstrauisch an. Beide grinsten über das ganze Gesicht. Sie zeigte mit der Gabel in Jonathans Richtung. »Du bist furchtbar! Und du...« Die Gabel schwang zu Clark herum. »... hast einen merkwürdigen Sinn für Humor. Fast so merkwürdig wie der deines Vaters.« »Danke, Schatz.« Jonathan gab seiner Frau einen kurzen Kuss auf die Wange. »Ich lebe für deine Anerkennung. Steht irgendwas Interessantes in der Zeitung?« »Ich weiß nicht, wie interessant es für dich ist. Es gibt einen großen Bericht über diese Zeltveranstaltung gestern Abend.« 111
»Hmmm? Lass mich mal sehen.« Jonathan überflog rasch den Artikel auf der Titelseite, als sie sich an den Tisch setzten. »Oh, das ist genau das, was das County braucht! Irgendein Schwindler versucht, Meteoriten als Heilmittel für alles zu verkaufen.« Clark verschluckte sich und spuckte einen Mund voll Wasser zurück in das Glas. »Er verkauft Meteoriten?« Er entriss seinem Vater die Zeitung. »Nicht buchstäblich, Sohn. Laut dem Ledger – dem man immer mit Vorsicht begegnen sollte – predigt dieser Kerl namens Jacobi ›Selbstverwirklichung und die totale Ausnutzung des menschlichen Potenzials.‹ Klingt für mich so, als wäre die Sache mit den Meteoriten nur die Tarnung für irgendeinen verrückten New-Age-Unsinn.« »Ich weiß nicht, Jonathan.« Martha schüttelte den Kopf. »Offenbar hat dieser Doktor Jacobi Videoaufnahmen des Meteoritenschauers gezeigt. Freida Wilson hat die Veranstaltung besucht und sie sagte, dass gestern Abend viel mehr passiert ist, als in der Zeitung steht.« »Das hat Freida gesagt, ja?« Jonathan sah Clark an und verdrehte die Augen. Diese Wilson kann schneller als der Schall tratschen, sollte das bedeuten. »Ich nehme nicht an, dass sie dir noch irgendwelche anderen ›Insiderinformationen‹ über die Veranstaltung anvertraut hat?« Martha ignorierte den Sarkasmus in der Stimme ihres Mannes. »Nur, dass Doktor Jacobi eine Menge über die merkwürdigen Auswirkungen gesagt hat, die die Meteoriten auf die Leute hier gehabt haben. Und dass sich Nell Potter wegen ihm zur Närrin gemacht hat. Er schien alles darüber zu wissen.« »Also hat sich der Mann gründlich über alles informiert. Heutzutage findet man wahrscheinlich alles, was man wissen muss, im Internet.« Clark fiel Chloes Website ein. »Ja...« 112
»Glaub mir, Schatz, dieser Kerl betreibt irgendeinen Schwindel. Er hat die gleichen Tricks auf Lager wie die Regenmacher, die früher dieses County geschröpft haben, als mein Dad ein Junge war – nur etwas raffinierter, das ist alles.« »Das hoffe ich.« Martha war noch immer nicht ganz überzeugt. »Ich befürchte nur, dass seine Vorträge die Leute dazu bringen, hier herumzuschnüffeln und die Wahrheit über Clark herauszufinden.« »Ich würde mir deswegen keine allzu großen Sorgen machen, Mom. Nach dem, was hier in der Zeitung steht, haben die Aufnahmen, die Jacobi präsentiert hat, nur gezeigt, wie die Meteoriten die Innenstadt getroffen haben. Er hatte keine Bilder von meinem Raumschiff oder so.« »Und dem Himmel sei Dank dafür!« Martha nippte an ihrem Kaffee. In ihre Augen trat ein geistesabwesender Ausdruck. »Ich werde nie den Tag vergessen, an dem die Meteoriten einschlugen. Wenn ich zurückdenke, kann ich noch immer den brennenden Mais riechen.« Clark schnüffelte. »Das ist kein Mais. Der Backofen...!« Flammen leckten aus dem Herd und im gleichen Moment schrillte der Rauchmelder in der Küche los. Bevor einer seiner Eltern vom Stuhl aufspringen konnte, rannte Clark durch den Raum und drehte das Gas ab. Er öffnete die Backofentür und klopfte hastig die Flammen mit seinen bloßen Händen aus. Als Jonathan und Martha aufgesprungen waren, war das Feuer gelöscht. Clark drehte sich zu ihnen um und leckte heißes Fett von seinen Daumen. »Entspannt euch, es ist alles vorbei.« »Bist du in Ordnung?« Noch während Martha dies sagte, wusste sie, dass ihm nichts passiert war, aber sie ergriff dennoch seine Hand und drehte sie, nur um sicherzugehen. »Kein Problem, Mom. Siehst du?« »Ich muss es überprüfen, Clark. Es gehört zu meinem Job.« Martha zwinkerte ihm zu und er lächelte sie an. Dann runzelte 113
sie die Stirn. »Ich könnte schwören, dass ich den Backofen ausgeschaltet habe. Die Zeitung muss mich zu sehr abgelenkt haben.« »Nun, es ist nichts passiert.« Jonathan hob die Wärmehaube von einer Platte auf dem Tisch. »Du hast daran gedacht, rechtzeitig die Koteletts herauszunehmen, das ist alles, was zählt.« Er gab die Koteletts auf ihre Teller. »Was haltet ihr davon, wenn wir all diesen Zeltshowquatsch vergessen und dieses leckere Abendessen genießen?« »Klingt großartig, Dad.« Clark wandte sich an Martha. »Aber, Mom... was den Tag des Schauers angeht, merk dir das für später, ja?« Der Nachmittag ging in den Abend über, als Lana ihren Schlüssel im Schloss drehte und die Vordertür des großen, weitläufigen Landhauses öffnete, das sie sich mit ihrer Tante Nell teilte. »Hallo, ich bin zu Hause!« »Oh, gut!«, drang Nells Stimme die Treppe herunter. »Ich wollte dir gerade eine Nachricht hinterlassen. Du kommst spät, Liebes.« »Ich musste noch ins Talon. Ich habe die Einnahmen gezählt und die Schichten für morgen und das Wochenende eingeteilt.« Lana warf ihre Bücher auf einen Beistelltisch. »Lex mag zwar das Gebäude gehören, aber wir führen den Laden, schon vergessen?« »Natürlich, wo habe ich nur meinen Kopf?« Nell kam die Treppe herunter. Ihre Absätze klapperten auf den Stufen, während sie ihre Ohrringe befestigte. »Das Abendessen steht im Kühlschrank. Ich weiß nicht genau, wie spät es werden wird.« »Okay.« Lana musterte die Aufmachung ihrer Tante. »Fährst du nach Metropolis, um dort zu essen und eine Show zu besuchen oder so?« 114
»Nein, ich nehme heute Abend an einem Seminar auf dem Stiftungsgelände teil. Ich habe dir doch davon erzählt, oder nicht?« Sie bemerkte den Blick, mit dem ihre Nichte sie begutachtete. »Was ist? Sehe ich zu aufgedonnert aus?« »Für einen Donnerstagabend in Smallville? Vielleicht ein wenig.« »Genau genommen findet es außerhalb Smallvilles statt.« Sie überprüfte ihr Make-up im Flurspiegel. »Außerdem kommen die meisten anderen Teilnehmer aus anderen Staaten. Es wird nicht schaden, ihnen zu zeigen, dass wir hier keine Hinterwäldler sind.« »Du... du kaufst ihnen wirklich dieses ganze ›Kosmische Leiter‹-Bewusstsein ab?« »Ich wünschte, du würdest nicht in diesem Tonfall darüber reden, Lana. Bei dir klingt es so, als würde ich mich einer Art Kult anschließen.« Nell verstummte, um ihren Lippenstift nachzuziehen. »Es ist wirklich sehr interessant. Ich finde es überaus nützlich. Ich denke, dass Donald – dass Doktor Jacobi mir helfen kann, eine Menge Dinge zu verarbeiten, die ich verdrängt habe.« »Donald, hm? Sieht er gut aus?« »Er sieht sehr gepflegt aus, aber das hat nichts damit zu tun!« Lana zog die Augenbrauen hoch. »In Ordnung, er ist sehr gut aussehend. Er hat dunkelblonde Haare und die erstaunlichsten Augen, die ich je gesehen habe. Aber sein Aussehen ist es nicht allein. Wie er redet...!« Nell errötete tatsächlich ein wenig. »Ich wünschte, du wärest gestern Abend dabei gewesen. Der Doktor hat uns einen völlig neuen Weg gezeigt, diesen schrecklichen Meteoritenschauer zu sehen. Er hat mir bereits eine völlig neue Perspektive für das Leben im Allgemeinen eröffnet.« »Er hat über die Meteoriten gesprochen? Heute Morgen hast du nichts davon erwähnt.«
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»Habe ich nicht? Nun, ich war mit so vielen anderen Dingen beschäftigt. In gewisser Hinsicht haben die Meteoriten Doktor Jacobi nach Smallville geführt. In der Zeitung von heute steht ein Bericht darüber.« Sie streckte die Hand aus und strich über Lanas Haare. »Runzel nicht so die Stirn. Es wird uns beiden nützen.« »Wenn du das sagst.« »Du wirst schon sehen.« Nell betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel und rückte die Perlenkette zurecht, die um ihren Hals hing. »Lana...? Mir ist aufgefallen, dass du in der letzten Zeit deine Kette nicht mehr trägst.« »Oh, die? Ich habe es mir irgendwie abgewöhnt, Schmuck zu tragen, seit ich damals diesen Kellnerinnenjob im Beanery übernommen habe. Wegen der Kleiderordnung und so.« »Es ist Monate her, seit du im Beanery gearbeitet hast.« Jetzt war Nell an der Reihe, skeptisch dreinzublicken. »Und wir stellen die Kleiderordnung für die Angestellten im Talon auf.« »Eigentlich hatte es etwas mit dem zu tun, das du gerade gesagt hast... über neue Perspektiven. Es war Zeit für eine Veränderung.« Lana schenkte ihrer Tante ein beruhigendes Lächeln. »Keine Sorge, Nell, ich habe die Kette noch immer. Ich werde nie vergessen, was sie dir... uns bedeutet. Ich habe nur keine Lust, sie ständig zu tragen.« »In Ordnung, das kann ich verstehen. Du bist eine richtige junge Dame geworden, seit du all diese neue Verantwortung übernommen hast. Es steckt so viel von deiner Mutter in dir.« Nell umarmte sie. »Nun, ich muss jetzt gehen. Warte nicht auf mich!« Mit einem Wink war Nell verschwunden. Lana schloss hinter ihr die Tür ab und ging nach oben in ihr Zimmer. Manchmal wünsche ich mir wirklich, ich könnte eine neue Perspektive finden, dachte sie wehmütig. Als sie ihre Jacke weghängte, starrte sie in den großen, zweitürigen Kleiderschrank. Zu viel Kleidung. Sie schloss die Türen und sah sich im Zimmer um. 116
Zu viele Sachen! Sie zog die Kommodenschubladen auf und wühlte in einem scheinbar endlosen Sortiment von Strümpfen und Pullovern. Die Hälfte dieser Klamotten trage ich nicht einmal. Ich sollte sie der Wohlfahrt spenden! Lana legte die überflüssigen Sachen auf ihr Bett. Dann zog sie die große unterste Schublade auf. Lana kniete sich auf den Boden und betrachtete den Inhalt der Schublade. Da war das Diadem, das sie beim Tanz nach dem letzten Spiel vor den Ferien getragen, der Pokal, den sie beim Cheerleaderwettbewerb in der Schule gewonnen hatte. Viel zu viele Sachen. Und das ist nicht mal die Hälfte von den Sachen, die mir gehören. Alle Reitpokale sind in dieser Vitrine, die Nell im Stall aufgestellt hat. Lana kramte in den Erinnerungsstücken. Ob die Wohlfahrt irgendeine Verwendung für eine Schublade voller alter Preise und Pokale hatte? Sie kamen ihr jetzt so bedeutungslos vor. Schließlich, hinten in einer Ecke der Schublade, fand Lana die verzierte kleine Metallschatulle, die Clark ihr geschenkt hatte, damit sie darin ihre Kette aufbewahren konnte. »Sie ist mit Blei verkleidet«, hatte er ihr erklärt. »Ich möchte, dass du sie nimmst. Für deine Erinnerungsstücke.« Sie klappte den Deckel auf und betrachtete die Kette. Sie funkelte im grünen Schein ihres Edelsteinanhängers. Der Stein an Lanas Kette stammte von dem Meteoriten, der das Auto ihrer Eltern vor all diesen Jahren getroffen und sie vor ihren Augen getötet hatte. Nell hatte sie daraufhin bei sich aufgenommen. Ihre Tante hatte Lana die Kette an dem Tag geschenkt, an dem sie sie adoptiert hatte. Es war Nells exzentrische Art, dem Mädchen dabei helfen zu wollen, sich mit dem Tod ihrer Eltern abzufinden. Sie kannte die Worte ihrer Tante auswendig: »Das Leben besteht aus Veränderungen, Lana. Manchmal ist es schmerzhaft, manchmal wunderschön. Aber meistens ist es beides.«
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Lana legte die Kette zurück in die Schatulle und klappte sie entschlossen zu. Nun, es gibt eine Zeit, die Symbole der Vergangenheit zu tragen, und eine Zeit, sie wegzuschließen. Und wenn das nicht im Buch Salomo steht, dann sollte es darin aufgenommen werden! Sie schob die Kommodenschublade zu und machte sich wieder ans Aussortieren. Eine der Hauptregeln im Haushalt der Kents lautete: »Wer kocht, muss kein Geschirr spülen.« Aber es gab keine Vorschrift, dass sofort nach dem letzten Bissen gespült werden musste. Normalerweise blieb die Familie nach dem Essen noch eine Weile am Tisch sitzen. Aber an diesem Abend sprang Clark sofort auf, als das Abendessen zu Ende war, räumte den Tisch ab, gab alles in den Geschirrspüler, füllte die Kaffeetassen seiner Eltern auf und war wieder auf seinem Stuhl – alles in weniger als fünf Sekunden. »Clark...?« Martha sah sich verdutzt um. »Hast du irgendetwas auf dem Herzen?« »Ich habe Dad vorhin danach gefragt und er sagte, ich soll auch dich fragen.« Clark legte seine Hände um sein Glas und blickte ernst drein. »Warum habt ihr mich adoptiert?« »Was für eine Frage!« Jetzt sah Martha nicht nur verdutzt, sondern auch bekümmert drein. »Du solltest besser fragen, warum wir dich nicht hätten adoptieren sollen! Du warst so bezaubernd...!« »Aber ich bin ein Außerirdischer! Ich komme nicht aus einem anderen Land, sondern...!« »Du hast offensichtlich eine Familie gebraucht...« »Ich bin in einem Raumschiff angekommen!« »... und wir hatten uns schon so lange ein Kind gewünscht...« »Mom, hörst du mir überhaupt zu?« »Ich habe jedes Wort gehört, mein Schatz.« Martha griff über den Tisch und nahm seine Hand. »Im Ernst, Clark, als du in 118
unser Leben tratst, kam es uns wie Schicksal vor. Wir wollten schon so lange ein Kind haben, aber es schien uns einfach nicht bestimmt zu sein. Wir haben bis dahin alles versucht.« Jonathan räusperte sich. »Nun, nicht alles. Vor künstlicher Befruchtung schreckten wir zurück. Ich wollte nicht, dass deine Mutter wie eine Art Versuchskaninchen...« »Ich weiß, was du meinst, Dad.« Clark starrte in sein Glas. »Das sind vielleicht mehr Informationen, als ich eigentlich haben wollte.« »Jedenfalls«, fuhr Martha fort, »fingen wir gerade an, uns für die Adoption eines Waisenkinds zu interessieren, als du daherkamst und unser Problem gelöst hast...« Sie und Jonathan waren mit dem Auto von der Stadt auf dem Weg nach Hause gewesen, als das Donnern des ersten Meteoriten über Smallville erklang. Während ihr Kleintransporter über die Route 5 fuhr, schlug ein kleiner Meteorit in dem Feld entlang der Straße ein, weniger als acht Meter von ihnen entfernt. Dann zerriss ein weiterer Meteorit eine Reklametafel in tausend Fetzen, kurz nachdem der Wagen die Stelle passiert hatte. Sie blickten zurück und sahen entsetzt die Rauchschwaden über dem Feld. »Was ist das, Jonathan?« Bevor er antworten konnte, schoss etwas nur dreißig Meter vor ihnen über die Straße. Es brannte einen großen Spalt in den schwarzen Straßenbelag, entzündete den Asphalt und pflügte durch das angrenzende Feld. Jonathan trat hastig auf die Bremse, umklammerte das Lenkrad und kämpfte um die Kontrolle über den Wagen, aber vergeblich. Der Transporter raste in den wallenden schwarzen Rauch. Die Vorderräder trafen den Rand der Spalte und der Wagen kippte um, drehte sich und landete mit dem Dach nach unten in dem neuen Graben, der in der Mitte der Straße entstanden war.
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»... Zu diesem Zeitpunkt verloren wir das Bewusstsein. Ich weiß nicht, wie lange wir ohnmächtig waren, aber als wir wieder zu uns kamen, hingen wir kopfüber in unseren Sitzen, nur von unseren Sicherheitsgurten gehalten.« »Ja, das war ziemlich verwirrend.« Jonathan rührte seinen Kaffee um. »Wir brauchten ein paar Minuten, um zu begreifen, was passiert war und wo wir uns befanden. Dann sah ich aus dem Augenwinkel, wie sich neben dem Transporter etwas bewegte.« Martha lächelte. »Es war ein kleiner Junge, nicht älter als drei oder höchstens vier.« »Genau. Und splitterfasernackt.« »Dad!« »Wie, hast du etwa gedacht, dass du einen Raumanzug getragen hast, als wir dich fanden?« »Du hattest das süßeste Lächeln, Clark.« Martha legte bei der Erinnerung versonnen den Kopf zur Seite. »Und so ein himmlisches Lachen.« »Mom...« »Nun, es war so!« »Deine Mutter hat Recht, Clark. Ich muss es wissen, ich war schließlich der Erste, den du angelacht hast.« Jonathan rieb sich die Schulter, als würde er an einer alten Verletzung leiden. »Ich hätte mir fast das Genick gebrochen, als ich versuchte, aus diesem Transporter herauszukommen...« Jonathan stemmte sich mit beiden Händen gegen das Lenkrad, während Martha seinen Sicherheitsgurt löste. Langsam ließ er sich aus dem Sitz gleiten, bis sein Rücken nur noch ein paar Zentimeter vom Boden entfernt war. Dann ließ er los und fiel auf das Dach des umgekippten Wagens. Draußen klatschte der kleine Junge in die Hände und lachte. »Komm schon, Martha, du bist dran.« Jonathan blickte zu ihr auf. »Es ist wie im Turnunterricht in der Highschool... nur dass 120
ich hier bin, um dich aufzufangen. Löse einfach deinen Gurt und lass dich fallen.« Es war tatsächlich kein Problem. Jonathan sorgte dafür, dass ihre Landung weicher, wenn auch nicht anmutiger als seine war. Sie krochen aus dem Transporter und Martha streckte die Hände nach dem kleinen Fremden aus. »Bist du in Ordnung, Schätzchen? Hab keine Angst...« Doch er war alles andere als verängstigt. Erneut antwortete er mit einem gurgelnden Lachen, als er ihre ausgestreckte Hand ergriff. »Oh, Jon, er wird sich hier draußen den Tod holen.« Jonathan beugte sich in den Transporter und zog eine Decke hinter dem Sitz hervor. Er wickelte den Jungen darin ein, und Martha hob ihn auf und wiegte ihn in ihrer Armbeuge. Sie sahen sich um. Sie, der Junge und der Transporter befanden sich am Grund eines breiten Spalts in der Erde, umgeben von brennendem Asphalt. Dichter Rauch umwallte sie. Sie drehten sich um und folgten dem Spalt hinaus ins Feld. Jonathan übernahm die Führung, während sich Martha dicht hinter ihm hielt und auf den Jungen einredete. »Wie heißt du? Wo sind deine Eltern?« Der Junge legte den Kopf zur Seite und versuchte ihr nachzusprechen. »Äll-tärrn?« »Vielleicht versteht er kein Englisch.« Jonathan lächelte den jungen aufmunternd an. »Habla Espanol?« Der Junge sah von Jonathan zu Martha und schürzte die Lippen. »Jonathan, hör auf. Du verwirrst ihn.« »Tut mir Leid.« »Ich hielt es damals für eine gute Idee, dich auf Spanisch anzusprechen«, sagte Jonathan zu Clark. »Du konntest schon laufen... also hättest du auch sprechen müssen. Und mit diesem
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vollen schwarzen Haarschopf hättest du Hispanoamerikaner sein können... vielleicht das Kind eines Einwanderers.« »Wir wussten noch immer nicht, wie du dorthin gekommen bist, Schatz. Du warst so ein wunderschöner kleiner Junge, wie ein kleiner Engel.« »Mom...!« »Nun, es war so. Ich habe noch immer die Fotos, um es zu beweisen!« »Verdreh nicht so die Augen, Clark, wenn deine Mutter mit dir spricht.« Jonathan schwieg einen Moment. »Aber wenn ich näher darüber nachdenke, mach es ruhig, wenn du willst.« »Jonathan!« »Nein, Martha, ich denke, es ist in Ordnung. Es beweist, dass es keine Rolle spielt, woher er kommt. Er reagiert trotzdem wie jeder andere Teenager. Ich weiß, dass ich in seinem Alter auch nicht als Engel bezeichnet werden wollte... nicht, dass es irgendjemand je getan hat.« Jonathan sah Clark an und beide kicherten. »Schon gut, ihr zwei!« Martha wandte sich an Clark. »Ich dachte, du wolltest diese Geschichte hören?« »Das will ich auch!« Er straffte sich. »Dad hat versucht, Spanisch mit mir zu sprechen, aber das verstand ich auch nicht besser als Englisch.« »Ja, aber du warst so munter und fröhlich, du schienst nicht vernachlässigt worden zu sein. Und ich konnte nicht glauben, dass irgendjemand ein so gesundes, heiteres Kind aussetzen würde.« Jonathan nickte. »Vergiss nicht, dass wir gerade erst aus diesem umgekippten Transporter gekrochen waren. Wir befürchteten, dass es in der Nähe einen weiteren Unfall gegeben hatte, dass du irgendwie überlebt hattest, während deine Eltern... Nun, ich hatte Angst, in der nächsten Sekunde auf ein schreckliches Autowrack zu stoßen...«
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Martha hatte angefangen, dem kleinen Jungen in ihren Armen etwas vorzusummen, während Jonathan Büschel aus brennenden Maishalmen aus ihrem Weg trat. »Kinder... fallen nicht einfach vom Himmel, Martha.« »Woher ist er dann gekommen?« »Ich weiß es nicht, aber er muss Eltern haben.« Plötzlich erreichten sie das Ende des Grabens und erstarrten schockiert. Direkt vor ihnen hatte sich ein seltsames metallisches Fluggerät in den Boden gebohrt. Sie drückte den Jungen an sich. »Nun... wenn er welche hat, kommen sie definitiv nicht aus Kansas.« Je länger sie das seltsame Fluggerät anstarrten, desto zutreffender erschien Marthas Erklärung. An einem Ende des Schiffes stand eine kleine Luke offen und im Erdreich an der Seite waren winzige Fußabdrücke zu sehen... die genau zu den Füßen des Jungen passten. Das Fluggerät selbst trug keine bekannten Markierungen. Nur die Sengspuren vom feurigen Sturz durch die Atmosphäre waren erkennbar. Es gab keine Flaggen oder Hoheitsabzeichen irgendeiner Nation auf Erden, keine Embleme einer militärischen Einheit oder Raumfahrtbehörde. Eine Weile betrachteten sie es nachdenklich und fragten sich, ob noch etwas anderes aus dem Schiff kommen würde, etwas weniger Unschuldiges. Alles blieb still. Das war beruhigend, aber es war trotzdem ein viel seltsamerer Erstkontakt als in irgendeinem Sciencefictionfilm, den Jonathan und Martha je gesehen hatten. Es gab keine tentakelbewehrten Schleimklumpen, keine Rieseninsekten, keine großköpfigen Humanoiden mit untertassenförmigen Augen. Nur ein außerirdisches Raumschiff und einen kleinen Jungen, der absolut menschlich aussah. Martha blickte von dem Schiff zu dem Jungen und weiter zu ihrem Mann. Dann wiegte sie das Kind sanft in ihren Armen. Jonathan musste nicht fragen, was seine Frau dachte. Es 123
kümmerte sie nicht im Geringsten, woher der Junge gekommen war, nicht wirklich. Das Band zwischen Martha und dem Jungen wurde mit jeder verstreichenden Sekunde stärker. Jonathan fühlte sich ebenfalls von dem Jungen angezogen, aber ihn beschäftigte eine praktischere Frage. »Schatz, wir können ihn nicht behalten. Was sollen wir den Leuten sagen? ›Wir haben ihn auf einem Feld gefunden...‹?« Martha sah dem Jungen in die Augen, überzeugt, dass es ihr Schicksal war, ihm begegnet zu sein. »Wir haben ihn nicht gefunden... er hat uns gefunden.« Jonathan blickte hinauf zum Himmel, als würde er nach einem Zeichen suchen, und der Rauch schien sich vor ihnen zu teilen. Er schüttelte andeutungsweise den Kopf und lächelte dann. Vielleicht hatte Martha Recht. Vielleicht war ihnen der Junge geschickt worden. »Wow.« Clark lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Aber was habt ihr den Leuten erzählt... woher ich kam?« Jonathan blickte leicht verlegen drein. »Eigentlich, Clark, haben wir ihnen schließlich erzählt, dass wir dich gefunden haben, wie du auf einem Feld herumgeirrt bist. Die ganze Gegend war von diesen Meteoriten in Aufruhr versetzt worden. Die Rettungsdienste waren völlig überfordert. Die CountyWohlfahrt war froh, dass wir dich bei uns aufnahmen, während das Büro des Sheriffs überprüft hat, ob du als vermisst gemeldet worden warst.« »Wir wussten, dass es niemand auf Erden gab, der dich beanspruchen konnte, Schatz. Die Erlaubnis für deine Adoption zu bekommen war zwar schwierig...« Martha nahm Jonathans Hand. »... aber wir haben es dann doch geschafft.« »Und das Raumschiff? Wie habt ihr es von diesem Feld wegtransportiert, ohne dass es jemand bemerkte?« »Unter großen Mühen und mit einer Menge Glück! Im Schutz der Dunkelheit.« Jonathan schüttelte bei der Erinnerung 124
den Kopf. »Mir ist der Motor einer guten Winde durchgebrannt, als ich dieses Ding aus dem Boden und auf einen Transporter hieven wollte. Wir haben es in der Scheune unter dem Heu versteckt, bis ich den Keller vergrößern konnte.« Clark schob seinen Stuhl vom Tisch zurück und blickte ins Leere. Jonathan und Martha schwiegen und gaben ihm Zeit, alles zu verarbeiten. Der einzige Laut in der Küche war das leise Surren des Kühlschranks. »Nun...« Clark drehte sich langsam um und sah seine Eltern an. »... Ich muss sagen, ich bin sehr froh, dass ich euch gefunden habe. Eine Menge Leute hätten mich genommen und an den Enquirer oder so verkauft.« »Meinen kleinen Engel verkaufen? Clark, hast du zugehört? Du warst die Erfüllung all unserer Träume!« Martha ging zu ihm hinüber und umarmte ihn. »Du bist es noch immer.« »Das stimmt, Sohn. Wir haben es nie bereut, dich adoptiert zu haben.« Sohn. Jonathan wiederholte das Wort im Stillen. Es löste eine alte Erinnerung aus, die ihn zum Grinsen brachte. Er lehnte sich zurück und hob seine Tasse. »Mit den Worten des großen Bill Cosby: ›Du bist mein Sohn. Du wirst immer mein Sohn bleiben. Und du kannst hier wohnen...‹« Jonathan legte eine dramatische Pause ein. »›... solange du einen Job hast.‹« Clark seufzte. »Toll. Also endet die Antwort auf all meine Fragen mit einer Sitcom-Pointe.« »Oh, dieser Gag stammt nicht aus einer von Cos’ Fernsehserien, das war eine Geschichte über seinen Vater aus seinem alten Stand-up-Comedy-Programm.« Clarks Kinnlade fiel nach unten. »Bill Cosby hat Stand-ups gemacht?« Jonathan sah von seinem Sohn zu seiner Frau und warf in gespielter Resignation die Hände hoch. »Das also ist es, was
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Elternschaft wirklich bedeutet: Ich versuche ihn zu beruhigen und er sorgt dafür, dass ich mich richtig alt fühle.« »Was soll ich sagen?« Clark sah Martha an und grinste. »Das ist mein Job!« »Ich schätze, dann wirst du bleiben müssen.« Sie erwiderte das Grinsen und Jonathan brach in Gelächter aus.
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8 KAUM WAR CLARK AM FREITAGMORGEN in den Bus gestiegen, winkte Pete ihn zu sich. »Clark! Hier hinten.« Clark eilte durch den Gang und ließ sich auf den Platz neben Pete fallen, als der Bus die Hickory Lane hinunterrollte. Er sah sich um. »Wo ist Chloe?« »Keine Ahnung. Sie hat heute Morgen nicht auf den Bus gewartet. Was mich echt überrascht hat! Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass ich ihr bei der Werbung für das Wohltätigkeitskonzert helfen soll. Wie lange ist es her, seit ihr euch zum ersten Mal getroffen habt? Eine Woche?« »Ich weiß, aber wir haben uns noch nicht festgelegt. Das Komitee kontaktiert noch immer Bands und versucht sich mit ihnen auf einen Tag zu einigen.« Clark lehnte sich auf dem Sitz zurück. »Ich hoffe, Chloe ist nicht krank.« »Gestern schien es ihr gut zu gehen.« Pete grinste. »He, vielleicht ist sie hinter einer heißen Story her!« »Haltet die Druckmaschinen an! Reißt die Seite Eins raus! ›Knüller‹ Sullivan hat eine neue Exklusivstory!« Pete nahm eine imaginäre Zigarre aus dem Mund. »Fürwahr, ›Knüller‹, du hast es wieder einmal geschafft!« Er klopfte imaginäre Asche von der »Zigarre« und zog im Groucho-Stil die Brauen hoch. Clark kicherte. »Weißt du, wir sollten besser damit aufhören. Es ist nicht nett, dass wir uns hinter Chloes Rücken über sie lustig machen.« »Du hast Recht. Es macht viel mehr Spaß, wenn sie dabei ist.« »Oh, wirklich? Nun, wenn wir damit weitermachen, wird einer von uns sie versehentlich in ihrer Gegenwart ›Knüller‹ nennen. Und dann sind wir beide Brei.« 127
Petes Miene verdüsterte sich. »Wow, daran hatte ich nicht gedacht. Lass uns schnell über was anderes reden!« Er schnippte mit den Fingern. »He, hast du diesen Artikel in der gestrigen Ausgabe des Ledger über diesen durchgeknallten Doktor und seine erstaunliche Meteoritenshow gelesen?« »Ja, ziemlich verrückt, was?« »Verrückt? Sagen wir lieber völlig durchgeknallt! Chloe hat mir erzählt, dass ihr beide euch seine Website angesehen habt – wie heißt sie noch gleich, die ›Kosmische Leiter‹? Ich hätte nie gedacht, dass noch genug alte Hippies am Leben sind, die ihm diesen kosmischen Quatsch abkaufen.« »Die Leute glauben an alle möglichen Dinge, Pete.« »Ja, aber ich kann nicht fassen, dass der Ledger Papier an diesen Kerl verschwendet.« »Sie müssen ihre Seiten füllen und der Kerl hat eine Menge Auswärtige angelockt, die ihr Geld im County lassen. Und die Meteoriten geben der Sache einen eindeutig lokalen Aspekt.« »Jetzt klingst du wie Chloe.« »Nun, es ist die Art Story, die sie...« Clark verstummte. Er und Pete sahen sich an. »Sie würde es nicht tun.« »Ich wette fünf Dollar, dass sie es tun würde!« Jacobi kam die Hintertreppe des alten Farmhauses herunter und fand Wolfe an einem langen Tisch in der Küche sitzend vor, wo er Zahlen in seinen Laptop eingab. »Guten Morgen, Jimmy. Wie sieht’s aus?« »Nicht allzu schlecht, wenn man die Umstände bedenkt. Ich mache mir ein wenig Sorgen wegen des Zentralprojektors. Die Kalibrierung der Laser hat Mittwochabend nicht ganz gestimmt. Einer von ihnen hat die Ränder der Leinwand hervorgehoben. Ich denke, ich kann das Problem beheben, aber womöglich müssen wir aus Metropolis ein Ersatzteil kommen lassen.« Wolfe griff über den Beistelltisch nach einer dampfenden Kaffeekanne und füllte seinen Styroporbecher. 128
»Don, ich bin noch immer beeindruckt, wie du die Sache mit dieser Ohnmächtigen hingekriegt hast. Es wäre nicht einmal dann besser gelaufen, wenn wir es geprobt hätten.« »Nell Potter? Nun, es war ein glücklicher Zufall, dass sie attraktiv und relativ jung ist. Dieser Typ Frau ist fast so empfänglich für meinen Charme wie die freundlichen alten Omas.« »Das stimmt. Sie ist gestern Abend nicht nur zum Seminar gekommen, sondern sie hat auch noch Karten für die gesamte Vortragsreihe gekauft. Ich nehme an, du hast ihre Telefonnummer bekommen?« »Sogar ihre gesamte Adresse. Nell hat mir ihre Karte gegeben. Ich habe sie in unsere Versandliste eingescannt.« Jacobis Lächeln wurde wehmütig. »Sie ist süß, nicht wahr? Aber es wäre nicht klug, sich auf eine Affäre mit einer Einheimischen einzulassen.« »Das ist mein Junge.« Wolfe lehnte sich zurück und ließ seine Knöchel knacken. »Okay, das ist der aktuelle Stand. Unsere treuen Auswärtigen haben zurzeit siebenunddreißig der Lagerplätze auf dem östlichen Grundstück gemietet. Und wir haben bereits übers Web und Telefon Reservierungen für weitere vierundfünfzig bekommen. Und wenn man die Spenden hinzurechnet, die wir am Ende des ersten Vortrags gesammelt haben...« Wolfe beugte sich über die Tastatur und gab ein paar Befehle ein. »... dann haben wir bis jetzt fast sieben Riesen eingenommen. Wir sind noch immer weit davon entfernt, unsere Unkosten hereinzuholen, aber wenn ich bedenke, wie der erste Abend und der Mittwoch gelaufen sind, stehen wir besser da, als wir gehofft haben.« »Warte nur bis zum Wochenende.« Jacobi blickte über seine Schulter und lächelte. »Hast du nachgesehen, ob sich auf unserer Website irgendwelche neuen Abonnenten angemeldet haben? Ich wette hundert Mäuse, dass unter den gestrigen Besuchern mindestens fünf Neuzugänge waren.« 129
Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihr Gespräch. Eine freiwillige Helferin vom Sicherheitsdienst öffnete die Tür gerade weit genug, um ihren Kopf und ihre Schultern ins Zimmer zu stecken. »Entschuldigen Sie, aber hier draußen ist eine junge Frau, die mit Doktor Jacobi sprechen möchte. Sie behauptet, für eine Zeitung zu arbeiten.« »›Behauptet?‹« Wolfe sah zu der Freiwilligen hinüber. »Haben Sie sie nach ihrem Ausweis gefragt?« »Äh, ja...« Die Freiwillige blickte unbehaglich drein. »... und sie hat einen Presseausweis von einer Zeitung, die sich die Fackel nennt. Aber sie wirkt viel zu jung.« »Ist schon in Ordnung.« Jacobi strich sein Haar zurück. »Lassen Sie sie herein.« Während Wolfe ihre Finanzberichte vom Monitor des Laptops löschte, schwang die Tür weit auf und Chloe Sullivan betrat den Raum. Chloes Erscheinung hätte ihre Highschoolfreunde überrascht. Sie trug einen konservativ geschnittenen grauen Anzug und flache Schuhe. Eine modische schwarze Handtasche hing an ihrer Schulter. Sie hatte keine Plastikblumen oder Spangen in ihrem Haar, nur einen Hauch Stylinggel. »Doktor Jacobi? Ich bin Chloe Sullivan von der Smallviller Fackel.« »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Das ist mein Partner, Mr. James Wolfe und... einen Moment! Sullivan...?« Jacobis Augen schienen bei ihrem Namen aufzuleuchten. Er schüttelte herzlich ihre Hand. »Junge Dame, ich stehe tief in Ihrer Schuld!« »Tatsächlich?« Chloe sah überrascht drein. »Aber gewiss! Sie sind die Chloe Sullivan? Die diese bemerkenswerte Website über die ›Mutanten von Smallville‹ angelegt hat?« »Äh, ja. Ja, die bin ich.«
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»Meine Liebe, ich habe den Großteil meines Lebens der Enträtselung der Mysterien des genetischen Kodes gewidmet. Und Sie haben mir einen überaus wichtigen Schlüssel geliefert!« »Habe ich das?« »Das haben Sie ganz bestimmt! Ms. Sullivan, Sie sind natürlich mit der Hypothese vertraut, dass Kometen die biochemischen Bausteine zu unserer Welt gebracht haben, die für die Entwicklung des Lebens erforderlich sind?« »Ein wenig...« »Seit Jahren studiere ich Meteoritenfragmente und ihre Auswirkungen auf den menschlichen Genotyp. Ich glaube, dass sie – wie die Kometen vor ihnen – dem Leben auf der Erde einen Entwicklungsschub gegeben haben. Ihre Website ist für mich ein Gottesgeschenk!« »Wirklich?« Eine derart begeisterte Reaktion war neu für Chloe. Normalerweise wurden ihre Ideen im besten Fall toleriert. »Sie gefällt Ihnen wirklich?« »Ob sie mir gefällt?« Jacobi drehte Wolfes Laptop um und rief die Homepage der Stiftung auf. »Meine Liebe, ich habe die Website unserer Stiftung damit verlinkt.« Ein Klick auf »Links« zauberte eine lange Liste von verwandten Sites auf den Schirm. Und dort, ganz oben auf der Liste, war ein neuer Eintrag für »Smallville, Land der Merkwürdigen, Heimat der Seltsamen«. »Ich... Sie... wow!« Chloe konnte ihren Augen kaum glauben. »Darf ich...?« Jacobi nickte und sie klickte den Link an. Die Homepage ihres Cyberarchivs erschien auf dem Monitor. »Niemand hat je zuvor eine Site mit meiner verlinkt. Das... das ist mehr, als ich mir je...!« Chloe verstummte und rief sich insgeheim zur Ordnung. Reiß dich zusammen, Sullivan! Du gerätst ins Schwärmen! Bleib unvoreingenommen, okay?
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»Ich meine, das kommt alles völlig unerwartet. Ich bin geschmeichelt, dass Sie so viel von meiner Site halten, aber ich bin nicht hergekommen, um mein Ego zu stärken.« Sie nahm einen Mikrokassettenrecorder aus ihrer Handtasche. »Sie haben eine Menge Aufmerksamkeit auf Smallville gelenkt und meine Leserschaft möchte gern mehr über Sie und die Arbeit der Aufstiegs-Stiftung erfahren.« Wolfe kniff die Lippen zusammen und unterdrückte ein Lachen. Ich glaub es nicht. Ein Interview für eine Highschoolzeitung? »Wir... äh... versuchen den Medien so gut wir können zu helfen, Ms. Sullivan, aber im Moment sind wir sehr beschäftigt. Doktor Jacobi hat in weniger als einer Stunde ein Radiointerview. Warum kommen Sie nicht heute Abend zum Vortrag des Doktors? Dort können Sie mehr erfahren.« »Nun ja... ich würde gern daran teilnehmen, aber das Budget meiner Zeitung ist begrenzt und...« »James, wir können Ms. Sullivan und einigen ihrer Freunde doch Freikarten für den heutigen Vortrag geben, oder?« Jacobi nickte Wolfe zu und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Chloe. »Mr. Wolfe wird sich um alles kümmern. Sie sollten das Programm wirklich selbst erleben, Ms. Sullivan. Es dürfte einen hervorragenden Hintergrund für Ihren Artikel liefern. Und in der Zwischenzeit, denke ich, kann ich ein paar Minuten erübrigen, um ein paar Fragen zu beantworten, bevor ich gehen muss.« Ein joviales Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Was möchten Sie gern wissen?« Kurz nach neun steuerte Lex seinen Lamborghini auf eine alte Schotterstraße und fuhr an einer Reihe uralter Pappeln vorbei zu einem allein stehenden alten Farmhaus mit Scheune. Lex parkte abseits der Straße, stieg aus dem Wagen und sah sich forschend um. Das Haus wirkte unbewohnt und der Anschein
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trog nicht. Der Mann, den er besuchen wollte, verbrachte seine Zeit meist in einem größeren Gebäude. Lex stieß eine kleine Seitentür auf und betrat die Scheune. Das improvisierte Labor im Innern war so unaufgeräumt wie immer. Auf einer Reihe von Labortischen waren eine Anzahl Experimente im Gang und jedes Experiment hatte mit einem grün leuchtenden Meteoritenbrocken zu tun. Aber von dem Experimentator gab es keine Spur. Lex sah sich um und bemerkte mit einiger Befriedigung eine funkelnagelneue Zentrifuge und ein neues Computerterminal. Wenigstens hat Hamilton angefangen, einen Teil meines Geldes sinnvoll einzusetzen, dachte er grimmig. Hinter einer Trennwand erklang plötzlich ein wütender Fluch. »Dr. Hamilton? Sind Sie dort hinten?« »Einen Moment!« Etwas schlug mit einem lauten Krachen zu und Doktor Steven Hamilton stürmte in den Hauptteil des Labors. »Luthor! Ich hätte mir denken können, dass Sie es sind!« »Wer sonst?« Lex musterte den Wissenschaftler kurz. Hamilton hatte seit ihrer ersten Begegnung etwas zugenommen, was ihm gut stand. Außerdem sah er viel gepflegter aus. Gut zu sehen, dass er mehr auf sich achtete. Hamiltons Jeans und Laborkittel wirkten neu. Der weiße Kittel hob sich hell von der dunkelbraunen Haut des Mannes ab. Sein T-Shirt, ebenfalls neu, war mit einem Bild von Albert Einstein bedruckt, der die Mütze eines Police Officers trug. Darunter stand der Slogan: »299.792 KILOMETER PRO SEKUNDE – ES IST NICHT NUR EINE GUTE IDEE, ES IST DAS GESETZ.« Hamilton war früher einer der angesehensten Mineralogen der Nation gewesen, bis ein Skandal ihn sein Forschungsstipendium gekostet hatte. In den letzten Jahren hatte er in völliger Abgeschiedenheit gearbeitet und in dem 133
Laboratorium, das er in der alten Scheune eingerichtet hatte, die Meteoriten von Smallville untersucht. Vor kurzem war Lex sein Geldgeber geworden; die Forschungen des Wissenschaftlers kamen seinem eigenen Interesse an den Meteoriten entgegen. Hamilton insgeheim zu finanzieren befriedigte diese Neugierde, ohne dass sein Vater etwas davon erfuhr. »Nun?« Hamilton fuchtelte mit den Armen, als wollte er so seinem Besucher einen Kommentar entlocken. In einer Hand hielt er eine Flasche mit Aspirin, in der anderen ein altes Transistorradio. Ein dünnes Kabel führte von dem Radio zu seinem linken Ohr. »Was halten Sie davon?« Lex sah ihn fragend an. »Von einer Aspirinflasche und einem alten Radio? Ich gebe auf. Was soll das werden? Ein Todesstrahl?« »Nein, nein, nein!« »Sie müssen mir schon einen Hinweis geben. Ich bin nicht der Verrückter-Wissenschaftler-Typ.« Zu spät dämmerte Lex, was er gerade gesagt hatte. »Das sollte keine Beleidigung sein.« »Das habe ich auch nicht so aufgefasst. Ich meinte, was halten Sie von dem im...? Oh, verdammt!« Hamilton zog das Kopfhörerkabel aus dem Radio und der winzige Lautsprecher plärrte los. »... zwanzig Minuten vor der vollen Stunde. Sie hören K-TO-W, die Nachrichtenstimme von Lowell County. Und wir sprechen mit Dr. Donald Jacobi, bekannter Genetiker und Gründer der Aufstiegs-Stiftung.« »›Bekannter Genetiker‹ das ist einfach unglaublich!« Hamilton gab Lex das Radio und wühlte in der Schublade eines Labortischs.
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Das Radio plärrte weiter. »Doktor, der zweite Ihrer Vorträge findet heute Abend statt. Wie ich hörte, verlangen Sie Eintritt?« »Das ist richtig, Cassie. Einen geringen Unkostenbeitrag in Höhe von sieben Dollar fünfzig. Ich wünschte, wir könnten für unsere gesamte Vortragsreihe freien Eintritt gewähren, aber die Unkosten, die wir haben...« »Sie müssen sich nicht rechtfertigen, Doktor. Das ist noch immer billiger als ein Kinobesuch in Metropolis. Nun... nach dem, was ich gelesen habe, spielen die Meteoriten von Lowell County eine große Rolle bei der Arbeit Ihrer Stiftung, ist das richtig?« »Ja, Cassie. Um genau zu sein, Sie sind der Kern unserer Forschungen. Es ist schwer, dies in der kurzen Zeit zu erklären. Jene unter Ihren Zuhörern, die sich dafür interessieren, sind herzlich eingeladen, an unseren Vorträgen teilzunehmen und unsere Website unter www.KosmischeLeiter.com zu besuchen.« »Ich bin sicher, dass sie es tun werden. Wir werden Sie gleich über die Zeit und den Ort dieser Vortragsreihe informieren. Doch hören Sie zunächst eine Mitteilung von Pleasant Meadows Homes – wir machen Amerika zu einem besseren Ort zum Leben!« Lex schaltete das Radio ab, als Hamilton ein Becherglas mit der Aufschrift »Nur für Getränke« aus der Schublade nahm und es mit Wasser aus dem Hahn eines Waschbeckens in der Nähe füllte. »Ihrer Reaktion entnehme ich, dass Doktor Jacobis Arbeiten Sie nicht beeindrucken?« »›Doktor?‹ Ha!« Hamilton warf ein paar Aspirin in das Becherglas und stürzte sie hinunter. »Er hat seinen Doktortitel an einer dieser karibischen Diplomfabriken gemacht. Und wenn seine Stiftung aus einem anderen Grund existiert, als Geld zu machen, wäre ich zutiefst erstaunt.« 135
»Wollen Sie damit sagen, dass seine Reputation schlechter ist als Ihre?« »Ich hatte zumindest früher eine Reputation.« Hamilton ließ sich auf einem Hocker nieder. »Nein, Jacobi ist sehr charmant. Er kann Menschen beeindrucken. Aber was die Wissenschaft angeht, ist er ein Leichtgewicht. Er hat wenige Referenzen und nie etwas von Bedeutung veröffentlicht. Berühmt ist er nur für seine Website. Sie allein bringt ihm im Jahr über 100.000 Dollar ein.« Hamilton schwieg und dachte daran, dass dies die Summe auf dem ersten Scheck gewesen war, den Luthor ihm gegeben hatte. »Das sollte keine Beleidigung sein.« »Das habe ich auch nicht so aufgefasst.« Lex grinste. »Wir wissen beide, dass das, was ich Ihnen gegeben habe, nur ein Vorschuss für Ihre Dienste war. Sie werden noch mehr bekommen, viel mehr.« Er lehnte sich an eine Vitrine. »Nun, abgesehen von der Tatsache, dass er nicht den wissenschaftlichen Anforderungen genügt, was stört Sie noch an Jacobi?« »Nur, dass er vielleicht eine Horde Hohlköpfe in diese Gegend lockt und unsere Forschungen behindert.« »Ist das wirklich wahrscheinlich?« Hamilton blickte zu seinem jungen Gönner auf. »Sie scheinen doch über alles informiert zu sein, was in dieser Stadt und ihrer Umgebung vor sich geht. Sagen Sie es mir.« Erst am Mittag stieß Chloe zu Clark und Pete. Die beiden aßen gerade in der Highschoolcafeteria zu Mittag, als Chloe auf sie zugestürmt kam. »He, Leute!« »Verspätungen kommen offenbar in Mode.« Pete legte sein Sandwich zur Seite und musterte sie. »Und apropos Mode, was ist denn das für eine Aufmachung? Wer ist gestorben?« Er schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund. »Oh mein Gott, ist Stuart...?« 136
»Nein, nach allem, was ich gehört habe, hält er noch immer durch.« Chloe setzte sich neben Clark. »Und es gibt noch andere Gründe als Beerdigungen, um sich schick anzuziehen, weißt du?« »Mal sehen... für eine Hochzeit ist es zu früh am Tag. Ein Vorstellungsgespräch?« »Das kommt der Wahrheit schon näher.« »Ich habe keine Lust auf dieses Spiel.« Pete griff wieder nach seinem Sandwich. »Wo warst du heute Morgen?« »Ja«, fragte Clark, »was ist der Knüller?« Es war nicht das, was Clark sagte, sondern die völlig unschuldige Art, mit der er es sagte, die Pete sein Sandwich fallen lassen ließ. Er schlug auf den Tisch und tat so, als würde er husten, um sein Lachen zu verbergen. Chloe sah ihn verwirrt an. »Bist du okay?« »Äh... ja.« Pete traten Tränen in die Augen. »Ich muss was in die falsche Röhre bekommen haben.« »Nun, reiß dich zusammen! Ich würde es hassen, dich zu verlieren, besonders jetzt.« Chloe beugte sich nach vorn. »Ihr werdet es nicht glauben! Ich habe heute Morgen ein Interview mit Dr. Jacobi gemacht!« »Du hast den Morgenunterricht geschwänzt, um mit dem Kerl von der Zeltshow zu reden?« Clark wechselte einen viel sagenden Blick mit Pete. Gut, dass ich seine Wette nicht angenommen habe, dachte er sich. »Nur die erste Stunde, außerdem hatte ich eine gute Entschuldigung. Ich habe von der Redakteurin der Fackel einen Auftrag bekommen.« »Chloe, du bist die Redakteurin der Fackel.« Clark schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht fassen, dass du deine Zeit mit diesem Kerl verschwendest, nicht nach dem, was wir auf seiner Website gesehen haben.« »Ich weiß, auf den ersten Blick sah es ziemlich durchgeknallt aus. Aber als ich herausfand, dass sich Doktor Jacobi mit 137
Meteoritenforschung beschäftigt, musste ich einfach mit ihm reden. Und ich bin wirklich froh, dass ich es getan habe.« Chloe betrachtete hungrig die Pommes frites auf Clarks Teller. »Hättest du was dagegen, wenn ich...?« »Bedien dich.« »Danke.« Sie nahm eine besonders lange Fritte und fuchtelte damit herum. »Es war einfach toll. Doktor Jacobi stimmt meiner Theorie der Merkwürdigkeiten gänzlich zu. Er hat sogar seine Website mit meiner verlinkt!« Pete blickte skeptisch drein. »Und das soll gut sein – wieso?« »Es bestärkt mich in meinen Bemühungen, die Leute wachzurütteln, damit sie auf das achten, was hier vor sich geht. Ein nationaler Experte mit einer großen Vortragsreihe sagt genau das, was ich die ganze Zeit gesagt habe. Das ist sogar noch besser, als eine Story an den Ledger zu verkaufen!« »Chloe...« Clark suchte nach den richtigen Worten. »Ich wäre mir in dieser Hinsicht nicht so sicher.« »Ja, mein Pa hält diesen Kerl für einen aalglatten Schwindler.« »Pete!« »Meiner auch.« »Clark!« Chloe bedachte beide mit ihrem strengsten Blick. »Hat einer von euren Vätern ihn sprechen hören?« Clark sah Pete an, der seinen Kopf schüttelte. »Nein, aber...« »Hat einer von euch ihn sprechen hören?« »Nun, nein.« »Gut. Dann müssen wir uns selbst ein Urteil bilden.« Chloe lächelte breit, als sie eine Hand voll Eintrittskarten aus ihrer Tasche nahm. »Was...? Auf keinen Fall!« »Was ist los, Pete? Hast du Angst herauszufinden, dass dein Vater sich geirrt haben könnte?«
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»He, ich glaube nicht, dass Pop in diesem Punkt Unrecht hat. Er kann sich in manchen Dingen irren, vielleicht auch in vielen Dingen, aber...« »Es gibt einen einfachen Weg, es herauszufinden.« Chloe ordnete die Eintrittskarten zu einem Fächer und wedelte mit ihnen unter seiner Nase. »Erzähl mir nicht, dass du heute Abend schon was vorhast!« »Ich? Natürlich, ich bin... es ist nur so...« Pete gab auf. »Okay, ich habe nichts vor.« »Clark?« Chloe wedelte erneut mit den Eintrittskarten. »Nun, ich bin neugierig, aber...« Clark warf einen genaueren Blick auf den Fächer. »Wie viele Tickets hast du eigentlich?« »Eins, zwei, drei... vier, fünf! Das ist komisch. Ich habe ihnen gesagt, dass ich zwei Freunde habe...« »Vielleicht dachten sie, du willst welche für deine Eltern.« »Freitagabend ausgehen... mit meinen Eltern?« Chloe rümpfte stirnrunzelnd die Nase. »Ich denke nicht. Sie müssen gedacht haben, dass ich das beliebteste Mädchen in der Schule bin.« »Chloe... Clark!«, rief Lana, als sie die Cafeteria durchquerte. »Ich bin so froh, euch hier gefunden zu haben. Ich versuche einen Termin für ein weiteres Planungstreffen festzulegen.« Clark stand auf. »Ich bin ziemlich flexibel.« »Ich auch.« Chloe lächelte. »Jeder Zeitpunkt ist uns recht, solange es nicht heute Abend stattfindet.« »Okay.« Lana zog ihren Terminplaner aus der Tasche. »Habt ihr beide eine Verabredung?« »Nein, keine Verabredung!«, korrigierte Clark schnell. »Ein paar von uns wollen den Vortrag der Aufstiegs-Stiftung draußen auf der alten Davis-Farm besuchen. Chloe hat ein paar Tickets organisiert. Wir haben noch welche übrig. Vielleicht willst du mitkommen?«
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»Um mir den Zeltshowkerl anzuhören? Ich bin doch nicht verrückt!« »He!« Sofort kehrte Chloes strenger Ausdruck zurück. »Was ist so verrückt an ihm?« »Tut mir Leid. Ich bin etwas voreingenommen. Meine Tante hat sich die Mittwochabendshow angesehen und hört seitdem nicht mehr auf, von ›dem großen Doktor Jacobi‹ zu erzählen. Sie hat sogar ein Sonderseminar besucht, das gestern von der Stiftung veranstaltet wurde, und das hat sie über hundert Dollar gekostet.« Lana schüttelte den Kopf. »Ich fass es einfach nicht. Nell geht sonst so sparsam mit ihrem Geld um. Jetzt hat sie sogar die Plakate seiner Show im Fenster ihres Blumengeschäfts hängen. Sie plant bereits, die gesamte Vortragsreihe zu besuchen.« »Kein Wunder, dass du kein Interesse daran hast.« Chloe wollte die Eintrittskarten schon zurück in ihre Tasche stecken. »Na ja, eigentlich muss ich zugeben, dass ich neugierig bin, warum Nell so davon besessen ist. Es klingt alles so durchgeknallt, dass es vielleicht Spaß machen wird... allerdings nur, solange ich nicht neben ihr sitzen muss.« »Was ist durchgeknallt und macht Spaß?« Whitney tauchte hinter Lana auf und drückte sanft ihre Schultern. »Und neben wem werden wir nicht sitzen?« Lana legte ihre Hand auf seine und drückte sie. Clark hätte schwören können, dass er diesen Druck bis in seine Magengrube spürte. »Chloe hat ein paar überzählige Eintrittskarten für den Stiftungsvortrag Freitagabend.« Whitney wirkte verwirrt. »Stiftung...?« »Du weißt schon, Nell hat davon erzählt.« »Oh, der Zeltshowtyp!« »Sein Name ist Jacobi.« Chloes Gesicht lief rot an. »Doktor... Donald... Jacobi!« Sie atmete tief durch, um sich zu
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beruhigen. »Aber der Vortrag findet schon heute Abend statt. Du bist wahrscheinlich beschäftigt.« »Nein. Zum ersten Mal bin ich frei.« Whitney drückte Lana erneut an sich. »Einer der Verkäufer des Warenhauses ist früher als erwartet aus dem Urlaub zurückgekommen. Ich habe die Nacht frei. Ich wollte Burger und ein Video vorschlagen, aber wenn du zu dieser Show gehen willst, ist es auch okay.« »Du hättest nichts dagegen...?« Lana wandte sich an Chloe. »Das heißt, wenn du wirklich genug Tickets hast?« »Oh... sicher.« Chloe rang sich ein Lächeln ab und hielt die beiden überzähligen Eintrittskarten hoch. »Seid meine Gäste.« »Danke, Kurze.« Die Karten verschwanden in Whitneys Hand. »Das wird bestimmt ein Knaller!« »Dann sehe ich euch alle heute Abend.« Lana winkte kurz und verließ mit Whitney den Speisesaal. Chloe knirschte mit den Zähnen, als sie zurückwinkte. »›Kurze‹? Vielen Dank, dass du die überzähligen Tickets erwähnt hast, Clark.« Und musstest du Lana wirklich so schnell versichern, dass wir keine Verabredung haben?, dachte sie grimmig. »Tut mir Leid, Chloe.« Clark sank auf seinen Stuhl zurück. »Ich dachte nur...« »Clark, es sind reservierte Plätze. Sie liegen alle in einem Block!« Chloe blätterte in den verbliebenen Eintrittskarten. »Am Ende werde ich noch neben diesem großen Holzkopf sitzen!« »Es ist okay, Chloe.« Pete tätschelte ihre Hand. »Clark und ich werden zwischen dir und Whitney sitzen, das verspreche ich dir.« »›Kurze‹.« Sie kaute wütend eine Fritte. »Ich bin sicher, dass er es liebevoll gemeint hat.« »Das klingt so, als wäre ich ein Schnaps!« Pete grinste. »Nun, für uns wirst du jedenfalls immer ein doppelter Schnaps sein.« 141
»Was?« Chloe rückte von ihm weg. »Jetzt bin ich nicht nur kurz, sondern auch noch fett?« »Nein! Auf keinen Fall! Ich meinte nur...« Pete spürte, wie er sich immer tiefer hineinredete. »Clark, hilf mir da raus!« »Chloe, du bist doppelt so liebenswert wie Pete.« »Nun, das will ich auch hoffen.« Sie lächelte Clark an. »In Ordnung, es sei dir vergeben.« »Ihm vergibst du? Und was ist mit mir?«, fragte Pete. »Immerhin habe ich mich freiwillig gemeldet, um dich mit meinem Körper vor dem Whitney-Schocksyndrom zu schützen!« »Nun...« »Weißt du was, ich werde sogar heute Abend für unseren Transport sorgen.« »Okay, Entschuldigung angenommen.« Chloes Magen begann leise zu knurren. »Danke für die Fritten, Clark, aber ich denke, ich besorge mir besser ein Sandwich oder so, wenn ich bis zur letzten Stunde durchhalten will.« Sie erhob sich vom Tisch. »Hol mich kurz vor sieben ab, Pete. Wir wollen schließlich rechtzeitig da sein.« »Alles klar!« Clark sah zu Pete hinüber, als Chloe außer Hörweite war. »Bist du sicher, dass du so kurzfristig das Auto deines Vaters bekommen kannst?« »Nichts ist jemals sicher, Clark. Aber ich würde schätzen, dass meine Chancen bei guten 85 Prozent liegen.« »Und was ist, wenn du in der 15-Prozent-Gruppe landest?« »Nun, ich habe nicht gesagt, um welche Art Transportmittel es sich handelt.« Pete blickte nachdenklich drein. »Obwohl Chloe wahrscheinlich nicht auf dem Gepäckträger meines Fahrrads mitfahren wird, oder?« »Nein. Vor allem nicht, da Regen vorhergesagt wurde.« Clark legte eine Hand auf Petes Schulter. »Ich schlage vor,
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dass du deinen ganzen Charme einsetzt, wenn du mit deinem Vater sprichst.« Fünf Stunden später platzte Pete ins Wohnzimmer, wo sein Vater saß und die Zeitung las. »He, Pa! Ist es okay, wenn ich mir heute Abend den Wagen ausleihe?« Dale Ross blickte über den Rand seiner Zeitung. »Das hängt davon ab, Peter. Wie lange wirst du unterwegs sein, wohin fährst du und mit wem?« »Ich besuche zusammen mit Chloe und Clark einen Vortrag und habe versprochen, dass ich für den Transport sorgen werde. Ich will rechtzeitig zu Hause sein, um mir Leno anzusehen.« »Dann ist es okay.« Dale faltete die neueste Ausgabe des Daily Planet zusammen und zog seine Autoschlüssel aus der Tasche. »Chloe, hu? Läuft was zwischen dir und deiner kleinen blonden Freundin? Etwas Ernstes?« »Etwas Ernstes? Zwischen Chloe und mir?« »Nun, wenn ich mich recht erinnere, seid ihr beide zusammen zum Tanz nach dem letzten Spiel vor den Ferien gegangen.« »Das war kein Rendezvous. Wir waren nur zusammen, weil keiner von uns eine richtige Verabredung hatte. Wir sind Kumpel, Pa. Sie ist meine Freundin, so wie Clark mein Freund ist.« »Okay, schon gut.« Dale gab ihm die Schlüssel. »Aber fahr bloß vernünftig, halte dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung...« »›... und komm nicht mit einem leeren Tank nach Hause.‹ Kein Problem!« Pete gab den Schlüsseln einen Kuss und warf sie in die Luft. Dann drehte er sich um, riss seine Jacke weit auf und ließ die Schlüssel in seine Tasche fallen. Dale musste lachen. Pete brachte ihn immer dazu. In einer Familie aus eher ernsten, leistungsorientierten Menschen hatte 143
sein jüngster Sohn eine Nische als derjenige besetzt, der intelligent und witzig war. Trotzdem machte sich Dale Sorgen um den Jungen. »Weißt du, Pete, als ich in deinem Alter war...« Uh-oh, dachte Pete, jetzt kommt es. »... hätte es mir eine Menge böser Blicke und die eine oder andere Drohung eingebracht, wenn ich mit einem weißen Mädchen auch nur ›befreundet‹ gewesen wäre. Dein Granddad wäre auf seinem Rasen an einem Kreuz verbrannt worden – oder schlimmer!« »Die Zeiten haben sich geändert, Dad. Die Dinge sind jetzt besser.« »Und ich danke Gott dafür. Aber für eine Menge Leute haben sie sich noch immer nicht geändert... selbst in Smallville. Ich möchte nur, dass du vorsichtig bist.« »Das bin ich immer, Pa!« »Das hoffe ich, Sohn. Das hoffe ich wirklich. Fahr vorsichtig, es sieht nach Regen aus.«
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9 AN DIESEM ABEND holte Pete Chloe um 6 Uhr 45 ab und bog dann auf die Hickory Lane. Dort räumte Chloe den Beifahrersitz für Clark. »Ich setz mich hinten hin. Du brauchst mehr Platz für deine Beine als ich.« Sie wandte sich an Pete. »Und denk nicht mal daran, irgendwelche ›Kurze‹-Witze zu machen.« »So was käme mir nie in den Sinn.« »Gut.« Chloe ließ sich auf dem Rücksitz nieder und legte ihren Sicherheitsgurt an. »Dieser Vortrag ist eine richtig große Sache. Versprecht mir, dass ihr beide euch benehmen werdet.« Clark hob seine rechte Hand, als würde er einen Eid ablegen. »Ich verspreche es.« »Ja, ja. Ich auch.« Pete sah im Rückspiegel Chloe an. »Aber meinst du nicht, dass du ein wenig übertreibst?« »Ich möchte nur einen netten Abend mit meinen Freunden verbringen.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Wir sollten jetzt besser losfahren, wenn wir nicht zu spät kommen wollen.« »Ja, Miss Daisy!« »Sehr witzig! Fahr einfach.« Ein paar Minuten später schloss sich Pete der Autokolonne an, die zum Stiftungsgelände unterwegs war. Er folgte den anderen über eine neue Schotterstraße und ließ sich von den Schildern zum Parkplatz dirigieren. Der Wagen bewegte sich im Kriechtempo, als sie von einem Mann in einer offiziell aussehenden orangefarbenen Weste, der eine Taschenlampe schwenkte, gestoppt wurden. Pete drehte sein Fenster herunter. »Hi, wir wollen zum Vortrag.« »Karten?« »Haben wir schon.« Pete präsentierte die drei Eintrittskarten, die Chloe ihm vom Rücksitz reichte. 145
Orangenweste überprüfte die Karten mit seiner Taschenlampe, nickte und gab sie zurück. »Okay. Geben Sie die Karten einem der Platzanweiser, wenn Sie das Zelt betreten. Im Innern sind keine Kameras oder Aufzeichnungsgeräte erlaubt. Das Parken kostet fünf Dollar.« »Was?« »Pete!« Chloe versteckte ihr Gesicht hinter ihren Händen. »Bring mich nicht in Verlegenheit! Bezahl den Mann!« Clark griff in seine Tasche. »Wenn du knapp bei Kasse bist, kann ich das übernehmen.« »Nicht nötig.« Pete nahm einen zerknitterten Fünfer aus seiner Brieftasche. »Hier, nehmen Sie.« »Vielen Dank, Sir.« Orangenweste steckte den abgewetzten Schein ein und winkte sie weiter. »Parken Sie Ihren Wagen irgendwo dort vorn.« »Fünf Mäuse fürs Parken!« Pete legte den Gang ein und rollte dem nächsten freien Platz entgegen. »Wofür halten sie das hier, für Metropolis?« »Eigentlich wären fünf Dollar in Metropolis billig.« »Chloe hat Recht. Bei meinem letzten Besuch kostete dort der billigste Parkplatz mindestens sechs Dollar fünfzig.« »Ja, ja, in Ordnung!« Pete steuerte den Wagen seines Vaters in eine Lücke zwischen einem alten Mustang mit TexasNummernschild und einem neuen Beetle. »Und ich dachte, dieser Abend würde mich nicht mehr kosten als eine halbe Tankfüllung.« Chloe lächelte strahlend, als sie vom Rücksitz glitt. »Danke, Pete. Ich schulde dir was!« »Da hast du verdammt Recht!« Als Clark ausstieg, griff er nach hinten und nahm einen Regenschirm heraus. »Warte, Chloe, du hast das hier vergessen.«
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»Oh. Danke, Clark, aber meinst du wirklich, dass wir ihn brauchen werden?« Sie blickte zum Himmel hinauf. »Diese Wolken sehen nicht besonders bedrohlich aus.« »Noch nicht, aber man weiß nie, wie sich das Wetter entwickelt.« Als sich die drei Freunde dem Zelt näherten, gingen sie an Autos vorbei, die von Meter zu Meter teurer wurden. Viele von ihnen hatten ERFÜLLE DEIN SCHICKSAL-Aufkleber an den Stoßstangen. »Seht euch das an!« Clark wies auf die Linien am Boden. »Diese Wagen stehen auf extra großen Parkplätzen. So gibt es beim Öffnen der Türen keine Dellen. Das muss geplant worden sein.« »Das stimmt.« Eine Frau in einer orangefarbenen Weste bestätigte Clarks Verdacht. »Das ist unser VIP-Parkbereich für Stiftungsmitglieder und spezielle Besucher.« »Lincolns, Caddys...« Pete gab einen bewundernden Pfiff von sich. »Seht mal, da steht ein Prowler! Was auch immer dieser Jacobi predigt, er lockt zahlungskräftige Besucher an.« Eine vertraute Hupe dröhnte und ein goldener Lamborghini hielt nur einen Meter entfernt auf einem reservierten Platz an. »Hallo, Clark. Chloe... Peter.« »Lex!« Clark klang überrascht. »Ich hätte nie erwartet, dich hier zu treffen.« »Dito.« Lex sah Chloe an. »Nun, vielleicht doch.« »Wir sollten besser reingehen.« Chloe warf einen ungeduldigen Blick auf ihre Uhr. »Der Vortrag fängt bald an. Clark...?« »Geht schon mal voraus. Ich komme gleich nach.« Chloe nahm Petes Arm und zog ihn hinter sich her. Pete sah über seine Schulter zu Clark und Lex zurück. Der Kerl fährt einen verdammten Lamborghini. Diese Kiste kostet mehr, als meine Eltern in einem Jahr verdienen. Wie zum Teufel kann
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einer von uns da mithalten?, dachte er und ein Anflug von Neid stieg in ihm hoch. Clark und Lex schlenderten langsam hinterher. »Nun, hast du irgendetwas Neues über diesen Jacobi herausgefunden?« »Leider nicht genug. Er war sehr erfolgreich darin, seine Vergangenheit zu verdunkeln. Er scheint einen Doktorgrad zu haben von irgendeinem Inselcollege mit zweifelhaftem Ruf.« »Dann zurück zu meiner ursprünglichen Frage. Was machst du hier? Denkst du, du kannst irgendetwas erfahren, wenn du persönlich hier bist?« »Man weiß nie. Aber es ist einen Versuch wert.« »Warum opferst du so viel Zeit dafür?« Lex blieb abrupt stehen. »Clark, alles, was in und um Smallville geschieht, geht mich etwas an.« Seine Stimme hatte einen getriebenen, unerbittlichen Unterton. Dann lächelte er. »Außerdem könnte ich etwas Unterhaltung gebrauchen. Ich nehme an, du bist mit dem Rest der Modbrigade hier, um Ms. Sullivan zu unterstützen?« »Ja, jemand muss auf sie aufpassen, damit sie nicht in Schwierigkeiten gerät.« Lex’ Augenbrauen ruckten hoch. »Bist du sicher, dass das der einzige Grund ist?« »Wie meinst du das?« Clark bemerkte plötzlich, dass Lex zurück zum Parkplatz sah. »Nun, hallo, Lana.« Lex’ Grinsen wirkte eine Spur spöttisch. »Hey, Fordman.« »Hallo, Lex... Clark.« »Ich habe gerade zu Clark gesagt, dass es eine Menge Gründe dafür gibt, diesen Vortrag zu besuchen. Bist du auch dieser Ansicht?« »Könnte sein.« Lana sah von Lex und Clark zu Whitney. »Ich hin hauptsächlich aus Neugier hier.«
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»Ich hoffe einfach, es gibt was zu lachen.« Whitney zuckte die Schultern. »Und ich hörte, dass die Lightshow ziemlich gut sein soll.« »Nun, ich möchte eurem Spaß nicht im Wege stehen. Genießt die Show.« Lex gab seine Eintrittskarte einem Platzanweiser und wurde zu einem Sitz an der Rückseite des Zeltes geführt. Ein weiterer Platzanweiser warf einen Blick auf die Karten, die Clark, Lana und Whitney vorzeigten, und führte sie dann zum vorderen Teil des Zeltes. Halb den Gang hinunter saß Nell und winkte Lana zu. »Ich glaub’s einfach nicht«, flüsterte Lana. »Wir sitzen weiter vorn als meine Tante? Als Lex? Wie hat Chloe das hingekriegt?« »He, nach dem, was sie uns fürs Parken abgeknöpft haben, sollten sie uns auch gute Plätze zuweisen«, murmelte Whitney. »Da sind wir.« Der Platzanweiser blieb an der zweiten Reihe stehen. Chloe und Pete winkten ihnen von ihren Plätzen aus zu. Der Platzanweiser gab Lana und Whitney ihre Kartenabschnitte. »Sie haben die Plätze Vier und Fünf. Und Sie, Sir«, wandte er sich an Clark und gab ihm seinen Abschnitt, »haben Platz Eins direkt hier am Gang. Wir hoffen, dass Ihnen der Vortrag gefällt.« »Nette Plätze, Chloe!« Clark sah sich um. Unter dem großen Segeltuchdach saßen mindestens tausend Leute. »Ich habe außer bei einem Footballspiel noch nie ein größeres Publikum in dieser Gegend gesehen.« »Was...?« Whitney drehte den Kopf, als aus dem Lautsprechersystem des Zeltes Instrumentalmusik drang. »Oh, Mann, sagt bloß nicht, dass wir uns diesen John-Tesh-Mist anhören müssen!« »Whitney, bitte!«, mahnte Lana. »Gib ihnen wenigstens eine Chance.«
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Pete blickte zur Rückwand der Bühne hinauf. »Was sind denn das für wirbelnde Sterne? Das sieht wie ein riesiger Computerbildschirmschoner aus.« »Psst!«, zischte Chloe. Sie sah von Pete zu Clark. Clark hob abwehrend die Hände. »He, habe ich was gesagt?« »Das solltest du auch besser nicht!« Sie sah auf ihre Uhr und blickte wieder zur Bühne hinauf. »Ich glaube, es fängt jetzt an.« Wie am Mittwochabend trat Douglas Oliver ans Podium. Heute verriet er kein Anzeichen von Nervosität und brauchte auch keine Karteikarten mehr, um sich an seinen Text zu erinnern. Seine Begrüßung war taktvoll, herzlich und aufrichtig, und Doktor Jacobi betrat unter donnerndem Beifall die Bühne. Die Menge sprang auf und riss alle verwirrten Neulinge mit. Ihr Applaus war ohrenbetäubend. Clark sah den Gang hinauf. Es kam ihm unmöglich vor, dass selbst so viele Leute einen derartigen Lärm erzeugen konnten. Ich könnte fast schwören, dass er vom Lautsprechersystem verstärkt wird, dachte er plötzlich. An diesem Abend ließ Jacobi den Beifallssturm fast zwei Minuten lang anhalten. »Was ist mit diesen Leuten los?« Whitney war auf dem Footballfeld bejubelt worden, aber das hier überstieg sein Begriffsvermögen. »Er hat noch keinen Ton gesagt.« Lana brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen, aber auch sie war von der offenkundigen Wirkung des Doktors auf die Menge völlig überrascht. »Danke, meine Freunde, vielen Dank!« Jacobi hielt seine Hände hoch, senkte sie dann langsam und brachte die Menge zum Schweigen. »Ich sehe heute Abend viele bekannte Gesichter, aber ich sehe auch viele Neulinge unter Ihnen. Willkommen! Ich heiße Sie alle willkommen!«
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Er schwieg zwei Atemzüge lang, um die Spannung der Menge zu steigern, ehe er fortfuhr. »Ich weiß, dass viele von Ihnen noch nie einen meiner Vorträge besucht haben und dass Sie neugierig auf die Arbeit unserer Stiftung sind und wissen wollen, wer ich eigentlich bin.« »Das kannst du laut sagen«, murmelte Pete und bekam einen Stoß von Chloes Regenschirm gegen sein Bein ab. »Ich habe den Großteil meines Erwachsenenlebens dem Studium des Stoffes gewidmet, aus dem die Menschheit gemacht ist...« Jacobi breitete seine Arme aus, als wollte er das ganze Publikum umfassen. »... um die miteinander verbundenen Gründe für die Krankheiten und die Disharmonie in unserem Leben zu verstehen... um die komplexen physischen und metaphysischen Interaktionen zu begreifen, die uns zu den kosmischen Wesen machen, die wir sind...« Clark setzte sich abrupt auf. Hat er gerade »kosmische Wesen« gesagt? »... und um die integrierten Techniken zu entwickeln, die uns die Antworten auf die Fragen liefern, wer wir sind und was wir sein können... und welche Energien existieren, die uns noch größer machen können.« Plötzlich schrie jemand in der Mitte der Zuschauer: »GOTTES LIEBE!« Jacobi eilte an den Rand der Bühne, streckte einen Arm aus und zeigte in die Richtung des Rufers. »Ich vergesse nicht für eine Sekunde die Macht der Spiritualität, mein Freund! Es gibt in der Tat eine spirituelle Ebene in unserem Wesen, so wie es auch eine emotionale und eine mentale Ebene gibt. Sie alle wohnen in unserem Körper. Nach allem, was ich weiß, hat Ihr Glaube Sie dazu gebracht, heute Abend hierher zu kommen!« Er lächelte. »Es gibt manche, die den Glauben an Gott gegen den Glauben an die Wissenschaft ausspielen würden, aber ich gehöre nicht dazu. Schließlich hat uns Gott ein Gehirn zum Denken gegeben, Augen zum Sehen, Stimmen zum Staunen. 151
Und die Wissenschaft hat so viele erstaunliche und wunderbare Dinge über diese Welt und den dahinter liegenden Kosmos enthüllt!« Das Licht wurde gedämpft und die Bühnenleinwand hinter Jacobi zeigte plötzlich das berühmte Bild der Erde, von der Oberfläche des Mondes aus gesehen. »Die Wissenschaft, meine Freunde, hat uns erlaubt, die Planeten zu studieren, auf dem Mond spazieren zu gehen. Aber sie hat uns ebenfalls erlaubt, den Blick nach innen zu wenden und die Bausteine zu studieren, die uns zu dem machen, was wir sind. Sehet!« Eine wirbelnde Säule aus Licht erschien plötzlich in der Mitte der Bühne neben Jacobi. Langsam verwandelte sich das wirbelnde Licht in ein rotierendes Bild einer DNS-Helix, die die Größe eines Menschen hatte. »Seht euch das an!« Whitney war endlich beeindruckt. Lanas Augen wurden groß, ihr Mund formte ein »O«. »Süß.« Pete wandte sich an Chloe. »Was ist das? Eine Art Hologramm?« »Aber wie funktioniert das?« Chloe starrte gebannt die Projektion an. »Es ist wie ein Spezialeffekt in einem Film!« »Sie müssen hier irgendwo einen Multilaserprojektor versteckt haben.« Clark blickte nach oben und entdeckte ein verräterisches Glimmern im Dachgerüst hoch über ihren Köpfen. »Seht, der Laser projiziert ein reguläres Videobild in das Displaymedium. Das erzeugt die Illusion einer 3-DProjektion.« »Displaymedium?« Chloe sah Clark an. »Welches Displaymedium?« »Muss eine Art transparente Leinwand in der Mitte der Bühne sein. Ja, da ist sie...« Er wies auf einen schwach leuchtenden Rand an der Seite des rotierenden Bildes. »Man kann sie kaum erkennen. Wahrscheinlich wurde sie aus der Bühne gefahren, als die Lichter gedämpft wurden.« 152
Jetzt starrte Pete seinen Freund an. »Woher weißt du das alles?« Clark zuckte die Schultern. »Es ist alles im Web zu finden.« Jacobi ging um die rotierende Helix herum und gab seinem Publikum Zeit für Oohs und Aahs, ehe er fortfuhr. »Desoxyribonukleinsäure... DNS... die molekulare Doppelhelix der Chromosomen in den Nuklei jeder lebenden Zelle in unseren Körpern.« Er wies auf das sich drehende Hologramm. »Dies ist unser persönlicher Bauplan. Die Einzelteile dieser Stränge bestimmen unser Aussehen... ob wir nun klein oder groß, dunkel- oder hellhaarig, blau- oder braunäugig werden. Obwohl ihre Größe mikroskopisch ist, ist ihre Wirkung makroskopisch. Das ist die große kosmische Leiter, die uns vom Urschleim hinauf in den Himmel selbst geführt hat. Wir haben gerade erst angefangen zu verstehen, wie diese verdrehte Leiter funktioniert. Wenn wir sie ganz verstehen, wird ein goldenes Zeitalter anbrechen, von dem die Menschheit seit Jahrtausenden geträumt hat. Und der Schlüssel für dieses Verständnis – der Katalysator, der es uns erlauben wird, unsere DNS umzuprogrammieren – wartet um uns herum!« Die holografische Helix flackerte leicht, als sie verblasste. Das Displaymedium versank wieder in der Bühne, die Lichter wurden etwas heller und die Leinwand hinter Jacobi zeigte erneut die Smallville-Meteoritenhauptstadt-Reklametafel. Die Menge raunte, als sie sie wieder erkannte. »Ja, wir alle kennen dieses Schild! Wir sehen es wieder und wieder! Der Meteoritenschauer von 1989 hat diese Gegend berühmt gemacht. Damals hielt man ihn für ein schreckliches Unglück. Aber ich glaube, dass er auch ein wundervolles Geschenk des Himmels war... der Vorbote unseres neuen goldenen Zeitalters!« Lana rutschte auf ihrem Sitz hin und her und ballte wütend die Fäuste. Dieses »Geschenk des Himmels« hat meine Eltern getötet. 153
Lana war nicht allein mit ihren Gefühlen. Andere in der Menge murmelten empört. Hinter der Bühne stellte Wolfe seine Tasse ab und flüsterte in sein Mikrofon: »Pass besser auf, was du sagst. Ein paar von den Einheimischen werden sauer.« Auf der Bühne ging Jacobi bereits auf die Empörung ein. »Ja, die Meteoriten haben einen schrecklichen Tribut gefordert. Sie haben eine Katastrophe über diese Gegend gebracht und zu Tod und Leid geführt... und das dürfen wir niemals vergessen! Allerdings sollten wir auch nicht das Geschenk vergessen, das uns dieser Schauer hinterlassen hat! Meine Freunde, der große Schauer von 1989 war nur das Letzte in einer Reihe von Ereignissen – kosmischen Ereignissen –, die der Menschheit geholfen haben, aus der Dunkelheit ihrer Höhlen zu kriechen. Es ist mein unerschütterlicher Glaube, dass die Meteoriten uns weitere Sprossen der kosmischen Leiter erklimmen lassen können. Sie werden uns in die Lage versetzen, die nächste große Entwicklungsstufe der Menschheit zu erreichen! Es hat im Lauf der Zeitalter viele derartige Meteoritenschauer gegeben... viele Einschläge nichtterrestrischer Körper auf unserer Welt. Einige von ihnen haben vielleicht erst das Leben auf der Erde möglich gemacht. Von anderen glaubt man inzwischen, dass sie für die Auslöschung der Saurier und anderer, früherer Spezies verantwortlich sind... und den Weg für den Aufstieg der Menschheit geebnet haben. Es gibt Leute, die sich Sorgen machen, dass weitere Einschläge eines Tages auch zu unserer Auslöschung führen könnten. Ich unterschätze diese Gefahr nicht. Aber leben wir nicht alle tagtäglich mit der Gefahr? Smallville ist noch immer eine sehr ländliche Gemeinde und die Farmarbeit kann sehr gefährlich sein. Die Existenz an sich ist unsicher. Und das Leben ist, wie das hohe Alter, nichts für Waschlappen!« 154
Das brachte Jacobi ein paar leise Lacher aus dem Publikum ein und er lächelte. Sie waren wieder auf seiner Seite. Im hinteren Teil des Zeltes verfolgte Lex, wie Jacobi mit der Menge umging. Ja, er war wirklich gut. »Meine Freunde, ich bin ein Optimist.« Jacobi legte seine rechte Hand ans Herz. »Ich bin überzeugt, dass eine aufsteigende Menschheit einen Weg finden wird, uns vor derartigen Gefahren zu schützen. Und, wie ich sagte, wir haben den Schlüssel zum Aufstieg in Reichweite.« Hinter der Bühne drückte Wolfe einen Knopf und die Bühnenleinwand zeigte jetzt mehrere Meteoritenfragmente, in denen grün leuchtende Kristalle eingebettet waren. In der zweiten Reihe bewegte sich Clark unbehaglich auf seinem Stuhl. »Das sind sie, meine Freunde.« Jacobi drehte sich halb und wies auf die Leinwand. »Die Saatkörner unseres kosmischen Vermächtnisses... der Schlüssel zum Aufstieg und Fortschritt der Menschheit. Nach dem ’89er Schauer haben die großen Institute der Wissenschaft das Land durchkämmt, die größten Meteoritenfragmente eingesammelt und sie zur Untersuchung fortgeschafft. Und was war das Hauptergebnis dieser Untersuchung?« Er sah mit einem indignierten Gesichtsausdruck in die Menge. »Ich werden Ihnen sagen, was sie ergab... nichts! Absolut nichts. Sie haben diese Proben im besten Fall oberflächlich untersucht. Der Öffentlichkeit wurde versichert, dass etwaige zurückgebliebene kleinere Weltraumtrümmer keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen. Uns wurde gesagt, dass man an den Meteoriten nichts Ungewöhnliches entdeckt hatte. Oh, von einigen ging eine schwache Strahlung aus, wurde uns gesagt, aber es gäbe keinen Grund zur Sorge... die Strahlenbelastung wäre nicht stärker als die vom Leuchtziffernblatt einer Armbanduhr. Und technisch gesehen hatten sie Recht. Und doch haben sie sich sehr, sehr geirrt. 155
Denn ich sage Ihnen jetzt, dass diese Wissenschaftler... nein, ich sollte sie mit diesem Titel nicht aufwerten... dass diese Bürokraten uns getäuscht haben! Wir hatten allen Grund zur Sorge... ein großer Segen für die Menschheit wurde ignoriert, weggeworfen. Ja, es bestand einige Gefahr... aber es war die Gefahr, dass ein großartiges Werkzeug falsch eingesetzt wird! In den letzten Monaten haben wir viele Beispiele für die Konsequenzen dieser bürokratischen Inkompetenz gesehen.« Die Meteoritenfragmente verblassten auf der Leinwand und wurden von dem Highschooljahrbuchbild eines jungen Mannes von etwa fünfzehn oder sechzehn Jahren ersetzt. »Nehmen Sie den Fall des jungen Jeremy Creek. Er wurde vor zwölfeinhalb Jahren ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er ein schweres Trauma erlitt, weil er fast von einem der größten Meteoriten getroffen wurde. Komatös und an einem extremen elektrolytischen Ungleichgewicht leidend, ist er in einem Jahrzehnt nicht um einen Tag gealtert! Die Experten sind verblüfft. Aber Jeremys Fall ist bei weitem nicht einzigartig.« Jacobi ging auf der Bühne auf und ab. »Ein einheimischer Junge ist kürzlich verschwunden, nachdem seine Mutter unter verdächtigen Umständen starb... Ihre Leiche war in eine Art Kokon gehüllt, als wäre sie von einem riesigen Insekt eingesponnen worden. Das Körpergewebe einer jungen Frau wurde offenbar so formbar, dass sie ihr Aussehen genug verändern konnte, um die Gestalt anderer Leute anzunehmen. Eine andere junge Dame fiel ihrem aus den Fugen geratenen Stoffwechsel zum Opfer, der nicht nur sie, sondern auch andere gefährdete.« Er blieb stehen und sah ins Publikum. »Diese Fälle sind ein Beweis für die Macht der Meteoriten. Die Bürger dieser Stadt können es bestätigen... All das hat sich in den letzten Monaten in dieser Gegend ereignet. Junge Leute wurden ins Krankenhaus eingeliefert. Tragischerweise hat es
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einige Todesfälle gegeben. Das gibt Grund zur Sorge... aber nicht zur Furcht! Bei der Mehrzahl der Betroffenen handelt es sich um Teenager, jene, die zur Zeit des Meteoritenschauers Kinder waren... jene, die ihr ganzes Leben in dieser Gegend verbracht haben. Was mit ihnen passierte, war nicht ihre Schuld.« Jacobis Stimme wurde sanfter. »Meine Freunde... wir sollten nicht in Furcht um unsere Kinder leben. Der Kontakt mit den Meteoriten war nur einer von vielen Faktoren, die zu dieser Hand voll extremer Fälle geführt haben. Diese wenigen Unglücklichen machen nur einen winzigen Bruchteil der Bevölkerung aus. Bei der großen Mehrheit der jungen Leute in diesem Teil des Landes handelt es sich um gesunde, normale Menschen.« Chloe rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Er zitiert all diese Fälle, aber er erwähnt meine Site nicht. Habe ich nicht ein Recht darauf, wenigstens namentlich genannt zu werden? Sie war verstimmt. »Vorhin habe ich über das Gefahrenpotenzial gesprochen. Nun, eine Motorsäge, die falsch benutzt wird, kann zu Verletzungen, sogar zum Tode führen. Aber wenn Sie diese Säge vorsichtig einsetzen, so, wie sie eingesetzt werden sollte, können Sie damit das Holz zurechtschneiden, um ein schönes, stabiles Haus zu bauen. Auch die Meteoritenfragmente müssen richtig eingesetzt werden.« Jacobi wandte sich zur linken Bühnenseite. »Douglas?« Douglas Oliver tauchte mit einem Karren auf. Darauf lag ein kleiner Metallkoffer. »Vielen Dank.« Als Douglas verschwunden war, entriegelte Jacobi den Koffer. Die Lichter wurden wieder gedämpft und Schweigen senkte sich über die Menge. »Stellen Sie sich vor, was wir tun könnten, wenn es uns gelänge, die Macht dieser Meteoriten zu bändigen und für einen guten Zweck einzusetzen!« Jacobi 157
öffnete den Koffer, und augenblicklich wurde sein Gesicht in weiches grünes Licht getaucht. Clark bekam ein unbehagliches Gefühl. Jacobi nahm den Meteoriten aus dem Koffer. Clark umklammerte die Lehnen seines Stuhles und spürte, wie sich das Metall in seinen Händen verformte. Eilig bog er es, so gut es ging, wieder zurecht. Entspann dich, Clark... bleib cool. Solange er nicht mit diesem Ding von der Bühne herunterkommt, dürfte dir nichts passieren, versuchte er sich zu beruhigen. »Dies ist mein persönlicher Weltraumstein.« Jacobi balancierte ihn in einer Hand. »Ich bewahre ihn seit etwa drei Jahren in meiner unmittelbaren Nähe auf. Ich bade täglich in seiner wohltuenden Strahlung und ich kann Ihnen versichern, dass ich keine schädlichen Auswirkungen erlebt habe. Im Gegenteil, seitdem habe ich nicht einmal mehr eine Erkältung bekommen. Meine Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, doch ich glaube nicht, dass dies ein Zufall ist.« Er lächelte. »Aber ich spreche hier über mehr als nur ein Heilmittel für Erkältung, so willkommen es auch sein mag. Ich spreche über die Ausmerzung praktisch aller Krankheiten... die Verlängerung der menschlichen Lebensspanne... den Aufstieg der Menschheit zur nächsten Stufe... die Erfüllung unseres Schicksals als Bürger des Kosmos! Ich glaube, dass diese Meteoriten, wenn sie in einer kontrollierten Umgebung richtig eingesetzt werden, der Schlüssel für Gesundheit und ewiges Leben sind! Stellen Sie sich nur die Möglichkeiten vor: Die Energien, die den Alterungsprozess über ein Jahrzehnt lang anhalten konnten, könnten auch den geistigen und körperlichen Verfall stoppen – vielleicht sogar umkehren! Ein Mineral, das lebendes menschliches Gewebe so formbar wie Plastik machen konnte, könnte Heilungsprozesse ermöglichen, von denen wir derzeit
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nur träumen. Abgetrennte Gliedmaßen könnten sich regenerieren! Verletzungen könnten ohne Narben verheilen! Das liegt alles in unserer Reichweite, wenn wir nur danach suchen würden. Gibt es Gefahren? Ja! Aber die größere Gefahr ist, uns nicht weiterzuentwickeln und zu verbessern! Keine unserer Hoffnungen und Träume wird Wirklichkeit, wenn wir nicht unermüdlich weitermachen!« Er hielt den Meteoriten hoch. »Ich verspreche Ihnen – ich werde meine Verantwortung Ihnen gegenüber erfüllen. Ich werde weiter diese Meteoriten untersuchen. Und im Gegensatz zu anderen Institutionen wird die Aufstiegs-Stiftung keine ihrer Entdeckungen unter Verschluss halten! Wir werden all unsere Entdeckungen mit anderen teilen. Wir können nicht ruhen, bis wir dieses großartige Werkzeug beherrschen! Ich glaube, dass wir kurz vor einem großen Durchbruch stehen... kurz vor der Entdeckung wirksamer neuer Therapien, die die Lebensqualität verbessern können. Wir können es schaffen und wir werden es schaffen – dank der großzügigen Hilfe von Ihnen allen, die sich der Stiftung angeschlossen haben und sie unterstützen!« »Doktor, ich will helfen!« Köpfe drehten sich in die Richtung der Stimme aus dem Publikum. Ein Scheinwerfer schwenkte über die Menge und kam bei einem unauffällig gekleideten Mann in der zehnten Reihe zum Halt. Ein Platzanweiser eilte zu ihm und hielt ein drahtloses Mikrofon in seine Richtung. »Mein Name ist Herb Langley und ich bin seit über sechs Monaten ein Abonnent Ihrer Website. Ich stimme Ihnen hundertprozentig zu. Wir alle müssen unseren Teil dazu beitragen, damit Ihre Vision Wirklichkeit wird.« »Vielen Dank, Herb. Das Geld, das Sie durch Ihr Abonnement beigesteuert haben, hat uns bei unserer Arbeit geholfen.« »Ich danke Ihnen, Doktor! Aber ich will mehr tun.« Er zog ein Bündel Geldscheine aus seiner Tasche. »Ich bin kein
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reicher Mann, nur ein normaler Arbeiter. Aber ich habe hier hundert Dollar, die ich der Stiftung spenden möchte!« »Herb, ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Jacobis Stimme bebte und seine Augen wurden feucht. »Mitglieder bedenken die Stiftung häufig mit zusätzlichen Beiträgen und Spenden, aber ich habe selten eine so von Herzen kommende...!« »Ich will auch spenden!« Ein zweiter Scheinwerfer fiel auf eine Frau, die zwei Reihen weiter saß. »Ich habe gestern Abend Ihr Seminar besucht.« »Ah, ja, ich erinnere mich an Sie, meine Liebe. Ms. Carney, nicht wahr?« »Ja, Doktor... Elaine Carney. Ich leide schon seit sehr langer Zeit an Rheuma in der rechten Schulter. Aber in diesem Seminar hatte ich Gelegenheit, neben Ihrem Meteoriten zu sitzen und mich auf seine Kraft zu konzentrieren, wie Sie es uns geraten haben – und sehen Sie mich jetzt an!« Sie hob die Hände hoch über den Kopf und bewegte anmutig ihre Arme. »Ich habe keine Schmerzen mehr!« »Das ist absolut bemerkenswert, Ms. Carney. Aber wir können nicht sicher sein, dass allein der Meteorit für das Ende Ihrer Schmerzen verantwortlich ist.« »Ich bin mir sicher!« Da waren Tränen in ihren Augen. »Ich habe mich seit Jahren nicht mehr so gut gefühlt! Es gibt nicht genug Geld auf der Welt, um Ihnen zu danken, aber ich werde einen Anfang machen. Hier sind dreihundert Dollar, um Ihre Arbeit voranzutreiben!« Dann stand ein weiterer Zuschauer auf und noch einer. Plötzlich eilten die Platzanweiser mit Eimern hin und her, um die Spenden einzusammeln, und die Leute griffen nach ihren Brief- und Handtaschen, um etwas – irgendetwas – zu spenden, als die Eimer vorbeikamen. »Was geht hier vor?« Chloe riss den Kopf herum, als ein weiterer Platzanweiser mit einem Eimer in der Hand
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vorbeieilte. »Wieso ist plötzlich eine Sammelaktion daraus geworden?« »Nun, mir sollten sie den Hut besser nicht hinhalten.« Pete verschränkte die Arme. »Ich habe schon auf dem Parkplatz gespendet.« Whitney schnaubte. »Ich auch.« »Oh, mein Gott.« Lana versuchte, sich in ihrem Sitz zu verkriechen. »Jetzt steht Nell auf!« »DOKTOR! ICH BRAUCHE IHRE HILFE!« Aus dem hinteren Teil des Zeltes kam ein Mann den Gang herunter, dicht gefolgt von einer Frau und einem minderjährigen Jungen. »Mein Name ist Ray Harrison und mein Sohn ist krank.« Hinter der Bühne entdeckte Wolfe die Harrison-Familie auf einem seiner Monitore und fluchte lautlos. »Gefahr voraus und schnell näher kommend.« Er drehte die Musik auf und drückte einen Knopf, um seine Platzanweiser zu warnen. Ray entriss einem der Platzanweiser ein Mikrofon, aber es versagte in seiner Hand. Er gab es zurück, schob den Platzanweiser beiseite und ging weiter. Seine Stimme war ein heiseres Bellen, als er versuchte, die Musik zu übertönen. »DOKTOR JACOBI, mein Sohn hat einen TUMOR!« Ein paar Platzanweiser versuchten Ray abzudrängen, aber er bahnte sich weiter seinen Weg zur Bühne. »Seine Ärzte sagen, dass sie nichts mehr für ihn tun können! Doktor, Sie müssen UNS HELFEN!« Im Zelt wurde es still. Schweiß perlte von Wolfes Stirn, als die Harrison-Familie einen der Monitore ausfüllte. »Stu...?« Ray zog seinen Sohn zu sich heran und drückte ihn an sich. »Das ist mein Sohn Stuart.« Die Platzanweiser, die herbeigerannt waren, um den Harrisons den Weg zu versperren, warfen einen Blick auf Stuart und blieben abrupt stehen. Stuart Harrisons Haut war so weiß wie Pergament und er war fast bis auf das Skelett abgemagert. Er konnte sich kaum auf 161
den Beinen halten und musste von seinem Vater gestützt werden. Auf dem Kopf trug er eine weiche Stoffmütze, als müsste er sich vor der Nachtluft schützen. Krank, wie er war, sah Stuart verlegen und fast ein wenig wütend drein, als ihn die Leute anstarrten. Die Platzanweiser traten zur Seite, um die Familie vorbeizulassen. Auf der Bühne legte Jacobi seinen Meteoriten auf den Koffer und musterte die Menge. Die Hälfte der Zuschauer starrte die Harrisons an, die andere Hälfte ihn. »Doktor, ich besitze nicht viel in dieser Welt, aber es gehört alles Ihnen – mein Haus, mein Auto, alles –, wenn Sie meinem Sohn helfen! BITTE!« Hier und dort wurden Rufe wie »Tun Sie’s!« und »Helfen Sie ihnen!« laut, als die Musik anschwoll. Jacobi schaltete sein Hauptmikrofon ab und flüsterte in ein kleineres Mikro, das in seinem Kragen versteckt war: »Dreh die Musik ab.« »Bist du verrückt?«, drang Wolfes Stimme aus seinem Kopfhörer. »Dieser Junge ist dem Tode nahe. Wir müssen das so schnell wie möglich beenden!« »Dafür ist es zu spät. Ich muss mich darauf einlassen. Dreh diese Musik ab. Sofort, verdammt!« Wolfe drückte einen Knopf und sank resigniert zurück auf seinen Stuhl. Die Musik erstarb. Jacobi hielt seine rechte Hand hoch. Bis auf vereinzeltes Gemurmel wurde es still im Zelt. »Ich höre Sie, Mr. Harrison. Ich will Ihren Besitz nicht. Ich wünschte von Herzen, dass ich Ihrem Sohn helfen könnte, aber unsere Forschung ist noch nicht abgeschlossen. Ich fürchte, wir sind noch weit davon entfernt...« »Sie sagten doch, dass Sie kurz vor einem Durchbruch stehen!« So schwach Stuart auch war, seine Stimme war weithin hörbar. Er machte einen unsicheren Schritt nach vorn 162
und riss seine Mütze herunter. Sein Haar war kurz geschnitten und man sah eine große, wulstige Narbe, die sich quer über seine Schädeldecke zog. »Sie haben uns belogen! Dieser angebliche Wunderstein ist völlig nutzlos!« Er holte aus und warf seine Mütze. Sie flog wie ein Frisbee durch den Gang und landete vor Jacobis Füßen auf der Bühne. Stuart wandte sich an seinen Vater. »Ich habe dir doch gesagt, dass es Zeitverschwendung ist.« »STUART!« Die Zuschauer fuhren zusammen, als Jacobis Ruf aus den Lautsprechern donnerte. »Ich habe nie versprochen, dass ich Wunder bewirken kann. Das ist eine Sache des Glaubens, nicht der Wissenschaft.« Jacobi trat an den Rand der Bühne, kniete nieder und hob die Mütze auf. »Ich weiß nicht, ob ich dir helfen kann oder nicht. Alles, was ich dir anbieten kann, ist Hoffnung.« Er streckte eine Hand aus. »Bist du bereit, deine Chance zu ergreifen?« Der Junge starrte Jacobi an. Die Menge wartete schweigend. Wagte kaum zu atmen. Stuart machte einen schleppenden Schritt nach vorn und nahm Jacobis Hand. Ein Aufschrei ging durch die Menge und zwei Platzanweiser eilten herbei, um Stuart auf die Bühne zu helfen. Pete sah Chloe und Clark an. »Was machen sie?« James Wolfe starrte verblüfft auf seinen Monitor. »Was zum Teufel machst du? Wir sind im Arsch! Du kannst diesem Jungen nicht helfen!« Jacobi legte beide Hände um Stuarts. »Man weiß nie, was man erreichen kann, bis man es versucht. Bist du bereit, zusammen mit mir ein kleines Experiment zu wagen, Stuart?« »Warum nicht? Was habe ich schon zu verlieren?« »Genau das denke ich auch!« Jacobi gab dem Jungen den Meteoriten. »Könnten wir bitte das Licht dämpfen?« Betäubt tat Wolfe, wie ihm befohlen. 163
»In Ordnung, bleiben Sie bitte alle sitzen und bewahren Sie Ruhe...« Jacobi legte seine Hände unter Stuarts Unterarme und stützte den Jungen, während er den Meteoriten hielt. »Stuart, ich möchte, dass du die Seiten des Meteoriten festhältst – ja, genau so – und in seinem Licht badest. Jetzt schließ deine Augen und entspann dich... entspann dich...« »Idiot...!« Wolfe wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Willst du die Hypnotherapie versuchen? Jetzt? Unter diesen Bedingungen?« »... nichts spielt noch eine Rolle... entspann dich einfach.« Jacobis Stimme war leise, beruhigend. »Entspann dich. Lass die Spannung aus deinen Muskeln weichen. Stell dir vor, wie der Meteorit durch dich hindurchfliegt. Bade in seinem Licht... lass ihn die Gifte fortwaschen, deinen Körper und Geist reinigen. Sag mir, wie fühlst du dich?« »Besser...« Stuarts Antwort kam zögernd. Seine Stimme klang erleichtert und ein wenig überrascht. »... gut.« »Ja... gut. Entspann dich und fühle, wie alle Spannungen und die Furcht von dir abfallen. Lass es zu, dass sie durch Kraft ersetzt werden. Stell dir vor, wie du stärker wirst...« Hinter der Bühne kaute Wolfe an seinen Fingernägeln. »Du hast mehr Mut als Verstand!« Er schaltete sein Mikro auf Kanal Drei und gab seinen Platzanweisern neue Befehle. »Okay, Leute, es ist wichtig, dass wir das Experiment des Doktors nicht stören. Aber einige Zuschauer werden vielleicht ein wenig... erregt sein, wenn es vorbei ist. Ich möchte, dass ihr euch langsam und unauffällig zur Bühne bewegt.« Wolfe stützte sich mit beiden Händen auf die Konsole und seine Tasse geriet gefährlich ins Wackeln. Er griff nach ihr – zu spät –, und sie kippte um. Sein Sportgetränk ergoss sich auf das Lichtkontrollpult. Ein Zischen, dann ein Knall. Hoch über der Bühnenmitte flammten plötzlich die Hologrammprojektorlaser auf. Einer der Strahlen pulsierte – mit voller Kraft – und traf das Herz des Meteoriten. Grünes 164
Licht überflutete die Bühne und tauchte Jacobi und den Jungen in einen blendenden, grellen Schein. Stuart Harrison verkrampfte sich. Er zitterte so heftig, dass Jacobi zurückgeschleudert wurde. Ein paar Meter den Gang hinauf schrie seine Mutter Mary auf. »Nein! NEIN!« Wolfe schlug mit der Hand auf einen Notschalter und der Laser erlosch. Stuart brach auf dem Boden der Bühne zusammen und ließ den Meteoriten fallen. Clark war im nächsten Moment auf den Beinen, aber als er den Rand der Bühne erreichte, wurden seine Knie weich. »STU!« Ray Harrison rannte den Gang hinunter, dicht gefolgt von Mary. Clark biss die Zähne zusammen, strengte sich an und zog sich mühsam auf die Bühne. Zwei Platzanweiser packten Ray an den Armen, um ihn zurückzuhalten. Er riss die Arme hoch, schüttelte die Platzanweiser ab und rannte weiter. Whitney, in seiner Reihe gefangen, sprang über den Mann in der Reihe vor ihm hinweg und stürmte Clark zu Hilfe. Mary rannte zwei weitere Meter und wurde ohnmächtig. »Mrs. Harrison...?« Chloe griff nach der Frau, um sie auf Clarks leeren Stuhl zu ziehen. »Pete! Lana!« Ihre Klassenkameraden waren halb von ihren Plätzen aufgestanden, nicht sicher, was sie als Nächstes tun sollten. Sofort eilten sie nun herbei, um Mary Harrison zu helfen. »Kent!« Leicht schwankend drehte sich Clark um und sah, wie Whitney sich anschickte, Ray Harrison auf die Bühne zu stemmen. »Kent! Hilf uns!« Clark packte die Unterarme des älteren Mannes und zog, während Whitney von unten drückte. Ray rappelte sich auf und stürzte zu seinem Sohn, während Clark Whitney auf die Bühne half. 165
Im Mittelgang stolperte ein Platzanweiser und fiel fast gegen Mary. Pete drängte sich an den Mädchen vorbei und stieß den schwankenden Freiwilligen aus dem Weg. Er entriss dem Mann eine Wasserflasche und reichte sie Chloe. In der Bühnenmitte sank Ray auf die Knie und nahm seinen Sohn in die Arme. Jacobi beugte sich über die beiden und bewegte stumm die Lippen, als hätte er die Sprache verloren. In seinen Händen hielt er den Meteoriten in ihre Richtung. Sein grünes Leuchten fiel auf die Harrisons, Whitney... und Clark. Whitney rannte an ihm vorbei. »Komm, Clark, bleib jetzt nicht stehen!« Clark wankte. Er konnte sehen, wie sich die Adern an seinen Händen wanden, pulsierten und eine kranke, grünschwarze Färbung annahmen. Er funkelte Jacobi an. »HE! SCHAFFEN SIE DIESEN STEIN VON HIER WEG!« Jacobi richtete sich ruckartig auf, als hätte Clarks Schrei ihn geweckt. Er fuhr herum und eilte davon, um den Meteoriten in seinem Koffer einzuschließen. Clark spürte, wie seine Kräfte augenblicklich zurückkehrten. Eilig gesellte er sich zu Whitney an der Seite der Harrisons. Der Quarterback legte zwei Finger an Stuarts Hals. »Wie geht es ihm?« »Er atmet noch.« Whitney schüttelte den Kopf. »Aber sein Puls ist schwach.« »Oh, mein Gott, er verbrennt innerlich!« Ray sah so bleich aus, als würde er gleich selbst zusammenbrechen. »Ich muss ihn ins Krankenhaus bringen.« »CLARK!« Lex’ Schrei übertönte den lauter werdenden Lärm der Menge. Clark blickte auf und sah, wie sich Lex durch einen Seitengang drängte und ein Handy über seinem Kopf schwenkte. »Der Krankenwagen ist unterwegs! Ich habe ihnen gesagt, sie sollen an der Rückseite des Zeltes vorfahren!«
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»Gute Arbeit!« Clark warf einen Blick über seine Schulter zu den anderen. »Haben Sie das gehört, Mr. Harrison? Hilfe ist unterwegs.« Clark musterte die Menge. Fast alle waren in Bewegung und füllten die Gänge. Er konnte sehen, wie Lana in der zweiten Reihe Mary Harrison Luft zufächerte, während Chloe die Frau drängte, einen Schluck Wasser zu trinken. Pete stand am Ende dieser Reihe und bewachte den Zugang. »Clark, ist da oben alles unter Kontrolle?« »Ich denke schon. Kannst du nach Stuarts Mom und den Mädchen sehen?« Pete zeigte ihm den nach oben gerichteten Daumen. »Du liest meine Gedanken, Alter. Ich werde sie so schnell wie möglich aus dieser Menge rausbringen!« »Danke!« Clark erwiderte die Geste, griff dann nach unten und zog Lex auf die Bühne. Sie würden jetzt in Sicherheit sein. Pete war nicht sehr groß, aber fast so breitschultrig wie Clark, und er hatte die Zähigkeit einer Bulldogge. »Meine Schuld...« Ray war wie ein Zombie. »... das ist alles meine Schuld.« Lex kauerte neben Ray nieder. »Nein, das ist es nicht, Sir.« Er sprach gedämpft und klang überzeugt und beruhigend. »Versuchen Sie sich zusammenzureißen. Sie müssen den Sanitätern die Krankengeschichte Ihres Sohnes geben, sobald sie eintreffen.« »Richtig... richtig.« Ray schloss die Augen und atmete tief durch. Clark konnte fast hören, wie sich der Pulsschlag des Mannes wieder normalisierte. Ray öffnete die Augen und sah sich auf der Bühne um. »Mary? Wo ist meine Frau...?« »Sie ist noch immer unten im Zuschauerraum, Mr. Harrison.« Clark legte beruhigend eine Hand auf Rays Schulter. »Aber das ist okay. Freunde sind bei ihr. Wir werden sie draußen treffen.«
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Clark sah von Ray zu Whitney und Lex. »Wir müssen Stuart nach draußen bringen, zur Rückseite des Zeltes. Zu viert können wir es schaffen.« Ich kann es allein machen, wenn es nötig wird, dachte er im Stillen. »Hier, nehmt das.« Whitney schlüpfte aus seiner Jacke und breitete sie auf der Bühne aus. Sie legten Stuart auf die Jacke. Dann packten Clark, Lex, Whitney und Ray je eine Ecke und hoben den bewusstlosen Jungen auf der improvisierten Trage hoch. Mit Clark, der Stuarts Kopf hielt, an der Spitze, eilten sie zu einer Treppe an der rechten Bühnenseite und aus dem Hintereingang des Zeltes. Hinter ihnen, unbemerkt in dem allgemeinen Durcheinander, saß James Wolfe zusammengesunken vor seinen Monitoren. Monitor Zwei zeigte, wie sich die Leute in den Gängen drängten, während die treueren Mitglieder der Stiftung herumstanden und verloren aussahen. Monitor Eins zeigte ein halbes Dutzend ihrer Platzanweiser, die Schulter an Schulter standen und ein paar wütende Männer zurückhielten, die die Bühne stürmen wollten. Und auf Monitor Drei lehnte Don Jacobi am Podium auf der linken Bühnenseite und suchte nach einem Halt, während seine Welt aus den Fugen geriet. Leichter Regen fiel und die blitzenden Blaulichter eines Lowell-County-Krankenwagens erhellten den Nachthimmel, als Pete, Chloe und Lana schließlich aus dem Hintereingang des Zeltes kamen. Die beiden Mädchen stützten und trösteten Mary Harrison. »Hi, Clark!« Pete rannte zu seinem Kumpel. »Wie sieht’s aus?« »Die Sanitäter haben Stuart untersucht. Er ist jetzt bei Bewusstsein.« Clark senkte seine Stimme, als Mrs. Harrison vorbei zu ihrem Mann eilte. »Er ist bei Bewusstsein, aber benommen, außerdem hat er hohes Fieber.«
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»He, schau nicht so niedergeschlagen drein.« Pete schlug seinem Kumpel auf den Rücken. »Du hast für ihn getan, was du konntest.« »Ja, ich schätze, das haben wir.« Clark drehte sich um und verfolgte, wie die Harrisons zu ihrem Sohn und einem Rettungssanitäter in den Fond des Krankenwagens stiegen. Seine Gedanken quälten ihn. Ich hätte ihn schneller ins Krankenhaus bringen können... aber was wäre gewesen, wenn er unterwegs neue Krämpfe bekommen hätte? Ich kann erste Hilfe leisten, aber das ist auch alles. Sie verfolgten, wie der Krankenwagen mit heulender Sirene davonfuhr. Er kam etwa zwanzig Meter weit, dann geriet sein Heck ins Rutschen. Die Räder des Wagens drehten durch, gruben sich in die feuchte Erde, und aus der Kabine drang ein lauter Fluch. Clark war der Erste, der die Fahrerseite erreichte. »Was ist los?« Der Fahrer runzelte die Stirn. »Ich hatte nicht mit so viel Morast gerechnet. Der Regen allein kann die Straße nicht so aufgeweicht haben. Es muss hier eine unterirdische Quelle geben.« Er trat vorsichtig aufs Gaspedal, aber die Räder drehten weiter durch. »Wir stecken fest. Könnt ihr uns anschieben?« »Sicher!« Clark pfiff und sofort waren Whitney, Lex und Pete zur Stelle. Binnen Sekunden nahmen sie ihre Positionen am Heck des Krankenwagens ein. Whitney, der daran gewöhnt war, ein Team anzuführen, übernahm das Kommando. »Okay, bei drei! Eins... zwei... DREI!« Der Fahrer gab Gas und die vier jungen Männer stemmten ihre Schultern gegen den Krankenwagen und schoben an. Aber im Grunde wurde nur einer von ihnen gebraucht. Ohne dass die anderen es sahen, griff Clark unter das Fahrzeug, packte die Karosserie und wuchtete sie hoch. Er
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versank bis zu den Knien im feuchten Erdreich, aber es lohnte sich, denn der Krankenwagen löste sich aus dem Morast. »Er... bewegt sich!« Whitney atmete schwer. »Strengt euch an... los!« Clark gab dem Krankenwagen einen mächtigen Stoß und das Fahrzeug machte einen Satz und erreichte den festen Schotter der Auffahrt. Whitney gab einen Freudenschrei von sich, als er und Lex aus dem Morast stapften. »Wir haben es geschafft, Mann!« »Das haben wir.« Lex verfolgte, wie die Lichter des Krankenwagens in der Nacht verschwanden. »Es war leichter, als ich gedacht hatte.« »Das ist deine Meinung.« Pete war noch immer auf Händen und Knien und spuckte Schlammbrocken und Gras aus. Als Whitney Pete auf die Beine zog, sah sich Lex um. »Wo ist Clark?« »Hier!« Clark stapfte aus der Dunkelheit, von der Hüfte abwärts mit Schlamm bedeckt. »Der Boden muss dort, wo ich stand, etwas weicher gewesen sein.« »Wow! Ihr vier seht schrecklich aus!« Sie drehten sich um und sahen, wie Lana und Chloe unter einen Schirm geduckt vorsichtig über den morastigen Boden gingen. »Ihr solltet euch besser irgendwo unterstellen.« »Dafür ist es jetzt ein wenig zu spät, Lana.« Clark griff nach einem Zipfel seiner Jacke und wrang Wasser aus. »Wenigstens ist es ein warmer Regen.« »Warm oder nicht, ihr solltet euch besser abtrocknen, bevor ihr euch alle eine Erkältung holt.« Sie wandte sich an Whitney. »Wir haben unterwegs Nell getroffen und sie war von den Ereignissen des Abends ziemlich aufgewühlt. Ich denke, ich fahre besser mit ihr nach Hause.« »Ich verstehe. Komm, ich bringe dich zu ihrem Wagen.« Lana zog ihre Jacke über den Kopf. »Peter, vielen Dank für deine Hilfe. Chloe... Clark, ich werde euch wegen des nächsten 170
geplanten Treffens anrufen. Lex... pass auf dich auf!« Sie winkte und bog mit Whitney um das Zelt. »Ich sollte auch gehen.« Lex wischte seinen verschlammten Schuh im Gras ab, ohne dass es viel nutzte. »Na ja, ich wollte den Wagen sowieso reinigen lassen. Gute Nacht.« »Der Wagen...!« Pete sah an sich und Clark hinunter. »Oh Mann, wir werden den Schlamm überall in Pas Wagen verteilen. Er wird mich umbringen!« »Nein, das wird er nicht, Pete. Schließlich war es ein Notfall. Dein Dad ist ein ziemlich verständnisvoller Mann.« »Ja, aber er liebt diesen Wagen. Vielleicht, wenn ich mich bis auf meine Unterwäsche ausziehe...?« Pete sah Chloe an und schüttelte den Kopf. »Nein, streicht das. Dafür würde er auf keinen Fall Verständnis haben!« Clark wrang Wasser aus seiner Jacke. »Sieh mal, ich bin viel dreckiger als du. Ich könnte einfach zu Fuß nach Hause gehen.« »Das sind viele Kilometer! Du wirst ewig dafür brauchen.« »Nein, werde ich nicht. Ich bin ziemlich gut zu Fuß. Außerdem lässt der Regen nach. Ich komme schon klar.« Clark wandte sich ab. »Wir sehen uns später!« »Clark!«, rief Pete, aber sein Freund war bereits in der Dunkelheit verschwunden. Er kratzte sich am Kopf und lachte leise. »Dieser Kerl ist was Besonderes.« »Ja... das ist er wirklich.« »Ha, die große Journalistin hat gesprochen!« Pete trat unter den Regenschirm und sein Lächeln verblasste. »He, bist du okay, Chloe? Du hast kaum ein Wort gesagt...« »Ich bin nur ziemlich geschockt von dem, was passiert ist... geschockt, desillusioniert und ein wenig verängstigt.« Sie drehte den Schirm, sodass die Regentropfen davonflogen. »Ich meine, ich dachte, Doktor Jacobi wäre der richtige Mann. Er hat all meine Theorien bestätigt... er hat die richtigen Dinge
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gesagt. Und dann hat sich alles in... ich weiß nicht was verwandelt.« »Ja, ich kann verstehen, dass dich das verängstigt hat.« Chloe schüttelte den Kopf. »Das war bloß der geschockte und desillusionierte Teil. Nein, ich meine, was heute Abend mit Stuart passiert ist, mit dem leuchtenden Meteoriten und dem Laser und allem!« Sie schauderte. »Pete, ich denke, wir haben vielleicht einen Teil meiner Theorie der Merkwürdigkeiten in Aktion erlebt.«
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10 DIE GLÄSERNE DOPPELTÜR des Notaufnahmeeingangs öffnete sich zischend, als die Rettungssanitäter Stuart ins Krankenhaus rollten. Doktor Caroline Van Etten kam herbeigerannt. »Joel... Mark! Ist das unser Krebspatient?« »Ja! Männlicher Weißer, 18 Jahre alt. Bekam bei einer öffentlichen Veranstaltung Krämpfe und brach zusammen. Die Krämpfe hatten nachgelassen, als wir eintrafen.« Joel gab ihr den Bericht. »Bei Bewusstsein, postkritisch. Temperatur liegt bei vierzig. Puls einhundertdreißig. O2-Sättigung bei achtundneunzig Prozent, regelmäßige Sinuswelle auf dem Monitor. Blutzucker normal. Wir haben ihm vor Ort hundert Milligramm Thiamin gegeben.« Van Etten wandte sich an den Leiter der Notaufnahme. »Rudy, informieren Sie die Onkologie – wir brauchen hier sofort einen Spezialisten. Und rufen Sie das Metropolis General an. Sie sollen alles für die Aufnahme vorbereiten.« »Verstanden.« Rudy griff bereits nach dem Telefon. »Lufttransport?« »Nur wenn sie tief fliegen können.« Sie runzelte die Stirn. »Vielleicht müssen wir hier einen Schädeleingriff vornehmen.« Ein großer Mann folgte hinter der Trage, begleitet von einer Frau, die er halb führte, halb stützte. »Dr. Van Etten!« Der Mann wirkte verzweifelt. »Es ist mein Junge – Stuart Harrison!« Van Etten erinnerte sich an Ray Harrison. Er hatte seinen Sohn vor zwei Wochen schon einmal in die Notaufnahme gebracht. Der Junge sah jetzt viel schlechter aus. Was zum Teufel war passiert? Sie winkte dem Leiter der Notaufnahme zu. »Es ist okay. Sie können mitkommen.« Sie überflog den Feldbericht der Sanitäter. »Keine krampflösenden Mittel?«
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»Noch nicht. Wie ich schon sagte, die Krämpfe hatten nachgelassen.« Sie sah Stuart in die Augen, während sie ihn ins Zimmer Eins der Notaufnahme rollten. »Stuart, kannst du mich hören?« »Grün... grün...«, kam es schleppend hinter der Atemmaske hervor. »Was war das?« Van Etten konnte ihn kaum verstehen. »Ich glaube, er hat ›grün‹ gesagt.« Die Notaufnahmeschwester beugte sich nach vorn, um ein Tympanumthermometer in Stuarts Ohr zu stecken. Sie las die Anzeige ab und blickte alarmiert auf. »Temperatur bei vierzigkommafünf.« »Besorgen Sie ein paar Eisbeutel für ihn! Und bereiten Sie einen CT-Scan vor!« Van Etten blätterte den Bericht durch und wandte sich an die Harrisons. »Ist er gegen irgendwelche Medikamente allergisch?« »Nein.« Mary Harrison schüttelte den Kopf. »Gegen keine.« »Gut.« Sie führte die Harrisons aus dem Untersuchungsraum. »Wir werden eine Computertomografie vom Kopf Ihres Sohnes machen, um festzustellen, ob es innere Blutungen, erhöhten Druck in den Blutgefäßen, Wucherungen oder Tumore gibt...« »Davon werden Sie eine Menge finden, Doc.« Rays Stimme brach und Mary drückte ihn fest an sich. »Natürlich.« Van Etten machte eine Notiz auf dem Krankenblatt und sah sich ungeduldig um. Wo blieb nur der Onkologe? »Jedenfalls, wenn wir keine Zeichen von erhöhtem Druck finden, werden wir eine LP machen. Das ist eine...« »Lumbalpunktion.« Das Wort schoss aus Marys Mund, als würde sie es jeden Tag sagen. »Sie suchen nach Anzeichen einer Infektion?« »Richtig.« Van Etten rief sich ins Gedächtnis zurück, dass sie mit den Eltern eines Krebspatienten sprach, der schon lange an seiner Krankheit litt. Inzwischen beherrschten sie den 174
Großteil der Terminologie so gut wie sie. »Wir müssen die Ursache für dieses Fieber finden, um ihn wirksam behandeln zu können. Es könnte Meningitis sein.« »Es war dieser verdammte Stein.« Tränen traten in Rays Augen. »Das ist alles meine Schuld. Ich hätte ihn nie zu dieser Show mitnehmen sollen.« »Stein?« Van Etten sah die Harrisons verständnislos an. »Stuart hielt ein Meteoritenfragment in der Hand«, erklärte Mary, »als es plötzlich... aufleuchtete... wie ein Suchscheinwerfer.« »Ja.« Ray nickte. »Einer der Jungs, die uns hinterher halfen, sagte etwas davon, dass ein Laser außer Kontrolle geraten ist.« Van Etten wandte sich von den Harrisons zu den Rettungssanitätern, die ihre Feldausrüstung zusammenpackten. Joel nickte und sagte leise: »Sie waren alle in dieser Stiftungszeltshow. Der Vater hat seinen Jungen dorthin gebracht, weil er hoffte, dass ihn irgendein New-Age-Spinner heilen würde.« »Ja.« Mark verstaute ihren tragbaren Herzmonitor auf dem Karren. »Wir haben es nicht gesehen, aber offenbar hat ihn der Quacksalber auf die Bühne geholt und Handauflegen mit einem Steinbrocken aus dem Weltraum gespielt, als die Lichtanlage durchdrehte. Der Junge bekam daraufhin Krämpfe.« »Okay.« Die Ärztin kritzelte hastig eine Notiz auf das Krankenblatt. »Waren irgendwelche Deputys vor Ort?« »Sie trafen gerade ein, als wir wegfuhren.« Van Etten wandte sich an den Leiter der Notaufnahme: »Rudy, rufen Sie das Büro des Sheriffs an. Sagen Sie ihnen, dass wir eine Probe von diesem Meteoriten brauchen, der in der Show eingesetzt wurde. Und sorgen Sie dafür, dass sie vorsichtig damit umgehen – vielleicht ist er mit Bakterien verseucht.« Sie führte die Harrisons zu einer Reihe Stühle neben dem Empfangspult der Notaufnahme. »Ich muss mir diese C. T. ansehen. Warten Sie bitte hier. Rudy wird Ihnen 175
einige Papiere geben, die Sie ausfüllen müssen. Ich komme so schnell wie möglich zurück.« Ray und Mary setzten sich in den Empfangsbereich und kurz darauf trat der Notaufnahmeleiter zu ihnen. »Sie kennen sich inzwischen ja damit aus.« Rudy sprach zwar mitfühlend, aber knapp. »Wir brauchen Ihren Namen, Adresse... den Namen des Patienten... die Versicherung...« »Wir...« Mary konnte nicht weitersprechen. »Wir haben keine Versicherung mehr. Unsere Police ist abgelaufen.« In Rays Stimme schwangen sowohl Scham als auch Zorn mit. »Aber Sie müssen für Stu tun, was Sie können. Ich werde das Geld irgendwie auftreiben.« Hinter den Harrisons erklang eine scharfe, ruhige Stimme. »Machen Sie sich wegen des Geldes keine Sorgen. Es wird alles geregelt.« Rudy sah mit zusammengekniffenen Augen zu der schlammbedeckten Gestalt hinüber, die gerade durch die Doppeltür gekommen war. »Und Sie sind...?« »Lex Luthor.« Er zückte bereits seine Brieftasche. »Stuart Harrison wird die beste Behandlung bekommen, die zur Verfügung steht, ganz gleich, wie hoch die Kosten sind. Ist das klar?« Die Harrisons blickten überrascht auf und der Notaufnahmeleiter keuchte, als sie alle den kahlköpfigen jungen Mann erkannten, der auf sie zutrat. »J-ja, Sir.« »Gut.« Lex brachte eine kleine platinfarbene Plastikkarte zum Vorschein. »Akzeptieren Sie American Express?« Aus der Samstagsausgabe des Smallville Ledger... EINHEIMISCHER JUNGE VORTRAGSZWISCHENFALL IN ZUSTAND Von MARY FRANKLIN 176
NACH KRITISCHEM
Ledger-Redaktion SMALLVILLE – Ein Smallviller Highschoolschüler wurde ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er bei einer Veranstaltung am Freitagabend Krämpfe bekam. Zeugen berichteten, dass Stuart Harrison aus Smallville auf der Bühne einer Zeltshow auf dem Gelände der Aufstiegs-Stiftung nach einer Fehlfunktion eines Laserprojektors zusammenbrach. Harrison wurde am Unfallort von Rettungssanitätern des Lowell Countys behandelt und ins Smallville Medical Center gebracht. Medical-Center-Sprecherin Pauline Beckford sagte, dass Harrison, 18, in kritischem Zustand eingeliefert wurde. »Er wurde in der Notaufnahme behandelt und befindet sich jetzt in der Obhut seines Hausarztes«, teilte Beckford mit. Zeugen berichteten, dass Harrison bereits vor dem Zwischenfall krank war. Die Aufstiegs-Stiftung aus Smyrna, Delaware, hatte kürzlich die ehemalige Alton-Davis-Farm, Old Carter Road 1027, für eine Reihe von Vorträgen und Seminaren gepachtet. Der zweite Vortrag dieser Reihe über alternative medizinische Behandlungen hatte angefangen, als Harrison zusammenbrach. Eine Spezialeinheit der Kansas State Police unterstützt die Deputys des Sheriffs bei der Untersuchung des Zwischenfalls. Beamte erzählten dem Ledger, dass die Fehlfunktion des Projektors von einem »Kurzschluss in einem elektrischen System« hervorgerufen wurde. Am Freitag wurde keine offizielle Erklärung veröffentlicht. Sprecher der Stiftung standen für einen Kommentar nicht zur Verfügung. Die Harrison-Familie konnte nicht erreicht werden. Der Lagerplatz auf dem Stiftungsgelände war am späten Samstagmorgen fast menschenleer. Viele der Camper hatten den Platz über Nacht verlassen. Nur ein paar treue Freiwillige waren geblieben, um den Anschein von Sicherheit 177
aufrechtzuerhalten und sich um die verwirrten Neuankömmlinge zu kümmern, die die Nachricht noch nicht gehört hatten. Die Deputys des Sheriffs blieben über Mittag auf dem Gelände und befragten die Freiwilligen. Eine Spurensicherungsgruppe der Kansas State Police beschlagnahmte den Laserprojektor, das Kontrollpult und Doktor Jacobis Meteoriten für weitere Untersuchungen. Alle Vorträge und Seminare, die für das Wochenende geplant waren, wurden abgesagt. Auf der Website der Stiftung wurde nicht mitgeteilt, wann sie nachgeholt werden sollten. Jacobi verbrachte den Tag in einer Art Schockzustand. Er beantwortete die Fragen – wenn er konnte – wie ein Automat. Während seiner Befragung war ein großes Tablett mit einem höllischen Krachen auf den Boden gefallen, nur einen Meter von Jacobi entfernt, und er hatte nicht einmal geblinzelt. Sein Zustand war so alarmierend, dass eine Polizistin einen Sanitäter rief und darauf bestand, dass der Doktor gründlich untersucht wurde. Gegen Abend schlief Jacobi unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln im Farmhaus ein. Wolfe musste sich allein um die Behörden, die Medien und die Freiwilligen kümmern. Samstagnacht schlich er sich in die Stadt, fand ein Spirituosengeschäft und kehrte mit seinem persönlichen Beruhigungsmittel zurück. Erst am Sonntagmorgen war Jacobi wieder klar genug, um sich endlich seinem Partner anzuvertrauen. »Ich war so nahe dran, Jimmy... so nahe dran. Ich hatte diesen Jungen in der Hand. Die Menge gehörte mir. Wenn du nur nicht diesen verdammten Laser eingeschaltet hättest!« »Hör auf damit, ja? Wie oft muss ich es dir noch sagen – es war ein Unfall. Die Kontrollen sind durchgebrannt! Der Sheriff hat mir geglaubt, warum kannst du es nicht auch tun?« Jacobi antwortete nicht. Er saß einfach am Küchentisch und klappte seinen leeren Meteoritenkoffer auf und zu. 178
»Du musst dich den Tatsachen stellen, Don, es ist Zeit, unsere Verluste zu begrenzen. Wir müssen alles zusammenpacken und von hier verschwinden.« Wolfe zog einen Flachmann aus seiner Hüfttasche, trank einen großen Schluck und reichte ihn seinem Partner. »Ich glaube nicht, dass man uns anklagen wird – sonst hätte man uns längst verhaftet. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Vater dieses Jungen aufwacht und uns eine Zivilklage anhängt.« »Ich wollte ihm nicht wehtun.« Jacobi starrte sein unrasiertes Spiegelbild, das ihm von dem Metallflachmann entgegenblickte, an. »Ich habe noch nie jemand wehgetan...« »Du hast einer Menge Leute wehgetan, Don. Der einzige Unterschied ist, dass du noch immer da bist und dich den Konsequenzen stellen musst.« »Konsequenzen...« Jacobi sprach das Wort bedächtig aus und ließ jede Silbe auf der Zunge zergehen. »So viele Konsequenzen...« »Das ist richtig. Es gibt Konsequenzen. Und wir werden uns mit ihnen herumschlagen müssen, wenn wir nicht bald von hier verschwinden!« Jacobi stand auf und ging zur Küchenspüle. Er spritzte sich ein paar Hand voll Wasser ins Gesicht und atmete tief ein. Durch das Fenster konnte er einige der treueren Mitglieder der Stiftung sehen, die das Gelände bewachten. »Schau sie dir an, Jimmy. Es spielt keine Rolle, wie viel Mist passiert. Es wird immer einige geben, die zu uns halten werden... die loyal sind.« »Ja, das ist einfach rührend, aber alle Loyalität in der Welt wird uns nicht vor einer Zivilklage bewahren.« Wolfe packte seinen Partner an der Schulter und zog ihn herum. »Wirst du mir jetzt endlich zuhören? Wenn wir sofort verschwinden, können wir vor Einbruch der Nacht in Mexiko sein. Morgen ist Montag. Mit etwas Glück sollte es uns gelingen, den Großteil unserer Ostküstenkonten elektronisch aufzulösen und die 179
Gelder zu einer kleinen Bank zu überweisen, die ich in Veracruz kenne, bevor jemand Verdacht schöpft.« »Was soll dann aus der Stiftung werden, der Website...?« »Vergiss die Stiftung! Dieser Harrison-Junge hat eine bessere Lebenserwartung!« Wolfe ging nervös auf und ab. »Wir werden nicht alles Geld retten können... vielleicht nur fünfundsiebzig, achtzig Prozent. Aber das sollte genügen, um uns ein angenehmes Leben zu ermöglichen, bis der Sturm vorbei ist. Später können wir vielleicht woanders neu anfangen!« Wolfes Pläne wurden von dem hartnäckigen Schrillen eines Handys unterbrochen. Benommen durchquerte Jacobi den Raum, um an den Apparat zu gehen. »Hallo?« Jacobi versteifte sich. »Oh... Mr. Harrison.« Es war vorbei. Wolfe sah vor seinem geistigen Auge eine ganze Armee von Rechtsanwälten vor der Tür stehen. Ich hätte ihn schon gestern Nacht von hier wegzerren sollen, sagte er sich. »Was? Ich verstehe nicht...!« Jacobis Augen weiteten sich. »Ja. Ja, ich verstehe. Natürlich, sofort.« Als Jacobi das Handy zuklappte, griff Wolfe nach seinem Flachmann und lehnte sich an die Wand. »Wie schlimm ist es?« »Schlimm? Nichts ist schlimm.« Er drückte das Handy an seine Brust. »Überhaupt nichts ist schlimm. Steck diesen Fusel ein!« Jacobi legte das Handy zur Seite und kniete vor einem Schränkchen nieder. Er öffnete die Tür und nahm eine Flasche Champagner und zwei Gläser heraus. »Ich habe diese Flasche für eine besondere Gelegenheit aufgespart und die ist jetzt gekommen.« Wolfe rieb sich die Augen und starrte seinen Partner an. Jacobi richtete sich mit funkelnden Augen und zuversichtlicher Miene wieder auf. »Don, was hat Harrison gesagt? Was zum Teufel ist los?« 180
»Beruhige dich, Jimmy. Es gibt keinen Grund zur Sorge.« Jacobi ließ den Korken knallen und lächelte. »Um genau zu sein, ich würde sagen, dass die Stiftung gerade neuen Auftrieb bekommen hat!« Ein paar Minuten nach zwei sah Doktor Will Manning seinen Besucher an und spähte dann durch die Jalousien des Besprechungsraums in der Intensivstation des Smallville Medical Centers. »Ich praktiziere seit fast dreißig Jahren Medizin, aber ich habe noch nie einen derartigen Fall erlebt.« In einem Privatzimmer auf der anderen Seite des Glases saß Stuart Harrison aufrecht im Bett, trank glücklich Preiselbeersaft und zappte mit einer Fernbedienung durch die Kanäle eines an der Wand angebrachten Fernsehers. »Die Veränderung erfolgte so schnell, dass wir ihn nicht einmal nach Metropolis verlegen mussten.« Manning schloss die Jalousien und nahm ein Krankenblatt von einem Haken an der Wand. »Als der Junge vor zwei Nächten hier eingeliefert wurde, war er bleich, lethargisch und fiebrig... seine Temperatur stieg bis auf einundvierzig Grad.« Er überflog erneut das Blatt, als würde er seinem eigenen Wissen nicht trauen. »Wenn man bedenkt, was Stuart in den vergangenen Jahren durchgemacht hat... die Operationen, die Bestrahlung, die Chemotherapie... Ich hätte nicht damit gerechnet, dass er den nächsten Morgen noch erleben würde, selbst wenn man ihn direkt ins Metro General eingeliefert hätte. Aber dann begann seine Temperatur zu sinken. In weniger als einer halben Stunde war sie runter auf siebenunddreißig Komma zwei.« Manning sah auf die Uhr an der Wand. »Und jetzt, kaum zweiundvierzig Stunden später, liegt seine Temperatur bei siebenunddreißig Komma eins – fast normal. Die Herzfrequenz beträgt zweiundsechzig Schläge pro Minute. Der Blutdruck liegt bei einhundertzehn zu sechzig. Schauen Sie sich ihn nur an! Seine Farbe ist die beste, die ich 181
seit Monaten gesehen habe. Und ich könnte fast schwören, dass sich seine Narben zurückgebildet haben.« Der Besucher des Arztes durchquerte den Raum, um besser durch die Jalousien sehen zu können. Stuart hatte sich mittlerweile bis zum Cartoon Network durchgezappt. Er lachte, als Duffy Duck aus einem Waldteich sprang und Elmer Fudd auf die Nase schlug. Vor dem Hintergrund des weißen Kissens wirkte Stuart irgendwie runder, glatter. Seine Narben waren durch sein kurz geschnittenes Haar weniger deutlich sichtbar als noch zwei Tage zuvor. »Ja, ich sehe, was Sie meinen. Er sieht mehr wie ein Junge mit einem Bürstenhaarschnitt als wie ein Krebspatient aus. Und Sie sagen, dass die Tumore in seinem Gehirn schrumpfen?« »So scheint es zu sein.« Manning beugte sich nach vorn, um sein Passwort an einer Desktoptastatur einzugeben. »Nachdem sein Fieber gefallen war und die anderen Werte sich stabilisiert hatten, habe ich ein MRI angeordnet, um festzustellen, ob er weitere Schäden erlitten hat.« Er drehte den Monitor, damit sein Besucher den Bildschirm besser sehen konnte. »Hier ist die Aufnahme, die wir vor zwei Wochen gemacht haben. Auf der linken Seite des Bildschirms können Sie die Tumore deutlich erkennen.« Der Besucher nickte. Mehrere große Wucherungen waren auf dem Querschnittbild des Schädels deutlich zu sehen. Selbst für einen Nichtmediziner waren diese Wucherungen deutlich sichtbar. »Und hier ist das MRI, das wir Samstagnachmittag gemacht haben.« Das Bild, das auf der rechten Seite des Schirmes erschien, hätte durchaus von einem anderen Patienten stammen können. Die Wucherungen waren noch immer da, sicher, aber sie waren wesentlich kleiner. Die größte war im Vergleich zur ersten Aufnahme um die Hälfte geschrumpft. »Bemerkenswert.« 182
»Das beschreibt es nicht einmal ansatzweise.« Manning nahm seine Brille ab und klopfte damit gegen seine Handfläche. »Die Veränderung war so dramatisch, dass ich zuerst dachte, es läge ein Aufnahmefehler vor. Also habe ich zusätzliche Scans angeordnet.« Ein weiterer Mausklick reduzierte die Größe der beiden Bilder und fügte ein drittes und dann ein viertes hinzu. Die Tumorwucherungen waren auf jedem nachfolgenden Bild kleiner und weniger häufig. »Es ist, als würden diese verdammten Dinger vor unseren Augen schrumpfen.« Manning rieb sich den Nasenrücken und setzte seine Brille wieder auf. »Wenn es mit dieser Geschwindigkeit so weitergeht, werden sie bald... nun, sie werden bald verschwunden sein!« »Was hat Ihrer Meinung nach das Schrumpfen ausgelöst?« »Nun, ich bezweifle, dass meine Behandlung etwas damit zu tun hat, obwohl ich es mir gerne zuschreiben würde. Auf Stuarts Bitte hin habe ich ihm zusätzliche Palliativa verabreicht, nachdem die neuesten Tumore entdeckt wurden.« Manning kratzte sich am Ohrläppchen, während er seine Gedanken sammelte. »Ich vermute, dass sein Fieber eine Art biochemische Veränderung ausgelöst haben könnte, aber ich kann Ihnen nicht einmal mit Sicherheit sagen, was die Ursache für das Fieber war.« »Könnte es irgendetwas mit dem Vortrag zu tun haben?« »Sie meinen das ›große Experiment‹?« Manning schnaubte. »Ich war nicht dabei, aber nach dem, was man mir erzählt hat, klingt es, als wäre es nur eine Entspannungstherapie gewesen, die durch Lichteffekte und Spiegel verstärkt wurde. Die Polizei hat den Meteoriten untersucht und keine Anzeichen einer Kontaminierung gefunden. Er war nicht bemerkenswerter als jeder andere Weltraumstein in diesem County. Stuarts Eltern haben natürlich eine andere Meinung. Sein Vater schreibt die ganze Sache einem verdammten Wunder zu.« »Und wie würden Sie es nennen?« 183
»Es handelt sich um eine Art spontane Regression. Es ist extrem selten, aber es kommt vor. Ich selbst habe einen derartigen Fall in meiner Zeit als Internist erlebt. Leberkrebs im Endstadium. Nach Monaten der Verschlechterung stabilisierte sich die Leberfunktion und verbesserte sich dann. Fünf Wochen später war der Patient krebsfrei.« Manning spielte mit dem Ende seines Stethoskops. »Aber diese Regression schreitet viel schneller voran. Es ist natürlich wundervoll für den Jungen, aber es stellt mich vor ein Rätsel. Ich habe noch nie an Wunder geglaubt, doch ich kann Ihnen keine andere Erklärung geben.« Der Besucher dachte darüber nach. »Ich schätze, damit müssen wir uns vorerst begnügen. Sie werden mich informieren, falls es irgendwelche Neuigkeiten gibt?« »Ich denke, dass ich es tun könnte.« Manning sah wieder zu der Glasscheibe hinüber, die ihn von seinem Patienten trennte. »Es ist nicht so, dass ich Ihre Sorge um Stuart und seine Familie nicht zu schätzen weiß, aber... offen gesagt, Mr. Luthor, bin ich mir nicht sicher, ob ich Ihnen all das hätte erzählen dürfen.« Lex lächelte. »Ich erwarte gewiss nicht, dass Sie irgendetwas tun, das gegen Ihren hippokratischen Eid verstößt, Doktor. Ich möchte nur alles tun, was ich kann, damit Stuart die beste zur Verfügung stehende Behandlung bekommt.« Er reichte Manning seine Hand. »Sie werden mir dabei helfen, nicht wahr?« Am Montagnachmittag verließ Chloe wie gewöhnlich den Studierraum und ging zum Büro der Fackel. Sobald sie angekommen war, fuhr sie den alten, zuverlässigen Desktopcomputer hoch und überprüfte ihre E-Mails. Auf sie warteten eine Reihe Nachrichten, die alle von derselben Adresse kamen.
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Betreff: Gute Nachrichten über Stuart Harrison! Datum: 22.4.02 10:07:43 Von:
[email protected] (Douglas Oliver) An:
[email protected] Wir haben von Stuart Harrisons Familie die Nachricht erhalten, dass sich sein Zustand weiter verbessert. Seine Temperatur lag heute Morgen um acht Uhr bei normalen 37 Grad und sein letzter MRI zeigte, dass nur noch ein winziger Tumor vorhanden ist. Die Ärzte im Smallville Medical Center sind von Stuarts Fortschritten ermutigt, aber noch nicht bereit gewesen, die Möglichkeit einer Entlassung zu diskutieren. Weitere Informationen folgen! Betreff: Montagmorgenupdate zu Stuart Harrison! Datum: 22.4.02 11:09:24 Von:
[email protected] (Douglas Oliver) An:
[email protected] Wir haben endlich eine Erklärung dafür erhalten, warum die Ärzte des Smallville Medical Centers noch nicht über Stuarts Entlassung entschieden haben. Die Vorschriften des Medical Centers verlangen, dass pädiatrische Krebspatienten für mindestens 48 Stunden eine normale Temperatur aufweisen müssen, bevor sie entlassen werden können. (Da Stuarts neuere Tumore Metastasen eines Krebses sind, der entstand, als er jünger war, gilt er noch immer als pädiatrischer Patient.) Weitere Informationen folgen, sobald sie uns zur Verfügung stehen. ERFÜLLE DEIN SCHICKSAL! BESUCHEN SIE DIE WEBSITE DER AUFSTIEGS-STIFTUNG: WWW.KOSMISCHELEITER.COM
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Chloe durchblätterte die Liste. »Oh... mein... Gott!« Es hatten drei weitere Nachrichten von KosmischeLeiter.com vorgelegen, als sie sich angemeldet hatte. Jetzt waren es vier. Hastig klickte sie sich durch die Nachrichten. Sie waren in einem Abstand von einer Stunde verfasst worden. Diese Kerle waren schneller als der Nationale Wetterdienst. Chloe öffnete einen neuen Ordner und archivierte die Briefe. Dann surfte sie weiter im Web und setzte eine Suche fort, die sie am Wochenende begonnen hatte. Chloe war so sehr auf den Bildschirm konzentriert, dass sie nicht einmal hörte, wie es zur nächsten Unterrichtsstunde klingelte. Am Dienstagnachmittag eilte Clark von der Schule nach Hause und machte so schnell wie möglich seine Hausaufgaben. Als er fertig war, zog er sich in sein Zimmer zurück, fuhr seinen Computer hoch und ging online. Clark rief seine bevorzugte Suchmaschine auf und gab »Stuart Harrison« ein. Seit zwei Tagen kursierten eine Menge Gerüchte über Stuarts Zustand in der Schule, befeuert von Douglas Olivers E-Mails, und eins war wilder als das andere. Wenn auch nur die Hälfte von ihnen glaubwürdig waren, dann hatten sich die Überlebenschancen des Oberstufenschülers seit Freitagnacht dramatisch verbessert. Abgesehen von einem neuen Eintrag unter www.KosmischeLeiter.com – Ja, als würde ich denen vertrauen!, dachte er spöttisch –, war der neueste Artikel, den die Suchmaschine anzeigte, ein drei Tage alter Bericht auf der Website des Ledger. Ich hätte mir denken können, dass sie immer ein paar Tage hinterherhinken. Er versuchte es mit einer anderen Vorgehensweise, änderte das Stichwort seiner Suche und forschte nach Artikeln über medizinische Wunder. Clark surfte durch Dutzende von Websites. Seine Augen huschten über den Bildschirm, während er die Seiten so schnell las, wie 186
sie erschienen, aber er konnte nichts finden, was mit Stuarts Fall zusammenhing. Frustriert zog sich Clark nach dem Abendessen auf den Scheunenspeicher zurück, um in Ruhe nachzudenken. Er schaltete seinen zerschrammten alten Ghettoblaster ein und spielte mit dem Sendersuchlauf. Der Empfang war heute teilweise vom statischen Rauschen eines fernen Gewitters gestört. Clark wählte schließlich einen fernen UKW-Sender und ließ sich auf die Couch sinken. Sein Aufprall auf dem Polster löste eine Kettenreaktion in den Federn aus, die einen rissigen alten Basketball von der Couch fallen ließ. Clark hob den Ball auf und ließ ihn ein paar Mal vom Bretterboden abprallen. Er warf ihn gegen die Dachsparren, fing ihn auf und warf ihn erneut. Clark setzte das Spiel des Werfens und Abprallens fast zehn Minuten lang fort und versank in einen träumerischen Zustand. Nach einer Weile passte sich der Rhythmus des Werfens, Abprallens und Auffangens dem Beat der Musik aus dem Radio an. Der Ball war gerade zurück in Clarks Hände gesprungen, als die Auftaktnoten von »Sweet Georgia Brown« aus den Lautsprechern drangen. Er grinste breit. Clark warf den Ball hoch und weit. Als er seine Hände verließ, war Clark bereits von der Couch und quer durch den Speicher gelaufen. Dort fiel der Ball in seine Hände. »Okay, Kent, willst du es mal einer gegen einen probieren?« Clark warf den Ball nach hinten und schoss zurück zu seinem ursprünglichen Platz. Er bewegte sich so schnell, dass der Ball – für ihn – in der Luft stillzustehen schien. Clark fing den Ball auf, den er selbst geworfen hatte, warf ihn in die Luft und ließ ihn auf der Spitze seines linken Zeigefingers rotieren. »Einer gegen einen klingt okay für mich. Aber machen wir es etwas anspruchsvoller. Ich bin das Hemd, du die Haut.«
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Clark warf den Ball und streifte sein Hemd ab, während er durch den Speicher schoss. Das Hemd landete in dem Moment auf der Couch, als der hemdlose Clark den Ball auffing. Clark warf den Ball wieder zurück und rannte los. Diesmal griff er nach seinem Hemd und zog es in der Bewegung an. Er fing den Ball im allerletzten Moment auf. »Ha! Du musst viel schneller sein!« Er raste hin und her und spielte weiter gegen sich selbst. Er bewegte sich so schnell, dass es aussah, als würden tatsächlich zwei Clarks gegeneinander spielen – einer mit einem Hemd, einer ohne. »Clark!«, rief seine Mutter vom Hof herauf. »Du hast Besuch!« »Was...?« Clark blieb abrupt stehen. Der Ball prallte von der Seite seines Kopfes ab, traf einen Dachsparren und hüpfte die Treppe hinunter. »He!« Chloe wich zur Seite aus und hielt sich am Geländer fest, als der Ball an ihr vorbeisprang. »Tut mir Leid.« Clark beugte sich nach vorn und schaltete das Radio aus. »Ich glaube, diesen Freiwurf habe ich verpatzt.« »Was machst du hier oben?« Chloe sah sich verwirrt um. Überall senkte sich Staub auf den alten Bretterboden. »Von unten klang es so, als würden Pferde tanzen!« »Ich habe nur ein paar Korbwürfe geübt.« »Wirklich?« Chloe sah sich auf dem großen, leeren Speicher um. »Wo ist der Korb?« Clark wies auf einen Teil der Dachsparren vier Meter über ihren Köpfen. »Ich stelle ihn mir dort vor. Mir einen Korb an einer konstanten Position vorzustellen hilft mir, gleichzeitig mental und körperlich zu trainieren. Es ist eine Art virtuelles Basketball.« »In Ordnung.« Chloe dachte darüber nach, während sie ihn von Kopf bis Fuß musterte. »Aber warum bist du halb nackt? Nicht, dass es mich stört«, fügte sie hastig hinzu. 188
»Ich... äh...« Clark sah sich um. Sein Hemd lag drei Meter weiter auf einem Strohballen. »Ich wollte es nicht durchschwitzen.« Chloe trat auf das Hemd zu und hob es auf. »Du musst es gerade noch rechtzeitig ausgezogen haben. Es riecht noch immer frühlingsfrisch!« Sie hielt es ihm hin und genoss das Muskelspiel an seinen Armen und seiner Brust, als er es an sich nahm. »Danke. Gib mir nur eine Sekunde.« Clark wandte sich halb ab, um das Hemd anzuziehen, und bot Chloe damit einen willkommenen Blick auf seinen Rücken. »Kein Grund zur Eile!« Ihre Stimme klang fast neckend. Als Clark das hörte, streifte er hastig sein Hemd über. »Also... was führt dich zu dieser späten Abendstunde hierher? Arbeitest du an einem Artikel über heimliche Sportaktivitäten?« »Wohl kaum.« Sie setzte sich auf den Strohballen. »Ich habe jemand gesucht, der mir zuhört. Ich muss etwas Dampf ablassen... hoffentlich hast du nichts dagegen.« »Ich bin ganz Ohr. Ich habe dich in den letzten Tagen kaum gesehen. Was ist los? Hat es etwas mit Stuart zu tun?« »Mehr mit Jacobi. Es heißt, dass es Stuart immer besser geht. Ich habe gehört, dass sich nicht nur seine Temperatur normalisiert hat, sondern dass auch der letzte Krebstumor verschwunden ist. Oh, und er isst alles, was ihm in die Finger fällt. Es gibt sogar Gerüchte, dass er in Kürze nach Hause darf.« »Wirklich? Wow! Wenn das stimmt, ist es großartig!« »Wem sagst du das? Wenn ich das Schuljahr hinter mich bringen könnte, ohne einen weiteren Nachruf zu schreiben, wäre ich froh.« »Das ist die beste Nachricht, die wir bekommen konnten.« Clark kniete neben ihr nieder. »Aber... warum machst du dann so ein langes Gesicht?« 189
»Weil ich Donald Jacobi für einen Trickbetrüger halte und wütend bin, weil ich mich von ihm habe einwickeln lassen. Ich kann nicht glauben, dass ich so naiv war.« »He, du kannst nicht sieben Tage in der Woche eine Journalistin auf Kreuzzug sein. Das schafft kein Mensch.« »Das stimmt. Trotzdem hätte ich wenigstens etwas objektive Distanz wahren müssen. Aber als ich Doktor Jacobi traf, war es so, als würde alles, was ich je gelernt, gelesen oder gehört hatte, zum Fenster rausfliegen. Seine Theorien und meine...?« Sie drückte ihren Zeige- und Mittelfinger zusammen. »Sie waren genau so. Clark, er kannte sogar meinen Namen! Da war dieser Wissenschaftler, der meine Arbeit zu schätzen wusste... das ganze Zeug, das mich beim Direktor in Verruf gebracht hat. Jacobi wollte den Meteoriten-Merkwürdigkeiten auf den Grund gehen und die Welt darüber informieren. Er wollte die Leute dazu bringen, dass sie zuhören.« Chloes Stimme wurde ganz leise. »Ich fand es einfach toll. Er sagte mir, was ich hören wollte, und ich bin wie ein hungriges Kätzchen darauf angesprungen.« Sie sah Clark tief in die Augen. Ihre Miene drückte eine Mischung aus Zorn und Frustration aus. »Selbst Freitagabend, als er all diese Fälle schilderte, ohne meinen Namen zu erwähnen, glaubte ich ihm noch immer. Okay, ein Teil seiner Präsentation war leicht übertrieben, aber ich redete mir ein, dass er es tun musste, um die Aufmerksamkeit der Leute zu gewinnen.« Chloe runzelte bei der Erinnerung die Stirn. »Ich hätte es besser wissen müssen, vor allem, nachdem ich all diesen kosmischen NewAge-Quatsch auf seiner Website gesehen hatte. Erst als seine ›Schäfchen‹ aufstanden und die Platzanweiser die Spenden einsammelten, fiel bei mir endlich der Groschen! Clark, es war nichts anderes als eine große betrügerische Spendensammelaktion! Er hat sie nur mit flackernden Scheinwerfern aufgemotzt, damit die ganze Sache wissenschaftlich aussah! Ich denke, er hat die Meteoriten 190
benutzt, um Geld zu machen. In einer anderen Stadt hätte er wahrscheinlich etwas anderes benutzt. Ich denke, der einzige Zweck der Aufstiegs-Stiftung ist es, Geld zu machen. Ich kann es nur noch nicht beweisen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe falsch angefangen und mich dann von anderen Dingen ablenken lassen. Ich wollte mit meinen Recherchen beginnen, als Stuart zusammenbrach, aber ich musste seiner Mutter helfen. Versteh mich nicht falsch, ich war froh, dass ich ihr helfen konnte...« »Das freut mich zu hören.« »... aber in Wirklichkeit wollte ich hinter die Bühne rennen und ein paar harte Fragen stellen. Ich habe einen Blick auf James Wolfe erhascht, als wir das Zelt verließen. Er sah wie vom Donner gerührt aus, aber er wirkte auch wütend. Alles, was ich denken konnte, war ›Der Mann hinter dem Vorhang‹ aus Der Zauberer von Oz.« »Chloe!« »Ich weiß, ich weiß. Das beweist überhaupt nichts. Aber es war ein weiterer Grund dafür, nach Beweisen zu suchen.« Chloe stand von dem Strohballen auf und ging nervös auf und ab. »Ich habe die letzten paar Tage damit verbracht, Hintergrundinformationen über Jacobi, seinen Kumpel Wolfe und ihre Stiftung zu sammeln. Ich habe jede Abhandlung aufgespürt, die Jacobi verfasst hat – nicht, dass es sehr viele waren –, und im besten Fall handelte es sich um Besprechungen der Arbeiten anderer Leute.« Sie trat gegen den Strohballen. »Er hat keinerlei eigene DNSForschung betrieben. Er hat keine Forschungen über die Ausmerzung von Krankheiten betrieben. Er hat keine Forschungen über die Verlängerung des Lebens betrieben. Er hat überhaupt keine Forschungen betrieben! Ich glaube nicht, dass dieser Mann in seinem ganzen Leben auch nur einen Fuß in ein Labor gesetzt hat!«
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»Chloe, beruhige dich! Es wird alles gut. Du hast ihn durchschaut!« »Aber hat es sonst noch jemand getan? Nachdem Stuart auf der Bühne zusammenbrach, dachte ich, Jacobi wäre erledigt, wenigstens in dieser Stadt. Aber jetzt kehren seine Anhänger zurück.« »Wie meinst du das?« »Erinnerst du dich, dass ich dir erzählt habe, dass Jacobi mich auf die E-Mail-Liste der Stiftung gesetzt hat? Nun, in den letzten anderthalb Tagen haben sie Fortschrittsberichte über die Stiftung und über Stuarts Zustand verschickt. Sie haben gemeldet, dass sich ihr Lagerplatz langsam wieder mit Autos füllt, also bin ich heute Nachmittag hingegangen, um mich selbst davon zu überzeugen – es stimmt. Offenbar haben einige der Auswärtigen, die Freitagabend enttäuscht abgereist sind, von der neuen Entwicklung gehört und sind zurückgekehrt, um Jacobi um Vergebung zu bitten. Bis zum Wochenende wird er wahrscheinlich all seine Anhänger zurückgewonnen haben. Und sie werden überzeugt sein, dass er Wunder bewirken kann.« Clark lehnte sich an einen Dachsparren. »Nun, es ist verlockend, an Wunder zu glauben. Was glaubst du? Hat Jacobi irgendetwas damit zu tun, dass es Stuart besser geht?« »Jacobi? Nein. Sein Meteorit? Ja. Es ist eindeutig etwas passiert, als dieser Stein vom Laser getroffen wurde.« »Chloe, Stuart hat früher schon Krämpfe gehabt.« »Aber ihnen folgte keine völlige Gesundung vom Krebs! Clark, die meisten merkwürdigen Dinge, die hier geschehen, haben irgendetwas mit diesen Meteoritenkristallen zu tun, die im Dunkeln grün leuchten. Ich kann nicht glauben, dass es nur ein Zufall ist. Jacobi ist ein Schwindler, aber der Effekt, den die Meteoriten erzielen, ist real. Deshalb sage ich, dass er sie benutzt.« Chloe spielte mit ihren Haarspitzen. Es war eine nervöse Angewohnheit, die Clark früher schon an ihr 192
aufgefallen war. Das machte sie nur, wenn sie besonders aufgeregt war. »He, nimm es nicht so schwer. Schließlich ist es nicht deine Schuld.« »Nein?« Chloe lachte sardonisch. »Wäre Jacobi überhaupt hierher gekommen, wenn er nicht meine Website gelesen hätte?« »Wer weiß?« Clark warf die Hände hoch. »Er hat bereits einen Weltraumstein gehabt, der aus Lowell County stammt, also muss er längst gewusst haben, was in dieser Gegend passiert ist. Wahrscheinlich wäre er früher oder später sowieso hier aufgetaucht.« »Nun ja...« »Und wenn Jacobi nicht aufgetaucht wäre, dann würde es Stu Harrison jetzt vielleicht nicht besser gehen. Hör mal, lass uns davon ausgehen, dass Stuarts Genesung ein Beispiel für den Merkwürdigkeitseffekt ist. Wie hätten ohne Jacobi die Chancen ausgesehen, dass Stu auf einen Meteoritenkristall und einen Laser mit Fehlfunktion trifft?« Chloes Gesicht erhellte sich ein wenig. »Wahrscheinlich lägen sie bei null. Daran hatte ich nicht gedacht. Clark, das ist ein ausgezeichnetes Argument.« Sie runzelte die Stirn. »Aber damit ist Jacobi noch längst nicht vom Haken. Dieses ganze Stiftungsgeschäft stinkt doch. Ich hasse es, dass sie die merkwürdigen Zwischenfälle in dieser Gegend benutzen, um den Leuten eine Menge Geld abzuknöpfen. Ich fühle mich ausgenutzt.« »Das höre ich. Aber wenn Jacobi und seine Stiftung so betrügerisch sind, wie du denkst, dann stehen die Chancen gut, dass du nicht die Einzige bist, die es bemerkt hat. Früher oder später werden sie auffliegen.« »Das hoffe ich.« »Komm schon, lass den Kopf nicht hängen. Du weißt, dass es dazu kommen wird.« 193
Chloe rang sich ein Lächeln ab und Clark legte eine Hand auf ihre Schulter. »Und wenn es passiert, wirst du bestimmt schon einen Artikel fertig haben!« Chloe sah ihm verträumt ins Gesicht. »Meinst du wirklich?« »Äh... klar.« Clark wurde sich plötzlich seiner Hand bewusst und nahm sie hastig von ihrer Schulter. »Wir sind Freunde seit – wann? – der Mittelschule?« »Richtig, seit der Mittelschule.« Chloe wandte den Blick ab. »Chloe, in all dieser Zeit habe ich nie erlebt, dass du aufgibst.« »Nein, das habe ich wirklich nie getan.« Sie boxte Clark spielerisch gegen den Trizeps und sie grinsten sich an. »Und wenn ich diesen Artikel fertig haben will, sollte ich besser anfangen, tiefer zu graben.« »Grab dich nur nicht zu tief ein.« »Was, du machst dir Sorgen um mich?« Chloes Grinsen wurde breiter. »Wenn ich in einem Loch landen sollte, weiß ich, dass du in der Nähe sein wirst, um mir ein Seil zuzuwerfen.« Sie blieb an der Treppe stehen. »Danke, Clark. Danke, dass du mir zugehört hast.« »Jederzeit.« Er stand am Ende der Treppe und sah ihr nach. Clark mochte Chloe, aber manchmal hatte er das Gefühl, dass sie dieses Reportergeschäft zu ernst nahm. Ständig steckte sie ihre Nase in irgendwelche Dinge, als wäre sie eine Kleinstadtausgabe von Woodward oder Bernstein. Chloe wird wahrscheinlich nicht zufrieden sein, bis sie einen Job bei einer großen Tageszeitung bekommt. Clark schüttelte den Kopf. Er bewunderte ihre Energie und genoss es, ihr hin und wieder bei ihrer Jagd nach Storys zu helfen, aber er konnte nicht verstehen, warum sie in dieser Branche Karriere machen wollte. Clark wandte sich ab und ging zur offenen Speichertür der Scheune. Mehrere Minuten lang blickte er nur zu den Sternen 194
hinauf. Eine Karriere als Astrophysiker, das wäre eine tolle Sache. Der Nachthimmel hatte Clark schon immer fasziniert und zu erfahren, dass er von irgendwo dort draußen gekommen war, hatte die Faszination nur noch verstärkt. Er schwenkte sein Teleskop herum, um sich einen Stern im Kleinen Bären anzusehen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Er blickte nach unten, sah, wie Martha ihm von einem Fenster aus zuwinkte, und winkte zurück. Danke, dass du mich so schnell vor Chloe gewarnt hast, Mom! Ich hätte sonst große Schwierigkeiten gehabt, ihr zu erklären, wie ich Basketball mit mir selbst spielen kann, dachte er und grinste vor sich hin. Hinter ihm drang das Knarren einer Stufe durch die Stille des Speichers. Clark drehte sich lächelnd um. »Hast du was vergessen...?« Er erstarrte mit halb offenem Mund. Die Gestalt auf der Treppe war nicht Chloe. Es war Lana.
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11 LANA SAH ÜBERRASCHT ZU IHM AUF. »Ich glaube nicht, dass ich je etwas hier vergessen habe. Oder?« »Äh, nein... du nicht... sie... äh...« Clark brach ab. »Hast du jemand anders erwartet?« »Ja. Nein! Ich meine...« Clark überlegte fieberhaft. »... meine Mom hat vor ein paar Minuten von unten heraufgerufen. Ich dachte, dass sie es wäre, um etwas zu suchen. Aber sie war es nicht. Du bist es!« »Ah...!« Lana nickte verstehend. Trotzdem wirkte sie weiter unsicher. »Ich komme doch nicht ungelegen, oder?« »Überhaupt nicht.« Clark dämmerte, dass er sie anstarrte, und wandte hastig den Blick ab, weil er befürchtete, ihr Unbehagen einzuflößen. »Was führt dich hierher? Willst du etwas Bestimmtes?« »Definitiv.« Lana atmete aus. Die Erleichterung in ihrer Stimme besiegte die Unsicherheit. »Ich war spazieren und habe hier oben Licht gesehen, und ich dachte...« »Sicher. Hier, setz dich...« Clark legte eine alte Pferdedecke auf das abgewetzte Polster der Couch. »Entspann dich und erzähl mir, was los ist.« Sie lehnte sich zurück und fing an. »Es ist irgendwie kompliziert. Seit Freitag ist alles so verrückt.« »Mit diesem Gefühl stehst du nicht alleine da.« Lana nickte. »Nell ist in einer schrecklichen Verfassung. Sie war bis zur Veranstaltung am Freitagabend völlig begeistert von diesem Doktor Jacobi. Nach dem Vorfall war sie dann wirklich erschüttert. Aber jetzt, da sich Stuarts Zustand verbessert, benimmt sie sich wieder wie ein Schulmädchen. Diesmal ist es sogar noch schlimmer. Sie hat gestern den ganzen Tag als Freiwillige auf dem Stiftungsgelände gearbeitet. Und heute Nachmittag habe ich sie dabei erwischt, 196
wie sie Jacobi Blumen und eine kurze Nachricht geschickt hat.« Sie schauderte und ihre Schultern bebten. »Ist dir kalt, Lana? Ich glaube, hier muss noch irgendwo eine andere Decke sein.« »Hmm? Oh, nein. Es ist nicht die Kälte. Ich habe mir nur eine Sekunde lang vorgestellt, dass Jacobi mein neuer ›Onkel‹ wird.« Sie unterdrückte einen zweiten Schauder. »Nell verbringt so viel Zeit auf dem Gelände. Und sie gibt Jacobi so viel Geld! Geld, das sie eigentlich in ihr Blumengeschäft oder ins Talon stecken müsste. Es ist alles so merkwürdig. Es ist, als hätten wir plötzlich die Rollen getauscht. Ich mache mir wirklich Sorgen um Nell, aber wenn ich versuche, etwas zu sagen, behauptet sie, dass ich es nur nicht verstehe. Sie verteidigt diesen Jacobi, wo sie nur kann. Es ist, als hätte er sie in seinen Bann geschlagen.« Lana verstummte und starrte durch die Speichertür hinaus in die Nacht. Clark dachte an das, was Chloe über die Rückkehr der Anhänger gesagt hatte, und fühlte sich unbehaglich. Durch Lanas Sorgen um Nell wurde ihm das Problem bewusster. Ich verstehe allmählich, warum Chloe so beunruhigt ist, dachte er insgeheim. »Lana, wenn es dich tröstet, nicht jeder ist von Donald Jacobi begeistert.« Er erzählte ihr mit knappen Worten von seinem Gespräch mit Chloe (ohne zu erwähnen, wann und wo es stattgefunden hatte). »Wie ich schon zu Chloe sagte – wenn sie ihn durchschaut hat, werden es andere Leute auch tun.« »Das hoffe ich. Vielleicht sollte ich selbst mit Chloe sprechen und ihr sagen, was ich weiß.« »Vielleicht. Ich wünschte nur, ich könnte mehr tun, um dir zu helfen.« »Nun, wenn dir irgendeine magische Möglichkeit einfällt, Nell wieder zur Vernunft zu bringen, lass es mich bitte als Erste wissen. Im Ernst, Clark, du bist mir bereits eine große
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Hilfe gewesen. Wenigstens hast du mir nicht geraten, Nell einfach zu ignorieren.« »Wer würde denn so etwas raten?« »Oh... Whitney.« Sie schüttelte den Kopf. »Er denkt, dass ich mich grundlos aufrege. Er sagt mir dauernd, ich soll Nell einfach ignorieren und mein eigenes Leben führen. Er hat leicht reden. Aber er hat seinen Vater auch nicht ignoriert, als der so krank wurde – er war richtig besessen davon. Allerdings hat Whitney seine Freunde ignoriert. Zuerst wollte er überhaupt nicht darüber reden... nicht einmal mit mir!« »Ich erinnere mich. Er hat es uns allen verschwiegen.« Bis ich ihn direkt darauf angesprochen habe, fiel ihm ein. Whitney war ungewöhnlich verschlossen gewesen und hatte mit keinem über die Gesundheitsprobleme seines Vaters sprechen wollen. Der Quarterback hatte alles in sich hineingefressen und alle anderen ausgeschlossen. Er hatte Lana so wütend gemacht, dass sie ihre Aufmerksamkeit Clark zugewandt hatte. Aber dann hatte Clark von den Herzproblemen seines Vaters erfahren. Er konnte es nicht ausnutzen. Er musste immer daran denken, wie er sich gefühlt hätte, wenn sein Dad schwer erkrankt wäre. Clark hätte lieber über alles andere als über Whitney Fordman gesprochen, doch es war offensichtlich, wie aufgebracht Lana war. Und er konnte es nicht ertragen, sie so zu sehen. »Whitney macht sich noch immer große Sorgen um seinen Vater. Du kannst nicht von ihm erwarten, dass er offen mit den Problemen, die andere Leute mit ihren Eltern haben, umgeht. Sie müssen ihm ziemlich unwichtig vorkommen, wenigstens im Vergleich zu dem, was er durchmacht. Wenn Whitney dir rät, Nells... Interesse an Doktor Jacobi einfach zu ignorieren, dann vielleicht deswegen, weil er glaubt, dass seine Mom bald Witwe wird... und wieder heiratet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es ihm gefällt, zu viel darüber nachzudenken.« 198
»Ich schätze, du hast Recht.« Lana legte den Kopf zur Seite und sah Clark an. »Um genau zu sein, ich bin mir sicher, dass du Recht hast. Wieso bist du eigentlich so einfühlsam?« »Ich glaube nicht, dass ich besonders einfühlsam bin...« »Ich schon. Wie kommt es? Was ist dein Geheimnis?« Ich habe eine Menge Übung darin, »normale« Leute zu studieren. Ich sehe nur normal aus. Ich bin nicht einmal ein Mensch, ich gebe mich nur als einer aus, überlegte er. Laut sagte er: »Vielleicht liegt es daran, dass ich ein Einzelkind bin.« »Ich bin auch ein Einzelkind, aber manchmal bin ich völlig ratlos.« »Das ergeht doch allen einmal so!« Clark kratzte sich am Kopf. »Einfühlsam zu sein... Ich weiß nicht, vielleicht hat es damit zu tun, wie meine Eltern mich erzogen haben. Wir haben uns immer sehr nahe gestanden. In gewisser Weise habe ich fast das Gefühl, genauso ein Teil ihrer Generation zu sein wie unserer anzugehören. Es lässt einen die Dinge anders sehen.« »Ich muss zugeben, du hast die coolsten Eltern, die ich kenne.« »Ja, ich habe wirklich Glück.« Er lächelte. »Ich habe von ihnen eine Menge gelernt.« »Oh. Zum Beispiel?« »Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll.« Clark stellte einen Fuß auf den Strohballen. »Sie haben mir gezeigt, wie man Dinge vorhersieht... und wie man zusammenarbeitet. Das muss man, wenn man auf einer Farm lebt.« Er zog ein paar Strohhalme aus dem Ballen und rieb sie zwischen den Fingern. »Dieses Zeug hat sich nicht selbst zu einem Ballen zusammengerollt, weißt du.« »Nein, ich schätze nicht.« Lanas Stimme klang ernst, aber um ihre Lippen spielte ein Lächeln. »Dann geht es eher darum, wie das Zusammenleben auf einer Farm funktioniert?«
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»So habe ich es noch nie gesehen, aber – ja. Man muss darauf achten, was um einen herum geschieht. Man muss wissen, wann man die Ernte einbringen und den Boden düngen muss – sich einfach zu wünschen, dass die Mineralien zurückkommen, funktioniert nicht. Dabei kann man wirklich eine Menge über Ursache und Wirkung lernen.« Draußen muhte klagend eine Kuh und Clark musste lachen. »Das ist ein weiteres Beispiel. Selbst wenn man gute Blutlinien ausgewählt hat, muss man mit Argusaugen über dieses neue Kalb wachen, wenn man einen echten Goldmedaillengewinner aufziehen will. Und selbst dann gibt es keine Garantie.« »Die Farm ist eine Allegorie für das Leben!« Lana beugte sich nach vorn und legte ihre Unterarme auf die Knie. »Jetzt, wo du es sagst, kommt es mir so offensichtlich vor.« »Ja, nicht wahr?« Clark war von seinem eigenen Gedankengang fasziniert. »Man muss hart arbeiten, aber das allein genügt nicht. Man muss auch mit Umsicht arbeiten. Und manchmal, trotz aller Planung und harter Arbeit, geht dennoch etwas schief. Es regnet nicht. Oder es regnet zu viel. Oder man bekommt genau die richtige Menge – aber statt Regen fällt Hagel oder Schnee und vernichtet die Ernte.« »Das klingt so frustrierend. Es muss sich anfühlen, als hätte sich das ganze Universum gegen einen verschworen.« »Oh, sicher. Aber darüber darf man nicht länger nachdenken, weil es nicht so ist. Dass es sich gegen einen verschworen hat, meine ich. Wenn es etwas gibt, das ich von Mom und Dad gelernt habe, dann die Tatsache, dass sich das Universum nicht für einen interessiert. Es ist einfach der natürliche Lauf der Dinge.« Clark nahm den Fuß vom Ballen. »Man muss hinterher vielleicht helfen, doch keiner hat Schuld daran, dass es passiert ist.« »Nein. Denn manchmal geht einfach etwas schief.« Lana nickte bedächtig, ernster jetzt. »Manchmal werden Menschen ohne Grund schwer krank. Selbst gute Menschen wie Stuart 200
Harrison.« Sie rutschte an den Rand der Couch und faltete die Hände, es sah fast so aus, als wolle sie beten. »Und manchmal... manchmal sind die Menschen nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Wie damals meine Mom und mein Dad.« »Lana...« »Es ist okay.« Sie sah kurz zu Boden, um sich zu fassen. »Weißt du, ich habe mich oft gefragt, was für ein schönes Leben ich gehabt hätte, wenn sie nicht gestorben wären. Dass wir in einem wundervollen Stadthaus in Metropolis gewohnt hätten oder um die Welt gereist wären.« Da war ein Funkeln in ihren Augen, als sie sich Clark zuwandte. »Aber dann rufe ich mich zur Vernunft und denke... nein. Ihnen haben viele Morgen gutes, fruchtbares Land in der Mitte von Kansas gehört. Ich wäre als Farmerstochter aufgewachsen... und das wäre genauso schön gewesen.« Lana stand von der Couch auf und trat zu Clark. »Wenn ich höre, wie du von dem Farmleben erzählst, gibst du mir eine leise Ahnung davon, wie mein Leben hätte sein können.« »Es tut mir Leid, wenn ich...« »Nein.« Sie legte einen Finger an seine Lippen. »Nicht nötig. Es ist ein schöner Traum. Ich mag es, mir vorzustellen, auf einer Farm zu leben.« »Ich musste mir das nie vorstellen. Ich lebe so, seit ich zurückdenken kann. Mein Traum war es immer, auf der Suche nach Abenteuern um die Welt zu reisen. Aber wahrscheinlich hast du Recht. Vielleicht ist alles, was wir brauchen, hier vor unserer Nase...« Lana stand jetzt ganz dicht vor Clark und sah ihm in die Augen. Auf dem Speicher wurde es still. Er beugte sich langsam nach vorn. Plötzlich wurde die Stille von einem melodischen Schrillen aus Lanas Tasche zerstört. »Ohhh...!« Lana nahm verärgert ein kleines Handy aus ihrer Tasche und klappte es auf. »Hallo? Ja, Nell, mir geht’s gut.« 201
Sie verdrehte die Augen. »Ich habe nur einen Spaziergang gemacht, um einen klaren Kopf zu bekommen. Hm. Nein, ich komme bald nach Hause. In Ordnung. Tschüss. Handys!« In Lanas Stimme schwang Bedauern mit, als sie das Handy zusammenklappte. »Tut mir Leid, ich dachte, ich hätte es ausgemacht.« »Das ist... in Ordnung«, log Clark. »Ich sollte jetzt wohl besser gehen.« Eine Million Worte schossen Clark durch den Kopf. Er suchte verzweifelt nach den richtigen, die Lana überzeugen würden, bei ihm zu bleiben, selbst wenn es nur für ein paar Minuten war. Aber was er sagte, war: »Wie du willst.« Clark folgte ihr zum Ende der Treppe. »Es tut mir Leid, dass ich bei der Lösung deiner Probleme keine große Hilfe war.« »Ich habe wirklich nicht erwartet, eine Lösung zu finden... nur ein mitfühlendes Ohr.« Lana lächelte sanft und sein Herz schmolz dahin. »Ich fühle mich immer besser, wenn ich diese Dinge laut aussprechen kann. Danke, Clark. Du bist ein wahrer Freund.« »Jederzeit, Lana.« Clark lehnte sich über das Geländer und sah ihr nach, wie sie die Treppe hinunterstieg, so, wie ein ertrinkender Mann einem Schiff nachsieht, das am Horizont verschwindet. Er widerstand der Versuchung, durch den Speicherboden zu sehen, um sie weiter zu beobachten. Stattdessen wandte er sich ab und verfluchte sich im Stillen dafür, dass er nicht hilfreicher, nicht charmanter war... dass es ihm nicht gelungen war, sie Whitney Fordman vergessen zu lassen. Wenn ihm das nur gelänge... Binnen eines Herzschlags hatte Clark eine Vision vor Augen: Er und Lana waren verheiratet und halfen seinen Eltern auf der Farm. Schließlich konnten sie einen Teil des angrenzenden Landes kaufen, vielleicht sogar einen Teil von Nells Land. Ihre
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gemeinsame Zukunft entfaltete sich vor seinen Augen und sah für ihn einfach perfekt aus. In Gedanken versunken hörte er nicht die Schritte, die hinter ihm erklangen. »Ähem.« Clark fuhr herum und sah Martha am Ende der Treppe stehen. »Mom? Was...?« »Ich wollte dich nur fragen, ob du mit deinem Vater und mir etwas Popcorn essen willst. Oder erwartest du heute Abend noch mehr junge Damen?« »Äh, nein.« Clark sah sich um. »Nein, das bezweifle ich.« Martha zog eine Braue hoch. »Stimmt etwas nicht, Clark?« »Ich habe nur... mit offenen Augen geträumt. Hast du schon mal von Leuten gehört, die geistige Rückblenden haben?« »Ja...?« »Ich glaube, ich hatte gerade eine Vorblende.« Am späten Mittwochnachmittag bog ein weißer Transporter mit einem WMET-News-Logo in die Haupteinfahrt des Smallville Medical Centers. Er kam nur zehn Meter weit, dann wurde er von einem Deputy Sheriff des Lowell Countys gestoppt. Der Fahrer des Transporters drehte sein Fenster herunter, als der Deputy mit einem Klemmbrett in der Hand näher trat. »Gibt es ein Problem, Officer?« »Kein Problem.« Der Deputy fügte das Kennzeichen des Transporters der Liste auf seinem Klemmbrett hinzu. »Sorgen Sie nur dafür, dass die Spur für die Krankenwagen frei bleibt. Sie kommen aus Metropolis, nicht wahr?« »Richtig... Ed Dixon, WMET.« Auf dem Beifahrersitz beugte sich eine elegant gekleidete Frau herüber und schenkte dem Deputy ihr schönstes Kameralächeln. »Hallo, ich bin Kelly McDonald. Wir sind etwas spät dran. Wir sind hier, um über...« 203
»Ich weiß, warum Sie hier sind.« Der Deputy hatte seine Liste vervollständigt und wies mit seinem Kugelschreiber auf eine Seitenstraße. »Biegen Sie dort links ab und fahren Sie weiter, bis Sie eine Baumgruppe erreichen. Der Nordparkplatz liegt direkt dahinter. Wenn Sie dort ankommen, werden Sie Ihre Kollegen schon sehen.« Ed folgte den Anweisungen des Deputys und erreichte kurz darauf den kleinen Hain. Direkt hinter den Bäumen trat er auf die Bremse und blinzelte erstaunt. »Sieht aus, als hätten wir etwas Konkurrenz, Kelly.« Vor ihnen stand eine ganze Reihe von Fahrzeugen, die alle unterschiedliche Logos von Radio- oder Fernsehstationen aus anderen Städten trugen. Kelly las die Logos vor, als sie an den besetzten Parkplätzen vorbeifuhren. »Dallas... Amarillo... Wichita... Denver... Chicago? Sie müssen den ganzen Tag gefahren sein. Sieh mal, Ed – CNN ist auch hier!« Ed schüttelte den Kopf, als er den Transporter in eine Parklücke steuerte. »Ich wette, sie haben in dieser Gegend seit ’89 nicht mehr so viele Reporter auf einem Haufen gesehen.« »Wem sagst du das.« Kelly klappte einen Spiegel auf und überprüfte, ob sie Speisereste zwischen den Zähnen hatte. »Diese Story scheint heißer zu sein, als wir dachten. Komm, wir sollten uns besser beeilen.« Ed schulterte seinen Camcorder und warf Kelly ein Mikrofon zu. Sie eilten los und stießen zu einer Gruppe von Journalisten, die sich vor dem Eingang des Krankenhauses drängten. »He, Kelly!« Eine schlanke, sehnige Gestalt tauchte an ihrer Seite auf. »Sind Sie hier, um den Wunderjungen zu interviewen?« Der letzte Rest von Kellys aufgesetztem Kameralächeln verblasste. »Hallo, Nixon. Ich hätte nie erwartet, Sie hier draußen im Hinterland zu sehen. Ich dachte, diese Story wäre zu kitschig für den Inquisitor.« »Sie kränken mich, Kelly.« 204
»Bringen Sie mich nicht dazu, mir Dinge zu wünschen, die ich nicht haben kann, Roger.« Roger Nixon gab ein scharfes, bellendes Lachen von sich. »Diese Story ist genau meine Kragenweite... Todkranker Junge geht zu einer Zeltveranstaltung... wird geheilt... Das ist mit Sicherheit Stoff für die Titelseite! Ja, Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, welche Storys ich hier sonst noch ausgegraben habe.« »Achtung!« Ed schwang seinen Camcorder herum. »Sie kommen.« Die gläserne Doppeltür glitt mit einem leisen pneumatischen Flüstern zur Seite und eine kleine Gruppe trat aus dem Krankenhaus. Flankiert von seinen Eltern schritt Stuart Harrison über den Betonweg zu der Traube aus Mikrofonen und Kameralinsen. »Stuart!« »Hier drüben, Stuart!« »Wie fühlt es sich an, eine zweite Chance bekommen zu haben?« »Was sind deine Pläne?« »Was ist deiner Meinung nach verantwortlich für...?« »RUHE!« Ray Harrison hob eine große, fleischige Hand. Sein unerwarteter Ausruf brachte die Reporter zum Schweigen. »Schon besser! Nun, wenn Sie alle für einen Moment Ihre Ungeduld zügeln könnten, mein Sohn möchte gerne etwas sagen. Stu...?« »Hi, Leute.« Stuart trat einen Schritt vor, hob seine Hand und winkte schüchtern. »Ich war mir nicht sicher, ob mir ein derart großer Empfang gefallen würde, aber... nun, wenn man so viel Glück gehabt hat wie ich, ist es wohl wichtig, alle daran teilhaben zu lassen. Damit vielleicht auch andere Leute eine Chance bekommen, dieses Glück zu haben. Aber zuerst möchte ich Doktor Manning und allen im Krankenhaus danken. Sie
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waren immer sehr nett zu mir... auch wenn sie wollten, dass ich noch ein paar Tage länger hier bleibe.« Stuart grinste seine Mutter an. Sie lächelte mit tränenfeuchten Augen zurück. Kelly McDonald nutzte das kurze Schweigen. »Du gehst also früher nach Hause?« »Mir kommt es nicht zu früh vor!« Stuarts ehrliche Antwort erntete ein paar freundliche Lacher von den Reportern. »Ich fühle mich gesund und alle Tests sagen, dass ich gesund bin. Als sich meine Temperatur normalisiert hatte, konnten sie mir keinen Grund nennen, warum ich bleiben sollte. Wenigstens keinen guten Grund.« »Dann stimmt es also, dass deine Tumore nicht länger für lebensbedrohlich erachtet werden?« »Sie sind weg!« Stuart fuhr sich mit der Hand über den Schädel. »Es ist, als hätte es nie welche gegeben. Und ich habe all das diesem Mann dort zu verdanken. Doktor Jacobi...?« Als Stuart seinen Namen rief, trat Jacobi vor. Er hatte direkt hinter den Harrisons gestanden und war bis jetzt von den Reportern nicht beachtet worden. Stuart schüttelte Jacobis Hand. »Doc, ich schulde Ihnen die größte Entschuldigung der Welt. Ich denke, ich war letzten Freitagabend wütender als je zuvor in meinem Leben. Dad hat Mom und mich förmlich zu Ihrem Vortrag gezerrt. Ich wollte nicht hingehen. Ich hielt Sie für einen großen Schwindler und dachte das auch noch, als Sie mich auf die Bühne holten. Ich sagte mir, selbst wenn es das Letzte ist, was ich mache, ich werde Sie entlarven.« Tränen traten in Stuarts Augen. »Aber ich habe mich geirrt. Nur durch Ihre Hilfe wurde ich geheilt! Ich bin hier, um der Welt zu sagen, dass Sie mir das Leben gerettet haben! Danke... vielen Dank!« Kameraverschlüsse klickten wie hyperaktive Grillen, als Stuart Jacobi an sich drückte und Ray Harrison seine Frau 206
Mary umarmte, die jetzt beide vor Glück weinten. Viele der Reporter und Kameraleute blinzelten, um ihre Tränen zurückzuhalten. »Nein, Stuart, ich habe dir nicht das Leben gerettet. Ich habe lediglich die Mittel und die Gelegenheit beigesteuert.« Jacobi sah Stuart weiter an, aber er hob seine Stimme, sodass die wartenden Mikrofone jedes seiner Worte aufnehmen konnten. »Aber ich wusste nicht, ob es funktionieren würde. Deshalb habe ich es als Experiment bezeichnet.« Er blickte in das Meer der Kameras. »Jeder angesehene Wissenschaftler wird Ihnen bestätigen, dass die meisten Experimente scheitern. Meine ersten Tests mit einem Meteoritenfragment – aus dieser Gegend – deuteten darauf hin, dass es subtile Energien erzeugte, die eine signifikante heilende Wirkung haben konnten.« Jacobi legte seinen Arm um Stuarts Schulter und drehte ihn, sodass beide in die Kameras blickten. »Der Zustand dieses tapferen jungen Mannes war so ernst, so bedrohlich, dass ich mich entschloss, das Risiko einzugehen. Zugegeben, es war eine spontane Entscheidung. Im besten Fall konnte ich hoffen, einen Teil des schrecklichen Stresses zu lindern, unter dem sein Organismus stand, seinem Körper eine Chance zu geben, seine Krankheit zu bekämpfen.« Die Linse einer CNN-Kamera kam näher und Jacobi sprach direkt in sie hinein. »Doch wir erzielten einen Durchbruch, der besser war als alles, was ich je in irgendeinem Labor erlebt habe. Es war ein wundervoller, herrlicher Zufall – ein wahrer ›Heureka-Moment‹!« Jacobi wandte sich an Stuart. »Mein Junge, du hast mir gedankt, aber genau genommen bin ich derjenige, der dir danken sollte. Ich arbeite schon seit Jahren daran, einen Weg zu finden, um die Energien zu entfesseln, die in diesen Meteoriten gespeichert sind. Freitagabend haben wir es gemeinsam geschafft! Wir haben nicht nur deine Tumore 207
zerstört, wir haben die nächste Sprosse der kosmischen Leiter gefunden, die die Menschheit auf eine höhere Ebene führen wird. Jetzt weiß ich endlich, wie ich die Arbeit der Stiftung fortsetzen kann. Wir stehen an der Schwelle eines neuen goldenen Zeitalters, und das alles verdanke ich dir!« Stuart lächelte. »Es ist so, wie Sie sagten, Doc. Wir wissen nie, was wir erreichen können, bis wir es versuchen.«
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12 DIE MORGENDÄMMERUNG ÜBER METROPOLIS war am Donnerstag besonders klar. Ein lauer Westwind hatte den üblichen Morgendunst fortgeweht und das Sonnenlicht brach sich glitzernd an dem riesigen Globus auf dem Dach des Daily Planet Buildings und verwandelte ihn in ein goldenes Leuchtfeuer. In den darunter liegenden Büros beendeten die Nachtwachmänner ihre Schicht und übergaben ihre Schlüssel und Monitorstationen der Morgencrew. Müllwagen rumpelten im Schildkrötentempo durch die Straßen, entsorgten den Abfall des vergangenen Tages und versuchten ihre Runden zu beenden, bevor der Stoßverkehr begann. Während die Stadt erwachte, brauste eine lange schwarze Limousine über den Bessolo Boulevard. Sie hielt kurz an einer Ampel an der Clinton Street, bevor sie rechts abbog. Drei Blocks weiter warf der Fahrer eines Lastwagens Bündel der Frühausgabe des Daily Planet vor Shaynes News-of-the-World auf die Straße. Und wie er es seit über einem halben Jahrhundert tat, packte Old Pop Shayne die Zeitungen und schleppte sie in seinen Zeitungsstand. Er zerschnitt gerade die Schnur, die das erste Bündel zusammenhielt, als die Limousine am Rinnstein hielt und ihre Scheinwerfer aufblitzen ließ. »Schon gut, schon gut, ich komme ja.« Pop zog eine frische, unzerknitterte Ausgabe des morgendlichen Planet aus der Mitte des Bündels, wie seine Kunden es wünschten, und schlurfte an den Straßenrand. Die getönte Glasscheibe glitt mit einem kaum hörbaren Summen nach unten und eine sorgfältig manikürte Hand hielt ihm einen neuen Zwanzigdollarschein hin. Pop tauschte die Zeitung gegen den Zwanziger und kramte in den Taschen der alten Segeltuchschürze um seine Hüften. Die Hand wartete geduldig, während Shayne das Wechselgeld abzählte. 209
»Fünf... und zehn macht zwanzig. Hier...« Die Hand wurde zurückgezogen, das Fenster schloss sich und die Limousine fuhr davon. Pop sah ihr ein paar Sekunden lang nach und spuckte dann in die ungefähre Richtung, in die sie davonfuhr. »Ihnen auch einen guten Morgen, Mr. Luthor!« Ein Mann mit einem Schutzhelm blickte von den Sportmagazinen am Zeitungsstand auf und schüttelte den Kopf. »Man könnte eigentlich erwarten, dass ein derart reicher Mann Ihnen wenigstens ein Trinkgeld gibt.« »Lionel Luthor? Er gibt Trinkgeld. Er bezahlt mir immer das Doppelte für eine unzerknitterte Zeitung. Aber das ist nicht der Punkt.« Pop wuchtete den Rest der Planet-Ausgaben auf das Regal. »Er könnte sich wenigstens die Zeit nehmen und ›guten Morgen‹ sagen.« »Nun ja, sicher. Warum nicht?« Der Schutzhelm griff nach einer Zeitung und gab Shayne einen Dollar. »Das kostet nichts.« Pop warf einen letzten Blick in die Richtung der davonbrausenden Limousine. »Sollte man jedenfalls meinen, nicht wahr?« Im Fond der Limousine durchblätterte Lionel Luthor die Zeitung und gönnte der Titelseite nur einen kurzen Blick, während er nach einem bestimmten Artikel suchte. »Aha... er hat es also wieder einmal in die landesweiten Nachrichten geschafft.« Seine Stimme verriet Verdruss, als er ein drei Spalten großes Telexfoto von Stuart Harrison und Donald Jacobi betrachtete. »Fast eine halbe Seite im Planet. Und ich kann nur ahnen, was der Inquisitor daraus macht.« Lionel überflog den Text. »Wahrscheinlich hätten sie dem Ganzen noch mehr Platz eingeräumt, wenn der Kongress nicht über das neue Finanzgesetz abgestimmt hätte. Haben Sie diesen letzten Absatz gesehen, Damian?« 210
»Ja, Mr. L.« Damian Marco hockte seinem Boss auf einem unbequemen Notsitz gegenüber. »Lesen Sie ihn.« Lionel drückte seinem Assistenten die Zeitung gegen die Brust. »Laut.« Damian räusperte sich. Er hasste es, laut zu lesen, seit er im zweiten Schuljahr in Schwester Mary Katherines Klasse ein Gedicht hatte aufsagen müssen, und er wusste, dass es ihm heute auch nicht besser gefallen würde. »Jacobi erklärte außerdem, dass die Aufstiegs-Stiftung sofort zu einer großen Sammelaktion aufrufen wird. ›Wir beabsichtigen, in Lowell County Land zu kaufen und dort ein Institut für fortgeschrittene Meteoritenforschung zu errichten. Wir werden die Sammlung...‹« »Das genügt, Damian.« Lionel lehnte sich zurück und legte seine Finger aneinander. »Wissen wir, welches Land er zu kaufen plant?« Damian kannte die Antwort nur zu gut. »Den Davis-Besitz, Mr. L.?« »Ja, den Davis-Besitz! Jacobi und Wolfe haben bereits einen Pachtvertrag mit einer Kaufoption abgeschlossen. Sie werden das Grundstück kaufen, das ihre Stiftung bereits besetzt hat. Das Grundstück, das ich haben wollte. Das ich noch immer haben will.« »Mr. L., ich habe Tag und Nacht gearbeitet, um Schmutz über Jacobi auszugraben, aber er ist wie Teflon. Und sein Partner ist praktisch ein Niemand. Ich kann nichts finden, das...« Lionel packte Damians Krawatte und zog ihn damit zu sich heran. »Jeder hat eine Vergangenheit, Damian. Sie können mir nicht erzählen, dass diese Scharlatane keinen Dreck am Stecken haben.« Er stieß den Mann gegen die linke hintere Tür der Limousine. »Steigen Sie aus.« »Sir?«
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Die Limousine hielt an. »Jacobi und seine Stiftung sind unerträgliche Probleme. Ich will Sie nicht wieder sehen, bis dieses Problem gelöst ist.« Lionel drückte einen Knopf an der Konsole an seiner Seite. Die linke hintere Tür öffnete sich und Damian fiel hinaus aufs Straßenpflaster. Als er sich aufrappelte, konnte er sehen, wie Lionel ihn aus dem Wagen heraus anstarrte. »Enttäuschen Sie mich nicht noch einmal.« Die Tür schwang zu und die Limousine fuhr davon. Damian blieb allein und zitternd mitten auf der Straße zurück. Aus der regionalen Donnerstagsausgabe des Metropolis Inquisitor... WUNDERJUNGE KEHRT HEIM – COPS GEBEN DOC ›WUNDERMETEORITEN‹ ZURÜCK Von Roger Nixon SMALLVILLE – Stuart Harrison musste sich seiner ersten Krebsoperation unterziehen, als er noch in der Mittelschule war. Die Ärzte schnitten einen Teil seines Schädels heraus und drückten die Daumen. Aber Anfang letzten Jahres lag Harrison wieder unter dem Messer. Diesmal mussten die Chirurgen seinen Schädel öffnen und eine bösartige Geschwulst entfernen, die in seinem Gehirn wuchs. Sie bestrahlten das Innere seines Kopfes mit radioaktiven Isotopen, bevor sie ihn zunähten, und unterzogen ihn einer Chemotherapie. Aber das genügte nicht. Die Tumore kehrten zurück. Die besten Onkologen im Staat Kansas waren hilflos. Doch letzte Woche, in einem Zelt inmitten des Maisstaates, wurde Stu Harrisons Leben von einem Steinbrocken gerettet, der vom Himmel fiel, als er noch ein Junge war. »Es ist ein Wunder«, sagte seine Mutter, die mit ihrem Sohn und Mann in einem Haus mit versetzten Geschossen in den
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Außenbezirken von Smallville lebt. »Die Tumore sind einfach verschwunden. Seine Ärzte können es nicht erklären.« Die Krebsspezialisten mögen ratlos sein, aber sein Vater Ray ist es nicht. Er erzählte dem Inquisitor, dass er seine Familie Freitagabend mit zu diesem Zelt nahm, zu einem Vortrag des Genetikers Dr. Donald Jacobi, in der Hoffnung, Hilfe für seinen Sohn zu finden. »Ich habe über Dr. Jacobis Arbeit gelesen und ihn ein paar Abende zuvor sprechen gehört. Ich hätte Stu mit in sein Donnerstagabendseminar genommen, hätte ich das nötige Geld gehabt«, räumte Ray ein. »Jacobis Ankunft in Smallville war ein Zeichen für mich. Er war die beste Chance, die wir hatten.« Jacobi, der für die Aufstiegs-Stiftung arbeitet, spielt seine Rolle bei Harrisons Wunderheilung herunter. »Ich habe Stuart durch eine Reihe von Imaginationsübungen geführt und einen kleinen Meteoriten als Konzentrationshilfe benutzt, als es zu einer Fehlfunktion eines Lasers unseres Videoprojektionssystems kam«, sagte er. »Der Lichtstrahl aktivierte Elemente innerhalb des Meteoriten und löste einen Energieausbruch aus. Und das wiederum hat in Stuarts Gewebe eine Reaktion ausgelöst. Es war der glücklichste aller glücklichen Zufälle, obwohl das Szenario zu jenem Zeitpunkt überaus Furcht erregend wirkte.« Die örtlichen Behörden beschlagnahmten umgehend Jacobis Meteoriten und brachten Stuart Harrison, der an hohem Fieber litt, ins Smallville Medical Center. Aber als sein Fieber nachließ, wurde klar, dass sich sein Zustand drastisch verbessert hatte. Gestern, weniger als sechs Tage nach seiner Einlieferung, verließ Stuart vom Krebs geheilt das Krankenhaus. Was sind jetzt seine Pläne?, haben wir ihn gefragt. »Ich freue mich wirklich darauf, wieder zur Schule zu gehen. Ich habe eine Menge Unterricht versäumt, aber wenn ich mich anstrenge, kann ich noch immer den Abschluss schaffen.« Und 213
nach dem Abschluss? »Ich würde gern Dr. Jacobi und seiner Stiftung bei ihrer Arbeit helfen.« Wenn Stuart irgendwann dem Doktor assistieren wird, muss er nicht weit gehen. Bei Harrisons Entlassung aus dem Krankenhaus erklärte Jacobi, dass die Aufstiegs-Stiftung plant, noch in diesem Jahr außerhalb von Smallville ein Institut für fortgeschrittene Meteoritenforschung zu eröffnen. »Die State Police hat ihre Untersuchung des Zwischenfalls abgeschlossen und mir meine Meteoritenprobe zurückgegeben«, sagte Jacobi. »Während die Stiftung diese Probe weiter untersuchen wird, werden wir unsere Forschung ausweiten. Wir werden viele weitere Proben der Meteoriten von Lowell County sammeln in der Hoffnung, neue Wege zur Ausmerzung von Krankheiten und zur Verbesserung der Lebensqualität zu finden.« Martha Kent hatte gerade den Antriebsriemen des Transporters ausgetauscht und war ins Haus zurückgekehrt, als das Telefon klingelte. Eilig wischte sie sich die Hände an einem Papierhandtuch ab und ging beim dritten Klingeln an den Apparat. »Hallo?« Am anderen Ende erklang das Rascheln von Papieren. »Mrs.... äh... Kent?« »Ja?«, fragte Martha gedehnt. Das Zögern des Anrufers weckte ihr Misstrauen. »Mein Name ist Andy March. Wie geht es Ihnen heute?« »Gut. Wenn es um...?« »Ich bin Mitglied der Aufstiegs-Stiftung. Wie Sie vielleicht wissen, versuchen wir unsere Vorräte an Meteoritenfragmenten aufzustocken, um...!« »Hören Sie sofort auf!« Martha spürte das, was ihre Großmutter ihr irisches Temperament genannt hätte, in sich hochsteigen. Sie holte tief Luft und fuhr fort: »Es tut mir Leid,
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aber ich kann Ihnen nicht helfen. Wir haben hier keine Meteoriten.« »Wahrscheinlich keine, von denen Sie wissen, davon bin ich überzeugt. Aber Ihr Land umfasst viele Morgen. Es könnten überall Fragmente vergraben sein.« »Das bezweifle ich. Wir bewirtschaften unsere Farm und unsere Pflüge hätten sie schon längst ausgegraben.« »Nun, vielleicht sind einige Ihrer Aufmerksamkeit entgangen. Ich würde gern herüberkommen und Ihr...!« »Nein, Mr. March.« Marthas Stimme klang hart. »Auf unserem Besitz stehen Schilder, die deutlich machen, dass das Betreten Unbefugten verboten ist. Merken Sie sich das bitte. Und ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie diese Nummer von Ihrer Telefonliste streichen. Dies ist der dritte Anruf von Ihrer Stiftung, den ich heute annehmen muss, und ich möchte nicht noch einmal belästigt werden.« »Äh...« Martha beendete die Verbindung und konnte sich nur mit Mühe davon abhalten, den Hörer auf die Gabel zu knallen. Ihre Mutter hatte immer großen Wert auf Telefonetikette gelegt und deshalb hatte Martha stets leichte Schuldgefühle, wenn sie einen Anrufer so knapp abfertigte. Aber diesmal nicht. Sie holte erneut tief Luft und zählte bis zehn, bevor sie den Hörer auf die Gabel legte. Dann wandte sie sich ab, ging zur Hintertür und blieb nur lange genug stehen, um ein Paar alte Stiefel über ihre Schuhe zu streifen. Jonathan Kent war draußen hinter der Scheune gerade dabei, einen Miststreuer an den Traktor zu hängen, als er seine Frau in seine Richtung eilen sah. »Martha...?« Die Entschlossenheit ihrer Schritte verriet ihm, dass irgendetwas nicht stimmte. Als sie näher kam, konnte er erkennen, dass ihr Gesicht fast so rot wie ihre Haare war. »Was ist los? Was ist passiert?« »Es sind diese Stiftungsidioten! Sie rufen ständig an und wollen auf unserer Farm nach Meteoriten suchen! Und wir sind 215
nicht allein. Sie haben jede Farm in der Gegend angerufen, soweit ich das feststellen kann! Die Tuckers, die Roudebushs...« Jonathan sagte kein Wort. Seine Frau zeigte ihr Temperament nicht oft und niemals ohne guten Grund. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es unter diesen Umständen das Beste war, wenn sie sich erst einmal abreagieren konnte. »... die Mosbaughs, die Wilsons. Oh, die Wilsons!« Marthas Augen blitzten. »Die meisten unserer Nachbarn waren vernünftig genug, sie abzuweisen, aber nicht die Wilsons! Sie haben den Meteoritenjägern angeboten, für zehn Dollar pro Person und fünfundzwanzig für jeden gefundenen Stein auf ihrem Land zu graben. Ich schwöre, selbst wenn ich hundert werde, werde ich nie wieder ein Wort mit Freida Wilson sprechen!« Nun, dann hat das alles wenigstens etwas Gutes. Jonathan stand staunend da und erkannte in der Tirade seiner Frau dieselbe Wildheit wieder, die eine Bärenmutter zeigte, wenn sie ihre Jungen verteidigte. »Ich kann die Gier mancher Leute nicht fassen – die reine, gedankenlose Gier! Es ist ihnen egal, wem sie schaden. Schon einer dieser verdammten Steine kann Clark krank machen. Zu viele werden ihn vielleicht töten!« »Das wissen sie nicht, Martha.« Jonathan nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. »Bis vor ein paar Monaten haben nicht einmal wir es gewusst. Und wir können natürlich niemandem davon erzählen.« »Es ist alles so frustrierend. Gibt es denn nichts, das wir tun können, um diesem Treiben ein Ende zu bereiten?« »Nicht dass ich wüsste. Die Umweltschutzbehörde hat die Meteoriten vor einem Jahr für harmlos erklärt, also hat niemand Angst vor ihnen. Und jetzt rührt Jacobi die Trommel, um den Leuten einzureden, dass sie sogar gut für sie sind. Ich weiß nicht, ob es uns je gelingen wird, die Leute vom 216
Gegenteil zu überzeugen... nicht, ohne eine Menge unerwünschter Aufmerksamkeit auf Clark zu lenken.« Martha schmiegte sich an ihren Mann. »Ich wünschte, wir könnten all diese Steine einsammeln und dorthin zurückschicken, woher sie gekommen sind.« »Ich auch, Schatz. Ich auch. Dennoch, wenn Jacobis Handlanger die meisten Meteoriten finden und sie alle an einem Ort zusammentragen, wird es Clark vielleicht leichter fallen, ihnen auszuweichen.« Jonathan hob seine Hände, als seine Frau ihn mit einem Stirnrunzeln bedachte, bei dem Milch sauer geworden wäre. »Ich versuche nur, den Silberstreif zu sehen.« »Nun, sie sollten ihre Meteoriten besser von unserem Sohn fern halten.« Martha verschränkte die Arme. »Und ich schwöre, wenn sie mich noch einmal anrufen, werde ich durch dieses Telefon greifen und ihnen die Mandeln herausreißen!« Und das glaube ich dir sogar, Mama Bär, nickte Jonathan ernst. »›Das Institut für fortgeschrittene Meteoritenforschung‹! Also, das ist einfach wundervoll!« Doktor Hamilton knüllte den Zeitungsausschnitt zu einem Ball zusammen und warf ihn in Richtung eines überquellenden Abfalleimers. Lex hob die Papierkugel auf, als sie von dem ganzen Unrat zu Boden rutschte. »Ich dachte, Sie wollten über die Aktivitäten Ihres Konkurrenten auf dem Laufenden gehalten werden.« »Konkurrenten?« Hamilton schnitt eine Grimasse, als er das Wort wiederholte. Es schien einen schlechten Geschmack in seinem Mund zu hinterlassen. »Ich schätze, das ist er wohl jetzt. Unglücklicherweise erschweren angeberische Randfiguren wie Jacobi oft die ernsthafte Untersuchung unkonventioneller Themen. Nur wenige Wissenschaftler haben
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heutzutage reiche Gönner und ich kann die ganze Arbeit nicht allein machen.« »Sie klingen, als wären Sie überzeugt, dass es hier eine Menge zu untersuchen gibt.« Lex glättete das zerknüllte Papier auf der Ecke eines Labortischs. »Halten Sie es für möglich, dass die Meteoriten heilende Kräfte haben?« »Möglich? Ja. Aber bestimmt nicht in dem grandiosen Ausmaß, wie Jacobi behauptet. Das Problem ist, wie die Leute darauf reagieren. Es ist ein uraltes Szenario: Ein Wunderheiler kommt in die Stadt, heilt einen kranken Jungen, sein Name wird in allen Zeitungen genannt, dann lehnt er sich zurück, um im Ruhm zu baden und das Geld zu kassieren.« »Komisch, ich habe Sie nie für einen Mann gehalten, der an Ruhm interessiert ist.« Lex sah Hamilton mit hochgezogener Braue an. »Und das erste Mal, als ich Ihnen Geld anbot, haben Sie mir die Tür gewiesen.« »Ruhm ist nur eine Metapher für Erfolg.« Hamilton machte eine abfällige Handbewegung. »Früher einmal habe ich den Ruhm zu kosten bekommen. Nett, aber nicht sehr erfüllend. Und er hat natürlich nicht lange angehalten. Er hält selten lange an.« Er nahm eine Schutzbrille von einem Regal über einem vollen Labortisch. »In der letzten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat Jonas Salk wahrscheinlich mehr Leben gerettet, als jeder andere damals lebende Mensch. Heute ist sein Name nur als Impfstoff bekannt, den die Leute als gegeben hinnehmen, sofern sie überhaupt darüber nachdenken. Nein, die Welt kann ihren Ruhm behalten.« »Und Geld?« »Ah, ja. Geld. Das andere große Rauschmittel.« Hamilton setzte die Schutzbrille auf den Nasenrücken. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für Sie gewesen sein muss, als der Sohn eines Milliardärs aufzuwachsen. All dieses Geld... Ich frage mich, wie Sie wohl ohne zurechtgekommen wären?« »Zweifellos eine Frage, die sich mein Vater oft gestellt hat.« 218
Hamilton funkelte ihn durch die Schutzbrille an, aber Luthor machte ein perfektes Pokergesicht. Der Wissenschaftler zuckte die Schultern und fuhr fort: »Ich bin in relativ einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Während meiner akademischen Karriere habe ich ein paar fette Jahre gehabt, aber ich habe nie über meine Verhältnisse gelebt. Mit dem Ergebnis, dass ich mir, als all die Forschungsgelder versiegten, diese bescheidene Einrichtung leisten konnte.« Er machte eine weit ausholende Handbewegung, die die ganze Scheune umfasste. »Nicht gerade supermodern, aber es hat mir erlaubt, meine Arbeit einigermaßen fortzusetzen. Nein, Luthor, Geld ist für mich bloß ein weiteres Werkzeug – ein Mittel, nicht der Zweck.« »Eine bewundernswerte Philosophie, Doktor. Sagen Sie mir, warum haben Sie schließlich doch Ihre Meinung über die... Qualität des Werkzeugs geändert, das ich Ihnen anbot?« »Spielen Sie hier nicht den Naiven, Luthor. Sie kennen den Grund verdammt gut! Ihre Spione haben in meiner Vergangenheit eine Menge Schmutz ausgegraben. Sie hätten das Leben in dieser Stadt sehr schwierig für mich machen können. Stattdessen haben Sie mir Geld und Unabhängigkeit angeboten und ich brauchte beides, um den nächsten Schritt in meiner Forschung beginnen zu können.« Etwas in dem Tonfall des Wissenschaftlers erregte Lex’ Aufmerksamkeit. »Haben Sie etwas entdeckt?« »Vielleicht. Bedenken Sie, die Meteoriten sind mit unerwarteten – manchmal bizarren – Veränderungen bei mehreren Personen in Zusammenhang gebracht worden. Wie sogar ›Doktor‹ Jacobi feststellte, sind die meisten Leute überhaupt nicht beeinflusst worden. Dies deutet auf etwas Subtiles hin. Jede Veränderung war einzigartig, was zweifellos darauf hindeutet, dass andere Faktoren, die bei jeder Person differieren, mit eine Rolle spielten.« Vielleicht sogar die Abwässer der Luthor-Corp-Düngemittelfabrik, dachte er mit einem zynischen Lächeln. 219
»Aber es deutet auch darauf hin, dass irgendein merkwürdiger neuer Faktor, etwas, das bis jetzt kein Teil der menschlichen Umwelt war, dafür verantwortlich ist. Und ich glaube, dass ich diesen Faktor vielleicht entdeckt habe.« Lex runzelte die Stirn. »Sie haben herausgefunden, wie die Meteoriten Menschen beeinflussen?« »Nein, nein. Es wird noch lange dauern, bis ich den genauen Mechanismus durchschaut habe. Aber ich denke, ich weiß, warum der selten auftretende Effekt so merkwürdig ist. Sehen Sie sich das an.« Hamilton gab über seine Tastatur Befehle ein und eine lange Liste von Elementen erschien auf seinem Monitor; jeder Name wurde durch eine Reihe von Grafiken ergänzt. »Sehr farbenprächtig, Doktor, aber für mich sieht das nur wie mehrere Reihen zerbrochener Regenbögen aus. Was bedeutet das?« »Das ist eine spektrografische Analyse eines der Meteoriten, die ich untersucht habe.« Hamilton klickte auf die beiden obersten Einträge, vergrößerte diesen Teil der Darstellung und hob ihn hervor. »Diese beiden ersten zeigen das Vorhandensein der üblichen Komponenten an – Eisen und Nickel, die in Meteoriten sehr häufig vorkommen.« Er scrollte weiter. »Hier sind ein paar Spuren von Kupfer, Zink, Kohlenstoff. Nun, diese Linien hier unten sind interessant.« Er zeigte auf eine Grafik unter dem Eintrag für Kohlenstoff. »Sie deuten auf ungewöhnlich hohe Anteile von Krypton hin.« »Krypton?« »Ein Edelgas. Es wird kommerziell in Leuchtstofflampen, Blitzlichtern und einigen Fenstern eingesetzt.« »Ich weiß, was das ist, Doktor. Warum tritt es in solcher Menge auf?« »Wo sich die Meteoriten gebildet haben, muss es eine große Konzentration dieses Gases gegeben haben. Jedenfalls sind das alles Spuren bekannter Elemente, die auf der Erde sehr häufig 220
vorkommen. Bis auf das hier.« Hamilton scrollte zum Ende der Liste. »Das ist etwas völlig anderes.« Ein weiterer Klick vergrößerte den letzten Eintrag, das Spektrogramm, das die Bezeichnung »Unbekannt« trug. »Für mich sind das noch immer nur Linien, abgesehen davon, dass sie jetzt dicker sind. Was bedeutet das?« Hamilton sah Lex nachdenklich an. »Es könnte auf eine Kontaminierung hinweisen oder auf eine Mischung, die nicht vollständig getrennt wurde. Aber wenn ich sehr, sehr viel Glück habe, könnte es bedeuten, dass ich ein völlig neues Element entdeckt habe.« »Ein neues Element?« Lex sah von dem Computerschirm zu einem großen Poster mit dem periodischen System, das an einer Trennwand befestigt war. »Wie Wasserstoff, Helium und Lithium?« »Exakt. Wir müssen vielleicht die Tabelle erweitern.« Lex stöhnte. »Im Ernst, ich möchte das Experiment wiederholen – und ich werde zusätzliche Tests durchführen müssen, bevor ich sicher sein kann –, aber wenn es ein neues Element ist, wie ich annehme, dann würde ich wetten, dass sein Atomgewicht bei einhundertsechsundzwanzig liegt.« »Ein...?« Lex riss die Augen auf. »Einhundertsechsundzwanzig? Ich dachte, die natürlichen Elemente enden bei etwa neunzig.« »Zweiundneunzig, um genau zu sein. Uran. Wir haben im Labor über ein Dutzend schwerere Elemente erzeugt, von denen alle radioaktiv und die meisten extrem instabil sind. Aber das hier... das geht weit darüber hinaus. Wenn es wirklich existiert, müsste man dieses spezielle Element als Superaktinium klassifizieren. Natürlich radioaktiv, aber mit einer relativ langen Halbwertzeit.« Hamilton klopfte gegen den Bildschirm und schien fast zu lächeln. »In der Theorie wurde schon lange vorhergesagt, dass bestimmte superschwere 221
transuranische Elemente existieren könnten. Elemente, deren Atome eine so genannte ›magische Zahl‹ von Protonen im Kern haben.« Jetzt lächelte Hamilton tatsächlich. »Einhundertsechsundzwanzig ist eine dieser magischen Zahlen.« »Wenn Sie es sagen, Doktor. Aber wenn Sie Recht haben, warum wurde es dann nicht schon früher entdeckt? Ich habe die Berichte gelesen, die die Umweltschutzbehörde und die National Science Foundation herausgegeben haben, und keiner hat irgendeine signifikante Strahlung erwähnt.« »Ich glaube, der genaue Wortlaut war ›kein signifikanter Anstieg über die Hintergrundstrahlung‹. Und das ist eigentlich absolut korrekt, aber ohne besondere Bedeutung hier. Beweise für ein völlig neues Element zu finden ist etwas völlig anderes, als Radioaktivität zu messen. Warum es sonst niemand entdeckt hat? Ich weiß es wirklich nicht.« Hamilton sah nachdenklich drein. »Einige sehr angesehene Wissenschaftler haben die Untersuchungen durchgeführt. Es ist möglich, dass ihre Proben Isotope dieses Elements enthielten, die instabiler waren. Wenn dies der Fall war, dann sind diese Isotope vielleicht zu anderen Elementen zerfallen, bevor sie entdeckt werden konnten.« Lex dachte darüber nach. »Sie sagen also, dass diese Wissenschaftler einfach Pech gehabt haben könnten?« »So etwas passiert. Pech ist in der Wissenschaft ärgerlicherweise sehr verbreitet. Als ›Doktor‹ Jacobi den Medien erzählte, dass die meisten Experimente scheitern, hat er – zum ersten Mal – die reine, unverfälschte Wahrheit gesagt. Wenn ich ein neues Element entdeckt habe, dann dank meiner jahrelangen Forschungen. Und natürlich war die neue Ausrüstung eine große Hilfe.« Hamilton wies auf die funkelnagelneue Metallverkleidung eines Apparates, der auf einem metallenen Teststand in der Nähe montiert war.
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»Es ist eine Ironie. Der Smallviller Meteoritenschauer hat einen Strom neuer Forschungsgelder ausgelöst, aber nur ein Bruchteil dieser Gelder wurde für die gründliche Untersuchung geborgener Fragmente ausgegeben. Der Bärenanteil wurde verwendet, um Methoden zu erforschen, die zukünftige Einschläge verhindern sollen.« Er hielt eine Hand hoch. »Verstehen Sie mich nicht falsch. Solche Studien zur Prävention sind schon lange überfällig. Wir sind Meteoritenund Asteroideneinschlägen noch immer schutzlos ausgeliefert... so schutzlos, wie es die Dinosaurier waren. All meine Arbeit – die Arbeit aller Menschen – könnte durch einen einzigen Einschlag ausgelöscht werden.« »Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt.« Lex sah wieder auf den Monitor. »Jedenfalls bin ich froh, dass ich etwas zu dem ›Bruchteil‹ beisteuern konnte. Was werden Sie als Nächstes tun?« »Wie ich schon sagte, meine Experimente wiederholen und zusätzliche Tests durchführen. Ich muss sicher sein, dass meine Ergebnisse richtig sind. Vor einigen Jahren glaubte ein Forschungsteam, ein neues superschweres Element in einem Meteoriten gefunden zu haben, aber ihre ursprünglichen Resultate konnten nicht wiederholt werden.« Hamilton rieb sich das Kinn. »Und ich werde versuchen, aus dem Erzgestein eine reinere Form des Elementes zu gewinnen.« Er schwieg einen Moment und zündete einen Bunsenbrenner an. »Jacobi lässt seine minderbemittelten Anhänger das Land nach jedem Stein absuchen, der aussieht, als könnte er vorn Himmel gefallen sein.« »Ja.« Lex betrachtete wieder den Zeitungsausschnitt. »Das kommt zu einem schlechten Zeitpunkt.« »Das ist es, was mich am meisten frustriert. Ich habe Jahre gebraucht, um zu diesem Punkt zu gelangen, und jetzt...!« Hamilton machte ein finsteres Gesicht. »Jacobi ist ein Schwindler. Er hat keine Ahnung, womit er wirklich spielt, 223
aber das macht ihn zu keiner geringeren Bedrohung. Wenn er weiter seinen Plan mit diesem ›Institut‹ verfolgt, könnte er meine Arbeit um Jahre zurückwerfen!« »Keine Sorge. Ich lasse Jacobis Aktivitäten überwachen und ich vermute, dass ich nicht der Einzige bin. Setzen Sie einfach Ihre Forschungen fort und lassen Sie mich das erledigen.« Lex gab Hamilton den Ausschnitt und ging zur Tür. Dort angelangt, sah er sich noch einmal um. »Nebenbei, Doktor, Sie haben Recht, was Jacobi betrifft. Er hat keine Ahnung, womit er spielt.« Hamilton verfolgte schweigend, wie Lex das Labor verließ. Er sah sich den zerknitterten Zeitungsausschnitt in seiner Hand an. Und dann hielt er ihn über den Bunsenbrenner.
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13 VON INNEN BETRACHTET SCHIEN ES nur ein weiterer Freitag in der Smallville Highschool zu sein. Die Hausaufgaben wurden überprüft und Tests verteilt. In den Klassenzimmern wurden Spickzettel heimlich weitergereicht. Das Büro des Direktors sprach allen üblichen Zuspätkommern die üblichen Verweise aus. Auf dem Mittagsspeiseplan der Cafeteria standen Fischkuchen und Makkaroni mit Fleischsoße zur Auswahl. Die Schüler und Lehrer der SHS taten ihr Bestes, sich in die normale Schulroutine einzufügen. Aber dies war kein normaler Freitag. Dies war der Tag, an dem Stuart Harrison in den Unterricht zurückgekehrt war. Clark hatte an diesem Morgen den Bus verpasst und war zu Fuß eingetroffen. Er stieß auf über ein Dutzend Reporter, die sich am Rand des Schulgeländes drängten und abgestandenen Kaffee aus Styroporbechern schlürften. Als er näher kam, wurden Mikrofone in seine Richtung gehalten und ihm Fragen zugerufen. »Stuart...?« »Auf ein Wort...!« »Stuart, hier drüben!« »He!« Clark schob die Kameralinsen zur Seite. »Nehmen Sie dieses Ding aus meinem Gesicht!« »Ich glaube nicht, dass er es ist!« »Ja, seine Haare sind zu dunkel.« »Junge, kennst du Stuart Harrison?« »Wie ist er so?« »Er geht auf meine Schule. He, weg da.« Clark rempelte einen besonders aggressiven Reporter an und ging weiter. Er blieb erst stehen, als er den Haupteingang der Schule passiert
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hatte. Als er sich umdrehte und durch ein Fenster spähte, winkte Chloe ihm zu. »Hast du das Spießrutenlaufen gut überstanden?« »Chloe, was ist los? Wer sind diese Leute?« Sie trat zu ihm ans Fenster. »Eine Horde Pressevertreter. Wie ich hörte, sind sie bereits im Morgengrauen aufgetaucht. Sie wurden auf Anordnung von Direktor Kwan an den Rand des Campus verbannt.« Chloe schüttelte traurig den Kopf. »Seitdem lungern sie dort herum und warten auf den Wunder jungen. Arme Kerle.« »Arme Kerle? Sie sind wie die Geier!« Chloe ignorierte die Beleidigung ihrer Reporterkollegen. »Sie verschwenden ihre Zeit. Kwan hat Stuart mit einem Brotlieferwagen hereinschmuggeln lassen. Er ist schon seit einer halben Stunde hier.« »Gut für ihn.« Clark wandte sich vom Fenster ab. »Es war schon schlimm genug, dass ich mit Stuart verwechselt wurde.« Chloe zuckte die Schultern. »Ob es dir nun gefällt oder nicht, Stuart ist Nachrichtenmaterial.« »Das ist kein Grund, ihn durch die Hölle zu schicken.« Wenn das die Reaktion auf eine »Wunderheilung« ist, wie werden sie erst reagieren, wenn sie mein Geheimnis entdecken? Bei diesem Gedanken überkam Clark ein Schaudern. Er runzelte die Stirn. »Und du willst einer von ihnen sein?« »Nein.« Chloe rümpfte die Nase, als würde sie etwas Widerliches riechen. »Das sind die Galeerensklaven des vierten Standes, die Niedrigsten der Niedrigen. Ich wollte nie wie sie sein. Man muss kein Mistkerl sein, um Reporter zu werden.« »Nun, ich hoffe nicht.« »Aber man muss einfallsreich sein.« Sie lächelte. »Ich habe an meinem Artikel gearbeitet und ich denke, wir sollten dem Gelände noch einmal einen Besuch abstatten.«
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»Dem Gelände?« Hättest du das nicht planen können, bevor sie mit dem Meteoritensammeln angefangen haben?, fragte sich Clark insgeheim. »Und wen meinst du mit ›wir‹?« »Dich und mich und Pete. Was sagst du dazu?« »Ich würde sagen, ich glaube nicht, dass sich Jacobi in einen wahren Humanisten verwandelt hat. Ich meine, wegen der Einrichtung des neuen Instituts.« »Ich bin auch skeptisch. Vielleicht hat er sich verändert, aber ich habe gestern Abend den Vortrag besucht und alles lief wie zuvor: Spenden wurden dankend entgegengenommen.« Clark war überrascht. Er hatte das Institut nur erwähnt, um Zeit zu gewinnen. Er hatte nicht erwartet, das zu hören. »Du hast Geld für einen weiteren Vortrag ausgegeben?« »Bist du verrückt? Ich bin einfach zum Gelände zurückgekehrt und habe ihnen gesagt, dass ich einen Bericht über ihre neuen Pläne schreiben möchte. Und natürlich, schon hatte ich wieder freien Eintritt. Wie ich schon sagte, das Format war dasselbe, auch wenn sich Jacobi als selbstloser Helfer dargestellt hat. Nun, vielleicht hat er sich wirklich grundlegend geändert – ich gebe zu, dass das möglich ist, aber ich nehme es ihm ohne Beweis nicht ab. Also... bist du bereit für ein paar Nachforschungen?« »Ich halte das für einen großen Fehler, Chloe.« »Was? Warum?« Weil die Stiftung Steine sammelt, in deren Nähe ich mich hundeelend fühle, hätte er gerne gesagt. »Äh, weil die Leute, die für die Stiftung arbeiten, dir wahrscheinlich nichts Nützliches erzählen werden. Es sind hauptsächlich Freiwillige, richtig?« »Richtig! Die typischen Idealisten – sie haben sich Urlaub von ihren Jobs genommen, um treue kleine Stiftungsmitarbeiter zu sein.«
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»Genau! Und wie erfolgreich wirst du deiner Meinung nach sein, wenn du auftauchst und im vollen journalistischen Eifer die treuen Helfer grillst?« »Ein guter Einwand.« Chloe biss sich nachdenklich auf die Lippe. »Ich will nicht, dass Jacobi zu schnell Verdacht schöpft.« »Das sehe ich auch so!« Clark seufzte erleichtert. »Du musst mehr Hintergrundmaterial über die Stiftung ausgraben... vielleicht solltest du nach Anzeichen von Unzufriedenheit unter den Mitarbeitern Ausschau haken und ihnen folgen, wenn sie das Gelände verlassen.« »Sehr gut, Clark!« Sie lächelte ihn an. »Kann ich dich nicht irgendwie überzeugen, für mich an der Fackel mitzuarbeiten? Du hast bereits die Instinkte eines Reporters.« »Tatsächlich?« Clark blinzelte. »Es ist kein persönlicher Fehler.« Chloe kicherte. »Ich habe das als Kompliment gemeint.« Als sie sich abwandte, um in die erste Unterrichtsstunde zu gehen, drehte sie sich noch einmal um und zwinkerte ihm zu. »Ich freue mich schon darauf, deinen Namen unter einer Story gedruckt zu sehen.« Clark schüttelte den Kopf. »Darauf kannst du lange warten!« Zwischen den Unterrichtsstunden bewegte sich Stuart wie ein junger Gott durch die Korridore. Es war, als hätte es seine lange Krankheit nie gegeben. Stuart ging mit energischen, sicheren Schritten. Seine Haut hatte einen warmen, gesunden Ton. Seine Haare waren bereits länger und dichter nachgewachsen. Viele Klassenkameraden traten zur Seite, um Stuart Platz zu machen. Einige riefen ihm Grüße oder Aufmunterungen zu. Er reagierte auf alles mit einem breiten Grinsen. »Stu! Schön, dass du wieder da bist!« »Es ist schön, wieder da zu sein!« »Siehst gut aus, Mann!« 228
»Danke. Ich fühle mich auch gut!« Als Stuart in den Nordkorridor der Schule bog, entdeckte er einen Schüler, der sich über einen Wasserspender beugte. »Clark? Clark Kent!« Clark brauchte einen Herzschlag, bis er den hoch gewachsenen Burschen erkannte, der ihn rief. »Stuart?« Es fiel ihm schwer zu glauben, dass das derselbe junge Mann war, den er erst vor einer Woche aus dem Zelt getragen hatte. »Wow, du siehst toll aus!« »Ja«, lachte Stuart leise, »das höre ich in letzter Zeit oft.« Er streckte den Arm aus und ergriff Clarks Hand. »Hör zu, mein Vater hat mir erzählt, was du mit den anderen für mich getan hast. Ich möchte dir dafür danken – und dafür, dass du den Krankenwagen angeschoben hast. Ich weiß das wirklich zu schätzen.« »Das ist okay. Ich war froh, helfen zu können.« Clark war ein wenig überrascht, dass der beliebte Oberstufenschüler seinen Namen kannte. »Du hättest dasselbe für mich getan.« »Nun, ich hoffe, das wird niemals nötig sein. Aber wenn du jemals Hilfe brauchst...« »STU-U-U-U!« Whitney lief brüllend den Korridor herunter. Er kam rutschend neben ihnen zum Halt und boxte vor dem Bauch seines alten Freundes herum, ohne ihn zu berühren. »Ich wusste, dass du zu gemein und stur zum Sterben bist!« »Ford-Man!« Stuart lachte und nahm Whitney in die Klammer. Er hob den überraschten Quarterback einen halben Meter vom Boden, schüttelte ihn ungestüm und ließ ihn dann fallen. »Kumpel!« Whitney trat einen halben Schritt zurück. Seine Augen waren fast so groß, wie sein Lächeln breit war. »Es stimmt! Du bist wieder der Alte!« »Stärker als Dreck, aber nur halb so staubig!« »Mann, wirklich schade, dass die Saison vorbei ist. Wir hätten dich im Team gut gebrauchen können.« 229
»Ach was, ihr seid auch ohne mich klargekommen. Außerdem bin ich im Moment zu sehr beschäftigt, um Sport zu treiben. Ich habe eine Menge Unterricht nachzuholen. Der Direktor sagt, wenn ich meinen Zensurendurchschnitt halte, habe ich gute Chancen, ein Carter-Stipendium zu bekommen.« »Ein Carter...?« Whitneys Lächeln verblasste. »Kein Witz? Damit kannst du dir jedes College im Land leisten.« »He, würde ich mit dir Scherze treiben? Ja, wenn ich das Carter bekäme, wäre ich saniert. Jedenfalls werde ich eine Weile ein sehr beschäftigter Junge sein. Ich muss nicht nur den Unterricht nachholen, sondern auch Doktor Jacobi bei seiner Stiftungsarbeit helfen.« »Ja, ich bin in der letzten Zeit auch ziemlich beschäftigt. Seit mein Dad krank ist, arbeite ich oft im Laden.« »Whit, das habe ich nicht gewusst.« Stuarts Lächeln verschwand. »Ist es was Ernstes? Warum hast du nichts gesagt?« »Ah, du hattest schon genug Sorgen.« »Jetzt nicht mehr.« Stuart schnippte mit den Fingern. »He, du solltest deinen Dad zu Doc Jacobi bringen. Vielleicht sind ein paar Meteoritensitzungen genau das, was er braucht.« »Ich weiß nicht, Stu. Das ist kein Krebs.« Whitney fühlte sich unbehaglich dabei, über diesen Punkt zu reden, selbst mit seinem alten Freund. Er sah zu Clark hinüber. Seine Augen baten diesen, das Thema zu wechseln. »Stuart?« Die drei jungen Männer drehten sich um und sahen Lana auf sich zukommen. »Stimmt es, was ich gehört habe? Du arbeitest für die Stiftung?« »Lana, hi! Ja, es stimmt. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Schließlich hat mir Doc Jacobi mein Leben zurückgegeben.« »Wie kannst du dir dessen so sicher sein?« »Lana!« Whitney war von ihrer Frage völlig entgeistert.
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»Es ist okay, Whit. Das ist nichts Neues. Der Doc erzählte mir, dass er es in der Vergangenheit mit einer Menge Skeptiker zu tun hatte.« Stuart richtete seine volle Aufmerksamkeit auf Lana. »Zum Teufel, ich war selbst skeptisch. Aber, nun ja, du warst dabei, richtig? Du hast gesehen, was passiert ist.« »Stuart, ich bin wirklich, wirklich froh, dass es dir gut geht. Aber letzten Freitagabend habe ich einen Lichtblitz und dann dich gesehen, wie du auf der Bühne zusammengebrochen bist. Das ist alles.« »Lana, du musst das verstehen.« Stuart beugte sich vor und ergriff ihre Hand. Einen Moment lang glaubte Clark, dass er sie küssen würde. Aber er hielt sie nur ganz sanft fest. »Ich lag im Sterben. Ich hatte im Höchstfall noch vielleicht zwei Monate zu leben – das war das Beste, was mir die Onkologen versprechen konnten. Dann nahm ich an Doc Jacobis Experiment teil, und sieh mich jetzt an! Ich liege nicht mehr im Sterben, Lana. Die Tumore sind verschwunden, genau wie die Narben meiner früheren Operationen. Ich bin völlig geheilt!« Stuart richtete sich auf und warf sich in die Brust. »Ich nehme wieder das Gewicht zu, das ich in den letzten Monaten verloren habe. Ich bin wieder ich selbst. Die Ärzte konnten sich das nicht erklären, aber ich bin sicher, dass mich Doc Jacobis Meteorit geheilt hat.« »Stuart...« Lana zögerte. »Es ist toll, dass du dich wieder so gut fühlst, aber du kannst nicht mit Sicherheit wissen...« »Wer weiß in dieser verrückten Welt etwas ›mit Sicherheit‹ Lana?« Stuart sah sie an, als wäre sie der einzige Mensch auf Erden. »Nicht einmal Doc Jacobi weiß genau, wie die Meteoritenheilung funktioniert, aber sie hat funktioniert. Sie muss funktioniert haben. Denn wenn nicht, dann wäre ich nicht hier, gesund und am Leben. Deshalb ist die Arbeit des Docs so wichtig. Wenn wir diese Weltraumsteine gründlich untersuchen und ihre Geheimnisse enträtseln können, dann
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können wir vielleicht alle Krankheiten heilen. Vielleicht könnten wir sogar die Welt verändern!« »Das ist... ein wundervoller Gedanke, Stuart.« Lana konnte erkennen, wie ernst es ihm war. »Ich wünschte nur, ich könnte selbst glauben, dass dieser Meteoritenschauer auch etwas Gutes an sich hatte.« »Er hat deine Eltern getötet. Ich weiß.« Stuart fasste erneut ihre Hand. »Und ich kann nur erahnen, wie viel Schmerz dir das zugefügt hat, Lana. Aber in diesem letzten Jahr sind eine Menge merkwürdige Dinge passiert und ich sage dir, diese Meteoriten können auch für gute Zwecke eingesetzt werden. Ich bin der lebende Beweis dafür. Es gibt so vieles, für das ich dankbar sein muss.« Stuart sah Clark, Whitney und Lana an. Sein Lächeln wurde breiter. »Ihr seid alle so gut zu mir und meinen Eltern gewesen. Heute Morgen hat mir Direktor Kwan von dem Wohltätigkeitskonzert erzählt, das ihr geplant habt. Ich weiß nicht, wie ich euch danken soll.« »Du musst uns nicht danken, Stu.« Whitney gab seinem Freund einen spielerischen Klaps auf die Schulter. Lana sah Whitney stirnrunzelnd an. »Eigentlich war es Clarks Idee.« Clark winkte ab. »Schon richtig. Aber die meiste Arbeit hat Lana gemacht.« »Dann hoffe ich nur, dass du dir wegen mir nicht zu viel Mühe gemacht hast, denn es ist jetzt nicht mehr nötig. Lex Luthor hat die Rechnung für meinen letzten Krankenhausaufenthalt übernommen und Doc Jacobi wird sich um die noch offenen Rechnungen aus der Zeit davor kümmern.« »Er? Wirklich?« Lana wirkte überrascht. Nun, wenigstens wäre das eine gute Verwendung für all das Geld, das Jacobi einnimmt. »Wirklich. Ich sage euch, der Doc ist ein großartiger Mann. Ich würde euch gern mehr über die Arbeit der Stiftung 232
erzählen.« Stuart sah auf seine Armbanduhr. »Aber ich muss jetzt in den Unterricht.« »Das müssen wir alle.« Lana lachte nervös. »Und ich habe in der nächsten Stunde einen Algebratest.« »Mr. Staples’ Klasse? Ich muss auch in die Richtung. Ich bring dich hin.« »Okay.« Lana winkte Clark und Whitney zu und ging mit Stuart davon. Andere Schüler machten ihnen bereitwillig Platz. Whitney öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber kein Wort kam heraus. Wie vom Donner gerührt starrte er Lana und Stuart nach, bis sie hinter der Ecke verschwanden. Er brauchte eine halbe Minute, um seine Stimme wieder zu finden. »Was ist gerade passiert?« Clark sah ihn, von der Frage verwirrt, an. »Sie sind in den Unterricht gegangen.« »Nein, davor.« Whitney gestikulierte ungeduldig. »Als Stu Lana von all diesem Meteoritenzeug erzählte. Wie sie ihn angesehen hat. Es war, als wäre ich gar nicht vorhanden.« »Wie auch keiner von uns, Whitney.« »Nun ja, genau! Also, was ist passiert?« Whitneys Gesicht drückte völlige Fassungslosigkeit aus. Sein ganzes Leben lang war er ein Gewinner gewesen. Er war immer von Freunden umgeben, ging mit den hübschesten Mädchen aus. Er war ein ausgezeichneter Sportler, aber ein durchschnittlicher Schüler, der nichtsdestotrotz gute Zensuren bekam, weil er die Lehrer mit seinem Charme bezauberte und für die anspruchsvolleren hart arbeitete. Im Lauf der Jahre hatte er gelernt, die Konkurrenten auszuschalten, wer immer es auch war. Doch bis jetzt hatte Stuart noch nie zu den Verlierern gehört. Fordman und Harrison waren, so lange sie zurückdenken konnten, Freunde gewesen – und oft auch Teamkameraden. Stu war ein Stehaufmännchen und Whitney hätte alles für ihn getan. Aber jetzt dämmerte dem Quarterback, dass ihm in
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Stuart vielleicht ein ernsthafter Rivale erwachsen war, wenn es um Lanas Zuneigung ging. Whitney blickte völlig verwirrt drein. Was zum Teufel soll ich jetzt machen?, sagte sein Blick. Clark trat einen halben Schritt zurück und musterte Fordman. Whitney konnte unmöglich gegen seinen alten Freund kämpfen, selbst wenn er es wollte. Es war nicht nur so, dass Stuart eine Wunderheilung von einer lebensbedrohlichen Krankheit erfahren hatte. Stu war schon sehr beliebt gewesen, bevor er erkrankt war. Er war, dämmerte Clark, der einzige Mensch in der Stadt, der vielleicht noch beliebter war als der Starquarterback der Smallville High. »Willkommen in meiner Welt«, murmelte Clark. »Was?« »Nichts, Whitney.« Clark seufzte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Tut mir Leid.« »Ja... nun... wir sehen uns.« Whitney wandte sich ab und schlurfte zu seinem Unterrichtsraum. Clark hatte ihn noch nie zuvor so mutlos erlebt. Im Gegensatz zu Stuart hatte Whitney wenig Chancen, zu diesem Zeitpunkt ein Stipendium zu bekommen. Seit sein Vater krank war und das Familienunternehmen der Fordmans damit auf wackeligem Boden stand, war seine Zukunft unsicherer denn je. Und jetzt könnte es passieren, dass Whitney Lana verlor. Und dann auch noch an keinen Geringeren als seinen besten Freund. Zu seiner Überraschung ertappte sich Clark dabei, dass er den Goldjungen bedauerte. Am Samstagmorgen wusste James Wolfe mit Sicherheit, dass die Lage völlig außer Kontrolle geraten war. An der Oberfläche sahen die Dinge besser aus, als Wolfe sich je erhofft hatte. Die Berichterstattung nach Stuart Harrisons Wunderheilung spülte viel Geld in die Kasse. Jacobi hatte seine Vorträge in der Mitte der Woche mit großem Erfolg 234
fortgesetzt. Jeder Stuhl in dem großen Zelt war besetzt gewesen. Es hatte nur noch Stehplätze gegeben. An jedem Abend waren die Eimer der Platzanweiser voller Spenden und die zahlenden Abonnenten der Stiftungswebsite hatten sich verdreifacht. Von einem Fenster im ersten Stock des alten DavisFarmhauses konnte Wolfe das Stiftungsgelände überblicken. Alle Lagerplätze waren besetzt und würden es auch, wie er wusste, übers Wochenende bleiben. Draußen auf dem Aufstiegs-Gelände, wie man es inzwischen nannte, herrschte ständige Aktivität. Mehrere Mitglieder der Stiftung durchkämmten weiter die Umgebung, gruben Meteoritenfragmente aus und lagerten sie in der Scheune, die ans Farmhaus grenzte. Und es schien immer das eine oder andere Kamerateam auf dem Gelände zu sein, das Jacobi folgte, während er die Möglichkeiten und die Bedeutung seines neuesten Durchbruchs pries. Die Medienpräsenz machte Wolfe nervös und er verkroch sich in seinem Zimmer, sobald Kameras in der Nähe waren. Was bedeutete, dass er den Großteil der letzten drei Tage im ersten Stock verbracht hatte und fast verrückt geworden war. Er hatte Jacobi häufiger im Fernsehen gesehen, als dass er ihm tatsächlich gegenüber stand. Wolfe hatte sich schließlich entschlossen, seinem Partner über den Sicherheitsdienst eine Nachricht zukommen zu lassen, nur um den Vortrag am Wochenende besprechen zu können. Wolfe ging im Wohnzimmer des Erdgeschosses auf und ab, als Jacobi endlich eintraf. »Da bist du ja. Wurde auch Zeit!« Wolfe durchquerte den Raum und schloss die Tür ab. »Was hat dich aufgehalten? Hast du Tee mit der 60-Minutes-Crew getrunken?« Jacobi lachte und winkte seinem Partner mit einer langen Pappröhre zu, die er trug. »Ich musste mich ums Geschäft
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kümmern, Jimmy. Und natürlich habe ich einige der neu erleuchteten Anhänger begrüßen müssen.« »Natürlich.« Wolfe schnaubte sarkastisch. »Hör zu, Don, vor uns liegt das größte Wochenende, das wir je gehabt haben. Wir müssen das Programm sehr sorgfältig planen.« »Das ist kein Problem. Wir fangen mit der üblichen Eröffnung an... ich werde die ersten zehn oder fünfzehn Minuten damit verbringen, das Publikum auf meine Seite zu ziehen. Dann werden wir das bearbeitete Band der Wunderheilung zeigen und anschließend Stuart vorstellen.« Jacobi zog eine große Rolle Papiere aus der Röhre und breitete sie auf dem Wohnzimmertisch aus. »Wir werden ihn seine Geschichte erzählen lassen – der Junge ist gut, ein richtiges Naturtalent –, dann werde ich übernehmen und über die bevorstehenden klinischen Versuche sprechen. Wenn bis zu diesem Zeitpunkt niemand im Publikum aufgestanden ist, um zu spenden, gibst du einem unserer Lockvögel ein Zeichen. Das wird sie motivieren.« »Das hoffe ich. Aber ich möchte trotzdem ein paar Punkte mit dir besprechen.« Wolfe verstummte. Sein Blick wurde von den Zeichnungen auf den Papieren angezogen, die Jacobi ausgebreitet hatte. »Was zum Teufel soll das sein?« »Die architektonischen Pläne für das Institut für fortgeschrittene Meteoritenforschung!« Jacobi trat zurück, um die Bauzeichnungen zu betrachten. »Das sind nur die ersten Entwürfe, aber sind sie nicht wunderschön?« Wolfe war entgeistert. »Du hast unser Geld für irgendeinen Architekten ausgegeben?« »Nicht für ›irgendeinen‹, sondern für die beste Firma in der Region. Ich dachte, es wäre eine gute Werbung, auf einheimische Talente zurückzugreifen, Leute mit einem Gefühl für die Gegend, statt jemand aus einem anderen Staat zu beauftragen.«
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»Aber wozu all diese Mühe? Oh, nein.« Wolfes Kinnlade fiel nach unten und alle Farbe wich aus seinem Gesicht. »Sag mir nicht, dass du ernsthaft vorhast, diese Schnapsidee zu verwirklichen.« »Es ist keine Schnapsidee, Jimmy. Ich habe den Plan jedem Reporter geschildert, den ich diese Woche getroffen habe. Wir haben darüber geredet...« »Du hast darüber geredet! Und ich dachte, es wäre bloß Gerede – ein Köder für die Bauerntrottel. Ich habe nicht einen Moment daran geglaubt, dass du in diesem Kuhdorf wirklich bauen willst.« »Wir haben bereits eine Kaufoption für dieses Land, Jimmy. Du hast beim Abschluss des Pachtvertrags darauf bestanden.« »Aber doch nur, um unsere Glaubwürdigkeit bei der örtlichen Sparkasse zu erhöhen!« Wolfe fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar, als würde er verhindern wollen, dass ihm der Schädel platzte. »Hast du irgendeine Ahnung, was uns ein derartiges Projekt kosten wird?« Jacobi nickte nachdenklich. »Wir werden einen substanziellen Baufond anlegen müssen, aber ich bin überzeugt, dass wir das schaffen können. Ich habe mich bereits nach Regierungszuschüssen erkundigt.« »Hast du völlig den Verstand verloren?« Mit rotem Gesicht packte Wolfe seinen Partner grob am Revers. »Wir haben bis jetzt Glück gehabt, weit mehr Glück, als wir je erhoffen konnten. Vor einer Woche dachte ich, dass wir erledigt sind!« Jacobi schüttelte Wolfes Hände ab und stieß ihn zurück. »Vor einer Woche habe ich das Leben eines jungen Mannes gerettet. Ich habe ihn geheilt, Jimmy!« »Das war ein Schwindel! Du bist in einen Heuhaufen gefallen und hast zufällig die Nadel gefunden. Strapazier dein Glück nicht – es gibt noch immer eine Menge Dinge, die uns auffliegen lassen können.«
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»Wenn ich einen geheilt habe, kann ich auch noch andere heilen. Was ist in dich gefahren, Jimmy?« Jacobi klang fast, als wäre er enttäuscht von seinem Partner. »Wir können jetzt nicht aufhören.« Wolfe holte tief Luft und versuchte, das Pochen aus seinen Schläfen zu massieren. »Don, wir müssen jetzt aufhören. Das ist das beste Geschäft, das wir je gemacht haben, aber es kann nicht von Dauer sein. Ja, wir können wahrscheinlich noch ein oder zwei Wochen lang unseren Nutzen daraus ziehen, doch dann werden wir weiterziehen müssen.« »Wir ziehen nicht weiter, Jimmy. Die Stiftung wird hier ihre Wurzeln schlagen.« Jacobis Stimme klang entschlossen. »Ich werde mein Institut bauen. Ich werde so viele Meteoriten sammeln, wie ich kann, und sie untersuchen, bis ich verstehe, wie man sie benutzen kann. Ich werde die Welt in ein neues goldenes Zeitalter führen!« »Oh mein Gott.« Wolfe wurde blass und ließ sich schwer auf ein Sofa fallen. Er starrte Jacobi vollkommen entsetzt an. Das war etwas, das Wolfe niemals erwartet hatte. Das veränderte alles. »Du glaubst selbst an den Schwindel!« »Es ist kein Schwindel, Jimmy. Jetzt nicht mehr. Es wird eine Menge harte Arbeit kosten, aber wir können es schaffen – ich weiß, dass wir es können! Und ich werde all deine Hilfe, all deine Fähigkeiten brauchen, um Erfolg zu haben. Hilf mir, Jimmy!« Jacobi streckte seine Hand aus. »Nein. Auf keinen Fall, niemals!« Wolfe wehrte die dargebotene Hand ab, rutschte vom Sofa und wich vor seinem Partner zurück. Er erkannte echtes Sendungsbewusstsein, wenn er es sah, und es war deutlich auf Jacobis Gesicht zu erkennen. »Ich kann nicht an einem Schwindel mitwirken, an den mein Partner fest glaubt! Es wird garantiert alles zusammenbrechen. Ich verschwinde von hier!« Er ging zur Tür und schloss sie auf. »Wohin willst du gehen, Jimmy? Nach Cleveland?«
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Wolfe erstarrte mit der Hand an der Türklinke. Manche Dinge änderten sich nie. Manche Dinge blieben immer so, wie sie waren. »Nein, nicht Cleveland.« Jacobis Stimme klang wieder kalt und schneidend. Wolfe kannte diesen Ton nur allzu gut. »Es wäre nicht sicher für dich, nach Cleveland zu gehen – nicht wahr, Jimmy?« Der Tonfall verriet, dass Jacobi eine Entscheidung getroffen hatte, von der ihn nicht einmal ein Erdbeben abbringen würde. Er würde alles tun, was nötig war, um seinen Plan durchzuführen. »Nein, dort gibt es noch immer zu viele Leute, die liebend gern wissen würden, wo du dich versteckst.« Schweiß glänzte auf Wolfes Stirn, als er sich langsam umdrehte. »Du würdest doch nicht...« »Ich würde es nicht wollen.« Jacobi durchquerte den Raum. »Ich möchte dich lieber hier haben, lebend und gesund, um mir zu helfen, die Stiftung in noch größere Höhen zu führen. Wir sind ein Team, Jimmy – ich möchte unsere Siegermannschaft jetzt nicht auflösen. Nicht, wenn wir kurz vor dem Start eines derart großen Projekts stehen. Wir haben die Gelegenheit, die Welt von Grund auf zu verändern, einen wertvollen Beitrag zu leisten, und wir dürfen keine weitere Sekunde verschwenden.« »Don, ich bin alt und müde...« »Unsinn! Niemand ist besser qualifiziert als du, diese Operation zu leiten. Ich will nicht irgendeinen neuen Grünschnabel einarbeiten müssen.« Jetzt war es Jacobi, der Wolfe packte, aber sanft, mit einer Hand an seiner Schulter. »Tu es für mich, Jimmy. Hilf mir, das Institut aufzubauen. Wenn du danach noch immer gehen willst – kein Problem. Du kannst deine Sachen packen und gehen, wohin du willst. Ich werde kein Wort sagen.« Ja, als hätte ich diese Arie nicht schon früher gehört. Wolfe ließ den Kopf hängen. »Sag mir, dass du bleiben wirst, Jimmy.« 239
Welche Wahl habe ich?, dachte Wolfe resignierend. Er drückte die Tür zu. Man konnte hören, wie das Schloss klickend einrastete. »Ich werde bleiben.« »Das ist mein Mann!« Jacobi klopfte ihm auf den Rücken. »Nun, ich glaube, du wolltest ein paar Punkte der heutigen Vorstellung mit mir besprechen?« Am Sonntag nach dem Mittagessen erledigte Clark zunächst ein paar liegen gebliebene Arbeiten und machte dann einen Spaziergang quer übers Land. Ein Spaziergang half ihm immer, einen klaren Kopf zu bekommen, und es war ein schöner Tag. Außerdem hatte er keine Lust, auf seinem Speicher herumzuhängen, weil er befürchtete, dass vielleicht noch jemand vorbeikommen würde, um Dampf abzulassen. Es hatte ihn nicht gestört, Chloe zuzuhören, und er würde Lana jederzeit eine Schulter zum Anlehnen anbieten, aber wenn Whitney Fordman nach Antworten suchte...! Nun, Clark musste irgendwo die Grenze ziehen. Alle luden ihre Sorgen bei ihm ab. Aber bei wem konnte er seine Sorgen loswerden? Da waren seine Eltern, aber er beanspruchte sie ohnehin schon zu viel. Pete war ziemlich gut, wenn es darum ging, ihm durch eine schwere Zeit zu helfen, aber er war die ganze Woche beschäftigt gewesen. Clark sah auf die Straße und lächelte. Die Antwort befand sich direkt vor seinen Augen. Er schlenderte zum Tor von Luthor Castle und klingelte. »Guten Tag, Mr. Kent.« Clark winkte in die Linse einer versteckten Kamera. Er wusste, dass die metallische Stimme einem von Lex’ Sicherheitsleuten gehörte, aber er wusste nie genau, welchem. In der letzten Zeit nannte er den unsichtbaren Wächter »Raspy«. Ein leises Summen ertönte und das massive Gittertor schwang auf. Clark schlüpfte hastig hinein und folgte der sanft geschwungenen Auffahrt. Vor ihm erhob sich die 240
einschüchternde Burg, die Lionel Luthor vor Jahren Stein für Stein aus Schottland hatte hertransportieren und wieder aufbauen lassen. Sie hatte bis voriges Jahr leer gestanden, als Lionel Lex zum Geschäftsführer der Smallviller Fabrik ernannt hatte. Eine Burg in der Prärie. Clark lächelte bei dem Gedanken. Er wusste, dass Lex anfangs wenig begeistert davon gewesen war, nach Lowell County versetzt zu werden. Er hatte es für eine Sackgasse, eine Art Exil gehalten. Aber das hatte sich geändert, nachdem Clark ihm das Leben gerettet hatte. Er schien sich inzwischen hier eingewöhnt zu haben. Vielleicht tat ihm das Leben in Smallville gut. Zweifellos hatte er schon eine Menge Gutes für die Stadt getan. Die große Eichentür des Herrenhauses schwang nach Clarks erstem Klopfen auf und ein Butler in einem dunklen Anzug bat ihn herein. »Tag, Louis. Ist Lex da?« Der Butler nickte bedächtig. »Der junge Herr dreht seine Runden. Sie können ihn zweifellos an der Haupttreppe abfangen.« Der Haupttreppe? Clark folgte dem Korridor, der tief ins Innere des Herrenhauses führte. Als er die große Treppe erreichte, tauchte Lex auf dem Absatz auf. Er trug ein weißes Hemd und Shorts. Ein dünner Schweißfilm glänzte auf seinem Schädel. »Lex!« »Clark...« Lex trottete mit schnellen, sicheren Schritten die Treppe hinunter und blieb am Ende stehen, um Luft zu holen. Clark fuhr mit der Hand über das dunkle Holz des Geländers. »Ist es wirklich eine gute Idee, hier auf der Treppe deine Runden zudrehen?« »Warum nicht? Ich will in Form bleiben und es ist ein großartiges Training für das Herz.« Lex nahm ein Handtuch vom Geländer und wischte sich die Stirn ab. 241
»Nein, ich meine, ist es gut für die Treppe? Das Holz ist so schön.« »Sie wurde gebaut, damit man sie hinaufsteigt. Auch wenn ich momentan hinauflaufe. Diese Treppe ist mindestens hundert Jahre alt.« Lex legte das Handtuch über seine Schultern. »Wenn sie es überstanden hat, abgerissen, über den Atlantik verschifft und hier wieder aufgebaut zu werden, bezweifle ich, dass meine Runden ihr irgendetwas anhaben können. Komm...« Lex geleitete Clark in einen großen angrenzenden Raum. Er nahm zwei Flaschen Quellwasser aus dem Kühlschrank eines Bartresens mit Wasseranschluss und warf Clark eine zu. »Also, was führt dich hierher?« »Ich habe nur einen Spaziergang gemacht. Ich dachte, schau doch mal vorbei und sag Hallo.« Clark hob die Flasche und hielt inne, bevor sie seinen Mund erreichte. »Ich hätte vorher anrufen sollen, nicht wahr? Tut mir Leid.« »Mmph!« Lex trank einen Schluck aus seiner Flasche. »Ist schon gut. Meine Tür ist für dich immer offen, Clark. Du weißt das.« Er zeigte auf den großen Mahagonipooltisch vor dem Kamin. »Hast du Lust auf eine Runde Billard?« »Sicher.« Clark stellte die Kugeln auf, während Lex zwei Queues aus einer Wandvitrine nahm. »Ich habe gestern mit Stuart Harrison gesprochen. Er sagte, dass du die Rechnung für seinen Krankenhausaufenthalt bezahlt hast.« »Das stimmt.« Lex gab Clark ein Queue. »Das war nett von dir.« »Nett.« Lex lachte leise. »Weißt du, es gibt eine Menge Leute, die überrascht wären, dieses Wort mit meiner Person in Verbindung zu bringen.« Er rieb die Spitze seines Queues mit Kreide ein. »In Anbetracht der Umstände wollte ich nur dafür sorgen, dass Stuart die beste Behandlung bekommt. Außerdem muss ich zugeben, dass ich neugierig war, ob es irgendeine medizinische Erklärung für das gibt, was bei dieser 242
Zeltveranstaltung passiert ist. Hast du was dagegen, wenn ich anfange?« Clark stützte sich auf sein Queue. »He, es ist dein Tisch!« Lex schoss die Queuekugel ab und verteilte die anderen Kugeln über den Filz. Die 12er Kugel schwankte einen Moment am Rand eines Ecklochs, dann fiel sie hinein. »Sieht gut aus.« Er ging um den Tisch, um seinen nächsten Stoß vorzubereiten. »Ich hätte den Harrisons auch angeboten, den Rest ihrer offenen Arztrechnungen zu begleichen... aber ich wusste, dass du zusammen mit Lana dafür eine Wohltätigkeitsveranstaltung planst, und ich wollte euch nicht in die Quere kommen. Inzwischen habe ich gehört, dass der gute Doktor Jacobi diese Spendenaktion überflüssig gemacht hat.« »Laut Stuart, ja.« Clark sah über den Tisch. »Ich denke, das ist eine gute Sache. Wenigstens wissen wir so, dass ein Teil des Geldes, das die Stiftung sammelt, einem guten Zweck dient.« »Ich nehme an, du bezweifelst Jacobis Fähigkeiten, die Kranken und Gebrechlichen heilen zu können.« Lex schoss die 15er Kugel ab, doch sie verfehlte das Loch. »Du bist dran.« Clark rieb sein Queue mit Kreide ein. »Ich weiß nicht, ob man diesem Jacobi überhaupt irgendetwas glauben darf, aber ich traue ihm nicht. Ich habe mit ein paar Leuten gesprochen, die tatsächlich die Website der Aufstiegs-Stiftung abonniert haben.« Er setzte das Queue an und schoss die 1er Kugel in ein Seitenloch. »Einer von ihnen hat mir sogar ein paar Seiten aus dem ›Nur für Mitglieder‹-Teil gezeigt und ich habe nichts entdeckt, das $14,95 im Monat wert ist.« »Ich auch nicht.« »Du willst damit doch nicht sagen, dass du...?« »Ich habe nur ein einmonatiges Probeabonnement. Abgesehen von ein paar vagen Versprechungen über die Macht der Meteoriten war das meiste davon durchsichtiger New-AgeUnsinn über Auren und Schwingungen und die 243
›Wiederaufladung der DNS‹.« Lex grinste. »Ich habe nicht mal gewusst, dass die DNS eine Ladung hat, die sie verlieren kann.« »Wem sagst du das.« Clark trat ans Ende des Tisches und musterte ihn. »Chloe hat einiges ausgegraben und soweit sie es feststellen konnte, war Stuart der Einzige mit einer richtig schweren Krankheit, den Jacobi mit seinem Meteoriten ›geheilt‹ hat. Alle anderen Leute, denen er angeblich geholfen hat, litten an Entzündungen wie Bursitis oder Tendinitis oder an einer sehr milden Form von Multipler Sklerose.« Er schoss die Queuekugel ab. Sie prallte gegen die 2er Kugel, die im gegenüberliegenden Eckloch verschwand. »Dinge, die entweder kommen und gehen oder von allein ausheilen.« »Ja, das deckt sich mehr oder weniger mit dem, was ich herausgefunden habe. Bis zu diesem Zeitpunkt ist Jacobi sehr vorsichtig mit Versprechungen in Hinblick auf seine Meteoritenforschung gewesen, vermutlich aus Angst, leicht widerlegt werden zu können. Andererseits wissen wir beide seit längerem, dass die Meteoriten von Lowell County einige sehr merkwürdige Nebenwirkungen hatten.« »Ich weiß. Stuarts Heilung war die erste wirklich gute Sache, die mit den Meteoriten einherging.« Clark fiel ein, was ihm Lana über Nell erzählt hatte. »Es wurmt mich nur, dass die Stiftung sie benutzt, um einer Menge anständiger Leute ihr Geld abzuknöpfen.« Mit einem wütenden Stoß seines Queues schoss er die 3er Kugel gegen die 4er Kugel und versenkte beide. Lex blickte zu Clark auf. »Ist es ein Schwindel?« »Nach Chloes Meinung, ja.« »Nein, ich meinte...« Lex schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Sprich weiter.« »Ich habe den Eindruck, dass Jacobi in den letzten Jahren seinen Meteoriten nur als eine Art Leuchtet-im-DunkelnRequisite benutzt hat, als Symbol für die Kristallmacht oder so. 244
Er hat mehr oder weniger zugegeben, dass Stuarts Heilung ein Zufall war.« Clark schoss die Queuekugel über den Tisch gegen eine kleine Traube anderer Kugeln. Sie stieß die 10er Kugel gegen die 5er, die dann langsam über den Tisch rollte. »Ich glaube nicht, dass Jacobi wusste, dass die lokalen Meteoriten besondere Eigenschaften haben, bis er Chloes Website fand.« Am anderen Ende des Tisches stieß die 5er Kugel gegen die 14er und fiel mit einem leisen Plop in ein Eckloch. »Guter Stoß. Die Frage ist...« Lex klopfte gegen die Spitze seines Poolqueues. »... ist Jacobi ein gerissener Schwindler oder glaubt er selbst den Unsinn, den er verbreitet? Nach meiner Erfahrung sind viele dieser selbst ernannten Therapeuten und Gurus durchaus ehrlich. Und Jacobi trägt schon seit Jahren einen Meteoriten mit sich herum.« Clarks Stock glitt von der Queuekugel ab. Er hatte ein schreckliches Gefühl in der Magengrube. »Du denkst doch nicht, dass er beeinflusst worden ist? Wie Rickman und Tippet?« Bob Rickman und Kyle Tippet waren Partner gewesen, nicht mehr als zwei normale, durchschnittliche Vertreter, bis sie während des Meteoritenschauers in ihrem Wagen eingeschlossen wurden. Als man sie befreite, entdeckten beide, dass sie plötzlich eine unheimliche Überzeugungskraft gewonnen hatten. Sie konnten buchstäblich jeden dazu bringen, das zu tun, was sie wollten. Kyle gefiel nicht, was da mit ihm passiert war, und wurde zum Einsiedler, der jeden Kontakt mit seinen Mitmenschen mied. Bob hingegen gefiel es sehr, und er benutzte seine Macht, um ein Industriemagnat zu werden. Niemand hatte Rickman aufhalten können, bis er eines Tages nach Smallville zurückgekehrt war, um das Land der Kents zu erwerben. Clark war als Einziger resistent gegen seine Macht. Eine Weile sah es so aus, als würden die Kents ihre Farm verlieren. Die Bedrohung durch Rickman wurde schließlich mit 245
Tippets Hilfe beendet. Als alles vorbei war, war Bob Rickman tot und Kyle Tippet verschwunden. »Nein, Clark, ich bezweifle sehr, dass Jacobi von seinem Meteoriten irgendeine besondere Fähigkeit verliehen bekommen hat. Er ist wohl von Natur aus charismatisch. Das an sich kann je nachdem, was man damit anfängt, schon gefährlich genug sein.« Lex trug etwas mehr Kreide auf seinen Queuestock auf und betrachtete nachdenklich den Tisch. »Aber erinnerst du dich, dass er gesagt hat, er habe seit über drei Jahren keine Erkältung mehr gehabt? Vielleicht steckt doch noch etwas anderes als heiße Luft dahinter.« Er setzte zu einem Stoß an, überlegte es sich aber anders und nahm gegenüber von Clark eine neue Position am Tisch ein. »Wusstest du, dass die Bürger von Smallville alle eine erhöhte Anzahl weißer Blutkörperchen haben?« »Wirklich?« »Vor allem jene, die schon vor ’89 hier gelebt haben. Und insbesondere jene, die zur Zeit des Meteoritenschauers kleine Kinder waren. Ich habe die Information von meinem Arzt.« Lex schoss die Queuekugel gegen die Bande, wo sie abprallte und mit einem lauten Klicken gegen die 15er Kugel stieß – jedoch mit zu großem Schwung. Die Kugel traf nur den Rand des Loches und prallte ab. »Ah, so nahe dran!« Lex zeigte mit seinem Stock über den Tisch auf seinen Freund. »Denk drüber nach, Clark. Abgesehen von Stuart Harrison – wie viele Einheimische unserer Generation leiden an lebensgefährlichen Krankheiten?« »Nun, da war... nein, er und seine Eltern sind gerade erst von Illinois hierher gezogen.« Clark dachte einen Moment nach. »Keiner.« »Genau. Erinnerst du dich an die formwandelnde junge Dame, die meine Gestalt angenommen hat... und deine?« »Tina Greer. Ja, sie hatte eine Knochenkrankheit, die nach dem Meteoritenschauer geheilt war. Genau wie dein Asthma!« 246
»Ja.« Lex wechselte seinen Queuestock in die andere Hand. »Jacobi hat vielleicht doch etwas entdeckt. Vielleicht sollten wir alle einen Meteoritenbrocken mit uns herumtragen.« Ja, das wäre genau das, was ich brauche. Clarks Miene verdüsterte sich. »Ich halte mich lieber fern von den Dingern. Diese grünen Steine haben zu viele hässliche Nebenwirkungen.« »Zugegeben, das ist ein Problem gewesen. Aber stell dir nur vor, was wir erreichen könnten, wenn wir all die negativen Effekte neutralisieren und die positiven verstärken könnten.« »Jetzt klingst du schon wie Jacobi. Ist das nicht genau das, was er mit seinem Institut vorhat?« »Das hat er erklärt. Aber dafür braucht er Wissenschaftler mit einer viel besseren Reputation, als er selbst hat. Ob er solche für seine Sache gewinnen kann, wird sich noch zeigen. Oh, nebenbei, du bist dran.« Lex musterte den Tisch. »Ich fürchte, ich habe dir ein ziemliches Schlamassel hinterlassen.« »Das kannst du laut sagen.« Clark ging um den Tisch und blieb immer wieder stehen, um die Winkel zu überprüfen. »Das wird nicht einfach.« Die gestreiften Kugeln verhinderten ein leichtes Einlochen. Er nahm die Kreide und verrieb sie langsam auf der Spitze seines Poolqueues. »Das Problem ist, dass tatsächlich etwas hinter dieser ganzen Meteoritenkiste steckt. Nehmen wir mal an, rein theoretisch, dass Jacobi kein Schwindler ist. Wenn er an all das glaubt, was er sagt, bleibt er trotzdem ein Verrückter.« Lex nickte. »Ich stimme dir zu.« Clark beugte sich über den Tisch. Er legte sein Queue an und richtete sich dann wieder auf. »Was ist, wenn er dieses Institut baut und noch mehr ›Wissenschaftler‹ von seiner Sorte hierher holt? Ein Labor voller Verrückter könnte weitere merkwürdige Zwischenfälle hervorrufen.« Lex runzelte die Stirn. »Das ist durchaus möglich.«
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»Ja, und genau davor habe ich Angst.« Clark schüttelte den Kopf und beugte sich wieder über den Tisch. Mit einem geschickten Stoß des Queues schoss er die weiße Kugel gegen zwei gestreifte Kugeln. Sie wiederum kollidierten mit anderen in einer Kettenreaktion, die die 6er und 7er Kugel in entgegengesetzte Ecken rollen und beide in die Löcher fallen ließ. »Ich glaub das nicht!« Lex starrte den Tisch an. Sechs gestreifte Kugeln waren auf dem Filz verteilt. Die 8er Kugel lag neben einem Seitenloch, nur rund zwanzig Zentimeter von der Queuekugel entfernt. »Clark, bist du sicher, dass du nicht mit diesen Meteoriten experimentiert hast?« »Glaube mir, Lex, ich versuche mich so fern wie möglich von ihnen zu halten!« »Aber wie...?« Lex schwenkte sein Queue über den Tisch. »Das?« Clark tippte sich bescheiden an den Kopf. »Es ist bloß einfache Geometrie.« »Das war nie mein bestes Fach. Doch es hat offenbar einiges für sich, sie zu beherrschen.« Lex rieb sich das Kinn und warf seinem Freund einen grimmigen Blick zu. »Nun? Steh nicht nur herum und grinse! Mach weiter und loch die 8er Kugel ein!« Als das Spiel vorbei war, lehnte sich Clark mit dem Rücken an die Wand. »Wer zwei von drei gewinnt?« »Du bist dran.«
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14 ES WAR SPÄTER NACHMITTAG, als Clark Lex’ Herrenhaus verließ. Die Nacht war noch immer Stunden entfernt, aber er wusste, dass das große Waldgebiet zwischen dem Luthor-Anwesen und der Hickory Lane ihm die Deckung geben würde, die er brauchte, um nach Hause zu rennen. Clark trat in den Schatten der Bäume und lief los, sobald er außer Sichtweite etwaiger vorbeifahrender Autos war. Er sprintete durch das Tal und legte binnen Sekunden Kilometer zurück. Clark rannte so schnell, dass er für die Tierwelt des Waldes nur ein vorbeihuschender Schemen war. Für seine eigenen Augen schienen die Vögel in der Bewegung erstarrt zu sein und in der Luft zu hängen. Als er aus dem Wald brach, verlangsamte Clark seine Schritte allmählich, bis er sich wieder wie ein normaler Mensch bewegte, und joggte die Hickory Lane hinunter zur Kent-Farm. Er verließ die Straße und bog in die Auffahrt. In diesem Moment entdeckte er die Limousine der Ross-Familie, die auf halbem Weg zwischen Haus und Scheune parkte. »He, Clark!« Pete kam aus der Hintertür und leckte seine Finger ab. »He, Pete!« Clark blieb stehen und tat so, als würde er nach Luft schnappen. »Guter Kuchen?« »Ja, der von deiner Mom ist der beste im County.« Er verstummte. »Woher wusstest du es?« »Du hast noch immer etwas davon am Kinn kleben.« Pete fuhr mit einem Finger über sein Kinn und leckte ihn genießerisch ab. »Sie macht den besten Kuchen der Nation.« »Was führt dich hierher? Vom Kuchen abgesehen, meine ich.« Pete wies auf den Wagen. »Le Coupe de Ross!« »Nein, im Ernst.« 249
»Ich bin ernst. Denk an den vorletzten Freitagabend zurück. Erinnerst du dich an den Krankenwagen, den wir aus dem Schlamm geschoben haben? Erinnerst du dich, dass du sagtest, mein Vater würde mich nicht umbringen, weil er so verständnisvoll ist?« »Hm. Und ich hatte Recht.« Clark tippte mit dem Zeigefinger an Petes Schulter. »Ich muss Recht gehabt haben. Du bist viel zu massiv, um ein Geist zu sein.« »Du hattest teilweise Recht. Als Pa das verdreckte Innere des Wagens sah, war er nicht glücklich. Dann habe ich ihm erklärt, warum er so schlammig war, und daraufhin sagte er, er wäre stolz auf mich.« Pete öffnete den Kofferraum des Autos, beugte sich hinein und suchte etwas. »Deshalb hat er mich nicht umgebracht.« Er nahm eine große Pappschachtel aus dem Wagen und gab sie Clark. »Stattdessen entschied er, dass ich mich zu Tode arbeiten sollte.« Pete warf die Kofferraumhaube zu. »Pa ließ mich den Wagen waschen und das gesamte Innere putzen. Und das war erst das Programm vom letzten Wochenende.« »Und dieses Wochenende?« Clark schüttelte vorsichtig die Schachtel. »Ich musste ihn wieder waschen. Und jetzt soll ich ihn auch noch wachsen! Das ist verrückt, oder? Wer wachst noch seinen Wagen? Ich meine, er ist schließlich kein Oldtimer oder so.« Pete schüttelte den Kopf. »Er sagt, dass es gut für mich ist. Um Verantwortung zu lernen. Charakter zu entwickeln. All das übliche Elterngeschwätz.« »Lass mich raten.« Clark nahm einen Lappen und ein Glas Wachs aus der Schachtel. »Du hast dich gefragt, ob ich dir wohl helfen werde.« Pete sah ihn verlegen an. »Wirst du?« »Ja, ich sollte es wahrscheinlich besser tun.« Clark warf ihm das Glas zu. »Du hast bereits genug Charakter.«
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»Das ist mein Mann!« Pete nahm einen weiteren Lappen aus der Schachtel. »Welche Seite willst du, Fahrer oder Beifahrer?« Jonathan ging vom Wohnzimmer in die Küche und versuchte ein Gähnen zu unterdrücken. »Ich hatte diesen wundervollen Traum, in dem du einen Kuchen gebacken hast.« Er warf einen Blick auf das fast volle Tablett auf dem Tisch und grinste. »Aber ich sehe, dass es gar kein Traum war. ErdbeerRhabarber?« »Richtig.« Martha gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Und du hättest das erste Stück bekommen, wenn du nicht vor dem Fernseher eingeschlafen wärst.« »Nun, irgendjemand hat zweifellos eine Delle in die Backwaren gedrückt.« Jonathan küsste sie auf die Lippen. »Mmm... du warst es nicht. Ich nehme an, unser vagabundierender Junge ist von seinem Spaziergang zurückgekehrt?« »Ja, aber er hat noch keinen Kuchen bekommen. Peter Ross ist euch diesmal zuvorgekommen.« »Du meinst, meine Konkurrenz besteht jetzt aus zwei minderjährigen Jungs?« Jonathan öffnete eine Schublade und griff nach einer Gabel. »Ich mache mich besser darüber her, solange noch was da ist!« »Rühr dich, Soldat.« Sie nahm ihm die Gabel ab. »Die Reservekuchen eins und zwei sind noch im Backofen.« Eine Schaltuhr auf der Anrichte klingelte. »Und es klingt so, als wären sie fertig. Warum siehst du nicht nach, was die Jungs draußen treiben, während sie abkühlen?« »Warum nicht?« Jonathan setzte sich, um seine Schuhe anzuziehen. »Was haben ›Tom und Huck‹ heute Nachmittag vor?« »Ich glaube, ›Tom‹ ist herübergekommen, um ›Huck‹ beim Streichen eines ›Zaunes‹ zu helfen.« Martha öffnete die 251
Backofentür und stellte die Kuchen zum Abkühlen nach draußen. »Ah, dieser alte Trick.« Jonathan hatte seine Schnürsenkel zugebunden. »Von welchem ›Zaun‹ ist hier die Rede?« »Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich denke, er hat ein automatisches Getriebe.« »Verstanden.« Jonathan roch ein letztes Mal sehnsüchtig an den abkühlenden Kuchen und ging durch die Hintertür nach draußen. Als er um die Ecke des Hauses bog, sah er, wie die Jungs Dale Ross’ Auto auf Hochglanz polierten. Pete schien Clark mit irgendetwas aufzuziehen. »Es muss schön sein, jemand mit einem eigenen Pooltisch zu kennen. Wahrscheinlich kannst du hingehen und spielen, wann immer du Lust hast, was?« »Es ist keine große Sache, Pete. Es tut mir Leid, dass ich es überhaupt erwähnt habe.« »Wenn es dir wirklich Leid tut, dann erwähne einfach deinen neuen Kumpel, wenn mein Vater in der Nähe ist. Hast du jemals einen schwarzen Mann gesehen, der rot anläuft?« Pete wischte etwas Wachs vom Ansatz der Autoradioantenne. »Glaube mir, das ist etwas, das du nicht aus der Nähe sehen willst!« »Wieso, nur wegen dieses Geschäfts...?« »Geschäft?« Pete schnaubte verächtlich. »Betrugsmanöver trifft es eher. Lex’ alter Herr hat zuerst die Mehrheit an der Maisverarbeitungsfabrik erworben, die Dad und mein Onkel Bill unter größten Mühen aufgebaut haben. Dann hat er alle Maschinen verkauft und auf dem Grundstück eine Düngemittelfabrik errichtet. Eine Düngemittelfabrik. Ich sage dir, Pa hat keinen Bedarf für jemand namens Luthor.« »Das kann ich verstehen, Pete. Mein Dad sieht es genauso.« Jonathan entschied, dass er lange genug gelauscht hatte. »Was sehe ich genauso?« 252
»Oh, oh – hi, Mr. K.« Pete sammelte die Poliertücher ein. »Wir haben nur über Väter im Allgemeinen gesprochen. Über meinen Vater... Sie...« Jonathan legte den Kopf zur Seite. »... Lex’ Vater?« »Dad, wir haben dich nicht mit...« Jonathan hob eine Hand. »Ich habe ein Teil eures Gesprächs mitgehört. Und ich bin derselben Meinung wie dein Vater, Pete. Den meisten Leuten, die mit Lionel Luthor Geschäfte gemacht haben, ist es noch viel schlimmer ergangen. Er hat bei jedem Grundstücksverkauf betrogen, an dem er hier beteiligt war.« »Bei jedem?« »Bei jedem, von dem ich weiß, Sohn. Erinnerst du dich, was ich dir von den Bells und den Guys erzählt habe? Wie sie ihr Land verloren haben?« »Dein Dad hat Recht, Clark. Die Luthors spielen immer mit gezinkten Karten.« »Das ist völlig richtig, Pete. Und noch etwas – was mir am meisten an den Luthors missfällt, ist die Tatsache, dass sie versuchen, alles zu kaufen.« »Komm schon, Dad, das stimmt nicht.« »Oh, nein?« Jonathan sah Clark durchdringend an. »Erinnerst du dich an diesen neuen Truck, den Lex dir schenken wollte?« »Truck?« Pete starrte Clark mit offenem Mund an. »Wann hat er dir einen Truck geschenkt?« »Nachdem Clark ihn aus dem Fluss gezogen hat.« Pete war verblüfft. »Du hast nie was von einem Truck erwähnt.« »Es war auch nicht der Rede wert.« Clark bohrte die Spitze seines Schuhes ins Gras. »Dad zwang mich, ihn zurückzugeben.« Pete riss den Kopf herum und starrte Jonathan an. »Er musste ihn zurückgeben?« 253
»Das ist richtig.« Jonathan verschränkte die Arme. »Ich wusste nicht, woher das Geld kam, mit dem er ihn gekauft hat.« »Dafür kannst du nicht Lex die Schuld geben, Dad. Und er benutzt sein Geld, um den Leuten das Leben zu erleichtern. Er hat den Harrisons geholfen, der Schule...« »Oh, ich gebe zu, dass Lex hier einiges Gutes getan zu haben scheint. Er ist nicht Lionel Luthor – noch nicht. Ich weiß, ich weiß.« Jonathan wehrte die Einwände seines Sohnes mit einer Handbewegung ab. »Ich sollte Lex nicht die Schuld für das geben, was sein Vater getan hat. Und ich versuche es auch. Die Art, wie er aufgezogen wurde, ist nicht seine Schuld – aber er ist trotzdem ein Luthor. Man kann nicht erwarten, dass jemand, der in dieser Familie aufwächst, ein halbwegs ehrlicher Mann wird. Es ist ein klassischer Fall von...!« »Erziehung besiegt die Natur?« Pete sprudelte es hervor, bevor er begriff, was er da tat. »Tut mir Leid, Mr. K. Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Ms. Wesley – unsere Biolehrerin – hat erst letzte Woche darüber gesprochen.« »Klingt so, als wüsste sie, wovon sie redet. Ich erinnere mich an ein altes Sprichwort, das mein Dad immer benutzt hat: ›Wie der Zweig sich biegt, so neigt sich auch der Baum.‹« »Dad, dieses ›alte Sprichwort‹ ist von Alexander Pope, und er schrieb über Bildung.« »Nun, Pope wusste ebenfalls Bescheid.« Jonathan nickte nachdenklich. »Aber es gibt alle mögliche Arten von Bildung, Clark. Und die, die ein Kind in seiner Familie erhält, ist die grundlegendste. Lex mag in Luxus aufgewachsen sein, aber hat ihn sein Vater je übers Knie gelegt? Ich weiß es nicht, aber ich vermute nicht. Dieser Junge ist einer der kältesten Menschen, die ich je getroffen habe.« Clark warf die Hände hoch. »Also, jetzt bist du überhaupt nicht fair. Wie viel Zeit hast du wirklich mit Lex verbracht? Du kennst ihn kaum. Er ist einfach gelassen, mehr nicht.« 254
»Gelassen? Er hat Eiswasser in den Adern!« »Dad...!« »Erinnerst du dich an den Tag, an dem du Lex aus dem Wasser gezogen hast? Wie er sich hinterher verhalten hat? Er war derjenige, der wie ein Verrückter gefahren ist, der sich fast umgebracht hätte – aber so, wie er hinterher herumstolzierte, konnte man meinen, dass er für die Rettung verantwortlich war. Ich werde nie diesen selbstgefälligen Ausdruck auf seinem Gesicht vergessen, als er sich vorstellte. Ich habe halb erwartet, dass er mir als Nächstes seine Visitenkarte geben würde.« »Ja.« Pete kicherte. »Wahrscheinlich aus einem wasserdichten Platinkoffer.« Jonathan schnaubte. »Zweifellos.« »In Ordnung, das reicht! Ihr übertreibt maßlos. Und du warst nicht mal dabei, Pete.« Clark war verärgert. »Wir waren an diesem Tag alle ziemlich aufgewühlt. Und Lex ist nicht immer so beherrscht.« »Ach ja?« Pete war jetzt ebenfalls verärgert. »Wann hat er je die Beherrschung verloren?« Clark dachte an die Nacht zurück, in der Lex ihn als Vogelscheuche angebunden auf diesem Feld gefunden hatte. Er würde nie das Entsetzen in Lex’ Stimme vergessen. Aber Pete wusste nicht, was in jener Nacht geschehen war. Ebenso wenig wie Clarks Eltern. Und er wusste, wenn er ihnen jetzt davon erzählen würde, würden sie an Lex’ Rolle dabei überhaupt nicht interessiert sein. Sie würden sich auf das konzentrieren, was ihm zugestoßen war, auf das, was er getan hatte. Und sie würden wissen wollen, warum er es ihnen nicht schon früher erzählt hatte. Selbst wenn er sie dazu brachte, ihm zuzuhören, würde sein Vater Lex’ Verhalten wahrscheinlich weiter kritisieren. Clark
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konnte jetzt schon hören, wie er es als »die Ausnahme, die die Regel bestätigt« bezeichnete. »Es ist passiert, in Ordnung? Schon oft.« »Wow!« Pete war von Clarks heftigem Ausbruch überrascht. »Ist ja schon gut, Mann. Ich glaube dir.« »Ich habe es satt, dass die Leute über Lex urteilen, ohne ihn zu kennen.« »Reg dich ab, Clark!« Jonathan war nicht glücklich darüber, dass er vor Pete derart herausgefordert wurde. »Ich wollte damit nur sagen...« »Ich weiß, was du sagen wolltest, Dad. Ich höre es die ganze Zeit. Du hast Lex nie auch nur ansatzweise eine Chance gegeben.« »Nun... äh... ich muss los.« Pete sammelte seine Sachen zusammen und zog sich hastig zum Wagen zurück. Er hatte genug Auseinandersetzungen zwischen seinen älteren Brüdern und seinem Vater erlebt. Er wollte sich in diesen Streit nicht einmischen. »Bis später, Clark. Mr. K.« »Ja.« Jonathan nickte ihm zu. »Grüß deinen Dad von mir, Pete.« Zwischen den Kents trat verlegenes Schweigen ein, als Pete wegfuhr. Schließlich atmete Jonathan tief durch und beendete es. »Clark, ich weiß, dass du Lex für einen Freund hältst, aber...« »Dad, ich habe es nur satt zu hören, wie du über ihn redest, als wäre er bereits ein hoffnungsloser Fall. Du überträgst deine Meinung über Lex’ Vater auf ihn, und das hast du schon immer getan.« »Das stimmt«, räumte Jonathan ein, »ich glaube, du hast Recht. Ich wünschte, ich hätte weniger Vorurteile, aber ich kann nichts dagegen tun.« Er lehnte sich an einen Zaunpfosten und rieb sich die Brauen. »Der Name Luthor ist mit viel zu
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vielen üblen Geschäften in diesem County verbunden. Der Ross-Maisfabrik-Schwindel ist nur ein Beispiel von vielen.« »Dad, überleg doch mal. Du redest schon wieder über Lionel Luthor. Lex hatte nichts damit zu tun.« »Ja, und vielleicht zeigt das, dass ich mich irre. Aber ich würde mich nicht darauf verlassen. Lex ist der Sohn von Lionel, Clark. Es ist schwer, sich über die Familiengeschichte hinwegzusetzen. Sie prägt, ob man es nun will oder nicht.« »Und du hast nicht vor, Lex eine Chance zu geben, nicht wahr?« Jonathans Gesicht lief rot an. »Er ist durch seine Erziehung an Macht gewöhnt. Und Macht korrumpiert – das steht fest.« »Das muss nicht zwangsläufig so sein. Oder denkst du, dass ich in Gefahr bin, korrumpiert zu werden?« »Das habe ich nie behauptet. Ich würde so etwas nie sagen.« »Dann hör auf, solche absoluten Aussagen zu machen.« Clarks Gesicht rötete sich ebenfalls. »Du bist ziemlich stolz darauf, Pope zu zitieren. Nun, hier ist ein Zitat für dich, das du vielleicht noch nicht kennst... ›Das Schicksal aller Extreme ist, / Dass zu viel in Menschen, wie auch in Büchern, hineingedeutet wird. / Bei den Feststellungen, die wir treffen, / sind wir oft zu voreingenommen.‹ Denk darüber mal nach, Dad!« »Sohn...?« Jonathan blinzelte und stand plötzlich allein auf dem Hof. Ein Kondensstreifen aus sich legendem Staub war der einzige Hinweis darauf, wohin Clark verschwunden war. Jonathan schüttelte den Kopf und folgte der Spur zum Haus, während er vor sich hin murmelte: »Was bringen sie den Kindern heutzutage bei? Ich habe Pope erst in der Oberstufe gelesen. Wann ist er so schlau geworden?« »Jonathan?« Martha blickte auf, als er eintrat. »Wo ist Clark?«
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»Ich weiß es nicht. Er ist hier wie ein Tornado durchgestürmt, sagte, ich solle nicht mit dem Essen auf ihn warten, und weg war er. Was ist los?« »Wir... hatten eine kleine Diskussion.« »Jonathan, was hast du zu ihm gesagt?« »Ich habe nur angedeutet, dass Lex Luthor vielleicht nicht das vertrauenswürdigste Mitglied der Gesellschaft ist.« Martha seufzte. Es ging schon wieder los. Sie kannte Jonathans Meinung über den neuesten Freund ihres Sohnes nur zu gut. Zwar verstand sie seine Bedenken – sie hatte Lex gegenüber selbst ein paar –, aber sie machte sich auch Sorgen wegen der Halsstarrigkeit ihres Mannes. »Weißt du, du könntest dich irren, was Lex angeht.« »Könnte sein. Aber ich glaube es nicht.« Jonathan durchquerte die Küche, drehte sich dann um und kam zurück. »Merk dir meine Worte, Martha: Es wird sich noch zeigen, dass ich diesen Kerl richtig einschätze.« »Okay, nehmen wir mal an, dass du Recht hast. Aber du hast Clark nicht überzeugt, oder?« Sie stemmte beide Hände in die Hüften. »Wenn du so weitermachst, wirst du deinen Sohn nur vergraulen. Das wäre für keinen von euch beiden gut.« Jonathan blieb stehen und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Du hast Recht... wie immer. Ich will nur nicht, dass er verletzt wird.« »Das will ich auch nicht, aber wir können ihm seine Freunde nicht aussuchen. Clark ist jetzt ein großer Junge. Wir müssen ihm vertrauen, dass er das Richtige macht.« »Ich weiß. Es ist bloß so... ich muss immer an die dummen Sachen denken, die ich in seinem Alter angestellt habe. Ich würde ihm gern einiges davon ersparen.« Martha lächelte und umarmte ihn. »Ich erinnere mich an einige dieser Sachen. So dumm waren sie gar nicht. Und Clark hat einen Vorteil, den du nicht hattest.« »Und der wäre?« 258
»Einen offeneren und verständnisvolleren Vater.« Jonathan schnitt eine Grimasse. »Ich weiß nicht, ob Clark dem im Moment zustimmen würde. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich es tun würde.« »Nun, man kann immer an sich arbeiten.« Sie küsste ihn sanft auf die Wange. »Aber du gehörst zu den Menschen, die zugeben können, wenn sie sich geirrt haben. Vielleicht solltest du das Clark mehr zeigen... und seine Freunde etwas mehr akzeptieren.« Er erwiderte ihren Kuss. »Ich werde es versuchen.« »Mehr verlange ich nicht.« Sie lächelte ihn an. »Nun... wie es aussieht, sind wir beide allein. Was möchtest du essen?« »Ich weiß nicht. Ich bin im Moment nicht besonders hungrig.« »Ich auch nicht. Aber ich habe auch den ganzen Nachmittag Kuchenzutaten genascht. Vielleicht sollten wir nur etwas Gemüse...« Martha starrte die Anrichte an. »Das ist seltsam.« »Was ist seltsam, Schatz?« »Die Kuchen, die ich zum Abkühlen nach draußen gestellt habe. Einer von ihnen fehlt.« Clark trottete wie ein ganz normaler Mensch über die Landstraße. Er hoffte, durch die Bewegung seine düstere Stimmung vertreiben zu können. Er wusste, wenn er zu Hause blieb, würde er nur noch wütender werden und Dinge zu seinem Vater sagen, die er später bestimmt bereuen würde. Clark war wütend wegen Lex, aber gleichzeitig machte er sich auch Sorgen wegen dem, was Pete und Jonathan gesagt hatten. Sein Vater hatte ihn noch nie angelogen. Und auch Pete war immer ehrlich zu ihm gewesen. Beide neigten zur Übertreibung, doch normalerweise nur, wenn es darum ging, einen Scherz zu machen, nicht in ernsten Dingen. Und sie meinten es ernst, was Lex anging, das war klar.
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Und beide hatten sich noch nie geirrt, wenn sie einer Meinung waren. Aber sie mussten sich in dieser Hinsicht irren. Er kannte Lex besser als sie. Er war nicht wie sein Vater. Zumindest nicht wie der Mann, für den sein Vater gehalten wurde. Clark wurde bewusst, dass er Lionel Luthor nur vom Hörensagen kannte. Außerdem hatte Lex ein paar Bemerkungen über seinen Vater fallen gelassen. Es war an der Zeit, dass er mehr erfuhr. Clark kehrte zu der umzäunten Burg an der Beresford Lane zurück und klingelte. Lex blickte auf, als sein Freund erneut die Halle betrat. »Clark? Ich habe nicht erwartet, dich so schnell wieder zu sehen.« Er bemerkte, dass Clark ein kleines Päckchen dabei hatte und erregt zu sein schien. »Willst du etwa noch ein Spiel machen? Ich glaube, ich habe für heute oft genug verloren!« »Nein, das ist es nicht. Ich...« Clark zögerte. »Nun, ich musste weg von zu Hause. Ich will deine Gastfreundschaft nicht überstrapazieren, aber ich habe mich gefragt, ob ich nicht eine Weile hier bleiben könnte...?« »Natürlich. Du kannst mir alles beim Abendessen erzählen. Ich sage Monique, dass sie ein zusätzliches Gedeck auftragen soll.« »Prima. Ich habe Nachtisch mitgebracht.« Clark öffnete das Päckchen. »Als kleiner Ausgleich für vorhin. Mom sagt immer, man solle nie mit leeren Händen jemanden besuchen.« »Clark, das ist wirklich nicht nötig...« Lex spähte in das Päckchen. »Ist der zufällig selbst gebacken?« »Erdbeer-Rhabarber. Die Spezialität meiner Mom.« Lex nahm das Päckchen und legte einen Arm um seinen Freund. »In diesem Fall sollten wir zuerst den Nachtisch essen.« Als das Talon im Jahr 1940 seine Pforten öffnete, galt es als das schönste Kino seiner Art. Aus dem ganzen County 260
strömten die Leute herbei, um sich Filme in Erstaufführung anzusehen, vor allem während der Hundstage im Sommer – denn es war eine der ersten Einrichtungen in Smallville mit Klimaanlage. 1977, während einer Aufführung von der Unheimlichen Begegnung der dritten Art, kam Laura Potter mit Lewis Lang ins Gespräch, der in den Collegeferien am Erfrischungsstand des Talons arbeitete. Dieses Gespräch führte zu einer Sommerromanze und schließlich zur Hochzeit. Sie waren nicht das einzige Paar, das sich dort fand. Das Talon war ein beliebter Treffpunkt für Generationen von jungen Männern und Frauen. Aber am Ende des 20. Jahrhunderts war das alte Stadtkino in Schwierigkeiten geraten. Kabelfernsehen, Videotheken und vorstädtische Multiplexkinos hatten das Talon in die Knie gezwungen. Lex Luthor kaufte das Grundstück schließlich, um auf dem Gelände ein Parkhaus zu bauen... bis die Tochter von Laura und Lewis Lang mit einem Plan zur Renovierung des Gebäudes an ihn herantrat. Jetzt wurden in der Lobby des Talon Kaffee und Gebäck in allen nur erdenklichen Sorten angeboten. Regale mit den neuesten Bestsellern reichten bis zum Zwischengeschoss. Die Bühne war für den Auftritt eines Folkrock-Trios aus Wichita am nächsten Wochenende vorbereitet. An diesem Abend saß Whitney Fordman an einem Tisch unweit der Kaffeebar vor einer Tasse Jamaica Blue Mountain und heuchelte Interesse an einer Ausgabe Sports Illustrated. Alle paar Minuten sah er zu der Uhr an der Wand und verglich die dort angezeigte Zeit mit der seiner Armbanduhr. Schließlich wandte er sich an eine junge Dame hinter der Theke und sprach sie an. »Wann machst du heute zu?« Lana blickte von der Registrierkasse auf und seufzte. »Um halb acht, Whitney. Sonntags schließen wir immer um diese 261
Zeit. Und das hat sich in den fünfzehn Minuten, seit du mich das erste Mal danach gefragt hast, nicht geändert.« »Es tut mir Leid, Lana. Ich möchte dich nicht nerven. Ich bin nur... ein wenig überdreht, schätze ich.« »Vielleicht solltest du auf koffeinfreien umsteigen.« »Es liegt nicht am Kaffee. Es ist wegen mir... und dir. Ich wollte schon heute Nachmittag mit dir reden, aber als ich bei dir vorbeifuhr, war niemand zu Hause.« »Das überrascht mich nicht.« Lana runzelte die Stirn. »Nell ist wahrscheinlich schon früh zum Gelände gefahren. Heute Abend findet ein weiterer Vortrag statt.« »Zuerst dachte ich, du wärst ausgegangen... mit einem anderen. Vielleicht Stuart.« »Stuart Harrison? Der ist wahrscheinlich auch auf dem Gelände. Ich denke, Jacobi tut alles, um ihn als Wunderjungen der kosmischen Leiter herauszuputzen.« »Jedenfalls dachte ich mir dann, schau doch mal hier vorbei.« »Nun, du hast mich gefunden.« Lana legte eine Hand auf die Registrierkasse. »Ich bin immer hier, wenn wir knapp an Personal sind. Nebenbei, du hast den Kaffee und die Zeitschrift noch nicht bezahlt. Das macht sechs fünfzig.« »Oh. Richtig.« Whitney nahm das Geld aus seiner Brieftasche. »Süße, ich wollte nur...!« »Wenn ich arbeite, bin ich ›Lana‹, nicht ›Süße‹, okay? Und ich arbeite hier. Das heißt, ich bediene nicht nur die Gäste, sondern lass auch unser neues Inventurprogramm durchlaufen. Wie du siehst, bin ich im Moment ziemlich beschäftigt.« Sie gab ihm das Wechselgeld. »Du hilfst schließlich auch im Geschäft deiner Familie aus – deshalb müsstest du es eigentlich verstehen.« »Ich weiß. Ich versteh’s ja auch.« Er holte tief Luft. Das Familiengeschäft war das Letzte, an das er jetzt denken wollte. »Es tut mir Leid, dass ich dich genervt habe. Ich sehe ja, dass 262
du beschäftigt bist.« Whitney machte Anstalten zu gehen, zögerte und drehte sich noch einmal um. »Ich find’s nur schade, dass wir uns außerhalb der Schule kaum noch sehen! Entweder bin ich im Laden beschäftigt oder du bist hier beschäftigt. Es ist deprimierend.« »Ja, aber was können wir tun? Wir haben Verantwortung. Ich kann nicht einfach aus einer Laune heraus schließen.« Sie sah auf, als ein junges Paar hereinkam. »Die Gäste erwarten, dass wir uns an die Öffnungszeiten halten.« »Hör zu, ich habe jetzt frei. Wie wäre es, wenn ich dir hier helfen würde? Beim Schließen oder was sonst noch anfällt. Danach fahre ich dich nach Hause. Auf diese Weise können wir etwas Zeit zusammen verbringen. Was meinst du?« Lana musterte ihn. »Einverstanden. Du kannst die Tische dort drüben wischen. Und wenn du damit fertig bist: Hinten stehen eine Menge Kisten, die zerlegt werden müssen.« »Bin schon unterwegs, Sü... äh... Boss!« Whitney salutierte und machte sich ans Werk. Lana musste ein wenig lächeln. Für jemanden, der oft unglaublich begriffsstutzig war, konnte Whitney manchmal sehr süß sein. »In Ordnung, Kent – raus damit.« Lex sah Clark über den Tisch an. »Du und deine Familie, ihr habt dieses Geheimnis lange genug gehütet.« »Geheimnis?« Verwirrt starrte Clark ihn an. »Spiel nicht den Unschuldigen.« Clark bemerkte den durchdringenden Ausdruck in den Augen seines Freundes und war plötzlich besorgt. Lex hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, dass er sich kaum an seine Rettung aus dem Fluss erinnern konnte. Er hatte ein Team von Mechanikern engagiert, um das Wrack des Porsche zu untersuchen, aber sie hatten ihm auch nicht erklären können, wie das abgerissene Dach zustande gekommen war. Vor 263
längerer Zeit einmal hatte Lex Clark unverblümt danach gefragt. Doch seit kurzem schien er diese Besessenheit überwunden zu haben. Hatte er wieder Misstrauen geschöpft...? »Ich muss es wissen, Clark.« Lex kratzte mit der Gabel die letzten Krümel auf seinem Teller zusammen. »Wenn deine Mutter derartige Kuchen backen kann, wie kommt es dann, dass ihr Kents nicht um die vierhundert Pfund wiegt? Habt ihr alle etwa besondere fettverbrennende Gene?« »Ah!« Erleichtert lehnte sich Clark zurück und streckte sich. »Das ist eine Kombination von gesundem Leben und harter Arbeit, Lex. Man sieht nicht viele dicke Farmer.« »Ich wusste, dass es einen Trick geben muss.« Lex grinste und blickte auf die Muskeln an Clarks Armen. »Vielleicht sollte ich auf meine Hanteln verzichten und dir einfach beim Einbringen des Heus helfen. Etwas harte, ehrliche Arbeit könnte mir gut tun.« Er lachte gehässig. »Besser noch, es würde meinen Vater fuchsteufelswild machen.« »Lex...« Clark beugte sich nach vorn. »... was deinen Vater angeht...« »Ja? Was ist mit ihm?« »Mir scheint, als hätte ich fast mein ganzes Leben lang Geschichten über Lionel Luthor gehört...« »Und keine guten, schätze ich.« »Er hat in dieser Gegend eine Menge Land gekauft und Geschäfte gemacht, die für die Leute hier nicht besonders vorteilhaft waren. Die Bells, die Guys, die Rosses... keiner von ihnen war glücklich über das Ergebnis.« Clark legte seine Gabel zur Seite. »Aber dein Vater – er hat sie doch nicht absichtlich betrogen, oder? Ich kann nicht glauben, dass jemand so... so...« »Berechnend sein kann?« Lex wirkte völlig gelassen. »Du kennst meinen Vater nicht. Es würde mich nicht wundern, wenn es so wäre. Um genau zu sein, ich bin sicher, dass es in den meisten Fällen tatsächlich so war. Und bei den 264
restlichen...? Sagen wir einfach, dass ich es für sehr wahrscheinlich halte. Lionel Luthor ist einer der kältesten Hurensöhne, denen ich je begegnet bin – wenigstens in diesem Land – und der auch noch stolz darauf ist.« »Wie... wie fühlst du dich dabei?« Clark biss sich auf die Zunge und bereute die Frage sofort. Sie erinnerte ihn an diese Reporter, die die Verwandten von Mordopfern – oder Mördern – belästigten. (»Nun, Mr. Jones, wie haben Sie sich gefühlt, als die Polizei die Leichen entdeckte, die Ihr Sohn in der Tiefkühltruhe versteckt hat?«) »Ich? Eigentlich fühle ich nichts.« Lex’ Stimme klang ruhig und völlig kühl. Er hätte ebenso gut über einen bewölkten Tag reden können. »Ich habe schon vor langer Zeit gelernt, dass Gefühle nicht angebracht sind, wenn es um meinen Vater geht. Nein, schlimmer als irrelevant. Sie sind in der Nähe meines Vaters sogar gefährlich. Sie sind einem nur im Weg.« Lex’ Mundwinkel verzogen sich zu einem angedeuteten frostigen Lächeln. »Ich bin dazu übergegangen, meinen Vater nur noch zu studieren. Um zu lernen, was ich nicht tun darf.« Aber du hast bereits gelernt, kalt zu sein. Du kannst dich so mühelos von deinen Gefühlen abtrennen, als würdest du einen Schalter umlegen, wurde Clark klar. Lex hatte dies offenbar gelernt, um sich selbst zu schützen – aber das machte es nicht weniger unheimlich. Im Gegenteil. Was hatte er sonst noch von seinem Vater gelernt? Und wie musste Lionels Vater gewesen sein? Clark verdrängte diese Gedanken schnell – sie kamen Jonathans Argumenten gegen die Luthors zu nahe. »Es muss schmerzhaft sein, wenn die Leute automatisch annehmen, dass du genau wie dein Vater bist.« »Das ›Der-Apfel-fällt-nicht-weit-vom-Stamm‹-Vorurteil? Damit muss ich mich oft herumschlagen. Aber es kann bei Geschäften sehr nützlich sein. Es gibt eine Menge Leute, die alles tun würden, um mir nicht in die Quere zu kommen.« Lex lachte düster. »In gewisser Hinsicht ist es komisch. Vor allem, 265
wenn ich an all die Gelegenheiten denke, bei denen mein Vater mir vorgeworfen hat, dass ich nicht hart genug bin.« Er zuckte die Schultern. »Im Grunde macht es mir nichts aus. Inzwischen habe ich alles gehört.« Clark erinnerte sich plötzlich an ihre Unterhaltung vor ein paar Wochen. Lex hatte ihm von den grausamen Scherzen erzählt, die die Leute über seinen Kahlkopf gemacht hatten. Auch Kinder hatten ihn gehänselt, wie Lex sagte. Clark dachte an das einzige Mal zurück, als er Lionel Luthor aus der Nähe gesehen hatte. Lex’ Vater hatte lange, sorgfältig frisierte Haare. Hatte vielleicht Lionel selbst...? »Es gibt keinen Grund, so entsetzt dreinzuschauen, Clark. Wenn ich wollte, könnte ich meinen Pflichtanteil am Erbe in Empfang nehmen und ins Friedenskorps eintreten. Aber damit würde ich meinen Vater nicht genug enttäuschen. Tatsache ist, dass ich den kleinen Krieg zwischen uns genieße. Ich spiele sein Spiel jetzt mit. Und eines Tages werde ich gewinnen. Zu meinen Bedingungen natürlich.« Das war nicht so beruhigend, wie sich Clark erhofft hatte, aber er ging auf die letzte Bemerkung ein. »Zu deinen Bedingungen. Genau das meine ich. Alle gehen davon aus, dass du genau wie dein Vater bist. Selbst mein Vater glaubt das! Es macht mich verrückt.« »Das weiß ich zu schätzen, Clark, aber es gibt keinen Grund für dich, so besorgt zu sein. Ich bin nicht wie mein Vater.« »Aber wenn Dad erst mal loslegt...!« »Dein Vater ist aus gutem Grund vorsichtig. Du bedeutest ihm offenbar viel. Er ist ein guter Mensch, Clark, auch wenn er sich wünscht, ich würde auf einem anderen Kontinent leben. Ich habe großen Respekt vor ihm.« »Wirklich?« »Oh, ja.« »Das verstehe ich nicht. Warum?«
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»Sieh dich um, Clark. Sieh dir alles gründlich an. Was, denkst du, frage ich mich, wenn ich jemand kennen lerne? Irgendjemand?« Clark betrachtete die Wandtäfelung aus Edelholz und die dicken Eichenbalken. Er musterte die vielen Gemälde und Gobelins an den Wänden. Er erinnerte sich, wie diese Burg hierher gelangt war. Lionel hatte keine Kosten für ein Haus gescheut, in dem er nie wohnen wollte. Clark versuchte sich vorzustellen, wie viel Geld in diesen Mauern steckte. Er dachte an einige der exotischen Gestalten, die die Burg besucht hatten. Die meisten von ihnen waren kaltherzige Geschäftemacher gewesen und das galt auch für Lex’ Freundinnen. »Du fragst dich, welchen Vorteil sie darin sehen. Was sie von dir wollen.« »Genau. Du musst deswegen nicht so traurig klingen – es liegt in der menschlichen Natur.« Lex wies auf die Überreste ihres Nachtischs. »Jeder will ein Stück vom Kuchen. Jeder – nur du und deine Eltern nicht! Keiner von euch hat je irgendein Interesse an meinem Geld gezeigt. Oder an meinem Einfluss. Oder an sonst was. Du hast das ohne einen Schatten des Zweifels bewiesen. Dein Vater wollte nicht einmal, dass du den Truck behältst, den ich dir geschenkt habe. Es war bizarr für mich. Ich musste mehr über euch Kents erfahren.« Clark lachte. »Du meinst, wenn mein Dad mich diesen Truck hätte behalten lassen...?« »Dann hättest du mich vielleicht nie wieder gesehen.« Lex tat so, als würde er einen Eintrag in einem imaginären Hauptbuch machen: »›Schuld beglichen. Jetzt wieder zurück zum Geschäft.‹ Aber nein, dein Vater war starrköpfig und zwang dich dazu, mein Geschenk zurückzugeben. Und so ist unsere Freundschaft entstanden.« Clark lachte noch immer, als er den Kopf schüttelte. »Nein, ich bin trotzdem der Meinung, dass du deine Schuld beglichen
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hast, als du mich in jener Nacht von diesem Pfosten losgebunden hast.« »Wechsel nicht das Thema. Wir reden über diesen Truck. Du wolltest ihn behalten, nicht wahr?« »Oh, klar. Er war einfach toll.« »Trotzdem hast du den Standpunkt deines Vaters respektiert und den Truck zurückgegeben.« Lex schüttelte sichtlich ratlos den Kopf. »Ich bin an Leute mit Prinzipien nicht gewöhnt, schon gar nicht an solche, die sich wirklich an sie halten. Ich will dir die Wahrheit sagen, Clark – für mich bist du wie ein Wesen von einem anderen Planeten.« »Lex, meine Eltern sind nicht einzigartig.« Er dachte einen Moment darüber nach. »Nun, okay, vielleicht doch. Aber es muss dort draußen eine Menge anderer guter Menschen geben.« »Nach meiner Erfahrung nicht. Deine Eltern sind ein nationaler Schatz, der gehegt und gepflegt werden muss. Schau dir an, wo ich lebe.« Lex wies auf die Wände um sie herum. »Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, aber selbst ich muss zugeben, dass es wie die Kulisse eines alten HammerFilms aussieht. Dein Haus ist im Vergleich dazu eine Zufluchtsstätte – buchstäblich eine Zufluchtsstätte. Erinnerst du dich, wie diese Formwandlerin meine Gestalt angenommen hat, um die Sparkasse auszurauben? Wo bin ich danach hingegangen?« »Zu mir. Aber ich dachte, du hättest es getan, weil ich gesehen habe, wie ›du‹ aus der Bank gerannt bist. Ich dachte, du wolltest mit mir über den Vorfall reden.« »Das wollte ich auch. Aber ich hätte dich auch einfach anrufen können.« Lex rieb sich das Kinn und sah seinem Freund in die Augen. »Zu der Zeit war nicht allen klar, dass ich unschuldig bin. Die Wahrheit ist, ich fühlte mich bei dir sicher. Und deinem Vater muss ich zugestehen, dass er mir zugehört
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und mich nicht rausgeworfen hat. Selbst er wusste, dass ich kein Gauner bin. Wenigstens nicht diese Sorte.« »Ein ›nationaler Schatz‹, was?« Clark grinste. »Ich kann es kaum erwarten, es Dad zu erzählen... nur um seinen Gesichtsausdruck zu sehen.« »Erspar dir die Mühe. Wenn er hört, wer das gesagt hat, wird er es wahrscheinlich nicht glauben.« Lex stand vom Tisch auf. »Du hast eine gute Familie, Clark. Geh zu ihr nach Hause.«
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15 IM NORDEN VON SAMLLVILLE gab es ein Rasthaus namens Denehey’s PitStop. Draußen standen zehn Zapfsäulen, von denen vier Dieseltreibstoff abgaben, und eine Werkstatt mit hydraulischen Hebebühnen und Platz für drei Autos. In dem großen Hauptgebäude war rechts neben der Kasse ein weitläufiger Verkaufsraum untergebracht – es gab dort praktisch alles, angefangen von Videokassetten über amerikanische Flaggenaufkleber bis hin zu Schweineschwarten und Antilopenhackfleisch. In der hinteren Ecke unweit der Kaffeeautomaten und des Regals mit zellophanverpacktem Gebäck (Verfallsdatum: Januar 2003) befand sich eine kleine Reihe von Fiberglasnischen, in denen ein Reisender ein paar Momente verweilen konnte, um ein in der Mikrowelle erhitztes Fertigsandwich zu verzehren. Am Montagmorgen kurz nach zehn saß James Wolfe in der letzten Nische und rührte mit einem kleinen Plastiklöffel milchfreien Kaffeeweißer in einen großen Becher Kaffee, während er seine Ausgabe des Daily Planet las. Die Seite 1B präsentierte eine architektonische Zeichnung (sogar in Farbe) des geplanten Instituts für fortgeschrittene Meteoritenforschung und einen Artikel über die AufstiegsStiftung, die ihre Vortragsreihe kürze, um sich ganz auf das neue Bauprojekt zu konzentrieren. Wolfe nippte vorsichtig an seinem Kaffee, verzog das Gesicht und riss zwei Tütchen Zucker auf. Es ist ihm ernst damit. Er hat wirklich vor, sich hier niederzulassen. Ich gebe ihm im Höchstfall zwei Monate, bis er und die Potter verheiratet sind, dachte er aufgebracht. Seiner Meinung nach konnte es nicht mehr viel schlimmer werden. »Mr. Wolfe?«
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»Hm?« Wolfe blickte von dem bitteren Kaffee auf und sah einen Fremden vor der Nische stehen. Der Mann hatte nichts Auffälliges an sich. Er trug schlichte Kleidung in gedeckten Farben. Die verspiegelte Sonnenbrille, die seine Augen verbarg, war das Einzige, was Aufmerksamkeit erregte. »Sie sind einer der Herren von der Stiftung, nicht wahr?« »Ja. Ja, das bin ich.« Wolfe setzte automatisch sein strahlendstes Lächeln auf. »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Vielleicht können wir uns gegenseitig helfen. Ich hörte, dass Sie in der Vergangenheit einige Probleme hatten.« »Probleme? Ich verstehe nicht...« »Im Osten... in Cleveland, glaube ich.« Wolfe konnte in den verspiegelten Gläsern des Fremden sehen, wie sein Lächeln gefror. »Ich fürchte, Sie müssen mich mit jemand verwechseln. Ich war noch nie in Cleveland.« »Oh, ich denke schon, Mr. Wolfe.« Er beugte sich näher. »Oder sollte ich besser sagen, Mr. Wilbury?« Wolfes Blicke huschten umher, um festzustellen, ob sich jemand in Hörweite befand. »Was wollen Sie?« »Ich will nur mit Ihnen reden. Aber dies ist kein guter Ort dafür. Man weiß nie, wer hereinkommt.« Ein gezwungenes Lächeln umspielte die Lippen des Fremden. »Mein Wagen steht draußen, direkt um die Ecke. Neben Ihrem, um genau zu sein. Warum treffen wir uns dort nicht in ein oder zwei Minuten, um uns ein wenig zu unterhalten?« Wolfe tat so, als würde er seine Zeitung lesen, aber seine Augen lösten sich nicht von dem Mann. Der Fremde schlenderte zur Kasse, wo er eine Ausgabe des Inquisitor und einen Schokoriegel kaufte, bevor er mit der Schulter die Glastür aufstieß und hinausging. Wolfe trank die Hälfte seines Kaffees, ehe er aufstand und so unauffällig wie möglich nach draußen ging. Hinter der Ecke des Gebäudes wartete der Fremde in einem Auto, das direkt neben seinem stand, genau
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wie er es gesagt hatte. Wolfe sah sich zweimal um, bevor er die Beifahrertür öffnete und einstieg. »Ein schönes Auto haben Sie da, Mr. ›Wolfe‹. Hat die Stiftung es Ihnen gekauft?« »Es war ein Geschenk. Eine bescheidene Spende von einem unserer Mitglieder.« »Das ist ja nett.« »Hören Sie, was wollen Sie? Wer sind Sie?« »Wer ich bin, spielt keine Rolle. Es geht darum, wer Sie sind. Sie haben in der Vergangenheit eine Menge verschiedener Namen benutzt.« Der Fremde blätterte in einer Akte. »Winslow, Winslade, Wilbury. Der Letzte war der Name, den Sie benutzt haben, als Sie diesen Schwindel in Cleveland durchgezogen haben, der auf so schreckliche Weise schief gegangen ist. Einer dieser Zur-falschen-Zeit-amfalschen-Ort-Fälle, nicht wahr? Weil der Kerl, den Sie geschröpft haben, über beste Kontakte zur Mafia verfügte. Es gab eine Schießerei... und ein oder zwei Leichen. Und Sie waren mittendrin und haben ausgesagt, wer auf wen geschossen hat, um Ihren erbärmlichen Arsch zu retten. Aber ich muss dem FBI zugestehen, dass es sich gut um Sie gekümmert hat. Das Zeugenschutzprogramm gab Ihnen eine neue Identität; plastische Chirurgie hat Ihnen zu einem neuen Gesicht verhelfen. Und nach einer Weile haben Sie sich mit Jacobi zusammengetan und den Stiftungsschwindel aufgezogen. Sehr gerissen.« »Wie haben Sie diese Akte in die Hände bekommen?« »Informationen sammeln ist mein Job, Jimmy. Die Leute engagieren mich, um Dinge herauszufinden. Nun, nehmen Sie zum Beispiel Ihren Kumpel Jacobi... Ein geheimnisvoller Mann, aber ich habe es geschafft, alles über ihn zu erfahren, bis hin zu seinen Collegezensuren.« Der Fremde schnalzte mit der Zunge und schüttelte bedauernd den Kopf. »Die waren nicht sehr gut, nicht wahr? Sie jedoch waren schwerer festzunageln. 272
Zu Ihrem Hintergrund gab es keinerlei Informationen. Und das hat mich misstrauisch gemacht.« Er tippte sich mit dem Rand der Akte an die Stirn. »Die Bundesagenten haben gute Arbeit bei Ihnen geleistet, Jimmy. Aber sie konnten Ihre Fingerabdrücke nicht ändern, nicht wahr?« »Sie arbeiten nicht für die Mafia, sonst wäre ich schon längst tot. Was wollen Sie? Geld?« »Geld? Nein, Ihre Taschen sind nicht tief genug, Jimmy. Sehen Sie, die Stiftung hat sich an einem überaus unglücklichen Ort niedergelassen. Gewisse Parteien wollen Sie dort nicht haben. Sie möchten, dass Sie woanders hingehen, vorzugsweise so weit weg wie möglich.« »Das können wir nicht tun. Mein Partner hat bereits Pläne gemacht...« »Dann werden Sie ihn eben dazu bringen müssen, seine Pläne zu ändern.« »Sie kennen Don Jacobi nicht. Wenn er sich irgendetwas in den Kopf setzt...« »Vor wem haben Sie mehr Angst, vor Ihrem Partner oder der Mafia?« Der Fremde drohte ihm mit der Akte. »Es wäre wirklich eine Schande, wenn diese Information an die falschen Leuten gelangt. Nun, wenn Sie diese Show beenden und aus der Stadt verschwinden, wird es nie jemand erfahren. Aber wenn nicht...? Nun, dass Ihre Geschichte dann in allen Zeitungen erscheint, wird noch die geringste Ihrer Sorgen sein, meinen Sie nicht auch?« »Das...« Wolfe zog ein Taschentuch aus der Tasche und tupfte sich die Stirn ab. »Das können Sie mir nicht antun. Bitte...!« »Die Entscheidung liegt nicht bei mir. Sondern bei Ihnen. Sie haben Zeit bis zum Wochenende.« Die Lippen des Fremden verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. »Ich schlage vor, dass Sie sich beeilen.«
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Wolfe stieg aus dem Auto des Fremden und warf die Tür zu. Er lehnte sich an seinen eigenen Wagen und verfolgte mit hämmerndem Herzen, wie das andere Auto davonfuhr. Wolfe suchte in seiner Tasche nach den Schlüsseln, und als es ihm endlich gelang, sie herauszuziehen, ließ er sie fallen. Er hob sie vom Pflaster auf, und als er den Schlüssel ins Türschloss steckte, zitterte seine Hand. Wolfe glitt hinter das Lenkrad und leckte sich die Lippen. Er sah auf seine Armbanduhr und seufzte. Ein Drink wäre jetzt genau das Richtige – irgendetwas, das seine Nerven beruhigte –, aber das Spirituosengeschäft öffnete erst in anderthalb Stunden. Wolfe wäre noch viel nervöser gewesen, wenn er bemerkt hätte, dass einer der Mechaniker der Truckerraststätte ihn aus den Schatten des Werkstattbereichs beobachtet hatte. Als Wolfes Wagen davonfuhr, trat der Mechaniker in den hinteren Teil der Werkstatt und warf Geld in ein altes Münztelefon. Er wählte eine bestimmte Nummer, die er auswendig gelernt hatte, und legte seine Hand um die Sprechmuschel, teils um den Werkstattlärm auszusperren, teils um nicht belauscht zu werden. Beim dritten Klingeln wurde abgenommen. »Ja?« »Hier ist Arnie vom PitStop, Mr. Luthor. Ich sollte Sie anrufen, wenn ich etwas Verdächtiges bemerke...« Am anderen Ende der Leitung hörte Lex Luthor konzentriert zu. »Ich verstehe. Und Sie haben das Kennzeichen des anderen Wagens? Gute Arbeit, Arnie... geben Sie es mir durch. Okay. Und Wolfe ist gerade weggefahren? Ja, Arnie, das ist sehr interessant. Wenn Sie noch mehr hören oder sehen, lassen Sie es mich umgehend wissen. Wir bleiben in Verbindung.« Lex legte auf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Die Ziffernfolge, die Arnie ihm gegeben hatte, verriet ihm, dass das Kennzeichen zu einem Auto aus dem Großraum Metropolis 274
gehörte. Lex wusste, dass dies nichts bewies – schließlich wurden in Metropolis jedes Jahr Millionen Kennzeichen ausgegeben. Aber er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass der Mann, der sich mit Wolfe getroffen hatte, in irgendeiner Verbindung zu Lionel Luthor stand. Lex bezweifelte, dass die Spur direkt zu seinem Vater führte (der alte Mann zog es stets vor, sich im Hintergrund zu halten, um zur Not alles leugnen zu können), aber es war durchaus möglich, dass irgendein Untergebener oder auch mehrere Untergebene von ihm in die Sache verwickelt waren. Er griff wieder nach dem Hörer und drückte eine Schnellwahltaste. Bereits nach dem ersten Klingeln wurde abgenommen. »Einsatzzentrale. Nixon.« »Hallo, Roger. Können Sie reden?« »Ja, nur einen Moment...« Eine Tür wurde geschlossen und die Hintergrundgeräusche erstarben. »Alles klar, Lex. Wenn es um Jacobi geht, ich habe seit dem letzten Mal nicht viel mehr über ihn herausgefunden.« »Jede Kleinigkeit zählt, Roger, aber ich rufe wegen etwas anderem an. Ich habe hier ein Autokennzeichen, das Sie für mich überprüfen müssen.« Nixon notierte das Kennzeichen. »Sie haben Recht, das ist eindeutig ein Kennzeichen aus dem Metro-Raum. Es sollte nicht lange dauern, den Halter zu ermitteln – höchstens eine halbe Stunde.« »Gut. Jetzt zurück zur Stiftung. Was haben Sie herausfinden können?« »Über Jacobi nicht viel, obwohl ich später eine Kopie seiner Collegezeugnisse bekommen soll. Aber Wolfe... Mann, dieser Kerl ist eine andere Sache!« »In welcher Hinsicht?«
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»Wolfe ist wie ein Geist. Ich kann nicht das Geringste über ihn finden. Es ist, als hätte der Mann nicht existiert, bevor er anfing, mit Jacobi zu arbeiten.« »Das ist unmöglich, Roger. Jeder hinterlässt eine Papierspur.« »He, ich sage Ihnen nur, was ich gefunden habe... oder in diesem Fall nicht gefunden.« Lex dachte darüber nach. »Graben Sie weiter, Roger. Ich habe das Gefühl, dass uns Mr. Wolfes Vergangenheit vielleicht das fehlende Teil dieses Puzzles liefern wird.« Wolfe saß vor der Smallviller Sparkasse in seinem Wagen und fragte sich, was er als Nächstes tun sollte. Was er tun konnte. Wenn er das Gelände nicht schloss und bis zum Wochenende aus der Stadt verschwand, war er so gut wie tot. Der Fremde hatte sich da sehr deutlich ausgedrückt. Aber Wolfe konnte die Zelte ohne Jacobis Kooperation nicht abbrechen, und das genau war das Problem: Jacobi wollte nicht verschwinden. Wolfe war versucht, auf der Stelle seinen Koffer zu packen und zur Grenze zu fahren, aber das würde ihm auch nicht viel helfen. Wenn er zu fliehen versuchte, würden sich bis zum Ende der Woche ein Dutzend Killer an seine Fersen heften. Der Fremde würde ihn nicht auffliegen lassen müssen; Jacobi würde das selbst erledigen, weil er sich verletzt und verraten gab. Wolfe konnte ihn jetzt schon hören. Er zweifelte, dass Jacobi so leicht das Opfer spielen konnte, wie er den Wissenschaftler und Humanisten spielte. Jacobis professionelle Seite seiner Persönlichkeit – sein Verhalten, die Redensweisen und Posen, die er an den Tag legte – war inzwischen so eingeübt, dass er sie nicht mehr spielen musste. »Doktor Jacobi« war zu einer separaten, voll entwickelten Persönlichkeit geworden, die er nach Gutdünken annehmen konnte. Und jetzt, da Jacobi auf den eigenen 276
Schwindel hereingefallen war, wurde diese Seite zu seiner primären Persönlichkeit. Oder war es vielleicht so, dass eine ehrliche Version der professionellen Persönlichkeit ans Licht kam? Welches Ich ist dein wahres Ich, Don? Selbst ich weiß es nicht mehr genau, dachte er. Er wusste, dass sein Partner, genau wie er selbst, das Kind eines Predigers war. Aber Wolfe hatte früh rebelliert, hatte sich nicht nur in schlechte Gesellschaft begeben, sondern war ihr Anführer geworden. Das hatte ihm unter seinem alten Namen ein Jugendstrafverfahren eingebracht. Jacobi seinerseits hatte, soweit Wolfe es wusste, noch nie Schwierigkeiten mit dem Gesetz gehabt. Wahrscheinlich war er ein kleiner Klugscheißer gewesen... und wusste genau, wie weit er gehen durfte. Wolfe fiel eine lang zurückliegende Diskussion ein, die sie über den Glauben geführt hatten. Jacobi hatte nur Hohn und Spott für das Konzept der Religion übrig gehabt, aber aus erster Hand erlebt, wie sehr manche Leute sie brauchten. Sie beide hatten gelernt, wann sie dieses Bedürfnis ohne großes Risiko für ihre Zwecke ausbeuten konnten. Bis jetzt. Ich stecke in der Klemme. Wolfe wusste nicht, wer der Fremde war – oder wie weit er ihm vertrauen konnte –, aber er wusste, was er von Jacobi zu erwarten hatte. Sein Partner würde sich nie dazu überreden lassen, die Zelte abzubrechen und sich davonzuschleichen. Vor allem nicht jetzt. Wenn es wirklich so etwas wie eine plötzliche Bekehrung gab, dann hatte Jacobi sie erlebt. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Wolfe hatte den Ausdruck in den Augen seines Partners gesehen. Und er war stur genug, um seine Pläne zu verwirklichen. Er erinnerte sich noch gut, wie er versucht hatte, Jacobi davon zu überzeugen, die Reise nach Smallville bis nach Atlanta und der südlichen Tournee zu verschieben. Ohne jeden Erfolg. Und zu diesem Zeitpunkt hatte Jacobi noch 277
immer ein Schwindelunternehmen betrieben. Jetzt, da der Schwindler selbst zu einem Gläubigen geworden war, würde er sich unter keinen Umständen überzeugen lassen, etwas zu tun, was er nicht tun wollte. Außerdem – traute er Jacobi überhaupt genug, um ihm die Wahrheit zu sagen? Nun, wie sehr hatte er ihm vorher vertrauen können? Sicher, Jacobi hatte sein Geheimnis jetzt schon seit Jahren bewahrt. Aber warum auch nicht? Sie hatten viel Geld verdient. Sie hatten eine gute Sache laufen, waren ein Gewinnerteam. Wolfe war der Organisator, das Mädchen für alles, und Jacobi war der Frontmann, der Einwickler. Wolfe erledigte die Schmutzarbeit, kümmerte sich um die Details, während sein Partner für das große Bild zuständig war. Ja, und zu diesem großen Bild gehörte, mich an meinem Platz zu halten. Wolfe sah aus dem Fenster zu dem Drugstore am Ende der Straße hinüber. Hatten die Drugstores in Kansas die Genehmigung, Alkohol zu verkaufen? Er wusste es nicht mehr. Wolfe leckte sich wieder die Lippen. Er konnte wirklich einen Drink gebrauchen. Nein. Er schüttelte den Kopf. Genau das hatte ihn in diesen Schlamassel gebracht. Wenn er in jener Nacht in Baltimore nur nicht betrunken gewesen wäre. Vier Scotch hatten ihm die Zunge gelöst und er hatte Jacobi über Cleveland, seine neue Identität, einfach alles erzählt. Seitdem benutzte sein Partner dieses Wissen, um ihn unter Druck zu setzen. Partner... ja, genau. Sie waren nie gleichberechtigte Partner gewesen, schon gar nicht nach dieser Nacht. Nach Baltimore waren sie auch keine Freunde mehr gewesen. Nicht wirklich. Wolfe fragte sich, ob sie es überhaupt einmal gewesen waren. Wolfe umklammerte das Lenkrad. Das Grübeln führte zu nichts. Es musste irgendeinen Ausweg geben. Vielleicht sollte er sich Jacobi doch anvertrauen. 278
Was würde geschehen, wenn er alle Karten auf den Tisch legte? Was, wenn er Jacobi erzählte, dass jemand – offenbar ein sehr mächtiger Jemand – sie aus der Stadt vertreiben wollte und bereit war, Wolfes Leben in Gefahr zu bringen, um das zu erreichen? Was dann? Würde eine derart offene, ehrliche Erklärung Jacobi zur Vernunft bringen, sodass sie von hier verschwanden? Vielleicht. Aber er glaubte es nicht. Jacobi würde eventuell entscheiden, dass sie demjenigen, der sie aus der Stadt vertreiben wollte, Paroli bieten konnten. Wolfe war sicher, dass sie in diesem Fall beide getötet würden. Aber konnte er Jacobi davon überzeugen? Er hatte seine Zweifel. Wolfe kaute auf seiner Lippe. Ich bin tot, wenn ich es tue, und tot, wenn ich es nicht tue, dachte er verzweifelt. Wenn er weder davonlaufen noch Jacobi zur Vernunft bringen konnte, was konnte er dann tun? Es musste eine weitere Alternative geben. Aber welche? Irgendwo am Ende des Blocks schlug eine Glockenuhr. Beim zwölften Schlag sah Wolfe auf seine Armbanduhr. Er stieg aus und blieb einen Moment neben seinem Wagen stehen. Dann riss er sich zusammen, betrat den Bürgersteig vor der Sparkasse und sah wieder zum Drugstore hinüber. »Clark, warte!« Pete schlug den Spind zu und rannte los, um seinen Freund einzuholen. »Bist du okay, Mann? Ich habe dich heute Morgen nicht gesehen.« »Ja, ich weiß. Hab den Bus verpasst.« Clark schenkte ihm ein schräges Grinsen. »Also, wer hat die heutige Wette gewonnen – du oder Chloe?« »Alle Wetten wurden gestoppt, bis sie mir das Geld fürs Parken zurückgibt.« Pete ging zusammen mit Clark zur Schulcafeteria. »Im Ernst, bist du okay? Es tut mir Leid, dass
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ich dich gestern angemacht habe. Ich wollte keinen Streit zwischen dir und deinem Dad heraufbeschwören.« »Oh, das.« Clark zuckte die Schultern. »Vergiss es, Pete. Dad und ich... lassen hin und wieder etwas Dampf ab. Es ist schon vergessen.« »Bist du sicher?« »Ja.« »Dann sind wir noch immer Kumpel?« »Machst du Witze?« Clark streckte seine Hand aus. Pete grinste, schlug ein und zwinkerte ihm zu. »Bis zum Ende, mein Freund, bis zum Ende!« Jacobi hatte die Pläne für sein Institut auf dem Esszimmertisch des Farmhauses ausgebreitet. Er hatte den Tisch auf seine volle Länge von vier Metern ausgezogen, sodass die Konstruktionszeichnungen nebeneinander liegen konnten. Jacobi konnte so die Anordnung der Räume und Wände auf den verschiedenen Stockwerken mit einem Blick vergleichen. Er lächelte. Alles entwickelte sich perfekt. Die Hintertür öffnete sich und als Jacobi aufblickte, sah er Wolfe mit einer kleinen Pappschachtel hereinkommen. »Ah, Jimmy, da bist du ja. Sind die Vorbereitungen für das Wochenende abgeschlossen?« »Ich habe mich um alles gekümmert, Don.« »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Was hat dich aufgehalten?« »Oh, der übliche Montagswahnsinn.« Wolfe klemmte sich die Schachtel unter den Arm. »Verkehr, Besorgungen... und ständig wollten irgendwelche Leute mit mir reden. Und wir müssen das gute Verhältnis zur Öffentlichkeit pflegen. Zeigen, dass wir gute Nachbarn und alles sind.« »Ja. Ja, das müssen wir.« Jacobi stand vom Tisch auf. »Ich bin sehr froh, dich das sagen zu hören. Ich will den Leuten von Smallville ein sehr guter Nachbar sein. Sie sollen zu den Ersten 280
gehören, die von den Segnungen des Instituts profitieren... nach den Mitgliedern der Stiftung natürlich.« »Natürlich.« »Sie waren alle so gut zu uns, Jimmy. So hilfsbereit. In ein oder vielleicht zwei Jahren dürften wir in der Lage sein, ihnen ihre Freundlichkeit auf eine Weise zurückzuzahlen, die ihre wildesten Fantasien übersteigt.« »Zurückzahlen?« »Gesundheit, Jimmy – vollkommene Gesundheit!« Jacobi fuhr mit einer Hand über die Pläne und glättete eine Falte in dem Papier. »Wir werden ihre Krankheiten heilen, ihre Lebensspanne verlängern, dafür sorgen, dass ihre Kinder... und die Kinder ihrer Kinder... stark und gesund heranwachsen. Ich sehe ein Paradies auf Erden vor meinem geistigen Auge.« Wolfe sagte kein Wort. Die Stimme seines Partners hatte jetzt eine messianische Qualität erhalten, die sich auch in seinen Augen verriet. Er hatte etwas Ähnliches schon vor Jahren miterlebt, wenn der alte Reverend Mike eine Menge in Begeisterung versetzt hatte. Aber der Reverend hatte alles nur gespielt. Wolfe sah das Leuchten in Jacobis Augen und wusste, dass dies kein Spiel war. Nicht mehr. »Weißt du, Jimmy... als ich ein Junge war, habe ich davon geträumt, Arzt zu werden. Aber ich hatte es einfach nicht drauf. Ich hatte weder die Begabung noch die nötigen Zensuren.« Jacobi lachte leise und wurde dann ernst. »Jetzt habe ich endlich die Mittel, den Leuten wirklich zu helfen, ihr Leiden zu beenden. Mein Gott, was für ein Geschenk. Denk drüber nach, Jimmy. Denk drüber nach!« Alles, was Wolfe daraufhin einfiel, waren die Bibelstunden, die sein Vater früher gegeben hatte. Die Lieblingsgeschichte des alten Mannes war die von Saulus von Tarsus gewesen, der auf seinem Weg nach Damaskus bekehrt und zum Apostel Paulus geworden war. Der gute alte Paulus wurde dafür zum Märtyrer, so wie viele seiner Jünger. Die Geschichte sagte ihm 281
nur, dass es gefährlich sein konnte, sich mit wahren Gläubigen abzugeben. »Jimmy?« »Ja, was für ein Bild. Ich, äh, war vorübergehend abgelenkt.« »So etwas passiert schnell, nicht wahr? Ich muss mich auch dauernd zusammenreißen, um nicht die Bodenhaftung zu verlieren. Da wir davon sprechen, hast du diese Liste der Firmen durchgesehen, die ich haben will?« »Hmm? Oh, ja.« Wolfe griff in die Tasche seines Jacketts und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus. »Unser Mann Eaton von der Sparkasse hat mir drei empfohlen, die für den Job in Frage kommen... alle aus dieser Gegend.« »Gut, gut.« Jacobi nahm die Liste und beugte sich mit der Begeisterung eines Archäologen, der die Schriftrollen vom Toten Meer untersuchte, über sie. Wolfe kratzte sich am Kinn. »Weißt du, Don, bevor wir die Aufträge erteilen, sollten wir eine kleine Feier veranstalten.« »Eine Feier?« »Ja, um die Pläne unserer kleinen Kolonie von Stiftungsmitgliedern zu zeigen. Schließlich gehören zu unserem kleinen inneren Kreis hier etwa ein Dutzend Leute, die ihre Jobs aufgegeben haben, um uns bei den Sicherheitsmaßnahmen und den täglich anfallenden Arbeiten zu helfen. Sie sind schließlich auch ein Teil dieses Unternehmens.« »Das ist eine wundervolle Idee, Jimmy.« Jacobi strahlte. »Du hast dich endlich von meiner Begeisterung anstecken lassen, nicht wahr?« »Nun, ich versuch’s.« Wolfe schenkte ihm ein breites Grinsen. Und er bemühte sich sehr, ehrlich auszusehen.
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16 AM DIENSTAGNACHMITTAG NACH DER SCHULE betrat Clark das Talon und fand Lex in einer Ecke sitzend vor, in einer Hand einen Milchkaffee und in der anderen sein Handy. Lex’ Miene drückte Besorgnis aus. »Schlechte Neuigkeiten?« »Eh? Oh, nein, Clark. Nur... unbefriedigende.« Lex steckte das Telefon in die Innentasche seines Jacketts und bedeutete Clark, sich zu ihm zu setzen. »Wenn du Lana suchst, ich fürchte, sie ist nicht hier.« Clark tat sein Bestes, um seine Enttäuschung zu verbergen, und nahm Platz. »Was ist los?« »Ich habe versucht, ein paar Informationen über unsere Freunde von der Stiftung einzuholen.« Lex runzelte die Stirn. »Ich hatte dabei nicht viel Glück, aber es sieht so aus, als ob andere Parteien mehr hatten.« »Andere Parteien?« »Gestern wurde Jacobis Partner Wolfe dabei beobachtet, wie er am Rand der Stadt mit einem unbekannten Mann ein längeres Gespräch führte. Noch kenne ich den Namen dieses Mannes nicht, aber er fuhr einen Wagen, der in Metropolis gemietet wurde, und zwar mit der Kreditkarte einer kleinen Firma namens Bradley & Morgan. Zufälligerweise weiß ich, dass diese Firma auf Privatermittlungen spezialisiert ist.« Clark zog die Brauen fast bis zum Haaransatz hoch. »Du willst damit sagen, dass sich Wolfe mit einem Privatschnüffler getroffen hat? Was steckt dahinter?« »Ich weiß es nicht. Aber wenn ich die Verbindung nach Metropolis bedenke, vermute ich, dass die Luthor Corp irgendwie darin verwickelt ist.« »Die Luthor Corp?« Clark senkte seine Stimme und beugte sich näher zu ihm. »Hast du etwas gehört?« 283
Lex schüttelte den Kopf. »Ich habe im Moment nur dieses Gefühl in der Magengegend. Bis jetzt habe ich keine Hinweise darauf finden können, dass mein Vater direkt darin verwickelt ist.« Er trank einen Schluck von seinem Milchkaffee. »Was mit Sicherheit bedeutet, dass dem so ist.« »Einen Moment – es gibt keinen Beweis dafür, dass dein Vater irgendetwas damit zu tun hat, und deshalb...? Lex, das ergibt keinen Sinn.« »Wenn du meinen Vater so gut kennen würdest wie ich, dann schon.« Lex sah Clark über seine Tasse hinweg an. »Hat dein Vater je darauf bestanden, dass du dich – oh, sagen wir – den Zukunftsfarmern von Amerika anschließt?« »Was?« »Das dachte ich mir.« »Lex, ich habe dir keine Antwort gegeben.« »Oh doch, das hast du. Jonathan versucht nicht, dein Leben zu kontrollieren. Lionel aber versucht, jedermanns Leben zu kontrollieren. Ich habe verdrängt, in wie viele Organisationen und Schulen er mich hineingezwungen hat. Etwa achtzig Prozent davon habe ich zutiefst verabscheut. Bei den anderen habe ich nur so getan, als würde ich sie hassen.« Lex grinste und stellte seine Tasse ab. »Alles ein Teil des Spieles. Jedenfalls bin ich sicher, dass mein Vater wütend über all das öffentliche Interesse ist, das Jacobis Stiftung heraufbeschworen hat. Eine der Meteoritenmutationen hat sich schließlich in der Düngemittelfabrik ereignet. Direkt vor seinen Augen. Er ist noch immer wütend darüber, dass die Geschichte bekannt wurde.« »Hm.« Clark sank auf seinem Stuhl zurück. Ein abwesender Ausdruck trat in seine Augen. »Du siehst sehr nachdenklich aus. Wegen dem, was ich gesagt habe?«
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»Zum Teil. Der Name deines Vaters fiel vor ein paar Wochen im Zusammenhang mit den merkwürdigen Meteoritenzwischenfällen.« »Oh?« »Ja. Chloe ist der Meinung, dass Lionel seinen Einfluss genutzt hat, um die Berichterstattung über die merkwürdigen Ereignisse in Smallville zu unterdrücken.« Clark blickte auf. »Könnte er das tun?« »Er hat schon Schlimmeres getan und das aus weit weniger guten Gründen, als er jetzt haben mag. Glaub mir, Clark, wenn es um meinen Vater geht, ist alles möglich.« Stuart Harrison war direkt nach der Schule zum Stiftungsgelände gefahren, wo sich die letzten Dauercamper in der Scheune versammelt hatten. »Stuart, da bist du ja!« Jacobi tauchte hinter ihm auf. »Ich bin so froh, dass du hier bist. Rechtzeitig zur großen Feier.« »Was ist denn los?« »Komm rein und schau es dir an.« In der Scheune waren Meteoriten zu einem großen Kreis angeordnet worden. Sie erfüllten das Innere mit einem weichen grünen Licht. Ein Dutzend Arbeiter drängte sich am Rand des Kreises, wo man einen Tisch neben dem Wohnmobil der Stiftung aufgestellt hatte. Die Mitglieder standen dort, knabberten Käse, Cracker und frisches Obst und nippten an großen Plastikbechern, während Wolfe Bowle aus einer großen Schüssel verteilte. »Donald! Und Stuart. Nun – greift zu.« Wolfe drückte ihnen Becher in die Hände. »Wir sollten alle auf den nächsten großen Schritt anstoßen.« Als Stuart einen Becher entgegennahm, bemerkte er, dass Wolfe durchsichtige Plastikhandschuhe übergestreift hatte, wie sie die Cafeteriamitarbeiter in seiner Schule trugen. Wolfe sah Stuarts erstaunten Gesichtsausdruck und lachte. »Das örtliche 285
Gesundheitsamt ist dafür verantwortlich. Ihre neuesten Vorschriften verlangen, dass ich diese Dinger tragen muss, wenn ich mehr als sechs nicht verwandte Leute bediene.« »Selbst bei einer privaten Party? Das klingt ja seltsam.« Stuart ließ die dunkelpurpurne Flüssigkeit in seinem Becher herumwirbeln. Wolfe lachte wieder. »Bürokratie! Was soll man machen?« Er wies auf den Becher. »Keine Sorge, die Bowle ist alkoholfrei. Nicht zu süß, oder?« Stuart kostete vorsichtig. »Nein. Schmeckt ziemlich gut.« »Freut mich.« Wolfe schlug mit der Schöpfkelle gegen die Seite der Bowlenschüssel. »Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit! Doktor Jacobi hat eine sehr wichtige Erklärung abzugeben. Don...?« Er winkte seinen Partner auf ein kleines Podest neben dem Tisch. Unter dem Jubel der kleinen Menge trat Jacobi auf das Podest und hob feierlich seinen Becher. »Mitglieder der Stiftung... meine Freunde... ich danke euch. Ich denke, bevor wir beginnen, sollten wir uns alle bei dem Mann bedanken, der diese kleine Feier arrangiert hat... es ist der Mann, dessen großartige Fähigkeiten für uns unentbehrlich sind. Lassen Sie uns also alle auf das Wohl unseres James Wolfe anstoßen! Jimmy, komm her und verbeuge dich.« Wolfe trat ebenfalls auf das Podest und hob bescheiden seinen Becher. Jacobi trank einen Schluck von der Bowle und wies auf die Meteoriten, die die Gruppe umgaben. »Um uns herum können wir einen Teil der Früchte unserer Arbeit der vergangenen Woche sehen. Und dies ist erst der Anfang. Dank Ihrer Unterstützung und der von Tausenden von Spendern werden wir in Kürze den Grundstein für das Institut für fortgeschrittene Meteoritenforschung legen!« Wolfe hob seinen Becher hoch in die Luft. »Auf das Institut!« 286
»Auf das Institut!«, wiederholten die Mitglieder Wolfes Trinkspruch und leerten ihre Becher. Jacobi leckte sich die Lippen, als er seinen Becher senkte. »Inzwischen haben Sie mich viele Male über unser kosmisches Vermächtnis sprechen hören. Die meisten von Ihnen waren Zeuge der Heilung unseres neuen jungen Mitglieds Stuart Harrison!« Erneut klang Jubel auf. Und jene, die dicht neben Stuart standen, streckten die Arme aus, um ihm die Hand zu schütteln oder ihn einfach zu berühren. So, wie sie sich aufführen, könnte man meinen, dass ich der Messias bin, dachte Stuart und fühlte sich unbehaglich. Trotzdem lächelte er höflich und hob seinen Becher in Jacobis Richtung. »Dank Stuart und natürlich dank Ihrer Unterstützung steht die Stiftung an der Schwelle zu einem neuen Abenteuer. Seit Jahren habe ich die DNS als große kosmische Leiter bezeichnet. Nun, diese Leiter wird eine Verlängerung bekommen, nicht wahr?« Die Menge lachte kurz über Jacobis matten Scherz. Er blinzelte und fühlte sich ein wenig benommen, sprach aber dennoch weiter. »Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese Meteoriten, diese Geschenke aus dem Weltraum, weit mehr für uns tun können, als nur Krankheiten zu heilen. Sie werden das Beste aus uns herausholen, sie werden uns stärker und klüger machen! Sie werden uns den Schwung geben, den wir brauchen, um diese evolutionäre Leiter hinaufzusteigen... zur nächsten großen kosmischen Stufe. Sie werden uns zu wahren Bürgern der Galaxis machen... uns einen Schritt näher... zu den Engeln... bringen...« Jacobi sah die um ihn versammelten Menschen an. Sie waren seltsam still. Viele von ihnen schwankten hin und her. Ihre Gesichtszüge schienen zu verschwimmen, sich zu verzerren. Nein, dämmerte Jacobi, es lag an ihm: Sein Blickfeld war es, das verschwamm. Er starrte benommen in seinen Becher. Und dann gab sein linkes Knie nach und er sank auf das Podest. 287
Stuart wollte einen Schritt nach vorn machen, um Jacobi zu helfen, aber seine Füße waren wie festgenagelt. Um ihn herum brachen die Leute zusammen. Stuart blickte auf und sah, dass Wolfe noch immer auf dem Podest stand. Erst jetzt bemerkte Stuart, dass Wolfes Becher noch immer fast voll war und die Flüssigkeit darin heller zu sein schien. Dann wurde vor Stuarts Augen alles grau. Kurz darauf schwarz. Wolfe kippte seinen Becher in die Bowlenschüssel und trat von dem Podest. »Tut mir Leid, Jungs und Mädels, aber mir fiel einfach kein anderer Ausweg ein.« Er durchquerte den Raum, trat über die reglosen Gestalten am Boden hinweg, schloss die Doppeltür der Scheune und verriegelte sie mit einem Balken. Als er sicher war, ungestört zu sein, wandte er sich wieder dem Kreis zu. Er packte den Bewusstlosen, dem er am nächsten war, an den Schultern und zerrte ihn in den Meteoritenkreis. Wolfe war schweißgebadet, als er schließlich zurücktrat, um sein Werk zu begutachten. Zwölf Stiftungsmitglieder lagen bewusstlos im Kreis. Er hatte sie wie die Speichen eines Rades angeordnet. Etwa dreißig Zentimeter vom Kopf jeder Person entfernt befand sich ein Meteorit. In der Mitte des Kreises lag Stuart Harrison mit ausgestreckten Armen in der Position eines Gekreuzigten. »Ich wünschte wirklich, du wärst heute Abend nicht aufgetaucht, Stuart. Ich wollte dich nicht zu einem Teil von dem hier machen, aber es war zu spät, um meinen Plan zu ändern.« Wolfe zuckte die Schultern. Nun ja, auf diese Weise sah es noch mehr nach einem Kultritual aus. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Fünfzehn Minuten. Nicht schlecht, aber er musste einen Zahn zulegen. Er bog um das Podest, wo Jacobi noch immer mit ausgebreiteten Gliedern lag. »Donny, Donny, Donny. Das ist alles deine Schuld, weißt du? Hättest du mir nicht in jener 288
Nacht in Baltimore ständig Drinks ausgegeben, hättest du nie von Cleveland erfahren.« Er zog eine Pappschachtel unter dem Tisch hervor und entnahm ihr eine leere Flasche, die einst ein rezeptfreies Schlafmittel enthalten hatte. Wolfe drückte sie in Jacobis Hand und schloss sanft die Finger um sie. Das Gleiche tat er mit der Bowlenkelle. »Für den Fall des Falles sind jetzt deine Fingerabdrücke drauf.« Er nahm ihm die Schöpfkelle ab und steckte die Flasche vorsichtig in Jacobis Jacketttasche. Wolfe ging zum Wohnmobil hinüber und öffnete die Tür, woraufhin die Treppe automatisch ausgefahren wurde. Er kehrte zu Jacobi zurück, brachte seinen Partner in eine sitzende Position und schlang die Arme um seine Hüften. Wolfe wuchtete Jacobi mit einem mächtigen Ruck hoch und warf ihn über seine Schulter. Unter der Last des Mannes gebeugt, stapfte er zum Wohnmobil. Als er einen Fuß auf die unterste Stufe setzte, verlor er fast das Gleichgewicht. Er fing sich wieder, indem er sich am Türrahmen festhielt, und schleppte dann seine Last hinein. Wolfe stolperte durch den Gang zur Frontseite des Wohnmobils, kippte nach vorn und legte den bewusstlosen Jacobi auf die Mittelkonsole. Eine Sekunde kauerte er dort auf dem Boden und schnappte nach Luft. »Entweder hast du ein paar Pfund zugenommen oder ich bin in schlechterer Form, als ich dachte.« Wolfe packte ihn wieder, schob ihn auf den Fahrersitz und quetschte seine Beine unter das Lenkrad. »Geschafft!« Wolfe fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Seine Hände in den Plastikhandschuhen waren so verschwitzt wie seine Stirn, aber das musste er jetzt aushalten. Schließlich wollte er nicht das Risiko eingehen, frische Fingerabdrücke zu hinterlassen. Er sah wieder auf seine Uhr. Zwanzig Minuten. Okay. Er hatte alle nötigen Schutzvorkehrungen getroffen. Jetzt blieb nur noch ein letzter kleiner Schritt. Wolfe ging in den Heckbereich des 289
Wohnmobils und holte einen Metallkoffer. Er legte ihn auf den Beifahrersitz, öffnete den Deckel und nahm Jacobis Originalmeteoriten heraus, den er auf dem Schoß seines Partners platzierte. Dann kippte er Jacobi nach vorn. »Hier. Ohne deinen Felsbrocken kannst du nicht eins mit den Engeln werden.« Wolfe hockte sich auf die Konsole und schaute zu, wie sich Jacobis Brust langsam hob und senkte. »Ich wünschte, es hätte nicht so enden müssen, Don, ehrlich. Aber du hast mich in die Ecke getrieben und das ist der sicherste Ausweg. Ich weiß, wir haben eine gute Zeit zusammen gehabt, aber ich habe ein eigenes Schicksal, das ich erfüllen muss.« Er drückte einen Knopf am Armaturenbrett, woraufhin sich die Fenster der Wohnmobilkabine mit einem leisen elektrischen Surren senkten. »Wenn die Cops deinen Computer überprüfen, werden sie eine Menge Material finden. Alle möglichen Dokumente über Selbstmordrituale und Kulte... Heaven’s Gate, der Orden des Sonnentempels. Sie sind alle da drinnen, zusammen mit der Kopie einer E-Mail von mir, in der ich deine geistige Stabilität anzweifle – und deiner Antwort, mit der du mich vom Gelände verbannst. Natürlich wird zu dem Zeitpunkt, an dem die Unterlagen gefunden werden, James Wolfe längst verschwunden sein, als hätte er niemals existiert.« Er sah aus dem Fenster zu den Stiftungsmitgliedern auf dem Boden. »Schade um diese armen Narren. Wenigstens werden sie ihr ›kosmisches Schicksal‹ friedlich im Schlaf erfüllen. Ich hätte Gift statt eines Beruhigungsmittels in diese Bowle geben können, aber ich konnte es nicht über mich bringen, sie zu töten.« Er wandte sich wieder Jacobi zu. »Nein, dafür wirst du verantwortlich sein, Don.« Wolfe legte Jacobis Hand um den Zündschlüssel und drehte ihn. Dröhnend sprang der Motor des Wohnmobils an und pumpte Kohlenmonoxid in die Scheune.
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Clark ging über die Route 5 nach Hause, als er die Old Carter Road erreichte. Seit Jacobis Freiwillige mit dem Sammeln der Meteoriten begonnen hatten, hatte er einen weiten Bogen um das Anwesen der Stiftung gemacht, aber nachdem er mit Lex gesprochen hatte, überlegte er es sich allmählich anders. Chloe würde sagen: »Endlich überlegst du es dir anders.« Clark dämmerte plötzlich, dass er wahrscheinlich der Einzige in der Stadt war, der sowohl ein enger Freund von Chloe Sullivan als auch von Lex Luthor war. Wenn beide Rauch rochen, dann gab es wahrscheinlich auch ein Feuer. Und wenn Lionel Luthor tatsächlich ein größeres Interesse an der Stiftung entwickelt, sollte ich es vielleicht auch tun. Wir alle sollten es tun, sagte er sich. Natürlich, falls Jacobi ein Schwindler sein sollte, war nichts dagegen einzuwenden, dass Lionel ihn entlarvte. Andererseits... andererseits war Stuart Harrison ohne Zweifel geheilt worden. Clark bezweifelte, dass Jacobi wirklich etwas damit zu tun hatte – aber vielleicht war der Meteorit dafür verantwortlich. Im Moment wusste es niemand mit Sicherheit. Aber wenn Lionel Luthor die Stiftung zerstörte, würde es vielleicht nie jemand erfahren. Clark fiel ein, was Chloe in der letzten Woche über die Wunderheilung und die Stiftung gesagt hatte. Ihre Ahnungen sind immer richtig gewesen – manchmal mehr, als ihr klar ist, wurde ihm bewusst. Er spähte die Straße hinunter. Wenn er das Gelände ausspionierte, ohne Chloe mitzunehmen, würde sie es ihm niemals verzeihen. Aber er wollte nicht riskieren, dass sie sah, was die Weltraumsteine ihm antun konnten. Er dachte daran, wie empört Lana gewesen war, weil ihre Tante so viel Zeit auf dem Gelände verbracht und Jacobi eine Menge Geld gegeben hatte. Wenn ich beweisen könnte, dass die Stiftung ein Schwindelunternehmen ist... Clark lächelte. Als Lana noch Cheerleaderin gewesen war, hatte er sich oft vorgestellt, dass er der Kapitän des Footballteams der Smallville High war, der Starspieler, der alle Spiele und 291
schließlich auch ihr Herz gewann. Jacobi zu entlarven würde ihn zwar nicht zu einem Star machen, aber vielleicht würde diese Tat Lana dazu bringen, ihn mehr zu beachten. Und wenn ich etwas Konkretes finde, könnte ich Chloe immer noch sagen, dass meine »Reporterinstinkte« geweckt worden seien, beruhigte er sich selbst. Das kam der Wahrheit nahe genug. Wenn er unschuldig lächelte und es in den gleichen Worten sagte, mit denen sie ihn beschrieben hatte, würde sie nicht lange wütend bleiben. Die Frage war: Was genau wollte er dort finden? Er wusste nicht einmal genau, wonach er suchen sollte. Und das Problem mit den Meteoriten war nicht zu unterschätzen. Clark erinnerte sich nur zu gut, wie krank er sich in der Nacht des Vortrags gefühlt hatte – als würde er im Sterben liegen. Und da hatte er es nur mit einem Weltraumstein zu tun. Wer weiß, wie viele die Stiftung inzwischen gesammelt hatte? Clark trat gegen einen Felsbrocken am Straßenrand. Dieser flog durch die Luft und landete in der Mitte eines Feldes. Es kam ihm alles so hoffnungslos vor. Und sinnlos dazu. War die Stiftung wirklich sein Problem? Nein, sie war es nicht. Er marschierte weiter die Straße hinunter. Ich habe schon jetzt genug unbeantwortete Fragen in meinem Leben!, beruhigte er sein Gewissen. Er folgte der Route 5 weiter, bis er abrupt stehen blieb und fast über seine eigenen Füße stolperte. Ein Satz kam ihm ins Gedächtnis: »Denk einfach nicht dran.« Das war Whitney Fordmans Antwort auf diesen ganzen Schlamassel. Lex war da ganz anderer Ansicht. Was hatte er vor dem Vortrag gesagt? »Alles, was in und um Smallville geschieht, geht mich etwas an.« Clark runzelte die Stirn. Mich geht es auch etwas an. Wofür bin ich gut, wenn ich den Leuten aus meiner Heimatstadt nicht helfen kann?
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Er bedachte seine Optionen. Rund um das Gelände gab es genug Deckung und in Kürze würde es dunkel sein. Wenn er entdeckt würde, könnte er blitzartig verschwinden. »Richtig.« Clark straffte seine Schultern und bog in die Old Carter Road. Es wurde Zeit, dass er die Sache selbst in die Hand nahm. Als Clark noch etwa hundert Meter von dem Gelände entfernt war, entdeckte er einen Wagen, der von der Auffahrt auf die Hauptstraße bog. Der Fahrer sah eine Sekunde in seine Richtung, bevor er den Kopf drehte und in die andere Richtung davonfuhr, weg von Smallville. In der zunehmenden Dämmerung hatte der Mann nicht einmal bemerkt, dass Clark am Straßenrand stand. Aber Clark sah ihn. Nach Chloes Beschreibung nahm er an, dass es Wolfe war. Clark näherte sich vorsichtig dem Gelände und hielt die Augen nach den freiwilligen Sicherheitskräften der Stiftung auf. Er hatte ein Dutzend Entschuldigungen parat, sollte er erwischt werden. Aber niemand begegnete ihm. Das Gelände schien leer zu sein. Das war komisch. Für heute Abend war kein Vortrag angesetzt, aber es musste doch irgendwelche Lebenszeichen geben. Er wusste, dass Stuart nach der Schule hierher kommen wollte. Also musste zumindest er hier sein. Totenstille hing über dem Gelände, als Clark der Auffahrt folgte. Vielleicht sollte ich einfach zur Tür gehen und bitten, mit Stuart sprechen zu dürfen, überlegte er. Stattdessen schlug sich Clark vorsichtig in den Schatten des Farmhauses. Die meisten Vorhänge waren zugezogen und kein Licht war dahinter zu erkennen. Die einzige Lichtquelle auf dem Anwesen stammte von einer Reihe neu installierter Quecksilberdampf-Sicherheitslampen, die rund um das Gelände an Pfosten montiert waren. Das ist eindeutig wie ein Ausflug in die Twilight Zone, dachte Clark, während er konzentriert das Farmhaus anstarrte. Seine Wände wurden für ihn durchsichtig. Er sah ein Gewirr aus Rohren und Kabeln, die 293
durchscheinenden Silhouetten von Balken und Möbeln, fand aber keine Spur von den Bewohnern. Wo steckten sie alle? Als er sich abwandte und die Auffahrt überquerte, hörte Clark ein gedämpftes mechanisches Brummen aus der Scheune und blieb stehen, um zu lauschen. Klang wie eine Art Motor. Vielleicht ein Generator? Er konzentrierte sich erneut. Die Wände der Scheune schienen unter seinem Blick zu schmelzen und er zuckte zusammen bei dem Anblick, der sich ihm bot. Dort, ausgestreckt in der Mitte des Scheunenbodens, nahm er über ein Dutzend menschlicher Skelette wahr. Um sie herum schienen in unregelmäßigen Abständen große Steinbrocken angeordnet zu sein. Das Innere dieser Steine leuchtete so grell, dass es Clark fast die Tränen in die Augen trieb. Hinter dem Kreis stand ein Fahrzeug, groß wie ein Bus. Und Clark dämmerte, dass sein Motor lief. Er blinzelte zweimal und der Röntgenblick verblasste. »He!«, schrie Clark und rannte los. »Kann mich jemand da drinnen hören?« Er hämmerte gegen die metallverstärkte Doppeltür der Scheune. Erst dann bemerkte er die alten Lumpen, die in den Spalt unter der Tür gestopft worden waren, und den schwachen Geruch von Auspuffgasen, die durch die Ritzen drangen. »Oh, mein Gott!« Clark trat einen Schritt zurück und warf sich mit der Schulter gegen die große doppelte Scheunentür. Ein langer Balken, der quer über den Türen hing, splitterte unter diesem Aufprall. Die Türen schwangen weit auf und ein Schwall aus nach Petroleum stinkenden Auspuffgasen schlug ihm entgegen. Clark wusste, dass die Luft außerdem von farblosem, geruchlosem Kohlenmonoxid geschwängert war. Kam er zu spät? Er wich wieder zurück, füllte seine Lunge mit sauberer Luft und rannte in die Scheune. Clark näherte sich dem Meteoritenkreis bis auf wenige Schritte. Dann gaben seine Beine unter ihm nach. Er fiel auf Hände und Knie, und eine Übelkeitswelle drohte seinen Magen 294
zu entleeren. Clark spähte durch das hellgrüne Leuchten und glaubte eine Bewegung zu bemerken. Er schüttelte heftig den Kopf. Bildete er sich das nur ein? Nein! Er blickte wieder hin und sah eine sich hebende und senkende Brust. Der Mann auf dem Boden vor ihm atmete noch immer. Clark schloss den Mund, hielt den Atem an und drängte die Übelkeit zurück. Er zwang sich weiterzukriechen und griff nach dem Meteoriten, der ihm am nächsten war. Er brannte in seinen Fingern. Der Schmerz traf seine Hände, schoss dann weiter durch seine Arme und in seine Brust. Clark konnte jeden einzelnen Nerv fühlen, den der Schmerz passierte. In einer verzweifelten Anstrengung warf er den Stein weit weg von sich. Der Meteorit flog wie eine Kugel durch die Seite der Scheune. Das Licht einer der äußeren Quecksilberdampflampen drang durch das Loch in der Wand. Das zusätzliche Licht fiel auf das Zentrum des Kreises und erhellte die ausgestreckte Gestalt von Stuart Harrison. STUART! Clark sprang auf und sein Absatz verfing sich an irgendetwas. Er stolperte und stürzte fast, konnte sich aber im letzten Moment auf den Beinen halten. Wogegen war er gestoßen? Clark griff nach unten und seine Hand strich über ein Stück des Balkens, der bei seinem gewaltsamen Eindringen zersplittert war. Er packte den Balken und stellte ihn auf ein Ende. Er war von dem einen Ende bis zur gesplitterten Spitze fast ein Meter achtzig lang. Nicht gerade ein Sechs-Meter-Stab, aber es musste genügen! Clark stützte sich auf den Balken und stolperte weiter. Als er sich dem Meteoritenkreis genähert hatte, stellte er sich breitbeinig hin und schwang den Balken. Er traf einen Meteoriten und ließ ihn über den Scheunenboden rutschen. Clark lächelte grimmig durch die zusammengebissenen Zähne, ging um den Kreis herum und schleuderte die Meteoriten nach und nach fort. Während die 295
leuchtenden Steine in die gegenüberliegenden Ecken der Scheune flogen, spürte er, wie seine Kräfte zurückkehrten. Aber seine Brust brannte. Er wusste, so geschwächt, wie er war, würde die Luft in seiner Lunge nicht mehr lange reichen. Er musste diesen Motor abstellen! Clark warf den Balken weg und rannte halb durch die offene Tür des Wohnmobils. Dort, am Frontende der Kabine, sah er Donald Jacobi über dem Lenkrad liegen. Jacobis Gesicht war in weiches grünes Licht getaucht. Clark fuhr herum, hielt sich am Türrahmen fest und übergab sich explosionsartig. Das Wohnmobil schüttelte sich mit ihm. Würgend und nach Luft schnappend, straffte Clark sich und drehte sich wieder um. Er spürte, wie er mit jedem mühsamen Schritt schwächer wurde. Seine Beine gaben wieder unter ihm nach und er fiel nach vorn und schlug mit dem Kinn auf die Mittelkonsole. Er stieg über die Konsole und spürte die Vibrationen des Motors unter seinen Füßen. Muss weitermachen. Kann jetzt nicht aufhören! Clark hielt sich am Lenkrad fest und zog sich auf die Konsole. Der Meteorit war jetzt nur Zentimeter von seinem Kopf entfernt. An Clarks Stirn traten grünschwarze Adern hervor. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Er kniete auf der Konsole und riss den Meteoriten aus Jacobis Schoß, aber sein Schwung raubte ihm das Gleichgewicht. Er kippte nach hinten in den Beifahrersitz und prallte mit dem Kopf gegen einen harten Metallkoffer. Der Meteorit fiel schwer auf Clarks Brust. Seine Lunge fing an zu brennen, als würde sie in Flammen stehen. Clark richtete sich mühsam auf, und der Koffer fiel auf den Boden und rutschte unter das Armaturenbrett. Clark drehte den Kopf, sah den Koffer im Licht des Meteoriten und verfluchte sich, weil er ihn übersehen hatte. Hätte er ihn vorher entdeckt, hätte er den Meteoriten hineinwerfen und sich retten können. Jetzt war es dafür zu spät. 296
Der Meteorit wog nur ein paar Pfund, aber für Clark fühlte er sich wie eine halbe Tonne an. Verzweifelt packte er die Seiten des Steines und wuchtete ihn hoch. Langsam hob er ihn in die Höhe... erst zwei Zentimeter, dann vier. Die Muskeln in seinen Armen fühlten sich an, als würden sie von den Knochen reißen. Sein Puls donnerte in seinen Ohren. Und dann, aufbrüllend wie ein verwundeter Bär, schleuderte Clark den Meteoriten von sich. Der Stein segelte über Jacobis Kopf durch das offene Fenster an der Fahrerseite und in die dahinter liegende Scheune. Clark kroch mühsam über die Konsole. Er fühlte sich etwas stärker, nachdem der Meteorit beseitigt war, aber sein Blickfeld verschwamm und seine Lunge schmerzte noch immer. Er brauchte Luft, und zwar schnell. Clark hielt sich am Schaltknüppel fest, legte den Gang ein, schob Jacobi dann beiseite und trat auf das Gaspedal. Das Wohnmobil machte einen Satz nach vorn und prallte gegen die Rückwand der Scheune. Das Sicherheitsglas der Windschutzscheibe zersplitterte, als das Fahrzeug durch die Wand brach und auf das Gelände rollte. Clark stellte den Motor ab, trat hart auf die Bremse und brachte das Wohnmobil nach ein paar Metern zum Stehen. Dann blieb er einfach sitzen und atmete die kühle, saubere Luft tief ein. Sobald sein Kopf wieder klar war, überprüfte er hastig Jacobis Puls. »Okay, Sie werden überleben.« Clark stand auf und ließ Jacobi in seinen Sitz zurücksinken. Ich bin mir nicht sicher, ob du es verdienst, aber darüber soll sich ein Richter den Kopf zerbrechen, stellte er fest. Er zog die Schlüssel aus dem Zündschloss, verließ das Wohnmobil und füllte erneut seine Lunge mit frischer Luft. Clarks Kräfte kehrten nun immer mehr zurück. Er warf die Schlüssel unter das Wohnmobil und wandte sich zur Scheune. Jetzt, da sie an beiden Seiten offen war, sollte der Wind sehr schnell für frische Luft im Innern 297
sorgen. Und die Meteoriten sollten weit genug weg sein, sodass er nachsehen konnte, wer von den Menschen da drinnen erste Hilfe brauchte. Es würde alles gut werden. In diesem Moment ging die Scheune in Flammen auf.
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17 MEHRERE KILOMETER ENTFERNT blickte Wolfe auf die Uhr am Armaturenbrett. Die Straße war frei, aber er hatte sich dennoch gezwungen, ein paar Stundenkilometer unter der Höchstgeschwindigkeit zu bleiben. Jetzt gab er reflexartig etwas mehr Gas. Doch augenblicklich nahm Wolfe den Fuß wieder vom Gaspedal und fuhr mit gemäßigter Geschwindigkeit weiter. Er wollte nicht auffallen und es gab jetzt keinen Grund mehr zur Eile. Seine kleinen »Schutzvorkehrungen« – zwei kleine Brandbomben, die er in den Dachsparren versteckt hatte – mussten jetzt jeden Moment explodieren. Er hatte die Zeitzünder per Fernsteuerung aktiviert, bevor er das Gelände verlassen hatte. Clark wusste davon natürlich nichts. Er hatte gerade das gedämpfte Krachen gehört, mit dem die Brandbomben explodiert waren, und verfolgte nun entsetzt, wie das Feuer durch den oberen Teil der Scheune raste. Clark stürzte in das Gebäude, warf sich zwei der bewusstlosen Leute über seine Schulter und rannte mit ihnen aus dem brennenden Gebäude. Er legte sie, so sanft er konnte, auf den Boden und rannte in die Scheune zurück, um zwei weitere zu holen. Als Clark das dritte Mal in die Scheune stürmte, war er etwas langsamer geworden. Beim vierten Mal atmete er schwer. Bei der fünften Rettungsrunde keuchte Clark unter seiner Last. Es sind die Meteoriten, dämmerte ihm. Es sind so viele von ihnen hier, dass ich jedes Mal mehr verstrahlt werde. Aber ich muss weitermachen! Flammende Trümmer regneten von den Dachsparren herunter, als er sich das sechste Mal hineinwagte, und er konnte nur mit Mühe verhindern, dass die schlaffen Opfer von seinen Schultern rutschten. Komm schon, Kent, du schaffst es! Nur noch ein letztes Mal!, feuerte er sich an. 299
Seine Füße fühlten sich wie Bleiklötze an, als er über den Betonboden der Scheune stolperte. Um ihn herum brausten die Flammen. Der letzte Bewusstlose lag nur ein paar Schritte entfernt, doch als sich Clark zu der reglosen Gestalt schleppte, gelang es ihm nur mit knapper Not, sich auf den Beinen zu halten. Komm schon... Nur... noch... einer!, versuchte er sich Mut zu machen. Clark packte den Mann, konnte ihn aber nicht hochheben. Es war, als würde er fünfzig Tonnen wiegen. Was war los? Er zerrte verzweifelt an der Jacke des Mannes, um ihn vom Fleck zu bewegen. Während er zog, riss die Seitentasche der Jacke auf und ein faustgroßer Brocken aus grün leuchtendem Gestein rollte heraus. Clark versuchte ihn wegzutreten, doch er war schon zu schwach. Der Stein rollte nur einen knappen Meter weit. Clark packte den Mann erneut, diesmal am Arm, und zerrte ihn langsam aus dem flammenden Inferno. Zentimeter für Zentimeter zog er ihn mühsam nach draußen. Mit jedem Schritt, den er sich von dem grünen Stein entfernte, wurde es ein wenig leichter für ihn. Drei Meter von den offenen Türen entfernt, fühlte sich Clark endlich stark genug, um seine Last zu schultern. Als er sich bückte, um den Mann hochzuheben, hörte er von oben ein schreckliches Krachen. Sein Blick ging zur Decke. Ein brennender Balken fiel direkt auf ihn herab.
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18 ALS JAMES WOLFE DAS COUNTY HALB DURCHQUERT HATTE und über eine abgelegene Landstraße nach Süden fuhr, ließ er das Fernlicht aufblitzen. Er schaltete das Radio ein und hörte die letzten Takte eines Songs der Dave Clark Five. Wolfe öffnete einen Spalt weit das Seitenfenster, atmete tief die süße Landluft ein, behielt sie einen Moment in der Lunge und stieß sie langsam wieder aus. »Yipee! Gott, ich war nicht sicher, ob ich wirklich damit durchkomme, aber ich habe es geschafft. Ich kann nicht fassen, dass ich endlich frei bin!« Wolfe sah die Tasche an, die neben ihm auf dem Sitz lag, und tätschelte sie zärtlich. Sie enthielt die Einnahmen des vergangenen Wochenendes und das Geld, das er in den letzten vierundzwanzig Stunden aus dem Baufonds des Instituts genommen hatte. Nicht, dass es keinen Spaß gemacht hat, Don. Aber nach allem, was ich wegen dir in diesem letzten Monat durchgemacht habe, werde ich allein viel mehr Spaß haben!, sprach er im Geist mit seinem ehemaligen Partner. Er wusste, dass es nicht einfach sein würde, all das Bargeld aus dem Land zu bringen. Die Grenzkontrollen waren in den letzten Jahren verschärft worden. Er würde das Geld auf eine Reihe von Konten einzahlen und es dann nach und nach überweisen müssen. Auf diese Weise konnte er jedes Aufsehen vermeiden. Aber darüber konnte er sich morgen noch den Kopf zerbrechen. Im Moment hatte er keinerlei Sorgen. Clark riss die Hände hoch und fing den dicken Holzbalken auf. Das Gewicht des fallenden Balkens zwang ihn in die Knie, aber er blieb stehen. Flammen umzüngelten Clarks Hände, als er sich mühsam wieder aufrichtete. Einen Moment lang hielt er 301
den Balken hoch über seinen Kopf. Er senkte ihn, sammelte seine Kräfte und warf ihn dann in das brennende Gebäude. Er durchschlug eine Wand, als Clark den bewusstlosen Mann hochhob und mit ihm aus der Scheune rannte. Draußen auf dem weichen, kühlen Gras, weit entfernt von dem prasselnden Scheiterhaufen, der einst die Scheune der Davis-Familie gewesen war, rannte Clark von einer Gestalt zur anderen und suchte nach Lebenszeichen. Alle lebten und atmeten aus eigener Kraft, doch er konnte keinen von ihnen aufwecken. Erst als sich Clark über Stuart Harrison beugte, bemerkte er eine Reaktion. »Stuart? Kannst du mich hören?« »Hm? Ja...« Stuart starrte ihn an und verdrehte die Augen. »Bleib bei mir, Stu! Was ist passiert?« »Drogen...« »Jemand hat dich unter Drogen gesetzt? Wer? War es Jacobi?« »Nein... nicht der Doc... er wurde... auch betäubt...« »Wer hat es dann getan? Wer hat ihn unter Drogen gesetzt?« »Wolfe...« »Wolfe? Jacobis Partner?« Clark fiel wieder ein, dass er den Mann mit dem Auto das Gelände verlassen gesehen hatte. »Bist du sicher?« »Er hat... die Bowle verteilt.« Stuart blickte verwirrt drein, als versuchte er, sich an etwas zu erinnern, das schon vor langer Zeit passiert war. »Ich... habe nicht so viel getrunken... wie die anderen. Sah Wolfe... noch immer stehen...« Er sank wieder in tiefen Schlaf. Clark richtete sich auf. Sein Schatten fiel auf den Boden, während hinter ihm das Feuer hochloderte. Wolfe war also der Übeltäter? Er wusste, dass die Old Carter Road weitere dreißig Kilometer nach Westen führte, bis sie in den Cimarron Pike mündete. Clark sah auf seine Armbanduhr. Um diese Zeit
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herrschte nicht viel Verkehr. Inzwischen konnte er schon auf halbem Weg nach Oklahoma sein. Sirenen heulten in der Ferne und Clark drehte sich um und sah, wie sich von Osten eine lange Reihe flackernder Blaulichter näherte. Wieder musterte er die bewusstlosen Gestalten. Hier kann ich nicht mehr viel tun. Aber wenn ich jetzt losrenne... Noch während er darüber nachdachte, lief Clark schon in westlicher Richtung über das Gelände und verschwand in der Dunkelheit der Nacht. Als der Empfang des Radiosenders schwächer wurde, streckte Wolfe die Hand aus und drehte an der Einstellskala. Er bekam zwei Landsender und einen Gospelchor herein und lauschte kurz dem Kommentator eines fernen Footballspiels, bevor er aufgab und auf UKW umschaltete. Dort hörte er Michael Nesmith, der über einen Flug nach Rio sang. »Rio! Rio am Meer!« Wolfe lachte nervös. Ja, das klingt gut, Alter, aber ich denke, ich werde mir einen Ort aussuchen, der weniger überlaufen ist... irgendeinen Ort, wo mich niemand beachten wird. Es war eine Weile her, seit er das Meer gesehen hatte. Er konnte in Corpus Christi ein Schiff nehmen und dann die Golfküste hinunterfahren oder sich in die Karibik absetzen. Ja, vielleicht fand sich eine kleine Insel, wo... »Hä?!« Dreißig Meter vor ihm schien eine Gestalt aus dem Nichts aufzutauchen. Clark stand mitten auf der rechten Spur und hielt eine Hand hoch. »ANHALTEN!« Sein Schrei war laut genug, um das Plärren des Autoradios zu übertönen. »Verdammt dumme Art, den Anhalter zu spielen!« Wolfe riss das Lenkrad scharf herum und scherte auf die linke Spur aus. »Aber eine verdammt gute Art, sich umzubringen!« Verärgert trat er aufs Gas und raste mit über hundert Kilometern pro Stunde an ihm vorbei. »Verrückter junger Schwachkopf...!« Er sah über seine Schulter zurück. 303
Die Straße hinter Wolfe war bereits leer. Es war nicht so, dass der Junge in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Es schien eher, als wäre er verschwunden. Wolfe schüttelte den Kopf. Nur eine optische Täuschung in der Nacht! Bei der Geschwindigkeit, mit der er jetzt fuhr, hatte er nur einen kurzen Blick auf die Gestalt erhascht. Aber Wolfe hatte den Eindruck, diesen Jungen schon einmal gesehen zu haben. Wo war es noch gleich gewesen...? Clark trat wieder aus der Dunkelheit. Diesmal stand er mitten auf der Straße, nicht einmal zwanzig Meter von dem heranrasenden Wagen entfernt. Wolfe ließ die Lichthupe aufblitzen, aber der Junge rührte sich nicht von der Stelle. Wieder hob er seine Hand. »Ich sagte ANHALTEN! Das Spiel ist AUS!« Wolfe trat auf die Bremse und die Limousine geriet mit quietschenden Reifen ins Schleudern. Während er sich an das Lenkrad klammerte und versuchte, den Wagen unter Kontrolle zu bringen, traf der linke vordere Kotflügel den Jungen. Er wurde nach hinten über die Straße und in ein Feld geschleudert. Das rechte Vorderrad rutschte von der Straße und rammte die Betonflügelmauer eines unterirdischen Abwasserkanals. Der Wagen kam abrupt zum Stehen. Die Airbags bliesen sich auf und drückten Wolfe hart in seinen Sitz. Der Schwindler hielt sich die Brust und schnappte nach Luft. Er zerrte an dem schnell schrumpfenden Airbag, während er versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. »Verdammter Kerl... muss einen Zwilling haben.« Wolfe legte den Rückwärtsgang ein und gab etwas Gas. Zentimeterweise entfernte er sich von dem Abwasserkanal. Er legte den ersten Gang ein und überprüfte das Lenkrad – alles funktionierte einwandfrei. Er konnte noch immer entkommen. Und er musste jetzt wirklich von hier verschwinden, bevor irgendjemand vorbeikam und die Leiche des Jungen fand. 304
Doch dann tauchte der Junge wieder aus dem Feld auf. Lebend und unversehrt. Er marschierte direkt auf den Wagen zu. Wolfe sah sich voller Panik um. Seine Scheinwerfer enthüllten rechts von ihm eine schmale, alte Schotterstraße. Er riss das Lenkrad hart herum und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Die Limousine schoss die Nebenstraße hinunter. Ihre Räder wirbelten den Kies auf und spuckten ihn auf die Hauptstraße. Aber der Kies traf nur Asphalt. Clark war bereits verschwunden. »Das ist verrückt!« Schweiß trat auf Wolfes Stirn. »Es kann nicht sein! Wer war dieser Junge? Wie...?« Dann fiel es ihm ein. Er war einer der vier, die geholfen hatten, den HarrisonJungen wegzutragen. Clark trat mitten auf die Schotterstraße, nur vier Meter entfernt. »SIE KÖNNEN NICHT ENTKOMMEN!« »Es ist ein Trick! Es muss einer sein!« Wolfe knirschte mit den Zähnen, als sich seine Panik in Wut verwandelte. »Du willst spielen? Okay!« Er trat das Gaspedal bis zum Boden durch und der Wagen raste direkt auf den Jungen zu. »Du Idiot! NEIN...!« Einen Sekundenbruchteil vor dem Aufprall sprang Clark drei Meter in die Höhe. Der Wagen raste unter ihm vorbei. Wolfe sah geschockt zurück. Er bemerkte nicht, dass die Straße direkt vor ihm an einer Kreuzung endete. Der Wagen schoss von der Straße. Seine Vorderräder prallten vom Rand eines Grabens ab und verloren für etwa sieben Meter die Bodenhaftung. Schließlich wurde das fliegende Auto von einer alten Eiche gestoppt. Wolfe hatte sich nicht angeschnallt. Da die Airbags des Wagens bereits zusammengeschrumpft waren, wurde Wolfe durch die Windschutzscheibe 305
geschleudert, deren Sicherheitsglas in einem Schauer kleiner Brocken nach außen explodierte. Er landete hart, mit dem Kopf zuerst, in dem Feld hinter dem Baum. Seine Tasche landete nur ein paar Schritte entfernt neben ihm. Hinter ihm durchlief ein letzter mechanischer Schauder den Wagen, dann ging er in Flammen auf. Feuer leckte am Baum hinauf und verwandelte ihn in eine Fackel, die kilometerweit zu sehen war. Clark erreichte die reglose Gestalt Sekunden später. Sein Röntgenblick bestätigte, was er bereits vermutet hatte. Es war zu spät, um James Wolfe zu retten. »Warum...?« Er stand dort und schüttelte den Kopf. Wieder hörte er in der Ferne näher kommende Sirenen. Clark trat in das Feld zurück und verschwand in der Nacht.
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19 »HIER IST K-T-O-W... SMALLVILLE! Die Nachrichtenstimme von Lowell County!« »Es ist sechs nach sieben. Ich bin Paul Treadwell und das sind die Geschichten, über die wir an diesem Mittwochmorgen berichten. Vierzehn Mitglieder der Aufstiegs-Stiftung entgingen gestern Abend nur mit knapper Not dem Tod, als eine Scheune auf dem Carter-Road-Gelände Feuer fing. Unter jenen, die den Flammen entkamen, befindet sich Doktor Donald Jacobi, ein Gründer der Organisation. Es gab keine Todesfälle. Die Rettungssanitäter am Brandort berichteten, dass die vierzehn Überlebenden nach dem Vorfall benommen und verwirrt waren. Sie wurden wegen Rauchvergiftung behandelt und ins Smallville Medical Center gebracht, wo bei allen eine Kohlenmonoxidvergiftung festgestellt wurde. Fünf Mitglieder wurden in kritischem Zustand eingeliefert und später ins Metropolis General verlegt. Die Namen der Geretteten wurden noch nicht veröffentlicht. Die Geretteten konnten sich nicht erinnern, wie sie aus der brennenden Scheune entkommen waren. Laut den örtlichen Behörden ergaben die vorläufigen medizinischen Untersuchungen, dass die Stiftungs-Mitglieder alle mit einem rezeptfreien Beruhigungsmittel betäubt worden waren. Drei Feuerwehrzüge wurden zum Brandort gerufen, wo sie die ganze Nacht gegen das Feuer kämpften. Feuerwehrhauptmann William Kone nannte die Scheune einen Totalverlust. Im Zusammenhang mit diesem Vorfall steht möglicherweise ein Autobrand, der sich laut der State Police gestern Abend im Südwesten des Countys ereignet hat. Dort wurde die Leiche des Stiftungsmitbegründers James Wolfe nur wenige Meter 307
entfernt von dem brennenden Wrack einer Limousine in einem Feld entdeckt. Das Fahrzeug soll auf den Namen eines anderen Stiftungsmitglieds registriert sein. State Police Sergeant Jack Rodrigues berichtete, dass Wolfe offenbar mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist und am alten Stringtown Pike aus der Kurve geschleudert wurde. Die State Police glaubt, dass es vermutlich zwischen den beiden Bränden eine Verbindung gibt. Eine Untersuchung wurde eingeleitet...« Jonathan Kent griff über die Küchenanrichte und schaltete das Radio aus. Er und Martha sahen Clark an, der am Tisch saß und die Cornflakes in seiner Schüssel mit einem Löffel zerdrückte. »Wenn du so weitermachst, Sohn, wirst du gleich nur noch Mus haben.« »Ich bin sowieso nicht besonders hungrig.« Clark schob die Schüssel beiseite. Martha legte ihre Hände auf seine Schultern. »Schatz, wir wissen, wie aufgewühlt du bist...« »Ich wollte nicht, dass es auf diese Weise endet, Mom. Ich wollte ihn aufhalten.« Clark legte seine Ellbogen auf den Tisch und faltete die Hände. »Ich wollte nicht, dass er stirbt.« Jonathan setzte sich Clark gegenüber an den Tisch. »Das wissen wir, Sohn. Aber du hast gestern Nacht vierzehn Leben gerettet. Denk lieber darüber nach.« »Das habe ich, aber... wenn ich nur etwas schneller reagiert hätte...« »Clark, dieser Irre hat dich mit seinem Wagen angefahren! Und dann hat er noch einmal versucht, dich zu überfahren. Er hat diese Leute betäubt und zum Sterben zurückgelassen – sie wären gestorben, wenn du nicht dein Leben riskiert hättest, um sie zu retten.« »Clark, was haben wir dir immer gesagt?« Martha setzte sich neben ihn. »Du kannst nicht jeden retten. Selbst mit deinen 308
übermenschlichen Kräften kannst du nicht Unmögliches vollbringen.« »Ich weiß, aber...« »Sohn, wir alle wollen perfekt sein, aber manchmal – trotz all unserer Anstrengungen – sind wir es einfach nicht.« Jonathan sah Clark in die Augen, wie er es immer tat, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hatte. »Manchmal unterschreiben Leute ihr eigenes Todesurteil.« »Ich glaube, du hast Recht, Dad. Aber mir gefällt es trotzdem nicht.“ »Niemand gefällt so etwas.« »Es ist bloß... es war alles so zufällig. Ich wäre niemals zum Gelände gegangen, wenn ich Lex nicht getroffen hätte. Und wäre er nicht im Talon gewesen... wären all diese Menschen gestorben.« »Gute Dinge können ohne Grund passieren, Sohn, genau wie die schlechten.« »Ja, vermutlich...« »Außerdem, wie zufällig war es wirklich?« Martha suchte seinen Blick. »Du gehst ständig ins Talon, seit Lana es wieder eröffnet hat. Und Lex gehört ein Anteil an dem Lokal, deshalb ist er auch oft dort.« Sie sah zu Jonathan hinüber. »Man muss Lex zugestehen, dass er sich um seine Geschäfte kümmert.« »Das... ist richtig.« Jonathan nickte. »Dass du mit Lex gesprochen hast, war kein völliger Zufall.« »Und sobald du das Gelände erreicht hattest, gab es überhaupt keine Zufälle mehr.« Martha nahm Clarks Hand. »Du hast so gehandelt, wie ich es von dir erwartet hätte. Obwohl es fast unmöglich war, hast du all diese Leute gerettet. Wir sind sehr, sehr stolz auf dich.« »Das sind wir, Sohn.« Jonathan zögerte. Es fiel ihm schwer, den nächsten Satz zu sagen. »Und wenn ein Gespräch mit Lex zur Rettung dieser Leute geführt hat, dann... bin ich froh, dass
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ihr Freunde seid. Ich hoffe, er gibt dir nie einen Grund, diese Freundschaft zu bereuen.« »Dad...« »Ich möchte nicht, dass du verletzt wirst, Clark. Lex versucht seit zwei Jahrzehnten, ein Luthor zu sein, und die Chancen stehen gut, dass er es schafft. Ich will nur, dass du vorsichtig bist.« »Ich werde mein Bestes tun.« »Tu das, mein Sohn.« »Ja. Das ist alles, was wir verlangen, Schatz.« Clark lächelte seine Eltern an. »Wisst ihr, ich denke oft an den Tag, an dem ihr mich gefunden habt.« Sein Gesicht bekam einen wehmütigen Ausdruck. »Ich weiß, dass es völlig unmöglich ist... aber manchmal wünsche ich mir, dass ihr auch Lex hättet adoptieren können.« Martha sah Jonathan mit einer Träne im Auge an. Jonathan senkte den Blick und starrte seine Hände an. »Manchmal, Clark, wünsche ich mir das auch.« In einem Hubschrauber hoch über Metropolis blätterte Lionel Luthor mit grimmiger Befriedigung in seiner Zeitung. »Interessanter Artikel in der neuesten Ausgabe des Daily Planet, Damian.« »Tatsächlich, Sir?« »Ja. Die State Police hat James Wolfe mit dem Feuer in Verbindung bringen können, das vorgestern in Lowell County ausgebrochen ist. Offenbar wurde es durch eine Brandbombe ausgelöst und von dem Zeitzünder sind genug Teile übrig geblieben, um sie zu einer Quittung mit seinem Namen drauf zurückzuverfolgen.« Lionel wies auf den entsprechenden Absatz. »Und eine namentlich nicht genannte Bundesquelle hat bestätigt, dass Wolfe bereits in seiner Jugend wegen Brandstiftung verurteilt wurde. Offenbar hatte er eine sehr dunkle Vergangenheit.« 310
»Kaum vorstellbar.« Damian sah scheinbar unberührt aus dem Fenster. »Es hat sogar eine ganze Reihe von Enthüllungen über diese Aufstiegs-Stiftung gegeben. All das Geld und die Papiere, die bei dem verstorbenen Mr. Wolfe gefunden wurden, und die Informationen, die man aus den Stiftungscomputern entnommen hat, haben das Büro des Generalstaatsanwalts dazu veranlasst, ein Verfahren gegen den guten Dr. Jacobi einzuleiten. Er wird ein sehr beschäftigter Mann sein, wenn er aus dem Metropolis General kommt. Hier nennen sie ihn einen Schwindler.« »Man kann niemand mehr vertrauen.« Damian knackte mit den Fingerknöcheln. »Was schreiben sie über diesen Jungen, den er angeblich gerettet hat?« »Der junge Stuart Harrison? Sein Hausarzt wird hier – ziemlich ausführlich – über diese ›Heilung‹ interviewt. Er bezeichnet sie als schlichten Fall von spontaner Regression. Und die Harrison-Familie scheint das jetzt zu akzeptieren. Was nicht überraschend ist, wenn man bedenkt, dass ihr Sohn einer der Überlebenden dieses Feuers war.« Lionel faltete die Zeitung zusammen und schlug mit ihr auf sein Knie. »Jedenfalls scheint es so zu sein, dass das Land, das ich haben will, bald wieder auf dem freien Markt erhältlich sein wird. Gute Arbeit, eh?« Damian sah seinen Arbeitgeber an. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Mr. L. Ich habe nichts getan.« »Natürlich haben Sie nichts getan, Damian.« Lionel lächelte. »Keiner von uns hat etwas getan.« »Erde an Clark. Bitte kommen, Clark.« »Ich kann dich hören, Pete.« Clark lehnte sich an seinen Spind.
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»Ich würde dir ja glauben, wenn du aufhören würdest, ein Loch in diese Wand zu starren. Mann, du bist schon die ganze Woche so geistesabwesend.« »Ich war ziemlich beschäftigt.« »Nun, das musst du mir nicht sagen. Ich kenne dich fast dein ganzes Leben lang.« Pete folgte Clarks Blick, als Lana und Whitney um die Ecke bogen. »Oh.« Clark fand, dass Lana ein wenig beunruhigt aussah, aber bei weitem nicht mehr so aufgelöst wie in der letzten Woche. Whitney andererseits sah so glücklich aus wie noch nie. »Ross! Kent! Wie geht’s?« »Es geht so, Whitney.« Pete versuchte sich nichts anmerken zu lassen, aber er wusste, was Clark dachte: Sie haben sich vertragen. Wieder einmal. »Sag mal, Whit...«, wandte sich Pete an den Quarterback. »Wie stehen deiner Meinung nach die Chancen für die Monarchs dieses Jahr? Glaubst du, sie können den Pokal gewinnen?« »Gute Frage. Talbots Arm sah beim Training hervorragend aus. Beim Schlagen sind sie ziemlich gut. Aber viel hängt davon ab, wie sie beim Fangen sind...« Während sein Kumpel Whitney in eine Diskussion über Sport verwickelte, nutzte Clark die Gelegenheit, um ein paar Worte mit Lana zu wechseln. Er senkte seine Stimme. »Nun... wie läuft’s an der Heimatfront?« »Viel besser. Nell hat den Großteil ihres Geldes zurückbekommen und tut jetzt so, als hätte sie nie jemand namens Donald Jacobi gekannt.« Lana lächelte verlegen. »Ich verstehe jetzt endlich, wie sinnvoll Whitneys Rat war, sie einfach zu ignorieren. Ich möchte dir danken, weil du mir geholfen hast, die Sache richtig einzuschätzen, Clark.« »Oh... nun...« Er lächelte matt. »Dafür bin ich gut, schätze ich.« »He, Leute!« 312
Alle drehten sich um und sahen, wie Stuart ihnen vom Ende des Korridors aus zuwinkte. »Stu! Du bist so früh wieder zurück?« Whitney schlug ihm auf den Rücken. »Ich dachte, dein Arzt hätte dir geraten, es langsam angehen zu lassen.« »Das hat er. Und ich halte mich an seinen Rat.« Stuart grinste zurück. »Aber Doc Manning meinte, ich könnte vorbeischauen, um meine Bücher und ein paar Hausaufgaben abzuholen. Ich brauche gute Zensuren, verstehst du?« »Ah, du schaffst das schon! Wenn du das große K besiegt hast, kannst du alles besiegen!« Whitney konnte es sich leisten, großzügig zu sein. Seine Beziehung zu Lana war fest wie nie zuvor und so musste er in Stuart keinen Rivalen mehr sehen. Er gab seinem Kumpel einen Rippenstoß. »He, hast du noch immer vor, ein New-Age-Prediger zu werden?« »Bitte!« Stuart verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Es war wirklich eine lange, seltsame Reise. Aber wenigstens werde ich jetzt nicht früher sterben als ihr.« »Lass ihn in Ruhe, Whitney.« Pete war selbst überrascht, dass er den Oberstufenschüler rügte. »Als hättest du dich viel anders verhalten, wenn du auf wundersame Weise geheilt worden wärest.« »Ja, Ford-Man.« Stuart versetzte ihm ebenfalls einen Rippenstoß. »Du hättest die Show wahrscheinlich übernommen und selbst weitergeführt. Ich weiß, wie sehr du es hasst, jemand anders den Quarterback spielen zu lassen.« Pete warf sich in die Brust. »Treffer, Treffer. Halleluja, Bruder!« Stuart johlte und sogar Whitney musste lachen. Clark sah zu Lana hinüber. Er bemerkte, dass sie sehr still und geistesabwesend geworden war. »Lana? Ist alles in Ordnung?«
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»Stimmt was nicht, Süße?« Sofort fuhr Whitney besorgt zu ihr herum. »Ich weiß, wir sollten wahrscheinlich über diese Sache keine Witze machen.« Lana blickte zu ihm auf. »Oh – warum nicht?« »Was?« Mit einer derartigen Antwort hatte Whitney offenbar nicht gerechnet. »Du bist nicht sauer?« »Nein, ich war bloß... mit den Gedanken woanders. Es hat in der letzten Zeit in unserem Leben so viel Wahnsinn gegeben, über den wir keine Kontrolle hatten. Wir mussten entweder lachen oder weinen, und geweint haben wir schon genug. Ich denke, in derartigen Zeiten sollten wir alle mehr lachen.« »Das ist eine großartige Betrachtungsweise, Lana.« Stuart wandte sich an Whitney. »Du bist ein glücklicher Hundesohn, weißt du das?« Ja. Clark lehnte sich an die Spinde. Wem sagst du das? »Hör mal, Clark... ich muss mich noch bei dir bedanken.« Stuart schüttelte Clarks Hand. »Du warst für mich da, als ich dich wirklich gebraucht habe.« »War ich das?« Clark räusperte sich verlegen. »Bei dem Feuer auf dem Gelände... oder vielleicht danach. Ich weiß nicht genau, ich war ziemlich groggy. Ich habe versucht, den Überblick zu bewahren. Und ich glaubte deine Stimme gehört zu haben. Du hast mich gefragt, was passiert ist. Ich glaube, das muss mir irgendwie geholfen haben, die Sache zu überstehen.« »Ah.« Innerlich stieß Clark einen erleichterten Seufzer aus. »Nun... keine Ursache.« »Stuart...?« Eine Spur von Zögern war in Lanas Stimme, als würde sie es nur ungern zur Sprache bringen. »Wird es noch Probleme geben... mit deinen Arztrechnungen? Ich meine, bei all den Anklagen, die gegen Jacobi erhoben werden...« »Nein, in der Hinsicht besteht kein Grund zur Sorge. Diese Rechnungen wurden alle vor einer Woche beglichen. Natürlich müssen meine Eltern noch immer eine neue Versicherung 314
finden, aber sie sind nicht die Einzigen in diesem Boot. Und wenigstens sind wir jetzt alle gesund.« Er tippte sich an den Kopf. »Dreimal auf Holz klopfen.« »Oh. Gut. Das freut mich.« »Bist du sicher?« Stuart sah sie an. »Du klingst nicht besonders erfreut.« »Nein, ich freue mich. Ehrlich. Es ist gut, dass du keine Wohltätigkeitsveranstaltung brauchst. Es ist nur so...« Lana wurde rot und gleichzeitig verlegen. »Oh, das wird schrecklich klingen! Es gab so wenig, das wir tun konnten, und die Planung dieses Konzerts war das Einzige, das wir unter Kontrolle hatten – und selbst das wurde uns weggenommen.« Whitney schlug die Hände zusammen. »Dann hol’s dir doch zurück!« »Was?« »Das Wohltätigkeitskonzert war eine gute Idee. Veranstalte es einfach. Es muss doch hier irgendjemanden geben, der die Hilfe gebrauchen kann.« Whitney überlegte einen Moment und fuhr dann fort: »Stu, du hast erwähnt, dass es ein Problem ist, eine gute Krankenversicherung zu finden. Vielleicht könnte das Konzert Geld für eine Art Lokalfonds einbringen. Wir könnten es als Nonprofitunternehmen deklarieren.« »Ja!« Lana schlang ihre Arme um Whitney. »Was für eine tolle Idee!« Stu schlug ihm auf den Rücken. »Ford-Man, du bist ein Genie!« Pete nickte mit widerwilligem Respekt. »Wirklich gut, Whitney.« »Ja.« Clark lächelte gezwungen. Stuart schüttelte den Kopf. »Warum ist mir das nicht eingefallen?« »He, das wäre es...« Whitney tätschelte den Kopf seines Kumpels. »... wenn du ein Gehirn hättest!«
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Stuart und Whitney wechselten ein paar spielerische Boxhiebe, dann löste sich die Gruppe auf. Stuart ging los, um sich mit seinen Lehrern zu besprechen. Lana verschwand – Arm in Arm mit Whitney –, um neue Pläne zu schmieden. Und Clark lehnte sich an die Wand und blickte deprimiert ins Leere. Pete trat zu seinem Freund. »Spontan würde ich sagen, dass du sauer bist, weil nicht du den großen Konzertvorschlag gemacht hast.« »Was für eine brillante Schlussfolgerung, Holmes.« Clark schulterte seine Büchertasche und wandte sich ab. Pete folgte ihm. »Schlimmer noch, ich denke, wenn du nicht wegen Lana und Whitney sauer gewesen wärst, hättest du zuerst die Idee gehabt.« »Wow. Und manche Leute sagen, dass ich scharfsinnig bin.« »He, da ich der jüngste Sprössling einer kinderreichen Familie bin, habe ich alles schon mal gesehen.« Pete versuchte, nicht zu selbstgefällig dreinzuschauen. »Die Trennungen, die gebrochenen Herzen, das Gefühl, dass in der ganzen Weltgeschichte niemand so dumm gewesen sein konnte...« »Das habe ich gehört.« »Clark, ich habe die Strategien gesehen, die funktionieren, und die, die versagen, und auch die, die den Spieß umdrehen und dich in den Hintern beißen.« Clark blieb stehen und drehte sich zu Pete um. »Und was verschreibst du, Doktor Ross?« »Hör mit dem Brüten auf, Mann. Aber nicht ganz – die ›düstere, brütende Seele‹ könnte dir ganz gut stehen. Und eine Menge Ladys sind ganz heiß darauf.« Pete grinste. »Sorg nur dafür, dass es dir nicht zu sehr im Wege steht. Du bist doppelt so klug wie Whitney – mindestens. Ich weiß das, Chloe weiß das, du weißt das. Aber wenn du dich weiter in deinen Gedanken verlierst, wer wird es dann erfahren? Lana nicht, das steht fest.«
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»Pete...« Clark maß seinen Freund von Kopf bis Fuß. »... das ist brillant.« »Siehst du? Es wirkt bereits!« Als Clark und Pete das Fackel-Büro betraten, saß Chloe am Computer und schlug wütend auf den Schreibtisch. »Oh, ich glaub das einfach nicht!« »Was ist los?«, fragte Pete. »Hat sich der Computer aufgehängt?« »Viel schlimmer.« Chloe blickte von dem Monitor auf. »Ich habe gerade eine neue E-Mail von der Aufstiegs-Stiftung bekommen.« »Was?« Clark war verdutzt. »Aber wie ist das möglich?« »Offenbar sind die Anhänger unseres Doktor Jacobi nicht kleinzukriegen. Ein paar der unerschütterlichen Jünger haben die Pflege der Website übernommen und alle auf der Liste wissen lassen, dass sie gerade upgedatet wurde. Das ist verrückt! Sie sagen, dass die Anklagen gegen Jacobi Teil einer Regierungsverschwörung sind, um ihn in Misskredit zu bringen.« Clark sah über ihre Schulter auf den Monitor. »Unglaublich. Wie haben sie es nur geschafft, eine Verbindung mit dem Kennedy-Attentat herzustellen?« »Glaube mir, du willst es nicht wissen.« Chloe warf die Hände hoch. »Ich will es jedenfalls nicht wissen!« Pete drehte Chloe mit ihrem Stuhl zu sich herum. »He, es gibt also dort draußen ein paar Schwachköpfe, die noch immer glauben, dass Jacobi ihnen eines Tages den Weg in den Weltraum zeigen wird. Na und? Andere Leute glauben, dass Elvis noch immer am Leben ist.« »Ja, aber die Elvis-Leute haben kein Interesse an mir. Von jetzt an wird die Stiftungs-Website nur noch die hoffnungslosen Irren anlocken. Und die Links werden sie direkt zu meiner Site führen. Es ist schon schlimm genug, dass 317
all die großen Zeitungen meine Stiftungsartikel abgelehnt haben. Aber das...!« Sie schlug gegen den Monitor. »Das ist so, als wäre ich an den Dorftrottel gefesselt. Von jetzt an werde ich es doppelt so schwer haben, jemanden dazu zu bringen, mich ernst zu nehmen.« Clark beugte sich über den Computer. »Gibt es denn keine Möglichkeit, den Link zu entfernen?« Chloe schüttelte den Kopf. »Nicht ohne sich in ihre Website einzuhacken. Und von den ethischen Fragen abgesehen, ich bin kein Cyberzauberer, der sich einhacken und einen Link löschen kann, ohne dabei erwischt zu werden. Ich kann nur den Namen meiner Website ändern und hoffen, dass sie mich nicht aufspüren werden.« »Wo habe ich nur diese Erklärung hingesteckt? Ah, da!« Pete fischte ein Blatt aus dem Recyclingpapierkorb und tat so, als würde er davon ablesen. »Es ist mir eine große Freude, bei dieser denkwürdigen Gelegenheit eine gewisse Knüller Sullivan in das Bundeswebsiteschutzprogramm aufzunehmen.« »›Knüller‹?« Sie entriss ihm das Papier, knüllte es zu einem Ball zusammen, warf diesen nach Pete und traf ihn an der Brust. »Uungh! Sie hat mich erwischt!« Pete umklammerte den Papierball und sank nach hinten auf einen Stuhl – der prompt umkippte, sodass Pete mitsamt dem Stuhl zu Boden fiel. Clark ergriff Chloes Hand und hob sie über ihren Kopf. »Die Gewinnerin und ungeschlagene Weltmeisterin!« Sie lächelte ihn mit einer gewissen Befriedigung an. »He, ich habe es ihm nicht nur einmal gesagt, ich habe es ihm tausendmal gesagt – leg dich nicht mit den Medien an.« »Okay, okay.« Pete stützte sich auf einen Ellbogen. »Würde mir bitte jemand helfen?« Clark und Chloe klatschten sofort. »Komiker!« Pete lachte. »Ich bin von Komikern umzingelt!«
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»He! Sag das nicht.« Chloe fuhr sich mit dem Zeigefinger über die Kehle. »Das ist mein Satz.«
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20 IN DIESER NACHT fanden Jonathan und Martha Clark auf der Hintertreppe sitzend vor, wie er hinauf zu den Sternen sah. »Ist das eine private Party, Sohn, oder kann man dazustoßen?« »Seid meine Gäste. Es gibt genug Platz.« Clark rutschte in die Mitte der Stufe, als sich seine Mutter und sein Vater rechts und links von ihm niederließen. »Ich habe gerade an die Meteoriten gedacht und mich gefragt, welche merkwürdigen Dinge sie als Nächstes auslösen werden.« »Denk nicht so viel darüber nach, Schatz.« Martha streckte die Hand aus und strich ihm eine widerspenstige Locke aus den Augen. »Dieses Mal ist doch alles ziemlich gut gegangen.« »Für Stuart auf jeden Fall. Und wer weiß, vielleicht werden die Ärzte eines Tages tatsächlich eine kontrollierbare Verwendung für die Weltraumsteine finden. Es könnte nicht schaden, wenn aus diesem Meteoritenschauer noch mehr Gutes entstehen würde.« Clark hob eine Hand voll Kiesel vom Boden auf und schüttelte sie in seiner Hand. »Ich wüsste nur zu gerne, warum diese Weltraumsteine mich so schwächen. Und warum die Wirkung sofort eintritt. Die meisten Leute scheinen überhaupt nicht auf sie zu reagieren. Und bei den wenigen, die merkwürdige und zumeist positive Reaktionen zeigten, dauerten die Veränderungen manchmal Tage oder sogar Jahre.« Er warf den Kies wieder auf den Boden. »Und soweit ich weiß, hat niemand außer mir schreckliche Schmerzen durch sie erlitten. Okay, sie sind von der Erde und ich bin es nicht. Aber das erklärt nichts.« »Guter Einwand, Sohn. Deine Reaktion auf die Meteoriten ist sicherlich die extremste, die wir bis jetzt beobachtet haben. Es ist fast wie eine allergische Reaktion.« Jonathan beugte sich 320
auf seinen Knien nach vorn. »Weißt du, die meisten Leute können pfundweise Erdnüsse essen, ohne dass sie mehr als Magenschmerzen bekommen. Aber ein paar Leute geraten in einen Schockzustand und brechen zusammen, wenn sie auch nur eine einzige Erdnuss essen. Vielleicht sind diese Weltraumsteine deine ungenießbaren Erdnüsse.« Martha zog ihren Pullover enger um sich, als der Wind auffrischte. »Was auch immer der Grund für Clarks Reaktion sein mag, vielleicht finden wir eines Tages etwas, das die Effekte blockiert.« »Das habe ich bereits.« Clark lachte trocken. »Aber es ist nicht immer praktisch, eine Bleiplatte mit sich herumzuschleppen.« »Nein, nicht so etwas, Schatz. Ich dachte vielmehr an eine Möglichkeit, dich gegen die Strahlung zu immunisieren oder desensibilisieren. Ich habe von Allergikern gelesen, die von Bienenstichen getötet werden können und langsam gegen das Gift desensibilisiert wurden.« Martha nahm sich vor, den Artikel zu suchen. »Und ich erinnere mich an eine Klassenkameradin vom College, die bei ihrem Forschungsprojekt radioaktives Jod benutzt hat. Bevor sie ein Experiment begann, hat sie ihr System mit nichtradioaktivem Jod gesättigt. Selbst wenn sie dann dem ›heißen‹ Zeug ausgesetzt wurde, hat ihr Körper nichts davon aufgenommen. Vielleicht könnten wir eine derartige Behandlung für dich finden.« »Vielleicht.« Clark klang skeptisch. »Eins ist sicher: Die Meteoriten werden nicht verschwinden. Es sind zu viele davon über das ganze County verstreut.« »Und es hat keinen Sinn, darüber zu brüten, Sohn. Es wird dir nur auf den Magen schlagen.« Jonathan legte einen Arm um Clarks Schultern. »Da wir das Problem nicht eliminieren können, werden wir uns einfach damit befassen müssen, wenn es so weit ist.« 321
»Ja.« Clark lächelte. »Und vielleicht werde ich eines Tages einen Wissenschaftler finden, der mir helfen kann.« »Ja, einen richtigen Wissenschaftler. Keinen Quacksalber wie Jacobi.« »Nun, aus dieser ganzen Sache ist noch etwas anderes Gutes entstanden.« Martha legte ebenfalls ihren Arm um Clark. »Eine Menge dieser verdammten grünen Steine sind in dieser Gegend eingesammelt worden. Und laut dem Ledger transportiert sie irgendein Entsorgungsunternehmen zur weiteren Untersuchung ab. Weit weg, hoffe ich!« Gegen Mitternacht blickte Dr. Hamilton von seinem Computerterminal auf, da ihn das Brummen eines Motors aus seinen Untersuchungen riss. Misstrauisch holte er einen alten Baseballschläger aus einer Ecke der Scheune und öffnete vorsichtig die Tür. Dort, mitten auf seiner Auffahrt, vom Mondlicht erhellt, stand ein Lieferwagen. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?« Hamilton trat einen Schritt aus der Scheune und schwang den Schläger wie ein Samuraischwert. »Sie befinden sich auf Privatbesitz. Unbefugten ist das Betreten verboten.« »Doktor Hamilton?« Eine bärtige Gestalt, die Overall und Schutzhelm trug, stieg mit einem Klemmbrett in der Hand aus der Kabine des Wagens. »Ich habe eine Lieferung für Sie.« »Eine Lieferung? Ich habe nichts bestellt. Und bestimmt nichts, das zu dieser späten Stunde gebracht werden muss. Bleiben Sie mir bloß vom Leib.« »Beruhigen Sie sich, Doktor.« Als die Gestalt näher kam, kam ihre Stimme ihm bekannt vor. »Ich denke, Sie werden Ihre Meinung ändern, wenn Sie sehen, was ich liefere.« »Luthor?« Hamilton schirmte seine Augen vor den grellen Scheinwerfern des Lieferwagens ab. »Sind Sie das?« »Ja. C’est moi!« Grinsend nahm Lex den Schutzhelm ab und entfernte den falschen Bart. 322
»Sehr komisch.« Hamilton steckte den Schläger unter den Arm und nahm das Klemmbrett. »Ich bin daran gewöhnt, dass Sie mit etwas Sportlicherem vorfahren. Was steckt hinter dieser Maskerade?« »Ich tue nur mein Bestes, um diese Lieferung geheim zu halten.« Hamilton drehte das Klemmbrett ins Licht der Transporterscheinwerfer, um den Lieferschein zu lesen. Oben auf dem Blatt prangte ein unbekanntes Logo. »›Entsorgungsund Transportdienste‹?« »Eine kleine Tarnfirma, die ich extra für diese Aktion gegründet habe, Doktor. Natürlich habe ich vorübergehend Hilfskräfte engagiert, um die Waren zu verladen. Der Transporter stammt von einer Mietwagenfirma.« Hamilton überflog den Rest des Lieferscheins. »Hier steht nur ›Forschungsmaterial‹.« Er verstummte. »Sie meinen doch nicht...?« Lex öffnete die Hecktüren des Lieferwagens und löste den Deckel von einer der Kisten, die den Laderaum füllten. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich mich um den Nachlass der Stiftung kümmern werde, Doktor. Deren Verlust ist unser Gewinn.« Er setzte den Schutzhelm wieder auf. »Jetzt sollten Sie genug Rohmaterial haben, um Ihre Arbeit fortsetzen zu können, meinen Sie nicht auch?« Hamilton sagte kein Wort. Er starrte nur die Steine in der großen Holzkiste an. Das Zentrum eines jeden funkelte in einem unheimlichen grünen Licht.
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