A. C. CRISPIN
V DIE AUSSERIRDISCHEN BESUCHER KOMMEN
Deutsche Erstveröffentlichung
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Amerikan...
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A. C. CRISPIN
V DIE AUSSERIRDISCHEN BESUCHER KOMMEN
Deutsche Erstveröffentlichung
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Helga August Originaltitel: V – The Visitors Originalverlag: Pinnacle Books, New York Made in Germany • 1/87 • 1. Auflage © der Originalausgabe 1984 by Warner Bros. Inc.
© der deutschsprachigen Ausgabe 1987 beim Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Warner Home Video, Hamburg Satz: IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck: Elsnerdruck, Berlin Verlagsnummer: 8612 Lektorat: Andreas Brandhorst Herstellung: Sebastian Strohmaier ISBN 3-442-8612-4
Von einem Tag auf den anderen sind sie da: die außerirdischen Besucher. Ihre riesigen Raumschiffe schweben über allen Großstädten der Welt. Ihre Führer nennen sich John und Diana. Sie versprechen der Menschheit Frieden, Freundschaft und die Lösung aller technischen Probleme. Aber hinter der Maske der friedlichen Besucher lauert das Grauen. Längst ist eine heimliche Invasion der Erde angelaufen. Alle Kritiker und Warner verschwinden auf unheimliche Weise. Politiker werden in Schutzhaft genommen. Doch dann gelingt es einer kleinen Widerstandsgruppe, die wahren Pläne der Außerirdischen zu enthüllen. Sie erkennen, daß den Menschen nur eine Wahl bleibt: Widerstand oder Vernichtung! Ann C. Crispin ist als Fantasy- und Sciencefiction-Autorin bekannt geworden. Sie ist u. a. die Verfasserin von Band 5 der Star-Trek-Serie und, zusammen mit André Norton, des Romans Das Erbe der Hexen. A. C. Crispin lebt zusammen mit ihrem Mann und einem Sohn in Maryland, USA.
ERSTES BUCH
1. Kapitel
Das Guerilla-Lager war inmitten der Ruinen eines alten Dorfes errichtet worden. Die schmutzigen, zerfallenen Gebäude – Hütten aus Schlackenstein, die Reste einer zerbombten Kirche, sogar eine Töpferei, wo jetzt noch das Steingut in der Sonne glühte – schienen sich in der Sommerhitze zusammenzudrängen und boten ein Bild der Verlassenheit und Verheerung. Tony Wab Chong Leonetti wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er seinen Jeep unter einem schief herunterhängenden, halb zerrissenen Strohdach parkte. »Genau wie die anderen. Warum sehen sie alle nur immer gleich aus?« murmelte er. »Wozu soll ich sie überhaupt filmen, wenn sie immer gleich aussehen?« Mike Donovan hievte seine Kamera auf die Schulter und schwenkte sie prüfend über das Lager auf der Suche nach dem besten, eindrucksvollsten Blickwinkel. »Guerilla-Verstecke. Sie sehen überall auf der Welt gleich aus, in Laos ebenso wie in Kambodscha oder Vietnam. Menschen auf der Flucht scheinen sich irgendwie zu ähneln. Da spielt die Nationalität keine Rolle.« Er machte sich auf dem Rücksitz zu schaffen und zog die Tasche mit dem TonAufnahmegerät hervor. Er murmelte etwas ins Mikrofon, lauschte auf das Playback im Kopfhörer und nickte schließlich zufrieden. Dann kletterte er aus dem Jeep und ging auf die dunkelhaarige Frau zu, die ihnen mit erhobenem Gewehr entgegenkam. Ihre Augen waren gerötet von Staub und Erschöpfung. »Sie sind Donovan, nicht wahr?« fragte sie in gebrochenem
Englisch. Ihre Stimme klang hart. »Juan sagte uns, daß Sie kommen würden.« Donovan nickte. »Carlos ist im Augenblick nicht da. Sie müssen warten.« Donovan warf einen skeptischen Blick auf das Lager. »Wie lange?« »Das weiß ich nicht. Warten Sie.« Damit drehte sie sich um und ging davon. »Ich hoffe, er kommt bald«, wandte sich Donovan an Tony. »Ich bin völlig ausgehungert, und die Aussichten, hier etwas zu essen zu bekommen, scheinen nicht allzu rosig zu sein.« Tony seufzte. »Zur Not können wir uns immer noch eins von den Küken da drüben schnappen.« Donovan grinste und sah plötzlich viel jünger aus. »Das wäre nicht das erste Mal, oder?« »Nein«, erwiderte Leonetti. »Habe ich da einen Motor gehört?« »Es scheint so«, entgegnete Donovan und begann, die Kameraeinstellung zu prüfen. Ein mit bewaffneten Guerillas voll beladener Lastwagen fuhr holpernd ins Lager. Begrüßungsrufe und das Stöhnen der Verwundeten erklangen in der brütenden Hitze; andere ebenfalls bewaffnete Männer kamen aus den zerfallenen Gebäuden und rannten auf den Wagen zu. Donovan und Leonetti, die ihnen gefolgt waren, traten zur Seite, als ein paar Bahren tragende Männer und Frauen an ihnen vorbeieilten. »Sie scheinen nicht allzuviel Glück gehabt zu haben, wo immer sie auch gewesen sind«, stellte Tony fest und lauschte den spanischen Wortfetzen und dem Stöhnen der Verwundeten, die vorsichtig aus dem Wagen gehoben wurden. Einige von ihnen rührten sich nicht mehr. Donovan richtete seine Kamera auf ein blutverschmiertes Gesicht und kam sich dabei, wie schon so manches Mal,
beinahe wie ein Leichenschänder vor, der vom Leiden und Tod anderer lebte. Dann jedoch sagte er sich, wie er es in solchen Fällen immer zu tun pflegte, daß der Tod dieser Menschen sinnlos war, wenn niemand davon erfuhr. Sein Job war es, dafür zu sorgen, daß die Öffentlichkeit von dem unterrichtet wurde, was geschehen war. Die lauten Befehle eines Mannes übertönten den Lärm. »Carlos?« fragte Tony. Mike Donovan nickte. »Das muß er sein.« Dann rief er mit erhobener Stimme: »Entschuldigen Sie, sind Sie Carlos? Juan sagte uns, daß Sie uns von dem Überfall von heute nacht berichten würden. Wie schlimm war es? Wie viele Verluste haben Sie?« Der Mann, den man ohne den Schweiß und das Blut in seinem Gesicht sicher als gutaussehend hätte bezeichnen können, schwang sich vom Lkw herunter. Nervös strich er über die Wunde an seinem linken Auge, woraufhin diese wieder zu bluten anfing. Auf Donovans Zuruf hin drehte er sich zu ihnen um und starrte sie an. »Natürlich hatten wir Verluste, Mann. Wenn man gegen eine derartige Übermacht antritt, kommt man nicht ohne Verluste davon.« Ärgerlich drehte er sich um und verschwand hinter dem Wagen. Das verschlafene Camp war jetzt von Hektik und Aktivität erfüllt, als die Männer und Frauen in aller Eile die Lastwagen und Jeeps mit Waffen beluden. Leonetti führte das Mikrofon langsam im Kreis herum, um die Geräusche des Lagers einzufangen – das Trappeln schneller Schritte, das Schreien verängstigter Kinder, das schwere Poltern, als die Wagen beladen wurden. Er sah zu Donovan hinüber. »Sieht so aus, als würden sie gleich aufbrechen, Mike. Ich glaube, wir sollten diesen Wink richtig verstehen.«
Donovan, der gerade auf den Auslöser drücken wollte, nickte unbestimmt. Er hielt die Kamera auf den Anführer gerichtet, der mit lauter Stimme Befehle erteilte. »Saguen primero los camiones de municiones!« Tony schüttelte den Kopf. »Was hat er gesagt?« »Zuerst die Munitionswagen«, antwortete Donovan, den Blick noch immer auf Carlos geheftet. »Mist!« schimpfte Tony. »Sie scheinen Ärger zu erwarten.« Doch Donovan war bereits außer Hörweite. »Wie hoch sind die Verluste?« schrie er Carlos zu. Der Mund des Mannes wurde zu einem häßlichen Strich. »Sieben Männer und Frauen sind tot, ein Dutzend verletzt.« Sich zu seinen Leuten umdrehend, schrie er: »Jesus – muebe el jeep! Lo esta tapundo todo!« Donovan drehte sich nach dem alten Vehikel um, das er und Tony sich erschwindelt hatten, um sich zu vergewissern, daß Carlos nicht ihren Jeep damit meinte. Nachdem er festgestellt hatte, daß es sich um einen anderen Wagen handelte, machte er eine Nahaufnahme vom Gesicht des Mannes, der die Evakuierung leitete. »Sie selbst sind auch verletzt.« Als würde ihm zum ersten Mal bewußt, daß er gefilmt wurde und seine Worte von Millionen von Fernsehzuschauern gehört wurden, blickte Carlos direkt in die Kamera und erklärte mit harter Stimme: »Diese Wunden sind nichts, verglichen mit denen, die sie meinem Land zugefügt haben.« Als einer der Ärzte an ihn herantrat und sein Auge berühren wollte, schob er ihn brüsk beiseite und fuhr fort: »Aber wir geben den Kampf nicht auf! So lange, bis wir siegen, Mann. Haben Sie das verstanden? Wir kämpfen, bis El Salvador frei ist! Nichts wird uns aufhalten! Haben Sie das verstanden?« »Ja«, erwiderte Donovan, »ich habe verstanden.« Ein plötzlicher Schrei zerriß die Luft. Donovan und der Anführer der Guerillas wirbelten herum und erstarrten. Ein
Militärhelikopter dröhnte auf sie zu und berührte beinahe die Wipfel der das Lager umgebenden Bäume. Wie tödliche Regentropfen prasselten die Kugeln aus den Maschinengewehren in das staubige Camp. Mehrere Personen gingen mit der ersten Salve zu Boden, ihre Schmerzensschreie gingen im donnernden Gebrüll des Helikopters und dem pausenlosen Stakkato der Gewehre unter. Ohne zu wissen, wie er dorthin gekommen war, fand Donovan sich bäuchlings hinter einer zerbrochenen Mauer liegend wieder; die Kamera lag noch immer auf seiner Schulter. Er schwenkte sie vorsichtig herum und folgte dem Flug des Helikopters, als der abdrehte, um den nächsten Angriff zu beginnen. Nur vage nahm er einen dunklen Fleck neben sich wahr – einen Fleck, der sich schließlich als schwitzender, staubbedeckter, noch immer das Aufnahmegerät festhaltender Tony entpuppte. »Es sieht nicht sehr gut aus, Mike.« Nur mit Mühe konnte er in dem Chaos die Stimme seines Partners hören. Wieder peitschten Schüsse, und ihr Widerhall rollte dröhnend durch das Dorf. Donovans Kamera surrte. Seine Stimme war heiser von dem Staub, den er geschluckt hatte, doch sie klang triumphierend: »Wieso? Es ist großartig!« Auf der anderen Seite des Lagers explodierte ein Lastwagen, dessen Benzintank getroffen worden war. Fast im gleichen Augenblick sah Donovan die Frau, mit der sie zuvor gesprochen hatten, vor Schmerz aufschreiend zu Boden sinken. Mehrere Leute eilten ihr zu Hilfe, andere begannen, auf den Helikopter zu feuern. Dicht neben Donovan schlugen Kugeln ein und wirbelten den Staub auf. Tony Leonetti ergriff Donovans Arm. »Komm, weg von hier! Zur Hölle mit den tollen Aufnahmen!« Ständig behindert durch ihre Ausrüstung, rannten sie, im Zickzack immer wieder in Deckung gehend, los. Doch ihre
Ausrüstung war so sehr ein Teil von ihnen, daß keiner der beiden Journalisten daran dachte, sie wegzuwerfen. Hinter einer Mauer gingen sie in Deckung, als der Helikopter zum erneuten Angriff anflog. Tony zuckte zusammen, als direkt hinter ihnen eine Kugel einschlug. »Verdammt, Donovan, diesmal wirst du mich umbringen!« Grinsend drehte sich Donovan nach ihm um, und die Zähne blitzten in seinem schmutzigen Gesicht auf. »Zum Teufel, Tony, du wirst eine neue Emmy bekommen!« »Ich werde eine Kugel in den Bauch kriegen!« schrie Leonetti zurück, ließ sein Aufnahmegerät jedoch weiterlaufen. »Sag meiner Frau, meine letzten Gedanken wären…« »Sieh dir ihn an!« unterbrach Donovan seine Worte. Gerade als der Hubschrauber wieder auf das Lager zuflog, rannte Carlos einem zu Boden gegangenen Kameraden zu Hilfe. Kugeln schlugen dicht vor ihnen in den Boden. Seine Automatikpistole in beiden Händen haltend, beobachtete der Anführer der Guerillas den anfliegenden Helikopter. Als er in Schußweite war, zielte er eiskalt auf den Piloten, der in der Glaskanzel deutlich zu erkennen war. Die nächste Salve aus dem Maschinengewehr drohte den Partisanen zu zerfetzen – und dann plötzlich sackte der Pilot in seinem Sitz leblos zusammen. Der Helikopter geriet ins Schlingern, glitt über die Wipfel der Bäume, verlor von Sekunde zu Sekunde an Höhe. Die Gewalt der Explosion erschütterte die Erde, und Donovan spürte selbst aus dieser Entfernung noch den Druck der Hitzewelle. »Unglaublich! Ich kann es nicht fassen! Hast du das gesehen?« Tony lächelte und umklammerte Donovans Arm. »Was wirklich unglaublich ist, ist die Tatsache, daß wir noch leben! Komm endlich!«
Donovan ließ die Kamera noch immer laufen, als sein Partner ihn zu ihrem Jeep zerrte, der erstaunlicherweise noch intakt war. Als Leonetti den Motor anspringen ließ, hörte er einen zweiten Helikopter herandonnern. Geschützfeuer dröhnte, und die Flammen explodierender Wagen züngelten in die Höhe. Langsam fuhren sie durch das Camp auf die Straße zu, über die sie zuvor gekommen waren. Ein kurzer Blick zu seinem Partner zwang Leonetti ein halb bewunderndes, halb verzweifeltes Grinsen ab. Donovan saß rücklings auf dem Beifahrersitz und hielt die Kamera auf den ihnen folgenden Helikopter gerichtet. »Ich wünschte, wir hätten ein Stativ dabei«, schrie er, als die Kamera auf seiner Schulter hin und her zitterte. Tony Leonetti seufzte. »Ich wünschte, wir hätten mehr Benzin.« Doch Donovan, der noch immer die Kamera laufen ließ, hörte ihn nicht. Der Jeep fuhr schwankend die Straße entlang, durchquerte wasserspritzend einen Bach. Plötzlich schleuderte er. Dicht neben ihnen explodierte eine Rakete, Wasserfontänen ergossen sich über den Wagen und seine Insassen. Obwohl Donovan aus vollem Halse schrie, konnte Tony seine Stimme kaum hören: »Bleib ruhig, Tony! Das ist auch nicht schlimmer als Kambodscha!« Der Asiat schüttelte lachend den Kopf. »Da magst du recht haben. Aber wo zum Teufel ist dieser Helikopter geblieben?« Die Frage beantwortete sich von selbst, als die Straße über eine Anhöhe führte. Der Hubschrauber schwebte nur wenige Meter über dem Boden. So schnell er konnte, riß Tony das Steuer herum, doch der Helikopter hatte bereits eine Salve abgefeuert. Leonetti griff keuchend nach seinem Arm, und der Jeep geriet erneut ins Schlingern. Donovan griff ins Steuer, um den Wagen unter Kontrolle zu bringen. Als er einen schnellen
Blick auf den Arm seines Partners warf, bemerkte er den Blutfleck, der sich auf Tonys gemustertem Hemd ausbreitete. »Bist du okay?« rief er, als Tony das Steuer wieder übernahm. »Aber natürlich!« Tonys von einem Schweißband aus der Stirn gehaltenes schwarzes Haar flatterte im Wind. »Ich genieße jede einzelne Minute!« Plötzlich explodierte direkt vor ihnen eine weitere Rakete. Der ohnehin aus dem Gleichgewicht geratene Jeep kippte zur Seite, überschlug sich und landete mit dem Dach nach unten im Straßengraben. Über sich konnten die beiden Männer das Knattern des wieder auf sie anfliegenden Helikopters hören. Sie wurden aus dem Wagen geschleudert, und Donovan landete auf seinem Partner, doch der weiche Boden neben der Straße milderte den Aufprall. Instinktiv wußte Donovan, daß es nur eine Rettung für sie gab: Sie mußten die schützenden Bäume erreichen. Die Kamera noch immer fest umklammernd, rappelte er sich hoch und zerrte Tony auf die Füße. Fast unbewußt registrierte er, daß die Benzinleitung einen Riß hatte und der Wagen zu explodieren drohte. Tonys bleiches Gesicht alarmierte ihn. »Kannst du laufen?« Tony blickte auf die Flammen. »Habe ich eine andere Wahl?« »Ich werde versuchen, sie abzulenken, während du zu den Bäumen hinüberrennst. Sie werden dir ein wenig Schutz bieten.« Ein schneller Blick zum Helikopter zeigte ihm, daß der nächste Angriff bevorstand. »Lauf, Tony!« drängte er. »Nein, Mike! Wir gehen zusammen…« Donovan war schon losgerannt. »Nun mach schon! Lauf los!« Erleichtert hörte er, wie Tony auf die Bäume zurannte. Donovan hetzte über den schlammigen Sand, und die einschlagenden Kugeln schienen beinahe seine Fersen zu
berühren. Er rannte schneller und schneller, doch er entdeckte nichts, was ihm hätte Schutz bieten können. Da war wieder der Bach – breit und flach, doch gleichzeitig fast unerreichbar fern. In der Mitte des Baches stand ein verrosteter, ehemals orangefarbener Lieferwagen, der aussah wie ein von Hunderten von Kugeln durchlöcherter Schweizer Käse. Sollte er sich darin verbergen? Er war sich klar darüber, daß der Wagen ihm nur wenig Schutz bieten würde, doch er wußte nicht, wo er sonst hinlaufen sollte. Als er sich, die Kamera noch immer fest im Arm haltend, umdrehte, sah er, wie der Hubschrauber dicht neben dem Wasser, behutsam wie eine brütende Henne, auf der Erde aufsetzte. Verdammter Mist, dachte er, das wär’s dann wohl! Dann kam ihm der wilde, verzweifelte Gedanke, daß der Pilot vielleicht nicht bemerkt haben könnte, daß er Reporter war, und er hob aus purem Trotz die Kamera und filmte die Gesichter der beiden Männer im Helikopter. Er blickte angestrengt durch den Bildsucher, als der Hubschrauber noch näher kam. Zum ersten Mal sah er sich den neben dem Piloten sitzenden Mann genauer an. Das konnte nicht sein! Ham Tyler – was zum Teufel hatte der hier zu suchen? Der frühere CIA-Agent gehörte jetzt zu einer Abteilung der höchsten Geheimstufe des Amerikanischen Sicherheitsdienstes. Schon in Laos war er Donovan auf den Fersen gewesen. Gerüchten zufolge, die Donovan zu Ohren gekommen waren, waren die rechtsstehenden »Patrioten« (Tylers Bezeichnung, nicht Donovans!) verantwortlich für einige der größtangelegten Säuberungsaktionen gegen die Guerillas hier in El Salvador, doch sie waren nicht dazu in der Lage gewesen, die Partisanen vernichtend zu schlagen. Kaum jedoch hatte Mike Donovan den Mann auf dem Sitz des Copiloten erkannt, als der Helikopter abhob, abdrehte und davonflog. Puh! Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?
Donovan drehte sich um, weil er glaubte, hinter ihm könnte durch irgendein Wunder einer der Jeeps heranrollen (Aber ohne irgendein Geräusch zu verursachen? Sei kein Narr, Mike…), und ließ fast seine kostbare Kamera fallen. Erst als er das leise, vibrierende Geräusch hörte, nahmen seine entsetzten Augen den riesigen Flugkörper wahr, der über die fernen Berge auf ihn zuglitt und sie zwergenhaft wirken ließ. Donovans Kinnlade sank herunter. Sein Verstand sagte ihm, daß er sich das alles nur einbilden müsse – er konnte unmöglich am Leben sein und das wirklich sehen. Automatisch drückte er auf den Auslöser der Kamera und hörte, wie sie die unglaubliche Erscheinung aufnahm. Das Gebilde sah aus wie eine abgeflachte Rotationsellipse – genauso, wie sie in den UFO-Geschichten, die er gehört hatte, beschrieben worden waren. Doch es war so ungeheuer groß! Sein verwirrter Geist versuchte, die unvorstellbar riesigen Ausmaße des Raumschiffes in sich aufzunehmen, doch während es näher und näher kam, verlor er jedes Gefühl für Proportionen. Hatte es einen Durchmesser von einer Meile? Nein, mehr. Zwei Meilen? Mehr – es war einfach riesengroß – Schließlich – wie in einem unglaublichen Traum – verharrte die gewaltige Scheibe über ihm. Als Donovan Tony hinter sich schreien hörte, drehte er sich um und winkte ihm beruhigend zu. Während er durch das Wasser auf seinen Freund zustolperte, drehten sich hinter seiner Stirn die Gedanken im Kreis: Das gibt es nicht, das kann nicht wahr sein! Ich träume, oder ich bin tot!
Die weiße Maus hockte sich auf die Hinterbeine, ihre Barthaare zitterten, als sie das Rasseln der Käfigtür hörte. Essenszeit? Doch ihr Magen sagte ihr, daß dem nicht so war. Sie fühlte, wie eine Hand sanft nach ihr griff, sie vorsichtig
hochhob und umdrehte. Sie erkannte den Geruch, die Stimme und sträubte sich nicht. »Komm, Algernon. Zeig Dr. Metz deinen Bauch.« »Bemerkenswert.« Dr. Rudolph Metz beugte sich über die weiße Maus, um ihren Bauch zu untersuchen. Dann ergriff er ein Vergrößerungsglas, um ihn näher zu betrachten. »Die Wunde ist fast verheilt.« Die blonde junge Frau im weißen Laborkittel lächelte erfreut. »Ja, in ein paar Tagen dürfte sie wieder ganz in Ordnung sein.« Sanft strich sie der Maus mit einem Finger über den Kopf und setzte sie dann behutsam wieder in den Käfig zurück. Dr. Metz hob die buschigen Augenbrauen und sah sie eindringlich an. »Sie wissen, wie lange mein Forschungsteam nach dieser Formel gesucht hat, Juliet?« Juliet Parrish schüttelte lächelnd den Kopf. »Es ist nicht allein mein Verdienst. Ruth hat mir sehr geholfen.« Ruth Barnes, die an der anderen Seite des Labors über ein Mikroskop gebeugt saß, blickte hoch. »Ich habe es gehört, aber glauben Sie ihr nicht, Rudolph. Sie hat es ganz allein gemacht.« »Nun gut, ich hatte sehr viel Glück.« Juliet, die im vierten Semester Medizin studierte, schloß sorgfältig den Mäusekäfig, vermied es jedoch, dem Blick des alten Mannes zu begegnen. Metz nickte. »Glück gehört natürlich auch in der Wissenschaft dazu, aber ohne harte Arbeit und Inspiration gelingt uns nichts. Die Wahrheit ist, daß Sie sehr begabt sind, Juliet.« Für Dr. Metz’ Verhältnisse war das ein faustdickes Kompliment, und Juliet konnte nicht verhindern, daß ihr Gesicht sich vor Freude rötete. Auch die schon etwas ältere Ruth machte ein beifälliges Handzeichen. Metz beobachtete die im Käfig herumrennende Maus. »Außerdem möchte ich Sie warnen. Ruth und ich werden Sie
von der Uni zu uns holen. Wenn Sie Ihre ganze Zeit der Biochemie widmen, könnten Sie…« Die Tür zum Laboratorium wurde so ungestüm aufgestoßen, daß sie gegen die Wand knallte. Erschrocken sprangen die drei hoch. In der Tür stand ein junger, völlig außer Atem geratener Schwarzer. »Haben Sie schon von ihnen gehört?« »Wovon sollen wir gehört haben?« fragte Dr. Metz erstaunt. Dr. Benjamin Taylor schaltete den Fernsehapparat ein, der hoch oben auf einem Regal stand. Die kleine Mattscheibe war ausgefüllt mit dem wohlbekannten Gesicht von Dan Rather – einem im Augenblick sehr ernsten Gesicht. »… doch woher auch immer die Berichte stammen – ob aus Paris, Rom, Genf, Buenos Aires oder Tokio –, die Beschreibungen der Luftschiffe sind alle identisch. Und – « Er brach ab und lauschte in seinen Kopfhörer. »Ich höre gerade, daß der uns angeschlossene Sender KXT in San Francisco es jetzt im Bild hat.« Auf dem Bildschirm erschien das Bild eines riesigen Raumschiffs, das über den Hafen von San Francisco glitt. Jetzt füllte es die ganze Bildfläche aus – es war so ungeheuer groß, daß die Golden Gate-Bridge dagegen wie ein Spielzeug wirkte. Das Entsetzen in der Stimme des Sprechers war nicht zu überhören, als er fortfuhr: »Das ist es also. Großer Gott, ist das groß! Meine Damen und Herren, das Bild kommt live aus San Francisco zu Ihnen.« Fast im gleichen Augenblick hörten die drei Wissenschaftler ein dunkles, vibrierendes Summen, das so leise war, daß menschliche Ohren es kaum wahrnehmen konnten. Die Mäuse jedoch fingen laut zu pfeifen an und rannten wie irr in ihren Käfigen herum. Juliet sah zu Ben hinüber. »Glauben Sie…«
Ihre Frage wurde durch Dan Rather beantwortet: »Mir liegen Informationen vor, denen zufolge ein zweites dieser riesigen Schiffe gerade über Los Angeles hereinschwebt.« »Oh, Gott!« sagte Ruth. Die drei Wissenschaftler starrten sich entsetzt an.
Der Anthropologe Robert Maxwell beugte sich näher über seinen Fund. Weit behutsamer, als er seine dreijährige Tochter zu baden pflegte, strich er mit einer Bürste über eine leere Augenhöhle. Trotzdem hob Arch Quinton warnend die Hand. »Vorsichtig, Robert. Sie ist eine ganz besondere Dame…« Wenn er aufgeregt war, kam sein schottischer Akzent sehr stark durch, und Maxwell mußte insgeheim lächeln, weil er den alten Mann noch nie so aufgeregt über einen Fund erlebt hatte. »Ihre Untersuchung des Hüftgelenks bestätigt also, daß sie weiblich ist?« fragte er. Als Quinton nickte, fuhr er in seiner Untersuchung fort und berührte vorsichtig die schwarzen Zahnstümpfe. »Ganz sicher späte Eiszeit, Arch. Also früher als alles andere, was wir hier je gefunden haben. Stimmen Sie mir da zu?« Quinton nickte. »Die Artefakte scheinen es zu bestätigen. Und sehen Sie sich ihre Stirn an. Hier – « Er hob die Hand, wollte gerade über die strähnigen Überreste der Haare streichen, als er innehielt und rief: »Robert, sehen Sie sich das an!« Noch bevor Robert Maxwell sich umdrehen konnte, hörte er das Geräusch – ein klopfendes, vibrierendes Beben, das seinen Körper und seine Ohren erfüllte. Dann sah er es – ein riesiges silberblaues Raumschiff, das so ruhig auf sie zuglitt, als bewegte es sich auf unsichtbaren Schienen. Seine Hand umklammerte die Bürste, und er preßte sich dichter an die
Wand, als wolle er sich selbst zwischen seinen Fund und den gewaltigen Diskus stellen.
Elias Taylor hockte auf der Feuerleiter und blickte hastig um sich. Er wollte sich vergewissern, daß niemand ihn beobachtete. Es war ziemlich unwahrscheinlich, daß jetzt um die Mittagszeit jemand zu Hause sein würde. Er war noch nie erwischt worden, und er hatte nicht die Absicht, daran etwas zu ändern. Mit schnellen, geübten Bewegungen klebte er einen Heftstreifen auf die kleine Fensterscheibe, dann ein schneller Schlag mit einem Stein und – fertig! In dem dunklen Gesicht des jungen Mannes wirkten seine Zähne um so weißer. Ein Kinderspiel, dachte er grinsend. Elias liebte Jobs, die so leicht waren. Auf der Suche nach Gegenständen, die leicht zu tragen und zu verstecken waren, durchkämmte er die winzigen Zimmer des Appartements. Ein Walkman fesselte seine Aufmerksamkeit. Er stellte ihn an und lauschte angestrengt, um sich zu vergewissern, daß der Empfang gut war. Unter der Matratze des ungemachten Bettes fand er einen Strumpf mit beinahe hundert Dollar. Während er es zählte, schüttelte Elias grinsend den Kopf. »Sie verstecken es immer an denselben Stellen. Die Leute haben alle keine Phantasie.« Das einzige, was ihn noch interessierte, war ein transportabler Fernsehapparat. Er stellte ihn an und verzog das Gesicht, als er sah, daß es nur ein Schwarzweißgerät war. Billiges Zeug, dachte er und wollte ihn schon ausschalten und sich davonmachen. An so etwas Billiges verschwendete er seine Energie nicht. Seine Finger berührten schon den Ausschaltknopf, als er innehielt und atemlos auf das Bild auf der Mattscheibe starrte. Was er da sah, sah aus wie eine Live-
Aufnahme von einem großen UFO (aber das konnte ja nicht sein!). Hastig stellte er den Ton an. »…an den Champs-Elysees. Wir wiederholen, dieses Bild kommt aus Paris, über dem ein weiteres dieser gigantischen UFOs schwebt.« Elias starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Bildschirm, als die Kamera zu einem Schwadron von Düsenjägern hinüberschwenkte, die steil in die Luft hinaufschossen. Die Stimme fuhr fort: »Das Pentagon berichtet, daß von allen Taktischen Flugkommandostationen in der Nähe der Vereinigten Staaten Abfangjäger starten, um sich den monströsen UFOs zu nähern, doch alle Jets berichten von Störungen an den Bordinstrumenten und den elektronischen Systemen, die sie zur Umkehr zwangen.« Jetzt zeigte die Kamera eine Straße, auf der Menschenmassen in panischem Entsetzen durcheinanderrannten, wie verrückt hupende Autos die Fahrbahn blockierten – das totale Chaos. Sogar die Polizisten standen hilflos und konsterniert herum. Das ist ja auch kein Wunder, dachte Elias, als er ein zweites dieser Ungetüme über der Stadt hängen sah (wie zum Teufel machen sie das nur?). Die Szene erinnerte ihn auf quälende Weise an etwas, das er vor einiger Zeit im Kino gesehen hatte. Als das Bild wechselte und das Washington-Denkmal zeigte, pfiff Elias leise vor sich hin. »Mist!« murmelte er. »Diesmal kommen Kiaartu und Gort wirklich auf die Erde.« Der Sprecher fuhr fort: »…und es ist unmöglich, näher als eine Meile an die Raumschiffe heranzukommen. Auf die Schiffe abgefeuerte Fernlenkgeschosse gehen ganz einfach in die Irre, um außer Reichweite harmlos zu explodieren. Polizei und Militärs versuchen, eine geordnete Evakuierung der Bevölkerung durchzuführen.«
»Zum Teufel, nein!« knurrte Elias. »Das sieht alles andere als geordnet aus!« Er griff nach dem Walkman und fragte sich, inwieweit die aktuelle Lage die Preise beeinflussen würde, die Reggie ihm für die Waren geben würde. »…ebenso wie all die anderen Städte, die von diesen unvorhersehbaren Ereignissen bedroht werden, doch überall sind die Straßen und Highways hoffnungslos blockiert. Die meisten Hauptverkehrsstraßen sind durch Unfälle unpassierbar geworden. Weitere Raumschiffe nähern sich sieben anderen amerikanischen Hauptstädten oder haben sie bereits erreicht – Houston, New York, San Francisco, New Orleans – ja, und auch das ist jetzt bestätigt – Los Angeles.« »Los Angeles!« Elias ließ beinahe den Walkman fallen. Erst jetzt wurde ihm wieder bewußt, daß er sich in einer fremden Wohnung befand und der rechtmäßige Besitzer jeden Augenblick zurückkommen konnte. Hastig schwang er sich auf die Fensterbank und wagte kaum, nach oben zu sehen. Noch ehe er es erblickte, hörte er es. Er nahm den Walkman und beschloß, sich aus dem Staub zu machen.
Mike Donovan legte eine Decke über den leise schnarchenden Tony und ging nach vorne ins Cockpit des Learjets. Er ließ sich auf den Sitz des Copiloten sinken und warf einen Blick auf die Instrumente. »Wir liegen gut in der Zeit«, bemerkte er. Joe Harnell, der Pilot, nickte. »Wie geht es Ihrem Freund?« »Ganz gut. Der Scotch und das Codein haben ihn außer Gefecht gesetzt. Ich kann die Maschine für eine Weile übernehmen, falls Sie sich ein wenig ausruhen wollen.« »Haben Sie schon mal eine geflogen?« fragte der Pilot mit einem schnellen Seitenblick auf Donovan. »Außer Verkehrsflugzeugen habe ich schon so ziemlich alles geflogen. Haben Sie herausgefunden, wo wir landen können?«
Der Pilot erhob sich und sah zu, wie Donovan die Instrumente übernahm. Dann nickte er beifällig. »Nun, Dallas ist bis jetzt noch offen, und ich glaube, wir sollten es anfliegen. Sie machen überall alles dicht.« »Was halten Sie von New York? Von JFK?« fragte Donovan. »Geschlossen.« Donovan zuckte erbittert die Achseln. »Dann öffnen wir ihn eben. Sie können die Landebahn ja wohl nicht aufrollen.« »Das wäre Wahnsinn. Das FAA würde uns…« »Ich habe eine bessere Idee«, meinte Donovan und schnippte mit den Fingern. »La Guardia’s wäre viel besser.« Harnell starrte ihn entgeistert an. »Sie spinnen wohl, Mann? Das würde bedeuten, daß wir genau unter diesem verdammten Ding herfliegen müßten.« »Na und? Denken Sie bloß an die Aufnahmen, die ich dann machen könnte!« »Auf keinen Fall, Mike.« »Denken Sie nur an die Dollars, die dieser Film wert sein wird«, sagte Donovan grinsend. »Ich würde den Gewinn mit Ihnen teilen…« Harnell starrte ihn ungläubig an, als Donovan ihm ein Zeichen gab, die Maschine wieder zu übernehmen, und dann machte er sich auf, um die Kamera zu holen.
Am nächsten Morgen saß die Familie Bernstein – Stanley, Lynn, ihr Sohn Daniel und Stanleys Vater Abraham – vor dem Fernseher und sah sich staunend den Film an, den Mike Donovan von der Unterseite des riesigen Raumschiffs aufgenommen hatte, das über New York City schwebte. Ebenso wie das über Los Angeles – wo die Bernsteins wohnten – hängende Raumschiff hatte es die ganze lange und zumindest
für Lynn Bernstein schlaflose Nacht still und bewegungslos über der Stadt gestanden. Der achtzehnjährige Daniel war fasziniert von dem Raumschiff. Sein Leben lang hatte er darauf gewartet, daß einmal etwas Aufregendes passierte. Und jetzt erfüllte sich sein Wunsch. Da spielte es keine Rolle, daß die ganze Welt davon betroffen war – irgend etwas sagte ihm, daß es genau das war, worauf er gewartet hatte. Aufgeregt wandte er sich an seinen Vater, einen Mann mit schütteren Haaren, traurigen Hundeaugen und dem Ansatz zu einem Spitzbauch. »Es soll einen Durchmesser von mehr als fünf Meilen haben, Dad.« Seine Mutter Lynn, eine nervöse Frau, die man hätte hübsch nennen können, wenn sie nicht diesen ständigen bitteren Gesichtsausdruck zur Schau getragen hätte, rang die Hände und sagte wohl schon zum hundertsten Mal: »Wir sollten die Stadt verlassen, meint ihr nicht auch?« Stanley Bernstein sah seinen Sohn an. »Wo könnten wir hingehen, Lynn? Die Straßen sollen alle blockiert sein. Außerdem hat der Präsident erklärt, es bestünde kein Grund zur Panik. Sie haben bis jetzt nichts getan, was darauf schließen läßt, daß sie feindselige Absichten haben.« Der alte Abraham rutschte unbehaglich auf der Couch hin und her. »Ich frage mich, ob es überhaupt noch irgendeinen Platz auf der Welt gibt, wohin man flüchten könnte. Selbst die Deutschen verfügten während des Krieges nicht über solche Schiffe.« »Das hilft uns doch nicht weiter, Vater«, meinte Stanley mißbilligend. Abrupt wurde ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm gelenkt. Mit leicht belegter Stimme, doch in immer noch berufsmäßig unbewegtem Ton sagte Dan Rather gerade: »…man berichtet jetzt von den gleichen Vorkommnissen in
Rom… und Rio de Janeiro… Moskau… Ja, überall auf der Welt soll dieses seltsame Geräusch der über unseren Städten hängenden Raumschiffe zu hören sein…« Gleichzeitig mit der Fernsehübertragung hörten die Bernsteins von draußen das unheimliche, klopfende Vibrieren. »21… 20… 19… 18…« Die seltsam widerhallende Stimme setzte den Countdown fort, während der Kommentator erklärte, daß überall auf der Welt die Menschen jetzt die gleiche Botschaft hörten – jeweils in der entsprechenden Landessprache. »… 5… 4… 3… 2… 1…« Nach einer kurzen Pause fuhr die Stimme fort: »Bewohner des Planeten Erde… wir grüßen Sie! Wir kommen in friedlicher Absicht. Dürfen wir den UNOGeneralsekretär in allen Ehren bitten, um 0100 Greenwich-Zeit oben auf das Dach des UNO-Gebäudes in New York zu kommen? Danke.« Stanley kniff die Augen zusammen. »Um wieviel Uhr ist das?« Seine Frage wurde von Dan Rather beantwortet. »Die Stimme, die wir gerade gehört haben, erbittet das Erscheinen des UNO-Generalsekretärs auf dem Dach des UNO-Gebäudes in New York um acht Uhr heute abend.« Lynn umklammerte ängstlich die Hand ihres Mannes. »Was hat das zu bedeuten, Sam?« Daniel grinste seine Mutter begeistert an. »Es bedeutet, daß etwas passieren wird, Mama… endlich! Ist das nicht toll?«
2. Kapitel
Mit fahlem, rötlichem Schein ging die Sonne über New York unter, als Mike Donovan seine Kamera über die Lichter von Manhattan schwenkte. Der Spätsommerwind zerzauste seine strähnigen Haare – hier oben wehte eine kräftige Brise. Er stand auf dem Dach des UNO-Gebäudes. Wieder sah er auf seine Uhr. 7.50 Uhr und 45 Sekunden. In knapp zehn Minuten war es so weit. Die Tür zum Dach wurde aufgestoßen, und einige Journalisten und Techniker eilten auf das Dach. Mike entdeckte einen vertrauten dunklen Haarschopf und lächelte grüßend hinüber. Tony Leonetti half seinem Freund, die Ausrüstung hinüber zum Absperrseil zu tragen. Donovan bemerkte, wie er schmerzlich das Gesicht verzog, als er die Schulter bewegte. »Bist du sicher, daß du es schaffst, Tony?« Tony grinste. »Das Ereignis des Jahrhunderts! Ich habe nicht vor, es zu verpassen, Mann!« »Mike!« Es war die Stimme einer Frau, und die beiden drehten sich um. Donovan hielt ihren Blick fest, als sie auf sie zukam – eine große, sehr gepflegt gekleidete Frau Anfang Dreißig. Alles an ihr, angefangen beim perfekten Make-up, der tadellosen Figur bis zu ihrem kühlen, gelassenen Blick, ließ die TopFernsehjournalistin erkennen. »Oh! Hallo, Kristine!« »Hallo, Mike, hi Tony!« Sie nickte Tony, der ihren Gruß erwiderte, erfreut zu. »Ich habe schon gehört, daß du zum Team gehörst. Ich auch.«
Donovan lächelte vielsagend. »Ich habe deine Karte unten gesehen. Hatte mir gedacht, daß du dir das hier nicht entgehen lassen würdest.« Sie lächelte ein wenig dümmlich. »Wo bauen wir auf?« Er wies auf die Absperrung, hinter der eine größere Anzahl von Militärpolizisten Aufstellung genommen hatte. Tony nickte ihr um Entschuldigung bittend zu und machte sich daran, seine Geräte zu montieren. Donovan zögerte, als er die vielen Kamerateams sah, die ebenfalls ihre Aufnahmegeräte aufbauten. Nervöse Anspannung, Angst oder hektisch zur Schau getragene Fröhlichkeit spiegelte sich in ihren Mienen. Von unten her drang der andauernde klagende Ton der Sirenen an sein Ohr. Kristine ergriff seinen Arm. »Komm, Mike, wir müssen aufbauen.« Er zuckte zusammen. »Ja – ich habe gerade nachgedacht.« Sie sah ihn ein wenig vorwurfsvoll an. »Ich auch. Du hättest wenigstens auf Wiedersehen sagen können, als du heute früh weggingst.« »Das habe ich. Du warst gerade am Telefon und hast mich nicht gehört.« »Das tut mir leid«, erwiderte sie nach einer Weile und sah ihn mit ihren grünen Augen um Verzeihung bittend an. »Mir auch«, entgegnete Donovan mit einem gequälten Lächeln. Eine Zeitlang sahen sie sich schweigend an, und dann wandte sie den Blick ab. »Wie spät ist es?« Donovan sah auf seine Uhr. »7.56 Uhr.« Kristine eilte davon, um letzte Vorbereitungen zu treffen, und Donovan prüfte die Kameraeinstellung. Die Minuten krochen dahin. Um 7.59 Uhr betrat ein vornehm aussehender, weißhaariger Mann, begleitet von einer bewaffneten Eskorte, das Dach.
Donovan erkannte ihn als den UNO-Generalsekretär und beobachtete, wie er die auf dem Dach postierten Truppen durch einen Wink anwies, ihre Waffen zu senken. Er stellte seine Kamera auf die gigantischen, vom Flutlicht angestrahlten Umrisse des fremden Raumschiffes hoch über ihnen ein. Es war so ungeheuer groß, daß selbst die höchsten Wolkenkratzer wie Spielzeuggebäude dagegen wirkten. Irgend jemand zählte leise die Sekunden. Einer der Journalisten sprach ins Mikrofon: »… Stille ist eingetreten, nicht nur hier… die ganze Welt hält den Atem an.« »9… 8… 7… 6…« »5«, dachte Donovan, »4, 3, 2, 1 – « »Die Uhr schlägt 8… 0100 Greenwich-Zeit.« Den Bildsucher seiner Kamera ans Auge gepreßt, starrte Donovan nach oben. Er starrte so angestrengt in den Sucher, daß ihm die Augen tränten. Da! In der silberblauen Weite nur schwer auszumachen – eine winzige, dunkle Öffnung! Einen Augenblick kniff Donovan die Augen zusammen, dann starrte er wieder zu dem Schiff hinauf. Die Kamera surrte; er hatte sie direkt auf die Öffnung gerichtet, die jetzt von etwas ausgefüllt wurde – von einem stromlinienförmigen Objekt, das schnell zu ihnen herunterglitt. Donovan konnte Kristines kühle, gelassene Stimme hören und bewunderte ihre Haltung. Er wußte, daß sie ebenso nervös wie die anderen war, doch es gehörte zu ihrem Beruf, sich unter Kontrolle zu halten. »Das kleinere Schiff gleitet im spitzen Winkel herunter – befindet sich jetzt über der 3. der 39. Avenue – kommt direkt auf das UNO-Gebäude zu.« Donovan folgte mit der Kamera dem Gefährt, das jetzt das Tempo verlangsamte, um zur Landung anzusetzen. Kleine dunkle Dreiecke – vielleicht in regelmäßigen Abständen
eingelassene Fenster – unterbrachen das strahlende Weiß der Raumfähre. Auf seinem Bug war irgendein rotes Symbol zu sehen, eine Kombination aus Punkten und Linien, wie der Kameramann sie noch nie zuvor gesehen hatte, der jedoch trotzdem eine geheimnisvolle Vertrautheit innewohnte. Fast geräuschlos und ohne einen spürbaren Luftdruck zu verursachen, sank die Raumfähre herab. Kristine setzte ihren Kommentar fort: »Jetzt kommt die Fähre zum Stillstand, etwa drei Meter über uns… Jetzt landet sie… Ein seltsames, vibrierendes Flirren erfüllt die Luft.« An der Unterseite des Fahrzeugs öffnete sich ein Schott, und im gleichen Augenblick hörten die Menschen auf dem Dach die Stimme – eine seltsam widerhallende Stimme: »Herr Generalsekretär…« Donovan schwenkte die Kamera auf den Generalsekretär, als dieser mit ernstem, entschlossenem Gesicht in sehr steifer Haltung vor die Menge trat. Die Stimme fuhr fort: »Var intre rada kom upp for trappan.« Im selben Augenblick wurde eine kleine Rampe aus der Raumfähre auf das Dach heruntergelassen. Kristines Stimme drang an Donovans Ohr. Sie klang noch immer ruhig und gefaßt, doch ein wenig beklommen: »Ich nehme an, die Stimme sprach Schwedisch – die Landessprache des Generalsekretärs…« Sie lauschte in den Knopf in ihrem Ohr. »Ja, jetzt habe ich die Übersetzung… Sie brauchen keine Angst zu haben, Herr Generalsekretär… Bitte, steigen Sie auf die Rampe.« Sehr gefaßt und in tadelloser Haltung schritt der alte Mann auf die Rampe zu. Dann stieg er Stufe für Stufe die Treppe hinauf, bis er oben angelangt war, und verschwand. Die bewaffneten Posten hoben die Gewehre. Donovan bemerkte, daß er unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Jetzt atmete er langsam aus und wartete, das Auge fest auf den Bildsucher gepreßt.
Plötzlich begann sich oben auf der Rampe etwas zu rühren; Schatten bewegten sich in der Dunkelheit. Da – ein Gesicht! Die Bewegungen des Generalsekretärs wirkten erleichtert und energisch und standen in krassem Gegensatz zu der steifen Haltung, mit der er zuvor auf die Raumfähre zugegangen war. Allgemeines Gemurmel war zu hören, doch Kristines Stimme übertönte es: »Da ist er! Der Generalsekretär kommt zurück! Er ist ganz offensichtlich unverletzt, winkt den auf dem Dach des UNO-Gebäudes stehenden Menschen fröhlich zu… Einen Augenblick bitte. Es sieht so aus, als wolle er zu den Leuten sprechen…« Klar und deutlich drang die wohltönende, leicht akzentuierte Stimme des alten Mannes an Donovans Ohr, als dieser die Kamera scharf auf das Gesicht des Redners einstellte. »Meine lieben Mitbürger dieser Erde… diese Besucher versichern mir, daß sie in friedlicher Absicht kommen und die UN-Charta respektieren wollen. Wie Sie selbst sehen werden, sind sie uns sehr ähnlich… obwohl ihre Stimmen fremdartig klingen. Sie baten mich zunächst, an ihrer Stelle zu Ihnen zu sprechen, doch ich glaube, daß es Ihnen allen lieber ist, wenn ihr Oberster Kommandeur, der sich an Bord dieses Schiffes befindet, selbst zu Ihnen spricht. Seine Stimme wird überall auf der Welt, in allen Sprachen, zu hören sein.« Der Generalsekretär drehte sich um und blickte nach oben. Donovan stellte die Kamera auf die dunkle Öffnung im Bauch der Raumfähre ein. Etwas bewegte sich dort – dann sah er durch den Bildsucher in Stiefeln steckende Füße, Beine, einen normal aussehenden Körper, zwei Arme, einen Kopf – Donovan stockte der Atem, seine Finger umklammerten die Kamera. Er hatte erwartet, daß es Unterschiede im Aussehen geben würde, doch das war nicht der Fall! Auf den ersten Blick sah der Fremde wie ein normaler Mann mittleren Alters aus, mit dichten, grauen Haaren und scharfen, blauen Augen. Er
trug hohe, schwarze Stiefel, die wie ganz gewöhnliche englische Reitstiefel aussahen, und einen rötlichen Overall, der ähnlich wie ein Fliegeranzug geschnitten war. Über der Brust waren fünf schwarze Querstreifen zu sehen. Kristines Kommentar war sehr, genau und präzise: »Ungefähr 1,80 Meter groß, schätzungsweise 160 Pfund schwer… Es scheint ihm schwerzufallen, im grellen Licht der Scheinwerfer zu sehen… Auf halber Höhe der Treppe bleibt er stehen… Ich nehme an, daß er gleich sprechen wird…« Die Stimme des Mannes war klar und deutlich zu hören, doch ihr seltsamer Klang, dieses vibrierende Nachhallen, war live fast noch deutlicher zu erkennen. »Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen… aber unsere Augen sind nicht an diese Art von Helligkeit gewöhnt…« Er griff in eine Tasche seines Overalls, zog eine überraschend normal aussehende Sonnenbrille heraus und setzte sie auf. »Wie der Generalsekretär Ihnen bereits gesagt hat, sind wir in friedlicher Absicht zu den Menschen auf der Erde gekommen… Unser Planet ist der vierte der Sonne, die Sie Sirus nennen. Sie ist ungefähr 8,7 Lichtjahre von der Erde entfernt. Es ist das erste Mal, daß wir unser Heimatsystem verlassen haben, und Sie sind die ersten intelligenten Lebewesen, auf die wir gestoßen sind.« Er legte eine Pause ein, und ein sehr warmes Lächeln erhellte sein Gesicht. »Wir freuen uns sehr, Sie kennenzulernen.« Ein allgemeines Raunen und Aufatmen ging durch die Menge der Journalisten und Würdenträger. Donovan filmte weiter und machte eine Großaufnahme von dem Mann, als er ein paar Schritte näher auf ihn zukam. »Unsere richtigen Namen würden fremdartig für Ihre Ohren klingen«, fuhr er fort. »So haben wir – meine Gefährten und ich – ganz einfache, bei Ihnen gebräuchliche Namen gewählt. Ich heiße John.«
Wieder lächelte der Fremde. »Der Generalsekretär bezeichnete mich als Obersten Kommandeur. Tatsächlich bin ich eine Art Admiral. Ich bin verantwortlich für dieses kleine Schiff hier.« Kleines Schiff? Donovan umklammerte die Kamera, er wurde sich plötzlich bewußt, daß seine Hände schweißnaß waren. »Wir haben vorher schon unbemannte Sonden entsandt, die Radio- und Fernsehsendungen aufgezeichnet haben und auf diese Weise ihre Sprachen gelernt – doch nicht alle von uns sind so erfahren. Wir hoffen daher, daß Sie Geduld mit uns haben werden. Wir sind im Namen unseres Großen Denkers hierhergekommen… unseres Denkers, der unseren Planeten mit Güte und Weisheit regiert… Wir sind gekommen, weil wir Ihre Hilfe brauchen.« Güte und Weisheit, dachte Donovan zynisch. Das klingt ganz nach heiler Welt. Wenn sie sich anstrengen, könnte John unser nächster Präsident werden… »Unser Planet hat ernste Umweltprobleme, viel, viel größere als die auf der Erde. Sie haben ein Stadium erreicht, in dem wir bald ohne Hilfe keine Überlebenschancen mehr haben. Es gibt da bestimmte Chemikalien und Präparate, die wir brauchen, wenn wir unsere vor der Zerrüttung stehende Zivilisation retten wollen. Sie können uns bei ihrer Herstellung helfen. Als Gegenleistung werden wir gern die Früchte unserer Wissenschaften mit Ihnen teilen.« Die Früchte unserer Wissenschaften… Wer hat bloß diese Rede aufgesetzt? »Jetzt, da der Kontakt hergestellt ist, würden wir gern mit den verschiedenen Regierungen sprechen, um gezielte Fragen über die Fabriken, die wir zur Herstellung dieser Präparate errichten müssen, stellen zu können.« Flüchtig dachte Donovan an die Fabrik seines Stiefvaters und konnte sich lebhaft vorstellen, wie seine Mutter Eleanor den
armen Arthur dazu antrieb, einen Vertrag mit den Außerirdischen zu schließen. »Ich möchte wissen, um was für Präparate es sich handelt.« »Und wie ich schon sagte, werden wir uns für Ihr Entgegenkommen erkenntlich zeigen, indem wir Ihnen unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse zugänglich machen, um auch Ihnen bei der Lösung Ihrer Umweltprobleme, Ihrer Schwierigkeiten in der Landwirtschaft und im Gesundheitswesen zu helfen. Dann werden wir Sie wieder, wie wir gekommen sind, in Frieden verlassen.« Offerieren uns den Himmel auf einem Silbertablett – was würden sie wohl tun, wenn wir ihnen sagten, daß sie sich zum Teufel scheren sollen! »Ich weiß, daß wir im umgekehrten Fall – wenn Sie zu uns gekommen wären – darauf brennen würden, Ihr Raumschiff von innen zu sehen. Wir bitten daher Ihren Generalsekretär und fünf der hier versammelten Journalisten, mit uns an Bord unseres Mutterschiffs zu kommen. Das wird eine von vielen Gelegenheiten sein, uns besser kennenzulernen.« Donovan spürte, wie ihm jemand auf die Schulter tippte, und blickte auf. Einer der Adjutanten des Generalsekretärs stand neben ihm. »Ihre Karte wurde gezogen, Mr. Donovan«, sagte er in akzentuiertem Englisch. »Himmel!« Hastig ergriff Donovan seine Filmausrüstung und schlüpfte auf ein Zeichen des Mannes hin unter dem Absperrseil hindurch. Als er auf die Rampe zuging, schlossen sich ihm Kristine und Tony an. »Was soll das heißen, meine Karte wurde gezogen?« fragte Donovan leise, als sie über das Dach gingen. »Sie haben die Journalisten durch das Los ausgewählt«, erklärte Kristine. »Auch Sam Egan und Jeri Taylor hat es getroffen.« »Wir haben wirklich das große Los gezogen.«
»Allerdings«, pflichtete Tony, der bereits die Rampe hinaufstieg, ihm trocken bei. Donovan eilte ihm nach. John, der Anführer der Außerirdischen, erwartete sie oben auf der Rampe. Donovan stieg als letzter die Treppe hoch, weil er noch eine gute Aufnahme von der Begrüßung der anderen Journalisten durch den Fremden machen wollte. Dann rannte er selbst nach oben; die Kamera trug er auf seiner linken Schulter, so daß er die rechte Hand frei hatte. Oh, Gott, dachte er, nun doch wider Willen beeindruckt, ich werde jemandem die Hand schütteln, der unter einer anderen Sonne geboren wurde… der zwar aussieht wie ein Mensch, aber keiner ist… Johns Hand war ausgesprochen kalt, die Haut glatt und fest. Er nickte Donovan freundlich zu. »Mr. Donovan, ich habe Ihre Aufnahmen von der Unterseite unseres Mutterschiffs gesehen. Sehr eindrucksvoll… und ziemlich gewagt.« Donovan kam sich vor wie ein Kind, dem ein Erwachsener ein Lächeln schenkt und ihm freundlich auf die Schulter klopft. »Das stimmt. Sie sagten, Sie hätten unsere Fernsehprogramme aufgenommen. Wie lange haben Sie das gemacht?« Hinter der dunklen Sonnenbrille konnte Donovan den abschätzenden Blick erkennen, mit dem der Fremde ihn musterte. »Ein paar Jahre lang«, erwiderte John freundlich. »Und jetzt verspreche ich Ihnen, daß Ihre Neugier befriedigt wird, Mike. Während unseres Aufenthaltes hier werden wir viel Zeit haben, miteinander zu reden.« »Es freut mich, das zu hören.« Damit ging Donovan weiter. Als er in die Raumfähre stieg, machte er noch eine Nahaufnahme von John, der Kristine freundlich zulächelte, ehe er neben ihr Platz nahm. Das Innere der Fähre war enttäuschend. Es sah aus wie ein Mittelding zwischen einem Düsenjäger und einem der Pendelbusse, die die Passagiere zu den Flugzeugen brachten. An den Wänden entlang waren Sitze angebracht, gepolsterte
Sitze aus einem Gewebe, das aussah (und es wahrscheinlich auch war) wie ganz gewöhnlicher dunkelbrauner Kunststoff – eine gute Farbwahl, dachte Donovan, der daran denken mußte, wie er im vorigen Jahr nach der Scheidung sein Appartement eingerichtet hatte. Er hatte braune Teppiche gewählt – weil man darauf den Schmutz weniger sah. Beim Gedanken an seine Scheidung fiel Donovan siedendheiß ein, daß er Sean seit beinahe drei Tagen nicht mehr angerufen hatte. Nicht mehr, nachdem diese Sache begonnen hatte. Das Ereignis des Jahrhunderts, und schon vergißt du, dich nach dem Befinden deines einzigen Kindes zu erkundigen! Insgeheim schwor er sich, gleich morgen früh anzurufen und ihn über das Wochenende zu besuchen. Er fragte sich, ob Sean wohl gesehen hatte, wie er auf die Rampe gestiegen war und die fremde Raumfähre betreten hatte. Dann mußte er lächeln – natürlich hatte er ihn gesehen! Sean war der größte Fan seines Vaters, daran konnte auch Majories Verbitterung nichts ändern. Kristine Walsh saß, noch immer in ein Gespräch mit John vertieft, ihm gegenüber. Donovan hätte gern gewußt, worüber sie sich unterhielten. Auf ihrem Gesicht lag dieses warme, offene Lächeln, das sie, das wußte Mike, nur Menschen, die sie wirklich mochte, entgegenbrachte. Er fühlte eine ganz und gar unsinnige Eifersucht in sich aufsteigen. Hör auf damit! Du bist wegen einer Story hier und nicht wegen eines romantischen Intermezzos! Schnell schwenkte er die Kamera herum und wünschte sich, mehr Licht zu haben. Die Fremden schienen eine schwache Beleuchtung zu lieben, ähnlich der, wie sie die meisten Menschen beim spätabendlichen Fernsehen bevorzugten. Donovan konnte zwar noch gut sehen, doch länger als fünf Minuten zu lesen, wäre ihm bei diesem Licht schon schwergefallen.
Ich dachte immer, Sirius sei ein sehr heller Stern… Das muß ich unbedingt nachprüfen, wenn ich zurück bin… Ich nehme an, ihr Planet hat eine sehr dichte Atmosphäre… Zwei andere Fremde, junge Männer in Donovans Alter, sahen in die Hauptkabine, und John nickte ihnen zu. Augenblicke später spürte Donovan eine leichte Bewegung, als die Raumfähre offenbar vom Boden abhob. Er wünschte sich, die Fenster wären nicht abgedunkelt gewesen – welch herrliche Aufnahme hätte er von dem sich entfernenden UNO-Gebäude und der immer näher kommenden riesigen Untertasse machen können! Die fremde Raumfähre glitt still und fast ohne spürbare Bewegung nach oben. Donovan fragte sich, was für Triebwerke die Raumschiffe haben mochten. Schlagworte aus »Cosmos«-Episoden und Science Fiction-Romanen fielen ihm ein. »Angst, Mike?« wandte sich Tony an ihn. »Du?« »Ja, ein bißchen vielleicht. Das ist ein großer Tag für den ganzen Planeten.« »Es ist komisch, daß du von unserer Erde als Planeten sprichst, jetzt, wo sie gekommen sind.« »Da hast du recht. So etwas fördert offensichtlich das kosmische Bewußtsein.« »Hm, aber um deine Frage zu beantworten – ja, ich habe auch etwas Angst.« Sie spürten einen kaum wahrnehmbaren Ruck, dann stand die Raumfähre still. Donovan hob seine Kamera auf und stellte sie auf das befürchtete schwache Licht ein. »Also, gehen wir.« Sie betraten eine große, offene Fläche. An beiden Seiten reihten sich kleine Raumfähren wie jene, die sie hergebracht hatte, entlang. Der riesige Landeplatz erinnerte Donovan an den, den er an Bord des größten Flugzeugträgers der Marine
gesehen hatte. Im schimmernden Weiß der Fähre spiegelte sich das trübe Blau der Beleuchtung und des gestrichenen Bodens wider. John erklärte, daß auf jedem Landedeck etwa drei Dutzend Raumfähren standen. Zusammen mit den mehr als zweihundert über das Mutterschiff verteilten weiteren Fähren bildeten sie eine Flotte von ungeheurem Ausmaß. Donovan hörte, wie Kristine diese Zahlen auf Band sprach, während er langsam die Kamera schwenkte. John berührte Kristines Arm. »Hier entlang. Ich werde Ihnen jetzt das Hauptkontrollzentrum zeigen.« Donovan ging in einiger Entfernung hinter ihnen her, so daß er die auf die zwischen den Maschinenteilen angebrachte Laufplanke kletternden Journalisten filmen konnte. Dann schloß er sich ihnen hastig wieder an. Als sie über das Landedeck gingen, kam ihnen aus einer Seitentür eine außergewöhnlich schöne Frau entgegen und blieb dann wartend stehen. Donovan richtete sofort seine Kamera auf sie. Selbst in diesem schwachen Licht war die Autorität in ihren Augen nicht zu übersehen, eine Autorität, die ebenso ein Teil von ihr zu sein schien wie ihre ausgeprägten Wangenknochen und der breite Mund. Während sie auf die fremde Frau zugingen, hörte Donovan Kristines Stimme: »Sie haben auch Frauen in Ihrer Mannschaft?« »Natürlich«, erwiderte John in leicht überraschtem Ton. »Das ist Diana – meine Stellvertreterin.« Die Brünette nickte ihnen freundlich zu, und Donovan machte eine Nahaufnahme von ihr. Dann gesellte sie sich zu ihnen, um sie auf ihrem Rundgang zu begleiten. Der Kontrollraum erinnerte entfernt an den Kommandoturm eines Atom-U-Bootes. Er war jedoch größer, und etwa ein Dutzend Männer und Frauen saßen an hellbeleuchteten Pulten vor Bildschirmen. Über einige Schirme flimmerten Bilder von Manhattan, die meisten jedoch zeigten Diagramme und
Datenkolonnen. Alle Mitglieder der Mannschaft trugen diese rötlichen Overalls, die sich nur durch leichte Abweichungen in den Mustern auf der Brust, die offenbar den Rang verdeutlichten, voneinander unterschieden. Mike mußte die Kamera schnell herumfahren, denn der Oberste Kommandeur blieb nicht stehen, sondern ging ständig weiter. »Als nächstes werden Sie den Raum sehen, den Sie wahrscheinlich als Maschinenraum bezeichnen würden.« »Haben Sie über den Bildschirm dort oben Kontakt zu den anderen Schiffen in Ihrer ›kleinen Flotte‹?« Johns Blick folgte Kristines ausgestrecktem Finger. »Ja, Kristine.« Auch Dianas dunkler Altstimme wohnte dieses seltsame Nachhallen inne. »Die anderen überwachen fast alle die Funktionen des Schiffes. Das ist alles Routine und wirklich nichts Besonderes.« Natürlich nicht, dachte Donovan, der gerade die beiden Frauen filmte. Wenn Sie zufällig von einem anderen Stern kommen… Sie gingen weiter über die Laufplanke, bis sie einen Tunnel erreichten. Der dunkle Gang erstreckte sich beinahe vierzig Schritte lang – Donovan zählte sie. Seine Haare schienen sich zu sträuben, und er wurde sich plötzlich bewußt, daß er sich benahm, als befände er sich in feindlichem Gebiet. Sei nicht albern, Mike. Denk daran, sie sind in friedlicher Absicht gekommen. Das einzige, was ihnen in dem Gang auffiel, waren mehrere leuchtendgelb gestrichene Türen. Donovan sah sie sich durch den Bildsucher näher an, entdeckte jedoch nichts Besonderes daran. »Und die Türen, an denen wir gerade vorbeigekommen sind?« wandte sich Kristine an Diana.
»Verbotenes Gelände – viel Radioaktivität. Unser Gravitationsantrieb ist sehr effektiv, wie Sie gesehen haben, doch er nimmt beinahe das ganze Schiff in Anspruch.« »Welche Geschwindigkeit kann dieses Baby erreichen?« fragte Donovan. Es war das erste Mal, daß er etwas sagte, und Diana blickte zu ihm herüber. »Wir erreichen Geschwindigkeiten, die der des Lichtes nahe kommen.« Donovan wollte schon fragen, ob sie Einsteins Theorie bestätigt oder widerlegt hätten, überlegte es sich dann jedoch anders, weil ihm einfiel, daß sie Einstein wahrscheinlich gar nicht kannten. Sie gingen weiter über eine Laufplanke, die in ziemlicher Höhe über eine beträchtliche Anzahl von glänzenden, goldfarbenen Zylindern führte. Der Ort mit dem umfangreichen Röhrensystem erinnerte vage an eine Raffinerie. Ein paar Techniker machten sich zwischen den riesigen Zylindern zu schaffen, kontrollierten die Informationen von den Skalen und Diagrammen und zeichneten sie auf. »In der anderen Hälfte des Schiffes befinden sich die Mannschaftsräume«, fuhr Diana fort, »ebenso Lagerflächen für die Chemikalien, die wir hier auf der Erde herstellen wollen. Wir werden sie in riesigen, kälteerzeugenden Tanks aufbewahren, um sie…« »Kälteerzeugend?« unterbrach sie Kristine. »Ja, auf diese Weise erreichen wir den höchstmöglichen Lagereffekt.« »Sie dürfen es Diana nicht übelnehmen, Kristine«, mischte sich John ein. »Wie alle Wissenschaftler neigt sie dazu, manchmal zu vergessen, daß wir nicht alle so viel technisches Verständnis besitzen wie sie.«
»Sie sprachen von den Mannschaftsräumen«, fuhr Kristine fort. »Wie viele Personen befinden sich an Bord dieses Raumschiffes?« Diana zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, doch Donovan entging ihr schneller Seitenblick zu ihrem Kommandeur nicht. »Das ist… unterschiedlich… Mehrere Tausend.« Allein auf diesem Schiff? Wie viele mögen es dann auf allen fünfzig Schiffen zusammen sein? Nachdenklich biß Donovan sich auf die Lippen und blickte zu Kristine hinüber, doch diese stellte bereits ihre nächste Frage. »Können wir mit einigen von ihnen reden?« »Natürlich«, antwortete John lächelnd. »Sie werden reichlich Gelegenheit dazu haben.« Wenige Minuten später endete ihr Rundgang wieder auf dem Landedeck. Dieses Mal war es Diana, die den Generalsekretär und die Journalisten zurück zum UNO-Gebäude begleitete. Wieder an Bord der kleinen Raumfähre (soweit Donovan es beurteilen konnte, war es die gleiche, die sie hinaufgebracht hatte – doch mit Sicherheit konnte er es nicht sagen) streckte Donovan sich erschöpft aus und massierte seine Nackenmuskeln. »Wie spät ist es?« fragte er Tony, als er bemerkte, daß dieser auf seine Uhr sah. Tony grinste. »Ungefähr halb zehn. Die Nacht ist noch jung, mein Freund.« Donovan unterdrückte ein Gähnen. »Mein Gott, warum bin ich nur so müde? Ich fühle mich, als hätte ich tagelang nicht geschlafen.« »Das hast du ja auch nicht. Es sei denn, du konntest auf dem Rückflug von El Salvador ein Nickerchen machen.« »Nein, da nicht. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, dein Kindermädchen zu spielen.«
»Quatsch! Ich habe die Nahaufnahmen von dem Mutterschiff gesehen. Du hast wieder einmal den waghalsigen fliegenden Kameramann gespielt.« »So bin ich nun mal«, grinste Donovan und tippte auf die Kamera. »Ich kann es kaum erwarten, das hier in den Äther zu jagen.« »Wieviel, glaubst du, sind die Bilder wert?« wollte Tony, der praktische Teil ihrer Partnerschaft, wissen. »Wir werden jeden Preis bekommen, den wir verlangen, alter Freund. Die Höhe überlasse ich dir als unserem Manager.« Tony nickte nachdenklich, dann zog er einen Taschenrechner hervor und machte sich an die angenehme Aufgabe auszurechnen, wieviel Geld ihnen dieses Abenteuer einbringen würde. Die fünf Journalisten und der Generalsekretär wurden von der Presse abgeschirmt, bis sie ihre Bänder und Filme an den Sender übergeben hatten. Dann sahen sich Donovan, Tony und Kristine ihre Sonder-Nachrichtensendung an, die über Satellit ausgestrahlt wurde. »Glaubst du, daß wir damit Platz eins in den Einschaltquoten übernehmen werden?« Mit breitem Grinsen sah sich Tony Donovans Aufnahmen vom Landedeck an. »Vielleicht«, meinte Kristine zufrieden lächelnd. »Was meinst du, Mike? Haben wir es geschafft, ›Dallas‹ zu schlagen?« »Ich weiß nicht.« Donovan nahm einen kräftigen Schluck von seinem dritten Coors. »Es handelt sich immerhin um starke Konkurrenz, meine Liebe. Und dies ist ja nur die Nachricht des Jahrhunderts.« Kaum war die Übertragung beendet, als jemand mehrere Flaschen Champagner brachte. Die Korken knallten beinahe ebenso oft wie gestern die Schüsse aus den Maschinengewehren. Gestern?
Wirklich erst gestern? Donovan hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er überlegte, wie es wohl sein würde, mit Lichtgeschwindigkeit durchs All zu rasen. Wie mochte es sein, eins dieser großen Mutterschiffe als Pilot zu fliegen? Wahrscheinlich würde man das erregende Gefühl, es allein zu führen, nicht erleben können, weil das nur mit einem Team möglich war. »Mike?« Wie durch einen Schleier sah er Kristine vor sich stehen; er war beinahe eingedöst. »Wie spät ist es?« Er blickte um sich. Die Party war in vollem Gang. »Fast Mitternacht. Magst du noch auf einen Drink zu mir kommen?« Er wollte ablehnen, wollte sagen, daß er es vorzog, sich ein Hotel zu suchen, daß er todmüde war. Statt dessen hörte er sich antworten: »Gern. Hast du einen Videorecorder?« »Natürlich. Du bringst die Kassetten mit?« »Klar.« Es war schon ein paar Monate her, seit er zum letzten Mal in Kristines Wohnung gewesen war. Der Blick von hier aus auf die obere East Side war atemberaubend. Er blickte auf das glitzernde Wasser, beobachtete das Spiel der Autoscheinwerfer. Und über allem stand das angestrahlte riesige Raumschiff der Fremden. Während Donovan emporstarrte, mochte er kaum glauben, daß er wenige Stunden zuvor wirklich selbst dort oben gewesen war. Kristine kam mit mehreren grünen Flaschen und zwei schön geschwungenen Gläsern aus der Küche zurück. Donovan grinste. »Wieder Champagner?« Der Korken knallte, und Sekt sprudelte heraus. Schnell hielt Donovan sein Glas unter die Flasche. Dann machten sie es sich auf ihrer teuren Velourgarnitur gemütlich.
Kristine lachte. »Natürlich. Wie oft können wir schon die Berichterstattung von dem Ereignis des Jahrhunderts feiern?« »Hm.« Donovan schüttelte den Kopf, nahm dann vorsichtig einen Schluck Champagner. »Ich kann immer noch nicht fassen, daß ausgerechnet wir drei das Glück hatten, hineinzukommen.« Kristine kicherte. Mike hatte noch nie erlebt, daß sie so viel Alkohol getrunken hatte. »Das hatte nichts mit Glück zu tun. Ich habe den Stapel, aus dem die Karten gezogen wurden, präpariert. Es mußte uns treffen.« »Ach, hör auf!« Er wußte nicht, ob er ihr glauben sollte oder nicht – ob er sie in den Arm nehmen oder mit ihr schimpfen sollte. »Doch, das habe ich wirklich getan.« Lachend schleuderte sie die Schuhe in die Ecke. Ihren braunen Blazer hatte sie bereits ausgezogen; ihre weiße Bluse ließ sie sehr weich und weiblich aussehen. Er bemerkte, daß sie die oberen Knöpfe geöffnet hatte. Er wandte sich ab und nippte an seinem Champagner. Sie setzte sich neben ihn und ergriff den Fernbedienungsschalter für den Fernseher. »Hast du die Kassette eingelegt, Mike?« »Aber du hast es doch vorhin erst gesehen…« »Ja. War es nicht entsetzlich? Spiel es noch einmal ab, Mike. Noch einmal!« Sie schaltete das Gerät ein und griff gleichzeitig nach der Flasche. Donovan fühlte etwas Kaltes auf seinem Bein und schrie: »Kris! Versuch bitte, den Sekt ins Glas zu schütten!« Sie schnitt eine Grimasse. »Sei still. – Einfach phantastisch!« Sie deutete auf den Fernsehschirm. Sie sahen sich ihren Rundgang durch das Mutterschiff an, so wie Donovan es mit seiner Kamera eingefangen hatte. Als Diana auf dem Bildschirm erschien, sagte Kristine mit
spöttischem Lächeln: »Da ist sie, deine Freundin! Du hast mehr Nahaufnahmen von ihr gemacht als von mir.« Donovan grinste sie an, machte jedoch keinen Versuch, es abzustreiten. »Sie hat eben alles… Schönheit… Verstand…« »Und auch die Figur läßt nichts zu wünschen übrig«, ergänzte Kristine ihn lachend, während sie Dianas Profil betrachtete. »Aber möchtest du, daß deine Schwester einen Mann vom Sirius heiratet?« Sie drückte wieder auf den Schnellvorlauf-Knopf. Jetzt schien Diana sie direkt anzusehen. »Schau!« Kristine drehte sich zu ihm um, das Glas dabei in beängstigender Höhe haltend. »Wieder eine Nahaufnahme.« Lachend streckte Donovan die Hand nach ihr, doch sie war schneller. Kalter Champagner lief seinen Hals herunter. Wieder griff er nach ihr, versuchte, dabei seinen eigenen Champagner nicht zu verschütten, und schließlich gelang es ihm, sie am Handgelenk festzuhalten. Ihr leeres Glas fiel auf den weichen Teppichboden. Beide mußten lachen, als sie um das zweite Glas rangelten. Irgendwie fand Mike sich schließlich auf der Couch liegend wieder. Kristine lag auf ihm, das Champagnerglas hielt er noch immer in der Hand. Auf wunderbare Weise war es noch immer gefüllt, doch Donovan hatte das Interesse am Champagner verloren. Zu sehr war er sich ihres Blickes bewußt. Ihre Augen waren nur Zentimeter voneinander entfernt. Ihre Stimme war heiser und dunkel. »Mike… Warum hat es nicht schon früher geklappt?« Er schüttelte den Kopf, zuckte stumm die Achseln. Wenn er die Nacht nicht bei ihr verbringen wollte, mußte er sich jetzt zurückziehen. Sofort. Andererseits wäre das nicht fair Kristine gegenüber. Doch irgendwie fand er nicht die richtigen Worte. »Ich möchte es noch einmal versuchen.« Sie drängte sich ihm entgegen, und ihr Mund trug den Geschmack des süßen Weins.
Mike schloß die Augen und erwiderte ihren Kuß. Sehr lebendig und warm spürte er ihren Körper, als er sie neben sich zog. Mit der einen Hand griff er in ihr seidiges Haar, während die andere nach der Tischkante suchte. Und es gelang ihm, das Glas abzusetzen, ohne etwas zu verschütten.
3. Kapitel
Robert Maxwell sah seine Frau Kathleen ärgerlich an. »Ich dachte, Robin wollte längst hier sein.« Obwohl Kathleen selbst ziemlich nervös war, bemühte sie sich, sich ruhig und gelassen wie immer zu geben. »Reg dich nicht auf, Liebling. Sie wird jeden Augenblick kommen. Hast du den Wagen schon aus der Garage gefahren?« »Ja!« Robert wußte, daß er sehr ruppig war, konnte es jedoch nicht ändern. Da hatte er zum ersten Mal Gelegenheit, die Fremden aus der Nähe zu sehen, und seine Tochter hielt ihn davon ab. Teenager! »Warum ist sie nicht pünktlich, Kathleen?« »Sie entdeckte einen Fleck auf ihrer Uniform und versucht, ihn herauszubekommen. Beruhige dich doch, Liebling.« Mit ihrer dreijährigen Schwester Katie auf dem Arm kam ihre zwölfjährige Tochter die Treppe herunter. Maxwell nahm seine Jüngste auf den Arm und gab ihr einen zärtlichen Kuß. »Hm, du siehst hübsch aus, meine Süße, und riechst so frisch und sauber. Danke, daß du sie fertig gemacht hast, Polly.« »Ist schon in Ordnung, Dad. Obwohl es nicht ganz leicht war, weil sie auf keinen Fall dieses rosafarbene Kleid und die Rüschenhose anziehen wollte.« Polly grinste Katie verständnisvoll an; sie teilte die Vorliebe ihrer Schwester für lässige Kleidung. Kathleen schüttelte den Kopf, als Maxwell das kleine Mädchen auf den Boden setzen wollte. »Nein, nicht! Halt sie fest! Wenn du sie herunter läßt, macht sie sich sofort wieder schmutzig.«
Maxwell hob die zappelnde Katie wieder hoch. »Deine Mami ist vielleicht nett! Du sollst der größte Schmutzmagnet der Welt sein?« Katie grinste ihren Vater frech an und gab ihm einen feuchten Kuß auf den Mund. »Mutti, wo ist mein Hut?« In einer Wolke von Weiß und Blau stürzte die siebzehnjährige Robin die Treppe herunter. Polly hob die Flötenschachtel ihrer Schwester auf und reichte sie ihr. »Hier ist er, mein Liebes.« Kathleen ergriff die rote Pelzkappe. »Laßt uns gehen, Leute! Wir sollten schon vor fünf Minuten dasein!« Schnell und sicher fuhr Maxwell mit seinem Kombiwagen zu der von seinem Nachbarn, Arthur Dupres, geführten Fabrik. In den drei Wochen, die seit der Ankunft der Visitors verstrichen waren, hatten diese eine Reihe von Werken ausgesucht, nach deren Muster sie ihre Fabriken für die Herstellung der dringend benötigten chemikalischen Präparate ausrüsten wollten. Die Richland-Chemical-Corporation war von Diana, der Wissenschaftlichen Kommandeuse der Visitors, zum ersten Einsatzpunkt erklärt worden. Natürlich warteten jetzt eine riesige Menschenmenge und zahlreiche Presseleute auf die Landung der Raumfähre. Zum Glück gelang es Maxwell, einen Parkplatz neben den Schulbussen zu finden, die die Ausrüstung der Schülerkapelle hergefahren hatten. Während Kathleen die Pelzmütze auf dem dunklen Haar ihrer Tochter befestigte, reichte Maxwell ihr die Flötenschachtel. »Ist alles okay?« Robin blickte prüfend in den Außenspiegel des Kombiwagens. »Du siehst großartig aus, mein Kind«, sagte ihr Vater und dachte, daß diese gedankenlose Bemerkung von Tag zu Tag mehr der Wahrheit entsprach. Mit ihren blaugrünen Augen, dem seidigen, dunklen Haar und dem hübschen Gesicht war sie
eine kleine Schönheit, und die meisten ihrer Klassenkameraden an der Rosemont High School rissen sich um ihre Gunst. Leider war sich Robin dessen durchaus bewußt – ein Umstand, der Maxwell nicht gefiel. Seufzend blickte er ihr nach, als sie zu der Aufstellung nehmenden Kapelle hinüberrannte. Sie ist immer noch ein Kind, dachte er, aber nicht mehr lange. Mit Katie auf seinen Schultern ging Maxwell mit Polly und seiner Frau zu der Zuschauertribüne hinüber. Trotz ihrer Verspätung, was Robin anbelangte, waren sie noch relativ früh dran und bekamen gute Plätze. Maxwell nahm sein Fernglas aus dem Etui. »Bob!« Kathleen sah ihn vorwurfsvoll an und schob das dunkelblonde Haar aus der Stirn. »Du willst dieses Ding doch wohl nicht benutzen, oder?« Maxwell stellte das Fernglas auf die erhöhte Plattform ein, wo die Zeremonie beginnen sollte. »Aber natürlich werde ich es benutzen«, erwiderte er. »Kommt es dir nicht ziemlich unhöflich vor?« »Es wird niemandem auffallen. Außerdem sitzen wir viel zu weit von der Plattform entfernt, als daß uns jemand sehen könnte.« Kathleen war nicht überzeugt. »Ich glaube trotzdem…« Maxwell steckte das Fernglas wieder ins Etui zurück. »Niemand wird auf mich achten, Liebling. Alle werden sich den Hals verrenken, um einen Blick auf die Visitors werfen zu können. Arch Quinton erzählte mir vorige Woche, daß die Fernaufnahmen von einigen der Fremden einige ›interessante Anomalien‹ gezeigt hätten, wie er sich ausdrückte. Ich möchte selbst sehen, was das für Anomalien sind.« »Warum hast du ihn nicht gefragt?« »Du kennst doch Arch! Er ist so gesprächig wie der Stein von Scone.«
»Maxwell!« Auf den Zuruf hin drehten sich die beiden Maxwells um und entdeckten einen glatzköpfigen Mann in einem teuren Anzug, der ihnen von der anderen Seite der Tribüne her zuwinkte. Gerade gesellte sich eine sehr elegant gekleidete Dame zu ihm. Mit Polly und Katie im Schlepptau bahnten sich Robert und Kathleen ihren Weg die Tribüne herunter. »Hallo, Arthur. Herzlichen Glückwunsch zu diesem großen Tag! Die Augen der ganzen Welt werden heute auf Richland gerichtet sein«, sagte Maxwell und reichte dem Mann die Hand. »Davon bin ich überzeugt.« Stolz ergriff Eleanor Dupres den Arm ihres Mannes. »Ich war diejenige, die den Vorschlag machte. Als John zum ersten Mal davon sprach, daß sie Chemikalien brauchten, sagte ich zu Arthur, er solle den Visitors Richland für ihre Zwecke anbieten. Ich wies ihn darauf hin, daß das irgendwie Bürgerpflicht sei. So tat er es also, und nun geschieht all das – ich finde es wunderbar!« »Gewiß«, entgegnete Kathleen hastig und berührte warnend Roberts Arm, als dieser Eleanor begrüßte. Maxwell atmete tief durch, und es gelang ihm, das breite Grinsen, das Eleanors Gerede stets in ihm auslöste, mannhaft zu unterdrücken. »Oh, noch etwas«, fügte Eleanor hinzu. »Ich gebe heute abend eine kleine Party zu Ehren der Visitors. Einige von ihnen haben sich bereit erklärt, daran teilzunehmen, und ich würde mich freuen, wenn Ihr auch kämt.« Maxwell bemühte sich, seine Erregung nicht zu zeigen. »Oh, gerne. Um wieviel Uhr?« »So gegen acht. Und nicht zu offiziell, bitte – Abendkleidung genügt. Bis dann also.« Eleanor und Arthur verschwanden in Richtung der Ehrentribüne. Maxwell wartete, bis sie außer Hörweite waren, dann rief er: »Wunderbar! Ich werde sie also aus nächster Nähe sehen.«
Kathleen bedachte ihn mit einem spöttischen Lächeln. »Du und deine großen Worte, Bob.« Sie ahmte Eleanors überschwenglichen Ton nach. »Abendkleidung genügt! Wie zum Teufel soll ich innerhalb von sechs Stunden etwas zum Anziehen auftreiben?« »Du wirst großartig aussehen wie immer, Liebling«, erwiderte Maxwell geistesabwesend. In Gedanken malte er sich bereits seine Gespräche mit den Fremden über ihre Ursprünge und Entwicklung aus. Seines Wissens waren keine wissenschaftlichen Beobachter an Bord des Raumschiffes gebeten worden – nur Journalisten und Politiker. Welch eine Chance für ihn! »Und selbst, wenn ich etwas für mich finde – ich kann mir nicht vorstellen, was du anziehen willst.« »Wie wäre es mit dem neuen Sportsakko, das wir letztes Frühjahr gekauft haben?« Kathleen sah ihn mißbilligend an. »Ist dir überhaupt aufgefallen, wie du deine Manschetten zugerichtet hast, als du mit Arch ›für ein paar Minuten‹ zu den Ausgrabungen gingst – und aus den paar Minuten drei Stunden wurden? Du zerstreuter Professor!« »Ja, ja«, meinte Maxwell ärgerlich. »Vielleicht sollte ich mir heute nachmittag nach der Eröffnungszeremonie noch ein neues kaufen.« Kathleen schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Liebling, aber das können wir uns nicht leisten. Aber mach dir keine Sorgen, ich glaube, die alte Marineuniform ist noch in Ordnung, und sie wird ausreichen.« Maxwell küßte sie impulsiv auf die Stirn. »Danke, Liebling. Ich verdiene dich gar nicht. Weißt du das?« Der Blick ihrer grünen Augen wurde weich. »Oh, doch. Ich liebe dich, Bob.«
»Ich dich auch.« Sie sahen sich liebevoll in die Augen, als Pollys laute Stimme sie unterbrach. »Mami! Kann Katie ein Sodawasser haben?« »Später, Polly.« Sie drehten sich um, um wieder zu ihrem Platz hinaufzugehen. »Aber ich habe Durst, Mami.« Kathleen seufzte. »Ich sagte, später, Katie, aber du kannst ein paar Weintrauben haben.« Die Band stimmte sich ein, und die Tribüne füllte sich jetzt sehr schnell. Maxwell sah einen weißen Lieferwagen vorfahren; mehrere Techniker begannen, Geräte aufzubauen. Verschiedene Leute stiegen aus dem Wagen, und Maxwell, der wieder sein Fernglas benutzte, erkannte zwei von ihnen sofort. »Sieh mal, Liebling, da sind Mike Donovan und Kristine Walsh!« »Laß mich sehen!« Kathleen nahm ihm eilig das Fernglas aus der Hand. »Hmmm… Sie sehen irgendwie kleiner aus als im Fernsehen.« »Sie ist eine sehr attraktive Frau«, meinte Maxwell. Kathleen sah ihn amüsiert an. »Wen würdest du lieber kennenlernen – Miss Walsh oder Diana?« »Diana«, erwiderte Maxwell grinsend. »Am liebsten mit einem Spezialglas auf dem Rücken.« Sie lachte. »Anthropologe bis zum letzten. Willst du etwa behaupten, daß dir nicht aufgefallen ist, wie toll sie aussieht?« »Das habe ich nicht gesagt«, meinte Maxwell lachend. Die Kapelle begann zu spielen – eine ziemlich wacklige, aber doch erkennbare Wiedergabe des »Krieg der Sterne«-Themas. Jemand aus der Zuschauermenge rief: »Da ist es!« Als Maxwell nach oben blickte, sah er eine der kleinen Raumfähren der Visitors von dem riesigen Luftschiff her zu ihnen herunterkommen. Das Mutterschiff war inzwischen
schon ein gewohnter Anblick geworden, ohne den das Panorama von Los Angeles beinahe fremd gewirkt haben würde. »Wissen Sie, woraus sie ihre Chemikalien herstellen?« wandte sich der neben ihm sitzende Mann, ein schwergewichtiger Neger Ende Fünfzig, an Maxwell. »Soviel ich weiß, aus Abfall und Ausschuß«, antwortete Maxwell. »Doch ich habe bisher noch nirgendwo gehört, was für eine Chemikalie es ist und wozu sie sie benutzen wollen.« »Kürzlich habe ich einen bösen Witz gehört, daß sie Abfall essen und Benzin pinkeln. Haben Sie sich darüber schon mal Gedanken gemacht?« Maxwell spähte angestrengt durch das Fernglas, als die Tür der Raumfähre sich öffnete, die fremden Techniker herauskamen und sich dem Rang nach aufzustellen begannen. Jeder von ihnen trug einen großen, plump aussehenden Behälter bei sich. Maxwell war so beschäftigt damit, ihre Gesichter zu studieren, daß er beinahe vergaß, die Frage des Mannes zu beantworten. »Gedanken gemacht? Warum? Sie haben ihre friedlichen Absichten gezeigt.« Der Schwarze strich nachdenklich über seinen Schnurrbart. »Ich weiß nicht. Was haben sie uns denn wirklich gezeigt? Wo sind all die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die sie uns angeblich übermitteln wollen? Sie sind jetzt seit drei Wochen hier, und wir wissen kaum mehr von ihnen als am ersten Tag.« Maxwell blickte weiter angestrengt durch das Fernglas; gerade hatte er Diana in der Menge erkannt. Weiterhin strömten Techniker aus der Raumfähre und nahmen Aufstellung. Jetzt landete eine zweite Fähre und entließ weitere rotgekleidete Visitors. Polly knuffte ihren Vater verstohlen in die Seite. »Heh, Dad. Ich habe gerade einen Witz gehört.«
»Hm.« Maxwell versuchte, das Fernglas auf die Fremden einzustellen. Wie viele waren es jetzt? Die Schülerband quälte sich weiter durch den »Krieg der Sterne« – Maxwell zuckte zusammen, als er einige entsetzlich klingende, falsche Flöte hörte, und er hoffte, daß es nicht Robin war. »Wie viele Visitors braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln?« Maxwell renkte sich den Hals aus. »Ich weiß es nicht. Wie viele?« Polly lachte mit der ganzen Begeisterungsfähigkeit einer Zwölfjährigen. »Gar keine! Sie lieben die Dunkelheit.« Maxwell lachte höflich, auch der Schwarze neben ihm kicherte. Immer mehr Außerirdische strömten aus der Fähre, die Band spielte und spielte. »Wie viele sind es jetzt, Robert?« fragte Kathleen. »Das würde ich auch gern wissen«, mischte sich der Farbige ein. »Wie viele haben Sie gezählt?« Maxwell starrte mit gerunzelter Stirn auf das ständig wachsende Meer roter Overalls. »Ich weiß es nicht. Eine Menge.« »Ja«, meinte der Schwarze, »eine verteufelt große Menge.«
Robin Maxwell bemühte sich nach Kräften, im Takt der Musik zu spielen, während sie sich ständig den Kopf verrenkte, um die sich hinter ihr aufstellenden Visitors sehen zu können. Sie hatte nicht vor, sich diese Gelegenheit, sie aus nächster Nähe sehen zu können, entgehen zu lassen. Sie blies einen falschen Ton und fuhr zusammen. Hoffentlich hatten die anderen Instrumente ihren Fehler überdeckt! Trotzdem brachte sie es nicht fertig, den Blick von den fremden Technikern hinter sich zu wenden.
Es waren sehr viele – Robin hätte gern gewußt, was die unterschiedlichen schwarzen Streifen und Embleme auf ihren Uniformen zu bedeuten hatten. Was hatte Daniel Bernstein gesagt? Daß die Zeichen etwas über den Rang und die Art der Aufgaben aussagten, oder so ähnlich. Beim Gedanken an Daniel zog sie ihr hübsches Näschen kraus. Seit die Visitors da waren, benahm er sich wirklich dämlich. Er konnte über nichts anderes mehr reden. Sonst hatte er immer nur wissen wollen, ob sie mit ihm ausging – nicht, daß Robin viel daran gelegen wäre. Daniel war ein netter, gutaussehender Junge, aber das war auch alles. Er war ein Kind! Sicher, er war beinahe neunzehn, fast achtzehn Monate älter als Robin selbst, doch er benahm sich wie ein Kind. Und als Daddy ihr vor sechs Monaten erlaubt hatte, sich allein mit Jungen zu treffen, hatte sie beschlossen, ihre Zeit nicht mit Kindern zu vergeuden. Immerhin hatten zwei wirklich hübsche Studenten versucht, sie anzusprechen, als sie das letzte Mal mit Daddy in der Universitätsbibliothek gewesen war. Bei der Erinnerung an dieses Erlebnis mußte Robin unwillkürlich lächeln. Um sie herum ertönte noch immer das »Krieg der Sterne«-Thema. Mr. Elderbaum, der Leiter der Band, schien jedoch nicht sonderlich zufrieden mit ihrer Darbietung zu sein. Aber schließlich hatten sie ja nicht einmal eine Woche Zeit zum Einüben gehabt! Hinter ihr marschierten immer mehr Visitors auf. Robin fragte sich, wie viele es wohl sein mochten. Dann blies sie wieder einen falschen Ton, ohne es jedoch überhaupt zu bemerken; eine Sekunde später ließ sie die Flöte herabsinken und stand nur noch da und starrte einen Mann an. Er war der wunderbarste Junge, den sie je gesehen hatte. Sein Haar leuchtete wie Bronze, und seine Augen – es war schwer, sie hinter der dunklen Brille zu erkennen, doch Robin sah ihn
so lange an, bis sie sicher war – sie waren blau! Ein wunderschönes Himmelblau. Er stand neben der Luke der Raumfähre und dirigierte die Visitor-Techniker an ihre Plätze. Lange starrte Robin zu ihm hinüber und war sich nicht bewußt, daß sie dabei lächelte. Gerade als er sich umdrehte und weitergehen wollte, trafen sich ihre Blicke für einen Sekundenbruchteil. Robin spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Dann ging er fort, und sie war wieder allein mit der Band und dem scheinbar endlosen »Krieg der Sterne«. Robin setzte die Flöte an die Lippen und nahm ihren Platz wieder ein, doch sie spielte ganz automatisch. Und sie hoffte, ihn irgendwie, irgendwann einmal wiederzusehen.
Auf der Laufplanke hoch über den Tribünen standen zwei Männer mit Helmen auf dem Kopf und beobachteten, wie die Visitors Aufstellung nahmen. Einer von ihnen, ein breitschultriger Schwarzer, schüttelte den Kopf: »Verdammt!« »Was ist los, Caleb?« fragte sein Begleiter, ein Weißer mit wuscheligen Haaren, dessen Bauch seine Vorliebe für Bier und Fernsehfußball anzusehen war. »Was los ist?« Caleb Taylor deutete aufgebracht nach unten. »Sieh sie dir an, Mann! Es sind so viele von diesen Schmarotzern, daß sie kaum noch auf den Parkplatz passen. Zuerst macht ihr uns unsere Arbeitsplätze streitig, dann die Mexikaner – und jetzt wollen diese Kriecher mit uns arbeiten, und sie stammen nicht einmal von diesem Planeten.« Bill Graham lachte. »Sei nicht albern, Caleb.« Taylor lachte bitter auf. »Wenn du so viel Angst um deinen Arbeitsplatz haben müßtest wie ich, würdest du auch so reagieren, Bill. Du weißt, daß wir Schwarzen meist als erste gehen müssen – versuch nicht, mir etwas anderes zu erzählen.
Als ich noch meine Frau und zwei Kinder ernähren mußte, geriet ich jedesmal ins Schwitzen, wenn die Geschäfte hier in Richland einmal etwas langsamer gingen.« »Heute ist das sicher anders«, entgegnete Bill. »Ben hat eine sehr gute Stellung im Krankenhaus, und du brauchst dich hier sicher nicht für deine Rente abzurackern, wenn du nicht wolltest.« »Ich weiß nicht«, erwiderte Caleb nachdenklich. »Ich habe noch nie auf Kosten anderer gelebt und habe das auch in Zukunft nicht vor. Auch dann nicht, wenn mein Sohn Arzt ist. Er könnte immerhin heiraten und nach Boston oder sonstwohin gehen. Und was würden Elias und ich dann tun?« »Hat Ben denn vor zu heiraten?« »Unsinn!« schnaubte Caleb Taylor. »Die Medizin nimmt ihn so sehr in Anspruch, daß er eine Frau nur ansieht, wenn sie vor ihm auf seinem Untersuchungstisch liegt.« Graham schnalzte mit der Zunge. »Nun, das ist ja immerhin auch eine Möglichkeit…« »Wage nicht, so etwas zu Ben zu sagen! Er nimmt den Eid des Hippokrates sehr ernst und versteht da gar keinen Spaß.« »Da wir gerade von Elias sprechen – wie geht es ihm?« wechselte Bill das Thema. Caleb Taylor wandte sich verdrießlich ab und starrte wieder auf die Reihen der Visitors hinunter. »Zum Teufel, Bill, ich weiß es nicht. Er schläft fast überhaupt nicht mehr zu Hause. Und obwohl er seit Monaten nicht mehr gearbeitet hat, zog er, als ich ihn kürzlich um Geld für den Zeitungsjungen bat, ein Geldbündel aus dem Stiefel, das so dick war, daß man damit einem Alligator hätte das Maul stopfen können.« »O je!« »Das macht mir entsetzliche Sorgen, glaub mir, Bill. Ich weiß nicht, wo er tagsüber ist, was er tut – und ich traue mich nicht,
ihn zu fragen, aus Angst, er könnte mir die Wahrheit sagen. Und was soll ich dann tun?« »Das tut mir leid für dich, Caleb. Das ist schon seltsam mit deinen beiden Jungen – Ben ist so erfolgreich, ein so guter Junge, und Elias – « »Als ob ich das nicht selbst wüßte!« Ein paar Minuten lang verfolgten sie schweigend die feierliche Zeremonie unter sich. Dann wechselte Graham das Thema. »Hast du auch davon gehört, daß die Hälfte der Fabriken, für die sie sich entschieden haben, dazu benutzt werden sollen, dem Meerwasser das Salz zu entziehen – und nicht zur Produktion der Chemikalien?« »Und was tun sie dann hier in Richland?« Er zuckte mit den Schultern. »Wie viele Fabriken haben sie ausgewählt?« »Ich weiß es nicht. Sie verhandeln noch immer. Auf jeden Fall sind es sehr viele. Soviel ich weiß, haben sie zu fast allen Fabriken an den Küsten der Welt Kontakt aufgenommen. Wie viele sie dann wirklich aussuchen, kann man nur raten.« Caleb starrte mit gerunzelter Stirn auf die roten Overalls unter sich, bewegte dabei lautlos seine Lippen. »Was tust du, Caleb?« fragte Graham, der dem Blick seines Freundes zu folgen versuchte. »Ich versuche, sie zu zählen, aber, zum Teufel, es sind entsetzlich viele!«
Über Denny Lowells sonnengebräunte, muskulöse Schulter hinweg blickte Juliet Parrish auf den Bildschirm, wo die bekannte Fernsehjournalistin Kristine Walsh gerade einen der Anführer der Visitors interviewte. Steven, so war sein Namen, erklärte, daß die meisten der Fabriken, die sie ausgewählt hatten, an der Küste lägen.
Während sie auf den Bildschirm blickte, fuhr Juliet Parrish fort, Lowells Rücken zu massieren. »Schau dir diese Menschenmassen an, Denny. Ich bin froh, daß wir uns entschlossen haben, uns das Ganze im Fernsehen anzuschauen. Wenn wir hingefahren wären, würden wir wahrscheinlich gar nichts sehen können.« Denny, der gerade in das »Wall-Street-Journal« vertieft war, brummte zustimmend. Juliet blickte lächelnd auf seinen dunklen Kopf herunter und setzte ihre Massage fort. Ihre Finger glitten auf- und abwärts, kneteten, walkten und rieben in kurzen, kreisenden Bewegungen über den Wirbelsäulenbereich. Plötzlich spürte sie das übermächtige Verlangen, seinen Hals zu küssen, doch sie widerstand dem Impuls. Denny mochte es nicht, wenn er beim Studium der Börsenkurse gestört wurde – und obwohl Aktien und Wertpapiere Juliet zu Tode langweilten, bemühte sie sich, es ihn nicht merken zu lassen. »Hmmm… das ist gut«, murmelte Denny. »Nun, nach fünf Jahren Anatomie sollte es das wohl auch sein«, meinte Juliet lächelnd. »Nein… ich meinte die Börse. Es geht wirklich bergauf. Die Visitors sind gut für die Wirtschaft. Ich glaube, uns stehen prächtige Zeiten bevor.« Juliet seufzte ein wenig enttäuscht. Denny liebte seine Arbeit als Börsenmakler ebensosehr wie sie die Medizin. Eines Tages würde er zweifellos sehr, sehr reich sein, denn er war sehr gut in seinem Beruf. Falls sie heirateten – falls –, würde sie all das mit ihm teilen. Obwohl sie sich noch nie etwas aus Geld gemacht hatte. Hätte sie nicht diese Arbeit im Labor bekommen, wäre sie gezwungen gewesen, noch mehr Schulden zu machen. Wenn es nur nach ihr gegangen wäre, würde sie nach dem Studium vielleicht »Vista« oder »Who« oder der
Friedensbewegung beitreten. Oder wieder nach China gehen, wo sie sechs Monate lang als Austauschstudentin gewesen war. Doch dann verlor sie Denny. Obwohl sie nie darüber gesprochen hatten, wußte sie es. Denny war nicht der Typ Mann, der zwei oder drei Jahre lang auf eine Frau wartete. Sie verzog das Gesicht. Nur wenige Männer taten das heutzutage. Die meisten Jungen, die ihr etwas bedeutet hatten, hatten das Weite gesucht, wenn sie erfuhren, daß sie Medizin studierte und die Beste ihres Semesters war. Ihre Forschungsarbeit mit Dr. Metz hatte alles nur noch verschlimmert. Und dann traf sie Denny… Er war einer der wenigen Männer, die sie kannte, die gern mit einer Frau zusammen waren, von der sie wußten, daß sie wahrscheinlich klüger war als sie selbst. Und nach Monaten und Jahren intensiven Studiums hatte Juliet die Abwechslung, die er in ihr Leben brachte, schätzengelernt. Gemütliche Essen zu zweit, daheim oder in kleinen Restaurants, statt flüchtig heruntergeschlungene Mahlzeiten vor dem Fernseher und Lehrbüchern. Partys mit ausgewählten, zu ihnen passenden Freunden, Picknicks oder Camping an freien Wochenenden, alte Filme von Bogart und Gable auf seinem Videorekorder. Mit schmalen Augen studierte sie das Gesicht des Visitors auf dem Bildschirm und wünschte sich, einmal einem von ihnen persönlich zu begegnen, mit ihm oder ihr zu sprechen und sie um eine Blutprobe zu bitten. Wie würde ihr Blutbild wohl aussehen? Vorausgesetzt, daß sie überhaupt eins besaßen. Doch das ist anzunehmen, dachte sie, schließlich sehen sie uns sehr ähnlich. Einmal abgesehen von der Stimme, konnte man einen Visitor ohne weiteres in einen Anzug stecken und in der Wall-Street absetzen, und niemand würde ihm Beachtung schenken. Irgendwie wäre es mir lieber, wenn sie rote Tentakel oder so etwas hätten, dachte Juliet. Sie entdeckte ein schwarzes
Gesicht unter den unzähligen Visitors, die neben der Raumfähre Aufstellung genommen hatten. Das ist ja geradezu unheimlich. Sie haben die gleichen Rassenunterschiede wie wir. Ob Ben Taylor wohl zuschaut? Ihre Augen wanderten über die endlosen Reihen roter Overalls, suchten nach irgendwelchen Anomalien. Dabei fiel ihr das Fehlen jeglicher Narben oder anderer Makel in den Gesichtern auf. Es sind so viele, und jeder einzelne ist perfekt. Sie merkte gar nicht, daß sich ihre Finger in Dennys Rücken verkrampften, bis er zusammenzuckte und hervorstieß: »Heh, paß auf, Liebling! Das tut weh!« Sie küßte seinen Nacken und spürte voll Erleichterung die Vertrautheit und Wärme seiner Haut. »Tut mir leid, Den. Laß uns den Fernseher ausschalten, ja?« »Warum? Das ist ein historischer Augenblick.« Sie griff nach dem Fernbedienungsschalter und stellte den Apparat aus. Dann glitten ihre Finger sehr langsam über seinen Körper. »Weil ich etwas anderes im Sinn habe, als Geschichte zu machen.« »Und das wäre?« Und sie bemerkten nicht, daß sie das »Wall-Street-Journal« zerknüllten.
Die Abendluft war prickelnd kühl, so daß sogar Robert Maxwell seine Abneigung gegen Mantel und Schal vergaß. Arm in Arm ging er mit Kathleen die Straße hinauf und durch das Eingangstor des Hauses der Dupres, das fast völlig im Dunkeln lag. Aus dem hinter dem Haus liegenden Garten waren Gelächter und Stimmengewirr zu hören, und die beiden Maxwells gingen über den schmalen Weg um das Haus herum. Bunte Lichtergirlanden schmückten den von Menschen und Moskitos erfüllten Garten. Erwartungsvoll nahm Maxwell die
guten Düfte in sich auf – nachdem sie von der feierlichen Zeremonie am Nachmittag nach Hause gekommen waren, hatte er keine Zeit mehr gehabt, etwas zu essen. Als der Ober mit einem Tablett an ihnen vorbeiging, nahm er dankend zwei Gläser entgegen und reichte eins an Kathleen weiter. »Danke«, flüsterte sie, während ihre Blicke unter den Gästen umherwanderten und die Kleider der weiblichen Gäste taxierten. »Sehe ich gut aus?« »Großartig. Das Kleid steht dir wirklich ausgezeichnet, Liebling.« Und das war tatsächlich der Fall. Rot stand Kathleen besonders gut, und die glänzende Stola, die er ihr aus Pakistan mitgebracht hatte, paßte perfekt dazu. Scheinbar aus dem Nichts fühlten sie sich plötzlich von einer Wolke aus blauem Chiffon umgeben, die sich als Eleanor entpuppte, die mit ausgebreiteten Armen auf sie zukam. »Robert, Kathleen! Schön, daß ihr da seid! Kommt und begrüßt unsere Ehrengäste!« »Eine schöne Party, Eleanor«, sagte Maxwell. »Wirklich sehr schön«, murmelte Kathleen. »War die Feier heute nachmittag nicht wunderbar? Vor ein paar Minuten noch sagte Steven zu mir, daß die Feier und diese Party zu den schönsten Dingen gehörten, die sie je erlebt hätten. Ich habe Arthur schon gesagt, daß wir das wiederholen müssen.« »Mutter«, sagte eine männliche Stimme dicht neben Maxwells Ohr. Er drehte sich um und sah sich den Journalisten gegenüber, die er am Nachmittag im Fernsehen gesehen hatte – Mike Donovan, Kristine Walsh und einen Asiaten, neben dem eine schlanke, braunhaarige Frau stand. »Verzeihen Sie…«, begann Maxwell, doch Eleanor schnitt ihm ärgerlich das Wort ab. »Was ist los, Michael?«
»Kris, Tony und ich wollen noch ein Sonder-Interview mit Diana machen, und wir müssen uns deshalb verabschieden.« »Oh, ich hatte gehofft, dich unseren Gästen vorstellen zu können, Michael.« Eleanor war ganz offensichtlich verärgert. Und ebenso offensichtlich mißfiel Donovan ihr gereizter Tonfall. »Tut mir leid, aber wir müssen um neun Uhr drüben auf dem Parkplatz der Fabrik bei der Raumfähre sein.« Erst jetzt schien der Journalist den verlegen dastehenden Maxwell zu bemerken, und er streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Mike Donovan. Kristine Walsh, Tony Leonetti und seine Frau. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Maxwell schüttelte ihm die Hand. »Robert Maxwell. Meine Frau Kathleen. Es ist uns ein Vergnügen.« Nach einigen kurzen Höflichkeitsfloskeln verabschiedeten sich die drei Journalisten. Maxwell blickte ihnen eine Zeitlang nach, dann wandte er sich wieder seiner Gastgeberin zu. »Ich hatte keine Ahnung, daß der Journalist Michael Donovan dein Sohn ist, Eleanor. Er ist ja wohl einer der bekanntesten Kameramänner der USA.« »Man sollte meinen, er würde sich genügend Zeit nehmen, um unsere Gäste zu begrüßen«, meinte Eleanor in beleidigtem Ton. »Nun ja…« Maxwell fühlte sich unbehaglich und blickte Kathleen hilfesuchend an, die geistesgegenwärtig die Situation rettete. »Da wir gerade von den Gästen sprechen, Eleanor – ist das dort drüben nicht einer der Ehrengäste? Robert und ich würden ihn gern kennenlernen.« Eleanor strahlte. »Das ist Steven. Er hat eine junge Frau mitgebracht – ein wirklich sehr attraktives Mädchen. Ich werde euch bekannt machen.«
Im blauen Kielwasser ihrer Gastgeberin bahnten sie sich ihren Weg durch die dichtgedrängt stehenden Gäste, bis sie den dunkelhaarigen, schlanken Mann im roten Overall erreichten. Im sanften Licht brauchte er keine Brille zu tragen. Mit freundlichem Kopfnicken begrüßte er die Gäste, die Arthur ihm vorstellte. Eleanor ergriff Stevens Arm. »Steven, mein Lieber, hier sind zwei Leute, die Sie unbedingt kennenlernen müssen. Robert Maxwell und seine Frau Kathleen. Robert ist ein sehr berühmter Anthropologe.« Maxwell streckte dem Visitor die Hand entgegen, spürte, wie sie von kalter, elastischer Haut fest umschlossen wurde. Bemerkenswert kalt, dachte er, während er Stevens Hand schüttelte. Körpertemperatur kaum 10° Celsius. Kathleen begrüßte Steven mit herzlichem Lächeln. Dieser erwiderte es und sprach dann mit dieser seltsam hallenden Stimme, die gerade deshalb so sonderbar klang, weil sie aus einem menschlich aussehenden Mund kam. »An-thro-po-loge? Was für ein Beruf ist das, Mr. Maxwell?« »Robert«, entgegnete Maxwell. »Bitte, nennen Sie mich Robert, Steven. Ein Anthropologe ist ein Wissenschaftler, der die Entwicklung des frühesten Menschen bis zum heutigen Homo sapiens studiert.« Bei Maxwells Worten verschwand Stevens Lächeln, sein Körper versteifte sich sichtlich. Was zum Teufel habe ich falsch gemacht? fragte sich Robert. Er warf Kathleen einen fragenden Blick zu und erkannte auch auf ihrem Gesicht einen ängstlichen Ausdruck. Auch ihr war also die Reaktion des Visitors nicht entgangen. Doch das dauerte nur eine Sekunde, dann trat das verbindliche Lächeln wieder auf das Gesicht des Visitors. »Bitte verzeihen Sie… wir haben zwar Ihre Sprache eingehend
studiert, doch es gibt natürlich immer wieder Worte, die wir nicht kennen.« »Natürlich«, erwiderte Maxwell und verscheuchte mit der Hand eins der unzähligen um seinen Kopf herumsummenden Moskitos. »Verdammte Moskitos!« Eleanor, die kurz zuvor verschwunden war, kam plötzlich mit einem Tablett mit Hors d’œuvres zurück. Maxwell dankte ihr und bemühte sich, sich nicht allzu gierig auf die Köstlichkeiten zu stürzen. Er wählte eine Wassernuß, Speck und Hühnerleberpastete, während Steven sich höflich lächelnd nur eine Karotte aussuchte und sie vorsichtig zerkaute. Als Eleanor ihm Fleischbällchen und Hühnerkeulen-Teriyaki und Wurst anbot, schüttelte er dankend den Kopf. Ißt kein Fleisch und keine gekochten Speisen, stellte Maxwell fest und verjagte ein weiteres lästiges Insekt. Und wir werden von Moskitos gestochen… er nicht. Maxwell räusperte sich. »Sind viele Wissenschaftler an Bord Ihres Raumschiffes?« Steven nickte. »Ja, hauptsächlich solche, die Sie als Ingenieure bezeichnen würden – Chemiker, Bautechniker, Cryogenic-Ingenieure und viele andere Spezialisten.« »Haben Sie auch den hiesigen Anthropologen vergleichbare Wissenschaftler?« »Ja, natürlich. Doch für diese Mission, die mehr technisches Geschick erfordert, wurden sie nicht gebraucht.« »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen einige Fragen zu Ihrer Kultur stelle?« Steven lächelte. »Aber nein.« »Wie sieht Ihr Planet aus?« »In vielem so wie der Ihre, nur größer. Er besteht im wesentlichen auch aus den gleichen Mineralien.«
»Und Ihre Ursprünge? Haben sich die Bewohner Ihres Planeten zusammen mit anderen Anthropoiden aus einem gemeinsamen Vorfahren entwickelt?« »Oh, ich verstehe. Nun, ich bin kein Anthropologe, doch ich glaube, unsere Anthropologen sind zu dem Schluß gekommen, daß unsere Entwicklung der Ihren sehr ähnlich ist.« »Das ist ja toll!« Maxwell nickte begeistert. »Welche Regierungsform haben Sie?« »Bei uns gibt es keine verschiedenen Nationen wie bei Ihnen. Alle Menschen unseres Planeten sind unter der Regierung unseres Großen Denkers vereint.« »Wie regiert er?« »Er erahnt den Willen des Volkes und führt ihn zu unserer aller Nutzen aus.« »Ich verstehe. Und welche Gesellschaftsform haben Sie?« »Gesellschaftsform?« Steven sah ihn fragend an. »Nun, unser gesellschaftliches Fundament ist die Familie. Ein Mann und eine Frau geloben einander, miteinander zu leben und zu arbeiten, zum gegenseitigen Nutzen und dem der aus dieser Verbindung hervorgehenden Kinder.« »Und Verbindungen außerhalb der Familie sind unerwünscht?« »Ja. Monogamie.« Der Visitor nickte. »Das ist auch bei uns so. Ein Mann, eine Frau und ihre Kinder leben zusammen.« »Ich freue mich wirklich, mich mit Ihnen unterhalten zu können, Steven.« Der Blick des Visitors wanderte zu dem hinter Maxwell in der Mitte der Terrasse stehenden Tisch, an dem Kathleen und eine junge Frau mit langen, blonden Haaren im roten Overall saßen und sich unterhielten. »Ihre Frau?« fragte Robert, der die Schönheit der fremden Frau bewunderte.
»Nein«, antwortete Steven lächelnd. »Barbara gehört zu meiner Einheit, in der sie eine leitende Funktion innehat.« »Ich verstehe«, sagte Maxwell. Er versuchte, die sich in seinem Kopf überschlagenden Fragen zu ordnen. »Welche Art von…« »Hallo, Robert!« rief Arthur Dupres mit dröhnender Stimme und schüttelte seine Hand. »Ich sehe, du hast Steven schon kennengelernt. Hast du etwas dagegen, wenn ich ihn jetzt entführe?« Er wandte sich an den Visitor: »Da sind gerade ein paar Leute aus Richland angekommen, die darauf brennen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Und wie ich Bob kenne, hat er Sie schon zur Genüge mit Fragen über Ihre Sitten und Gewohnheiten und Ihre Gesellschaftsstruktur behelligt.« Maxwell zwang sich zu einem Lächeln. »Du darfst mir meine Neugier nicht zum Vorwurf machen, Arthur. Es ist das erste Mal, daß ich einem Herrn begegnet bin, der zufällig von einem anderen Planeten kommt.« Arthur ergriff Stevens Arm und führte ihn zu einer Gruppe von Männern und Frauen, die wartend neben dem Gartentor standen. Als sie an dem Käfig mit Eleanors Sittichen vorbeikamen, begannen diese, wie verrückt im Käfig herumzuflattern und wie blind gegen die Gitterstäbe zu fliegen. Das ist ja unheimlich, dachte der Anthropologe, der die in Panik geratenen Vögel beobachtete. Was ist nur die Ursache dafür? Er ging zum Käfig hinüber, um sich die Vögel näher anzusehen. Vielleicht lauert eine Katze in den Büschen. Doch in den Büschen fand er nichts außer abgefallenen Blüten und Zigarettenkippen. Als Arthur mit Steven, der sich förmlich neben ihm zu verstecken schien, zurückkam, trat Maxwell schnell beiseite.
Dieses Mal behielt Robert Maxwell die Sittiche die ganze Zeit über im Auge, und es bestand kein Zweifel, was ihre Panik verursachte. Es war Steven, der Visitor.
4. Kapitel
Arch Quinton saß an seinem abgenutzten Schreibtisch in der Anthropologischen Abteilung der Universität und blickte nachdenklich auf eine Mappe. Dann griff er zum Telefon. Mit schnellen, nervösen Fingern wählte er eine Nummer und wartete ungeduldig auf die Verbindung. Gott sei Dank – ein Rufzeichen! Er grinste erleichtert – die Leitung war beinahe eine Stunde lang besetzt gewesen. Wahrscheinlich Robin. Teenager, dachte er verdrießlich. Nach viermaligem Läuten hörte er eine überraschte Stimme. »Hallo?« »Robin, hier ist Dr. Quinton. Bitte entschuldige, daß ich noch so spät anrufe. Ist Robert schon im Bett?« »Nein. Es tut mir leid, er und Mama sind heute abend ausgegangen. Sie sind auf einer Party bei den Dupres. Soll er Sie anrufen, wenn er nach Hause kommt?« »Nein, das ist nicht nötig. Ich gehe jetzt weg, es ist ja schon…« Er sah auf seine Uhr. Guter Gott, es ist schon nach Mitternacht! »Es ist spät«, sagte er. »Ich werde ihn morgen anrufen, falls er mich bis dahin noch nicht erreicht hat.« »Ja, Sir«, sagte Robin. »Ich hinterlasse eine Nachricht, daß Sie angerufen haben. Ist es wichtig?« »So könnte man es nennen«, antwortete Quinton, der sie nicht beunruhigen wollte, »aber nichts, was nicht bis morgen warten könnte. Ich habe etwas in den laufenden Vorgängen entdeckt, das ihn interessieren wird. Gute Nacht, Mädchen.« »Gute Nacht, Dr. Quinton.« Seufzend legte er den Hörer auf und wandte sich wieder der Mappe mit der Aufschrift »John« zu.
Er durchblätterte die vergrößerten Aufnahmen des Kommandeurs der Visitors, von denen einige mit einer Nummer gekennzeichnet waren, bis hin zu den InfrarotAufnahmen im hinteren Teil der Mappe. Ein Student, der als Fotograf für die Universitätszeitung arbeitete, hatte sie mit einem Teleobjektiv und einer Spezialausrüstung während einer der vielen Pressekonferenzen des Visitors aufgenommen und entwickelt. Während er prüfend die Aufnahmen von Johns Schädel betrachtete, schüttelte er nachdenklich den Kopf. Da stimmt etwas nicht, dachte er. Etwas am Schädel… Deformierungen… Knochen zu dick… besonders oben am Kopf… Wünschte, sie wäre schärfer, dann könnte ich vielleicht etwas damit anfangen… Maxwell wird mich vielleicht für verrückt halten. Er runzelte die Stirn, nahm ein Vergrößerungsglas und untersuchte die stark vergrößerte Aufnahme mit peinlicher Genauigkeit. Selbst diese Aufnahme zeigt die Schatten, die auf Anomalien am Knochen hinweisen… Ich brauche unbedingt eine Röntgenaufnahme. Dann würde es keinen Zweifel mehr geben. Er griff nach seiner uralten Pfeife. Während er sie stopfte und anzündete, starrte er nachdenklich auf die Mappe. Dann steckte er die Fotos wieder hinein, schloß die Mappe und legte sie in den Kasten für »Laufende Vorgänge«. Während er so dasaß, fühlte er eine bleierne Müdigkeit in sich hochsteigen. Am besten gehe ich jetzt ins Bett und schlafe mich aus. Über die Angelegenheit »John« kann ich morgen nachdenken. Er klopfte seine Pfeife im Aschenbecher aus, stand auf und reckte sich. Er spürte die lange Arbeit am Schreibtisch in seinen verspannten Nackenmuskeln. Sein knurrender Magen erinnerte ihn daran, daß er außer dem Cheeseburger, den sein Assistent ihm vor zwölf Stunden gebracht hatte, den ganzen Tag über nichts gegessen hatte.
Er überlegte, ob er zu müde war, um noch etwas zu essen. Dann warf er seinen Mantel über die Schulter und verließ das Büro. Sorgfältig verschloß er die Tür und trat hinaus. Der Parkplatz lag still und verlassen da. Quinton blieb einen Augenblick an der Hintertür stehen und blickte zu den Sternen hoch. Es war eine klare Nacht, und er konnte sogar die ganze Milchstraße über sich erkennen. Seine Augen wanderten über den östlichen Teil des Himmels, doch er wußte, daß der Große Hund für mindestens einen Monat nicht zu sehen sein würde – der Große Hund, zu dem Sirius, der hellste Stern mit einer Größe von -1.58 gehörte. Ein weißer, sehr heller Stern, ungefähr 8.7 Lichtjahre von der Erde entfernt. Sein Blick trübte sich, und er rieb sich müde die Augen. Sirius – bis vor einem Monat noch irgendein Stern. Und jetzt…? Was war er jetzt…? Als er am Türschloß seines Granadas herumfummelte, spürte er, wie kalt seine Hände waren. Er öffnete die Tür, ließ sich auf den Sitz fallen und startete den Motor. Dann drehte er sich um, um den Wagen rückwärts aus der Parklücke zu fahren. Auf dem Rücksitz saß ein Mann im roten Overall. In unheimlichem Grün spiegelten sich seine dunkle Brille im beleuchteten Armaturenbrett wider. Quinton öffnete den Mund und schrie…
5. Kapitel
Der Visitor hatte keinen guten Tag. Als er am Morgen aufgewacht war, erfuhr er, daß sein ursprünglicher Einsatzort, eine chemische Fabrik in Saudi-Arabien, geändert worden war; jetzt war er den Richland-Werken in Los Angeles zugeteilt worden. Selbst sein Name – Ahmed – war geändert worden: Er hieß nun William. Er trug den großen Eisbehälter wie ein riesiges Schild vor sich her. Er nahm neue Anweisungen entgegen, wankte aus der Raumfähre und blinzelte geblendet in das helle Licht. Man hatte ihn zwar davor gewarnt, doch er schien alles vergessen zu haben. Dies war das erste Mal, daß er diesen Planeten betrat. Unsicher in die Helligkeit blinzelnd, taumelte er weiter, bis er den grauen Behälter aufs Pflaster setzen und seine dunkle Brille aufsetzen konnte. Insgeheim dankte er dem Denker dafür, daß er sie bei sich hatte. Er setzte sie auf und konnte nun einigermaßen sehen. Als er den Eisbehälter wieder aufhob, um sich auf die Suche nach seinem Einsatzgebiet zu machen, spürte er seinen schmerzenden Rücken. In Gedanken rief er sich noch einmal die einzelnen Worte in Erinnerung, die er bei den Gesprächen der Offiziere aufgeschnappt hatte. John hatte die Anweisung gegeben, daß jedes Mitglied der Mannschaft sich bemühen müsse, die an seinem jeweiligen Einsatzort auf der Erde gesprochene Sprache so schnell wie möglich zu erlernen. Ahmed – nein, er hieß jetzt William, das durfte er nicht vergessen – hatte gelernt, in Arabisch zu denken. Und jetzt das! Er stieß auf eine Eisentreppe und begann, vorsichtig emporzuklettern. Die Schwerkraft der Erde war
geringer als die seines Heimatplaneten – auf geraden Strecken würde man das kaum wahrnehmen, doch auf Steigungen konnte man dadurch leicht ins Straucheln geraten. Wieder sah er sich die Karte mit den technischen und Personaldaten seines Einsatzgebietes an. Die Fabrik schien ein einziges Gewirr von Menschen und stahlgrauen und orangefarbenen Rohren zu sein. Er begriff, daß er sich allein nicht zurechtfinden würde und jemanden nach der Richtung würde fragen müssen… Plötzlich stieß er mit jemandem zusammen und wurde grob angefahren: »He! Passen Sie doch auf, wo Sie hingehen!« Beinahe wäre er auf der glatten Treppe ausgerutscht, und es gelang ihm nur mit Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Als er aufblickte, sah er sich einem dunkelhäutigen Mann gegenüber (die Menschen nannten diese Hautfarbe »Schwarz«, obwohl sie William wie ein warmes Braun vorkam), der einen gelben Helm mit der Aufschrift »Taylor« auf dem Kopf trug. Der Visitor suchte nach Worten. »Oh… oh, entschuldigen Sie bitte. Oh… bitte, helfen.« William war nicht sehr vertraut mit menschlichen Gesichtsausdrücken, doch an diesen glaubte er sich zu erinnern. Es wurde als »Stirnrunzeln« beschrieben und war – wenn er sich nicht irrte – ein Zeichen für offensichtliche Verärgerung. »Bitte«, sagte er und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. »Ich bin gelaufen.« »Gelaufen? Wohin?« fragte der Mann mit noch immer finsterer Miene. »Ja«, nickte William nachdrücklich. »Gelaufen.« »Ach, gehen Sie aus dem Weg!« knurrte der Mann und stieß William grob zur Seite. »Verdammter, dämlicher Visitor!« Der Visitor blickte dem davoneilenden Mann nach und versuchte, dessen Worte zu übersetzen. War es der Weg zu der
Cryogenic-Einheit? Irgendwie war William sicher, daß es das nicht gewesen war. Er vermutete sogar, daß Taylor ein Schimpfwort oder einen Fluch ausgesprochen hatte. Seufzend blickte William sich um und hoffte, von der Treppe aus einen Hinweis auf sein Ziel erkennen zu können. Nichts. Ein Pfiff von einem in der Nähe stehenden Mann ließ ihn zusammenfahren. Er glaubte, den harten Ton in seinem Leib vibrieren zu spüren, und dieses Gefühl war noch viel unangenehmer als der Ton selbst. Er verließ die Treppe und wanderte unglücklich weiter. Hilfesuchend blickte er zu seiner Raumfähre hinüber, in der Hoffnung, dort jemanden zu entdecken, den er ansprechen konnte. Er dachte schon daran, entgegen den Befehlen in seiner eigenen Sprache nach dem Weg zu fragen (obwohl dies ausdrücklich nur als »letzte Möglichkeit« gestattet war), falls er jemand von seinen eigenen Leuten finden konnte. Er ging um eine Reihe von zylinderförmigen Containern herum, die offensichtlich als Behälter für Abfall benutzt wurden. (Eine Bezeichnung, die ihn irritierte – es war doch eine wertvolle Energiequelle.) Vor ihm sah er eine Reihe von größeren LKWs stehen, und er ging auf sie zu. Sein Rücken tat weh, und zu allem Übel spürte er auch noch, wie er hungrig zu werden begann. Er würde erst nach seiner Schicht, wenn er wieder in seinem Quartier war, etwas essen können. Das war Vorschrift. Mühsam schleppte er sich um das Führerhaus eines LKWs herum und spähte hinein. Niemand drinnen. Seine Niedergeschlagenheit wuchs, denn es war schon sehr spät für seine Arbeitsschicht. Es hieß, daß man Steven, der für die Arbeiten hier verantwortlich war, besser nicht verärgern sollte. Was sollte er jetzt tun?
Zögernd klopfte er an die dunkle Windschutzscheibe des LKWs in der Hoffnung, daß jemand hinten im Wagen sein könnte. »He, Sie da! Sind Sie okay?« rief ihn eine Stimme von hinten an. Er drehte sich um und sah einen Menschen hinter sich stehen. Das blaue Kleid und die Ausbuchtungen darunter sagten ihm, daß es eine Frau war. Ihr fülliges, seidenes Haar hatte die Farbe dunklen Goldes, und ihre Augen waren von strahlendem Blau. Sie lächelte – William war ganz sicher, daß sie das tat, und aus einem ungewissen Grund war er auch sicher, daß ihm dieses Lächeln viel angenehmer war als Taylors Gesichtsausdruck. »Ich bin gelaufen«, sagte er nur. »Wie bitte?« Sie legte fragend den Kopf zur Seite. »Was sind Sie?« »Gelaufen«, wiederholte William so klar und deutlich, wie er konnte. Ihr Lächeln verflüchtigte sich. »Gelaufen?… Gelaufen?« William hatte das untrügliche Gefühl, sich nicht richtig auszudrücken. »Ja, gelaufen.« Sie zog die Augenbrauen hoch, wenn auch in anderer Weise, als Taylor es getan hatte. »Gelaufen, wohin?« William war so sehr der Hoffnung gewesen, daß sie ihn verstanden hatte, daß er jetzt doppelt enttäuscht war. Er ließ langsam den angehaltenen Atem entweichen und drehte sich um. Sie hielt ihn am Ärmel fest – es war das erste Mal, daß er von einer Person aus einer anderen Welt berührt wurde. »Warten Sie doch«, sagte sie, und William gab sich alle Mühe, ihre schnell dahingesprochenen Worte zu verstehen. »Nun seien Sie nicht gleich entmutigt. Ich will Ihnen ja helfen.«
William stürzte sich dankbar auf das eine Wort, das er wiedererkannt hatte. »Ja, helfen. Helfen zu gehen zu diesem Platz.« Er zeigte ihr die englische Übersetzung des in seiner Sprache geschriebenen Textes auf seinem Notizblock. Sie überflog die Karte und wandte sich ihm dann wieder zu. »Sie wissen nicht, wohin Sie gehen sollen?« riet sie aufs Geratewohl. »Ja«, stimmte William ihr eifrig zu. »Ich bin gelaufen.« Plötzlich verstand sie, und die Freude darüber war auch für den Visitor deutlich auf ihrem Gesicht abzulesen. »Sie haben sich verlaufen.« Verlaufen! Jetzt fiel ihm das Wort wieder ein, und Erleichterung überflutete ihn. Er nickte eifrig und stellte den Eisbehälter ab. »Verlaufen! Ja, verlaufen.« Er betrachtete sie durch die dunkle Brille, um sie dann mutig abzunehmen, um sie deutlicher sehen zu können. »Danke.« Er suchte nach Worten. »Englisch… ich nicht sehr gut. Lernte Arabisch… um dorthin zu gehen.« Sie nickte freundlich. »Und sie haben alles über den Haufen geworfen und Sie nach Los Angeles geschickt.« »Ja«, erwiderte William und dachte wieder an diesen ganzen unglückseligen Morgen. »Über den Haufen geworfen«, wiederholte er und fragte sich, was dieses neue Wort wohl bedeutete. Er war ziemlich sicher, daß es ein Wort aus der Umgangssprache war. Er würde jemanden danach fragen müssen. »Nun, Los Angeles ist gar nicht so schlecht. Auf jeden Fall besser als San Francisco, das sage ich Ihnen. Wie heißen Sie?« »Ah…«, begann er und korrigierte sich dann: »William«. »Nun gut. Ich bin Harmy.« Sie lächelte. »Das ist die Abkürzung für Harmonie… Ich arbeite hier.« Sie schwenkte das Tablett, das sie bei sich trug und das mit leeren Pappbechern und -tellern beladen war. »Lebensmittel-Service.
Sie verstehen?« Sie blickte wieder auf die Karte. »Cry – Cryogenic-Transport-Gruppe. Also, kommen Sie, Willy. Wir wollen sie suchen.« William bemühte sich, ihr seine Dankbarkeit zu zeigen. Zu lächeln war gar nicht so schwer, wie er gedacht hatte. Sie bahnten sich ihren Weg durch das Labyrinth von Rohren und Vorratskesseln, bis sie über sich eine Reihe von Laufplanken entdeckten, die mehrere riesige Druckkessel überspannten. Vor der massiven Anlage stand Steven. Er rief gerade: »Nein, der Druckausgleich stimmt nicht! Da muß etwas am inneren Siphon nicht in Ordnung sein. Jemand muß hineingehen.« »Ist dies die Cryogenic-Transport-Gruppe?« rief Harmy. Steven sah zu ihr hinüber. »Ja…« Dann blieb sein Blick an William hängen, dem sofort voller Schuldbewußtsein seine Verspätung einfiel. »William! Wo waren Sie?« fauchte Steven. William warf Harmy, die ihm aufmunternd zunickte, einen hilfesuchenden Blick zu. »Oh… ich habe mich verlaufen.« Steven schüttelte unwillig den Kopf, verkniff sich jedoch in Gegenwart von Menschen weitere Bemerkungen. »Gehen Sie da hinauf.« Er deutete auf einen Steg. »Sie werden mit dem Mann dort zusammenarbeiten.« William blickte nach oben und erkannte ein ihm bekanntes dunkles Gesicht, auf dem auch jetzt wieder dieser ablehnende Ausdruck lag. Der Mann trug einen Helm und einen dunklen Straßenanzug. »Caleb Taylor ist einer unserer besten Männer. Caleb, das ist William.« Es wunderte William nicht, daß Caleb nichts darauf erwiderte, und auch ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können.
Juliet Parrish blickte auf, als Rudolph Metz, dicht gefolgt von Ruth, das Labor betrat. Beide sahen ziemlich aufgebracht aus, und Juliet ahnte sofort, weshalb. »Sagen Sie nicht, daß sie den Termin wieder verschoben haben.« Dr. Metz nickte. »Doch. Sie haben uns um Geduld gebeten. Ihre Wissenschaftler waren zu sehr mit der Arbeit in den Fabriken beschäftigt, als daß sie Zeit gefunden hätten, die Präsentation für uns vorzubereiten. Ich habe eben mit Vasily Andropov gesprochen, der für das sowjetische Team ausgewählt wurde. Er vertraute mir an, daß auch der Besuch seines Teams verschoben worden sei.« Juliet war sehr enttäuscht und versuchte auch nicht, das zu verbergen. »Aber das ist schon das zweite Mal! Haben sie einen neuen Termin genannt?« Ruth schüttelte ärgerlich den Kopf. »Nein. In ein, zwei Wochen – so lautete die Mitteilung des Visitors, der die Nachricht überbrachte. Sein Name war Martin, und es schien ihm aufrichtig leid zu tun, aber er sagte, Diana persönlich habe die Anweisung gegeben, den Termin zu verschieben.« »Verdammt!« Juliet starrte verdrießlich auf einen der Rattenkäfige. »Alle möglichen Leute gehen da hoch! Sogar Kinder können das Mutterschiff besuchen, vorausgesetzt, sie schließen sich dieser Jugendorganisation an, die sie unterstützen. Man nennt sie ›Sternenfreunde‹.« Dr. Metz nickte. »Ich habe vorhin Kristine Walshs Sendung gehört. Trotzdem dürfen wir nicht zu enttäuscht sein. Wir müssen uns daran erinnern, daß die Produktion der Chemikalien der Hauptgrund für den Besuch der Visitors auf der Erde ist. Das Veranstalten von Seminaren ist lediglich eine Geste der Höflichkeit.« Juliet verzog das Gesicht. »An jenem ersten Abend klang das aber ganz anders. Sie wollten die ›Früchte ihrer
Wissenschaften‹ mit uns teilen und sich für unsere Hilfe erkenntlich zeigen.« »Sie haben recht«, meinte Ruth. »Das genau waren ihre Worte.« Die drei Wissenschaftler drehten sich um, als Benjamin Taylor den Kopf zur Tür hereinsteckte. »Dr. Metz… schön, daß ich Sie gefunden habe. Das Mutterschiff in Los Angeles fordert wieder Versuchstiere an.« »Aber sie haben doch erst vorige Woche eine Ladung bekommen!« rief Dr. Metz. »Sie brauchen noch mehr? Haben sie gesagt, wozu?« »Natürlich nicht«, sagte Ruth zynisch. »Nein«, gab Taylor zu. »Sie sagten jedoch, daß sie sie selbst züchten und glauben, in etwa einem Monat ihren Bestand selbst auffüllen zu können.« »Also schicken Sie ihnen in Gottes Namen, was sie haben wollen«, entgegnete Metz mit besorgter Miene. »Natürlich«, murmelte Juliet so leise, daß nur Ruth es hören konnte. »Ich bin mehr und mehr gespannt darauf, das Mutterschiff zu sehen.«
Robert Maxwell schloß die Tür zu Arch Quintons Büro auf. Dann blieb er einen Augenblick stehen und ließ seinen Blick über die vertrauten Gegenstände schweifen. Der Kasten für die laufenden Vorgänge war leer. Nachdenklich öffnete er mehrere Aktenschränke und durchsuchte sie mit schnellen, ungeduldigen Bewegungen, um sie schließlich enttäuscht wieder zuzuknallen. Er griff nach dem Telefon und wählte hastig eine Nummer. »Kathy? Gib mir bitte mal Robin.«
»Robin, hier ist Daddy«, sagte er nach kurzer Pause. »Bist du sicher, daß Dr. Quinton gestern sagte, die Sachen, die er mir zeigen wollte, seien im Kasten für laufende Vorgänge?« Der nachdenkliche Ausdruck auf seinem Gesicht vertiefte sich. »Gut. Danke, Liebling. Bis später.« Kaum hatte er aufgelegt, als das Telefon klingelte. Maxwell nahm den Hörer ab. »Hallo? Dr. Maxwell am Apparat. Ja, das ist das Büro von Dr. Quinton. Ich bin einer seiner Mitarbeiter.« Einen Augenblick lang lauschte er angespannt. »Nein, ich habe versucht, ihn zu erreichen. Niemand hat ihn heute gesehen. Ich habe auch seine Haushälterin angerufen, doch soviel sie weiß, ist er gestern nacht nicht nach Hause gekommen. Gegen Mitternacht hatte er mich angerufen und mit meiner Tochter gesprochen. Sagte, er habe bis in die Nacht gearbeitet.« Geistesabwesend begann er, die obere Schreibtischschublade zu durchsuchen, hob schließlich den Löscher hoch und besah sich die Unterseite. »Hören Sie, Officer – Robeson, sagten Sie? Haben Sie bei der Polizei von Los Angeles angefragt? Irgendeine Spur von seinem Wagen?« Er hielt inne. »Er fuhr…« Schnell verbesserte er sich: »… fährt einen grauen Granada. Einen 78er, glaube ich. Ja, er ist im Register des Schulparkplatzes verzeichnet.« Er zog scharf die Luft ein. »Ich treffe Sie dort. Der Parkplatz hinter dem Gebäude?« Nur widerstrebend näherte Robert Maxwell sich dem Wagen – irgendwie sah er verlassen und abweisend aus. Er schluckte, mußte sich zwingen, näher heranzugehen. Die Tür war unverschlossen. Er griff um das Steuer herum und hielt Quintons Wagenschlüssel in der Hand. Ein seltsamer Geruch, der Maxwell beinahe übel werden ließ, erfüllte das Auto und verstärkte noch das in Maxwell aufsteigende Gefühl der Angst.
Er schluckte wieder und versuchte, nicht zu tief einzuatmen, als er sich umdrehte, um ins Wageninnere zu sehen. Leer. Und sauber, so wie Quinton ihn immer gehalten hatte. Sein Blick wanderte zur Tür. Der Griff an der Fahrerseite hing herunter, ein schwarzer Ölfleck verunzierte das rote Vinyl. Maxwell zitterte am ganzen Körper, sein Herz schien direkt zwischen seinen Ohren zu pochen. Mit zitternden Händen berührte er den Fleck, hob dann die Finger an die Nase und roch daran. Würgende Übelkeit stieg in ihm hoch, und wenn sein Magen nicht leer gewesen wäre, würde er sich erbrochen haben. Er spuckte auf das Pflaster, spuckte noch einmal und lehnte sich benommen und ausgepumpt gegen die Hintertür des Granadas. Dann hörte er schwere Schritte schnell näher kommen. Es war Robeson, der Parkplatzwächter. »Sind Sie Maxwell?« fragte er. Robert schluckte wieder und versuchte, einen Ölfleck von seinen Jeans zu entfernen. »Ja, ich bin Dr. Maxwell.« »Dies ist Quintons Wagen?« »Ja. Der Schlüssel steckte im Zündschloß.« Mit einem vorwurfsvollen Ts-ts-ts nahm Robeson die Schlüssel entgegen. »Sie hätten sie nicht anfassen sollen, Doktor. Es könnten Fingerabdrücke darauf sein.« »Tut mir leid.« Maxwells Entsetzen wandelte sich in Schmerz; er war jetzt sicher, daß er Arch nicht wiedersehen würde. Er versuchte, logisch zu denken, sich einzureden, daß Quinton anrufen würde, sobald er wieder drinnen war. Doch es gelang ihm nicht. Der Polizist untersuchte das Innere des Wagens. »So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich glaube, ich sollte die Polizei von Los Angeles hinzuziehen.« Er sah Maxwell forschend an. »Sind Sie okay, Doktor?« »Danke, ja«, log Maxwell.
»Das ist wirklich unheimlich«, meinte Robeson. »Haben Sie eine Ahnung, was mit ihm passiert sein könnte?« »Nein.« Maxwell begann, am ganzen Körper zu zittern, als ihm wieder der Geruch in die Nase stieg. »Ich werde die Polizei anrufen«, erklärte Robeson und fügte dann besorgt hinzu: »Sie sollten sich ein wenig hinsetzen, Doktor.« Die Nachmittagssonne fiel in Kristine Walshs Dachstudio und tauchte dessen gräuliche Wände in ein gelbes, dunstiges Licht. Mike Donovan saß auf dem Sofa, prüfte seine Kameraausrüstung und packte sie ein. Kristine, die nur mit Slip und BH bekleidet war, saß im Zimmer nebenan und schminkte sich. Ihre Unterhaltung war daher sehr sporadisch und beschränkte sich auf die Augenblicke, in denen sie prüfend in den Spiegel sah. »… und dann sagte Diana, daß sie mit dem Fortgang der Arbeiten in den Richland-Werken sehr zufrieden sei. Sie sieht sie als Paradebeispiel für alle anderen Fabriken an.« Sie öffnete weit die Augen und strich mit schnellen, bürstenden Bewegungen schwarze Tusche auf ihre Wimpern. Aus dem Wohnzimmer drang Donovans Stimme zu ihr herüber. »Hat sie dir gesagt, daß sie das Seminar für die Wissenschaftler ein zweites Mal verschoben haben?« »Ja. Sie sagten, daß sie in Kürze damit anfangen würden.« Donovan gab einen verächtlichen Ton von sich. »Das haben sie beim ersten Mal auch schon gesagt.« »Das Beste habe ich dir noch gar nicht erzählt, Mike.« Kristine neigte den Kopf zur Seite und begutachtete das Rouge auf ihren Wangen. »Dann sagte Diana noch: ›Und mit Ihnen bin ich sehr zufrieden, Kristine.‹ Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, weil mir nicht klar war, wie sie das meinte. Dann erklärte sie, daß ich ihnen von allen Journalisten, die die Visitors bisher kennengelernt hätten, am meisten zusage. Sie
sagte: ›Unsere Nachforschungen haben ergeben, daß Ihr Publikum viel Vertrauen zu Ihnen hat und Sie respektiert… Sie sind attraktiv, beliebt und geachtet…‹« »Wie Lassie«, fauchte Donovan. »Wofür soll das denn von Bedeutung sein?« »Nun, sie sagte mir, daß diese Eigenschaften Voraussetzungen für denjenigen seien, den sie zum offiziellen Visitor-Wortführer wählen wollen – und dann bot sie mir diese Stellung an!« »Was du nicht sagst!« »Oder die des Pressechefs… Sie sagte, ich könne es nennen, wie ich wollte. Welche Bezeichnung würde dir gefallen?« Lange Zeit herrschte Schweigen, bis Donovan schließlich in gereiztem Ton antwortete: »Mir gefällt keine von beiden.« Kristine zupfte ein letztes Mal ihre Frisur zurecht, dann zog sie ihren gelblichbraunen Wollrock und eine dunkelbraune, gestreifte Bluse an. »Nun hör schon auf, Mike. Du bist eifersüchtig.« »Den Teufel bin ich! Sei kein Narr, Kris! Ich verstehe nicht, daß du so vertrauensselig bist.« »Sie suchen jemanden, dem das Volk vertraut… Und ich halte das für eine sehr aussichtsreiche Karriere.« Sie kam ins Wohnzimmer, nahm ihre Tasche und prüfte den Inhalt. Donovan sah zu ihr hinüber. »Und was ist mit deiner Objektivität?« »Wie bitte?« Notizbuch, dachte sie, Tonbandgerät… Lippenstift… Wo ist mein Füller? Mikes Stimme war hart, so wie sie sie nur sehr selten gehört hatte – meist dann, wenn jemand ihm Fragen über seine Scheidung stellte. »Glaubst du nicht, daß du deine Objektivität preisgibst, wenn du dich so anbiederst bei diesen…« Sie wirbelte herum. »Ich biedere mich bei niemandem an!«
Sein Blick war bekümmert. Kristine kam zu ihm herüber und kniete sich vor ihm hin, so daß sie ihm in die Augen sehen konnte. »Verstehst du denn nicht? Das ist eine ausgezeichnete Gelegenheit, um einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Exklusives Material… Material, über das niemand sonst verfügt. Ich bin sogar sicher, genug Material für ein Buch zusammenzubekommen.« Sie ergriff seine Hände, doch sie blieben regungslos, unbeteiligt, erwiderten die liebevolle Geste nicht. Sein Gesicht trug noch immer einen konsternierten, verwirrten Ausdruck. »Ich werde objektiv bleiben, Mike«, versicherte sie noch einmal. »Schließlich stehe ich auf unserer Seite, nicht auf ihrer.« Er blickte zu Boden, mied eigensinnig ihren Blick. Kristine preßte seine Hände, schüttelte sie dann. »Nun komm schon, Mike! Kein guter Reporter wäre so verrückt, sich eine solche Gelegenheit entgehen zu lassen.« Als sich ihre Blicke schließlich trafen und sie den drohenden Ausdruck in seinen grünen Augen sah, biß Kristine sich auf die Lippen. »Ich hätte mich sehr gefreut, deine Unterstützung zu haben, Mike. Du weißt, wie sehr ich dich schätze.« Ihre Hände streichelten sein Gesicht, verharrten einen Augenblick auf seinen frisch rasierten Wangen. »Nicht nur schätze…« Donovan blickte auf seine Hände, entzog sie schließlich ihrem Griff. »Du solltest die Steaks lieber wieder in die Tiefkühltruhe legen, Kris.« Kristine fiel ihr Gespräch mit Diana wieder ein. »Ach ja, da ist noch etwas… Diana sagte, daß sie mich heute abend von einer Raumfähre abholen lassen will, um sich mit mir zu treffen. Aber woher wußtest du das?« Er starrte sie nur wortlos an, bis Kristine begann, mit brennenden Augen und steifer Haltung planlos nach ihrem Füllfederhalter zu suchen. Schließlich schloß er seine
Kameratasche und ging ins Schlafzimmer. Sie hörte ihn packen. »Verdammt«, flüsterte sie und erschrak über den blechernen Klang ihrer Stimme. »Verdammt, verdammt, verdammt…« Reglos blieb sie stehen und drehte sich erst um, als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war.
6. Kapitel
Als William, der Visitor, über die Cryogenic-Anlage blickte, entdeckte er in der Mitte des eingezäunten Geländes einen vertrauten blonden Kopf. Ein spontanes Lächeln trat auf sein Gesicht. Seine Stiefelabsätze hallten auf dem stählernen Steg, als er zu ihr hinunterging. Harmy hatte ihn offenbar kommen sehen und war, ein Tablett in der Hand haltend, wartend stehengeblieben. William nickte verlegen. »Hallo!« »Hallo! Wie geht es Ihnen?« »Gut, gut.« Er lächelte. »Ich möchte Ihnen für Ihre Hilfe danken. Ohne Sie wäre ich for emmer gelaufen.« »Für immer, Willy«, verbesserte sie ihn kichernd. »Doch glauben Sie mir, es wird keine Woche vergehen, und Ihr Englisch ist besser als das meine. Ihr lernt wirklich sehr schnell.« William nickte. »Uns wurde befohlen, ständig zu üben. Wie geht es Ihnen heute?« »Danke… immer dasselbe. Wie kommen Sie mit dem Mann zurecht? Er schien gestern nicht allzu erfreut gewesen zu sein, Sie zu sehen.« William zuckte die Achseln – auch eine Gebärde, die er den Menschen abgesehen hatte. »Caleb Taylor ist ein guter Arbeiter, der große Fachkenntnisse besitzt. Aber ich glaube, es fällt ihm nicht, daß wir hier sind.« »Gefällt. Ist er nett zu Ihnen?« Wieder zuckte William die Achseln. »Das ist schlimm«, meinte Harmy bekümmert. »Ich weiß, was es bedeutet, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der einen nicht mag. Ich hatte einmal einen Chef, der…«
Eine Explosion zerriß die Luft und erschütterte den Boden unter ihnen. Eine Sirene schrillte. Instinktiv warf William sich schützend vor Harmy, doch sie waren zu weit vom Explosionsherd entfernt, um verletzt zu werden. Ein schneller Blick sagte William, daß es sein eigener Arbeitsplatz war. Er begann zu rennen und drängte dabei die in panischem Schrecken umherlaufenden Arbeiter und Visitors einfach zur Seite. Aufgeregte Rufe und Schreie vermischten sich mit dem Gebrüll der Sirene. Er hatte mit Caleb Taylor und Gus Jennings zusammengearbeitet – doch er konnte sie nirgends in der Menge entdecken! »Caleb!« rief er. Weiße Wolken gefrorenen Dampfes und überkalteten Gases strömten aus der Luke, als William an der zu der Laufplanke hinaufführenden Treppe ankam. Ein Schatten verdunkelte die Öffnung – Gus Jennings! Der stämmige Mann taumelte heraus, und sein Mund bewegte sich, als stöhne er. Doch die Gaswolke dämpfte sogar das Schrillen der Sirene. Jennings, der seinen Arm oberhalb des Handgelenks umklammerte, war über und über mit weißem Reif bedeckt. Gerade als William die Treppe herauflaufen wollte, begann Jennings stark zu schwanken und griff haltsuchend in eins der Stahlrohre. Entsetzt starrten die beiden Männer auf Jennings Arm, der wie Glas zersplitterte. Inzwischen war William nahe genug bei Jennings, um die Schmerzensschreie des Mannes zu hören, der jetzt nur noch einen blutigen Stumpf umklammerte. Als William, immer noch Calebs Namen rufend, bei Jennings ankam, brach dieser bewußtlos zusammen. »Caleb ist noch da drinnen!« rief ihm Bill Graham, einer der Arbeiter, zu. Dann beugte er sich über den zusammengebrochenen Jennings. »Um Gottes willen, holt die Ambulanz! Schnell!« rief er den unten stehenden Männern zu.
»Das flüssige Nitrogen blies durch den inneren Siphon – es gibt keine Möglichkeit, daran vorbeizukommen und Caleb zu erreichen«, wandte er sich dann wieder an William. William machte einen Schritt über den am Boden liegenden Jennings und ging auf die in dichten Wolken gefrorenen Gases liegende Luke zu. Hinter sich konnte er Bill rufen hören: »William! Um Gottes willen, bleiben Sie stehen!« William zögerte nur eine Sekunde. Dann pumpte er mit einem tiefen Atemzug seine Lungen voll und tauchte in die Wolke hinein. Hin- und hergerissen zwischen seiner Sorge um Jennings und dem Wunsch, den Visitor zurückzuhalten, starrte Bill William nach. Als er eine Hand auf seiner Schulter spürte, drehte er sich um. »Was ist geschehen?« Es war Steven. »William ist da hineingegangen, um Caleb zu retten«, antwortete er mit einer hilflosen Gebärde. »Was?« Mit versteinertem Gesicht starrte Steven auf die gefrorene Dunkelheit der Luke. Graham zog seinen Mantel aus und legte ihn über den immer noch bewußtlosen, jetzt jedoch leise stöhnenden Jennings. »Da drinnen herrschen Temperaturen um 200 Grad minus – sie sind beide verloren. Kein Mensch kann…« Verwirrt brach Graham ab, als er Stevens Augen sah. Sie waren hart und kalt wie Eissplitter in dem sonst hübschen Gesicht. Beide drehten sich um, als um sie herum laute Rufe ertönten, und sie sahen William, Caleb auf den Schultern tragend, aus der Luke herauskommen. Der alte Mann, dessen Haar und dunkle Haut weiß gefroren waren, schien bewußtlos zu sein. Sein Körper zuckte in unkontrollierten Bewegungen, als immer neue Kältewellen ihn durchfuhren. Bill Graham lief schnell zu William, um ihm dabei zu helfen, Caleb auf die Laufplanke zu legen. Der Visitor schien unverletzt zu sein; lediglich sein Gesicht und seine Hände
waren von großen, pockenartigen weißlichen Blasen übersät. Dunkle Risse schienen die um die Blasen liegende Haut zu durchfurchen. Graham warf einen schnellen Blick auf Jennings – dann auf Caleb. Beide waren mit Reif überzogen, ihre Haut mit Frostbeulen bedeckt, doch keiner trug diese entstellenden Blasen. William, der Grahams Blick spürte, senkte schnell den Kopf und wandte sich ab. Steven beugte sich über seinen Techniker, so daß er Bills Blick entzogen war. »Die Ambulanz kommt!« rief jemand von unten. Unmittelbar darauf hielt mit kreischenden Bremsen ein mit schrillender Sirene herangeraster Ambulanzwagen unter der Laufplanke. Sanitäter stürzten heraus. »Wir brauchen drei Tragbahren!« rief Graham ihnen zu. »Sie sollten sich lieber hinsetzen, William«, sagte er zu dem Visitor. »Die Ambulanz ist da. Haben Sie starke Schmerzen?« Der Visitor hielt den Kopf weiterhin gesenkt. Seine Stimme klang jetzt noch seltsamer als sonst – ein nervöser, gedämpfter Ton schwang in dem üblichen nachhallenden Klang mit. »Nein, nein, ich bin in Ordnung.« »Ich bringe ihn zurück zur Fähre«, sagte Steven. »Unsere Ärzte werden sich um ihn kümmern.« »Meinen Sie nicht…«, setzte Graham an, hielt jedoch sofort inne, als er den Blick des Visitors bemerkte. Vielleicht war es auch nur der Luftdruck des aus der offenen Luke hinter ihnen ausströmenden gefrorenen Dampfes, der ihn plötzlich so heftig erschauern ließ… Dr. Benjamin Taylor saß über ein Mikroskop gebeugt und starrte konzentriert in das Okular. An der gegenüberliegenden Seite des Labors saß Ruth Barnes und beschriftete Probefläschchen. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen, und Dr. Metz stürmte herein. »Wo sind diese Kulturen, Ruth? Ich komme ohne sie nicht weiter!«
Ben bemerkte, wie sich die Augen der älteren Frau bei dem brüsken Ton Dr. Metz’ verdunkelten. »Sie sind noch nicht aus der Pathologie zurück, Doktor.« Als er sah, wie Dr. Metz’ Gesicht sich noch mehr verfinsterte, mischte Ben sich hastig ein. »Die da hinten kommen heute überhaupt nicht mit der Arbeit nach, Dr. Metz.« Ruth nickte. »Zwei unserer wichtigsten Techniker sind bis jetzt noch nicht erschienen. Sie haben nicht einmal angerufen.« Ruth, die in all den Jahren, seit Ben sie kannte, der Arbeit nicht einen einzigen Tag ferngeblieben war, klang entrüstet. Dr. Metz zog nachdenklich die Augenbrauen hoch. »Das ist seltsam – um wen handelt es sich?« »Morrow und Prentiss.« »Bei ihrem sonst an den Tag gelegten Arbeitseifer hätte ich ein solches Verhalten nie erwartet«, meinte Dr. Metz kopfschüttelnd. »Möglicherweise haben sie ja gute Gründe…« Das Klingeln des Labor-Telefons unterbrach ihn, und Ben hob den Hörer ab. »Doktor Taylor.« Er erkannte Juliet Parrishs Stimme, doch er konnte sich nicht erinnern, sie je so aufgeregt und ängstlich gehört zu haben. »Ben – kommen Sie sofort in die Notaufnahme herunter! Sie haben eben Ihren Vater gebracht.« Als die drei unten ankamen, war Caleb kaum bei Bewußtsein. Während er dem Bericht des Sanitäters zuhörte, der das Unglück in Richland schilderte, ergriff Ben die Hand seines Vaters und war entsetzt darüber, wie kalt sie war. »Wie ist er da rausgekommen?« fragte Ruth. »Einer der Visitors hat ihn offenbar herausgetragen«, antwortete der Sanitäter. »Er hat verdammtes Glück gehabt. Diese extrem kalten Gase werden auf Temperaturen von rund 200 Grad minus gehalten. Ich weiß nicht, wie der Bursche es angestellt hat, da hineinzukommen und sich auch noch zu
bewegen – bei der Explosion des flüssigen Nitrogens hätte er in Sekundenschnelle zu Eis am Stiel werden müssen.« Ruth beugte sich über Caleb und betrachtete eingehend seine Jacke, an der weißliche Flocken hafteten – Rückstände von Chemikalien? fragte sie sich, als sie vorsichtig mit dem Fingernagel darüberkratzte. Einem Impuls folgend, ergriff sie ein Fläschchen und eine Pinzette und kratzte ein paar größere Flocken in das Gefäß. Sie würde sie später unter dem Mikroskop untersuchen. Sieht beinahe wie Haut aus, dachte sie, als sie zurücktrat, um den Ärzten Platz zu machen. Aber irgend etwas ist anders… Sie dachte an die Worte des Sanitäters, der gesagt hatte, daß einer der Visitors Caleb gerettet habe. Die Haut eines Visitors? dachte sie aufgeregt. Ich muß es Rudolph sagen. Sie drehte sich um, um ihm ihren Verdacht mitzuteilen, doch er war nicht mehr im Raum. Daraufhin beschloß sie spontan, die Untersuchung und Analyse der Proben allein durchzuführen und es ihm erst danach zu sagen. Wozu sollte sie ihn aufregen, bevor sie mit Sicherheit wußte, was es war… Caleb stöhnte, sprach dann: »Ben?« »Ich bin hier, Paps. Du bist bald wieder in Ordnung.« Ruth ließ das Fläschchen mit der Hautprobe in ihre Tasche gleiten, drehte sich leise um und verließ auf Zehenspitzen den Raum.
Abraham Bernstein schwitzte unter seinem abgetragenen, alten Pullover, als er in der warmen Nachmittagssonne langsam die Straße entlangschlenderte. Die Witwe Ruby Engels, die auf der anderen Straßenseite wohnte, begleitete ihn wie jeden Tag zu dem rund drei Kilometer entfernten Einkaufscenter. Sie kauften zwar immer nur sehr wenig, aber es war ein schöner Spaziergang.
Er blickte auf, als ein Truppenfahrzeug der Visitors über sie hinwegflog. »Es werden von Tag zu Tag mehr«, bemerkte er. Ruby nickte. »Man gewöhnt sich so sehr an sie, daß sie einem auf der Straße kaum noch auffallen. Es ist fast so wie damals, als mein Mann und ich von Deutschland hierherzogen. Ich hatte noch nie zuvor einen Farbigen gesehen und mußte mich anstrengen, um sie nicht pausenlos anzustarren. Nur wenige Monate später ging ich zusammen mit einigen Schwarzen zum Einkaufen, und es war mir schon ganz selbstverständlich geworden.« Abraham schüttelte den Kopf. »Es ist trotzdem nicht dasselbe. Diese Leute kommen aus einer ganz anderen Welt, von einem Planeten, den wir beide wahrscheinlich nie zu sehen bekommen werden. Sie sind keine menschlichen Wesen.« Er sah zu zwei Visitors hinüber, die gleichgültig an einer Straßenecke standen. »Und all diese Uniformen! Jeden Tag mehr! Ich kann Uniformen nicht ausstehen.« Ruby ergriff seine Hand und drückte sie leicht. »Abraham, es ist fast vierzig Jahre her.« Ihre Finger berührten die Innenseite seines Unterarms, wo sich, wie sie wußte, die inzwischen verblaßten eintätowierten Nummern befanden. »Das alles gehört der Vergangenheit an. Sie müssen es vergessen.« Bernstein zuckte die Achseln. »Vielleicht haben Sie recht, Ruby. Trotzdem – ich mag keine Uniformen. Und es werden von Tag zu Tag mehr.« Aufseufzend wechselte Ruby das Thema. »Was macht Ihr Enkel denn so?« »Nett von Ihnen, Miss Engels, aber da haben Sie wirklich das falsche Thema gewählt. Daniel… Daniel.« Er hielt inne, um nach einer Weile fortzufahren: »Er hat seine Stellung im Supermarkt verloren. Als Geld bei der Abrechnung fehlte, glaubte er, sie würden ihn verdächtigen, und ging, bevor sie
etwas sagen konnten. Ich kann die Jobs, die er bisher aufgegeben hat, kaum noch zählen.« »Abraham«, sagte Ruby mit abgewandtem Gesicht, »glauben Sie, daß Daniel schuldig ist?« Sie hatte erwartet, daß er diese Möglichkeit heftig abstreiten würde; statt dessen sagte er nur seufzend: »Ich weiß es nicht, Ruby. Er ist mein eigenes Fleisch und Blut, und natürlich glaube ich nicht, daß er stiehlt. Sein Vater und ich haben alles Menschenmögliche getan, um ihm beizubringen, was Recht und was Unrecht ist. Doch so ganz schien er das nie begriffen zu haben.« Sie berührte tröstend seine gebeugte Schulter. »Seien Sie nicht so streng mit ihm, Abraham. Er ist doch erst achtzehn.« »Aber er war immer so. War nicht gut in der Schule… hatte kaum Freunde… kann keinen Job behalten oder sich auf eine Aufgabe konzentrieren…« »Sagten Sie mir nicht, daß er sich der ›Gruppe der Sternenfreunde‹ angeschlossen hat?« »Ja.« Abraham schien ganz und gar nicht begeistert. »Nun, vielleicht ist das genau das, was er braucht. Vielleicht hat er jetzt ein Ziel gefunden. Sie müssen Geduld mit ihm haben.« Abraham schien nicht überzeugt. Wieder surrte über ihren Köpfen ein Truppenfahrzeug dahin und verdunkelte für einen Augenblick die Sonne.
Mike Donovan saß auf dem Passagiersitz der Visitor-Fähre und blickte auf die Straßen und Menschen unter sich herunter. Er sah einen älteren Mann und eine Frau eine Straße entlanggehen, sah ein großes, imposantes Haus mit einem wunderschönen, sehr gepflegten Garten. Eleanors Haus. Auf
dem Rasen vor dem Haus parkte ein weiteres VisitorFahrzeug. Auch der Pilot neben ihm, ein Offizier namens Martin, sah zu der Fähre hinunter. »Das ist Stevens Fahrzeug.« Ohne hinzusehen, justierte er die Steuerung. »Ich habe gehört, daß er sie oft besucht.« »Sie kann sehr charmant sein«, entgegnete Donovan mit vagem Lächeln. Er war nicht sicher, ob Martin wußte, daß Mrs. Dupres seine Mutter war. Möglich war es – nach den Emblemen auf seinem Overall zu schließen, schien Martin einen ziemlich hohen Rang zu besitzen. Und falls die Visitors wirklich menschenähnliche Eigenschaften besaßen, so würden sie sich sicher auch über andere Leute unterhalten. Er sah zu, wie Martin die Instrumente bediente. Die Fähre schien leicht zu fliegen zu sein. Ein mit einem Griff versehener Stab kontrollierte die Richtung, die Geschwindigkeit wurde durch einen in Kerben einrastenden Hebel reguliert. Die dem Piloten am nächsten liegende Kerbe war die für die niedrigste, die Dauergeschwindigkeit. Müde fragte sich Donovan, wie groß die Beschleunigung dieser Gefährte wohl sein mochte. Ein glänzender Gegenstand, der hinter dem Sitz des Piloten lag, erregte Donovans Aufmerksamkeit. Er bückte sich danach und hielt ein kleines Werkzeug in der Hand. Es war ungefähr 7,5 Zentimeter lang und vielleicht 1 Zentimeter dick und bestand aus einer kristallartigen Substanz. An dem einen Ende befand sich ein goldener Metallgriff, und die Schmalseite war mit kleinen Kerben versehen – Donovan hatte die plötzliche Idee, daß es ein Schlüssel war. Warum, hätte er nicht sagen können. Er setzte sich wieder auf und öffnete den Mund, um Martin zu sagen, was er gefunden hatte – dann jedoch steckte er den Gegenstand schweigend in die Tasche. Er dachte an Sean, seinen Sohn. Ihm wollte er ihn schenken.
»Wo lebt Ihr Sohn?« fragte Martin. »In einer kleinen Stadt bei Los Angeles«, erwiderte Donovan. »Wohnen Sie auch dort?« Mike preßte die Lippen zusammen, dann jedoch wurde ihm klar, daß Martin nur gefragt hatte, um höfliche Konversation zu machen. »Nicht mehr«, antwortete er und bemühte sich, nicht zu kurz angebunden zu klingen. »Meine Frau und ich sind geschieden. Mein Sohn lebt bei seiner Mutter.« »Wo wohnen Sie dann, Mike?« fragte Martin. Donovan blickte aus dem Fenster – auf seine Bitte hin hatte Martin die Verdunkelung entfernt. »Ich habe eigentlich keinen festen Wohnsitz. Ich wohne heute hier und morgen da, je nachdem, wo ich gerade hinter einer Story her bin. Bis vor kurzem habe ich bei… einer Freundin in Los Angeles gelebt.« »Ich verstehe. Ich habe gerade unsere Richtungskoordinaten im Bild. Wo wollen Sie abgesetzt werden? Beim Haus Ihres Sohnes?« »Nein. Ich möchte einen Wagen mieten und mit Sean für ein paar Tage zum Zelten fahren.« Er spähte hinaus. »Das dort unten sieht wie ein Parkplatz aus«, fuhr er fort und deutete hinunter. »Können Sie mich da absetzen?« »Natürlich.« Donovan sah aufmerksam zu, wie der Pilot die Fähre zur Landung ansetzte. Verglichen mit einem Flugzeug sind diese Dinger ganz schön wendig, dachte er. Sanft und weich setzte die Fähre auf der Erde auf. »Vielen Dank, Martin.« Hastig raffte Mike seine Sachen zusammen, und Martin, der ihm beim Raustragen half, warf einen neugierigen Blick auf Mikes Rucksack und den in einer Nylonhülle verpackten Schlafsack. »Es war mir ein Vergnügen, Mike. Ich wollte Sie unbedingt kennenlernen.« Sie schüttelten sich die Hände. Die Kälte von Martins Hand fiel Donovan kaum noch auf – er hatte sich inzwischen daran gewöhnt.
Einen Augenblick lang sah Donovan dem davonschwebenden Gefährt nach, dann drehte er sich zu dem Besitzer der Leihwagenfirma um, der der Fähre mit weit aufgerissenem Mund nachstarrte. Natürlich, dachte Mike, die meisten Leute haben sie ja noch nie aus nächster Nähe gesehen. Er hat bestimmt nicht viele Kunden, die sich von einer fremden Raumfähre bei ihm absetzen lassen. Wenige Minuten später lenkte Donovan den kleinen gelben Sportwagen in eine von Bäumen umsäumte Allee. Er war kaum um die Ecke gebogen, als er schon aufgeregtes Rufen hörte: »Papi! Heh, Papi!« Grinsend winkte er seinem Sohn zu: »Hallo, Sean!« Wartend stand Sean mit seinem besten Freund Josh Brooks am Straßenrand. »Hallo, Josh!« rief Donovan, als er neben den beiden Jungen am Bordstein anhielt. Er hatte kaum die Tür geöffnet, als Sean ihm schon um den Hals fiel. Liebevoll drückte Donovan seinen Sohn an sich, und erst in diesem Augenblick wurde ihm bewußt, wie sehr er ihn vermißt hatte. Und er spürte, daß Sean sich ebensosehr über ihr Wiedersehen freute. Lange hielten sie sich so umarmt, dann richtete Donovan sich auf und zupfte an Seans Kappe. »Na, mein Junge. Wer sind wir denn heute – Fernando Valenzuela oder Steve Garvey?« »Heute bin ich Sean Donovan!« rief Sean voll Stolz. Dann ergriff er Mikes Arm und zerrte ihn in Richtung Rasen. »Komm, sieh dir an, was Josh bekommen hat!« Fast übergangslos fuhr er fort: »Weißt du übrigens, wie viele Visitors man braucht, um eine Glühbirne auszuwechseln?« »Nein. Wie viele?« »Keinen. Sie mögen es lieber, wenn die Lampen aus sind.« Donovan verzog lachend das Gesicht. »Das stimmt. Wie geht es dir, Josh?«
»Danke, gut, Mr. Donovan.« Josh war dreizehn, ein Jahr älter als Sean und einen halben Kopf größer. Sie wurden oft für Brüder gehalten, weil sie beide dunkles Haar und Sommersprossen hatten. Stolz zeigte Sean auf ein Modell von einer Visitor-Fähre. »Sieh dir das an, Paps! Ein Truppenfahrzeug und die Mannschaft.« Er ergriff zwei winzige Figuren in rotem Overall und roten Kappen. »Hier ist der Oberste Kommandeur, zusammen mit Diana.« Nachdenklich schüttelte Mike den Kopf. »Ich frage mich, ob sie am Gewinn beteiligt sind.« Vorsichtig setzte Sean die kleinen Figuren auf die Pilotensitze der Fähre. »Zu Hause hat er ein Mutterschiff.« »Ich habe sie alle!« fügte Josh in kindlichem Stolz hinzu. Sean sah seinen Vater an. »Kann ich sie auch haben, Paps? Mami sagt, wir haben kein Geld dafür…« Donovan bemühte sich, den in ihm aufsteigenden Ärger zu verbergen. Er hatte nie wegen der Höhe des Unterhalts gestritten und war nie auch nur einen Tag mit der Zahlung im Verzug gewesen. Und wann immer Sean irgendwelche Sonderwünsche gehabt hatte, hatte er sie ihm erfüllt. Verdammte Margie, dachte er. Sie hätte es mir sagen können, dann hätte ich ihm ein Set mitgebracht. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde mit ihr reden«, versprach er. »Doch jetzt sieh dir erst einmal an, was ich dir mitgebracht habe.« Er zog den kleinen goldfarbenen Kristallschlüssel aus der Tasche. Sean betrachtete ihn neugierig. »Was ist das, Paps?« fragte er. Mike zuckte die Achseln. »Ich habe es in einer Raumfähre gefunden und mitgenommen.« Er hörte, wie die Eingangstür hinter ihm geöffnet und wieder geschlossen wurde und sah aus den Augenwinkeln heraus Marjorie auf der Treppe stehen. Er brauchte sich nicht
umzudrehen, um zu sehen, mit welcher Miene sie sie beobachtete – es war immer die gleiche. »In einer richtigen Raumfähre?« rief Sean mit weit aufgerissenen Augen. »Ja.« »Heißt das, es stammt von den Visitors selbst?« Donovan konnte nicht verhindern, daß ein wenig Stolz in seiner Stimme mitschwang. »So ist es.« »Da staunst du, was!« Ehrfurchtsvoll hielt Sean Josh das Werkzeug entgegen, der sich neugierig vorbeugte. »Meine Güte! Laß mich sehen, Sean!« Sean schob seine Hand zurück. »Gleich, Josh.« Marjories gereizte, ärgerliche Stimme unterbrach sie. »Eure Pizza ist fertig, Jungens! Kommt rein!« Sean stand auf. »Kommst du mit, Paps? Ich muß noch ein paar Sachen einpacken…« »Gleich, mein Junge. Geht schon mal vor!« Langsam folgte er den auf Marjorie zustürmenden beiden Jungen. Sie siebt gut aus, dachte er, als er bemerkte, daß sie ein paar Pfund abgenommen hatte. Ihr blondes Haar war etwas länger als beim letzten Mal, als er sie gesehen hatte, und umrahmte in weichen Locken ihr Gesicht. Sean hielt ihr den goldenen Schlüssel entgegen. »Schau, Mami! Es stammt aus einer Fähre…« Ihre Stimme klang wie zersplitterndes Eis. »Euer Essen wird kalt.« Seans Begeisterung verschwand, und er trottete hinter Marjorie her die Treppe hoch. Dann drehte er sich noch einmal fragend nach seinem Vater um, der ihm aufmunternd zunickte. Marjorie stand in der Tür und starrte ihn an, und selbst vom Bürgersteig aus glaubte Mike noch, ihre körperliche Nähe zu spüren. Er war wütend über die Art und Weise, wie sie Sean behandelte. Er hatte doch seinem Sohn lediglich ein Geschenk
mitgebracht, und sie führte sich auf, als hätte er es darauf abgesehen, sie zu verletzen. Doch er versuchte, ruhig zu bleiben. Sie durften sich in Seans Gegenwart nicht andauernd streiten – es wäre die Hölle für ihn. »Hallo«, sagte er betont fröhlich. Sie erwiderte nichts darauf, stand nur mit über der Brust gekreuzten Armen da und starrte ihn an. Plötzlich mußte Donovan daran denken, wie er diese Brust einmal berührt hatte, doch er schob die Erinnerung daran wütend zurück. Das war vorbei. Endgültig vorbei. Er seufzte. »Was habe ich jetzt wieder falsch gemacht?« Sie machte eine hilflose Geste und erwiderte mit gepreßter Stimme: »Ach, nichts! Es ist nur ziemlich schwer für mich, mit jemandem zu konkurrieren, der in Raumschiffen umherfliegt.« »Was soll ich also tun, Margie?« fragte Donovan resigniert. »Meinen Job aufgeben?« Tränen schimmerten in ihren Augen. »Und was soll ich tun? Mir Flügel wachsen lassen und mit ihm in ein Wunderland fliegen? Wie sonst soll ich mit dir konkurrieren können? Mit Pizzas vielleicht?« Wut stieg in Mike auf. Immer das gleiche alte Problem – würden sie denn nie damit fertig werden können? »Warum sollen wir miteinander konkurrieren, Margie?« Wie oft hatte er ihr diese Frage schon gestellt? Er bemerkte, daß er sich wieder schuldig zu fühlen begann, und seine Wut wuchs. »Das ist kindisch! Warum fühlst du dich immer herabgesetzt, wenn ich Erfolg habe? Warum tust du nicht selbst etwas? Irgend etwas, auf das du stolz sein kannst, und irgendwo, wo noch nie jemand etwas von mir gehört hat? Was ist aus deinen CollegePlänen geworden? Du weißt, ich würde dir das Geld leihen – ja, zum Teufel, ich würde es dir geben! Was ist mit…?«
Sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab, und ihre Stimme klang ebenso erschöpft, wie er sich fühlte. »Bitte, fang nicht wieder damit an, ja?« Donovan starrte sie nach Worten suchend an, doch er erkannte, daß es nichts mehr zu sagen gab. Und das war das Schmerzlichste von allem. Juliet Parrish brachte ihren weißen VW vor Ruth Barnes Haus zum Stehen. Über sich konnten die beiden Frauen das ferne Surren einer vorbeifliegenden Arbeitsfähre hören. Juliet zog abrupt die Handbremse an. »Sie machen Witze! Sie haben wirklich eine Hautprobe der Visitors? Woher?« Ruth lächelte über den Eifer ihrer jungen Kollegin. »Als sie Bens Vater herbrachten, entdeckte ich ein paar an seinem Hemd und seiner Jacke anhaftende weißliche Partikelchen. Ich habe sie eben an mich genommen.« »Konnten Sie sie schon untersuchen?« »Nur ganz kurz. Dann kam Dr. Metz mit einigen Kulturen herein, die ich auf Objektträger bringen sollte. Ich hatte heute schrecklich viel zu tun, weil zwei Leute nicht zur Arbeit erschienen sind.« »Und?« »Die Partikel sehen nicht wie Haut aus, Juliet, jedenfalls nicht wie menschliche Haut. Es schien überhaupt keine Zellen zu geben – alles war glatt. Zu glatt.« »Verdammt!« Juliets Hände umklammerten das Steuer. »Ich wünschte, ich hätte früher davon erfahren. Dann hätte ich sie mir ansehen können! Jetzt werde ich bis morgen warten müssen.« Sie sah Ruth lächelnd an. »Dr. Metz wird Sie dafür lieben, Ruth.« Ruths Gesicht schien zu erstarren. »Ich gehe jetzt lieber. Danke fürs Nachhausebringen, Julie.« Juliet streckte die Hand aus und hielt die ältere Frau am Ärmel fest. »Ruth… was ist los? Ich habe etwas Falsches
gesagt, nicht wahr?« Ruth schüttelte den Kopf und wandte das Gesicht ab. Juliet überdachte noch einmal ihre Worte, und plötzlich kam ihr die Erkenntnis. Warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen? »Ruth, es ist Dr. Metz, nicht wahr? Sie… Sie lieben ihn?« Ruth biß sich auf die Lippen und brachte ein schwaches Lächeln zuwege. »Weiß er es?« fragte Juliet. Ruth schüttelte den Kopf. »Nein, meine Liebe. Ich bin für ihn nichts anderes als ein Teil der Laboreinrichtung.« Juliet strich sanft über Ruths Hand. »Nun, ab morgen früh machen wir uns an die Arbeit. Wir werden dafür sorgen, daß es außer dem Nobelpreis noch etwas anderes für ihn gibt.« Ruth lächelte sanft. Auch ich habe mir das viele Jahre lang so einfach vorgestellt, Julie, dachte sie bitter. Trotzdem erfüllten die Worte der jungen Frau sie mit einem bittersüßen Optimismus. Sie tätschelte Juliets Wange und mußte dabei unwillkürlich an die Zeit denken, als auch ihre Haut so glatt und weich gewesen war. »Sie sind ein Schatz, Julie. Danke. Danke für alles.« Ruth stieg aus und winkte Juliet noch einmal zu. Während sie nach ihrem Schlüssel suchte, ging sie langsam die Treppe zu ihrem Haus hoch. Es war ein langer Tag gewesen, und sie wünschte plötzlich, daß sie Juliet gesagt hätte, wo sie die Hautstückchen versteckt hatte. Ruth öffnete die Tür, trat ein und drehte sich um, um sie wieder zu schließen. In diesem Augenblick sah sie den Mann, der, hinter der Tür versteckt, gewartet hatte. Ruth hatte kaum eine Sekunde Zeit, um zu bemerken, daß er eine rote Uniform und eine rote Kappe trug. Ihr entsetzter Blick fiel auf die Waffe in seiner Hand. Sie hatte noch nie ein derartiges Gewehr gesehen – doch aus der Art, wie er die Waffe auf sie gerichtet hielt, erkannte sie, was es war.
Röchelnd rang sie nach Luft. Es war wie einer dieser Alpträume aus Kindertagen, wenn man versucht zu schreien und keinen Ton hervorbringt. Voll Entsetzen sah sie, wie sein Finger sich bewegte… Es gab einen gedämpften hohen Ton, ein blaues Aufflammen. Einen Augenblick lang glaubte Ruth, daß er sie verfehlt hatte, denn sie spürte keinen Schmerz. Dann merkte sie, daß sie fiel. Fiel und fiel, schwerelos und ohne Kontrolle… Sie spürte eine Explosion roter Dunkelheit, dann nichts mehr. Den Aufschlag ihres Körpers auf dem Boden fühlte sie nicht mehr.
7. Kapitel
Caleb Taylor stöhnte auf vor Schmerz, als er über die Schwelle seiner Wohnung trat und dabei mit seiner bandagierten Hand gegen den Türpfosten stieß. »Bist du okay, Papa? Noch ein bißchen wacklig, nicht wahr?« Ben Taylor streckte die Hand aus, um seinen Vater zu stützen. Caleb schüttelte ungeduldig die Hand seines Sohnes ab. »Es geht schon. Ich komme allein zurecht.« Ben Taylor verzog gequält das Gesicht, als er zusah, wie sein Vater langsam ins Schlafzimmer ging. Er mag ja ein großartiger Vater sein, dachte er, aber er ist ein entsetzlicher Patient. Den raschelnden Geräuschen, die aus dem Schlafzimmer zu ihm herüberdrangen, entnahm er, daß sein Vater ihm gehorchte und sich hinlegte. Ben drehte sich um und machte sich daran, die kleine Wohnung aufzuräumen. Für gewöhnlich hielt sein Vater sie peinlich sauber – ein Überbleibsel der Erziehung seiner verstorbenen Frau –, jetzt jedoch herrschte eine entsetzliche Unordnung. Das bedeutete, daß Elias hiergewesen war. Ben verzog das Gesicht, als er mit spitzen Fingern ein Paar schmutziger, verschwitzter Socken zwischen den Polstern der Couch hervorzog. Einen Augenblick später hörte er, wie ein Schlüssel ins Schloß gesteckt wurde. Er drehte sich um und sah seinen Bruder mit breitem Grinsen auf dem Gesicht ins Zimmer stürzen. »He, Mann! Sag mir, was geht hier vor?« Ben schüttelte den Kopf. »Hör endlich auf, Richard Pryor zu spielen, Elias.« Elias starrte seinen Bruder einen Augenblick lang stumm an, und sein Lächeln gefror zu einer Maske. »Was redest du da,
Mann? Dies hier ist kein Schauspiel. Das bin ich, der arme Elias!« Ben war wütend und zeigte es auch. »Oh, Elias, wann wirst du endlich erwachsen?« Elias lachte, ein kurzes, gezwungenes Lachen, das alles andere als lustig klang. Dann drehte er sich wütend um. »He, Paps!« Er ging ins Schlafzimmer. »Wie geht’s?« Ben sah ihm nach. Dann fuhr er fort sauberzumachen. Er war müde, müde von Elias, müde von der Arbeit – müde vor Kummer. Er hatte das Gefühl, als drohten ihm die Augen aus dem Kopf zu fallen – nach der morgendlichen Visite hatte er fast den ganzen Tag am Mikroskop verbracht. Seit Ruth verschwunden war, hatten sie im Labor alle die doppelte Arbeit zu erledigen. Der Gedanke daran, daß sie nun schon seit drei Tagen spurlos verschwunden war, legte sich wie eine schwere Eisenfaust auf seine Brust. Dr. Metz war untröstlich; er schloß sich stundenlang in seinem Büro ein, rauchte eine Zigarette nach der anderen (und das, obwohl er sich 1963 das Rauchen abgewöhnt hatte) und starrte mit versteinerter Miene ins Leere. Was ist aus ihr geworden? fragte sich Ben. Die Polizei führt zwar eine Untersuchung durch, aber ich habe schon erlebt, daß nach einem entlaufenen Hund mit mehr Einsatz gesucht wurde. So viele Menschen verschwinden in letzter Zeit – was zum Teufel geht da vor? Wütend warf er die Hälfte des riesigen Berges schmutzigen Geschirrs ins Spülbecken, ließ heißes Wasser darüberlaufen und krempelte die Ärmel hoch. Zum Teufel mit Elias, dachte er. Er dachte an Juliet Parrishs Worte, die ihm erzählt hatte, daß Ruth am Tage ihres Verschwindens Partikel von der Haut eines Visitors untersucht hatte. Während er die schmutzigen Teller mit der Bürste bearbeitete, blickte er zum Fenster hinaus und sah einen Teil
des am Himmel schwebenden Mutterschiffes. Wohin man sich auch wandte – es hing immer über einem. Die Visitors hatten inzwischen ein Einführungsseminar für ein paar Wissenschaftler abgehalten, und er war mit Juliet hingegangen. Dr. Metz, der als Repräsentant seines Campus’ hätte dabeisein sollen, hatte sich nicht einmal für die Einladung bedankt. In was für eine verdammte Lage sind wir da geraten, dachte Taylor und zuckte zusammen, als er sich an einem scharfen Gegenstand den Daumen aufritzte. Sie füttern uns einen halben Tag lang mit langen Vorträgen, deren wahrer Informationswert gerade zehn Minuten ausgefüllt hätte. Der Rest besteht aus leeren Phrasen – oder es geht dabei um Dinge, über die Kristine Walsh bereits Bescheid wußte. Ben hielt seinen blutenden Daumen unter kaltes Wasser und machte sich dann auf die Suche nach einem Heftpflaster.
Es war dunkel geworden, und dichter Bodennebel hatte sich über das Land gelegt. Robin Maxwell schritt im Hof ihres Elternhauses auf und ab und unterhielt sich über ihren Walkman mit ihrer Freundin Muffy (richtiger Name: Abigail). Von drinnen her konnte sie die Stimmen ihrer Eltern hören, die sich leise unterhielten, während sie die Spülmaschine einräumten. »Oh, es war entsetzlich, Muf, wirklich. Seit Professor Quinton verschwunden ist, ist mein Vater schrecklich niedergeschlagen. Vielleicht ist er ja gekidnappt worden, oder sonst was. Ich mußte sogar mit der Polizei reden, mußte ihr erzählen, was er gesagt hatte, als er in jener Nacht anrief. Das war alles schrecklich aufregend, wirklich.« Ihre Füße glitten durch das nasse Gras, während sie langsam auf und ab ging. »Aber das weißt du ja alles schon. Ich wollte von dir wissen, ob du ihn gesehen hast! Daniel sagte mir, daß er heute hier in der Gegend war… Was glaubst du wohl, von
wem ich spreche? Du weißt es doch! Von dem Jugendführer der Visitors natürlich!« »Daniel sagt, er war gestern abend da?« Sie lauschte angestrengt in den Apparat. »Mach keine Witze! Du hast ihn gesehen? Ist er nicht toll? Einfach ein irrer Typ, hundertprozentig!« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und lauschte so angestrengt auf die Worte ihrer Freundin, daß sie nicht bemerkte, wie eine uniformierte Gestalt sich ihr von hinten näherte. »Hast du seine Augen gesehen? Wahnsinn!« Sie nickte heftig. »Natürlich habe ich sie gesehen. Als ich in der Band spielte. Er sah mich einen langen Augenblick lang an, da bin ich ganz sicher. So richtig bedeutungsvoll, weißt du. Wie zwei Schiffe, die sich in der Nacht begegnen… Es war so romantisch…« Die stille Gestalt war jetzt dicht hinter ihr. »Ich glaube, er mag mich wirklich und hat nur Angst… Er ist so schüchtern, weißt du?« »Verzeihen Sie bitte.« Erschrocken wirbelte Robin herum und sah sich dem jungen Visitor, über den sie gerade gesprochen hatte, gegenüber. Sie stöhnte leise auf und hauchte verzweifelt in den Walkman: »Mein Leben ist zu Ende, Muf!« Dann stellte sie das Gerät ab; sie wußte nicht, ob sie davonlaufen oder auf der Stelle sterben sollte. Er lächelte sie unsicher an. »Verzeihen Sie. Habe ich Sie erschreckt?« »Nein!« rief sie mit schriller Stimme. Dann räusperte sie sich und wiederholte: »Nein.« »Ich bin Brian«, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen. Als Robin sie ergriff, fühlte sie ihr Blut in den Ohren sausen. Einen Augenblick lang spürte sie seine kühle Haut, dann ließ sie zitternd die Hand sinken. »Ich heiße Robin«, erwiderte sie.
Auch er räusperte sich, doch bei ihm klang das aufgrund der seltsamen Nachhaller seiner Stimme ganz anders. »Oh… tut mir leid. Ich bin ein wenig nervös.« »Sie sind nervös?« platzte Robin heraus. »Nun… es geschieht nicht jeden Tag, daß ich jemanden von einem anderen Planeten treffe.« Die Anspannung in Robin ließ etwas nach. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich muß Ihnen ja ebenso unheimlich vorkommen. Nicht, daß Sie mir unheimlich wären, wissen Sie…« Brian lächelte wieder. »Wo wohnt Daniel?« Sichtlich enttäuscht deutete Robin auf ein Haus. »Das dort drüben auf der rechten Seite.« »Danke.« Er drehte sich um. Robin sah ihm nach. Er macht sich nichts aus mir, dachte sie. Mein Leben ist zu Ende. Er blieb stehen, zögerte und drehte sich noch einmal nach ihr um. »Äh… möchten Sie einen Spaziergang mit mir machen?« Robin zögerte, bemühte sich, die jäh in ihr aufsteigende Freude nicht zu zeigen. »Okay«, sagte sie dann und folgte ihm. William bahnte sich seinen Weg durch die Menge der Arbeiter, für die nun die Mittagspause begann. In einiger Entfernung sah er Harmy mit ihrem Imbißwagen stehen. Als er näher kam, blickte sie auf und winkte ihm zu. »Hallo, Willy, Sie Held!« William lächelte. »Hallo, Harmony!« »Alle schwärmen davon, wie Sie Caleb gerettet haben.« William senkte verlegen den Kopf. Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können. »Haben Sie ihn schon gesehen? Caleb, meine ich?« »Ja«, antwortete William. »Ich habe ihn gesehen. Er sagt, es ginge ihm gut.«
»Gut«, korrigierte Harmy ihn automatisch. »Hat er sich bei Ihnen dafür bedankt, daß Sie ihm das Leben gerettet haben? Er sollte es, nachdem er so gemein zu Ihnen gewesen ist.« William nickte. »Heute morgen hat er zum ersten Mal mit mir geredet. Er schüttelte mir die Hand.« »Das gefällt mir schon besser.« Harmy wandte sich ihrem Imbißwagen zu. »Möchten Sie einen Hamburger oder so etwas? Es ist Essenszeit.« Als er den Kopf schüttelte, sah sie ihn prüfend an. »Sagen Sie, eßt ihr eigentlich nie etwas?« Sich sichtlich unbehaglich fühlend, nickte er und überlegte krampfhaft, wie er das Thema wechseln könnte. »Manchmal.« Sie biß in ein Sandwich. »Waren Sie schon mal im Kino?« »Nein, ich…« William überlegte, was ein Kino wohl sein mochte. Er glaubte, einmal gehört zu haben, daß es wie Fernsehen war, nur größer. »Doch«, sagte er dann mit schüchternem Lächeln. Sie lachte, und einen Augenblick später fiel er in ihr Lachen ein. Es war das erste Mal, daß er lachte.
Juliet Parrish fütterte gerade die Mäuse, als die Ankündigung im Fernsehen kam. »Wir unterbrechen das Programm für einen wichtigen Sonderbericht.« Was ist jetzt los? dachte sie. Laut sagte sie: »Ben? Dr. Metz? Im Fernsehen gibt es gleich eine Bekanntmachung.« Der Sprecher Howard K. Smith erklärte, daß dieser Bericht über Satellit aus Belgien käme. Dann erschien ein vornehm aussehender Mann, der von einer Vielzahl von Mikrofonen umgeben war, auf dem Bildschirm. »Das ist Leopold Jankowski!« rief Dr. Metz. »Was geht da vor?«
»Er arbeitet im Brüsseler Institut für Biomedizin, nicht wahr?« fragte Ben. Metz nickte gespannt, als der Mann zu sprechen begann. »Ich habe diese Pressekonferenz heute einberufen, um eine schockierende Entdeckung, die wir gemacht haben, bekanntzugeben. Auf dieser Welt gibt es eine organisierte Verschwörung unserer besten Wissenschaftler. Ziel dieser Verschwörung ist es, den Visitors zu schaden – ja, sie möglicherweise zu vernichten.« Julie und Ben hielten den Atem an; es kam zu großer Aufregung unter den im Raum anwesenden Journalisten. Auf Dr. Metz’ Gesicht lag ein ungläubiger Ausdruck. »Unmöglich!« knurrte er. »Das ist ja Wahnsinn – hat Leopold den Verstand verloren?« Jankowski fuhr fort: »Ich habe von diesen organisierten Bemühungen, den Visitors zu schaden, zum ersten Mal vor zwei Wochen gehört, als mich Dr. Rudolph Metz in Kalifornien anrief, um mit mir über eine ›dringende, vertrauliche Angelegenheit‹, wie er sich ausdrückte, zu sprechen.« »Was?« Julie griff nach Ben Taylors Arm. »Nichts dergleichen habe ich getan!« rief Dr. Metz entrüstet. »Ich habe Jankowski nicht mehr gesprochen seit…« »Auch an andere Kollegen von mir sind verschiedene Wissenschaftler herangetreten«, fuhr Jankowski fort. »Vor allem Wissenschaftler aus dem Bereich der Biomedizin und der Anthropologie scheinen in die Angelegenheit verwickelt zu sein. Doch wir wissen nicht genau, wie weit diese heimtückische Verschwörung unter unseren besten Leuten um sich gegriffen hat.« »Wie kann er nur so etwas sagen!« Dr. Metz zitterte vor Wut und Qual. »Jankowski war ein guter Mann – ich kenne ihn seit Jahren. Wovon redet er?«
Juliet berührte seinen Arm. »Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen, Doc. Vielleicht sollten Sie sich lieber setzen…« »Wissenschaftler vieler Nationen scheinen Teil dieser Verschwörung zu sein. Ihr Plan ist, kurz gefaßt, einige der Mutterschiffe der Visitors unter ihre Kontrolle zu bringen…« Rufe wie »Warum?« und »Zu welchem Zweck?« wurden unter den Reportern laut. Jankowski schüttelte ernst den Kopf. »Sie versuchten, mich davon zu überzeugen, daß sie damit die menschliche Rasse schützen und die Militärs davon abhalten wollten, technologische Geheimnisse der Visitors in Erfahrung zu bringen. Ich persönlich glaube jedoch, daß sie viel mehr aus persönlichen Interessen als aus den vorgegebenen Gründen handeln.« Feierlich hob Jankowski ein Stück Papier hoch. »Hier habe ich die Vorfälle genauso, wie sie sich ereignet haben, aufgelistet, und die Namen all derer, die versucht haben, mich für diese schreckliche, gegen jene gerichtete Verschwörung, die sich als unsere Freunde erwiesen haben, zu gewinnen. Ich bestätige diese Erklärung jetzt durch meine Unterschrift. Den zuständigen Behörden werden Kopien zugehen, so daß sie mit den Wissenschaftlern ihren Gesetzen entsprechend verfahren können.« Mit ernster Miene unterschrieb Jankowski das Dokument. Ben, Juliet und Dr. Metz starrten einander fassungslos an.
Innerhalb nur weniger Stunden meldete sich eine Vielzahl von Wissenschaftlern aus aller Welt, die erklärten, Vertreter der Verschwörer seien an sie herangetreten. Einige von ihnen, wie Dr. Jacques Duvivier, ein Nobelpreisträger wie Dr. Metz, gaben sogar zu, der Verschwörung angehört zu haben.
Die ganze wissenschaftliche Welt war in Aufruhr. In den USA begann das FBI, Aufzeichnungen und andere Unterlagen derer zu untersuchen, die von Duvivier, Jankowski und anderen namentlich erwähnt worden waren. Die Ermittlungsbeamten versuchten, überhaupt erst einmal festzustellen, ob eine solche Verschwörung wirklich existierte. Sie wurden in ihren Bemühungen unterstützt von den Visitors, die sie hilfsbereit von Labor zu Labor chauffierten und ungerührt zusahen, wie ein Wissenschaftler nach dem anderen in die Sache verwickelt wurde. Dr. Metz’ Büro wurde einen Tag, nachdem Jankowski ihn in seiner Erklärung erwähnt hatte, durchsucht. Juliet Parrish und Ben Taylor standen hilflos dabei, als Dr. Metz die FBIBeamten wütend aufforderte, seine Akten zu untersuchen – er habe nichts, aber auch gar nichts zu verbergen. Und sie suchten – mit dem Ergebnis, daß einer der Männer in dem Schrank mit Dr. Metz persönlichen Akten eine Mappe fand, die Notizen von Versammlungen, Namenslisten, verschlüsselte Botschaften und Karten mit dem Standort der Mutterschiffe enthielt… Metz war sprachlos, beharrte darauf, daß das »Beweismaterial« manipuliert war. Die FBI-Beamten nahmen die Akten und noch einige andere Unterlagen, die sie im Büro fanden, an sich und sagten Dr. Metz, man habe bisher noch nicht entschieden, wie mit den mutmaßlichen Verschwörern zu verfahren sei, und er dürfe Los Angeles nicht verlassen, ohne sie davon in Kenntnis zu setzen. Julie und Ben wurden mehrmals mit forschenden Blicken bedacht, jedoch nicht direkt angesprochen. Die FBI-Beamten verließen das Gebäude in dem Truppenfahrzeug, mit dem die Visitors auf dem Dach gelandet waren. Kristine Walsh, die Pressechefin der Visitors, gab bekümmert die Erklärung ab, daß die Visitors aufgrund dieser
Verschwörung weitere wissenschaftliche Seminare verschoben hätten. Viele der Wissenschaftler, die in die Verschwörung verwickelt waren, verschwanden einfach und verliehen den gegen sie erhobenen Anschuldigungen dadurch nur mehr Glaubwürdigkeit. Die Polizeidienststellen wurden überflutet von Vermißtenmeldungen – ihre Zahl ging in die Tausende. Und Regierungsagenten waren nicht in der Lage zu erklären, was vor sich ging, geschweige denn, auch nur einen geringen Prozentsatz der Fälle zu untersuchen. Als das in den Akten der betroffenen Wissenschaftler gefundene Beweismaterial schließlich auch noch zeigte, daß einige Gruppen der Verschwörer sogar gewaltsame Übernahmen der Raumfähren der Visitors planten, forderte John, der Oberste Kommandeur der Visitors, die UNO offiziell auf, sich zusammen mit ihren Mitgliedsstaaten dafür einzusetzen, daß die Namen und Anschriften aller Wissenschaftler und ihrer Familien von den örtlichen Behörden erfaßt wurden. Die Angaben sollten von Computern überprüft und mit den örtlichen Adreßbüchern verglichen werden. Als diese Forderung zum ersten Mal von der UNO an sie herangetragen wurde, waren die meisten Staaten zurückhaltend – der Präsident der Vereinigten Staaten zeigte offen seine Skepsis und bezweifelte sogar die Existenz dieser Verschwörung. Doch angesichts des ständig wachsenden Beweismaterials über die geheimen Machenschaften der Wissenschaftler begann der Widerstand gegen die UNO und die Forderung der Visitors innerhalb nur weniger Wochen zu zerbröckeln. Die Männer in den Schlüsselpositionen begannen, einer nach dem anderen und in manchen Fällen fast über Nacht, ihre Meinung zu ändern.
Schließlich wurde aufgrund eines besonderen KongreßBeschlusses mit der Erfassung begonnen.
Als Abraham Bernstein aus dem Haus trat, um seinen täglichen Spaziergang zu machen, sah er seinen Nachbarn Robert Maxwell zu seinem Kombiwagen hinübergehen. Maxwell hielt ein Bündel von Papieren an sich gepreßt. »Einen schönen guten Morgen, Mr. Maxwell«, rief Abraham. »Für mich wird er das wohl kaum sein«, erwiderte Maxwell erbittert und stieg in seinen Wagen. »Ich muß diese verdammten Papiere wegen dieser idiotischen Registrierung zur Post bringen! Ich verstehe immer noch nicht, wie sie das im Kongreß verabschieden konnten! Und wissen Sie, was mir wirklich unheimlich vorkommt?« Abraham schüttelte den Kopf. »Die Russen machen es ebenso. Für sie wird es natürlich nicht so schwierig, weil sie ihre Wissenschaftler ohnehin offiziell beobachten lassen. Doch auch sie wollen den Visitors ihre Akten öffnen! Ich kann es nicht fassen!« Bernstein bemerkte, daß er zitterte, als er Maxwells davonfahrendem Wagen nachblickte. Ruby Engels, die das Ende der Unterhaltung mitbekommen hatte, kam von der anderen Straßenseite her auf ihn zu. Beruhigend legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Regen Sie sich nicht auf, Abraham. Gar nichts wird geschehen. Das alles wird von allein vorübergehen, Sie werden sehen.« »Ja, ja«, preßte Abraham hervor. »Ich werde zusehen, wie sie alles, was mir lieb geworden ist, zerstören.« »Nichts wird geschehen«, beharrte Ruby. »Schließlich sind weder Sie noch sonst jemand aus Ihrer Familie Wissenschaftler. Sie werden also nichts damit zu tun haben, und außerdem geht es sowieso vorüber.«
Abraham sah sie einen langen Augenblick schweigend an. »Das habe ich 1938 in Berlin auch gesagt«, sagte er dann. Ruby starrte ihn empört an. »Aber das ist doch etwas ganz anderes!« »Wirklich?« Abraham blickte zu seinem Haus zurück, vor dem gerade ein Truppenfahrzeug der Visitors gelandet war. Brian, der Führer der Jugendgruppe der Visitors, stieg aus, gefolgt von Daniel. Sie schüttelten sich die Hände. Abrahams Enkel trug eine Mütze und einen braun-orangefarbenen und ähnlich wie die Uniformen der Visitors geschnittenen Overall. Er grinste breit. Langsam wandte sich Abraham wieder an Ruby: »Wirklich?« Sie hatte keine Antwort auf seine Frage. Angst flackerte in ihren Augen auf.
Denny Lowell versuchte zum vierten Mal, den Korken aus der Flasche Liebfrauenmilch herauszuziehen. Er spannte seine Muskeln an, und langsam… langsam… kam der Korkenzieher heraus – zusammen mit der Hälfte des Korkens. »Mist!« Lowell warf den Korkenzieher auf den Küchenschrank und sah dann auf die Uhr. 45 Minuten zu spät, dachte er wütend und schaltete den kleinen, transportablen Fernseher ein, der auf dem Küchenschrank stand. Während er zuhörte, zog er eine Schublade auf und nahm ein scharfes Messer mit dünner Schneide heraus. »Im Rahmen der polizeilichen Untersuchungen nach zusätzlichen Beweisen für die Verschwörung in den Akten der Wissenschaftler wurde eine weitere, bestürzende Tatsache aufgedeckt: Viele Wissenschaftler aus den Bereichen der Medizin und der Anthropologie haben offensichtlich wesentliche, umwälzende Forschungsergebnisse erzielt, die sie jedoch nicht
bekanntmachten. Raymond Burke, der Vorsitzende des Senatskomitees für Medizin, sagte dazu…« Das Bild wechselte zum Treppenaufgang des Senats, wo der Senator, umringt von der Presse, im Blitzlichtfeuer stand. Während er mit mürrischem Gesicht den Senator beobachtete, fummelte Denny ein weiteres Stückchen Korken aus der Flasche. »Ja, in der Tat«, sagte Raymond Burke, »ich habe Beweise dafür, daß neue, revolutionäre Mittel zur Krebsbehandlung existieren – ebenso wie viele andere umwälzende Erkenntnisse, die von größtem Nutzen für die Menschheit sein könnten. Unsere wissenschaftlichen Freunde haben es offensichtlich vorgezogen, sie zu verschweigen.« Rufe wie »Warum?« und »Wozu soll das gut sein?« wurden laut. Er hob erbittert die Schultern. »Nun, ich will jetzt keine Vermutungen anstellen, aber in der Forschung kann man viel Geld verdienen.« »Verdammt«, sagte Denny laut, ohne selbst zu wissen, worum es überhaupt ging. Er nestelte ein weiteres Stück Korken aus der Flasche und hatte dann das zweifelhafte Vergnügen, den Rest in viele winzige Stückchen zerbröckeln und in den Wein fallen zu sehen. Gerade als er Juliet die Tür aufschließen hörte, wechselte das Bild wieder in die Nachrichtenstation. Das Gesicht des Reporters trug einen ernsten Ausdruck. »In der ganzen Welt breitet sich eine Woge des Hasses und des Unmuts gegen die Wissenschaftler aus. In Stockholm, wo jedes Jahr die Nobelpreise verliehen werden, demonstriert eine wütende Menge…« »Es tut mir leid, daß ich so spät komme, Den. Alles geht drunter und drüber.« Juliet stürzte in die Küche und zog hastig ihren Laborkittel aus. »Dr. Metz leidet noch immer entsetzlich unter Ruths Verschwinden. Jetzt hat er auch noch erfahren, daß
ein weiterer Mitarbeiter von ihm, ebenso wie er selbst, in die Verschwörung verwickelt sein soll, und ich…« Denny stellte den Fernseher ab. »Laß dir Zeit. Sie haben angerufen und das Essen abgesagt.« Juliet sah ihn erschrocken an. »Oh, Den! Du mußt sehr enttäuscht sein.« »Ja«, erwiderte er kurz. »Und du glaubst nicht, daß du den Auftrag doch noch bekommst?« Ihre Stimme klang so, als hoffe sie, er würde ihr widersprechen. Denny goß sich einen Drink ein und stürzte ihn in einem Zug herunter. »Nein, das glaube ich nicht. Sie waren zu höflich, weißt du.« Juliet hängte ihren Kittel über die Lehne des Küchenstuhls. Einen Augenblick lang strich sie mit der Hand glättend darüber, dann hielt sie abrupt inne. »Denny… glaubst du, daß es wegen mir ist? Sie wissen, daß ich Biochemikerin und Medizinstudentin bin.« Denny wußte, daß seine Antwort einen Augenblick zu lange auf sich warten ließ. »Nein. Warum sollten sie?« Sie sah ihn eine Sekunde schweigend an. Er spürte, daß sie ihn ansah, vermied es jedoch, ihrem Blick zu begegnen. »Jetzt klingst du ein wenig zu höflich, Den.« Er wußte nicht, was er sagen sollte, schenkte sich noch ein Glas Wein ein und ging ins Schlafzimmer. Juliet blieb regungslos stehen und starrte auf ihren Laborkittel.
Mike Donovan beobachtete seinen Freund Tony Leonetti, der mit einem Tastendruck den Videorekorder einschaltete. Auf dem Bildschirm erschien Leopold Jankowski, der sich vorbeugte, um die verdammte Erklärung zu unterschreiben. »Nun, ich habe es gesehen«, wandte sich Donovan an seinen Partner. »Ich halte das alles für ganz verdammten Mist!«
»Ist dir nichts aufgefallen?« Tony schob eine andere Kassette ein. »Nachdem ich die Originalübertragung gesehen hatte, spukte der Gedanke mir tagelang im Kopf herum – irgend etwas stimmte nicht daran. Aber was? Gestern nacht kam mir schließlich die Erleuchtung. Schau. Dieses Band habe ich voriges Jahr beim Internationalen Wissenschaftler-Kongreß aufgenommen. Erinnerst du dich daran, wie ich ihn darum bat, das Buch für meinen Vater zu signieren?« Jetzt erschien ein zweites Bild neben dem ersten. Auf beiden war simultan zu sehen, wie Jankowski unterschrieb. Donovan starrte angespannt auf den Bildschirm, dann nickte er plötzlich: »Aha!« »Du hast es auch gesehen, nicht wahr, Mike? Letztes Jahr benutzte er die rechte Hand – doch als er diese Erklärung unterschrieb, war es die linke.« Donovan zuckte die Achseln und meinte dann gleichmütig: »Dann ist er eben Beidhänder.« »Nein, das ist er nicht. Und auch Duvivier nicht, ich habe es nachgeprüft. Beide unterschreiben jetzt mit der linken Hand, obwohl sie vorher Rechtshänder waren.« Donovan blickte Tony nachdenklich an. Tony nickte. »Da geht etwas sehr Seltsames vor, Mike. Und ich wette, daß es irgendwie mit den Visitors zusammenhängt. Seit diese Burschen aufgetaucht sind, ist alles so verdammt unheimlich geworden.« »Weiß Gott«, brummte Donovan. »Wir müssen uns unbedingt das Mutterschiff näher ansehen, und zwar bald. Und ohne Eskorte. Ich bin wirklich neugierig darauf. Ich möchte mir unbedingt ihre Lagerräume für die Chemikalien ansehen.« Leonetti nickte. »Wie in alten Zeiten, was?« »Ja«, entgegnete Donovan nachdenklich. »Aber Vietnam und Kambodscha schwebten nicht zwei Kilometer über uns in der Luft. Wir werden sehr vorsichtig sein müssen.«
Tony schlug sich mit der Hand gegen die Stirn und rollte mit den Augen. »Das ist ja nicht zu glauben! Der furchtlose Michael Donovan, der draufgängerischste Fotograf aller Zeiten, will vorsichtig werden! Haben dich diese Burschen so sehr erschreckt, Mike?« Donovans Lachen klang leicht gereizt – er mochte es nicht besonders, an seine abenteuerlichen, manchmal sehr leichtsinnigen Unternehmungen als Fotograf erinnert zu werden. Dann blickte er wieder auf den Bildschirm, wo Jankowski Nr. 1 und Nr. 2 noch immer zu sehen waren. »Ja, Tony«, murmelte er mit so leiser Stimme, daß Tony Mühe hatte, ihn zu verstehen, »ich muß zugeben, ich habe ein sehr seltsames Gefühl bei der Sache… Dieses Mal dürfen wir uns nicht den geringsten Fehler leisten.« Leonetti zwang sich zu einem Lächeln und knuffte seinen Partner in die Seite. »Du hast ganz einfach Hunger, Mike. Seit dem Mittag ist viel Zeit vergangen. Komm, alter Kumpel, die Steaks übernehme ich.« Froh darüber, daß Tony die angespannte Stimmung gelockert hatte, versetzte Donovan seinem Freund einen spielerischen Puff. »Ich bin bereit. Wann?« »Was? Essen? Jetzt gleich.« »Nein. Wann schleichen wir uns an Bord einer Fähre?« »Morgen?« »In Ordnung. Ich hoffe, Fran läßt dich gehen. Als wir das letzte Mal zusammen aus waren, hast du eine ganze Menge Geld in dem Kasino in Atlantik City gelassen…« »Ja, in dieser Beziehung werde ich vorsichtig sein müssen.«
8. Kapitel
Gleißendes Flutlicht tauchte den Parkplatz der Richland-Werke in hellen Glanz. Eine der größeren Visitor-Fähren stand mit geöffneter Ladeluke da, als Tony Leonetti und Mike Donovan vorsichtig durch das Gewirr von dicht über dem Boden verlaufenden Röhren krochen und sich hinter einem Abfallbehälter versteckten. Isolierte Rohre führten von den großen Cryogenic-Tanks über ihnen zu den kleineren Behältern an Bord der Raumfähre. Zwei Techniker der Visitors und zwei Helme tragende Männer standen daneben. »‘ne ganze Menge los hier, Mike«, flüsterte Tony. »Meinst du nicht, wir sollten uns wie gewohnt ganz offiziell von einer Raumfähre hochbringen lassen?« Donovan, der gerade die Entfernung bis zu der offenstehenden Ladeluke abschätzte, schüttelte den Kopf. Dann hob er seine Sony Betacam, seine kleinste und leichteste Kamera, hoch. »So werden sie bestimmt nicht wissen, daß wir an Bord sind, und wir haben eher die Möglichkeit, interessantes Material zu finden.« Er bedachte seinen Partner mit einem raschen Blick. »Ich hoffe, dieses Ding wird sendereife Filme liefern. Was ist mit dem Ton?« Tony zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich muß es eben versuchen.« Einige Visitors begannen, die Zuleitungen von den isolierten Rohren abzuschrauben. »Sie scheinen fertig zu sein«, preßte Donovan hervor. »Bist du soweit?« Tony schluckte hörbar, was ihm einen mißbilligenden Blick Donovans einbrachte. Die Fabrikarbeiter gingen weg, als die
Visitors in die Pilotenkanzel der Fähre kletterten. »Jetzt!« zischte Donovan. Er kletterte aus seinem Versteck heraus und lief los, wobei er über ein am Boden verlegtes Rohr hinwegsprang. Tony folgte ihm, übersah jedoch das Rohr und stolperte. Donovan, der die Ladeluke bereits erreicht hatte, hörte sein gedämpftes Stöhnen. »Verdammt!« Tony kroch auf die Ladeluke zu, als sich deren beide Hälften schon zu schließen begannen. Donovan streckte ihm die Hand entgegen und ergriff ihn am Arm. Tony versuchte hochzuspringen. »Ich… kriege… das Bein nicht hoch…« »Ich zieh dich rein«, zischte Donovan, mußte den Versuch jedoch eine Sekunde später aufgeben, als die Türen sich weiter schlossen. Er konnte gerade noch sehen, wie Tony weghumpelte, bevor das Schott ganz zugeklappt war. »Verdammter Mist!« Seine Kamera fest an sich gepreßt, hockte er sich hinter einen der im Laderaum herumstehenden Behälter. Es war stockdunkel. Er spürte das ihm nun schon vertraute Anrucken der Fähre und wußte, daß sie gestartet waren. Die Landung der Raumfähre auf dem Mutterschiff verlief genauso, wie er es bereits erlebt hatte. Als die Ladeluke sich öffnete, konnte er die Stimme einer Frau hören, die – in englischer Sprache – Landungen und Starts ankündigte. Sobald die Ladeluke weit genug geöffnet war, zwängte er sich hindurch, und ein paar Sekunden später hatte er sich hinter einigen Cryogenic-Behältern versteckt, die die Visitors im Hangar des Mutterschiffes aufgestapelt hatten. Er lauschte den Ankündigungen und wunderte sich, daß die Visitors nicht einmal hier, wo keine Menschen zugegen waren (außer Kristine wahrscheinlich, wie er sich voll Bitterkeit in Erinnerung rief), ihre eigene Sprache benutzten. »Fertigmachen zum Ausfluß!« verkündete die Stimme.
Ausfluß? Donovan hob nachdenklich die Augenbrauen. Was zum Teufel soll das? Er spähte vorsichtig aus seinem Versteck hervor und sah, wie zwei Techniker der Visitors einen isolierten Schlauch an den Vorratstank mit den Chemikalien im Laderaum der Fähre befestigten und dann das Ende des Schlauches auf einen Ausguß im Boden des Landedecks schraubten. Donovan war überrascht – er hatte sich bereits mehrmals an Bord des Mutterschiffes aufgehalten, dabei jedoch nie irgendwelche Rohre oder Vorratsbehälter an der Außenseite des riesigen Mutterschiffes bemerkt. Wenn der Ausguß also wirklich direkt durch den Boden des Landedecks reichte, würde das bedeuten, daß er nach draußen ins Leere führte. Donovan ergriff seine Kamera, um den mysteriösen Vorgang zu filmen, und sah zu, wie die beiden Techniker ein Ventil aufdrehten. Das Geräusch herausströmenden Gases war zu hören. »Die Menschen würden das maßlose Verschwendung nennen«, bemerkte einer der beiden Techniker, und seine Stimme hallte von den Wänden des kavernenartigen Landedecks wider. »Erst schleppen wir diesen Stoff zum Schiff hinauf, um ihn dann wieder abzulassen – welch sinnlose Vergeudung!« »Ja«, pflichtete sein Gefährte ihm bei. »Ich habe keine Ahnung, warum wir das Tag und Nacht machen.« »Wer von uns weiß schon, aus welchem Grund der Große Denker seine Anweisungen erteilt«, meinte der erste. »Aber ich habe nicht vor, Fragen zu stellen. Das ist ungesund.« »Da hast du recht«, bekräftigte sein Gefährte und blickte sich prüfend um, um sich zu vergewissern, daß niemand ihr Gespräch hören konnte. Donovan duckte sich tiefer hinter die Cryogenic-Behälter; dabei stieß er mit der Hand gegen ein akkordeonähnliches Gebilde, das ihn an einen altmodischen Heizkörper erinnerte.
Das silbergraue Metall erzitterte unter seinem Arm. Donovan sah es sich näher an und tippte leicht mit der Hand dagegen, worauf das Gitter aufschwang und eine Sprossenleiter zum Vorschein kam, die zu einer im Dunkeln liegenden Laufplanke führte. Von dieser wiederum reichte eine andere Treppe weiter nach unten. Eine Art Nebengang, vermutete Donovan, oder jener berühmte todsichere Notausgang für alle Spione und Abenteuerhelden – ein Belüftungsschacht. Er zog das seltsam aussehende Gitter so gut es ging hinter sich zu und kletterte, sich mit der freien Hand festhaltend, die Leiter herunter. Unten fand er sich in einem im Halbdunkel liegenden Gang wieder. Er konnte beinahe aufrecht stehen, mußte sich jedoch vorsehen, um nicht mit dem Kopf gegen eines der herunterhängenden Rohre zu stoßen. Aus in die Wände eingelassenen Gitterfenstern und winzigen, alle paar Meter im Gang angebrachten Leuchtplatten, filterte matte Helligkeit heran. Während Donovan langsam weiterzugehen begann, spürte er eine deutliche Kälte. Die Visitors hielten einige Teile ihres Schiffes offenbar kälter, als es menschlichen Wesen angenehm war. Zum Teil rührte die Kälte offensichtlich von der schnell zirkulierenden Luft her. Als der Luftstoß seine Haare berührte, verzog Donovan das Gesicht. Verdammt! Es ist tatsächlich ein Belüftungsschacht! Als er vorsichtig weiterging, knarrten seine weichen Sohlen leise über den Metallboden. Doch er fürchtete nicht, sich dadurch zu verraten; der Ventilator und das Hämmern der Maschinen übertönten jedes Geräusch. Als er eins der Gitter erreicht hatte und vorsichtig hindurchspähte, hörte er Stimmen. Zwei Visitors standen vor einer der gelb-gestrichenen Türen, die er schon bei seinem ersten Besuch hier oben gesehen hatte – denjenigen, die Diana wegen der radioaktiven Strahlen als verbotenes Gelände
bezeichnet hatte. Einer der beiden Visitors zog einen goldenen Kristallschlüssel hervor – ähnlich dem Schlüssel, den Donovan seinem Sohn gegeben hatte, und schob ihn in eine Aussparung. Helles Licht fiel durch die aufschwingende Tür und ließ den Schlüssel aufglänzen. Interessant, dachte Donovan. Sie tragen keinerlei Schutzanzüge… Wenn da drinnen wirklich so hohe Radioaktivität herrscht, wieso setzen sie sich ihr dann einfach so aus? Er ging weiter, jetzt leicht abwärts, als der Hauptgang schräg nach unten abfiel. Durch ein Gitterfenster auf der anderen Seite des Ganges konnte er einen Visitor – diesmal eine Frau – sehen, die sich auf einen Schrank stützte und in etwas las, das aussah wie ein Buch – falls es Bücher gab, die auf Aluminiumfolie gedruckt waren und die Größe von Manuskriptpapier besaßen. Sie trug ein gutsitzendes Kleidungsstück, das die nackten Arme und Beine freiließ und eher wie ein Badeanzug aussah. Donovan, der, nachdem er Kristine vor fast einem Monat verlassen hatte, nicht mehr in weiblicher Gesellschaft gewesen war, warf einen kritischen Blick auf ihre Beine. Nicht schlecht. Ein wenig stämmig vielleicht, aber hübsch… Leise schlich er weiter und bemühte sich, sich den zurückgelegten Weg genau einzuprägen – es wäre sicher nicht besonders gut, in diesen Gängen erwischt zu werden, ohne den Rückweg zu kennen. Wie eine Ratte in einem Labyrinth, dachte er und mußte selbst über diesen Vergleich lachen, als der Gang erneut einen Bogen machte und er sich duckte, um nicht gegen die Rohre zu stoßen. Vor sich hörte er Stimmen, die irgendwie vertraut klangen. Vorsichtig kroch Donovan auf ein größeres Gitterfenster zu und spähte hindurch. In diesem Augenblick ging Diana, gekleidet in ein langes rotes Kleid mit spitzem Ausschnitt, am Fenster vorbei. Mike bemerkte, wie sich ihre Brüste und
Schenkel unter dem Kleid abzeichneten, und sein Puls beschleunigte sich. Sie sprach mit Steven, dem VisitorOffizier, der seine Zeit zwischen den Richland-Werken und Eleanors Haus aufteilte. »Du mußt eigentlich zufrieden sein, Diana«, sagte Steven gerade. »Wir sind auf dem besten Wege, uns die meisten der Kontinente zu sichern.« Diana lächelte schelmisch. »Laß es uns so ausdrücken. Ich bin zufrieden, dem Denker mit meinen bescheidenen Fähigkeiten einen Dienst erweisen zu können.« Sie streifte Steven mit einem nach Donovans Meinung ganz und gar nicht zu ihr passenden verlegenen Seitenblick und ging quer durch den Raum auf ein aus einer Art Plexiglas bestehendes Regal zu, in dem in winzigen Fächern eine Vielzahl kleiner Tiere untergebracht waren – Versuchstiere, war Donovan sofort klar. Froh darüber, daß seine Kamera fast geräuschlos lief, begann er, die stellvertretende Kommandeuse zu filmen. Sie griff in eins der Fächer und holte eine weiße Maus heraus. Als sie nach dem kleinen Nager griff, quiekte er vor Angst. Dann verstummte er und starrte sie in wilder Panik aus seinen kleinen runden Augen an. »Der Denker muß sehr zufrieden mit der Entwicklung deiner Konvertierungsmethode sein, Diana«, meinte Steven. Die Maus noch immer in der Hand haltend, drehte Diana sich um und ging quer durch den Raum – und damit aus der Reichweite der Kamera. Doch Donovan konnte sie sprechen hören. »Ja, aber du weißt, wie ungeduldig unser Denker sein kann.« Sie verstummte. »Sogar mit dir, Diana?« Stevens Stimme klang leicht ironisch. »In Anbetracht eurer intimen Beziehung hätte ich gedacht…« Abrupt trat Diana wieder in den Bereich der Kamera, und selbst aus der Dunkelheit des Ganges heraus konnte Donovan
sehen, wie wütend sie war. Sie fuchtelte mit ihren wohlmanikürten Händen herum, und Donovan fragte sich flüchtig, wo sie die Maus gelassen hatte. »Ich rate dir, vorsichtig zu sein, Steven« zischte sie. In einer teils um Verzeihung bittenden und teils spöttischen Geste breitete Steven die Hände aus. »Es ist ja nur, weil ich es nicht ertragen kann, dich betrübt zu sehen.« Dianas Stimme klang resigniert. »Er versteht einfach nicht, daß die Konvertierung noch begrenzt ist. Jede einzelne menschliche Versuchsperson spricht anders darauf an.« »Das stimmt«, stimmte Steven ihr zu. »Wenn sie jedoch funktioniert – wie bei Duvivier, Jankowski und den anderen –, sind die Ergebnisse äußerst bemerkenswert.« »Ja, nicht wahr?« Dianas Stimme klang leicht überheblich. Sie griff wieder in eins der Fächer und holte einen Frosch hervor. Mit triumphierendem Lächeln ging sie an Steven vorbei und wieder aus der Reichweite der Kamera. »Sie glauben wahrhaftig, daß die Verschwörung existiert – einige von ihnen haben sich sogar davon überzeugen lassen, ihr anzugehören.« Jetzt erschien Steven, ebenfalls lächelnd, in Donovans Blickfeld. »Natürlich bekräftigt das Beweismittel, das wir manipuliert haben, sie in diesem Glauben«, erklärte Diana. Wir müssen das in den Äther bringen! dachte Donovan aufgeregt. Einen Augenblick lang dachte er daran wegzugehen, doch als er Steven auf die Käfige an der gegenüberliegenden Seite zugehen sah, entschied er sich zu bleiben, um zu sehen, was der Visitor-Offizier noch offenbaren würde. Er brauchte nicht lange zu warten. Steven blieb vor einem der Käfige stehen, und Donovan konnte jedes Wort verstehen. »Die Operation läuft ausgezeichnet. Die Wissenschaftler werden geächtet, ihre Verbände und Institutionen geschwächt. Sie sind in Angst und Schrecken versetzt. Wenn sie erst einmal
ausgemerzt oder konvertiert sind…« Er schnippte mit den Fingern. Dianas Stimme klang leicht betrübt: »Das Problem ist, daß der Denker sagt: ›Warum konvertieren wir nicht alle?‹ Er versteht nicht, daß der menschliche Wille wesentlich schwerer zu brechen ist, als wir dachten – alle Menschen zu konvertieren, würde Ewigkeiten dauern.« Steven, der Mike noch immer den Rücken zugedreht hatte, nickte, griff dann in einen der kleinen Käfige und holte eine Maus heraus. »Wir werden uns trotzdem weiter bemühen, das Verfahren zu verfeinern«, sagte Diana. »Gewiß«, meinte Steven, hielt die Maus hoch und betrachtete sie prüfend. Als Diana auf ihn zuging, drehte er sich um – und nur seine jahrelange Übung und Erfahrung verhinderten, daß Donovan die Kamera fallen ließ. Die Maus ragte aus dem Mund des Offiziers heraus, und Donovan sah voller Entsetzen, wie Steven den Kopf in einer bizarren, ruckartigen Bewegung hin- und herdrehte, bis die zappelnden Beine und der Schwanz mit einem hörbaren Schlucken in seinem Hals verschwunden waren. Dianas Stimme war unverändert sachlich. »Nun, es ist äußerst wichtig, daß wir die allerwirksamste Methode entwickeln, um sie gegen sie einzusetzen.« Die Frau griff in einen Käfig und holte ein großes Meerschweinchen mit dickem, weichem Fell heraus. Während das in Panik versetzte Tier quiekend in ihrer Hand zappelte, öffnete sie den Mund – weiter und weiter, bis ihr Kiefer völlig verrenkt zu sein schien, und schob sich das vor Angst rasende Tier in den Rachen. Donovan preßte die Lippen aufeinander, und in seiner Magengrube krampfte sich etwas zusammen, als er sah, wie Diana das lebende Tier ganz herunterwürgte. O Gott, was
geschieht da mit uns? Was für entsetzliche Dinge gehen da vor? Die Kehle der stellvertretenden Kommandeuse zeigte eine deutliche Wölbung, die schnell nach unten wanderte. »Ich glaube, unser Denker hätte keinen Besseren für diese Aufgabe finden können als dich, Diana«, sagte Steven. Donovan hatte endgültig genug. Am ganzen Leib zitternd ergriff er seine Kamera, drehte sich um und stolperte den dunklen Gang entlang. Vor seinen geistigen Augen sah er wieder das zappelnde Meerschweinchen – den Schwanz der Maus –, und Übelkeit überkam ihn. Er lehnte sich gegen die Wand und würgte. Nur jetzt nicht übergeben, sagte er sich in panischer Angst. Sie dürfen nicht wissen, daß du hier bist. Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte, doch schließlich gelang es ihm, sich durch den dunklen Gang zurückzutasten. Als er an dem direkt neben Dianas Zimmer liegenden Gitterfenster vorbeikam, blieb er stehen und spähte hindurch. Ein Visitor stand vor einer Art Waschtisch und machte irgend etwas mit seinen Augen, was Donovan sehr vertraut vorkam. Dann erinnerte er sich. Kristine trug Kontaktlinsen, und von hinten zumindest schienen die Bewegungen des Visitors denen eines Menschen zu gleichen, der seine Kontaktlinsen einsetzte oder herausnahm. Trotz seiner Eile blieb Donovan zögernd stehen und beobachtete den Mann. Ein Kästchen oder dergleichen stand neben dem Fremden. Auf einer der gewölbten Erhöhungen im Inneren des Kästchens saß eine Halbkugel mit blauem Mittelpunkt. Während Donovan ihn beobachtete, setzte der Visitor eine zweite Halbkugel neben die erste. Mike begann wieder zu filmen. Sie sahen aus wie Augäpfel – als ob die Visitors sich, so wie Kristine ihre Kontaktlinsen, menschliche Augen einsetzten. Der Visitor drehte sich um, und obwohl Donovan
jetzt schon das Schlimmste erwartete, traf ihn der Schock unvorbereitet – die Augen des Mannes waren orangerot mit schwarzen, vertikal geschlitzten Pupillen. Und diese schrecklichen Augen sahen Donovan durch das Gitter hindurch an. Die Kreatur gab ein überraschtes Keuchen von sich, griff dann nach dem Gitter und zog es mit einer Hand auf, während die andere nach dem Kameramann griff. Donovan versuchte auszuweichen, doch die Kreatur bewegte sich mit einer Schnelligkeit, die ebensowenig menschlich war wie seine Augen. Sie packte Mike, zerrte ihn durch die Öffnung und warf ihn quer durch die winzige Kabine auf den Waschtisch. Donovan suchte nach einem Halt und landete sehr unsanft auf dem Tisch. Mit zischendem Atem kam der Visitor auf ihn zu. Mike rappelte sich hoch und trat wild mit den Beinen um sich. Er traf den Fremden in der Körpermitte und schleuderte ihn zurück. Der Stoß hätte jeden Menschen außer Gefecht gesetzt, doch die Kreatur erholte sich im Bruchteil einer Sekunde und kam wieder auf Mike zu – ihre schrecklichen Augen glänzten in der Dunkelheit wie blutige, runde Tümpel. Es war lange her, seit Donovan das letzte Mal gekämpft hatte, doch seine frühere Ausbildung als Pilot eines Aufklärungsflugzeugs und Nachrichtenfotograf war gründlich gewesen. Als die Kreatur sich wieder auf ihn zu bewegte, gelang es ihm, seine Kamera auf die Koje zu werfen. Und er dankte allen Göttern der Welt, daß er ein Weitwinkel-Objektiv benutzt hatte, um Dianas Zimmer zu filmen. Vielleicht würde sie diese schrecklichen Augen aufnehmen. Der Visitor schlug zu und traf Mike an der Schulter, der sich jedoch geduckt hatte und dem Schlag so die schlimmste Kraft nehmen konnte. Er rammte dem Visitor die linke Faust ins Gesicht, doch der Schlag schien die Kreatur kaum zu beeindrucken. Sie rangen hart miteinander und prallten gegen
die Wände der kleinen Kabine. Es gelang Donovan schließlich, seine Hände um den Hals des Visitors zu legen. Gleichzeitig spürte er jedoch auch die Fäuste der Kreatur unter seinem Kinn. Mike preßte mit aller Kraft das Kinn an die Brust, um den Griff seines Gegners zu lockern, und zugleich verstärkte er den Druck seiner eigenen Hände. Der Visitor öffnete einen Spalt breit den Mund, und Donovan blieb nur eine Sekunde, um festzustellen, daß er zwei Reihen Zähne zu haben schien, als ihm irgend etwas entgegenschlug. Rot und trocken und etwa dreißig Zentimeter lang zuckte es aus dem Mund der Kreatur und versprühte Tropfen einer brennenden Flüssigkeit. Wieder stieß die gabelförmig gespaltene Zunge vor. Mike spürte einen starken Stoß, und das brachte seine Reflexe zurück. Er zog die Knie an und stieß sie mit aller Kraft hart und gezielt vor. Doch das Geschöpf blieb völlig ungerührt. Irgendwie wurde Donovan sich durch diese Tatsache – mehr als durch alles andere, was er bisher erlebt hatte – der Andersartigkeit der Kreatur voll bewußt. In aufwallendem Entsetzen griff er nach den Augen des Visitors, in der Hoffnung, ihn blenden zu können. Sein eigener Blick begann sich zu trüben, als die Finger seines Angreifers sich tiefer und tiefer in seinen Hals gruben. Seine Finger krallten sich in das Gesicht der Kreatur, und wie betäubt blickte Mike auf die Hautfetzen in seiner Hand, die er heruntergezerrt hatte und die nichts als einen großen grünschwarzen Fleck hinterließen. Während ihr Gesicht mehr und mehr aufgerissen wurde, lockerte sich der Griff der Kreatur. Sie wandte sich ab, als wolle sie ihr aufgeschlitztes Gesicht verbergen. Donovan verstärkte seine Anstrengungen, griff mit aller Kraft in die
zerfetzte Fratze und zerrte mit beiden Händen die übriggebliebene Haut herunter. Der Rest des Gesichts bestand aus klebrigen, elastischen Plastikstreifen, die Mike an die Mozzarella auf einer Pizza erinnerten. Er blickte in die Fratze eines Reptils – das falsche Haar fiel zur Seite und legte einen von einem Kamm gekrönten Kopf frei. Das Ding gab unverständliche, zischende Laute von sich; seine Zunge zuckte vor und zurück, und sogar jetzt, während des Kampfes, wurde Mike klar, daß das Wesen in seiner eigenen Sprache redete. Kein Wunder, daß diese Mistkerle Englisch sprechen! Wenn sie eine Maske tragen, können sie nicht in ihrer eigenen Sprache reden! Es gelang ihm, zwei wuchtige Hiebe auf dem Kopf des Visitors zu landen, die diesen zum Schwanken brachten. Donovan griff nach der Kamera, die er hinter sich auf die Koje geworfen hatte, und er hoffte, daß sie so belastbar war, wie Tony versprochen hatte. Dann holte er aus und hieb der Kreatur mit aller Gewalt die Kamera auf den Kopf und ins Gesicht. Das Geschöpf wankte und fiel. Mike nahm sich nicht die Zeit, sich umzudrehen. Er umklammerte seine Kamera und hatte sich im Nu durch das Gitter gezwängt. Während er zum Landedeck zurückeilte, spürte er, wie ihm von einem Riß über dem Auge her das Blut übers Gesicht lief. Viel schmerzhafter war jedoch die Stelle, an der das Zungengift des Visitors – was immer es auch gewesen war – ihn getroffen hatte. Es brannte wie Feuer, doch glücklicherweise schien es nur sein Haar, nicht aber seine Augen berührt zu haben. Als er durch das Gitter auf das Landedeck zurückkletterte, sah er, wie eine Fähre zum sofortigen Abflug klargemacht wurde. Ein paar Techniker der Visitors standen neben der
Ladeluke. Von irgendwoher über ihm ertönte ein pulsierendes, widerhallendes Geräusch. »Notfall«, sagte die Stimme. »Notfall auf Ebene 73. Notfall. Feind-Alarm auf Ebene 73.« Die Türen der Ladeluke begannen, sich nach oben zu schließen, als zwei der Visitors davoneilten. Mist! dachte Donovan, als er sah, wie sich die Tore zur Freiheit langsam schlossen. »Ich bin diese ewigen Übungen leid«, wandte sich einer der Piloten an seinen Nachbarn. »Laß uns gehen, ehe wir hier sitzenbleiben und auf die nächste warten müssen.« Sein Gefährte nickte, und sie kletterten in die Pilotenkanzel. In diesem Augenblick befand sich niemand mehr auf dem Landedeck. Nicht fähig, sein Glück zu begreifen, blieb Mike eine kostbare Sekunde lang hocken. Dann warf er sich vorwärts und rannte auf die Ladeluke zu. Etwa 75 Zentimeter – nicht mehr – trennten die beiden sich weiter aufeinander zubewegenden Metallsegmente voneinander. Donovan sprang und landete mit einem wagemutigen Hechtsprung vor der Fähre. Eine der Türen prallte mit betäubender Gewalt gegen Donovans Schienbein, dann war er drinnen. Er umklammerte das Bein und versuchte, ein schmerzhaftes Stöhnen zu unterdrücken. Er spürte das vertraute Anrucken der Fähre und kletterte hinter die Lagertanks. Er rieb sich das schmerzende Bein, kauerte sich in der Dunkelheit hin und versuchte, durch tiefes Einatmen zur Ruhe zu kommen. Der erhöhte Adrenalinspiegel ließ seinen ganzen Körper erzittern. Mach dir doch nichts vor, Mike, sagte er sich dann sarkastisch. Das hat nichts mit deinem Adrenalinspiegel zu tun. Da hast ganz einfach gottverdammte Angst, gib es doch zu.
»Gut, ich habe Angst«, murmelte er und legte seinen Kopf auf die kühle auf seinen angezogenen Knien liegende Kamera. Was zum Teufel wird hier gespielt? Auf was haben wir uns da eingelassen? Bei der Landung neigte sich die Raumfähre leicht zur Seite. Sein verletztes Knie vorsichtig nachziehend, kletterte Mike zur Tür. Er sah, wie sich die beiden Visitors von der Fähre entfernten, und er sprang hinaus, als die Luft rein zu sein schien. Kaum hatte er die andere Seite des Landeplatzes erreicht, als er einen dunklen Schatten hochspringen sah. Donovan spannte seine Muskeln an, bereit, wieder mit der Kamera zuzuschlagen. »Mike!« rief Tony entsetzt. »Was zum Teufel ist mit dir geschehen, Mann?« Hastig nahm er Donovan die Kamera ab. »Du siehst ja fürchterlich aus!« »Ich fühle mich auch so«, gab Donovan zu, der vor lauter Erleichterung hin- und herschwankte. »Ich bin froh, dich zu sehen, mein Freund. Laß uns zum Sender rüber gehen. Ich will sehen, was ich auf dem Film habe.« »Was…?« Mike schüttelte den Kopf. »Wenn ich es dir erzählen würde, hieltest du mich für verrückt. Oder für betrunken. Ich kann es ja selbst kaum glauben. Warten wir den Film ab.« Als sie in Tonys Wagen gestiegen waren, sah Donovan auf die erleuchtete Digitaluhr auf dem Armaturenbrett. Dann verglich er sie mit einem unterdrückten Ausruf des Erstaunens mit seiner Armbanduhr und wischte sich fluchend das Blut vom Auge. »Geht dieses Ding richtig? Das ist unmöglich!« Leonetti startete den Wagen. »Warum?« »Willst du damit sagen, daß ich nur fünfundzwanzig Minuten weg war?«
Tony warf einen prüfenden Blick auf die Uhr, ehe er losfuhr. »Ja. Kam es dir länger vor?« Donovan lehnte sich in die Polster zurück und stieß einen langen Seufzer aus. »Allerdings. Wie eine Ewigkeit.« Erstaunlicherweise fiel er während der kurzen Fahrt zum Sender von nur zwanzig Minuten in einen leichten Dämmerschlaf. Als Tony den Wagen auf dem Parkplatz zum Stehen brachte, fuhr er mit einem Satz hoch. »Was ist…« »Beruhige dich. Mike. Wir sind da.« Als Donovan aus dem Wagen kletterte, stöhnte er leise auf. Er spürte seine steifen, gequetschten Muskeln und einen dumpfen Schmerz im Rücken an der Stelle, wo er auf dem Waschtisch aufgeschlagen war. Andererseits waren ihm die Schmerzen beinahe willkommen als Beweis dafür, daß er das Ganze nicht nur geträumt hatte. Durch den Hintereingang gingen sie direkt zum Büro des Direktors der Rundfunkstation. Es war nach neun Uhr, und er hatte das Büro schon verlassen, doch der Leiter des Abendprogramms war da und bereitete die Elf-UhrNachrichten vor. Tony ging zu dem schwergewichtigen, glatzköpfigen Mann hinüber, den Mike bereits von ein paar anderen Gelegenheiten her kannte. Er setzte sich vorsichtig auf die Kante eines Schreibtisches und versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. Martini? Gibson? Der Name irgendeines Getränkes, dachte er benommen. Der Schmerz in seinem Nacken war mörderisch. Leonetti kam mit dem glatzköpfigen Mann zu ihm zurück. »Mike, das ist Paul Madeira. Wenn dein Film es wert ist, will er eine Sondersendung bringen. Bist du bereit, ein LiveInterview als Kommentar dazu zu geben?« Donovan hatte zwar jahrelang hinter der Kamera gestanden, doch er war noch nie selbst Mittelpunkt einer Sendung gewesen, abgesehen von der Pressekonferenz, die nach seinem
ersten Besuch auf dem Mutterschiff gegeben worden war. Nach kurzem Zögern antwortete er jedoch: »Okay, solange sie nicht mit Barbara Walters spitzer Zunge auf mich losgehen.« Sie gingen in einen der hinteren Aufnahmeräume, während Tony den Film vorbereitete. Mit jagendem Puls saß Donovan in dem abgedunkelten Raum, während der Film abzulaufen begann. Da war zuerst das Landedeck. »Was bedeutet das, ›Ausfluß‹?« wollte Madeira wissen. »Sie transportieren die Chemikalien offenbar nur hoch, um die Gase dann in die Atmosphäre abzulassen«, erwiderte Donovan. »Die ganze Geschichte von den Chemikalien ist vielleicht nur ein Vorwand.« »Aber warum sollten sie das tun? Warum sollten sie ein so sorgfältig ausgearbeitetes Täuschungsmanöver inszenieren?« Mike hob die Schultern und zuckte zusammen, als sein schmerzender Rücken protestierte. »Ich weiß es nicht. Ich bezweifle jedoch, daß sie all diese Mühen sozialer Probleme wegen auf sich nehmen.« Als nächstes kam der dunkle Gang. »Schneiden Sie das heraus«, schlug Donovan vor. »Man sieht nicht viel, und dort ist auch nichts passiert.« Als entfernte Stimmen zu hören waren, hielt Donovan in höchster Spannung den Atem an. Auf dem Monitor erschienen Steven und Diana. Als Diana mit der Maus ins Bild kam, mußte er hörbar schlucken, weil ihm jetzt zum ersten Mal klar wurde, was mit diesen armen Kreaturen geschah. »Jetzt haltet die Luft an!« flüsterte er Leonetti und Madeira zu. »Die nächste Szene ist der reinste Horror. Ich hoffe, Ihr habt starke Nerven.« »Was…?« Die Worte blieben Madeira im Hals stecken, als er sah, wie Steven die Maus herunterschlang. »Großer Gott!« stieß Tony hervor.
Donovan schluckte. »Das Beste kommt erst noch, meine Damen und Herren.« Auf dem Monitor hob Diana das Meerschweinchen in die Höhe, riß den Mund auf… Dann – fast ohne sich selbst darüber bewußt geworden zu sein, sich bewegt zu haben – fand Donovan sich über den Abfalleimer gebeugt wieder und übergab sich. Tony hielt fluchend den Projektor an und knipste das Licht an. »Mike…« Donovan winkte ab, mußte sich noch einmal übergeben. »Nein, nein – ich bin schon okay.« Keuchend richtete er sich auf und spülte den Mund mit einem Glas Wasser aus, das Madeira ihm reichte. »Danke. Ich fühle mich völlig ausgepumpt – aber besser hier als dort, wo sie mich hätten hören können.« »Verstehe ich«, meinte Tony. »Ich hätte mich beinahe schon beim bloßen Anblick der Bilder übergeben müssen. Was hat das nur zu bedeuten?« Donovan sah ihn an. »Du wirst es noch verstehen – ich hoffe es jedenfalls.« »Laß ihn weiterlaufen, Tony«, sagte Madeira. Donovan hätte seine Betacam am liebsten geküßt, als er auf den Bildschirm sah. Die robuste, kleine Kamera war auf der Koje gelandet und war auf der Seite liegend weitergelaufen. Doch wenn sie den Kopf verdrehten, konnten sie den größten Teil des Kampfes sehen. Als sie sahen, wie die menschliche Maske vom Gesicht des Außerirdischen gerissen wurde, hielten Madeira und Tony keuchend den Atem an. Als das Licht wieder angestellt war, starrten sich die drei fassungslos an. »Sehen aus wie Reptilien«, sagte Madeira. »Man könnte diesen Streifen für einen SF-Film halten. Das war wirklich hart, Donovan. Sie können froh sein, daß Sie nicht schwerer verletzt sind.« »Allerdings«, pflichtete Tony ihm bei.
»Also, sehen wir zu, daß wir die Sondersendung schnellstens in den Äther kriegen«, sagte Donovan. Er setzte sich zu dem Sendeleiter für die Elf-Uhr-Nachrichten und lauschte den durch das Studio hallenden Rufen. »Licht! Gebt mir Licht, verdammt noch mal. Jetzt!« »Film und Ton ab!« Eine Technikerin kam zu ihnen und reichte ihnen kleine Mikrofone. Sie wollte Donovans mißhandeltes, zerschlagenes Gesicht mit einer antiseptischen Seife betupfen, doch dieser winkte ab, weil er sah, daß der Sendeleiter das Zeichen zum Anfangen gab. Zuerst kam die Durchsage: »Wir unterbrechen unser Programm für einen Sonderbericht, der live aus dem Studio in Los Angeles kommt.« Madeiras Stimme drang an Donovans Ohr. »Drei, zwei, eins, null – Stichwort, Charles.« Der Mike gegenüber sitzende Sprecher blickte auf. »An Bord des Mutterschiffes hat sich gerade etwas sehr Erstaunliches zugetragen. Studiogast ist heute abend…« »Heh! Was ist los, verdammt noch mal?« unterbrach ihn Madeiras Stimme. »Chuck, wir haben die Frequenz verloren – « Seine Assistentin, eine junge Farbige mit langem, schwarzem Haar, blickte verwirrt auf. »Wir haben die Frequenz verloren. Wir senden nicht mehr.« »Was?!« Madeiras Stimme klang erschöpft. »Das ganze verdammte Sendernetz ist durcheinander.« »Und jetzt ist auch die Verbindung mit New York unterbrochen«, erklärte die junge Frau in resigniertem Tonfall. Der Monitor über Mikes Kopf flimmerte. »Da ist etwas!« schrie Madeira. Auf dem Bildschirm erschien das Symbol der Visitors.
9. Kapitel
»Verdammt!« brummte Donovan, als er zu den Monitoren an den Studiowänden hochblickte. Die Bildschirme flimmerten, dann war Kristine Walshs vertrautes Gesicht zu sehen. »Hier spricht Kristine Walsh. John, der Oberste Kommandant der Visitors, möchte eine Erklärung abgeben.« Aufseufzend lehnte sich Mike gegen den Schreibtisch. Wir sind zu spät gekommen…zu spät. Er blickte nicht auf den Monitor, als John zu sprechen begann: »Meine lieben Freunde auf der ganzen Welt. Zunächst möchte ich den Regierungen all der Länder danken, die uns großzügigerweise und im Interesse des Friedens ihre Sendekapazitäten übertragen haben, um uns bei der Bewältigung dieser Krise zu helfen.« Ungläubiges Gemurmel und leise Ausrufe wachsender Wut wurden auf diese Lüge hin im Senderaum laut. »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß die Verschwörung der Wissenschaftler einen sorgfältig vorbereiteten und äußerst gewalttätigen Versuch unternommen hat, an vielen Schlüsselstellen in der ganzen Welt unsere Anlagen unter ihre Kontrolle zu bekommen.« Auf dem Monitor erschienen die Bilder verschiedener in Flammen stehender Raffinerien. »Diese Bilder kommen aus Rio de Janeiro, Tokio und Kairo, wo unsere Werke erbitterten Angriffen ausgesetzt waren – auf mindestens zwei Dutzend andere wurden ähnliche Anschläge verübt, die jedoch zum Teil oder ganz abgewehrt werden konnten.« Jetzt waren vor dem Hintergrund brennender Tanks mit Chemikalien dahinjagende Ambulanzen und Bahren tragende
Sanitäter zu sehen. Unter den Opfern befanden sich, nach ihrer Kleidung zu schließen, Menschen ebenso wie Visitors. Johns Stimme kommentierte die Szene: »Sowohl für Ihr Volk als auch für uns gab es ungeheure Verluste. Die Zahl der Verwundeten geht in die Tausende – und wir befürchten, daß es noch weitere Anschläge geben wird.« Wieder erschien Johns Bild auf dem Monitor. »Die Überfälle sind so weit verbreitet und so gefährlich, daß die meisten zivilen Mitglieder Ihrer Regierungen uns um Schutz gebeten haben. Diesem Wunsch sind wir natürlich gern nachgekommen, und sie befinden sich jetzt an Bord unserer Schiffe in Sicherheit.« »Ich wette, du lügst, du Mistkerl!« fauchte die Assistentin. Donovan warf einen forschenden Blick zu Madeira hinüber, der offenbar völlig unter Schock stand. John seufzte; ein Ausdruck des Bedauerns lag auf seinem Gesicht. »Leider muß ich Ihnen auch mitteilen, daß ein Mann – ein Mann, dem wir besonders großes Vertrauen entgegenbracht haben – sich als größter Verräter am Frieden der Welt erwiesen hat.« Ein Foto erschien auf den Bildschirmen, und als Mike müde und resigniert hochsah, erkannte er sein eigenes Gesicht. »Michael Donovan aus den USA ist einer der Anführer der Verschwörung und verantwortlich für die gewalttätigen Übergriffe des heutigen Tages.« »Das war nicht gerade ein sehr schmeichelhaftes Foto, Mike«, sagte Tony, der sich neben Mike auf den Boden gehockt hatte, in angewidertem Ton. »Komm, du solltest hier lieber verschwinden. Hier werden sie zuallererst nach dir suchen.« Donovan folgte seinem Partner in ein anderes Studio. »Hattest du die Möglichkeit, eine Kopie von meinem Film zu machen?«
»Das wollte ich gerade tun. Mann, wir sind ganz schön in Schwierigkeiten.« »Wem sagst du das?« entgegnete Donovan grimmig, der gerade den Schluß von Johns Erklärung hörte. »Für Hinweise, die zu Donovans Ergreifung führen, ist von der UNO und der Regierung der USA eine ansehnliche Belohnung ausgesetzt worden.« »Falls Sie diesen Mann sehen, versuchen Sie nicht, ihn festzuhalten oder mit ihm zu sprechen. Ich wiederhole: Versuchen Sie es nicht. Er ist äußerst gefährlich und dürfte bewaffnet sein.« »Was!« rief Donovan. Er hätte nicht erwartet, daß sie so weit gehen würden. Das Ganze kam ihm wie ein Spuk aus dem Mittelalter vor. Ein Schrei gellte durch das Nachrichtenstudio, dann schien der ganze Platz von dem Dröhnen schwerer Stiefel und einem pulsierenden, seltsamen Hämmern widerzuhallen. »Sie sind da, Mike!« rief Tony. Die verschlossene Tür brach aus den Angeln, und Donovan sah eine Reihe von Visitors mit seltsamen Schutzhelmen und schweren Waffen hereinstürmen. Schnell riß er die Tür an der gegenüberliegenden Seite des Raumes auf, und Tony warf ihm seinen Film zu. »Hier!« rief Tony und schleuderte den Visitors ein paar Video-Teile in den Weg, womit er sich zugleich selbst den Fluchtweg abschnitt. Doch Donovan hatte keine Wahl – entweder er rannte davon, oder er wurde auf der Stelle niedergeschossen. Er hechtete durch die Tür, rannte über den Flur und stieß mit der Schulter die Tür zum Feuer-Notausgang auf. Dann stürzte er, begleitet vom Schrillen der Sirene, in die Nacht hinaus. Er stürmte blindlings drauflos und prallte mit dem Bauch gegen das Treppengeländer. Nicht in der Lage, rechtzeitig zum Stehen zu kommen, fiel er darüber hinweg und landete auf
dem Parkplatz. Obwohl er nicht sehr tief stürzte – höchstens einen bis eineinhalb Meter –, prallte er schwer auf und schnappte nach Luft. Doch gerade dieser Sturz rettete ihm das Leben, denn kaum war er auf der Erde aufgeschlagen, als ein greller Feuerstrahl über das Geländer zuckte. Donovan rappelte sich hoch, stopfte den kostbaren Film in die Jackentasche und eilte in der Richtung über die Straße, in der er den Parkplatz vermutete. Als er um eine Ecke bog, stieß er mit voller Wucht gegen einen patrouillierenden Polizisten. Der Mann wirbelte herum und griff, als er Donovans Gesicht sah, nach seinem Revolver. Donovan erkannte die Gefahr und trat mit voller Kraft gegen den Arm des Mannes, woraufhin die Waffe scheppernd zu Boden fiel und davonrutschte. Die Erkenntnis, daß seine eigenen Leute den Anschuldigungen der Visitors Glauben schenkten und ihn wie einen Verbrecher behandelten, versetzte Donovan in Panik. Er rannte weiter durch die Straße und stellte voller Entsetzen fest, daß er offenbar jegliches Gefühl für die Richtung verloren hatte, denn statt des Parkplatzes fand er sich plötzlich vor einer hohen Mauer wieder. Hinter sich hörte er das dröhnende Gepolter unzähliger Stiefel, dann wieder das seltsame, jagende Hämmern, als die Visitors ihre fremdartigen Waffen abfeuerten. Als Donovan erkannte, daß er keine andere Wahl hatte, raste er auf die Mauer zu und sprang, als er schon wie ein Insekt an den Ziegeln zerquetscht zu werden drohte, mit über den Kopf erhobenen Armen hoch. Seine Finger krallten sich um den Rand der Mauer, während die Füße wild, nach irgendeinem Halt suchend, gegen die Mauer schlugen. Ein Feuerstoß versengte die Mauer dicht neben ihm, und Donovan fühlte eine plötzliche Hitze. Als hätte der Schuß auf ihn die Wirkung wie ein Peitschenhieb auf ein störrisches
Pferd, zog Mike sich hoch und schwang die Beine über die Mauer. Als ein weiterer Feuerstoß ihm fast das Haar verbrannte, sprang er in die Dunkelheit unter sich.
Als John, der Oberste Kommandeur der Visitors, die Überfälle auf die chemischen Fabriken beschrieb, richtete Daniel Bernstein sich erregt in seinem Stuhl auf. »Ich würde gern wissen, ob sie Richland eingenommen haben«, murmelte Stanley Bernstein. Sein Vater Abraham saß sehr still auf der anderen Seite des Zimmers, nur seine Augen bewegten sich. »Oh, Gott, Stanley!« wimmerte Lynn. »Sieh doch nur all die verletzten Menschen! Was geht da nur vor?« »Nichts, Liebling, nichts.« Beruhigend berührte Bernstein sie an der Schulter. »Sei still, Vater!« unterbrach ihn Daniel. »Das ist wichtig.« John hatte gerade seinen Bericht über die Jagd auf den Fotografen Michael Donovan abgeschlossen. Nach allem, was diese Burschen für uns getan haben, versucht dieser Hurensohn, sie anzugreifen! dachte Daniel. Er soll mir lieber nicht über den Weg laufen… John lächelte gewinnend, und Daniel erwiderte dieses Lächeln. John würde das schon machen. »Ihre nationalen Regierungen haben vorgeschlagen, daß die Einführung des Kriegsrechts jetzt sehr hilfreich sein könnte, und wir stimmen dem zu. Die einzelnen Polizeistationen werden mit unseren Patrouillen zusammenarbeiten –, und wir werden auch alle Gruppen der Sternenfreunde um Hilfe bitten…« »Sehr gut.« Daniel richtete sich auf und strich glättend über seine Uniform.
»Wir hoffen, daß diese Krise bald vorübergehen wird. In der Zwischenzeit, meine Freunde, werden ich und meine Gefährten unser Bestes tun, um Ihnen zu helfen, die Krise zu überstehen und die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. In Kürze geben wir Ihnen genaue Verhaltensmaß regeln bekannt.« Der Bildschirm wurde schwarz, und Daniel stand mit stolz erhobenem Kopf auf. »Ich muß gehen. Ihr habt gehört, was der Oberste Kommandeur gesagt hat.« Im Hinausgehen hörte er seine Mutter jammern: »Oh, mein Gott, Stanley…« Dann die beruhigende Stimme seines Vaters. »Es wird vorübergehen – Ihr habt gehört, was John gesagt hat. Nicht wahr, Vater?« Aber Abraham blieb stumm.
10. Kapitel
Mike Donovan lag bäuchlings auf einem windigen Hügel und blickte durch das Teleobjektiv seiner 35-mm-Reflexkamera auf den unter ihm liegenden Davis-Luftwaffenstützpunkt – den Strategischen Luftwaffenkommandostab von Südkalifornien. Er machte mehrere Aufnahmen von den Wachtposten der Visitors, die vor den Eingängen und an der Einzäunung des Stützpunktes patrouillierten. Als er in der Ferne eine schnell größer werdende Staubwolke bemerkte, stellte er seine Kamera darauf ein und erkannte eine lange, schwarze Limousine. Als der Wagen näher kam, sah er darin mehrere hohe Militäroffiziere. Am Steuer saß, wie er aus den Streifen auf der Uniform ablesen konnte, ein Hauptmann. Er richtete die Kamera wieder auf den Stützpunkt, wo er etwas äußerst Interessantes sah. Die Stoßtrupps der Visitors liefen eilig in das Gebäude. Und plötzlich erschienen mehrere Militärpolizisten und nahmen am Eingangstor Stellung. Die Männer in dem Wagen waren noch zu weit vom Tor entfernt, um erkennen zu können, was dort vor sich ging. Der Lincoln fuhr vor dem Tor vor, und der Oberstleutnant stieg aus, während er sich noch mit jemandem in Wagen unterhielt. Mike sah sich den noch im Wagen sitzenden älteren Mann genauer an und stellte fest, daß es ein General war. In ohnmächtiger Wut verfolgte er die Szene. Machtlos mußten die Wachtposten zusehen, als die Stoßtrupps der Visitors mit schußbereiten, schweren Waffen aus dem Gebäude herauskamen. Sie befahlen den Männern im Wagen, auszusteigen, und als der Oberstleutnant nach seinem Revolver griff, wurde er einfach niedergeschossen. Man führte sowohl
den General als auch den Oberst und den Hauptmann ab, während die Militärpolizisten unter der Beaufsichtigung eines Visitors die Leiche des Oberstleutnants hochhoben und wegtrugen. Während Donovan den ganzen Vorfall filmte, fragte er sich wie schon so oft in den letzten beiden Wochen, ob wohl jemals irgend jemand seine Aufnahmen von der Besetzung durch die Visitors zu Gesicht bekommen würde. Er legte einen neuen Film ein und verstaute den mit den Bildern von dem Mord in seiner Jacke. Seine Taschen wölbten sich inzwischen mit Filmen und Tonbändern, die er bald entwickeln und von denen er Kopien machen lassen mußte. Doch er hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. Er tastete über seinen eine Woche alten Bart – nein, er reichte noch nicht aus, um sein Gesicht zu verdecken. Er wünschte, sein Bart würde schneller wachsen, und ärgerte sich, daß er sich in den ersten Wochen unter so viel Mühen rasiert hatte. Es war alles nicht einfach gewesen – das Schlafen in Herbergen und Nachtkinos. Er rollte sich auf den Rücken und genoß die wohltuende Wärme der Sonne auf seinem hager gewordenen Gesicht. An dem Abend, als er heimlich das Mutterschiff aufgesucht hatte, hatte er nur fünfzehn Dollar bei sich gehabt, und die waren schnell ausgegeben gewesen. In den letzten beiden Tagen hatte er in Missionen und Armenküchen gegessen – wenn er überhaupt Mahlzeiten zu sich genommen hatte. Manchmal konnte er vor Hunger keinen klaren Gedanken mehr fassen. Vor vier Tagen hatte er von einer Frau, die in einem in Eleanors Nähe liegenden Haus wohnte, zehn Dollar bekommen, als er an ihrer Tür geklopft und nach Arbeit gefragt hatte. Er verzog angewidert das Gesicht. Die einzige Arbeit, die sie für ihn gehabt hatte, war das Reinigen eines Stalles gewesen. Er hatte den Job angenommen – doch wenn er
seine Kleider nicht bald gewaschen bekam, mochte er ernste Probleme bekommen. Es gab zwar überall MünzWaschautomaten, doch wenn er keine Kleidung zum Wechseln hatte… Er malte sich aus, wie er – nackt auf einer Holzbank sitzend – seine in der Waschmaschine schleudernde Wäsche beobachtete, und er mußte lachen. Doch das Lachen klang verzweifelt und hoffnungslos. Er hätte gern gewußt, ob es Tony Leonetti gelungen war zu fliehen. Seit damals hatte er keinen Menschen mehr getroffen, den er kannte. Er mußte unbedingt versuchen, einige Verbindungen aufzunehmen, denn er wußte, daß er so nicht mehr lange weitermachen konnte. Plötzlich spürte er, wie ihn etwas in sein Bein zwickte. Er war schon einmal von Flöhen gebissen worden damals, als er in Laos gefangengenommen und für kurze Zeit ins Landesinnere geschickt worden war. Doch damals hatte ihm das nicht viel ausgemacht – im Vergleich zu Ruhr, Läusen und Folter verlor ein Floh an Bedeutung. Jetzt jedoch machten ihn die kleinen Kerle schier verrückt. Ich muß unbedingt versuchen, Tony anzurufen, beschloß er dann. Er hatte in letzter Zeit keinerlei Nachrichten mehr gehört, außer den von Kristine abgegebenen Erklärungen – er glaubte zwar ohnehin nicht, daß im Augenblick irgendein Sender völlig unbeeinflußt seine eigenen Nachrichten ausstrahlen konnte –, und die Lage war mehr als ernst und wurde von Tag zu Tag schlimmer. An fast jeder Straßenecke waren Visitor-Patrouillen stationiert. Wieder andere waren damit beschäftigt, zusammen mit Sternenfreunden überall Plakate anzubringen, die Visitors im friedlichen Gespräch mit alten Leuten oder kleine Kinder auf den Schultern tragend zeigten. Die Preise waren in astronomische Höhe geklettert, und das Ausgangsverbot war noch immer in Kraft. In der Herberge hatte Donovan gehört, daß die Polizei nur auf
schriftliche Anweisungen des Bürgermeisters hin handelte – doch tatsächlich war der Mann seit mehr als einer Woche nicht mehr gesehen worden. Resigniert fragte sich Donovan, mit welcher Hand der Bürgermeister wohl jene Anweisung geschrieben hatte, die den Polizeikräften befahl, in jeder Beziehung mit den Truppen der Visitors zusammenzuarbeiten. Erschöpft rappelte er sich hoch und verstaute seine Kamera in einer Plastiktüte. Die Kamera stellte seinen einzigen Aktivposten dar. Eines Abends hatte er sich heimlich in Eleanors Haus geschlichen, während sie und Arthur sich im Wohnzimmer mit Steven unterhielten. Er hatte die Kamera an jenem Abend, als die Visitors in den Richland-Werken mit der Produktion ihrer »Lebenserhaltungs«-Chemikalien begonnen hatten, dort gelassen. Sie und ein paar Filme – inzwischen alle belichtet – waren alles gewesen, was er in der Eile hatte mitnehmen können. Arthur, der ein Geräusch im Haus gehört hatte, war in dem Augenblick in das unbenutzte Schlafzimmer gekommen, als Mike gerade zum Fenster hinausklettern wollte. Eleanors Mann war in der Tür stehengeblieben, und sie hatten sich endlose Sekunden lang schweigend in die Augen gesehen. Dann hatte Donovan, der die ganze Zeit über auf den Schrei gewartet hatte, der Steven und die anderen Visitors herbeirufen würde, sich gezwungen, seine Flucht fortzusetzen. Doch Arthur hatte keinen Alarm ausgelöst. Tief aufseufzend machte sich Donovan auf den langen Weg zur Hauptstraße zurück. Wenn er Glück hatte – und er konnte schon von Glück sagen, überhaupt noch am Leben zu sein – so mochte sich ihm am späten Nachmittag eine Möglichkeit bieten, per Anhalter nach Los Angeles zu gelangen. Dort wollte er versuchen, sich ein paar Dollars zu erbetteln, und am Abend würde er es vielleicht riskieren können, Tony anzurufen.
Während er seinen Weg fortsetzte, überlegte er, wo er in der nächsten Nacht untertauchen könnte – Gedanken, die ihm, seit er auf der Flucht war, nie mehr aus dem Kopf gingen.
Mit zusammengepreßten Lippen faltete Juliet eine Bluse zusammen und warf sie in den Koffer, der offen auf dem Bett stand. Denny saß an der anderen Seite des Zimmers und fragte, ihren Blick meidend: »Willst du bei deinen Leuten in Manhattan bleiben?« Sie schluckte, bemühte sich, ihre Stimme unter Kontrolle zu behalten. »Nein. Zu ihnen kann ich nicht durchkommen. Für längere Fahrten braucht man jetzt eine Sondergenehmigung, und kein Mediziner hat auch nur die entfernteste Chance, eine zu bekommen. Am besten, man fragt gar nicht erst danach.« Sie ergriff ihre Haarbürste und warf sie achtlos in den Koffer. »Übrigens… es ist vielleicht besser, wenn du nicht weißt, wohin ich fahre. Den Rest meiner Sachen werde ich… irgendwann später holen.« Sie holte tief Luft und zwang sich, ohne daß Denny ihre Anstrengung bemerkte, langsam durch den Mund auszuatmen. Denny ergriff mit einer hilflosen Gebärde eine Tüte mit Hershey-Schokolade – Juliets Vorliebe für Schokolade war eines der ersten Dinge, die ihm nach seinem Einzug bei ihr aufgefallen waren – und reichte sie ihr. »Hier. Nimm sie mit. Ich esse sie doch nicht, und es heißt, daß man zur Zeit praktisch keine mehr kaufen kann.« Blind vor Tränen und bemüht, seine Hand nicht zu berühren, nahm sie die Plastiktüte in Empfang. »Ich glaube ja immer noch, daß du übertrieben reagierst«, meinte er und mied nach wie vor ihren Blick.
Juliet schüttelte den Kopf und faltete einen Rock zusammen. »Nein, ich möchte nicht, daß du meinetwegen noch mehr Opfer bringen mußt.« »Aber Julie, wir wissen doch gar nicht, ob das wirklich der Grund für die Absage war.« Sie hielt in der Bewegung inne und versuchte, das in ihr aufsteigende Schluchzen zu unterdrücken, als sie in sein dunkles, sympathisches Gesicht sah. »Nein, und gerade das ist ja das Gemeine. Sie sind immer so verdammt höflich.« Ohne hinzusehen, warf sie den Rock in den Koffer. »Aber wir wissen es, nicht wahr? Wir wissen es…« Er widersprach nicht, und Juliet, die in unsinniger Hoffnung darauf gewartet hatte, schüttelte einen Augenblick später den Kopf und trat an den Schrank heran, um ihre Jacke herauszuholen. Sie versuchte, das Thema zu wechseln, und sie berichtete ihm von einer Neuigkeit, die sie am Vormittag erfahren hatte. »Wieder ein Biochemiker – Phyllis, du erinnerst dich? Nun, sie ist heute nicht zur Arbeit erschienen, und niemand hat etwas von ihr gehört. Ebenso wie Ruth und all die anderen. Bis zur Lösung der augenblicklichen Krise sind alle medizinischen Vorlesungen ausgesetzt worden. Wenn ich fort will, darf ich nicht länger zögern.« »Vielleicht ist Phyllis verreist«, sagte Denny und hielt den Kopf gesenkt. Juliet beobachtete ihn. Das Verlangen, noch einmal sein weiches Haar zu berühren, wurde fast übermächtig. Kurioserweise hatte sie das Gefühl, ihn in seiner sich selbst auferlegten Gutgläubigkeit beschützen zu müssen. »Denny, ist dir je der Gedanke gekommen, daß man Phyllis und Ruth gewaltsam fortgebracht haben könnte?« Denny fühlte sich ganz offensichtlich unbehaglich, doch eigensinnig beharrte er: »Das sind doch nur Gerüchte, Julie.«
Sie ließ den Koffer zuschnappen. »Wirklich? Dann kann ich ja bleiben, oder?« Nach einer Weile zermürbenden Schweigens sagte er so leise, daß sie ihn kaum verstehen konnte: »Ich meine… du solltest tun… was dich glücklich macht…« Seine Stimme verklang. »Nein, Den«, widersprach sie und hob den Koffer auf. »Manchmal darf man das, was einen glücklich machen würde, nicht tun. Manchmal…« Sie biß sich auf die Lippen. »Manchmal muß man sich für Dinge entscheiden, die einen unglücklich machen.« Sie drehte sich um. »Wir sehen uns wieder, Denny«, flüsterte sie und ging. Voller Stolz polierte Daniel Bernstein seine Visitor-Waffe und trank, während er das Ergebnis seiner Bemühungen begutachtete, einen Schluck Burgunder. Die Flasche hatte er neben sich auf den Teppich gestellt. Als sein Vater den Fernsehapparat einschaltete und Kristine Walshs Stimme den Raum erfüllte, blickte er interessiert auf. »…heute gab es sogar noch weniger Fälle von Gewaltanwendung. Es ist ganz offensichtlich so, daß die Bevölkerung überall auf der Welt sofort die Behörden informiert, wenn sie irgendwo eine Verbindung zu den Verschwörern vermutet. Durch diese rechtzeitigen Warnungen werden unzählige Leben gerettet, und der Oberste Kommandeur drängt darauf…« »Zum Teufel mit ihr!« Wütend stellte Stanley den Fernsehapparat aus. »Ich kann ihr Gesicht nicht mehr sehen, und ich bin es leid, immer nur diese einseitigen Berichte zu hören!« Daniel verstand die Aufregung seines Vaters nicht. Vorsichtig steckte er die Pistole ins Halfter und goß sich noch ein Glas Wein ein. »Die Wahrheit bleibt die Wahrheit, oder?«
»Warum kann sie dann nicht einmal jemand anders sagen?« Sprachlos starrte Stanley auf die halbgeleerte Weinflasche. »Glaubst du nicht, daß du langsam genug hast, Daniel?« Daniel blickte auf die Flasche, so als erwarte er, sie würde für ihn antworten. »Nein«, erwiderte er schließlich. »Aber ich glaube es.« Hastig griff Stanley nach Flasche und Glas und nahm sie Daniel fort, der ihn daraufhin dümmlich anstarrte. »Es gibt ja immerhin noch Zeitungen, Stanley«, versuchte Lynn ihren Mann zu beschwichtigen. Stanley warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Oh, ja… sie drucken genau das, was sie sagt… manchmal sogar wortwörtlich! Und nicht nur das! Es ist doch bei allem so! Sieh dir nur diese Rechnungen an!« Er ergriff ein paar von den Rechnungen, die Lynn gerade bearbeitete, und hielt sie ihr entgegen. »Alles ist teurer geworden. Man kann kein Ferngespräch mehr ohne Erlaubnis führen – und wenn man die Erlaubnis hat, kommt man meistens nicht durch!« Wütend ging er im Zimmer auf und ab und bemerkte nicht, wie Daniel ihn aus plötzlich schmal gewordenen Augen beobachtete. »Man ist nicht einmal mehr in seinem eigenen Wohnblock sicher. Vater erzählte mir, daß Polly Maxwell in der Schule verprügelt wurde, als ihr Entwurf den wissenschaftlichen Preis gewonnen hatte. Das ist Wahnsinn! Und gestern nacht, diese Horde Betrunkener, die johlend vorbeikam! Sie haben drüben die Erkerfenster zertrümmert. Vater sagte mir, Kathleen sei zu Tode erschrocken gewesen. Das ist Wahnsinn! Nichts anderes!« »Aber Stanley, du weißt doch, Robert ist…« Ihre Stimme erstarb. »Wissenschaftler? Das wolltest du doch sagen, nicht wahr? Na und? Wir sind jetzt seit zehn Jahren Nachbarn, und ich
kann mir keinen netteren vorstellen. Der Gedanke, daß er in die Verschwörung verwickelt sein soll, ist geradezu lächerlich! Das Ganze ist Blödsinn!« Schwer atmend hielt Stanley inne. »Du hast immer gesagt, das alles würde vorbeigehen.« Lynn blickte ihn bekümmert über den Rand ihrer Brille hinweg an. »Ja, ja«, seufzte Stanley. »Und es muß schnell vorbeigehen, wenn sich unsere Probleme nicht noch verschärfen sollen. Ich wünschte, es wäre alles wieder so wie früher.« Lynn sah sich suchend um. »Wo ist Daniel?« Stanley verzog das Gesicht. »Nun, bestimmt nicht auf Stellungssuche.« »Du solltest in seiner Gegenwart vorsichtig sein mit dem, was du sagst, Stanley«, meinte Lynn mit gesenkter Stimme. »Was? In meinem eigenen Haus?« »Aber er lebt auch hier, und du weißt, wie… eng er mit… ihnen verbunden ist.« Mit einer sowohl ungeduldigen als auch beschwichtigenden Geste entgegnete Stanley: »Gut, gut… ich weiß. Doch er sollte nicht das Recht haben, hier…« Ein Lichtstrahl ließ Lynns Ehering aufblitzen, und sie unterbrach ihn mit sanfter Stimme: »Ich habe da schon Geschichten gehört…« »Gerüchte, wolltest du sagen.« »Nein, das waren wahre Begebenheiten, Stanley. Ein Mitglied seiner Gruppe hat tatsächlich…« Sie schluckte und drehte an ihrem Ring. »Was hat er? Sie informiert?« Sie nickte. »Seine eigenen Eltern denunziert – und daraufhin sind sie verschwunden.« Erschöpft rieb Stanley seinen Nacken und ließ sich in einen Sessel neben ihr fallen. »Mag sein, Lynn. Aber ich kann beim besten Willen nicht glauben, daß Daniel…« Sie erschauerte. »Ich auch nicht, aber…«
»Was könnte er über uns schon sagen?« Er versuchte, seiner Stimme einen sorglosen Klang zu geben, doch er merkte selbst, wie sehr ihm das mißlang. »Wir sind keine Wissenschaftler, und ich habe auch nichts gesagt…« Er runzelte die Stirn, versuchte sich zu erinnern, was er eben ausgesprochen hatte. Sein Mund war plötzlich trocken geworden. »Du warst sehr… kritisch. Zum Beispiel, was Kristine Walsh anbelangt. Und sie selbst. Und die Zeitungen. Und natürlich auch in bezug auf Daniel.« »Ich finde trotzdem, daß er nicht so viel trinken sollte. Der Alkohol ist schneller weg, als ich ihn nachkaufen kann. Und das bei den Preisen!« »Aber du hast noch mehr gesagt.« »Alles, was ich gesagt habe, war, daß ich es leid bin, immer nur…« »Einseitige Nachrichten zu hören. Ihre Version.« »Ja, ich will nicht immer nur ihre Meinung hören. Nein, ich meine…« Er hielt inne und blickte sich unsicher in ihrem gemütlichen Wohnzimmer um, das ihm plötzlich sehr fremd zu sein schien. »Du glaubst doch nicht, daß er sie angerufen hat?« Beide starrten auf das Telefon. Es gab noch drei weitere Apparate im Haus. Einen in Abrahams Zimmer, das nebenan lag. Das hätten sie hören müssen – doch die anderen beiden befanden sich in der Küche und im Schlafzimmer. An der anderen Seite des Hauses. Stanley versuchte, sich zu beruhigen, um klar und logisch denken zu können. In diesem Augenblick kam Daniel ins Zimmer zurück. Lynn bemühte sich krampfhaft, ihrer Stimme einen normalen Klang zu geben. »Danny, Liebling, wo bist du gewesen?« Ohne sie anzusehen, setzte Daniel sich auf die Couch. »Im Badezimmer.«
Stanley blickte seine Frau vielsagend an und flüsterte ihr zu: »Glaubst du, daß er lügt?« Sie sah einen Augenblick zu Daniel hinüber, wandte sich dann wieder ihrem Mann zu und zuckte die Achseln. Stanley lehnte sich in seinem Sessel zurück und versuchte, die aufsteigende Angst zu unterdrücken. Das ist entsetzlich! Was soll ich nur tun? Warum muß ausgerechnet mir das passieren?
Die Arme voller Bücher trottete Robin Maxwell die Straße hoch. Normalerweise machte sie ihre Hausaufgaben nur, um keinen Krach mit ihren Eltern zu bekommen. So wie die Dinge sich jetzt jedoch entwickelt hatten, waren ihr sogar ihre Schulbücher lieber als die Schule und die Nachbarn. Der einzige Junge in ihrem Bekanntenkreis, der sie nicht behandelte, als hätte sie die Pest, war Daniel. Beim Gedanken an ihn jedoch wurde ihr hübscher Mund schmal, denn sie war wütend auf ihn. Er hatte in Brians Gegenwart erwähnt, daß ihr Vater Anthropologe war. Und seitdem hatte sie Brian nicht mehr gesehen, und das war mehrere Wochen her. Robin warf ihr dunkles Haar zurück, und in ihren Augen blitzte es. Zum Teufel mit dir, Daniel Bernstein! Dieser gierige, kleine Wurm mußte gedacht haben, daß sie mit fliegenden Fahnen zu ihm überwechseln würde, wenn er dafür sorgte, daß sie Brian nicht mehr sah. Nun, sie würde ihn eines Besseren belehren, das war sicher… Die Situation in der Schule bedrückte sie sehr, doch der Schmerz, den sie empfand, wenn ihre alten Klassenkameraden sie jetzt wie ein Nichts behandelten, war nichts, verglichen mit den Qualen, die sie beim Gedanken an Brian erfüllten. Das Bild des gutaussehenden Visitors geisterte durch ihre Träume und stand tagsüber vor ihrem geistigen Auge. Wann immer sie
zu dem großen Mutterschiff hochsah – und man konnte nirgendwo hingehen, ohne es zu sehen –, mußte Robin an ihn denken. Sie war so sehr in ihre Träumereien versponnen, daß sie beinahe an ihrem Haus vorbeigegangen wäre. Die Stimme ihres Vaters riß sie schließlich aus ihren süßen Träumen von Brian heraus, in denen er sie in den Armen hielt und sie anlächelte. »Robin, steig ein!« Als sie aufblickte, sah sie ihren Kombiwagen, vollbeladen mit Kleidung, Campinggeräten und Wertsachen auf der Straße stehen. Ihr Vater warf gerade ein großes Bündel auf den Dachgepäckträger des Wagens. »Wohin fahren wir, Vati?« fragte Robin verblüfft. »Zur Berghütte, Liebling.« Maxwell prüfte noch einmal die Verschnürung und suchte dann in seiner Jacke nach dem Schlüssel. Hinter ihm konnte Robin das mit Pappe zugeklebte Erkerfenster ihres Elternhauses sehen. »Übers Wochenende?« fragte Robin, obwohl sie ahnte, daß die Antwort negativ ausfallen würde. »Vielleicht, Liebling. Aber wahrscheinlich werden wir eine ganze Weile dort bleiben. Wir haben deine Sachen schon eingepackt. Also, steig ein. Es sei denn, du mußt noch einmal auf die Toilette.« »Nein!« stieß Robin hervor. Sie spürte, wie etwas in ihr zerbrach. Wenn ich weggehe, werde ich ihn nie wiedersehen. Ich werde sterben. Sie machte ein paar Schritte auf die Wagentür zu. »Aber ich will nicht in die Berge!« platzte sie dann heraus. »Bitte, Papi. Ich hasse unsere Hütte da oben. Es ist todlangweilig dort.« Der Mund ihres Vaters wurde zu einem schmalen Strich, und Robin wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Doch seine Stimme blieb ruhig: »Steig ein, Robin«, sagte er.
Ihre Mutter öffnete die Tür und kam um den Wagen herum. In ihren grünen Augen lag ein sanfter, aber unnachgiebiger Ausdruck. »Bitte, Robin, versuch doch zu verstehen. Zuviel ist geschehen. Ein Mitarbeiter deines Vaters wurde heute morgen verhaftet, weil er Mitglied der Verschwörung sein soll.« Polly steckte den Kopf zum offenen Wagenfenster heraus. »Ich finde, wir sollten hier bleiben und kämpfen, Vati! Du hast doch nichts Unrechtes getan!« Kathleen blickte zu ihrem Haus zurück und biß sich verzweifelt auf die Lippen. Dann hob sie entschlossen den Kopf. »So einfach ist das nicht, Polly.« »Aber Vater ist doch kein Verschwörer!« wandte Robin ein. »Die anderen…« »… waren auch keine, Robin. Steig ein«, unterbrach ihr Vater sie. »Aber alle meine Freunde sind hier!« »Oh, ja.« Pollys Stimme triefte vor Hohn. »Vor allem der in der roten Uniform.« Robin wirbelte herum. »Halt den Mund, Polly!« Dann wandte sie sich wieder an ihren Vater. »Bitte, Vati. Ich könnte bei Karen bleiben…« »Robin!« In diesem Ton hatte Robert noch nie mit seiner Tochter geredet. »Sofort!« In ohnmächtiger Wut preßte Robin ihre Schulbücher an sich, als sie um den Wagen herumging und die Tür aufriß. Ohne Polly, die ihr die Zunge herausstreckte, und Katie eines Blickes zu würdigen, stieg sie ein. Robert startete den Wagen und setzte ihn zurück. Seine innere Anspannung zeigte sich deutlich in der Art, wie er den Wagen mit quietschenden Reifen davonschießen ließ. Im Wegfahren bemerkte Kathleen einen Mann, der sie, auf eine Harke gelehnt, beobachtete, und sie winkte ihm traurig zu. Der
Mann winkte zurück. »Wer war das?« fragte Robert mit einem Seitenblick auf seine Frau. »Sancho Gomez. Vor ein paar Monaten kam er auf der Suche nach Gartenarbeit bei mir vorbei, und ich engagierte ihn für ein paar Stunden die Woche. Immer Freitags. Er hat für mehrere Familien hier in der Straße gearbeitet… hatte eine wirklich gute Hand mit den Rosen.« »Mir ist aber aufgefallen, daß sie unbedingt zurückgeschnitten werden müssen«, wandte Robert ein. »Das stimmt.« Zerstreut strich Kathleen über ihr Haar. »Vor ein paar Wochen sagte Sancho mir, daß er nicht mehr für mich arbeiten könne – weil seine anderen Kunden erklärt hätten, er dürfte nicht mehr für sie arbeiten, wenn er weiterhin zu uns käme. Was sollte er tun? Er hat Frau und Kinder…« Maxwell nickte gereizt. Beinahe zwanzig Minuten lang fuhren sie schweigend dahin, bis sie die Außenbezirke von Los Angeles erreichten und über eine kleine Anhöhe rollten. Plötzlich zeigte Polly aufgeregt nach vorn. »Schau, Vati! Eine Straßensperre der Polizei!« Mit einem erstickten Aufschrei starrte Kathleen die Straße herunter, wo eine der Streifenfähren der Visitors quer auf der Straße gelandet war und nur eine schmale Gasse freiließ. Davor hatte sich eine lange Schlange wartender Autos gebildet. Zwei Polizisten standen am Straßenrand, in das ständig wechselnde rot-blau-rot aufflackernde Licht der Fähre getaucht. Ein Visitor stand mit schußbereitem Gewehr neben dem Bug der Raumfähre. Sein Helm schwang vor und zurück, während er die Polizisten vom Polizeidepartment von Los Angeles bei der Kontrolle der Wagen beobachtete. Maxwells Finger krampften sich um das Lenkrad; er wagte nicht, seine Familie anzusehen, weil er fürchtete, sie würden die nackte Angst in seinen Augen erkennen. Ohne ein weiteres Wort lenkte er den Wagen an den Straßenrand, wartete, bis
sich eine Lücke in der nachfolgenden Autoschlange bot, schaltete den Blinker ein und fuhr in engem Bogen die Straße zurück. Sie können nicht alle Straßen gesperrt haben, versuchte er, sich selbst zu beruhigen. Vielleicht eine der kleineren Landstraßen… Zehn Minuten später steuerte er den Wagen erneut an den Straßenrand, als er voller Entsetzen die vor ihnen errichtete Straßensperre sah. »Noch eine«, stieß Kathleen hervor. »Vati, warum fahren wir nicht einfach durch?« fragte Robin. »Du hast nichts getan…« Polly warf ihrer Schwester einen vernichtenden Blick zu. »Mein Gott, Robin, du bist vielleicht naiv! Bist du so auf die Welt gekommen, oder mußtest du das erst lernen?« Robin starrte Polly verblüfft an, wurde dann rot vor Wut. »Wie kannst du es wagen…« »Schluß jetzt!« befahl Robert mit leiser Stimme. »Ich muß nachdenken.« »Warum wollen sie, daß wir in der Stadt bleiben, Mami?« fragte Polly. »Weil wir dann leichter zu finden sind«, antwortete Kathleen. »Und warum wollen sie uns finden – uns und Leute wie uns?« »Wir wissen es nicht, Polly.« Kathleen warf Robert einen schnellen, ängstlichen Blick zu. Schüsse zerrissen die Stille, und sie sahen, wie ein Mann aus der Hintertür eines Wagens sprang, der von der Polizei angehalten worden war, und panikerfüllt über die Straße hetzte, genau auf sie zu. Voller Entsetzen sahen sie, wie der Visitor sorgfältig auf den Rücken des Mannes zielte und abfeuerte. Der Schuß erfüllte die Luft mit einem kurzen Aufflackern blauer Elektrizität, dann dem Geruch von Ozon. Der Mann taumelte noch ein paar Schritte weiter und fiel dann
gegen die Tür von Roberts Auto, wobei sein entsetztes Gesicht für einen Augenblick gegen die Scheibe gepreßt war. Dann sank er, eine Spur von Speichel und Schleim auf dem Fenster hinterlassend, zu Boden. Die Maxwells saßen wie erstarrt da; sie waren nicht in der Lage, zu denken oder sich zu bewegen, als der Visitor und die beiden Polizisten zu dem am Boden liegenden Mann eilten. Der Visitor war als erster da. Ohne die entsetzten Maxwells eines Blickes zu würdigen, stieß er das Gesicht des Mannes brutal auf das Pflaster. Dann kam der erste Polizist mit den Handschellen dazu. Sie hörten den Mann vor Schmerz aufstöhnen, als sie ihm die Arme nach hinten auf den Rücken rissen, auf dem sich ein schwarzer Brandfleck zeigte – hervorgerufen von dem von der fremden Waffe abgefeuerten Energiestrahl. Hilflos und entmutigt nahm Maxwell die schwarze und ölige Masse versengten Stoffes und verbrannten Fleisches wahr – und er wußte plötzlich mit niederschmetternder Gewißheit, was mit Arch Quinton geschehen war. Der andere Polizist kam hinzu und starrte mit ausdrucksloser Miene auf den Verletzten, in seinen Augen jedoch flackerte so etwas wie Mitleid auf. »Wieder ein Wissenschaftler?« fragte er. »Nein«, erwiderte der Polizist, der die Handschellen angelegt hatte. »Er wollte einem helfen, die Straßensperre zu durchbrechen. Und damit wird er in meinen Augen zu einem von ihnen. Steh auf, Freundchen!« Brutal zerrte er an dem aufschluchzenden Mann. »Langsam, Bob«, gemahnte ihn der andere Polizist. »Er ist verwundet.« »Daran ist er selbst schuld. Er hat die neuen Gesetze übertreten und muß die Konsequenzen tragen.«
Randy bedachte den nach der Streifenfähre zurückkehrenden Visitor mit einem raschen Blick, um sich zu vergewissern, daß er ihn nicht hören konnte. »Das ist etwas anderes, Bob.« »Nein, das ist es nicht! Ein Gauner ist ein Gauner, vergiß das nicht!« Ohne sich umzusehen, zerrte er den Mann weg, der jetzt kaum noch bei Bewußtsein war. Der Polizist mit Namen Randy starrte ihm einen Augenblick lang nach, dann wandte er sich mit bekümmerter Miene den Maxwells zu. »Sie fahren in diese Richtung?« fragte er und zeigte auf die Straßensperre. »Oh… nein«, antwortete Robert mit dümmlichem Grinsen. Seine Gedanken überschlugen sich. »Meine… liebe, kleine Frau hat doch wahrhaftig die Einkaufsliste vergessen. Halten Sie so etwas für möglich? Jetzt müssen wir noch einmal zurückfahren, um sie zu holen.« Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er den Rückwärtsgang einlegte. Der Beamte sah ihn einen Augenblick prüfend an, dann nickte er traurig. »Ich verstehe. Bei den heutigen Preisen kann man es sich nicht erlauben, ohne Liste einkaufen zu gehen.« Er blickte in Richtung der Straßensperre, dann wandte er sich wieder Maxwell zu. »Passen Sie gut auf.« Robert setzte den Wagen zurück und wendete; dann fuhren sie wieder in die Stadt zurück. Kathleen verfiel in ein hysterisches Lachen. »Liebe, kleine Frau – oh, Gott, Robert, wie weit sind wir gesunken?« »Hör auf, Kathleen! Sonst drehen wir alle durch.« Maxwell schluckte. »Wo sollen wir nur hin? Wer kann uns helfen?« jammerte Robin. Robert spürte das starke Verlangen, sie zu ohrfeigen, doch er beherrschte sich. Sie kann nichts dafür, sagte er sich. Diese ganze Sache liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft – ebenso wie der meinen.
»Ich weiß es nicht, mein Liebes«, sagte er so sanft wie möglich. Plötzlich strafften sich Kathleens Schultern. »Aber ich weiß es. Fahr nach Hause zurück, Robert.« Robert blickte seine Frau verwundert an, gehorchte jedoch und lenkte den Wagen auf die Stadtautobahn, zurück nach dem Haus, das bis zu diesem Morgen sein Zuhause gewesen war.
11. Kapitel
Juliet Parrish spähte durch einen Spalt in der Jalousie. Ein paar Häuserblocks weiter heulte eine Polizeisirene, die sich jedoch zu entfernen schien. Sie seufzte erleichtert und ließ die Latte los. »Ich glaube, es ist alles in Ordnung.« Auch die anderen in der chemischen Reinigung versammelten Personen atmeten hörbar auf. Ben Taylor wischte sich mit einer übertriebenen Handbewegung über die Stirn und lächelte gezwungen. Dann räusperte er sich und meinte: »Also gut, wir alle kennen die Lage: Wir haben keine Pressefreiheit mehr; man unterdrückt die Wahrheit, und die gesamten Vereinigten Staaten werden in einer totalitären Diktatur regiert. Es herrscht der Belagerungszustand. Die hohen Militärs sind verhaftet worden, oder man hat sie verschwinden lassen.« »Die Gerüchte um die angebliche Verschwörung haben alle Wissenschaftler, die ich kenne, zu Tode erschreckt«, unterbrach ihn eine dunkelhaarige Frau um die Vierzig. »Und das mit gutem Grund.« »Ja, es verschwinden noch immer welche«, erklärte Brad, ein junger Polizeibeamter mit lockigen braunen Haaren. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck tiefer Besorgnis. »Ebenso wie mein Partner und viele andere Polizisten, die ihre ›Bitten‹ – so bezeichnen sie ihre Forderungen – nicht billigten. Sehr witzig, nicht wahr?« Doch niemand lachte. Die dunkelhaarige Frau, an deren Namen sich Juliet nicht erinnern konnte, rang die Hände. »Gestern wurde wieder eine Familie aus meinem Haus abgeholt. Er war Arzt…«
Ben Taylor sah zu Juliet hinüber. »Warum sind sie nur so versessen darauf, unsere Wissenschaftler zu verhaften? Insbesondere Mediziner, Anthropologen und Physiker? Theoretikern und Astronomen zum Beispiel haben sie auch nicht annähernd soviel Aufmerksamkeit geschenkt.« Juliet nickte zustimmend. »Sie müssen uns als Gefahr für sich ansehen. Vielleicht glauben sie, daß wir… irgend etwas über sie herausfinden können…« Sie zuckte die Achseln und zerbrach sich den Kopf nach einer plausiblen Erklärung. »Oder daß wir sie möglicherweise aufhalten können?« fragte Ben. Juliet lachte trocken auf. »Ich kann nur hoffen, daß wir wirklich eine solche Bedrohung für sie sind, wie sie offenbar befürchten.« Eine farbige Empfangsdame, die angegeben hatte, für die Telefongesellschaft zu arbeiten, schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Weg, sie aufzuhalten… Sie sind in der Überzahl.« »Nein!« widersprach Ben mit Nachdruck. »Es muß einen Weg geben!« »Es gibt einen.« Juliet versuchte, ihrer Stimme einen zuversichtlichen Klang zu geben, woraufhin sich ihr alle Anwesenden erwartungsvoll zuwandten. »Wir… müssen uns organisieren«, fuhr sie fort und spann dann den Gedanken weiter: »Jede komplizierte Struktur – wie unser Körper zum Beispiel – fängt mit einzelnen Zellen an. Die Zellen vermehren sich… breiten sich aus… verbinden sich mit anderen…« »Das mag für den Biologieunterricht gut sein, Juliet«, knurrte Brad, »aber…« Julie wirbelte herum. »Hör mir erst einmal zu, Brad…« Sie holte tief Luft und begann noch einmal: »Es tut mir leid. Ich weiß, daß wir noch am Anfang stehen. Wir hier sind nur eine Handvoll Leute. Aber ihr könnt sicher sein, daß wir nicht die einzigen sind, die sich in diesem Augenblick in verdunkelten
Räumen treffen! Wir können unmöglich die einzigen sein, die auf den Gedanken gekommen sind, daß wir sie bekämpfen müssen!« Von allen Seiten kam beifälliges Gemurmel auf, und Juliet fuhr fort: »Wir müssen also diese anderen finden und noch weitere für uns gewinnen. Dann brauchen wir eine Ausrüstung…« »Waffen«, meinte Brad. »Vorräte«, sagte die dunkelhaarige Frau. »Ein Hauptquartier«, fügte Ben hinzu. »Ja«, erklärte Juliet. »Vor allem dachte ich jedoch an eine Labor-Ausstattung – Medikamente, Mikroskope, den ganzen Zubehör für die Züchtung von Kulturen – kurz, eine wissenschaftliche Ausrüstung. Auf diese Weise gelingt es uns vielleicht herauszufinden, warum die Visitors unbedingt die Wissenschaftler eliminieren wollen. Wir stellen eine Gefahr für sie dar, und wir müssen herausfinden, aus welchem Grund.« »Genau!«, »Richtig!«, »Gut durchdacht, Julie!« ertönte es um sie herum. Die ehemalige Medizinstudentin legte eine Pause ein und wartete darauf, daß auch die anderen Anwesenden Vorschläge machten. Als niemand sich zu Wort meldete, fuhr sie fort: »Ferner sollten wir herausfinden, wer zu den engsten Vertrauten der Visitors gehört. Wir müssen unbedingt versuchen, sie für uns zu gewinnen. Auf diese Weise wären wir in der Lage, Genaueres über ihre Pläne und Aktivitäten zu erfahren.« Die Farbige nickte. »Diese Journalistin zum Beispiel – wie heißt sie doch gleich? Kristine…« »Walsh«, ergänzte Ben. »Sie genießt das Vertrauen der Visitors.«
»Vielleicht sogar in zu großem Maße«, meinte Brad düster. »Glaubt ihr, daß wir ihr vertrauen können? Vielleicht ist sie völlig einverstanden mit dem, was sie machen.« »Wie könnte sie?« fragte Ben grimmig. »Falls das stimmte, wäre sie die schlimmste Verräterin seit… seit…« »Judas?« fragte die dunkelhaarige Frau. »Ich schließe mich Bens Meinung an«, sagte Juliet. »Wir sollten sie eine Zeitlang beobachten, um herauszufinden, ob wir es riskieren können, sie anzusprechen. Wenn wir dann einhellig der Meinung sind, daß sie in Ordnung ist, können wir sie um Hilfe bitten.« Sie wartete, doch niemand meldete sich zu Wort, und Juliet begriff, daß eine Führungsrolle nicht gerade eine sehr dankbare Aufgäbe war. Sie stand auf. »Ich werde sie finden und beobachten. Ich finde heraus, ob wir ihr vertrauen können. Wollen wir uns… sagen wir, Donnerstag abend wieder hier treffen? Um genau acht Uhr?« »Mir ist es recht«, erklärte Brad, der als einziger der Gruppe nachts arbeiten mußte. Auch die übrigen waren einverstanden. »Und jeder«, schlug Juliet vor, »bringt mindestens… vier Leute mit. Was haltet Ihr davon? Einverstanden?« »Einverstanden«, antwortete die Runde. »Gut«, meinte Juliet. »Ich glaube, das wär’s für heute.« Tränen traten in ihre Augen, als sie, eingehüllt in die Dämpfe der Reinigungsmaschinen, in der Dunkelheit stand und zusah, wie ihre Gefährten einer nach dem anderen langsam auf die Straße hinaustraten. Sie alle legten eine Wachsamkeit und Vorsicht an den Tag, die wohl keiner von ihnen (Brad möglicherweise ausgenommen) jemals zuvor für nötig gehalten hatte. Es ist ungerecht, dachte sie. Wir sollten es nicht nötig haben, uns so zu verhalten. Es ist ganz und gar ungerecht…
Mike Donovan steckte ein paar Geldstücke in den Münzfernsprecher und wählte die Nummer, die er auf der Rückseite einer zerknüllten Dollarnote notiert hatte. Er zählte die Rufzeichen mit und atmete erleichtert auf, als nach dem zwölften Klingeln der Hörer abgenommen wurde. Wäre er früher oder später abgehoben worden, hätte er sich nicht gemeldet. »Hallo?« hörte er Tonys Stimme. »Bist du es, Onkel Pedro?« »Onkel Pedro?« Donovan hob die Augenbrauen und versuchte, sich zu erinnern, ob dies eins ihrer alten Codeworte war. Doch es fiel ihm nichts ein. »Ah, du bist es, Onkel Pedro! Buenos noches!« »Tony, nun hör schon…« Donovan hielt abrupt inne, ein Verdacht stieg in ihm auf. »Wir haben Probleme mit dem Telefon. Du comprendre? Onkel Pedro? Probleme mit dem Telefon.« »Ah…«, entgegnete Donovan gedehnt. »Pobrecito… man hat dich wohl angezapft, was?« Er konnte sich Tonys besorgten Gesichtsausdruck gut vorstellen. »So ist es Onkel. Sogar die ›Fernmeldetechniker‹ kamen, um die Sache zu prüfen. Es waren sehr viele, und überall hier hing der Geruch deiner Kocherei in der Luft. Du kannst sicher sein, sie würde ihre Hände gern auf dein Burrito legen…« »Ja, davon bin ich überzeugt.« »Ich mag die italienische Küche jedoch noch lieber als deine mexikanischen Kochkünste. Erinnerst du dich, Onkel?« Donovan grinste. »Ja, ich erinnere mich. Du schuldest mir noch immer ein Steak, erinnerst du dich? Ein Zwölf-UnzenSteak. Bezahl endlich deine Schulden, Amigo.« »In Ordnung, Onkel. Jetzt will ich dich aber nicht länger aufhalten – ich weiß, du mußt dich beeilen. Alles Gute…« Tony hatte aufgelegt.
Donovan wollte gerade den Hörer einhängen, als er ein Polizeiauto mit quietschenden Reifen um die Ecke auf sich zurasen sah. Er rannte los und stürmte über die Kreuzung. Doch in diesem Augenblick landete dort eine Patrouillenfähre und sie eröffnete das Feuer auf ihn. Er rannte im Zick-Zack weiter, und die Energiestrahlen schlugen in ein dicht neben ihm parkendes Auto ein. Gerade noch gelang es Donovan, sich zur Seite zu werfen, bevor der Wagen explodierte und tödliche Metallsplitter durch die Luft sausten. Donovan hetzte die nächste Straße entlang, die – zum Glück – zu schmal für die Visitor-Fähre war. Immer mehr Polizeisirenen schrillten. Am Ende der Straße sah Donovan einen Bretterzaun. Das wird langsam langweilig, dachte er, als er zum Sprung ansetzte. Seit meiner Grundausbildung mußte ich nicht mehr so viele Hindernisse überwinden. Auf der anderen Seite des Zaunes rannte er weiter und grinste in sich hinein. Zumindest war es ihm gelungen, Tony zu erreichen… Als erstes nach ihrem für zwölf Uhr vereinbarten Essen würde er neue Kleider kaufen und ein Bad nehmen müssen… Im Geist sah er riesige Steaks vor sich. Er kauerte sich hinter einen Wagen der Müllabfuhr und wartete auf den Einbruch der Dunkelheit. Erst dann war er außer Gefahr. Die Schatten auf dem Rasen des Bernsteinschen Hauses wurden länger, doch es war noch immer ziemlich hell. Das kleine Badehaus jedoch wirkte auch im warmen Licht der Spätnachmittagssonne nicht freundlicher. Konsterniert blickte Kathleen auf den an der Wand lehnenden verrosteten Grill. Überall standen alte Gartenmöbel herum. Abraham Bernstein nickte ihr ermutigend zu. »Lynn und Stanley benutzen das Häuschen überhaupt nicht mehr – es wird
nur noch als Lagerraum gebraucht. Hier sind Sie sicher. Kein Mensch kommt hierher.« Kathleen lächelte ihn dankbar an. »Danke, Abraham. Wie können wir Ihnen nur danken?« Lächelnd winkte der alte Mann ab. »Wenn alle schlafen, bringe ich Ihnen einige Sachen: Bettücher, Seife und Handtücher. Da drinnen ist auch ein Badezimmer, das nur benutzt wird, wenn sie ihre Pool-Partys geben. Aber seit das Ausgangsverbot verhängt wurde, gibt es keine Feiern mehr.« Plötzlich stand die Erinnerung an jenen Abend, als sie auf Eleanors Party die Visitors zum ersten Mal sah, wieder lebhaft vor Kathleens innerem Auge und sie seufzte und lächelte traurig. Robin stieß mit dem Kopf gegen eine Spinnwebe und sprang mit einem gedämpften Schrei zurück. »Vati!« Sie senkte die Stimme, doch Kathleen wußte, daß Abraham noch ausgezeichnet hörte. »Es ist schrecklich hier. Wir können hier nicht leben… es ist alles so schmutzig.« »Wir machen sauber«, meinte Kathleen, »und dann haben wir es hier bestimmt ganz nett.« »Es wird trotzdem primitiv sein…« »Jetzt ist es aber genug, Robin!« herrschte Robert sie an und wandte sich dann an Abraham. »Ich bitte um Vergebung, Abraham. Meine Tochter ist sonst nicht so grob. Es ist nur wegen…« »Es ist schon in Ordnung. Ich verstehe das«, entgegnete Abraham verständnisvoll. »Was ich von mir nicht behaupten kann«, sagte Stanley Bernstein, der zur Tür hereinsah. »Kann ich dich einen Augenblick sprechen, Vater? Hier draußen?« Sie gingen ein paar Schritte von dem Häuschen weg, aber Kathleen konnte ihre Unterhaltung trotzdem verstehen. Abrahams leise Worte standen in krassem Gegensatz zu Stanleys erhobener, vorwurfsvoller Stimme.
»Ich kann es nicht fassen, daß du sie hierher gebracht hast, Vater!« »Es gibt keinen anderen Ort, an dem sie Zuflucht suchen könnten. Ihr Haus steht unter Beobachtung. Sie wollen sehen, ob sie zurückkommen.« »Aber unseres auch! Und Daniel ist hier – wenn er nicht gerade mit seinen neuen Kumpanen zusammen ist. Sag den Maxwells, daß es uns leid tut…« »Stanley, mein Sohn, du hast nicht richtig verstanden. Sie müssen hierblieben, weil sie sich verstecken müssen und dies der einzige Ort ist…« »Aber Robert Maxwell ist Wissenschaftler und daher verdächtig. Und jetzt ist er sogar ein flüchtiger Wissenschaftler. Das macht ihn zu einer doppelt großen Gefahr.« Abrahams Stimme blieb ruhig und beharrlich. »Sie müssen bleiben.« »Und ich befehle dir, sie wegzuschicken, bevor…« »Nein, das werde ich nicht!« Stanley drehte sich um. »Dann werde ich es tun.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« fuhr Abraham ihn an. Kathleen hatte den immer freundlichen kleinen Abraham Bernstein noch nie in einem solchen Ton reden hören. Obwohl sie nicht gegen sie gerichtet war, ließ die Wut in seiner Stimme sie unwillkürlich einen Schritt zurückweichen. Stanley Bernstein starrte seinen Vater fassungslos an. Mit ausdrucksloser und gerade dadurch um so leidenschaftlicher klingender Stimme fuhr Abraham fort: »Wir mußten dich in einem Koffer verstecken. In einem Koffer! So haben die Leute aus dem Untergrund dich, ein acht Monate altes Baby, herausgeschmuggelt. Uns anderen jedoch konnten sie nicht helfen…«
Stanley fühlte sich ganz offensichtlich unbehaglich. »Ich kenne die Geschichte, Vater.« »Nein, das bezweifle ich.« Abraham senkte wieder die Stimme. »Du weißt nicht alles, Stanley. Deine Mutter – sie hatte keinen Herzanfall, als wir in dem Güterwaggon waren. Sie kam mit mir ins Lager. Ich sehe sie immer noch vor mir… wie sie nackt in der klirrenden Kälte auf dem gefrorenen Boden steht.« Er holte tief Luft. »Ihr wunderbares schwarzes Haar war weg. Sie hatten ihren Kopf geschoren. Ich sehe sie noch immer, wie sie mir zuwinkt… als sie mit den anderen… all diesen Menschen… zu den Duschen marschiert. Zu den Duschen ohne Wasser – du verstehst, was ich meine?« Der Blick des alten Mannes war nach innen, in die Vergangenheit, gerichtet. »Wenn uns damals jemand versteckt hätte, wäre sie… heute vielleicht noch am Leben.« Er hob den Kopf und sah Stanley in die Augen. »Verstehst du jetzt, daß sie bleiben müssen? Sonst hätten wir nichts, aber auch gar nichts gelernt…« Stanley wischte sich resigniert über die Stirn, und ein unartikulierter Laut entrang sich seiner Kehle. Er nickte schwerfällig. Er kniff die Augen zusammen, und seine Lippen bewegten sich; doch er brachte keinen Ton heraus. Abraham drehte sich um und nickte beruhigend in Richtung Hütte. Kathleen umklammerte Roberts Hand, als sie – bemüht, die Tränen zu unterdrücken – Abrahams Lächeln erwiderte.
»Aber wir brauchen wirklich deine Hilfe, Elias!« sagte Benjamin Taylor und versuchte, sich den langen Schritten seines Bruders anzupassen. Entfernt an ihren spanischen Ursprung erinnernde Musik plärrte aus den entlang der Ladenstraße installierten
Lautsprechern. Die Visitors hatten zum Internationalen Tag im Einkaufszentrum eingeladen und vieles geboten – Essen, Tanz und Ausstellungen. Und voller Ingrimm hatte Ben registriert, daß zwei Drittel der Besucher Visitors waren. Elias Stimme triefte vor Hohn, als er überrascht ausrief: »Was? Der große Doktor braucht meine Hilfe? Wie ist das möglich, Ben, mein Freund?« Ben, der merkte, daß Elias ihn aufziehen wollte, schluckte. »Weil du hier in der Straße eine Menge Kontakte hast.« Elias grinste hämisch. »Da hast du verdammt recht! Aber, Bruder Benjamin, bist du es nicht gewesen, der sich immer über meine ›Straßenkontakte‹ und darüber, wie ich zu ihnen gekommen bin, aufgeregt hat?« »Das stimmt, doch die Zeiten haben sich geändert, Elias.« Trotz der in ihm aufsteigenden Wut bemühte sich Ben, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Elias Unterstützung konnte ihnen eine große Hilfe sein. »Nun, die Straße hat sich jedenfalls nicht verändert. Tatsächlich laufen die Geschäfte im Augenblick besser als je zuvor. Man kann hier eine Menge Geld machen.« Ben nickte erbittert. »Der Schwarzmarkt, nicht wahr?« »Du solltest diesen Ausdruck nicht gebrauchen, Ben«, antwortete Elias. »Aber weißt du, für wieviel Geld frisches Obst gehandelt wird? Und Rindfleisch?« Er lachte auf. »Ich verdiene im Augenblick mehr an dem Verkauf von Hamburgern als an dem von Marihuana-Zigaretten.« »Das kannst du ja alles weitermachen, Elias, aber wir sind eine Gruppe von Leuten, die versucht, diese Sache zu bekämpfen…« »Das interessiert mich nicht, Mann!« unterbrach ihn Elias. »Was habt ihr dagegen? Es tut mir nichts – außer, daß es meine Taschen füllt.«
Ben berührte Elias Arm und er drehte ihn zu sich herum, so daß sich ihre Blicke trafen. »Elias… was da mit unserem Land… mit der ganzen Welt passiert… Es ist bitterernst.« »Wer sagt das?« »Wir brauchen deine Hilfe.« Elias starrte seinen Bruder an. »Und wo warst du, als ich deine Hilfe brauchte?« »Ich war immer für dich da, Elias.« »Nur immer ein wenig unerreichbar… du Goldjunge.« »Das bildest du dir ein, Mann.« »Hör auf!« Elias dunkle Augen funkelten. »Wie oft habe ich das schon gehört? ›Warum kannst du nicht wie dein Bruder, der Arzt, sein?‹« Er machte wütend einen Schritt nach vorn, und Ben wich unwillkürlich zurück. »Hah! Und jetzt brauchst du meine Hilfe!« Ben nickte und sagte leise: »Das stimmt.« Elias tänzelte einen Schritt von seinem Bruder weg; sein Gesicht war wieder zu der gewohnten, fröhlichen Maske geworden. »Ich würde dir ja gerne helfen, Mann, aber ich muß jetzt in die Medizinische Bücherei, um Anatomie zu studieren…« Er drehte sich um. »Bis später, Ben!« Ben blickte seinem Bruder nach, als der betont forsch davonging, und er fühlte sich elend, schuldbewußt und traurig. Nie zuvor war ihm bewußt geworden, wie tief Eifersucht und Wut in seinem Bruder verwurzelt waren.
Mike Donovan blieb zögernd in der Dunkelheit stehen und blickte zum Balkon des Apartments Kristines empor. Als er hinter den Milchglasscheiben die undeutlichen Umrisse einer menschlichen Gestalt sah, stand sein Entschluß fest. Sein heutiges Treffen mit Tony war nicht sehr erfolgreich gewesen – pünktlich um zwölf Uhr war Leonetti die Straße
heruntergekommen, an der das italienische Restaurant lag, doch als Mike um die Ecke bog und auf ihn zugehen wollte, hatte Tony einen schnellen, warnenden Blick zur Seite geworfen und leise »Nein« geflüstert. Und da sah Mike auch schon die Visitors, die Tony in einiger Entfernung folgten – gerade noch, bevor sie ihn sehen konnten. Es gelang ihm, ungesehen zu entkommen (zum Glück schien es ihnen immer noch schwerzufallen, sich in den Städten der Menschen zurechtzufinden), doch er war inzwischen so ausgehungert, daß er wußte, daß ein weiterer Tag ohne Nahrung ihn zur leichten Beute machen würde. Die Sprossen der Feuerleiter erzitterten unter seinem Gewicht, als er vorsichtig hochkletterte; hart und kalt fühlte er das Metall unter seinen Händen. Entferntes Donnergrollen erfüllte die Luft, und im nachfolgenden Aufflackern eines Blitzes sah er, daß er den vierten Stock fast erreicht hatte. Dort angekommen, schwang er sich über das Geländer und blieb ein paar Sekunden lang reglos auf dem Balkon hocken. Wieder sah er drinnen die Umrisse einer Gestalt am Fenster vorbeigehen. Er streckte die Hand aus und berührte vorsichtig die Balkontür. Natürlich verschlossen. Er kauerte sich zusammen, spannte die Muskeln an und warf sich mit voller Wucht gegen das Schloß. Die Glastür sprang auf. Ohne zu zögern stürzte Mike hinein. Er hörte einen entsetzten Aufschrei – Gott sei Dank, die Stimme einer Frau, eines Menschen! Geblendet durch die plötzliche Helligkeit stolperte er über ein paar vor der Tür stehende Topfpflanzen und fiel der Länge nach hin. Als er aufblickte, hörte er Kristines Stimme: »Mein Gott, Mike, du hast mich zu Tode erschreckt!« Als sie sich niederbeugte, um ihm aufzuhelfen, bemerkte er, daß ihre Haut naß war und sie nichts weiter als ein lose um die Brust geschlungenes blaßgrünes Handtuch trug. Trotz der inneren
Anspannung, die ihn erfüllte, konnte er nicht vermeiden, daß ihn dieser Anblick erregte. »Was machst du hier?« fragte sie. »Ich würde gern sagen, daß ich nur noch einmal mit dir duschen möchte, aber es geht um etwas anderes. Ich brauche Hilfe. Hast du etwas Geld da? Bitte, Kris! Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.« »Weiß Gott, das sieht man dir an.« Sie drehte sich um, griff nach ihrem Portemonnaie und fummelte darin herum. Das Handtuch rutschte tiefer herunter. Sie kam zurück und drückte ihm ein paar Geldscheine in die Hand, die er hastig in die Tasche seiner schmutzigen Jacke stopfte. Sie rümpfte die Nase. »Ich sehe fürchterlich aus, nicht wahr?« meinte Donovan grinsend. »Ja«, erwiderte sie und lächelte ebenfalls, »doch ich bin so froh, dich zu sehen, daß es mich nicht stört.« Sie beugte sich vor, und ihre Lippen fanden sich in einem langen, innigen Kuß. Donovan zog sie an sich, und sie legte ihre Arme um seine Schultern. Im Unterbewußtsein registrierte Mike, daß nur ihre aneinandergepreßten Körper noch das Handtuch hielten. Sanft glitten seine Hände über ihre Haut. Doch selbst in diesem Augenblick wachsender Erregung vergaß er nicht, daß er auf der Flucht war – seine Blicke wanderten prüfend durch den Raum, über die Möbel, den Fernseher, und er lauschte in die Stille des Raumes… Sie spürte, daß er abgelenkt war, und sie trat einen Schritt zurück und griff schnell nach dem Handtuch. »Ich habe mir so viele Sorgen um dich gemacht!« »Ich auch!« erwiderte Mike mit grimmigem Lächeln. »Warum sind sie so wild darauf, dich zu schnappen?« Er sah ihr direkt in die Augen, die kurioserweise von genau dem gleichen Grün waren wie seine eigenen. »Weil ich ihre Gesichter gesehen habe.«
»Wie bitte? Was für Gesichter? Wie meinst du das?« »Es sind keine menschlichen Gesichter, Kris. Ich habe sie gefilmt, als sie lebende Tiere herunterschluckten – im Ganzen. Als ich dann versuchte, aus dem Mutterschiff zu fliehen, hat mich einer von ihnen entdeckt – ihre richtigen Augen dürften empfindlicher sein als die unsrigen. Nun, jedenfalls hat mich dieser Bursche gesehen. Er zog mich mit einer Hand durch ein Abzugsgitter und gab sich alle Mühe, mich zu töten. Während des Kampfes zerrte ich an seinem Gesicht – und riß die Maske herunter. Wir haben es mit Reptilien zu tun, Kris.« Bei der Erinnerung an das Erlebte durchlief ein Schauer seinen Körper. »Ich habe das alles auf dem Film. Ihre grünschwarze Haut und die rotorangefarbenen Augen. So lange Zungen…« – er versuchte, ihr mit den Händen die Länge zu verdeutlichen – »… die irgendein Gift versprühen.« Sie schüttelte den Kopf. »Mike, Liebling…« »Du glaubst mir nicht, oder?« »Nun ja, es ist so unvorstellbar… Reptilien? Mit Zungen, die – ich möchte dir ja glauben, aber…« »Es ist wahr! Ich habe es gesehen, Kris!« »Ich glaube dir, daß du glaubst, es gesehen zu haben…« »Willst du damit sagen, ich hätte mir alles nur eingebildet, Kris?« Sie starrten einander schweigend an, und das Keuchen ihres Atems war deutlich in der Stille des Raumes zu hören. »Mike, ich arbeite täglich so eng mit diesen Leuten zusammen… Es ist schwer…« Sie zögerte. »Objektiv zu sein?« ergänzte er voll Sarkasmus. Lange Zeit starrten sie sich stumm an; dann drehte er sich wieder zum Fenster um. »Ich fürchte, es war Zeitverschwendung. Danke für das Darlehen. Ich werde es dir eines Tages zurückzahlen – mit Zinsen.«
Sie eilte ihm nach, ergriff seinen Arm. »Nein, geh noch nicht, Mike.« »Warum?« Er drehte sich wieder zu ihr um. »Wenn ich deinen Film sehen könnte…« »Ich habe ihn versteckt.« Sie trat dicht an ihn heran, und ihre Hand glitt über seinen Arm zur Schulter empor. »Hör zu, Mike. Vielleicht hast du ja recht. Und ich bin ihnen möglicherweise nähergekommen, als ich sollte.« Sie verzog gequält das Gesicht. »Es ist schon verrückt – der einzige Mensch, dem ich immer nah sein wollte, bist du…« Ihr offenes Eingeständnis machte ihn ein wenig hilflos. »Dann hast du eine äußerst seltsame Art, das zu zeigen, Kris«, erwiderte er. »Gib mir noch eine Chance«, bat sie und lachte dann selbstironisch auf. Wieder küßte sie ihn, und wieder hätte Mike sich so gern in der Wärme dieses Kusses verloren. Doch erneut gelang es ihm nicht, seine ihm inzwischen zur zweiten Natur gewordene Wachsamkeit auszuschalten. Er öffnete die Augen und blickte auf den dunklen Bildschirm von Kristines Fernsehgerät. Und in dem Bildschirm spiegelt sich ein auf dem Balkon hockender, uniformierter Visitor wider, der mit seinem todbringenden Gewehr auf ihn zielte. Donovan sprang zur Seite und stieß Kristine dabei so grob von sich, daß das Handtuch vollends herunterfiel. Doch Donovan hatte keine Zeit, sich ihrem bezaubernden Anblick zu widmen. Er ergriff einen Barhocker und hieb ihn mit voller Wucht in die Glastür, die krachend zersplitterte; ihre Scherben fielen über den Visitor. Im gleichen Augenblick pochte es an der Wohnungstür, und laut hallende Stimmen forderten, daß die Tür geöffnet werde. Donovan bedachte Kristine mit einem angewiderten Blick und
fragte sich, ob sie ihm diese Falle gestellt hatte. »Danke«, sagte er mit kalter Stimme. Dann rannte er auf den Balkon hinaus zu dem Visitor, der gerade aufzustehen begann. »Mike!« rief Kristine. Doch Donovan ignorierte sie. Er riß dem noch immer benommenen Visitor die Waffe aus der Hand und eilte auf die Feuerleiter zu – als er sich plötzlich von hinten festgehalten fühlte. Er wirbelte herum, riß die Waffe des Visitors hoch und schmetterte den Kolben auf den Kopf der Außerirdischen. Dieser taumelte zurück, schlug gegen das Balkongeländer, verlor die Balance und fiel darüber hinweg. Übelkeit stieg in Donovan hoch, doch er durfte keine Zeit verlieren. Während er die Leiter herunterhastete, konnte er den aus Kristines Wohnung dringenden, tumultartigen Lärm hören. Knapp einen halben Meter neben ihm schlug ein Geschoß ein und riß die Erde auf. Als Donovan nach oben blickte, bemerkte er eine auf dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudes stehende Gestalt, deren Konturen sich für den Bruchteil einer Sekunde vor einem aufflackernden Blitz abzeichneten. Er versuchte, mit der Waffe, die er dem Visitor abgenommen hatte, auf die Gestalt zu zielen, drückte auf einen Knopf und sah das blaue Mündungsfeuer aufflammen. Ozongeruch erfüllte die Luft. Ein glatter Fehlschuß – doch das Geschoß zerfetzte die stählerne Röhre des Luftzuführungskanals auf dem Dach, und die Trümmer schmetterten auf den Visitor herab. Mike hörte die Kreatur aufheulen, als sie taumelte und das Gleichgewicht verlor – dann den dumpfen Aufprall, als der Körper auf den Boden prallte. Als Donovan, die Waffe des Visitors noch immer umklammernd, auf das Tor des Wohnkomplexes zurannte, wurden von Kristines Balkon aus mehrere Schüsse auf ihn
abgegeben. Er erreichte das Tor und raste, um den Schüssen auszuweichen, im Zickzack hindurch. Obwohl er bereits außer Schußweite war, zwang Donovan sich weiterzulaufen, und bald schon war nicht einmal das schwache Echo seiner Schritte zu hören. Eine dunkel gekleidete Gestalt mit leuchtenden, blonden Haaren trat zwischen den Büschen neben Kristines Haus hervor, schlüpfte durch das Tor und schloß es hinter sich. Während Juliet Parrish durch die Dunkelheit der Nacht eilte, hörte sie das Hämmern eines Visitor-Gewehrs hinter sich. Als sie sich umblickte, sah sie das Schloß des Tores aufflammen. Einer der Visitors ließ offenbar seine Wut darüber, daß er seine Beute verfehlt hatte, an dem schmiedeeisernen Zaun aus. Juliet schüttelte den Kopf. Sie hatte den Mann erkannt, der von Kristine Walshs Balkon geflohen war – sein Bild war in der letzten Zeit oft genug auf Anschlägen zu sehen gewesen. Es war Mike Donovan. Warum war er über die Feuerleiter zu Kristine Walshs Balkon hinaufgeklettert? Juliet lächelte bitter in sich hinein. Sie war ziemlich sicher, daß sein ungewöhnlicher Besuch nicht Teil eines romantischen Zwischenspiels gewesen war und er nicht den Romeo gespielt hatte. Nein, Donovan mußte Kristine Walsh aufgesucht haben, um sie um Hilfe zu bitten. Der Mann war seit mehreren Wochen auf der Flucht – er mußte Geld brauchen, einen Platz, wo er sich verstecken konnte. Sie hätte gern gewußt, was da oben wirklich geschehen war. Die beiden Gestalten auf dem Balkon waren zu einer verschmolzen – und dann waren die Visitor-Truppen eingetroffen. Juliet hielt es für unmöglich, daß Kristine Walsh vollkommen unschuldig war, daß die Visitors ihr Haus ohne ihr Wissen umstellt hatten, weil sie glaubten, Donovan würde eines Tages zu ihr gehen. Doch ebensogut war es möglich, daß
sie Mike Donovan verraten und damit beinahe seinen Tod herbeigeführt hatte. Juliet zuckte die Achseln. Was immer da oben auch geschehen war, sie würde es nie erfahren – es mochte immer eine Spekulation bleiben. Das Wesentliche für sie war, daß sie jetzt nicht mehr riskieren konnte, mit Kristine Walsh Kontakt aufzunehmen… Ein plötzlicher, heftiger Windstoß blies ihr das Haar aus der Stirn, und während sie weiter durch die Nacht stürmte, brach das Unwetter los. Innerhalb von Sekunden war sie völlig durchnäßt.
Daniel Bernstein fummelte mit seinem Hausschlüssel herum und verfehlte mehrmals das Loch, ehe es ihm gelang, den Schlüssel hineinzuschieben und die Tür zu öffnen. Dann torkelte er in die nur von der Notbeleuchtung im Hof matt erhellte Halle. Vor der Glastür, die in den Hof und nach dem Swimming-pool führte, sah er eine Gestalt stehen. Er spähte angestrengt in die Dunkelheit und erkannte schließlich Robin. Robin Maxwell! Überrascht hob Daniel die Augenbrauen und bemühte sich, klar zu denken – ohne allzu großen Erfolg allerdings. Er hatte geglaubt, daß die Maxwells geflohen waren. Was also machte Robin hier? Die in rascher Folge aufzuckenden Blitze tauchten ihr Gesicht in einen silbernen Glanz und ließen ihr Haar wie eine dunkle Wolke wirken. Sie erschien Daniel fast unwirklich schön. Er lächelte sie an und sagte: »Hallo!« Erschrocken drehte sie sich um und begann, nervös zu kichern, als sie ihn erkannte. »Oh, hallo, Danny! Du hast mich erschreckt.« »Was machst du hier?« Er ging auf sie zu und genoß den Anblick ihrer runden Brüste, die sich deutlich unter dem
Pullover abzeichneten. Sie trug diese engen Jeans, die er immer so gemocht und über deren Kauf ihre Mutter sich maßlos aufgeregt hatte. Robin seufzte. »Ich weiß, ich sollte nicht hier sein, aber ich konnte es keine Minute länger in eurem Badehaus aushalten.« Sie hielt inne und lächelte ihn an. »Also bin ich spazierengegangen.« Daniel begriff nur sehr langsam. »In unserem Badehaus? Was machst du da?« »Ich lebe dort – falls man das leben nennen kann.« Sie schnitt eine Grimasse. »Es ist schon zu klein für eine Person, geschweige denn für uns fünf. Es ist wirklich grauenvoll…« Sie stieß hörbar die Luft aus. »Oh, Danny! Du hast ja getrunken.« Er zuckte die Achseln. »Na und?« Plötzliches Interesse schwang in ihrer Stimme mit. »Mit Brian?« »Er war nicht da, und er trinkt auch nicht«, antwortete Daniel. »Ich glaube, er verträgt keinen Alkohol.« Er kicherte. »Hat er nach mir gefragt?« »Nein.« Daniel runzelte die Stirn. »Warum sollte er?« Sie zuckte die Achseln. »Nun, es hätte ja sein können. Das ist alles.« Daniel wechselte das Thema. »Nun, heute abend sprach er jedenfalls nicht über dich. Ich freue mich wirklich, dich zu sehen. In diesem Pullover siehst du wirklich sehr hübsch aus… und in diesen Jeans. Ich habe sie schon immer gemocht.« Er berührte zögernd ihren Arm, doch sie schien es nicht zu bemerken. »An einem anderen Abend?« fragte sie. Daniel sah sie verständnislos an. »Was?« »Hat er an einem anderen Abend nach mir gefragt?« »Wer?«
»Brian natürlich! Du hast zuviel getrunken!« Er streichelte ihren Arm, doch sie schien es noch immer nicht zu bemerken, starrte nur gebannt in sein Gesicht und wartete auf eine Antwort. »Nun… ja… ich glaube, einige Male nannte er deinen Namen. Er wollte wissen, wo du hingegangen bist. Ich übrigens auch.« Er sah sie bedeutungsvoll an. »Ich ganz besonders. Das heißt, bis ich herausfand, daß du in unserem Badehaus warst.« Sie wandte sich ab und blickte wieder durch das Fenster auf den Swimming-pool hinaus, den die Regentropfen in ein Meer silberner Wellen verwandelt hatten. Daniel fuhr fort, ihren Arm zu streicheln. »Erinnerst du dich an den Tag, als die Schiffe der Visitors zum ersten Mal kamen? Und wir noch nicht wußten, daß sie unsere Freunde waren?« »Hmmmm?« »An jenem Tag sagtest du, daß du nicht sterben wolltest, ohne geliebt zu haben. Empfindest du noch immer so, Robin?« Seine Hand war jetzt so nah an ihrer Brust, daß ihm schon allein bei ihrem Anblick schwindlig wurde. »Sicher«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Er beugte sich vor, bereit, sie zu küssen, als sie weitersprach: »Glaubst du, daß er noch unberührt ist?« »Wer?« »Brian.« Er blickte auf ihr abgewandtes Gesicht. Seine Hand fiel von ihrem Arm herunter. Doch sie bemerkte es nicht einmal…
12. Kapitel
Dr. Benjamin Taylor lenkte einen mit schmutziger Bettwäsche und Handtüchern beladenen Wäschekarren über den Ladeplatz der Stamos-Pharmazeutik-Gesellschaft. Dann schob er den Karren mit schnellen, nervösen Bewegungen in den hinteren Teil eines wartenden Lieferwagens. Juliet, die neben mehreren ähnlichen Karren hinten im Wagen gewartet hatte, eilte zur Tür, um ihn in Empfang zu nehmen. »Mein Gott – mit all diesem Zeug müßten wir ein Labor einrichten können, das nahezu alle Ansprüche erfüllt. Vor allem sollten wir damit in der Lage sein, genug über diese Burschen herauszufinden, um einige ihrer Schwachstellen zu entdecken.« Sie hob einen Wäschestapel in die Höhe und spähte darunter. »Gut! Du hast sogar dieses hochklassige Mikroskop ergattern können!« Ben blickte sich nervös um. »Ja, aber wir sollten uns lieber aus dem Staub machen. Ich bin nicht sicher, ob sie mir meine Geschichte abgekauft haben. Einer von den Burschen hat mich ziemlich mißtrauisch angesehen.« Sie nickte und ging zum Führerhaus des Lieferwagens, wo Brad, der Polizist, auf dem Beifahrersitz wartete. Auch er trug, ebenso wie Juliet und Ben, eine Lieferantenuniform. Juliet kletterte auf den Fahrersitz und startete den Wagen. Sie wartete nur noch darauf, daß sie Ben die Hintertür zuschlagen hörte. Im gleichen Augenblick jedoch, in dem die Tür zuschnappte, hörte sie das Geräusch schnell näher kommender Schritte. Als Brad und Juliet aus dem Wagen herausschauten, sahen sie einen Stoßtrupp der Visitors auf den Ladeplatz stürmen. Ben schlug an die hintere Tür des Wagens. »Fahrt! Fahrt! Los, schnell!«
Als sie sich umdrehte, um zu protestieren, sah sie Ben fliehen, auf den die Visitors das Feuer eröffneten, »Fahr los, Julie!« rief Brad. »Wir müssen die Geräte retten!« Juliet schrie laut auf vor innerer Qual, legte jedoch den Gang ein – mit solcher Wut, daß der große Wagen einen Satz nach vorn machte. Dann fuhr sie schnell die lange Lieferantenauffahrt herunter, vorbei an dem neben dem Lager liegenden Parkplatz. Ein paar Visitor-Soldaten gaben Schüsse auf sie ab, die jedoch alle ihr Ziel weit verfehlten. Ein paar Minuten lang raste sie mit Höchstgeschwindigkeit dahin, und Juliet hatte dabei einige sehr schwierige und enge Kurven zu meistern. Schließlich verkündete Brad, er glaube, daß sie nun alle Verfolger abgeschüttelt hätten. Mit versteinertem Gesicht nickte Juliet und lenkte den Wagen dann in Richtung ihres Hauptquartiers zurück. Als Brad ihr einen Blick zuwarf, sah er, daß Tränen über ihr Gesicht liefen. Sie weinte stumm in sich hinein. Schließlich brachte sie den Wagen neben ihrem kleinen weißen VWCabrio zum Stehen und zog mit einem Ruck die Handbremse an. Als sie die Tür aufriß, sah Brad sie überrascht an. »Was hast du vor, Juliet? Du brauchst doch jetzt deinen Wagen nicht!« Sie blickte zu ihm hoch und sah dann auf ihre Uhr. »Es sind jetzt zehn Minuten vergangen – wenn er ein wenig Glück gehabt hat, haben sie Ben noch nicht geschnappt. Ich fahre zurück zu ihm. Ich muß!« »Julie!« Aber sie war schon weg. Fluchend rutschte Brad auf den Fahrersitz, als der kleine Wagen vor dem Kombi wendete und in die Richtung davonsauste, aus der sie gekommen waren. In hilflosem Schmerz umklammerte Brad das Lenkrad, als er Juliets Wagen nachsah. Dann fuhr er widerstrebend in entgegengesetzter Richtung davon.
Juliet fuhr nach der Auffahrt zurück, die zur Laderampe führte. Ihre blauen Augen suchten verzweifelt nach der Gestalt im marineblauen Overall. Als sie die Auffahrt hochfuhr, bemerkte sie eine Bewegung auf dem obersten Deck des Parkhauses, das drei Stockwerke hoch über der Auffahrt lag. Sie blinzelte in die Sonne – es war Ben! Juliet betätigte die Hupe, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Ben lief gerade auf eine Hilfsleiter zu, die an einem der schweren Betonpfeiler angebracht war, die die Außenwand der Garage abstützten. Doch gerade als er die Leiter erreichte, traf ihn ein blauer Energieblitz an der Seite. Er wirbelte durch die Luft und stürzte über den Rand des dreistöckigen Gebäudes. »Ben!!!« Juliet riß den Wagen scharf herum und brachte ihn neben dem zusammengekrümmten Körper ihres Freundes zum Stehen. Er war in einen Abfallhaufen neben der Auffahrt gefallen. Überall war Blut. Zischend entlud sich eine weitere Waffe, als Juliet aus dem Wagen sprang, um ihn herumlief und die Tür zum Beifahrersitz aufriß. Dann hörte sie in der Ferne jemanden schreien: »Fangt sie! Diana möchte ein paar von ihnen lebend haben, um sie befragen zu können!« Das Geräusch näher kommender schwerer Stiefel hallte von den Garagenwänden wider. »Ben! Ben!« Juliet kniete neben dem jungen Arzt nieder. Sie wußte, daß er eigentlich nicht bewegt werden durfte – doch sie hatte keine andere Wahl. Sie versuchte, nicht auf das Blut und das aus dem blauen Overall herausragende weiße Knochenstück zu sehen. Sie legte die Hände um die Brust ihres Gefährten und zog ihn rückwärts in Richtung des Fahrzeugs. Durch die Bewegung kehrte Bens Bewußtsein zurück, und er versuchte zu sprechen: »Julie?«
»Bleib ganz ruhig, Ben«, keuchte Juliet. Sein Gewicht belastete sie sehr – und sie wagte gar nicht, daran zu denken, wie sie es fertigbringen sollte, ihn in den VW zu hieven. »Nein, Julie. Es ist… zwecklos… Bring dich in Sicherheit…« Das Dröhnen der Stiefel kam immer näher, und Juliet konnte seine Stimme kaum noch hören. »Oh, mein Gott, hilf mir doch!« schluchzte sie, als sie ihn mühsam hochzerrte und ans Trittbrett lehnte. Gerade, als sie sich niederbeugte, um ihn mit letzter Kraft in den Wagen zu heben, fühlte Juliet einen Schlag an ihrer rechten Hüfte, und plötzlich fand sie sich, neben Bens Beinen auf der Straße liegend, wieder. Der Geruch verbrannten Fleisches stieg ihr in die Nase. Dann setzte der Schmerz ein. Er betäubte sie, nahm ihr den Atem – ihre ganze rechte Seite schien in Feuer getaucht zu sein. Nach scheinbar endlos langer Zeit gelang es ihr schließlich, ihre Hände unter Bens Körper zu bekommen und sich hochzustemmen. Der Schmerz durchflutete sie in einer Woge schwarzer Flammen; sie zwang sich, tief durchzuatmen, schloß die Augen. Bitte, lieber Gott… bitte. Hilf mir… Mit einer Anstrengung, die ihr den Schweiß auf die Stirn trieb, rappelte Juliet sich hoch und zerrte Ben mit einer Kraft, die sie sich selbst nie zugetraut hätte, auf den Sitz. Dann wankte sie um den Wagen herum und an die Fahrertür heran, wo sie vor Erschöpfung stehenbleiben und sich am Metallrahmen festhalten mußte. »Heh! Sie entkommen uns!« hörte sie jemanden überrascht ausrufen. Dann wurde ihr wieder ein Energieblitz nachgejagt. Als Juliet den Wagen startete und anfuhr, überflutete sie eine neuerliche Schmerzwelle. Aber sie hielt durch. Aufbrüllend raste der kleine weiße Wagen über die Auffahrt. Ein Visitor sprang über die Absperrmauer und stellte sich ihr in den Weg.
Plötzlich stieg intensiver Haß in Juliet empor. Sie trat das Gaspedal voll durch und raste direkt auf den Fremden zu. Der Mann ließ das Gewehr fallen und warf sich zur Seite, doch die Stoßstange des Wagens prallte an sein Bein. Dann war Juliet vorbei. Nach den ersten beiden Häuserblocks verringerte sie das Tempo, und sie fragte sich, wohin sie Ben bringen sollte. Ins Krankenhaus? Das kam nicht in Frage – mit Sicherheit waren dort alle Etagen, alle Ein- und Ausgänge von Visitors besetzt. Außerdem wußte sie gar nicht, ob es dort überhaupt noch Ärzte gab. Als sie Ben aufstöhnen hörte, drehte sie sich zu ihm um. Seine Augen waren geöffnet. Sie lenkte den Wagen in eine Parklücke und suchte im Handschuhfach nach dem kleinen Erste-Hilfe-Kästchen. Dann wischte sie ihm zärtlich das Blut aus dem Gesicht und spürte dabei den weichen Flaum seines kurzen Bartes. Die Berührung ihrer Hand schien seine Lebensgeister wieder geweckt zu haben. »Julie…« »Ben, ich habe keine Ahnung, wohin ich dich bringen soll. Weißt du, wo ich Hilfe für dich bekommen kann?« »Nicht… nötig, Liebling«, sagte er und schloß die Augen, so als koste es ihn zuviel Anstrengung, gleichzeitig die Augen offenzuhalten und zu sprechen. »Mich hat es erwischt – ich bin ganz sicher.« »Nein«, erwiderte Juliet. Sie weigerte sich, ihm zu glauben. Prüfend tastete sie seinen Arm ab – ein komplizierter Bruch des Speichenknochens, aber ernstere Verletzungen hatte er zum Glück nicht davongetragen. »Dein Arm ist gebrochen, Ben. Hast du starke Schmerzen?« »Gar keine«, antwortete er klar und deutlich und sah Juliet an. Fassungsloses Entsetzen stand in ihren Augen. »Julie… Liebes… auch mein Rückgrat ist gebrochen… Vom Nacken an… fühle ich… überhaupt nichts.«
Juliet biß sich auf die Lippe, und Tränen quollen ihr in die Augen. Sie hatte es bereits befürchtet, sich jedoch gegen diese Erkenntnis gewehrt. »Oh, Gott, oh, Gott… Bitte, Ben…« »Nein, nicht.« Er schloß die Augen. »Habe… nicht mehr viel Zeit… Möchte meinen Vater sehen… Elias…« »In Ordnung, Ben.« Juliet wischte sich verstohlen die Tränen aus den Augen, und ein wilder Schmerz durchfuhr ihre Hüfte, als sie den Wagen wieder startete. »Ich bringe dich zu ihnen, das verspreche ich dir.« Er nickte und hustete – doch nur sein Kopf bewegte sich. Blut tropfte ihm übers Gesicht. Während des Fahrens wischte Juliet es ab und benutzte das blutige Tuch dann, um ihre Tränen zu trocknen. Während sie vor einer roten Ampel wartete, stellte sie Bens Sitz zurück, so daß sein Körper flach liegen konnte – sein schwerer, rasselnder Atem ließ sie einen Lungenriß befürchten. Eine Passantin blickte zu ihnen herüber, und Juliet sah, wie ihre Augen sich weiteten. Dann blickte sie wieder geradeaus und ging schnell weiter. Der Schatten eines über sie hinwegfliegenden Patrouillenfahrzeugs hüllte sie ein und verschwand dann wieder. Nach fünf Minuten, die Juliet wie Jahre vorkamen, fuhr sie den Wagen an die Garage hinter Calebs Haus. Laute Rockmusik war zu hören – wenigstens Elias war also zu Hause. Er saß vor dem Haus und prüfte sorgfältig eine Reihe von Eiern, die er dann in Kartons legte. Die Musik kam aus dem neben ihm auf der Erde stehenden Kofferradio. Als Juliet ihren VW neben ihm zum Stehen brachte, blickte er grinsend auf. »Hallo, Julie! Sehen Sie sich das an! Sechs Dollar für das Dutzend – sind sie nicht schön…« Seine Stimme erstarb, als er seinen wie leblos auf dem Beifahrersitz liegenden Bruder sah. »Ist Caleb zu Hause?« Juliet blickte sich gehetzt um. »Ben ist verletzt.«
Elias schüttelte den Kopf und trat an den Wagen heran. Jetzt, da das Motorengeräusch ihn nicht mehr übertönte, war Bens Atem laut und rasselnd zu hören. »Was ist passiert, Madam?« »Wir… wir haben versucht, ein paar Sachen für eine Laboreinrichtung zu stehlen.« Juliet biß sich auf die Lippen, als sie sich umdrehte, um Bens Puls zu prüfen. Die Schmerzen in ihrer rechten Seite wurden immer heftiger, und sie merkte, wie kalter Schweiß auf ihre Stirn trat – die typischen Symptome für einen Schock. Bens Puls war schwach und unregelmäßig. »Sie haben auf ihn geschossen.« Elias schüttelte den Kopf und wollte es nicht wahrhaben, was seine Augen sahen. Keine ungewöhnliche Reaktion für einen Angehörigen eines Unfallopfers, erinnerte sich Juliet. »Was?« Er lachte nervös auf. »Der Doktor? Hat gestohlen?« Er schüttelte mißbilligend den Kopf. Doch Juliet erkannte das hinter seiner zur Schau getragenen Ironie liegende Entsetzen – in ein oder zwei Minuten mußte ihm die Wahrheit voll bewußt werden, und vielleicht erlitt er dann einen Nervenzusammenbruch. »Was soll das, Bruder?« sagte Elias mit krächzender Stimme. »Warum bist du nicht zu mir gekommen? Ich hätte dir gezeigt, wie man es richtig macht.« Als eine neue Schmerzenswelle ihren Körper durchpulste, konnte Juliet nicht verhindern, daß ein Schmerzenslaut sich ihrer Kehle entrang. Elias sah sie forschend an. »Haben sie Sie auch erwischt?« Ben hustete wieder, sehr schwach dieses Mal, und Juliet tupfte ihm den rötlichen Schaum vom Mund. Elias wich zurück, und Angst flackerte in seinen Augen auf – gleich würden Schmerz und Entsetzen die Oberhand gewinnen. »Julie, ich glaube, ich sollte die Ambulanz rufen…« Ben schlug die Augen auf. »Keine… Ambulanz… Wir haben unsere Diagnose bereits gestellt… nicht wahr, Doktor?« Juliet umschloß seine kraftlose Hand.
»Aber, Mann…« Wild gestikulierend ging Elias neben dem Wagen auf und ab. »Ich verstehe das einfach nicht, Mann! Warum hast du versucht, ohne deinen kleinen Bruder ein Ding zu drehen?« Das unaufhörliche Dröhnen der Rockmusik verlieh der ganzen Szene etwas Makaberes und Gespenstisches. Ben lächelte schwach. »Aber wir haben… es geschafft.« Seine Blicke suchten Juliet, und sie strich ihm über die Wangen. »Der Lieferwagen…«, keuchte er. »Habt ihr ihn… weggefahren?« Sie nickte beruhigend. »Ja, Ben. Er ist in Sicherheit.« »Aber sieh dich doch an, Mann!« Elias Stimme überschlug sich. »Du bist erledigt!« »Ist… Papa… zu Hause?« Bens Stimme war jetzt nur noch ein schwaches Flüstern, und Juliet war versucht, Elias zu bitten, das Radio abzustellen. Dann hörte sie Ben husten und nahm ihn unbeholfen in die Arme, um ihm in seinem Todeskampf beizustehen, während Elias immer noch neben dem Wagen auf und ab ging und redete und redete – aber nie zu ihnen herübersah. »Hör zu, Ben. Habe ich je versucht, den Arzt zu spielen? Natürlich nicht. Und wenn du das nächste Mal klauen gehst, kommst du zu mir. Hast du das verstanden, Ben? Elias wird dir zeigen, wie man es richtig macht. Kapiert? Ebenso wie ich heute morgen diese Eier geprüft habe… kein einziges ist zerbrochen. So mußt du es machen. Ganz sanft und vorsichtig, verstehst du? Jetzt rede ich wie Papa, nicht wahr?« Juliet sah mit Tränen in den Augen auf und dann ließ sie – sehr, sehr behutsam – Bens Kopf wieder auf den Sitz zurücksinken. Aus einem Reflex heraus drückte sie ihm die dunklen und nun glasigen Augen zu. »Elias«, sagte sie leise, aber dieser marschierte fast noch ungestümer, den Blick auf den Boden geheftet, im Rhythmus der Musik hin und her.
»Also – du kommst zu mir, und wir drehen das Ding gemeinsam… du und ich… die Taylor-Brüder… Mann, wir werden diese Typen fertigmachen.« »Elias…« Juliet schloß die Augen und sie spürte, daß sie nahe daran war, ohnmächtig zu werden. Doch Elias schüttelte ärgerlich den Kopf, sah sie nicht an. »Mann – ich bringe dir bei, wie man es richtig macht. Ich lasse dich nicht noch einmal herumpfuschen.« Seine Füße stampften auf den Boden, und seine Stimme wurde zu einem heiseren Krächzen. »Wir werden es ihnen zeigen, nicht wahr, Ben? Und sie werden sagen: ›He! Wer hat denn hier gewütet?‹ Und wir sagen: die Taylor-Brüder! Ja! Der Doktor und… dieser andere… dieser andere… Wie war doch gleich sein Name?« Juliet streckte die Hand nach ihm aus. »Elias…« »Nein!« Elias wirbelte herum und schleuderte das Radio quer durch die Garage. Plötzlich war alles still. »Der andere… darf sterben… aber nicht der Doktor. Der Doktor kann nicht sterben… nicht Ben… Laß den anderen sterben… aber nicht Ben… nicht Ben…« Er schluchzte auf. Es war das qualvolle, herzzerreißende Schluchzen eines Menschen, der nie laut weint. »Nein… nein, zum Teufel, Ben!« Wie von Sinnen umarmte er den Körper seines Bruders, wiegte ihn in seinen Armen. Mit vor Tränen blinden Augen streckte Juliet ihre Hand nach der seinen aus. Der verzweifelte Druck seiner Hand war der eines Mannes, der alles verloren hatten, an das er sich klammern konnte… Abraham und Ruby machten gerade ihren Spaziergang zum Einkaufscenter, als sie die Gruppe von Kindern sahen, die sich vor dem Propagandaplakat der Visitors versammelt hatten. Einer der Jungen hielt eine große Sprühdose mit roter Farbe in der Hand und war gerade dabei, den aufreizend schönen Zügen des Visitors einen Bart aufzumalen. Abraham drängte sich
unwillkürlich die Vermutung auf, daß Daniels Freund Brian für die Plakate posiert hatte. Die Kinder kicherten, und eins sagte: »Mach weiter, Kenny! So sehen diese Kerle viel besser aus!« Ohne zu überlegen, was er tat, griff Abraham nach dem Handgelenk des Jungen. »Nein!« Die Kinder wichen verängstigt und wütend zugleich zurück. Abraham suchte nach Worten. »Wenn ihr Widerstand leisten wollt… dann fangt es richtig an. Ihr braucht ein Sinnbild… Wir alle brauchen es. Wir benutzten dies.« Vorsichtig sprühte er ein großes rotes »V« über das Plakat. »Damals allerdings machten wir dieses Zeichen mit Zeige- und Mittelfinger. Das V steht für Victory: Sieg. Versteht ihr, was ich meine?« Als die Kinder zögernd nickten, gab Abraham Kenny die Dose zurück. »Geht und sagt es euren Freunden.« Abraham nickte Ruby zu und drehte sich um. Als er im Fortgehen das Zischen der Sprühdose hinter sich hörte, drehte er sich noch einmal um und sah, wie sie noch ein »V« über das lächelnde Gesicht des Visitors sprühten. Als sie weitergingen, lag – zum ersten Mal seit sehr langer Zeit – ein Lächeln auf den Gesichtern der beiden alten Leute.
13. Kapitel
Mit hohem Tempo fuhr Mike Donovan in seinem kleinen gelben Sportwagen über die Autobahn und bog dann in eine Landstraße ab. Nach ein paar Kilometern erreichte er die zweispurige Chaussee, die nach San Pedro führte, wo Sean lebte. Er überlegte, was er jetzt unternehmen sollte. Von Sean würde er den Schlüssel bekommen. Dann wollte er Margie bitten, ihm ein paar Dollars zu leihen, um anschließend einen erneuten Versuch zu unternehmen, sich mit Tony in dem italienischen Restaurant zu treffen. Er verlangsamte das Tempo und brachte den Wagen mit einem Ruck zum Stehen, als er die Gegend zum ersten Mal bewußt wahrnahm. Die Ladenfenster der Eisdiele und des Friseurs waren zertrümmert… Ein Kleintransporter und eine Limousine waren umgekippt und blockierten einen Teil der Straße… Die Häuser an der rechten Straßenseite sahen aus, als wären sie ausgebrannt – sogar die Rasenfläche, die sich bis zu dem Park erstreckte, wo Sean zu spielen pflegte, war schwarz und versengt. Mike ergriff die auf dem Rücksitz liegende Waffe des Visitors und blickte sich prüfend um. Sein Herz schlug so laut, daß er kaum noch etwas anderes hören konnte; er zwang sich, tief und langsam durchzuatmen, und er lauschte… Stille herrschte, vollkommene und totale Stille – häßlich und beängstigend. Mit bis zum Äußersten angespannten Nerven zwang er sich, weiter in diese Stille zu lauschen, bis er sicher war, daß sich niemand in seiner unmittelbaren Umgebung aufhielt. Er legte das Gewehr griffbereit auf den Beifahrersitz und fuhr langsam auf Margies Haus zu. Dort parkte er den
Wagen, stieg aus und ging mit schußbereitem Gewehr auf das Haus zu. (Den Umgang mit der Waffe hatte er auf Feldern geübt – es war ein Kinderspiel, sie zu bedienen.) »Sean? Marjorie? Sean? Hallo, ist da jemand?« Stille… nichts als Stille. Donovan begann zu zittern. Er hätte gern irgend etwas zerschlagen, geschrien: »Warum?« – doch er stand nur regungslos da in dieser entsetzlichen Stille. Da plötzlich hörte er das kaum wahrnehmbare Geräusch von Schritten, dann ein unterdrücktes Schluchzen! Donovan wirbelte herum und kauerte sich schutzsuchend auf die Erde, und seine Finger krümmten sich um den Abzugsbolzen – da hörte er eine Stimme. »Nein! Nicht schießen, Mr. Donovan!« Mike stand auf und sah Seans Freund Josh Brooks vorsichtig um die Ecke des Hauses herumkommen. Die Kleider des Jungen waren schmutzig und zerrissen, sein Gesicht tränenüberströmt. An seinen glasigen Augen erkannte Mike, daß Josh unter einem Schock stand – er hatte Kinder mit solchen Augen in Laos, Vietnam und Beirut gesehen. Als der Junge wie ein scheues Reh auf ihn zukam, sagte Mike mit sanfter Stimme: »Josh… ich freue mich, dich zu sehen. Wo sind die anderen?« »Ich weiß es nicht«, stieß Josh mit vor Angst schriller Stimme hervor. »Sie sind weg… alle weg…« Mike legte einen Arm um Joshs Schultern und zog ihn beruhigend an sich. Zitternd klammerte der Junge sich an ihn, und Mike hielt ihn ein paar Minuten lang schweigend in den Armen. »Wann war das?« fragte er schließlich. »Vor drei Tagen.« »Und seitdem bist du ganz allein hier in der Stadt?« Josh nickte. »Nun, jetzt hast du mich, Josh. Ich bin bei dir, und ich werde dich beschützen.« Er zog den verängstigten Jungen wieder an
sich und bemühte sich, ihn nicht zu sehr mit Fragen zu bedrängen. »Was ist hier geschehen?« Josh blickte auf den Boden; seine Knie schienen nachzugeben, und er hockte sich auf den Bordstein. Donovan setzte sich neben ihn und legte ihm wieder den Arm um die Schultern. »Viele Leute hatten die Nase voll von dem, was die Visitors machten. Also marschierten am Sonntag einige Rancharbeiter – Sie kennen diese Art von Leuten – in die Stadt und legten eine selbstgebastelte Bombe unter ein Patrouillenfahrzeug der Visitors. Jagten es in die Luft. In der Fähre saß der Ortsinspektor der Visitors.« Bei der Erinnerung an das Geschehen durchlief ein Schaudern den Körper des Jungen. »Sie jagten die Fähre in die Luft und töteten ihn.« Donovan blickte fragend auf den verbrannten Boden, und Josh nickte bestätigend. »Dann erhob sich ein großes Geschrei unter den Leuten. Wir sind Amerikaner, und wir haben keine Lust, uns noch mehr von diesen gottverdammten Visitors gefallen zu lassen…« Röte überzog Joshs Gesicht, als er aufblickte. »Meine Mutter hat mir verboten, so etwas zu sagen, aber ich erzähle Ihnen ja nur, was die Leute gesagt haben, nicht wahr?« »Natürlich«, erwiderte Mike beruhigend. »Erzähl weiter, Josh.« »Dann herrschte allgemeine Erleichterung und ausgelassene Stimmung. Bis plötzlich die Lichter ausgingen. Alle auf einmal. Da bekamen alle Angst und rannten weg.« Wieder erschauerte er. »Dann erschienen Lichter am Himmel, so hell, daß man nicht mehr sehen konnte, wohin man ging. Grollend kamen sie auf uns zu. Es waren Truppentransporter; ich erkannte sie, als sie landeten. Alles schrie und rannte durcheinander. Ein paar Leute schossen mit Gewehren auf die Visitors – doch die Schüsse schienen sie nicht zu verletzen. Ich
verlor meinen Vater und meine Mutter. Dann kam Ihre Frau…«, er zögerte, »Seans Mutter. Sie packte mich und Sean und zog uns ins Haus. Sie schlug die Tür zu, doch sie waren überall – die Lichter kamen durch die Fenster…« Seine Stimme wurde zu einem hysterischen Lachen. »Ich wollte nach hinten in die Küche – da packte mich jemand von hinten. Ich drehte mich um und stand einem Visitor gegenüber. Sein Helm stand offen, und ich konnte seine Augen sehen…« Er senkte den Kopf. »Es war schrecklich! Diese fürchterlichen Augen! Sie sahen aus wie…« »Beruhige dich, Josh. Ich weiß, wie sie aussehen. Jetzt ist alles gut. Was passierte dann?« »Ich riß mich los und rannte davon. In diesem Augenblick wurde die Eingangstür aufgestoßen, und sie kamen herein und packten sie…« Donovan zuckte zusammen, als hätte man ihn geschlagen. Dann zog er Josh hoch, ging mit ihm über die Straße und betrat das Haus. Wie der Junge berichtet hatte, war die Eingangstür zertrümmert. Das Innere des Hauses zeigte deutliche Spuren eines erbitterten Kampfes. Donovan hob die Scherben einer zerbrochenen Vase auf, unter denen er Seans geliebte Reklamekappe fand. Bei der Erinnerung daran, daß Sean seine Kappe – sehr zu Marjories Mißfallen – immer auf ihre beste Vase gehängt hatte, spürte er einen schmerzhaften Druck in der Kehle. »Er hat wirklich tapfer gekämpft, um seine Mutter zu beschützen«, stieß Josh unter Tränen hervor. »Er kämpfte und kämpfte – sagte ihnen, daß sein Vater kommen und sie fertigmachen würde.« Ohne aufzublicken, faltete Mike die kleine Kappe zusammen und stopfte sie in die Tasche. »Er war wirklich sehr tapfer, Mr. Donovan, aber ich…« Wieder wurde sein Körper von Schluchzen geschüttelt, »…ich… ich habe mich auf der Toilette versteckt. Ich hatte solche Angst, Mr. Donovan. Es tut
mir leid. Ich hätte ihm helfen sollen… ich habe mich benommen wie ein kleines Kind.« »Nein, das hast du nicht«, erwiderte Mike mit Nachdruck. »Quäl dich nicht mit Vorwürfen, Josh. Du hättest gar nichts tun können. Diese Burschen sind verdammt hart und zäh, und ich würde mich nicht darum reißen, noch einmal mit ihnen zu kämpfen. Erzähl weiter, was dann passiert ist.« »Sie brachten alle auf den Platz beim Park. Ich hörte Schüsse und Schreie. Dann waren die Lichter verschwunden, und auch alle anderen. Alle außer mir.« Josh hielt inne und wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. Donovan schwieg; er überlegte, was er unternehmen sollte. Schließlich blickte Josh hoch. »Glauben Sie, daß ich… meine Eltern… wiedersehen werde, Mr. Donovan?« Wieder spürte Mike diesen Kloß im Hals, doch er sah den Jungen beruhigend an. »Darauf kannst du wetten.« Plötzlich fiel ihm der ursprüngliche Grund seines Besuches wieder ein. »Bei meinem letzten Aufenthalt hier habe ich Sean etwas mitgebracht – weißt du, wo er es aufbewahrt hat, Josh?« Josh nickte und trat an den Kamin heran, auf dem ein Bild von Sean und Donovan lag, dessen Glas zersplittert war. Josh griff dahinter und zog aus dem kleinen Spalt zwischen dem Kamin und der Wand den goldenen Schlüssel hervor. »Hier. Was ist das, Sir?« »Ein Schlüssel«, antwortete Donovan und betrachtete das Objekt nachdenklich. »Wohin gelangt man mit ihm?« »Mitten in den Bauch des Ungeheuers…« Donovan starrte weiter auf den Schlüssel und nickte dann. »Komm, Josh. Du siehst aus, als könntest du eine anständige Mahlzeit vertragen.« Der Junge nickte. »Danke, Mr. Donovan.«
Sie traten hinaus auf die einsame Straße und in die unheimliche Stille. Mit einem plötzlichen, anregenden Knall glitt der Korken aus der Champagner-Flasche, und Daniel Bernstein lächelte zufrieden. Und er grinste immer noch, als er die Gläser seiner Eltern und seines Großvaters mit der schäumenden Flüssigkeit füllte. »Ganz schön versnobt, was? Champagner zum Frühstück!« Stanley rührte sein Glas nicht an. »Woher hast du ihn, Daniel?« »Von einem Kaufmann hier aus der Stadt. Einem, der es zu schätzen weiß, Freunde zu haben, insbesondere wenn diese Freunde Freunde der Visitors sind.« Er erhob sein Glas. »Und jetzt einen Toast – auf meine bevorstehende Verlobung!« »Was?« rief Lynn verblüfft. »Deine Verlobung – mit wem?« Daniel lächelte schief. »Mit Robin Maxwell.« Während Daniel einen großen Schluck aus seinem Glas nahm, sahen sich die Erwachsenen verstohlen an. »Aber sie ist doch fortgegangen, Danny«, entgegnete Lynn schließlich. Daniel lächelte vielsagend. »Oh… aber nicht so sehr weit weg, hmm?« Wieder warfen sich die anderen heimliche Blicke zu. »Und was sagt Robin dazu, Daniel?« fragte Stanley. Das einfältige Lächeln Daniels vertiefte sich. »Sie weiß noch nichts davon. Doch ich will sie haben… also werde ich sie auch bekommen. Ebenso, wie ich diesen Champagner, den ich haben wollte, bekommen habe.« Er schlürfte von seinem Champagner. »Wenn nicht, werde ich ihre ganze verdammte Familie auffliegen lassen.« Er setzte sein leeres Glas ab und blickte, breit grinsend, in die Runde. Langsam erhob sein Großvater sein Glas. Er sah Daniel in die Augen und hielt seinen Blick fest – und dann schüttete er seinem Enkel den Inhalt des Glases ins Gesicht. Daniel zuckte
zusammen und wischte sich wütend die Wangen trocken. Abraham stand auf und verließ den Raum, um zum Badehaus hinunterzugehen. Eine Sekunde später stieß Daniel seinen Großvater grob beiseite und stürzte zur Tür hinaus. »Oh, Gott!« schrie Lynn und lief ihm, zusammen mit Stanley und Abraham, hinterher. Als sie um die Ecke des Badehauses bogen, sahen sie Daniel, der Robin, brutal am Handgelenk festhaltend, aus der Hütte herauszerrte. Sein verzerrtes Gesicht war das eines Fremden. »Komm schon, du kleine Hexe! Ich werde dir beibringen, was Brian nicht gewagt hat.« »Laß mich los, Danny! Du bist verrückt!« Sie versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. Hinter sich hörte sie Katies ängstliches Weinen, die erschreckten Fragen ihres Vaters. »Hör auf, Daniel! Ich werde nirgendwo mit dir hingehen, du Monstrum!« Er zerrte sie weiter hinter sich her, als ihre Eltern aus dem Badehaus traten. Roberts Augen waren blutunterlaufen. Aus Angst um seinen Sohn und Robin zugleich packe Stanley Daniel am Arm, wirbelte ihn zu sich herum und stieß ihn in den Swimming-pool. »Kühl dich ab, du Idiot!« schrie er. Maßlose Wut und tödlicher Haß lagen in Daniels Augen, als er, seine Visitor-Waffe in der Hand haltend, aus dem Wasser kam. »Nein, Daniel! Nein!« schrie Lynn und warf sich zwischen ihren Mann und ihren Sohn. Er zögerte und senkte dann die Waffe. Schließlich zog er sich zornig aus dem Wasser und stürmte ins Haus. Alle standen wie erstarrt da, bis Kathleens Stimme das Schweigen brach. »Wir müssen weg hier, Bob. Er wird seine Freunde rufen.« »Das würde er nie…«, protestierte Stanley, doch Lynn legte ihre Hand auf den Arm.
»Hast du seine Augen nicht gesehen? Doch, ich glaube auch, Sie sollten fortgehen. Wir werden Ihnen helfen – was können wir sonst tun?«
Ein besorgter Ausdruck lag auf Sancho Gomez’ Gesicht, als er seinen uralten blauen Lieferwagen um die Ecke lenkte. Vorsichtig blickte er nach beiden Seiten und fuhr dann, in krassem Gegensatz zu seinem sonst üblichen ungestümen Fahrstil, langsam weiter. Als sein Blick auf die auf dem Nebensitz liegende Pralinenpackung fiel, fluchte er leise vor sich hin. Nachdem er einen Parkplatz gefunden hatte, stellte er den Motor ab und ging mit der Pralinenpackung zur Rückseite des Wagens. Er öffnete die Wagenklappe und gab sich ganz so, als prüfe er die Seile, mit denen sein Rasenmäher und ein paar Sträucher befestigt waren. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« flüsterte er dabei. Robert Maxwell und seine Familie, die zusammengedrängt unter dem falschen Boden von Gomez Lieferwagen lagen, atmeten gierig die frische Luft ein. »Ja, danke«, flüsterte Maxwell, doch seine Worte wurden umgehend von Katies Wimmern widerlegt. »Wie kommen wir voran?« »Bis jetzt ganz gut – aber die Straßensperre rückt immer näher.« Wieder weinte Katie auf, und Kathleen hielt ihr den Mund zu. Widerwillig rückte Robin noch weiter zur Seite, um ihrer kleinen Schwester mehr Platz zu machen. »Wenn sie nicht aufhört zu weinen, schaffen wir es nie, Mami!« »Oh, das hätte ich beinahe vergessen!« Sancho gab ihnen die Pralinen. »Das wird helfen.« »Sie haben wirklich an alles gedacht!« Robert Maxwells Stimme klang überrascht.
Sancho grinste und blickte über das Dach des Wagens nach den fernen Wolken empor. »Nun, ich habe einige Erfahrung in solchen Dingen…« Einen Augenblick lang blickte er zu Boden und schloß die Augen; dann ging er zum Fahrerhaus des Wagens zurück und kletterte hinters Steuer. Als er den Wagen anfuhr, trat Eleanor Dupres aus ihrem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie hielt ihren Autoschlüssel in der Hand und beobachtete den Lieferwagen nachdenklich, als Sancho grinsend an seinen Hut tippte. Er begann zu schwitzen, als er das kleine Mädchen wieder weinen hörte. Er blickte schnell in den Rückspiegel und bemerkte, daß Mrs. Dupres ihm nachsah. Wenige Minuten später tauchte in einiger Entfernung vor ihnen die Straßensperre auf. Sancho verzog ein wenig angewidert das Gesicht, als er eine große Zwiebel vom Armaturenbrett nahm und kräftig hineinbiß. Voll Ingrimm kaute er kräftig durch und zwang sich, noch einmal hineinzubeißen. Dann fuhr er, immer noch auf der Zwiebel herumkauend, langsam auf die beiden Polizeibeamten zu, die bei der Straßensperre standen. Doch viel mehr als diese beiden beunruhigte ihn der schweigend an der Sperre Wache stehende Visitor. Als Sancho an der Sperre hielt, trat einer der beiden Beamten an das Fahrerhaus heran. »Prüf du den Laderaum, Randy«, rief er seinem Kollegen zu. Dieser nickte und ging nach hinten. Sancho lächelte den Beamten freundlich an und beugte sich vor. »Hallo! Wie geht es Ihnen?« Der Mann wich sichtlich zurück, als ihm Sanchos zwiebelgeschwängerter Atem entgegenschlug. »Wohin wollen Sie?« »Nach El Tepeyac, außerhalb der Stadt. Dort gibt es die besten Lebensmittel nördlich von Ensenadas.« Als Sancho in
den Rückspiegel blickte, sah er, wie der Beamte namens Randy den Laderaum kontrollierte. In diesem Augenblick nahm er zu seinem Entsetzen Katies unterdrücktes Wimmern wahr. Er sah, wie Randys Rücken sich straffte, und er wußte, daß er das Weinen auch vernommen hatte. Sorg dafür, daß das Kind still ist, Maxwell, sonst sind wir alle verloren, dachte Sancho verzweifelt. »El Tepeyac? Nie gehört«, sagte der Beamte, der gerade Sanchos Führerschein prüfte. Dann drehte er sich zu seinem Kollegen um. »Wie sieht es da hinten aus, Randy?« Der Mann schüttelte den Kopf, und Sancho schloß erleichtert die Augen. »Alles in Ordnung, Bob.« »Gut.« Froh darüber, aus Sanchos Dunstkreis zu kommen, trat der Polizeibeamte zurück und winkte den Wagen durch. »Gute Fahrt, Pedro.« »Sancho, Señor.« Als er anfuhr, warf er noch einmal einen Blick in den Rückspiegel und sah, wie Randy ihn beobachtete. »Danke, Señor«, sagte er und nickte ihm freundlich lächelnd zu.
Juliet Parrish blickte über den riesigen Abflußkanal in Richtung der baufälligen Gebäude, in denen sich früher einmal die Büros und Maschinenräume eines Teils der Kläranlagen von Los Angeles befunden hatten. Elias nahm ihren Arm. »Jetzt müssen Sie vorsichtig sein, Julie. Es ist ziemlich steil hier.« Juliet stützte sich auf ihren Stock, als sie unbeholfen über den Hang kletterte. Brad folgte ihnen. Bens Tod lag jetzt eine Woche zurück – vor zwei Tagen war er beerdigt worden. Caleb war jetzt, ebenso wie Elias, überzeugtes Mitglied ihrer ständig wachsenden Untergrundbewegung. Juliet stöhnte leise, als sich ein Stein unter ihren Füßen löste und schmerzhaft ihre
Hüfte erschütterte. Sie wußte nicht, ob der verletzte Nerv je wieder vollkommen heilen würde, mit Sicherheit jedoch hinterließ der flammende Energieblitz aus der fremdartigen Waffe eine bleibende und entstellende Narbe an ihrer Hüfte. An diesem Morgen hatte sie mit Rubys Hilfe den Verband entfernt, und jetzt war der dabei empfundene heftige Schmerz nur noch eine Erinnerung. Sie entsann sich an die Tränen in den Augen der alten Frau, als Ruby die bläuliche Narbe gesehen hatte. »Bikinis waren nie mein Fall.« Doch das, wußte Juliet, war reiner Zweckoptimismus. Jetzt mußte Juliet über diese Szene lachen. Die Aussicht darauf, für immer entstellt zu sein, regte sie nicht so sehr auf. Viel besorgniserregender war ihre eingeschränkte Bewegungsfähigkeit. Wie sollte sie die Gruppe leiten, wenn sie sich nicht richtig bewegen konnte? Und niemand sonst schien bereit zu sein, die Verantwortung zu übernehmen. (In einem solchen Fall wäre sie bereitwillig zurückgetreten.) Endlich waren sie unten. Sie gingen weiter über den massiven Betonboden und blickten in den dunklen Schlund des Abzugstunnels, der an dieser Stelle gut sechs Meter hoch war. »Der Tunnel läuft unter der Stadt entlang. Führt zu ein paar recht hübschen Plätzen. Er ist nicht gerade das Beverly HillsHotel. Wahrscheinlich werden wir eine Menge Spinnen und Ratten überreden müssen, sich woanders niederzulassen. Aber es gibt eine Menge Platz da unten… sogar einen Bahnhof am Ende des Schachtes, in dem manchmal Landstreicher schlafen.« »Wir werden jeden brauchen, den wir kriegen können«, meinte Juliet und sah sich um. »Glauben Sie, daß sie uns helfen werden?« »Ich kümmere mich darum«, erklärte Brad.
Elias blickte sich nach Juliet um. »Dann ist es in Ordnung. Der Tunnel liegt allerdings ziemlich weit draußen, so daß wir alle mit dem Wagen hier rausfahren müssen.« »Es ist perfekt, Elias«, erwiderte Juliet herzlich. »Von oben nicht einzusehen – darum mußten wir ja unser Lager in den Bergen aufgeben. Und ich habe die Hoffnung, daß wir den Tunnel so herrichten können, daß wir ständig hier leben können. Wir werden viel zu tun haben.« »Dynamit.« Elias wirkte erleichtert. »Während Sie also die Sachen hierherbringen, werde ich mit den Angels sprechen. Das hier gehört zu ihrem Territorium.« »Die Straßenbande?« Juliet überlegte. Sie wußte nicht, wie die Angels auf eine Frau als Anführerin reagieren mochten, doch sie würden auf jeden Fall gute Scouts abgeben. »Ja. Sie hassen die Visitors ebensosehr wie wir – sie mögen es nicht, wenn man ihnen Fesseln anlegt.« »Sie glauben wirklich, daß Sie sie überreden können, uns zu helfen?« Elias fiel wieder in sein selbstgefälliges Gehabe zurück. »Sie machen Witze, Madam? Sie sprechen mit dem Henry Kissinger von Ost-Los Angeles. Ich kriege sie alle.« Er stolzierte davon. »Elias…«, rief Juliet ihm nach, und er drehte sich noch einmal um. Juliet lächelte ihn dankbar an, nickte stumm. Er machte ein »Victory«-Zeichen und ging, »We are Family« vor sich hin pfeifend, davon. Als Daniel Bernstein die Haustür aufschloß, hörte er das Telefon klingeln. Er lief durch das Zimmer und nahm den Hörer nach dem fünften Läuten ab. »Hallo?« Während er in die Muschel sprach, griff er mit der freien Hand nach einem Glas in der zu seiner Rechten stehenden Bar und schenkte sich einen ordentlichen Schuß Scotch ein. »Ja, hier spricht sein
Sohn Daniel. Nein, mein Vater war nicht hier. Was? Sie haben ihn fortgebracht? Wann? Nein, sie wollten ihn sicher nur nach Hause bringen… Sie sagten ›verhaftet?‹« Nach kurzem Zögern hängte er, ohne sich zu verabschieden, ein. Dann wählte er eine Nummer. »Hallo… kann ich bitte Mrs. Bernstein sprechen?« Er wartete. »Sie ist noch nicht vom Essen zurückgekommen? Aber das ist doch schon über vier Stunden her! Um wieviel Uhr ist sie denn zum Essen gegangen? Nein, sie ist nicht zu Hause! Ich bin allein hier…« Jetzt wußte er, was geschehen war, und diese Erkenntnis traf ihn wie ein Schock. Er legte den Hörer auf und blickte sich in dem stillen Zimmer um, sah den Fernsehapparat, die verschlossenen Türen… Vielleicht war Großvater gerade spazierengegangen… ja, so mußte es sein… Er nippte nervös an seinem Scotch und wanderte von Raum zu Raum. Zwei Stunden später war er betrunken, und ihm wurde klar, daß seine Eltern nicht zurückkommen würden.
Als Sancho auf dem Rückweg in die Stadt bei der Straßensperre anhielt, lächelte er die beiden Polizeibeamten verbindlich an. Doch keiner erwiderte sein Lächeln. Der Beamte namens Bob und ein Visitor-Soldat gingen zum Laderaum des Lieferwagens und rissen die Klappe auf. »Mrs. Dupres hatte also recht… er hat jemanden hier drin rausgeschmuggelt… aber jetzt ist der Wagen leer«, rief er. »Du hast das sicher übersehen, Randy.« Mit trauriger Miene hob der neben Sancho stehende Polizist sein Gewehr. »Steigen Sie aus… langsam.« Als Sancho sich umblickte, sah er sich von vier VisitorSoldaten, deren Waffen auf ihn gerichtet waren, umringt. Er zuckte die Achseln und stieg aus.
Mike Donovan und Josh Brooks blieben wartend auf der dem italienischen Restaurant gegenüberliegenden Straßenseite stehen. Als sie im Licht der Eingangsbeleuchtung von »Vitello’s« einen Lieferwagen vor dem Lokal stehen sahen, ergriff Mike Joshs Arm. »Sie sind pünktlich«, sagte er und führte den Jungen über die Straße. Dann krochen sie in den Wagen, und Tony und Fran Leonetti nickten ihnen kurz zu. Tony startete den Wagen und fuhr ein paar Minuten lang durch die dunklen Straßen, ehe er es wagte anzuhalten. »Hier dürften wir sicher sein… zumindest für ein paar Minuten«, sagte er. »Wie geht es dir, Mike?« Mit kurzen Worten schilderte Donovan seinem Partner die wichtigsten Ereignisse der nach seinem heimlichen Aufenthalt im Raumschiff vergangenen Wochen. Er beendete seine Schilderungen mit dem Bericht darüber, in welchem Zustand er das verlassene San Pedro vorgefunden hatte. Tony und Fran schüttelten den Kopf und blickten Josh mitleidig an. »Josh muß eine Weile bei Fran bleiben«, erklärte Donovan. »Bist du noch immer zu Hause?« »Nicht oft«, erwiderte sie. »Die meiste Zeit habe ich für die Untergrundbewegung zu tun.« An Josh gewandt, fragte sie: »Magst du Spaghetti?« »Oh, ja!« nickte der Junge. Sie lächelte ihn an. »Ich heiße nicht umsonst Leonetti. Wir werden gut miteinander auskommen.« »Wo ist dieses Lager der Untergrundbewegung?« fragte Donovan. »Es gibt mehrere außerhalb der Stadt, Mike«, antwortete Tony. »Eins liegt in den Bergen, ein ganzes Stück entfernt von hier, doch vor kurzem haben sie einen neuen Platz entdeckt… eine verlassene Kläranlage in der Nähe des Vorgebirges.« Donovan grinste. »In den Bergen? Wie in El Salvador?«
»Ja«, lachte Tony. »Auch hier unten in der Stadt soll noch ein Lager sein, aber ich weiß nicht genau, wo.« »Wir müssen es ausfindig machen«, meinte Donovan nachdenklich. »Aber als erstes mochte ich wissen, zu welcher Tür dieser Schlüssel gehört.« Er zeigte Tony das goldene Objekt. »Irgendwo müssen die Visitors eine schwache Stelle haben.« Tony hob warnend den Finger. »Sei vorsichtig, mein Freund.« Mike lachte. »Vielleicht eine Schwachstelle in ihrer Ausrüstung. Irgend etwas, das wir gegen sie verwenden können. Und wir müssen herausfinden, wohin sie all die Leute bringen, die einfach so verschwinden.« »Okay, du hast mich überzeugt.« Tony ließ den Motor an. »Also fangen wir an.« »Ihr werdet vorsichtig sein, versprecht Ihr das?« sagte Fran und sah von einem zum anderen. Sie berührte Tonys Hand. »Ich brauche euch beide.« »Wo gehen Sie hin, Mr. Donovan?« wollte Josh wissen. Mike deutete nach oben, und Joshs Augen wurden weit vor Schreck. Während der Wagen durch die verlassenen Straßen rollte, lehnte er sich in seinen Sitz zurück und blickte zum Fenster hinaus, hinauf zu dem riesigen Schiff, das über der Stadt hing.
Daniel Bernstein saß am Kopf des langen Eßzimmertisches. Vor ihm stand eine Flasche Burgunder, die schon zu zwei Dritteln geleert war. Die Reste seines vor dem Fernseher eingenommenen Abendessens standen in der Küche herum, doch er hatte immerhin – ganz gegen seine Gewohnheit – den Tisch abgeräumt. Während er sich ein weiteres Glas Wein eingoß, versuchte er, die leeren Stühle zu übersehen. Ein
Klopfen ließ ihn hoffnungsvoll den Kopf heben; als er jedoch Brian in der Tür stehen sah, wandte er sich enttäuscht ab. Er blickte auf das Glas und bot seinem Visitor-Freund nicht einmal einen Platz an. Brian seufzte. »Es tut mir leid, Daniel. Ich weiß, du mußt sehr enttäuscht von uns sein. Ich habe versprochen, deinen Eltern Straffreiheit zu gewähren, aber… meine Vorgesetzten haben mich überstimmt und angeordnet, daß deine Eltern zur Befragung abgeholt werden. Aber sie werden bald wieder zurück sein, das verspreche ich dir.« Daniel blickte auf. »Wirklich?« »Du hast mein Wort.« Seine Stimme klang sehr zuversichtlich. »Ist es euch gelungen, den Wissenschaftler zu verhaften, von dem ich euch erzählt habe?« »Nein… Als wir dort eintrafen, waren die Leute verschwunden. Aber mach dir keine Sorgen – wir kriegen sie.« »Irgendein Wissenschaftler und seine Familie…« Daniel trank einen Schluck Wein. »Bist du sicher, daß es meinen Leuten gutgeht? Was ist mit meinem Großvater? Er ist schon ziemlich alt…« Brian blickte unbehaglich zur Seite, dann sagte er in sanftem Ton: »Es geht ihm nicht gut, Daniel.« »Aber heute morgen war er noch ganz in Ordnung.« »Nun, du weißt ja, wie alte Leute sind. Aufregungen bekommen ihnen nicht. Aber unsere Ärzte kümmern sich um ihn… Sie sind sehr, sehr gut. Sie hoffen, ihn bald wieder auf die Beine zu bringen. Und was ist mit dir? Geht es dir jetzt besser?« »Ich glaube, ja«, brummte Daniel, den Blick noch immer auf die Tischplatte geheftet.
Brian ließ sich in einen Sessel neben Daniel fallen und legte dem jungen Mann tröstend die Hand auf die Schulter. »Nun, ich habe noch ein paar andere Neuigkeiten, die dir vielleicht helfen werden. Du wirst befördert.« Daniel blickte auf. »Was?« »Zu meinem Stellvertretenden Kommandanten.« »Wirklich?« Daniels dunkle Augen blitzten auf. »Gratuliere!« Der Visitor schüttelte Daniel kräftig die Hand, klopfte ihm dann auf den Rücken. »Ich…«, stammelte Daniel grinsend. »Das ist noch nicht alles. Als ich Diana von deiner Loyalität berichtete, gab sie mir dies hier für dich.« Er zog ein kleines Etui hervor und reichte es Daniel. Dieser öffnete es und sah einen goldenen, mit einem großen Diamanten besetzten Ring. »Brian! Nein!« Er schob sich das Schmuckstück auf den Finger. Der Ring paßte wie angegossen. »Ich freue mich, daß er dir gefällt. Und ich bin stolz, dich in meiner Einheit zu haben.« Er streckte ihm die Hand entgegen, und dieses Mal ergriff Daniel sie begeistert, schüttelte sie und lächelte seinen Freund dankbar an.
14. Kapitel
Dunkle Wellen schwappten über den Strand und durchnäßten Mike Donovans Turnschuhe, als er zusammen mit Tony Leonetti am Fuß der ins Meer abfallenden Mauer der Richland-Werke entlangkroch. Zu ihrer Linken erhob sich eine hohe Mauer aus den Felsen, und dort war eine schmale Leiter angebracht. Donovan blieb stehen und blickte nach oben. »Wir müssen da hoch«, flüsterte er dicht an Tonys Ohr. »Kannst du mich in die Höhe stemmen?« Leonetti schnitt eine Grimasse. Donovan war fast fünfzehn Zentimeter größer und vierzig Pfund schwerer als Tony. Er nickte trotzdem. »Ja – aber mach schnell!« Donovan nickte und gab Tony die Waffe. Dieser schlang den Riemen über die Schulter, verschränkte die Hände als Trittfläche für Mike und spannte die Muskeln an. »Eins, zwei, drei – und los!« Mit äußerster Anstrengung schob er seinen Freund langsam in die Höhe, bis dieser sich abstieß und sprang. Mikes Finger umklammerten den Rand der Mauer; dann zog er sich hoch und suchte mit den Füßen nach einem Halt. Oben angelangt, blieb er einen Augenblick lang schwer atmend stehen und kletterte dann vorsichtig die Leiter hoch. Doch er war schneller wieder unten, als er oben gewesen war. »Wachtposten!« zischte er seinem in der Dunkelheit unter ihm wartenden Freund zu. »Sie wollen uns offensichtlich keine Gelegenheit mehr zu einer zweiten Vergnügungsreise, wie ich sie unternommen habe, bieten… Wirf das Gewehr hoch!« Eine Sekunde später umschlossen seine suchenden Hände den Riemen der Waffe. Dann beugte er sich herunter und
streckte Tony den Arm entgegen. »Spring, Tony!« Mit der anderen Hand umklammerte er die Leiter hinter sich. Er hörte Tony abspringen, dann einen unterdrückten Fluch und ein klatschendes Geräusch. »Bist du in Ordnung?« »Ja.« »Du mußt höher springen.« »Das weiß ich selbst, verdammt!« Dieses Mal jedoch verfehlte er Mikes Hand nicht. Dieser zog ihn hoch, und einen Augenblick später kauerte Tony neben ihm. Der Asiat betrachtete das Gewehr. »Weißt du, wie es gehandhabt wird?« »Es ist ganz einfach. Dieses Ding hier bestimmt die Intensität der Entladung – je höher die Kerbe, desto mehr Energie wird abgestrahlt. Hier wird es geladen, und das ist der Auslöser.« »Braucht man besondere Batterien dafür?« Donovan kicherte. »Ich glaube, daß man sie wieder aufladen kann. Vielleicht sollten wir die Visitors um einen Akkumulator bitten, was meinst du?« Tony lächelte nur. »Paß auf!« Donovan duckte sich, als der Strahl eines Scheinwerfers über das Wasser glitt. »Verdammt! Das war sehr nahe!« »Ist unregelmäßig eingestellt«, zischte Mike und blickte zu dem neben der Raffinerie stehenden Turm hinauf. »Oder aber er wird von Hand bedient.« »Wie sollen wir an dem vorbeikommen?« Tony deutete mit dem Kopf auf den Wachtposten. Jedesmal, wenn er auf seinem Rundgang über ihnen vorbeikam, konnten sie die Spitze seines Helms sehen. »Was hältst du vom direkten Angriff?« »Wie damals in Kambodscha?« »Ja.«
»Und ich soll wahrscheinlich wieder den Hasen spielen.« Tonys Stimme klang unwillig. Donovan hob das Gewehr. »Ich bin es, der das Schießpulver hat.« »Okay«, stimmte Tony aufseufzend zu. »Und wirst du es auch sein, der es meiner Witwe erklären muß.« Nahezu geräuschlos kletterte er die Leiter hinauf und schwang sich über die Mauer. Donovan folgte ihm. Oben angekommen, sah er den Rücken des Wachtpostens vor sich, dessen Gewehr auf Tony gerichtet war, der mit über den Kopf erhobenen Händen vor ihm stand und hastig erklärte: »Oh, mmh. Mein Name ist Tony. Äh, auf dem Weg von Korea nach Hause bin ich mit meinem Krabbenfänger in eine Flaute geraten und so lange über das Wasser gelaufen, daß…« Donovan drückte ab, und der Posten ging geräuschlos zu Boden. Tony ergriff die Waffe des Visitors. »Komm weiter«, flüsterte Mike hastig. Ein paar Minuten später hörten sie von der Mauer her, über die sie soeben geklettert waren, einen Schrei, und sie wußten, daß der Wachtposten entdeckt worden war. »Wir hatten ihn über die Mauer werfen sollen«, sagte Mike, ärgerlich über sich selbst, weil er nicht daran gedacht hatte. »Auf diese Weise hätten wir etwas mehr Zeit gewonnen.« Er kroch zwischen zwei großen Rohren entlang, duckte sich, um nicht gegen eine der unzähligen Leitungen zu stoßen. Sie eilten auf den Parkplatz. »Hinterher ist man immer klüger«, brummte Tony, der ihm, auf Händen und Füßen kriechend, folgte. »Andererseits würde es mir auch nicht gefallen, wenn wir auf das Niveau kaltblütiger Mörder herabsänken. Auch wenn sie nichts anderes als getarnte Reptilien sind.«
Nachdem sie ein paar Minuten lang durch das Gewirr von Röhren gekrochen waren, sahen sie eine Raumfähre vor sich, deren Ladeluken geöffnet waren. Dieses Mal jedoch gab es keine Arbeiter, die die Schläuche für den Transport der Chemikalien miteinander verbanden. Die Tanks, die früher im Laderaum gestanden hatten, waren verschwunden; vor den Türen standen Menschen mit über den Kopf erhobenen Händen. Donovan und Leonetti kauerten sich auf die Erde und sahen zu, wie die Visitor-Soldaten die Gefangenen grob in die Fähre stießen. Männer. Frauen. Kleine Kinder, manche von ihnen schluchzend, andere mit vor Entsetzen versteinerten Mienen dastehend. Ein kleines Mädchen, dessen Gesicht mit blutigen Schrammen bedeckt war, preßte seinen zerfetzten Teddybären an sich. Eine Mutter, die ihr verängstigtes Kind an der Hand hielt. Eine junge, hochschwangere Frau. Ein Junge in Seans Alter mit einer Basketballmütze auf dem Kopf… »Mein Gott, Mike!« Tony sah seinen Freund entsetzt an. »Was geht da vor?« Donovan schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber wir werden es herausfinden.« Prüfend wanderte sein Blick über die verängstigten Menschen; er wollte sich einen Eindruck verschaffen, was für Leute sich die Visitors aussuchten. Sie schienen aus allen Gesellschaftsschichten zu stammen. Ein Mann mit einem zerdrückten Cowboyhut und einem Arbeitshemd fiel ihm auf. Er hatte dunkle Augen und schien spanischer Abstammung zu sein. Von einem Riß über dem Auge rann Blut über sein Gesicht, doch seine Haltung blieb stolz und herausfordernd. »Okay, Tony. Versuchen wir es noch einmal«, flüsterte Mike, als die Ladeluken sich zu schließen begannen und die Piloten in die Fähre stiegen.
»In Ordnung, dieses Mal stolpere ich nicht.« Mit bis zum Zerreißen angespannten Nerven gingen sie auf die Fähre zu, als plötzlich das Zischen einer energetischen Entladung ertönte. Als sie suchend hochblickten, sahen sie oben einen Visitor-Soldaten auf einer Laufplanke stehen. Die Gestalt feuerte auf sie. Donovan schoß zurück, als ein zweiter Blitz sie beinahe beide erwischt hätte. Sie begriffen, umzingelt zu sein, und sie gingen in Deckung. Donovan zielte auf das über ihnen verlaufende Starkstromkabel, das nach den Scheinwerfern am Parkplatz führte. »Die Kabel, Tony! Schieß auf die Kabel!« »Ich komme mit diesem verdammten Ding nicht zurecht!« Donovan griff nach Tonys Waffe, als ein erneuter blauer Energiestrahl kaum einen halben Meter neben ihnen über den Boden knisterte und die Luft mit dem Geruch von Ozon erfüllte. »Ich habe die Waffe entsichert. Versuch es noch einmal!« Sie hoben die Gewehre und zielten – und eine Explosion blauen Feuers zerriß eins der Kabel. Die Scheinwerfer flackerten, und bei einigen erlosch das Licht. Ein herunterschwingendes, funkensprühendes Kabel traf einen der Visitor-Soldaten. Die Kreatur stieß einen durchdringenden und schrillen Schrei aus, wie Donovan ihn schon einmal gehört hatte. Er stieß Tony in die Seite. »Zu den Laufplanken hinauf! Da kommen wir schneller vorwärts! Lauf, ich gebe dir Feuerschutz!« Tony sprang auf die Leiter und stürmte hoch. Als er, oben auf der Laufplanke angelangt, um die Ecke bog, sah er sich einem weiteren Visitor gegenüber. Fast ohne nachzudenken, hob er seine Waffe und rammte sie dem Wachtposten ins Gesicht. Das Geschöpf taumelte zurück und griff haltsuchend nach dem
Geländer. Als Tony das Gewehr hob, um noch einmal zuzuschlagen, drehte der Visitor ihm das Gesicht zu. Sein wahres Gesicht – denn Tonys Hieb hatte ihm die Maske heruntergerissen. Beim Anblick dieser grauenhaften Fratze blieb Tony einen Augenblick lang wie erstarrt stehen. Die Kreatur nutzte seine Schrecksekunde und ließ die Zunge vorzucken. Eine Giftwolke hüllte das Gesicht des Asiaten ein. Er taumelte zurück und bedeckte schützend die Augen, die brannten, als bohrten sich glühende Nadeln hinein. »Mike! Meine Augen!« Unmittelbar vor Tony leckte ein Energiestrahl aus der Waffe Donovans dahin, und dann hörte er den Aufschlag eines schweren Körpers. Als er seinen Freund auf sich zu rennen hörte, betastete Tony seine Augen. Er vernahm die Geräusche eines Kampfes, gefolgt vom Todesschrei eines weiteren Visitors – dann das Zischen einer Entladung, an das sich ein menschlicher Aufschrei anschloß. Irgend etwas fiel vor Tonys Füße. »Mike?« Tony ließ sich auf die Knie fallen und fühlte das Wildleder von Mikes Jacke unter seinen Händen. »Mike – oh Gott! Bist du okay?« Er kroch über seinen Partner, tastete ihn ab… Als er hinter sich das Geräusch von Schritten vernahm, wollte Tony sich umdrehen. In diesem Augenblick spürte er einen harten Schlag am Hinterkopf; er fiel der Länge nach über den Körper seines Freundes und blieb bewegungslos liegen.
15. Kapitel
Es wurde bereits dunkel, als Robert Maxwell den Karton mit den Reagenzgläsern hochhob und dann den Kopf einzog, um sich unter einem herunterhängenden Balken hinwegzuducken. Vorsichtig tastete er sich in dem trüben Licht in dem Abwasserkanal vorwärts. Der Boden unter seinen Füßen war trocken, doch die Luft hier unten roch unangenehm, modrig. Die ihm folgende Robin schnaubte vernehmlich. »Es stinkt, Papa.« »Was hast du erwartet, Binna? Es ist ein altes, verlassenes Abwasserleitungsnetz.« »Warum konnten wir nicht in das Haus da oben gehen?« jammerte Robin. »Ich bin sicher, daß sie seit mindestens einer Woche nicht mehr nach uns suchen.« »Darauf würde ich keine Wette eingehen«, entgegnete Maxwell. »In dem Lager in den Bergen erzählten sie, daß Sancho auf seinem Rückweg in die Stadt verhaftet wurde… armer Kerl. Wenn ich ihm nur irgendwie helfen könnte…« Er duckte sich, um einer Spinnwebe auszuweichen. In der Ferne war schwaches Licht zu erkennen. »Wir sind bald durch, Binna.« »Es ist furchtbar.« Robin blieb völlig unbeeindruckt, und Maxwell runzelte ärgerlich die Stirn, beherrschte sich jedoch und blieb ruhig. Die Woche in dem Lager in den Bergen war Dank des endlosen Gejammers und der ständigen Vorwürfe seiner ältesten Tochter die reine Hölle gewesen. Und mehr als einmal hatte Maxwell sehr an sich halten müssen, um sie nicht zu verprügeln. Warum sind Teenager nur so verdammt egoistisch? fragte er sich. Ist nur meine Tochter so oder alle?
Weiß der Himmel. Polly hat viel mehr Energie als sie, und sie ist erst dreizehn… Doch sofort fühlte er sich beschämt wegen dieser Gedanken. Polly war schon immer seine Lieblingstochter gewesen, und jedesmal, wenn er sich diese Tatsache eingestand, fühlte er sich schuldig. Und dieses Schuldgefühl war es auch, das ihn an diesem Morgen dazu veranlaßt hatte, Robin mitzunehmen – und die Befürchtung, daß sie etwas Unüberlegtes tun könnte, wenn sie nicht abgelenkt wurde. Robin war nie in der Lage gewesen, die Konsequenzen ihrer Handlungen zu überblicken – eine Schwäche, die Maxwell manchmal schier zum Wahnsinn treiben konnte, vor allem, weil sie auch zu seinen eigenen Schwächen gehörte. Nachdem sie aus dem Kanal heraus waren, gingen sie über eine von kleinen Felsen und Steinen übersäte Ebene auf den Haupteingang des Hauptquartiers zu. Ein weiblicher Wachtposten blickte ihnen freundlich entgegen, ohne jedoch die Hand vom Kolben der 38er-Polizeipistole zu nehmen, die sie an der Hüfte trug. »Robert Maxwell und meine Tochter Robin. Aus dem Lager in den Bergen.« »Ja, Dr. Maxwell. Man sagte mir, daß Sie kommen würden. Das Codewort bitte.« Robert grinste. »Ich würde zu gern wissen, wer auf diese Idee gekommen ist… ›Jabba der Hutt frißt Visitors…‹« Sie lachte. »Das würde ich auch gerne wissen. Muß jemand in Robins Alter gewesen sein. Man mußte mir erst die Zusammenhänge erklären.« Mit ausdrucksloser Miene starrte Robin vor sich hin. Die wachhabende Frau sah sie prüfend an, richtete dann einen fragenden Blick auf Robert, der jedoch nur hilflos mit den Achseln zuckte. »Jetzt, da ich hier bin, würde ich gerne den für das Lager Verantwortlichen sprechen, um ihn zu fragen, auf welche Weise ich mich nützlich machen kann.«
»Haben Sie schon einmal getischlert?« »Ich bin sehr gut darin, mir auf den Daumen zu schlagen«, erwiderte Robert. »Wenden Sie sich an Juliet Parrish. Sie ist oben. Eine kleine Blonde. Geht mit einem Stock.« »Okay, bis später.« Er nickte Robin zu und ging die Treppe hoch. Oben angekommen, sah er eine auf einen Stock gestützte Frau in entgegengesetzter Richtung davongehen. »Juliet Parrish?« rief Maxwell zögernd. Sie drehte sich um. »Miss Parrish?« wiederholte er und stellte den Karton mit den Reagenzgläsern ab, den er unter dem Arm getragen hatte. »Robert Maxwell, Anthropologe. Meine Tochter Robin.« Die junge Frau lächelte Robin zu, und Robert war überrascht, wie jung sie war. Sie schien im selben Alter wie sein Assistent zu sein, etwa dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre. Sie trug kein Make-up, ein T-Shirt und einen braunen Pullover, und das blonde Haar hatte sie sich im Nacken zusammengesteckt. Die tiefen Schatten unter ihren blauen Augen zeugten von Schmerzen und Leid und ließen sie um Jahre älter erscheinen. »Schön, Sie bei uns zu haben, Mr. Maxwell, Robin«, sagte sie lächelnd. »Robert bitte. Mr. Maxwell ist mein Vater«, sagte Robert und blickte sich um. »Man sagte mir, daß Sie das Lager hier leiten.« Sie lachte. »Sagten sie das? Das zeigt, wie leicht die Leute hinters Licht zu führen sind. Aber ich versuche es. Kommen Sie, ich führe Sie herum und zeige Ihnen alles.« Sie folgten ihr durch die staubigen Räume der alten Kläranlage. Auf einigen der Mauern, von denen hier und dort der Putz bröckelte, bemerkte Maxwell ein mit roter Farbe aufgesprühtes »V«. Das Geräusch von Hämmern und Sägen drang an sein Ohr, und bald darauf trafen sie auf eine Gruppe
von Menschen, die damit beschäftigt war, die Löcher in den Wänden und im Boden auszubessern. Juliets Stimme übertönte den Lärm. »Wir versuchen, diesen Ort hier so herzurichten, daß wir all unsere Leute und die Einrichtung aus dem Lager in den Bergen unterbringen können. Wir versuchen, es uns hier einigermaßen bequem zu machen…« Sie trat einen Schritt zur Seite, um dem von der Decke, an der eine nackte Glühbirne baumelte, herunterrieselndem Mörtel auszuweichen. »Zumindest jedoch sicher.« Robert seufzte. »Ich glaube nicht, daß es überhaupt irgendwo noch einen sicheren Ort gibt.« »Da haben Sie recht«, pflichtete sie ihm bei. Eine Frau mit zerzausten braunen Haaren sah zu ihnen herein. »He, Julie! Wo ist der Wasserabsperrhahn?« Juliet machte eine weitausholende Handbewegung und sagte mit müder Stimme: »Ich weiß es nicht, Louise. Versuch es mal da drüben…« Sie zeigte ans andere Ende der Halle und wandte sich dann wieder den Maxwells zu. »Die Toiletten sind übrigens draußen hinter der Halle… Sie sind äußerst malerisch.« Sie lächelte gequält und strich sich mit der schmutzigen Hand eine Haarsträhne aus dem Auge. Robin verdrehte die Augen. »Das kann ich mir vorstellen.« Sie kamen an einem Raum vorbei, in dem ein Mikrocomputer und ein Funkgerät standen. »Das Radio des armen Mannes«, kommentierte Juliet. »Die Küche ist dort drüben. Wir versuchen, immer Vorräte für kleine Imbisse und auch richtige Mahlzeiten zu haben. Paß auf, Robin…« Das Mädchen war dem Luftschacht bedrohlich nahe gekommen. »Die Löcher…« »Ja, ich sehe sie«, sagte Robin. Ihrer Stimme war anzumerken, daß sie auch den Schmutz, die Spinnweben und die Kakerlaken bemerkt hatte. Juliet warf Robert einen fragenden Blick zu.
»Sie scheint nicht gerade begeistert darüber zu sein, daß sie hier ist.« Er nickte. »Ja, es ist ja auch nicht gerade ein Schloß, nicht wahr? Ich habe sie nur mitgebracht, weil ich befürchtete, sie könne oben im Lager in den Bergen verrückt werden.« »Armes Ding.« Juliet bedachte Robin, die gerade zögernd in die Küche spähte, mit einem mitleidigen Blick. »Es sind nicht viele Jugendliche in ihrem Alter hier.« Robert, der einen kurzen Blick ins Labor geworfen hatte, erklärte: »Ich sehe, Sie bekommen hier langsam alles unter Kontrolle. Oben im Lager sind nur noch wenige Geräte. Ich habe gesehen, daß Sie auch ein Elektronenmikroskop auftreiben konnten. Wie haben Sie das geschafft?« Juliet zuckte lächelnd die Achseln. »Wir mußten für alles, was wir haben… bezahlen. Auf die eine oder andere Weise.« Sie sah Maxwell an. »Wir können die komplizierten und schwer ersetzbaren Geräte nicht länger da oben lassen und müssen sie so schnell wie möglich hierherbringen. Jeden Tag habe ich Angst, daß die Visitors über das Lager fliegen und plötzlich merken, daß es kein Sommertummelplatz für die Sprößlinge reicher Leute mehr ist.« Sie lächelte verzagt. »Hierhin gehören übrigens die Chemikalien. Würde es Ihnen etwas ausmachen, sie hineinzubringen?« »Natürlich nicht«, antwortete Maxwell. »Ich erledige es sofort.« Den Karton mit den Chemikalien in den Armen haltend, folgte er Juliet ins Labor. »Stellen Sie sie bitte dort drüben ab.« Sie deutete auf einen alten, verschrammten Labortisch, der in der Nähe des Waschbeckens stand. Zwei Männer waren dabei, das Labor aufzuräumen. Einer von ihnen, ein junger Farbiger, blickte Juliet fragend an. »Wo, sagtest du, sollen wir den Bunsenbrenner aufstellen, Julie?«
»Dort drüben, Elias.« Sie zeigte auf die Ecke des Tisches. »Ist es dir gelungen, ein paar Gasflaschen aufzutreiben?« »Kein Problem.« Er deutete auf eine in der Ecke stehende Flasche. Der andere Mann, ein Weißer mit lockigem braunen Haar und Brille, blickte auf. »He, Boss! Wo sollten wir den Sterilisator aufstellen?« »Da drüben, unter den Vitrinen.« Sie wandte sich wieder Maxwell zu. »Robert Maxwell, ich möchte Sie mit Elias und Brad bekannt machen. Dr. Maxwell ist Anthropologe.« Die Männer nickten sich freundlich zu. Maxwell blickte sich im Labor um und stellte erfreut fest, daß es bei weitem der sauberste Raum war, den er bisher gesehen hatte. Juliet Parrish hatte offensichtlich strenge Prioritäten gesetzt. Louise betrat den Raum, und Spinnweben überzogen ihr Haar. »Julie, ich kann den Wasserabsperrhahn nicht finden.« Juliet blickte Maxwell hilfesuchend an. »Ich kümmere mich darum, Louise«, sagte sie. Draußen vor dem Labor sah Juliet Robin Maxwell in einer Ecke stehen und gedankenverloren in Richtung eines der mit Brettern verschalten Fenster emporsehen. Durch einen Ritz fiel blasses Sonnenlicht. Irgend etwas in Robins Gesicht erinnerte Juliet an Algernons sehnsüchtige Miene, die er kurz vor den Mahlzeiten zur Schau trug. Sie biß sich auf die Lippe. Sie hatte es die ganze Zeit über bewußt vermieden, an die Universität, an Dr. Metz, an Ruth… oder Ben… oder Denny zu denken. Sie versuchte, den ihr im Hals sitzenden Kloß herunterzuschlucken, als sie sich auf die Suche nach einem Schraubenschlüssel machte. Dann ging sie in den Vorratsraum, wo sie einige Rohre gesehen hatte. Mit ziemlicher Sicherheit würde sie dort die Warmwasserleitung und den Absperrhahn finden. Sie begann, den Absperrhahn mit dem Schraubenschlüssel anzuziehen, als plötzlich aus dem über ihr verlaufenden Rohr
ein Strahl rostroten Wassers spritzte. Der Leitungsdruck hatte offensichtlich einen uralten Siphon platzen lassen. Juliet keuchte und schluckte würgend das schmutzige Wasser, fühlte es über ihr Haar, ihre Kleider laufen – wenn sie das hier erledigt hatte, würde sie unbedingt einmal wieder baden müssen. Und das, obgleich ihre Wasservorräte derart begrenzt waren! Erschöpft und frustriert setzte sie den Schraubenschlüssel wieder an den Absperrhahn an und drehte ihn mit harten, wütenden Bewegungen; doch er war naß vom herabtropfenden Wasser. Sie rutschte mit der Hand ab und schlug dabei so hart mit dem Knöchel gegen das Werkzeug, daß sie Sterne zu sehen glaubte. Wütend schluchzte sie auf und versuchte es erneut – mit dem Erfolg, daß sie sich an dem verdammten Ding auch noch die Haut des verletzten Knöchels aufriß! Juliet schrie auf, schleuderte den Schraubenschlüssel zu Boden und hielt ihre schmerzende Hand. »Julie, Liebes… bist du in Ordnung?« Es war Ruby Engels, die den Kopf zur Tür hereinsteckte. Als sie Juliet in Tränen der Wut aufgelöst sah, kam sie herein und zog die Tür hinter sich zu. »Ich bin schon in Ordnung, Ruby«, sagte Juliet und zeigte kopfschüttelnd auf das aus der Leitung sprudelnde Wasser. »Natürlich bist du in Ordnung, Julie«, sagte Ruby und legte den Arm um Juliets Schultern. »Aber mit deiner verletzten Hüfte solltest du so etwas nicht machen! Ich werde jemand holen, der dir hilft.« Beim Klang ihrer liebevoll-besorgten Stimme verlor Juliet endgültig die Fassung. In Tränen aufgelöst, warf sie sich der alten Dame in die Arme. »Oh, Ruby! Ich werde mit all dem nicht mehr fertig! Wann immer etwas erledigt werden muß, ist niemand da, der es machen kann oder will. Sieh mich doch an!« Sie schob das nasse Haar aus dem Gesicht. »Ich werde baden müssen…« Sie
wrang den Saum ihres Pullovers aus. »Ich bin Wissenschaftler, Ruby! Arzt – werde eines Tages vielleicht in der biochemischen Forschung tätig sein! Kein Installateur! Oder – oder so ein Rebellenführer!« Sie schniefte und wischte mit dem nassen Ärmel über ihre Nase. »Ihr alle seht auf mich, als müßte ich immer wissen, was zu tun ist, aber…« »Ja, ich weiß.« Ruby zog sie enger an sich und strich ihr tröstend über den Rücken. »Du hast ebensoviel Angst und fühlst dich genauso verloren wie wir alle.« Juliet schluchzte auf, begann sich jedoch langsam zu beruhigen. »Es ist noch schlimmer.« Sanft strich Ruby über das nasse Haar. »Ich weiß, ich weiß, diese Zeit erfordert uns das Letzte ab. Aber ich will dir sagen, warum wir alle dir vertrauen. Du bist von Natur aus für diese Aufgabe befähigt, und wir haben das erkannt, auch wenn du selbst es vielleicht nicht weißt.« »Ich fühle mich aber gar nicht so«, sagte Juliet und hob den Kopf. »Das brauchst du auch nicht. Du brauchst nichts anderes zu tun, als deinen Instinkten und deinem scharfen Verstand zu vertrauen. Du mußt ebensoviel Vertrauen in dich haben wie wir.« Juliet seufzte auf. »Und wenn ich dieses Selbstvertrauen nicht aufbringen kann?« Ruby zuckte die Achseln. »Dann tu wenigstens so, als ob du es hättest. Wir werden den Unterschied nicht bemerken.« Juliet begann zu lachen, zum ersten Mal nach Bens Tod, und Ruby grinste sie zufrieden an. Später am Abend hörte sie Elias triumphierende Stimme: »Julie! He, Julie! Hier ist eine Sonderlieferung! Ein Versuchskaninchen!« Auf ihren Stock gestützt, humpelte Juliet aus dem winzigen Zimmer, das ihr als Büro und Schlafzimmer zugleich diente,
und sah Elias in Begleitung seiner Freunde, den Angels, durch die Halle auf sich zukommen. Sie schleppten ein langes, unförmiges rotes Bündel mit sich – und als Juliet näher kam, erkannte sie, daß es ein Visitor-Soldat war, dem man einen Mülleimer über den Kopf gestülpt hatte. Brad und Robert Maxwell gesellten sich neugierig zu ihnen. Als sie den Fremden in die Höhe zerrten, trat er mit den Stiefeln um sich und riß sich den Mülleimer vom Kopf. »Paß auf seine Waffe auf!« schrie Juliet, und Brad griff hastig nach dem zu Boden gefallenen Strahler des Visitors. Dieser fuhr sich mit der einen Hand durch das dichte und zerzauste braune Haar, blickte sich prüfend um und sah die vielen auf ihn gerichteten Waffen. Plötzlich hielt Juliet überrascht den Atem an – der Fremdling war kein Visitor, sondern Mike Donovan, der Kameramann! »Ihr verdammten Mistkerle!« schimpfte Donovan und ließ die Hand sinken. Als er die roten Flecken darauf sah, verzog er verächtlich den Mund. »Setzt ihr jetzt schon Straßenbanden ein?« »Er klingt nicht so, als wäre er einer von ihnen«, stellte Robert Maxwell fest, der noch immer drohend einen Baseballschläger in der Hand hielt. »Das ist er auch nicht«, erklärte Juliet. »Aber er könnte ein Sympathisant sein. Wo hast du ihn gefunden, Elias?« »Ein paar Häuserblocks entfernt von hier. Er lief einsam und allein durch die Straßen. Also beschlossen ich und die Angels, ihn deinem Labor als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen. Man sieht sie nur selten im Freien, und dann höchstens zu zweit.« Juliets Worte waren offenbar erst jetzt in Donovans Bewußtsein gedrungen. Er wirbelte so schnell herum, daß er beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. »Sympathisant? Wie kommen Sie auf eine so blödsinnige Idee?«
Mehr an die Umstehenden als an Donovan selbst gewandt, erklärte Juliet: »Er ist ein Bekannter von Kristine Walsh. Wir müssen vorsichtig sein. Es könnte sich um eine Falle handeln.« Sie drehte sich wieder zu dem noch immer benommen dastehenden Donovan um, der sich etwas gefaßt zu haben schien. »Ich brauche mir so etwas nicht sagen zu lassen! Wer ist der Verantwortliche hier im Lager?« Brad, der noch immer sein Gewehr auf Donovans Brust gerichtet hielt, hob die Schultern. »Man könnte sagen, sie ist es.« Er nickte in Richtung Juliets, die in ihrem verwaschenen rosafarbenen Sweatshirt und mit dem noch immer zerzausten Haar jetzt fast noch jünger wirkte als sonst. »Was sagen Sie da?« bellte Donovan mit kurzem, ungläubigen Auflachen. »Dieses Kind?« Maxwell nickte Juliet grinsend zu. »Ein sehr hübsches Kind, würde ich sagen.« Sie erwiderte sein Grinsen mit einem Lächeln, ehe sie sich wieder an den verblüfften Donovan wandte. »Möchten Sie, daß wir Sie jetzt verbinden, Mr. Donovan, oder wollen Sie verbluten?« Donovan wischte die Reste Kaffeesatz von den schmutzigen Schultern der Visitor-Uniform und folgte ihr ins Labor. Während sie sich die Hände wusch, deutete sie auf einen Stuhl, und Donovan setzte sich. Als sie mit einem Desinfektionsmittel auf ihn zuhumpelte, musterte er sie aufmerksam. »Brauchen Sie den Stock?« »Ja«, antwortete sie, strich mit schnellen, fachkundigen Bewegungen sein Haar auseinander und untersuchte die Wunde. »Sie sind auch verletzt worden?« »Ja.« Sie träufelte das Desinfektionsmittel auf einen Mulltupfer. »Wie sind Sie zu dieser Uniform gekommen?«
»Die Visitors haben sie mir verkauft.« Sie betupfte die Wunde. »Au! Das haben Sie mit Absicht getan!« »Natürlich nicht«, erwiderte Juliet kühl und betupfte wieder die Wunde. »Halten Sie still!« »Sind Sie Arzt?« »Mehr oder weniger«, antwortete sie. Als sie wieder die Wunde berührte und Donovan vor Schmerz zusammenzuckte, hielt sie ihn an den Haaren fest. »Wie angenehm – aua! Haben Sie kein Novokain?« »Doch, aber ich muß sparsam damit umgehen. Wenn Sie stillhalten würden…« Juliet betrachtete prüfend die Schwellung an seinem Kopf, betupfte dann noch einmal die Wunde. »Wo sind Sie zu der Uniform gekommen?« »Auf dem Mutterschiff. Mein Partner und ich – oh, verdammt! Tony und ich, wir schlichen uns an Bord, aber man entdeckte und überwältigte uns. Als ich wieder zu mir kam, halfen mir zwei Visitors zu fliehen. Martin, den einen von ihnen, kannte ich bereits von einer früheren Gelegenheit her; der andere war ein Mädchen namens Barbara. Sie gaben mir die Uniform und sagten mir, wann die nächste Fähre starten würde. Ich ging an Bord und besorgte mir, als ich wieder unten war, einen LKW, mit dem ich den Zaun durchbrach. Eine Zeitlang war alles ziemlich mulmig, doch schließlich gelang es mir, meine Ausrüstung draußen vor der Stadt zu verstecken. Dann machte ich mich auf die Suche nach einem der Hauptquartiere, von denen man mir unten in der Stadt erzählt hatte.« »In dieser Uniform? Das war sehr dumm, Mr. Donovan. Elias und die Angels hätten Sie vielleicht getötet, wären sie in einer anderen Stimmung gewesen.« Nachdenklich berührte sie ein weiteres Mal die Wunde. »Für mich riecht Ihre Flucht sehr nach einer Falle.« »Das glaube ich nicht – aua! Wann sind Sie endlich fertig?«
»Warum glauben Sie das nicht?« »Weil… sie so verdammt aufrichtig klangen. Sie sprachen von einer Art organisierter fünfter Kolonne unter den Visitors… sie sagten, daß sie noch nicht sehr zahlreich, aber daß nicht alle mit den Plänen einverstanden seien, die ihre Anführer mit uns hätten – au!« Donovan wandte sich ab. »Jetzt reicht es! Verdammt, Sie quälen mich ebensosehr, wie Diana die Menschen an Bord des Mutterschiffes quält!« »Tut sie das?« Juliet schien nicht sonderlich überrascht. »Ja, es scheint eine Art Nervenkitzel für sie zu sein.« »Sich an Bord des Mutterschiffes zu schleichen – das war sicher keine einfache Angelegenheit«, meinte Juliet. »Warum haben Sie das getan?« »Ich habe mehr als genug Gründe dafür«, sagte er und sah Juliet an. »Warum?« wiederholte sie, sanft und beharrlich. Donovan stieß einen unterdrückten Fluch aus. »Weil mein Sohn Sean an Bord dieses Schiffes ist, ebenso wie meine ExFrau und mein Partner, und Gott allein weiß, was mit ihnen geschieht! Oder mit den anderen Leuten aus San Pedro – sie haben die ganze verdammte Stadt entvölkert und alle Leute an Bord des Mutterschiffes von Los Angeles gebracht.« »Ich glaube, ich sollte Ihnen vertrauen«, entgegnete Juliet ruhig und sah ihn an. »Sie klingen so verdammt aufrichtig…« »Jetzt reicht’s!« Mit einem bitteren, abgehackten Lachen sprang Mike auf. »Ich gehe!« Er drehte sich um und wollte zur Tür hinausgehen, als ihm Brad entgegentrat und ostentativ den Gewehrhahn spannte. Die Luft knisterte vor Spannung. Einen Augenblick lang zögerte Mike Donovan, dann bückte er sich, bereit zuzuschlagen. In diesem Augenblick trat Juliet hinter ihn. »Ich würde das nicht
tun, Mr. Donovan. Wir sind ziemlich knapp mit Verbandszeug.« Sie hielt inne und wartete. Als Mike sich schließlich wieder aufrichtete, fügte sie hinzu: »Sie müssen uns verstehen, Mr. Donovan. Sie sind als einer der ersten Menschen an Bord eines Mutterschiffes gewesen. Sie haben eine ganze Zeit lang sehr eng mit den Visitors zusammengearbeitet, und ein paar Abende zuvor trafen Sie Kristine Walsh…« Verblüfft drehte Mike sich um. Sie nickte. »Und jetzt tauchen Sie hier auf, nachdem Sie von einem Ort geflohen sind, von dem zu fliehen nie zuvor einem Menschen gelungen ist… und tragen diese…« »Ja, zum Teufel! Ich weiß, was ich anhabe! Woher wußten Sie das von Kristine?« »Weil ich dort war. Draußen. Ich habe das Haus beobachtet.« »Hören Sie zu, meine Teuerste, wenn Sie über Fallen reden wollen…« Sie nickte. »Ja, ich habe alles gesehen.« »Warum zum Teufel haben Sie dann nicht geschrien und mich gewarnt?« »Ich war nicht sicher, wer wem eine Falle stellte – auf welcher Seite Sie wirklich stehen.« Mike sah sie sehr ernst an. »Ich stehe auf der richtigen Seite. Glauben Sie mir das, Teuerste.« Eine lange Pause trat ein, und nach einer Weile nickte Juliet. »Nun, warum erzählen Sie uns dann nicht alles, was Sie wissen?« Die Gruppe versammelte sich um ihn. Donovan sah sie an und blickte in die noch immer von Mißtrauen geprägten Gesichter. »Hat irgend jemand von Ihnen an jenem Abend, als die Visitors den Ausnahmezustand erklärten, die unterbrochene Fernsehsendung gesehen?« Es folgte allgemeines zustimmendes Gemurmel.
»Nun, ich nehme an, daß ich indirekt der Grund für ihr Vorgehen bin… obwohl ich überzeugt davon bin, daß sie es ohnehin getan hätten. An jenem Abend war ich an Bord des Mutterschiffs. Ich filmte Diana und Steven, einen ihrer Leutnants, wie sie Tiere von der Größe eines Meerschweinchens im Ganzen herunterschluckten. Sie haben nichts Menschliches an sich. Sie sind Reptilien, die klugerweise Masken tragen, um ihre fremden Gesichter zu verbergen. Bis heute abend glaubte ich, daß sie auch innerlich so häßlich… so böse seien wie ihr Äußeres. Heute abend jedoch riskierten zwei von ihnen, Martin und Barbara, ihr Leben, um mich aus dem Mutterschiff herauszuschmuggeln und hierher zurückzubringen… Es sieht also wirklich so aus, als seien sie nicht alle so schlecht. Das war’s in Kurzfassung.« Nachdem Donovan seinen Bericht beendet hatte, kam allgemeines, aufgeregtes Gemurmel auf. Einige schienen ihm zu glauben, andere blieben skeptisch. »Reptilien?« fragte Elias aufgeregt. »Sind Sie sicher, Mann? Wie sehen sie aus?« Donovan verzog das Gesicht. »Ich bin kein Maler.« »Aber Roger ist einer!« Eine junge Farbige schubste einen dunkelhaarigen Mann nach vorne. »Fang an, Rog.« Er ergriff ein Stück Zeichenkohle, das ihm irgend jemand reichte, und er begann, gemäß Donovans Beschreibung auf der Betonmauer ein Bild anzufertigen. Mike sah voller Bewunderung, gleichzeitig jedoch auch innerlich erschauernd, zu, wie die reptilienhaften Züge, die er nun bereits zweimal gesehen hatte (das zweite Mal vor seiner Gefangennahme in Richland), langsam Form annahmen. Während Roger zeichnete, gab Mike eine ausführliche Zusammenfassung seiner Erlebnisse mit den Visitors. »Wie ist das?« fragte Roger und trat einen Schritt zurück.
»Sehr gut.« Donovan nickte anerkennend. »Wenn ich meinen Film hier hätte, könnten wir jede Einzelheit vergleichen, aber Ihre Zeichnung kommt der Wirklichkeit sehr nahe.« »Wo ist dieser Film, Mr. Donovan?« fragte Juliet. »Wir könnten ihn für unsere Studien gebrauchen. Ich glaube, wir brauchen unbedingt einen Herpetologen. Kennt einer von euch einen?« »Einen Herpetologen!« Elias rollte in gespieltem Entsetzen die Augen. »Bist du etwa krank, Julie?« Alles lachte. Dann erklärte Robert Maxwell, daß er als Nebenfach Altertumskunde studiert habe, also auch über Kenntnisse über die Ursprünge und Geschichte der Tiere verfüge. »Aber in Raumschiffen herumfliegende Reptilien?« gab Brad zu bedenken. »Das ist verrückt! Echsen sind ausgesprochen dumme Tiere. Ich hatte einmal ein Chamäleon als Haustier – verglichen mit ihnen sind Katzen die reinsten Genies.« »Katzen sind klug!« brauste Louise auf, die kurz vor ihrem Umzug in ihr jetziges Lager eine streunende Katze aufgenommen hatte. »Es ist ganz und gar nicht verrückt, Brad«, meinte Maxwell. »Es hätte ebensogut hier auf der Erde geschehen können.« »Was?« fragte Donovan. »Bis vor etwa fünfundsechzig Millionen Jahren – dem Ende der Kreidezeit – wurde dieser Planet von Reptilien beherrscht. Im Laufe von Millionen Jahren haben sie sich entwickelt und verändert. Wer kann sagen, was aus ihnen geworden wäre? Doch dann – und dafür gibt es geologische Beweise – fiel ein Meteor auf die Erde, ein sehr großer und massereicher Meteor, der vermutlich irgendwo ins Meer stürzte. Sein Einschlag bewirkte eine Klimaveränderung; es gab keine ausreichenden Nahrungsmöglichkeiten mehr. Ursache dafür waren zuerst die steigenden Temperaturen und dann ein Staubmantel, der einen
Großteil des Sonnenlichts absorbierte. Niemand weiß genau, warum die Sonnenstrahlen nicht mehr bis zur Erde gelangten. Mit Sicherheit jedoch trug der Einschlag des Meteors dazu bei, den größten Teil der Reptilien auszurotten, wodurch bei den damaligen Säugetieren ein Entwicklungsschub einsetzte.« »Einen Augenblick bitte, Doc.« Elias schüttelte den Kopf. »Wie zum Teufel können Sie all das wissen, wenn es schon vor so langer Zeit geschehen ist?« »Indium«, sagte Juliet. »Ganz richtig, Iridium. Das ist eine natürliche Substanz der Asteroiden. Hier auf der Erde ist sie vergleichsweise selten. Ablagerungen in den Bodenschichten weisen auf deutliche Zunahme an Iridium vor fünfundsechzig Millionen Jahren hin. Der Einschlag des Meteors wird von den Wissenschaftlern inzwischen als Tatsache angesehen – doch sie streiten sich noch immer darüber, in welcher Weise er seinerzeit die Ökologie beeinflußte…« Wider Willen war Elias beeindruckt. »Sie wollen damit also sagen, daß der Meteor die Temperaturen auf der Erde in die Höhe trieb und die Reptilien dadurch nicht mehr lebensfähig waren?« »Die hier auf der Erde lebenden Reptilien sind Kaltblüter, Elias«, erklärte Juliet. »Ihr Stoffwechsel kann sich starken Temperaturschwankungen nicht so gut anpassen wie der von Säugetieren.« »Aha!« Elias schnippte mit den Fingern. »Dann brauchen wir doch nur alle unsere Gartengrills auf einmal anzuheizen, und zack! – haben wir gebackene Leguane!« Alle lachten, doch Maxwell schüttelte ebenfalls grinsend den Kopf. »Ich wünschte, es wäre so. Aber ich fürchte, so einfach ist es leider nicht. Extreme Hitze würde sie wahrscheinlich vertreiben – nur müßten wir dann unseren ganzen Planeten so stark erhitzen, daß wir wahrscheinlich selbst verbrennen
würden. Im übrigen käme die schnelle Erzeugung so starker Hitze einer nuklearen Massenvernichtung gleich.« »Also vergessen wir das«, meinte Brad. »Es hieße, sich sozusagen ins eigene Fleisch schneiden, wenn wir die menschliche Rasse vernichteten, nur um die Visitors loszuwerden.« »Und wie ist es mit Kälte?« fragte Louise. »Die hier auf der Erde lebenden Reptilien sind bei Kälte nicht lebensfähig.« »Diese Burschen bestimmt«, warf Caleb Taylor ein. »Derjenige, der mir das Leben rettete, konnte 200 Grad minus aushalten.« »Vielleicht dienen diese falschen Häute als Isolation«, vermutete Donovan. »Ich schwitze übrigens unter dieser Uniform. Der Stoff scheint stark isolierend zu sein. Vielleicht ist das der Grund, warum er die Kälte aushielt.« Er überlegte einen Augenblick. »Ihre Mutterschiffe sind nur sehr schwach beleuchtet – vielleicht würden sie bei grellem Licht erblinden.« Juliet nickte. »Das könnte eine Möglichkeit sein – zumindest ist es bis jetzt der beste Vorschlag. Er könnte zwar Teil unserer Strategie werden, doch wir brauchen unbedingt effektivere und länger wirksame Mittel.« Allgemeines zustimmendes Gemurmel kam auf. Juliet stützte das Kinn in die Hand und überlegte laut weiter. »Mr. Donovan hat uns die Nahrungsmittel beschrieben, die sie zu sich nehmen. Sie scheinen das gleiche zu essen wie die uns geläufigen Reptilien. Ich überlege, ob es eine Möglichkeit gibt, an ihre wichtigsten Nahrungsmittel heranzukommen… sie irgendwie zu vergiften. Ob wir herausfinden können, wo sie sie aufbewahren?« »Hm«, sagte Robert Maxwell. »Aber wir müßten ein Gift entwickeln, das unsere Tiere, nicht tötet, denn Reptilien bevorzugen lebende – oder gerade getötete Tiere.«
»Was ist mit dem Gift, das sie versprühen?« fragte Donovan. »Ich dachte immer, Schlangen könnten nur durch einen Biß ihr Gift weitergeben – diese Burschen besitzen schließlich keine Giftzähne.« »Bei den hier auf der Erde lebenden Reptilien ist es durchaus üblich, ihr Gift zu verspritzen«, antwortete Maxwell. »Und es wirkt tödlich«, sagte Mike, der daran denken mußte, auf welche Weise Tony erblindet war. »Können Sie ein Gegengift herstellen?« Juliet zuckte die Achseln. »Schon möglich, Verfahren zur Entwicklung von Antivenin sind nichts Außergewöhnliches – aber wir benötigen auf jeden Fall eine gewisse Menge ihres eigenen Giftes.« »Gut«, entgegnete Robert sarkastisch. »Setzen wir es mit auf unsere Einkaufsliste. Wir brauchen einen dieser Burschen, damit Julie ihn untersuchen kann.« »Hm«, machte Juliet. Sie wechselte einen schnellen Blick mit Ruby, dann strafften sich ihre Schultern. »Wißt ihr, was wir tun müssen? Einen umfassenden Plan für unseren Widerstand aufstellen.« »Gute Idee«, pflichtete Robert ihr bei. »Was haltet ihr davon?« Sie blickte auf ihre Hände herab. »Zuerst einmal müssen wir auf jede nur mögliche Art und Weise ihre Aktivitäten unterwandern. Ebenso durch direkte Maßnahmen als auch durch passiven Widerstand… die Arbeiten in den Fabriken verlangsamen und solche Sachen. Was unsere direkten Aktionen anbelangt… nun, die Visitors haben sicher keinen unbegrenzten Vorrat an Fahrzeugen. Diese Dinger stehen an jeder Straßenecke unbewacht herum… manchmal stundenlang. Wir sollten in der Lage sein, sie auf irgendeine Weise zu vernichten.« Allgemeines zustimmendes Gemurmel erfüllte den Raum.
»Als nächstes müßten wir nach meiner Meinung herausfinden, welches ihre geheimen Ziele sind«, fuhr Juliet fort. »Geheime Ziele?« fragte Brad. »Gewiß«, erwiderte Donovan. »Bis jetzt haben sie in allem gelogen. Die angeblich lebensnotwendigen Chemikalien pumpen sie in die Atmosphäre – zumindest hier in Los Angeles.« »Und mit ihren Konvertierungsverfahren haben sie an unzähligen Leuten Gehirnwäschen vorgenommen«, fügte Juliet hinzu. »Wir müssen auch darüber mehr in Erfahrung bringen. Und vor allem, wen sie auf diese Weise auf ihre Seite gezogen haben.« Donovan hob die Hand. »Als ich dort oben gefangengenommen wurde, befahl Diana, mich in die ›letzte Zone‹, wie sie es nannte, zu bringen – was immer das auch sein mag. Um dem zuvorzukommen, fragte Martin, der Visitor, der mir zur Flucht verholfen hat, warum sie mich nicht konvertieren wolle. Er ließ es wie einen Vorwurf klingen, woraufhin Diana zunächst erklärte, es würde zu lange dauern, mich umzuwandeln…« Donovan blickte ein wenig einfältig drein. »Man scheint mich allenthalben für stur und ziemlich dickköpfig zu halten.« »Oh, das kann ich mir ganz und gar nicht vorstellen«, meinte Juliet augenzwinkernd, und alle brachen in Gelächter aus. »Nun, wie auch immer… nachdem Martin Diana den Fehdehandschuh vor die Füße geworfen hatte, änderte sie ihre Absicht und befahl, mich einzusperren – auf diese Weise war er später dann auch in der Lage, mich da herauszubringen. Der Erfolg ihrer Konvertierungsverfahren hängt also ganz offensichtlich von der einzelnen Person ab. Martin sagte mir, daß Diana – wenn es ihr um Informationen geht – viel gewöhnlichere Methoden anwendet… wie Folter zum Beispiel.
So banden sie so einen armen, kleinen Kerl auf einem Stuhl fest und bearbeiteten ihn mit einer Lötlampe…« Unterdrückte Wutausrufe wurden laut, und Donovan zuckte die Achseln. »Ich meine, das oberste Gebot für jeden lautet: Vermeide es, ihnen in die Hände zu fallen. Wir sollten auch in Erwägung ziehen, hier auf der Erde Kontakt zu anderen Visitors aufzunehmen, die, ebenso wie Martin, die Pläne ihrer Anführer – welcher Art diese auch immer sein mögen – ablehnen.« »Ja«, pflichtete Robert ihm bei. »Und der dritte Punkt in unserem Angriffsplan sollte ihre körperliche Analyse sein. Und das bringt uns wieder zu der Tatsache zurück, daß wir eine Versuchsperson brauchen.« »Wir müssen auch die Wahrheit über sie verbreiten«, fügte Juliet hinzu. »Es muß bekannt werden, daß die Visitors Reptilien sind. Die meisten Menschen fühlen sich ohnehin von Kröten und Schlangen abgestoßen. So unfair das den Geschöpfen hier auf der Erde gegenüber sein mag, so kann dieser Umstand nur von Nutzen für uns sein. Und dafür brauchen wir Mr. Donovans Film.« »Einverstanden«, sagte Mike. Zum ersten Mal meldete sich Ruby Engels zu Wort. »Wir sollten auch bekanntmachen, daß sie die Bevölkerung ganzer Städte abholen und die Menschen foltern. Viele Leute glauben immer noch, daß ihnen keine Gefahr droht, wenn sie keine Wissenschaftler sind.« »Ja«, meinte Elias, und ein schmerzlicher Ausdruck huschte über sein dunkles Gesicht, »diese Ansicht ist weit verbreitet. Wir müssen dafür sorgen, daß die Leute die Wahrheit erfahren.« »Und schließlich, und das ist das Allerwichtigste, müssen wir Kontakt zu anderen Gruppen in anderen Städten – überall auf der Welt – aufnehmen«, erklärte Juliet.
»Ganz recht«, stimmte Donovan zu. »Es gibt sie mit Sicherheit. Doch wir müssen die üblichen Kommunikationsmittel meiden – daß sie die amerikanische Telefon- und Telegraphengesellschaft kontrollieren, ist ja bekannt.« »Genau. Und wenn wir den Kontakt untereinander erst einmal hergestellt haben, müssen wir uns weltweit organisieren, um uns die Visitors vom Hals zu schaffen. Das ist unsere einzige Chance.« Alle nickten und murmelten zustimmend. »Zunächst werden wir also einen Angriffsplan für Los Angeles entwickeln«, sagte Juliet. »Und morgen wird unsere erste offene Aktion stattfinden.«
16. Kapitel
»Was hast du für morgen geplant, Julie?« fragte Caleb Taylor. Juliet seufzte. »Wir brauchen Waffen. Sosehr mir die Vorstellung von Gewaltanwendung auch widerstrebt – Mr. Donovans Bericht über San Pedro hat mich überzeugt, daß wir ohne Waffen nichts gegen die Visitors ausrichten können. Unseren Informationen zufolge haben sie hier in der Stadt ein Waffenlager errichtet, aus dem sie ihre Straßensperren und die Gruppen der Sternenfreunde versorgen. Wie wär’s damit?« Niemand sagte etwas, doch alle nickten. Ein beklommener Ausdruck lag auf den Gesichtern der Widerständler. Bei der Vorstellung, gewaltsam gegen die Visitor-Soldaten, die er gesehen hatte, vorzugehen, zog sich Robert Maxwells Magen krampfhaft zusammen – er hatte keinerlei militärische Erfahrung. Für Korea war er zu jung gewesen, für Vietnam zu alt. Doch er riß sich zusammen und beschloß, Robin heute abend zurück zu ihrer Mutter in das Lager in den Bergen zu schicken, wo sie so lange bleiben sollte, bis der Angriff vorüber war. Sein Blick wanderte über die Gruppe. Seine Tochter gehörte nicht dazu… Das überraschte ihn nicht sonderlich, doch ihm wurde plötzlich bewußt, daß er sie nach Donovans Auftauchen nicht mehr gesehen hatte, und das war jetzt schon mehrere Stunden her. Er verließ die Gruppe und durchsuchte hastig das Lager. Keine Spur von Robin. Er ging nach draußen und blickte sich suchend um. Dahinjagende Wolken verdeckten von Zeit zu Zeit die Sichel des Mondes, doch Maxwell konnte genug sehen, um feststellen
zu können, daß Robin nicht im Kanal war. Er ging weiter um das Gebäude herum und rief ihren Namen. Winzige Tierchen im Unterholz wurden durch seine leisen Rufe aufgescheucht, sonst jedoch war nichts zu hören. »Binna? Ich bin’s, Vati.« In der Ferne hörte er das Schrillen einer Polizeisirene. Maxwells Herz pochte ihm bis zum Halse empor, und seine Nervosität wuchs. Er blickte auf die Uhr – halb neun. Also bereits Sperrstunde. Falls Robin irgendwo draußen auf einer der Straßen war, würde sie eine leichte Beute für die nächtlichen Visitor-Patrouillen sein. Er hastete durch eine Öffnung in dem ramponierten Eisenzaun. Als er die Straße erreichte, zog er den Kopf ein und ging weiter, wobei er wie ein Betrunkener schwankte. Das würde sein Ausgehen nach Anbruch der Sperrstunde rechtfertigen. Er hielt den Kopf gesenkt, doch seinen Blicken entging nichts. Die Angst saß ihm im Nacken und schien ihm wie eine Wolke zu folgen – wie jenem kleinen Jungen mit dem unaussprechlichen Namen aus dem Lil Abner-Komikstreifen. Jedesmal, wenn er eine rote Uniform erblickte, fürchtete er, eine Gestalt in weißer Bluse und grauen Jeans neben ihr zu entdecken. Nach beinahe einer Stunde hatte er noch immer keine Spur von Robin entdeckt. Er dachte daran zurückzugehen. Die Entschuldigung, die er sich zurechtgelegt hatte, war jetzt schon sehr durchsichtig. Es war einfach zu spät geworden. Vielleicht konnte Juliet Elias und die Angles auf die Suche nach ihr schicken… Er biß sich auf die Lippe. Diese Burschen aus der Angles-Bande hatten ganz schön hartgesotten ausgesehen… Mein Gott, was soll ich nur tun? fragte er sich. Schließlich beschloß er, nach der nächsten Ecke zurückzugehen.
Er bog um die Ecke und sah sich einem Patrouillenfahrzeug gegenüber. Er blieb stehen, drehte sich um und wollte zurückweichen, als er eine harte, nachhallende Stimme hörte: »Stehenbleiben! Sie brechen das Ausgangsverbot – zeigen Sie mir Ihre Papiere!« Verdammt, verdammt! Maxwell blieb wie angewurzelt stehen, obwohl er aus lauter Angst am liebsten davongerannt wäre. »An die Wand!« Mit den Bewegungen eines uralten Mannes trat Robert auf die Hausmauer zu. »Tut mir leid«, sagte er mit dem Versuch zu lallen. »Habe mit… einer Freundin etwas getrunken. Sie wissen schon… wie das so ist… man vergißt die Zeit… tut mir leid… meine Frau wird toben…« Er hörte, wie sich ihm jemand von hinten näherte, stellte gleichzeitig fest, daß der erste Visitor seinen Posten nicht verlassen hatte – es mußten also zwei sein. Grob packte man seine Hände und preßte sie an die Wand. Dann wurden nacheinander seine Schenkel angehoben, so daß er wie ein aufgespießtes Huhn dastand in eben der Position, die ihm von dramatischen Fernsehkrimis her so vertraut war. Doch erst jetzt verstand er wirklich den Grund dafür – da sein ganzes Gewicht auf seinen Händen und Zehen ruhte, war es ihm unmöglich, sich ohne weiteres zu bewegen. Um sich zu befreien und davonzulaufen, mußte er zwei Bewegungen statt einer ausführen. Hände glitten über seinen Körper, griffen hart in seine Taschen, unter die Arme, in die Seiten und schließlich an die Schenkel. »Er ist unbewaffnet«, hörte er die Stimme des zweiten Visitors. Der Soldat nahm Roberts Brieftasche. »Sie können sich jetzt umdrehen.« Maxwell kam der Aufforderung nach. Er hatte solch entsetzliche Angst, daß er fürchtete, die Haltung zu verlieren –
sein Magen schien sich umzudrehen, und er spürte das plötzliche dringende Bedürfnis, Wasser zu lassen. Er atmete tief aus und ein und musterte das Gesicht des Mannes, der seine Brieftasche durchsah. Es war ein Schwarzer, bzw. – korrigierte er sich selbst, an Donovans Worte denkend – er trug die Maske eines Schwarzen im Alter von etwa vierzig Jahren. Maxwell stellte sich plötzlich die Reptilienfratze vor, die sich unter der zur Schau getragenen Maske befand. Er mußte an lange, hervorzuckende Zungen denken, an das Gift, das dieser grausame Mund versprühen konnte, und sein Magen begann wieder verrückt zu spielen. Der Visitor blickte von Roberts Fahrerlaubnis auf. »Schon wieder ein Maxwell? Ist das nicht interessant?« Robert starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Schon wieder ein Maxwell? Was wollen Sie damit sagen?« Doch er wußte es bereits, und sein Herz wurde schwer. »Nun, am späten Nachmittag haben wir eine junge Dame aufgelesen, die die gleiche Adresse hat wie Sie. Sie hieß Robin. Ihre Tochter?« Die Stimme des Visitors klang beinahe mitleidig. »Ja«, erwiderte Maxwell dumpf. Er sah keinen Sinn darin, es abzustreiten. O Gott, Binna! Wo bist du? Was geschieht mit dir? Bist du in Ordnung? »Ich muß dem Hauptquartier davon Meldung machen«, sagte der Visitor zu dem anderen Wachtposten. »Bring ihn zur Ladeluke hinüber.« Der Wachtposten dirigierte ihn in Richtung des Patrouillenfahrzeuges, wo er wieder Hände und Füße an die Außenwand der Fähre legen mußte, während der schwarze Visitor hineinging. Maxwell drehte sich nach dem Wachtposten um. »Bitte sagen Sie mir, wo meine Tochter ist.«
Doch der Visitor lächelte nur. Als Robert von der Rampe her Schritte vernahm, drehte er sich hastig um. »Meine Tochter? Haben Sie sie? Wo ist sie?« Die Stimme des Visitors besaß noch immer einen sympathischen Klang. »Sie ist unsere Gefangene.« Maxwell tat einen schnellen Satz auf die Ladeluke zu, doch der Visitor hielt ihn mit festem Griff zurück. »Nicht da hinein! Sie wurde aufs Mutterschiff gebracht.« »Geht es ihr gut?« Der Visitor sah ihn gelassen an. »Man sagte mir, das hinge ganz von Ihnen ab, Mr. Maxwell.« Maxwell blickte zu Boden und biß sich auf die Lippe. O Gott… nur das nicht… bitte nicht… »Wie darf ich das verstehen?« fragte er dann. »Wir brauchen ein paar Informationen und glauben, daß Sie uns helfen können«, antwortete der Visitor. Maxwell sah ihm direkt ins Gesicht. »Ich weiß nichts, was Ihnen helfen könnte… glauben Sie mir.« Als habe er Roberts Antwort gar nicht gehört, fuhr der Visitor unbeteiligt fort: »Informationen über ein Lager in den Bergen.« »Nein…« Robert versuchte, seiner Stimme einen ruhigen Klang zu geben, doch zu seinem Entsetzen mißlang dieser Versuch kläglich. »Ich habe niemals etwas von diesem Lager gehört…« »Wir wissen von seiner Existenz«, fuhr der Visitor ungerührt fort, »aber wir brauchen den genauen Standort.« Gott steh mir bei! Bitte, hilf Binna! dachte Maxwell, ohne den Blick von dem dunklen, ebenmäßigen Gesicht des Visitors zu wenden. »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich weiß überhaupt nichts von einem Lager in den Bergen. Wirklich nicht!« Er bemühte sich, seine Stimme möglichst aufrichtig klingen zu lassen.
»Hmmmm.« Ein trauriger Ausdruck trat in die dunklen Augen des Visitors. »Das ist wirklich schade. Und es tut mir sehr leid… für Ihre Tochter Robin.« Er drehte sich um und begann, die Rampe hochzusteigen. Ein Schritt… ein zweiter… »Nein, warten Sie!« rief Maxwell, seine Gedanken überschlugen sich. »Warten Sie! Sie verstehen das nicht!« Tränen rollten ihm über die Wangen, als der Visitor sich langsam wieder zu ihm herumdrehte. »Meine Frau… meine anderen Töchter… sie sind alle da oben. Ich habe keine andere Wahl, glauben Sie mir!« »Oben im Lager in den Bergen?« Die Stimme hatte wieder diesen tiefen, sympathischen Klang. Robert nickte und schloß die Augen, um nachzudenken. Doch er konnte sich nicht mehr beherrschen, Tränen strömten über sein Gesicht. »Ja… im Lager. Ich kann doch nicht… Sie können nicht erwarten…« »Kommen Sie einmal her zu mir, Mr. Maxwell.« Der Visitor legte eine Hand auf Roberts Arm und zog ihn ein paar Schritte von dem Wachtposten fort. Seine Stimme war leise, verschwörerisch. »Ich verstehe Ihre Sorgen. Der Aufenthaltsort Ihrer Tochter hat Ihnen ein schreckliches Dilemma beschert…« Robert nickte stumm. Der Visitor zögerte einen Augenblick lang und warf einen schnellen Blick zu dem Wachtposten hinüber, der – ohne sie zu beachten – zur anderen Seite blickte. »Ich verstehe Sie, weil ich auch Kinder habe…« Maxwell sah ihn an. In irgendeinem verrückten Winkel seines Gehirns blieb er der Wissenschaftler, der sich fragte, ob die Kinder des Visitors wohl lebend wie Menschenbabys geboren wurden oder aus Eiern ausschlüpften. »Ich glaube, ich könnte Ihnen garantieren, daß das Lager in den Bergen noch eine Zeitlang unbehelligt bleibt, so daß Sie
bis dahin Gelegenheit haben, Ihre Frau und Ihre Kinder in Sicherheit zu bringen«, sagte der Visitor, noch immer in diesem ruhigen, sanften Ton. »Was würden Sie dazu sagen?« »Das würden Sie tun?« fragte Maxwell ungläubig. »Und was passiert mit Robin?« »Sobald das Lager kein Problem mehr ist, könnte ich mich in meine Fähre setzen und sie herbringen. Ich werde ihr sagen, wo sie Sie finden kann. Sie ist doch nur ein junges Mädchen, und niemand wird nach ihr suchen.« »Sie weiß wirklich nichts! Sie ist ja noch ein Kind!« »Das sah ich selbst, als ich sie heute fand. Es widerstrebte mir, ehrlich gesagt, sie zu verhaften. Aber die anderen hatten sie auch gesehen, und so blieb mir keine Wahl. Doch ihr ist nichts geschehen, und das wird es auch nicht… wenn Sie uns helfen.« »Ich…« »Wenn Sie die anderen warnen, bevor wir ankommen, wird Diana Robin befragen. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit klarmachen will?« Maxwell schloß die Augen; ihm fielen Donovans Worte ein. Er dachte an Robins schöne, glatte Haut… dachte an kleine Lötlampen. »Ja, ja, ich verstehe. Ich werde sie nicht warnen…« Es sind nur noch wenige da oben, sagte er sich. Nur noch ein paar Leute… und morgen werden es noch weniger sein, wegen des Überfalls. Vielleicht noch einer oder zwei… »Aber sie sind meine Freunde! Können Ihre Leute das Lager einnehmen, ohne – ohne…« »Ja«, antwortete der Visitor mit Nachdruck und legte seine Hand auf Roberts Schulter. »Es ist ganz einfach, und niemandem wird Schaden zugefügt werden. Und wir werden nicht vor… vor wieviel Uhr dasein? Vier Uhr morgen nachmittag? Reicht Ihnen diese Zeit?«
Maxwell nickte. Er war unendlich müde und erschöpft. Er glaubte, auf der Stelle einschlafen zu können. Der Visitor berührte wieder seine Schulter. »Gut. Hier ist die Karte. Zeigen Sie mir, wo sich das Lager befindet.« Maxwell fügte sich und fühlte sich benommen. »Sagen Sie Robin, sie soll auf den Spielplatz der Grundschule kommen. Ich werde sie morgen abend dort treffen.« »Gut, also um vier Uhr. Sie haben mein Wort… als Vater.« Er streckte ihm die Hand entgegen. Einen Augenblick lang blickte Maxwell auf die Hand herunter, dann erwiderte er den kühlen, festen Händedruck des Visitors. Sie schüttelten sich die Hände, dann sagte der Visitor laut: »Also gut, aber lassen Sie sich nicht noch einmal beim Übertreten der Ausgangssperre erwischen. Trinken Sie von jetzt an bei sich zu Hause!« Er stieß Maxwell grob auf die Straße. »Beeilen Sie sich – und denken Sie an meine Worte!« »Ich werde daran denken«, entgegnete Robert fieberhaft. »Danke.« Er drehte sich um und machte sich, seine Füße wie automatisch voreinander setzend, auf den Weg zurück zum Hauptquartier der Untergrundbewegung. Heute abend konnte er nicht mehr ins Lager in den Bergen gehen – aber morgen. Morgen. Er klammerte sich an den Zustand der Erschöpfung und Benommenheit wie an ein Schutzschild und ging weiter, schneller, immer schneller. Nach der ersten oder zweiten Straße begann er zu laufen und hetzte wie ein verängstigtes Tier durch die Nacht. »Entkommen?« Diana starrte Martin an. »Wie?« Martin holte tief Luft. »Ich weiß es nicht genau. Ich sah ihn zum letzten Mal in einer Arrestzelle. Später schickte ich Barbara hin, um ihn zu mir zu bringen, weil ich mit den
einleitenden Injektionen beginnen wollte. Als mir das zu lang dauerte, ging ich selbst zu der Zelle, um zu sehen, was passiert war. Barbara lag, offensichtlich von einem Schlag aus nächster Nähe getroffen, bewußtlos auf dem Boden. Ihr Gewehr und ihre Uniform waren weg.« »Mist!« stieß Diana hervor, und Martin fragte sich flüchtig, wo sie wohl diesen Kraftausdruck gelernt hatte. Nervös ging sie in ihrem kombinierten Büro-Labor auf und ab und versetzte dabei jedesmal, wenn sie in ihre Nähe kam, die Versuchstiere in panischen Schrecken. Mit angespannten Nerven wartete Martin auf ein Abflauen ihrer Wut. »Nun gut«, sagte sie schließlich einigermaßen gefaßt. »Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen – daß er mit einer der Fähren geflohen ist. Setze alle Einheiten in Alarmbereitschaft und sage ihnen, daß ich über jedes Besatzungsmitglied, das unerlaubt an Bord ist, Bericht haben will. Jeder Ankömmling muß in einem besonderen Sicherheitsverfahren überprüft werden. Ich überlege mir entsprechende Maßnahmen.« »Sofort, Diana«, erwiderte Martin und wandte sich zum Gehen. Er hatte beinahe schon die Tür erreicht, als ihre Stimme ihn zurückhielt. »Noch eins, Martin…« Er hatte Angst, sich umzudrehen – Angst, daß sie trotz seiner Kontaktlinsen die Furcht in seinen Augen erkennen würde. Doch er zwang sich, sie anzusehen, wobei er den geziemenden Respekt eines Untergebenen seiner Vorgesetzten gegenüber an den Tag legte. »Ja, Diana?« »Schick Brian zu mir.« »Sofort, Diana.« Als er den Raum verließ, mußte er an sich halten, um nicht zu rennen. Als Brian den Raum betrat, nickte Diana ihm freundlich zu. »Hallo, Brian! Danke, daß du so schnell gekommen bist. Ich brauche deine Hilfe.«
Brian war verwirrt, versuchte jedoch, ruhig und gelassen zu bleiben. Er hatte seine Pflicht getan und brauchte sich nichts vorzuwerfen. Zumindest hoffte er das. »Natürlich, Diana. Ich werde tun, was ich kann.« Ihr langes, schwingendes Kleid schimmerte auf, als sie sich zu ihm umdrehte. »Es ist mir zu Ohren gekommen, daß du eine gewisse Beziehung zu dieser jungen Dame entwickelt hast.« Sie drückte auf einen Knopf, und auf einem an der Wand angebrachten Bildschirm erschien das Bild eines Mädchens, das zusammengekauert in einer Arrestzelle hockte. Ihr rundliches junges Gesicht war von Make-up und Tränen verschmiert. »Robin Maxwell!« rief Brian. »Ich dachte, sie und ihre Familie sind entkommen!« »Sie nicht.« Für einen langen Augenblick starrte Diana auf das Bild des Mädchens. Still saß Robin da, wischte nur hin und wieder die ihr über das Gesicht laufenden Tränen weg. »Du kennst sie also?« »Nun… ja, ich kenne sie«, stammelte Brian und fragte sich, ob Diana wohl auch von seinen gelegentlichen Ausflügen mit Robin erfahren hatte. Doch es waren nur wenige Male gewesen und meistens zu dem Zweck, neue mögliche Mitglieder für die »Sternenfreunde« zu finden. »Wirkt sie anziehend auf dich?« Der Blick ihrer dunkelblauen Augen war durchdringend. Brian zuckte die Achseln – dieser Gedanke war ihm nie gekommen. Ihr direkt ins Gesicht sehend, beschloß er, bei der Wahrheit zu bleiben. »Nicht so sehr wie Sie.« Sie lächelte erfreut. »Hm. Jetzt verstehe ich, wieso es dir gelungen ist, so schnell auf der Erfolgsleiter vorwärtszukommen.« »Ich meine es ernst«, sagte Brian und trat dicht an sie heran. Seine Augen hielten ihren Blick fest.
»Das ist äußerst interessant«, räumte Diana ein. »Weil ich schon seit geraumer Zeit ein Auge auf dich habe.« Brian lächelte sie an. »Stets zu Ihren Diensten.« Sein Blick wanderte über ihr rotes Kleid, und er stellte sich ihre wirklichen Formen vor – kein Wunder, daß selbst der Führer sie unwiderstehlich fand. »In jeder gewünschten Weise.« Lächelnd sah sie ihn an. »Später vielleicht. Im Augenblick brauche ich deine Hilfe für ein Experiment. Ein medizinisches Experiment mit dir und…« – ihr Blick huschte zum Bildschirm –, »… ihr.« Brian zuckte zurück. »Verstehe ich Sie richtig? Zu welchem Zweck? Ich bin nicht einmal sicher, ob das überhaupt möglich ist.« Wieder lächelte sie und zeigte dabei ihre falschen menschlichen Zähne. »Oh, ich bin sicher, daß es möglich ist. Und meinen Berichten zufolge bist du sehr… flexibel. Das Mädchen hat bis jetzt ein wohlbehütetes Dasein geführt und nur wenig Vergleichsmöglichkeiten gehabt.« Sie nickte. »Wirst du mir helfen?« »Wird es… weh tun?« Brian blickte wieder zu dem Mädchen hinauf. »Zunächst werden wir eine Zeitlang im Labor verbringen müssen. Währenddessen bereite ich dich auf deine Rolle vor. Ich kann dir nicht versprechen, daß es vollkommen ohne Schmerzen abgeht, doch die Aktion wird auf interzellulärer Ebene stattfinden. Und das Experiment selbst könnte sich sogar als… sehr angenehm erweisen.« Brian war noch immer skeptisch, versuchte jedoch, es sich nicht anmerken zu lassen. »Wenn es wichtig für Sie ist, Diana, bin ich natürlich dazu bereit.« Sie lächelte. »Du wirst deine Loyalität mir gegenüber nicht bereuen, Brian.«
Gemeinsam verließen sie den Raum und machten sich auf den Weg nach dem auf der anderen Seite des riesigen Schiffs liegenden Labor.
Schluchzend rollte sich Robin Maxwell auf der fremdartigen, wandbettähnlichen Schlafstelle zusammen und bedauerte, kein Taschentuch bei sich zu haben. Stunden waren vergangen, seitdem sie auf das Mutterschiff gebracht worden war, und sie begann, hungrig und durstig zu werden. Zunächst war sie einer Visitor-Frau übergeben worden, die sie in einen seltsamen, laborartigen Raum brachte und ihr befahl, sich auszuziehen. Als Robin sich entrüstet weigerte, zog die Frau ihre Waffe und riet ihr – noch immer lächelnd – , es sich noch einmal zu überlegen. Daraufhin entkleidete sich Robin. Anschließend mußte sie sich auf eine Art Couch legen, und die Frau untersuchte sie mit fremdartigen Instrumenten. Die Region um die Körpermitte unterzog sie gleich zweimal dieser Prozedur. Es tat nicht weh, aber Robin fühlte sich sehr gedemütigt. Die Frau wollte keine von Robins Fragen beantworten und beendete stumm ihre seltsame Arbeit. Dann gab sie Robin ihre Kleider zurück und reichte ihr, nachdem sie sich angezogen hatte, ein Sandwich und eine Tüte Milch. Danach brachte sie sie in ein erstaunlich normal aussehendes Badezimmer. Seitdem war sie hier in dieser schrecklichen Zelle eingesperrt. Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie wälzte sich herum und stieß gegen das kalte Metall des Bettgestells. Erschauernd vergrub sie ihr Gesicht in den Armen und fragte sich verzweifelt, ob sie wohl je ihre Eltern wiedersehen würde. Sie war doch noch ein Kind! Was um alles in der Welt konnten sie von ihr wollen?
Ein leises Zischen drang von der Tür her an ihr Ohr. Robin zitterte vor Angst. Dann jedoch sagte sie sich, daß sie dem unbekannten Eindringling – wer immer es auch war – ja doch nicht ausweichen konnte, und sie stand, die Arme schützend vor der Brust verschränkt, auf. Die Tür schwang auf, und Robins Augen weiteten sich vor Freude. »Brian! Brian! Brian!« Unendlich erleichtert über den Anblick seines vertrauten, hübschen Gesichtes, rannte sie auf ihn zu. »Oh, mein Gott, ich danke dir.« Er kam näher und legte – o Wunder über Wunder! – zärtlich und beschützend seine Arme um ihre Schultern. »Robin… so beruhige dich doch. Es ist alles in Ordnung. Du bist jetzt in Sicherheit. Ich werde nicht zulassen, daß dir irgend jemand etwas antut.« Sie schluchzte auf vor Freude und Erleichterung. »Oh, Brian! Ich habe dich so vermißt! Ich dachte, ich würde dich nie mehr wiedersehen!« »Jetzt bin ich hier und werde dich beschützen. Ich bringe dich hier raus.« Er zog sie enger an sich, und sie spürte die kalte Härte seines muskulösen Körpers. Zaghaft legte sie die Arme um ihn, ihre Gedanken gingen wild durcheinander. Sie fühlte, wie ihre Knie weich wurden, und lehnte sich gegen ihn. Er hob die Hand und strich liebevoll über ihr dichtes, zerzaustes Haar. »Ach, Robin… du hast mir so gefehlt.« »Brian…« Zögernd berührte sie seine Wange, hoffte, daß ihre Augen nicht rot vom Weinen und ihr Make-up nicht verschmiert waren – sie konnte noch immer nicht fassen, daß er hier war und sie in den Armen hielt. Es war wie ein wunderbarer Traum, wie einer von jenen Träumen, die sie nachts so oft mit jagendem Herzen aus dem Schlaf aufschrecken ließen und sie dann aufschluchzend feststellen mußte, daß alles nur eine Vision gewesen war, daß er – dieser
wunderbare, göttliche Er, der in ihren Träumen lebte –, fort war. Dieses Mal ist es Wirklichkeit, dachte sie leidenschaftlich. Er ist hier. Er hält dich in seinen Armen. Ich glaube – ich glaube, er möchte dich sogar küssen… Sie irrte sich nicht. Sein Mund berührte ihre Lippen, und sein Kuß wurde fordernd und leidenschaftlich. Sie schloß die Augen, und die Zelle schien sich um sie zu drehen. Erregt drängte sie sich an ihn. Brian, ich liebe dich, dachte sie, als sie seine Hand an ihrer Brust spürte, zuerst sanft und zögernd, dann fest und besitzergreifend. Seine Hand glitt unter ihren Pullover. »Nein…«, hauchte sie benommen, als sein Mund über ihre Wangen herunter zu ihrem Hals glitt. Seine Hand zerrte an ihrem Pullover. »Nein… ja… Brian…« Schwindelig schloß sie die Augen und nahm kaum noch wahr, wie er sie auf das Bett legte. In einem letzten klaren Augenblick bemerkte sie, daß ihre Jeans offen waren, doch zu diesem Zeitpunkt konnte sie sich bereits nicht mehr wehren, weil sein Gewicht sie niederdrückte. Nein, wollte sie sagen. Hör auf, das ist zu sehr Wirklichkeit… Doch es war zu spät.
17. Kapitel
Um sechs Uhr, kurz bevor der Wecker läutete, wachte Juliet Parrish auf. Schnell rollte sie sich auf die Seite und stellte ihn ab, ehe er klingeln konnte – sie hatte es schon immer gehaßt, vom Schrillen eines Weckers aufgeweckt zu werden. Einen Augenblick lang streckte sie sich noch einmal auf ihrer primitiven schmalen Bettstelle aus und dachte daran, daß – sobald sie aufstand und ihre Jeans anzog – der Tag sie in die Pflicht nehmen würde. Oh, mein Gott, bitte laß niemanden sterben. Laß niemanden verletzt werden. Bitte. Sie schloß die Augen und spürte, wie der Schlaf sie erneut überwältigen wollte und das Verlangen wuchs, sich einfach in seine wohligen Tiefen fallenzulassen. Mit einem Ruck, der sie schmerzhaft ihre Hüftverletzung spüren ließ, setzte Juliet sich auf und griff nach den Kleidern. Sie zog die alten Jeans und einen roten Pullover an und steckte ihre schulterlangen Haare zu einem Knoten auf. Dann ergriff sie den Stock und humpelte in die Halle hinaus. Der erste Mensch, der ihr begegnete, war Robert Maxwell – an seinen übernächtigten Augen und den dunklen Schatten darunter erkannte Juliet, daß er wohl noch schlechter als sie selbst geschlafen hatte. »Geht es Ihnen gut, Robert?« fragte sie. »Hm, ja«, murmelte er, vermied es jedoch, sie anzusehen. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung?« Er schüttelte den Kopf. »Nein… nein. Es sind wahrscheinlich nur die Nerven.« »Erzählen Sie.«
In diesem Augenblick kam Elias aus dem als Schlafraum für die Männer hergerichteten Zimmer. Seine übliche Munterkeit jedoch hatte er abgelegt. »He, Julie«, sagte er. »Gut geschlafen, Elias?« fragte sie. »Aber natürlich«, erwiderte er. »Wie ein Baby – allerdings eins mit Bauchschmerzen.« Inzwischen hatte sich die Halle mit Menschen gefüllt, und Juliet begann mit ihrer Ansprache. »Jeder versucht jetzt, etwas zu essen, okay? Ich weiß, ihr seid nervös, aber es wird ein langer Tag werden. Bei dem, was wir vorhaben, können wir keine hungrigen Mägen gebrauchen.« Damit drehte sie sich um und humpelte ins Labor, um sich ein wenig frischzumachen. Sie wusch sich gerade mit kaltem Wasser das Gesicht, als sie jemand eintreten hörte. »Guten Morgen, Doc«, sagte Mike Donovan, der grinsend in der Tür lehnte. »Guten Morgen, Mr. Donovan«, entgegnete Juliet steif – sie wußte selbst nicht, warum sie ihn so distanziert behandelte, aber irgend etwas an seinem arroganten Lächeln irritierte sie. »Caleb hat eine Pfanne Rühreier gemacht«, erklärte Donovan mit einem Kopfnicken in Richtung des Aufenthaltsraumes. »Wollen Sie Ihren eigenen Rat nicht auch selbst befolgen?« Juliet lächelte schwach. »Ich fürchte, nein… Ich glaube, mein Magen würde im Augenblick nichts anderes als Orangensaft verkraften.« »Das ist aber gar nicht gut.« Er sah ihr zu, wie sie sich das Gesicht mit einem alten, zerlumpten Handtuch abtrocknete. Juliet, die seinen forschenden Blick spürte, bemühte sich sehr, ihre Hände ruhig zu halten, als sie die Schüssel ins Waschbecken leerte, doch zu ihrem Ärger konnte sie nicht verhindern, daß Wasser auf den Boden floß. Als hätte er nichts bemerkt, fuhr Donovan fort: »Ich muß Ihnen meine Anerkennung aussprechen, Doc – Sie haben es geschafft, der
Gruppe ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu geben, sie zu motivieren. Sie sind voller Tatendrang und werden heute morgen wie die Tiger kämpfen.« Juliet sah ihn skeptisch an. »Aber eins muß ich Ihnen noch sagen«, fuhr er fort. »Behalten Sie ein bißchen von dieser Energie auch für sich, denn Sie werden sie brauchen. Mit diesem Überfall haben Sie sich eine ganze Menge vorgenommen, Doc.« Juliet lächelte gequält. »Plötzlich also ›Doc‹, Mr. Donovan? Was ist aus dem ›Kind‹ geworden?« Einen Augenblick lang senkte er den Kopf, hob dann wieder die Augen und sah sie an. »Nun… ja… Sie sind älter, als ich dachte«, sagte er schließlich verlegen. »Danke«, erwiderte Juliet grinsend. »Das glaube ich auch.« »Sie wissen, wie ich es meine.« »He, Julie.« Elias sah zur Tür herein. »Ich habe dir Saft und einen Krapfen gebracht. Einen mit Schokoladenfüllung.« »Danke, Elias.« Juliet ergriff den Stock und trat in die Halle. Dort nippte sie an ihrem Saft und brachte es sogar fertig, an dem Kuchen herumzuknabbern. Dabei wanderte ihr Blick prüfend über ihre Leute. Es waren mehr als gestern – viele Mitglieder der neuen Widerstandsgruppe lebten noch zu Hause, insbesondere diejenigen, die nicht in wissenschaftlichen Berufen arbeiteten. Sie alle unterhielten sich laut und lachten aufgeregt, ihre Bewegungen waren hektisch und abrupt… alle, bis auf einige wenige wie Robert Maxwell, der still und in sich zurückgezogen dasaß. Ich sollte ihnen wohl schnell etwas zu tun geben, dachte Juliet. Sie sind ziemlich überdreht. »Hört mal alle her!« rief sie, und alle Köpfe wandten sich ihr zu. »Also, ein letztes Mal. Weiß jeder genau über seine Aufgabe Bescheid?«
Allgemeines, von Kopfnicken begleitetes, zustimmendes Gemurmel. »Die Ablenkungsmanöver beginnen um ein Uhr. Alles klar, Caleb, Ruby und die anderen?« Caleb, der in Arbeitskleidung neben seinem Freund Billy Graham saß, nickte. »Wir werden ihnen zeigen, daß wir da sind und in der Fabrik arbeiten.« »Und auch in der Stadt«, fügte Ruby hinzu. »Insbesondere auf den Polizeistationen.« »Gut«, sagte Juliet. »Unser Hauptangriff auf das Waffenarsenal wird um kurz vor zwei beginnen, wenn sie unkonzentriert und schlecht organisiert sind.« »Um zwei?« fragte Robert Maxwell und erblaßte. »Ich…« »Ja«, antwortete Juliet. »Sie haben gestern abend das Ende der Versammlung versäumt. Sie kommen mit uns zum Arsenal, okay?« »Oh… ja, okay«, stammelte Maxwell. Ein Muskel unter seinem Auge zuckte. Juliet zog fragend die Augenbrauen hoch. »Ich habe Robin übrigens gar nicht mehr gesehen. Haben Sie sie ins Lager in den Bergen zurückgeschickt, so daß sie in Sicherheit ist?« Maxwell nickte stumm und ohne aufzublicken. Als Juliet seine Blässe bemerkte, war sie versucht, ihm zu sagen, daß auch er ins Lager zurückgehen solle – er hatte ganz offensichtlich schreckliche Angst. Doch sie brauchten jeden verfügbaren Mann. Während sie noch überlegte, blickte Maxwell auf. Er bemerkte ihren besorgten Gesichtsausdruck und lächelte schwach. »Ich bin schon in Ordnung, wirklich. Nur ein bißchen nervös…« »Gut, Robert.« Juliets Stimme blieb skeptisch. »Nun, für all diejenigen, die am Angriff auf das Waffenarsenal beteiligt sind – wir dürfen unser wichtigstes Ziel nicht vergessen.«
»So viele ihrer schweren Waffen wie möglich zu ergattern, ohne uns dabei selbst zu gefährden«, ergänzte Elias. »Richtig.« Juliet nickte eindringlich. »Es ist wesentlich für all unsere künftigen Operationen, daß wir in der Lage sind, uns zu verteidigen. Und dafür brauchen wir Waffen. Dann werden wir auch in der Lage sein, unsere Ausrüstung aus dem Lager in den Bergen sicher hierherzubringen.« Mike Donovan bewegte sich unruhig hin und her. »Hört zu, Leute. Während ihr hier unten für Unruhe sorgt, werde ich versuchen, mich noch einmal auf das Mutterschiff zu schleichen. Ich möchte…« »Ihre Familie finden?« unterbrach Juliet ihn, die an seinen Ausbruch vom Tag zuvor denken mußte. »Ja, das auch. Ich will es nicht abstreiten. Ich habe auch eine Idee, wie ich an einen Ort gelangen kann, an dem ich vielleicht etwas über ihre wahren Pläne herausbekommen kann. Mit der Uniform sollte mir das eigentlich möglich sein.« Ruby starrte ihn fassungslos an. Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, daß sie ihn für übergeschnappt hielt. »Ebensogut könnten Sie gleich Selbstmord begehen.« »Kann sein.« Donovan zuckte die Achseln. »Vielleicht war ich in einem früheren Leben einmal ein Kamikaze-Flieger. Mein Partner Tony sagt das auch immer. Aber auch er ist ja noch immer dort oben. Ich würde nicht mehr ruhig schlafen können, wenn ich nicht herausfände, was aus ihm geworden ist – aus ihm und all den anderen.« »In diesem Fall sollten Sie uns lieber sagen, wo Sie diesen Film versteckt haben«, meinte Juliet. »Als Vorsichtsmaßnahme sozusagen.« Er grinste schief. »Und ich dachte, Sie lieben mich meines scharfen Verstandes wegen. Nun, er befindet sich in einem Schließfach am Busbahnhof.« Er kramte in seinen
Hosentaschen und gab Juliet einen Schlüssel. »Ein Junge namens Josh bezahlt jeden Tag die Gebühren.« »Okay«, sagte Juliet und nahm den Schlüssel an sich. »Seien Sie vorsichtig, Mr. Donovan. Wir möchten Sie nicht verlieren.« »Ich mich auch nicht.« »Viel Glück«, sagte Juliet, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Dann wandte sie sich abrupt ab und murmelte mehr zu sich selbst: »Für uns alle.« Calebs tiefe Stimme übertönte das Stimmengemurmel. »Julie – was hältst du von einem Gebet? Eins für den Kampf, sozusagen?« Die junge Frau nickte. »Fang an, Caleb.« »Ich?« Er blickte in die Runde, schwieg dann einen Augenblick, um sich zu sammeln. »Oh, mein Gott, wir brauchen deine Hilfe. Bitte verleih jedem von uns die Kraft, sein Bestes zu tun, denn wir sind die letzte Hoffnung vieler Menschen auf der Welt. Schenke uns Weisheit, Kraft und Mut. Gott, wir danken dir. Amen.« Juliet war erstaunt, als sie auch Donovan das Amen sprechen hörte. Sie blickte ihn an und zog tief die Luft ein. »Also, los geht’s.«
Ein Tablett mit Salz-, Pfeffer- und Zuckerstreuern balancierend, eilte Harmony Moore zur Verpflegungsstelle hinüber. Ein schöner Tag, dachte sie, als sie zu dem blauen Himmel und den sanft darüber hinweggleitenden Wölkchen hinaufsah. Ihre Augen hatten sich schon so sehr an den Anblick des über der Stadt schwebenden riesigen Mutterschiffs gewöhnt, daß sie es kaum noch bewußt wahrnahm. Während sie, den Blick noch immer nach oben gerichtet, weiterging und sich fragte, ob es abends wohl regnen würde,
wäre sie beinahe gestolpert, weil ihr Schuh an einem auf der Erde liegenden Gegenstand kleben blieb. »Nanu?« Harmy blieb stehen, stellte das Tablett ab und hob den Fuß. Als sie rosafarbene Kaugummifetzen an ihrem Schuh entdeckte, fluchte sie ärgerlich vor sich hin. Während sie versuchte, die klebrige Masse abzukratzen, streifte sie mit der Hand eins der dicken, aus einem riesigen Öltank herausragenden Rohre. Im gleichen Augenblick, als sie das Ticken hörte, berührten ihre Finger einen kantigen Gegenstand. Als sie auf ihre Hand blickte, sah sie den kleinen, schwarzen Kasten, der an einem der Rohre befestigt war. Auf dem Kasten befand sich ein Zifferblatt. Ein roter Zeiger stand auf ein Uhr, obwohl es erst 12.45 Uhr war. Was zum Teufel ist das? fragte sich Harmy, als sie das Kästchen betrachtete. Es sieht aus wie… wie… Sie schluckte, vergaß ihr Tablett, riß sich mit einem Ruck los und stürzte davon. Sie fragte sich, welche Sprengkraft die Bombe entwickeln mochte – und ob noch andere installiert waren. Mit in ihr keimender Panik rannte sie das kurze Stück in Richtung ihres auf dem Parkplatz stehenden Wagens. Die Widerstandsbewegung! Sie müssen es gewesen sein. Was soll ich nur tun? Harmony hatte die von Kristine Walsh im Fernsehen gelesene Nachricht gehört, hatte Radio gehört – und fragte sich, was nun wirklich wahr war. Ihr Vater war in Korea gefallen, ihr Bruder in Vietnam – seit sie die Hochschule verlassen hatte, war sie Pazifistin gewesen. Es hatte ihr nicht gefallen, überall in der Stadt die bewaffneten Visitors zu sehen. Doch Bomben zu legen, die unschuldige Menschen verletzen oder töten konnten, war etwas anderes. Voller Verzweiflung biß sie sich auf die Lippe, während sie auf der hinteren Klappe ihres Wagens saß und die Zeit verstrich. Keine Menschenseele war zu sehen. Sollte sie die
Polizei rufen? Nein, lieber nicht. Sie hatte Gerüchte gehört, daß so etwas Vergeltungsmaßnahmen der Visitors zur Folge haben konnte. Einmal sollten sie sogar die Bevölkerung einer ganzen Stadt gefangengenommen haben, die versucht hatte, sich gegen sie aufzulehnen. Und Harmys beste Freundin Betty, eine Röntgenologin, war seit über einem Monat verschwunden, und sie vermißte sie entsetzlich. Wieder blickte Harmy auf die Uhr. 12.58 Uhr und 33 Sekunden. Als sie wieder aufblickte, sah sie eine Gestalt in roter Uniform um den Tank herumkommen, und der Visitor hielt einen Notizblock in der Hand. »Willy!« rief Harmy und lief, ohne zu überlegen, auf ihn zu. »Nein! Gehen Sie da weg!« Sie packte seinen Arm und zerrte ihn in Richtung Parkplatz. Die Explosion schleuderte sie beide zu Boden, und sie starrten einander voller Entsetzen an. Dann hörten sie weitere Detonationen. Sirenen schrillten. Harmy rappelte sich hoch und streckte Willy die Hand entgegen. »Harmy!« rief er und stand auf. »Was geht hier vor?« »Ich glaube, das waren die Leute von der Widerstandsbewegung.« »Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte Willy, der noch immer ihre Hand umklammert hielt. »Ich werde Ihnen ewig dankbar sein.« Inmitten des Chaos von durcheinanderrennenden Menschen und gellenden Sirenen sah sie ihn lächelnd an. »Sie haben Caleb das Leben gerettet. Es war das mindeste, was ich tun konnte.«
Eine Sekunde blieb Mike Donovan zögernd vor der gelben Tür stehen, während er in seiner Tasche nach dem goldenen
Schlüssel suchte, den er Sean vor so langer Zeit gegeben hatte. Dann fühlte er das Objekt kalt und glatt in der Hand. Mit einem schnellen Blick durch den dunklen Gang des Mutterschiffs vergewisserte er sich, daß er unbeobachtet war. Dann steckte er entschlossen den Schlüssel ins Schloß. Mit leisem, hydraulischem Summen glitt die Tür auf. Donovan nahm den Schlüssel wieder an sich und trat hindurch. So weit, so gut, dachte er und blieb einen Augenblick zögernd stehen, bis seine Augen sich an das beinahe noch mattere Licht an diesem Ort gewöhnt hatten. Vor ihm erstreckte sich ein dunkler Gang. Als die Tür hinter ihm zuschnappte, fuhr er erschrocken zusammen. An Bord des Mutterschiffs zu gelangen, war kein Problem gewesen – es hatte genügt, die dunkle Brille aufzusetzen und sich in der Nähe einer Fähre aufzuhalten, bis diese startbereit war. Im letzten Moment war er dann an Bord der Fähre gegangen. Mit der Brille und der tief heruntergezogenen Kappe des Visitors war er nichts anderes als eine weitere anonyme Gestalt in Uniform. Gerade, als die Fähre gelandet war, hallte die Nachricht vom Angriff auf die Richland-Werke über das Landedeck. In dem darauffolgenden allgemeinen Durcheinander von aufgeregt umherlaufenden Visitors und startenden Patrouillenfahrzeugen war es ihm ein leichtes gewesen, im Inneren des Mutterschiffs unterzutauchen. Während er durch das fremde Schiff schlich, bemühte er sich, so leise wie möglich mit den schweren Stiefeln auf dem Metallgitter des Bodens aufzutreten. Niemand begegnete ihm auf seinem Weg durch den Gang, der schließlich in einem riesigen Raum mündete, der so groß war, daß das Echo seiner Schritte sich darin verlor. Der höhlenartige Raum war vom Boden bis zur Decke mit riesigen Tanks gefüllt – jedoch nicht mit den großen Hochleistungstanks, die er im Werk gesehen
hatte. Ein vorsichtiges Abklopfen eines Tanks bestätigte seine Vermutung, daß diese Behälter sehr dünne Wände besaßen, und sie wiesen weder Druckmesser noch andere Instrumente auf, die den Zustand ihres Inhalts anzeigten. Aus einem der Tanks führte ein Ventil heraus. Donovan drehte daran, und eine klare Flüssigkeit tropfte heraus. Prüfend beugte Donovan sich darüber, runzelte dann nachdenklich die Stirn und steckte vorsichtig einen Finger hinein. Die kalte Flüssigkeit fühlte sich vertraut an. Er roch daran, nahm dann vorsichtig ein paar Tropfen auf die Zunge. »Mein Gott, es ist Wasser! In all diesen Tanks nichts als Wasser?« Er drehte das Ventil weiter auf und trank ein paar Schlucke. Dann wanderte er weiter durch den riesigen Raum, drehte ab und zu aufs Geratewohl Ventile auf. Nachdem er auf diese Weise etwa zehn Tanks untersucht und festgestellt hatte, daß sie alle Wasser beinhalteten, blieb er stehen und begann, sie zu zählen. Nach fünfhundert Tanks gab er es auf, doch es waren noch viel, viel mehr. Wie viele Millionen Gallonen sie wohl enthielten? Und gab es noch mehr Lagerräume mit der gleichen Ladung auf anderen Schiffen? Verwirrt stand Mike in dem kühlen Raum und rieb sich nachdenklich den Nacken. Irgend etwas ging da vor, etwas, was ihm noch ein Rätsel war – ein Geheimnis, das es zu lüften galt. Irgendwo im hintersten Winkel seines Kopfes glaubte er zu begreifen. Die Erkenntnis quälte ihn, doch sie war nicht greifbar, blieb ein vages Aufflackern in seinem Kopf. Als er wieder auf den Gang hinaustrat und weiterging, blickte er sich suchend nach einer anderen gelben Tür um. Als er sie entdeckt hatte, öffnete er sie und schlüpfte hindurch. Sie führte zunächst wieder auf einen Korridor, doch als er diesen vorsichtig hinunterging, hörte er plötzlich Schritte. Schnell preßte er sich in eine dunkle Nische, und kurz darauf sah er einen Visitor-Techniker an sich vorbeigehen. Er hörte das
Summen der gelben Tür und spähte vorsichtig hinaus. Als er wieder Schritte näher kommen hörte, versteckte er sich hastig wieder in der Nische und spähte um die Ecke. Martin! Als der Visitor an ihm vorüber ging, streckte Donovan die Hand aus und griff nach ihm. Er spürte die kalte, falsche Haut der Nase und des Mundes unter seiner Hand und sah, wie sich die falschen Augen weiteten, als er Donovan erkannte. Vorsichtig zog Mike die Hand zurück. »Donovan!« »Oh, ja.« Mike sah ihn grimmig an. »Ich will wissen, was hier vor sich geht. Ich war gerade in dem Lager mit den Tanks. Den Wassertanks. Ich habe Sie schon einmal nach dem wirklichen Grund für Ihren kleinen Besuch hier auf unserem Planeten gefragt, und damals sagten Sie mir, wir hätten keine Zeit für eine Erklärung, wenn ich fliehen wollte. Jetzt aber habe ich Zeit genug, und ich möchte, daß Sie mir alles sagen.« Eine ganze Weile starrte Martin nur auf den Boden, und dann entgegnete er aufseufzend: »Gut. Ja, die Tanks sind alle mit Wasser gefüllt. Es gibt keine Chemikalien.« »Die pumpen Sie in die Atmosphäre hinaus?« »Ja.« »Warum?« Wütend schüttelte Mike Martins Schultern. Dann plötzlich begriff er, und seine Augen wurden weit. »Oh, mein Gott – ich war ein Idiot! Das Wasser! Sie stehlen das Wasser. Die Chemikalien sind nur ein Vorwand. Das ganze Wasser, das in die Fabriken gepumpt wird, um angeblich die Chemikalien zu entwickeln, wird in Wirklichkeit hier heraufgebracht. Aber warum?« »Reines H2O ist das knappste und zugleich wertvollste Element, das es gibt, das jedoch von allen Industriegesellschaften oft leichtfertig verschwendet wird. Sie sollten das selbst wissen. Im Gegensatz zu den meisten Planeten, den unseren eingeschlossen, besitzt Ihre Erde mehr
Wasser als Land. Wir jedoch brauchen dringend Wasser; es ist lebensnotwendig für die Bewohner unseres Planeten, für unsere Industrie… für alles.« »Aber wir hätten es mit Ihnen teilen können…« »Einige von uns schlugen vor, Ihnen die Wahrheit zu sagen und Sie darum zu bitten. Doch unser Denker will alles haben. Jetzt, da er glaubt, die Erde mehr oder weniger sicher unter Kontrolle zu haben, sind bereits weitere Schiffe auf dem Weg hierher. Die Abwicklung des ganzen Plans wird sich über eine ganze Generation erstrecken – unsere Lebenserwartung entspricht in etwa der Ihren – , aber am Ende werden wir alles bekommen, wenn der Große Denker seinen Willen durchsetzt.« »Sie wollen die Erde in eine Wüste verwandeln«, sagte Donovan mit hohler Stimme. »Ohne Wasser droht der Menschheit der Tod.« Martin seufzte. »Wenn wir fortgehen, wird es keine Menschen mehr auf der Erde geben.« Mike starrte ihn verständnislos an. Der Visitor-Offizier nickte. »Es gibt noch etwas, was ich Ihnen zeigen muß.« Mit einer schrecklichen Vorahnung folgte Mike ihm den Korridor entlang. Wie der andere mündete auch dieser in einen riesigen Raum, doch dieser enthielt kleinere, zylinderförmige Kammern, von denen jede etwa ein bis zwei Meter groß war. Seine Nackenhaare sträubten sich, als Mike sich umsah. »Wozu um alles in der Welt werden sie benutzt?« »Sehen Sie selbst«, erwiderte Martin mit einer müden Handbewegung. Mit steifen Gliedern ging Mike das kurze Stück zum nächsten Zylinder hinüber. Er war mit einer gallertartigen, graufarbenen Substanz gefüllt, die in dem Container auf- und abwallte. Als Donovan auf das dickflüssige graue Gel starrte, sah er darin
plötzlich ein Gesicht. Es war das eines älteren Mannes mit langem Schnurrbart. Seine Augen waren leer; das Kinn hing herunter. Der Mann war nackt. Von hinten drang Martins Stimme an Mikes Ohr. »Es sind Ihre Leute. Diejenigen, die verschwunden sind.« Mike wirbelte herum und starrte ihn an; sein Mund war so trocken, daß er nur mit Mühe sprechen konnte. Nur ein einziger Name brannte in seinem Kopf – Sean. Fast wagte er nicht, seine nächste Frage auszusprechen. »Tot?« »Nein. Nicht tot.« In momentaner Erleichterung schloß Mike die Augen und zwang sich dann, weiter zuzuhören. »Der Stoffwechsel wurde extrem verlangsamt; sie sind perfekt konserviert – sie können in Minutenschnelle wieder zum Leben erweckt werden. Diana hat dieses Verfahren entwickelt.« Mikes Blick wanderte über die Abertausende von Containern, dann wandte er sich wieder Martin zu. »Auch mein Sohn ist hier.« »Er wurde gefangengenommen?« »Zusammen mit den übrigen Bewohnern von San Pedro. Ich muß ihn finden.« Mit einer sehr menschlichen Geste der Erschöpfung strich Martin sich über die Stirn. »Es gibt keine Möglichkeit, ihn kurzfristig über den Zentralcomputer zu finden, Mike – ich habe nur begrenzten Zugang. Wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob er überhaupt auf diesem Schiff ist. Er könnte auch in dem von San Francisco sein, oder in dem von Seattle. Es tut mir leid.« Donovan deutete auf den Zylinder. »Es gibt eine Möglichkeit, ihn zu finden – es muß eine geben. Aber warum das alles, Martin? Warum holt Ihr sie euch und… lagert sie auf diese Weise? Weil sie Unruhestifter sind oder Wissenschaftler,
die Tests mit Ihnen durchführen und Ihre wahren Gesichter aufdecken möchten?« Martin warf ihm einen schnellen Blick zu und sah dann zur Seite. Ein ironisches Grinsen trat auf Mikes Gesicht. »Sie wissen, daß ich sie gesehen habe. Es ist müßig, mich mit Ihnen zu unterhalten, als wären Sie ein Mensch wie ich, obwohl ich genau weiß, daß das nicht der Fall ist.« »Ja, ich weiß von Ihrem Kampf mit Jerome. Er sagte, Sie seien… wie drückt er sich noch aus? Nun, einer unserer wichtigsten Kunden.« »Ich tue mein Bestes«, entgegnete Donovan geistesabwesend. »Aber warum töten Sie sie nicht? Wozu bewahren Sie sie hier auf?« »Der Denker will sie lebend haben. Einige von ihnen werden in unsere Armee eingezogen werden. Als Kanonenfutter, nehme ich an.« »Wie war es möglich, daß jemand wie er überhaupt an die Macht gelangte?« Ein erbitterter Ausdruck trat auf Martins Gesicht. »Die Umstände. Angebliche Berufung. Versprechungen. Finanzielle Hintergründe. Eine Doktrin, die sich an die Unwissenden wendet, die über nichts nachdenken – Versicherungen, daß er als ihr Führer sie zu Macht und Größe bringen würde. Zu wenige von uns wagten es, ihm Fragen zu stellen. Wir nahmen ihn nicht einmal ernst, bis es zu spät war. Erst hier auf der Erde sind wir aufgewacht.« »Hm.« Plötzlich fiel Mike etwas ein. »Ich wollte Sie schon die ganze Zeit fragen, wie es Barbara geht. Sie wollte, daß ich auf sie schieße – weil ihr sonst niemand glauben würde, daß ich sie überwältigt und ihre Uniform gestohlen habe. Wie geht es ihr?« »Sie erholt sich langsam.«
»Gut. Eines Tages möchte ich ihr danken.« Mike blickte wieder zu den Containern hinüber. »Es sind so viele. Es müssen Tausende sein.« »Ja.« »Sie sagten, einige von ihnen sollten als Soldaten in die Armee Ihres Großen Denkers eingezogen werden. Was geschieht mit den anderen?« wollte Mike wissen. Martin wich Mikes Blick aus und wandte den Kopf ab. »Außer dem Wasser gibt es noch etwas, das auf unserem Planeten äußerst knapp ist.« Mike erstarrte; er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Stumm bewegten sich seine Lippen. »Nahrung?« Doch Martin, der ihn jetzt wieder ansah, hatte seine Frage verstanden. »Ja.« Donovan bedeckte seine Augen, und er zitterte am ganzen Körper. »Oh, Gott! Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte… oh, mein Gott…« Er schluckte und versuchte, die in ihm aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Wütend wischte er sich über den Mund, so als hätte Martins Eröffnung einen schlechten Geschmack auf seinen Lippen hinterlassen. »Reißen Sie sich zusammen, Mike«, sagte Martin. »Wir haben nicht viel Zeit.« »Ich weiß.« Noch immer zitternd, zwang Mike sich, tief und langsam durchzuatmen. »Mein Gott. Ich hätte darauf kommen müssen. Sie könnten… so etwas tun? Mit einem Kind wie Sean?« Er blickte auf einen der Zylinder, in dem gerade das Gesicht einer jungen Frau zu sehen war. »Mit ihr?« Martin schüttelte den Kopf. »Hören Sie auf. Der Gedanke daran ist fürchterlich für mich. Es wird uns nicht helfen, wenn uns beiden schlecht wird. Ich will nicht behaupten, daß ich Vegetarier bin – das entspricht nicht unserem Organismus. Aber intelligente Lebewesen verzehren? Nein! Als diese
Expedition geplant wurde, sagte man uns, die Bewohner dieses Planeten seien so etwas wie… Vieh. Ohne Denkvermögen. Als wir dann herkamen und die Wahrheit erkannten, gab es einige, die laut protestierten. Sie wurden… aus dem Weg geschafft.« Mike spuckte in eine dunkle Ecke. »Ich glaube, wir sollten von hier verschwinden«, sagte er dann. Während sie auf die Tür zugingen, die auf den Hauptgang führte, flüsterte er: »Bitte, versprechen Sie mir eins, Martin?« »Was?« »Versuchen Sie herauszufinden, wo mein Sohn ist. Sean Donovan. Und seine Mutter. Sie heißt Marjorie.« Martin nickte betrübt. »Ja, wenn ich kann. Doch es wird nicht leicht sein. Ich muß sehr vorsichtig sein.« Bei der Tür angelangt legte Donovan eine Hand auf den Arm des Visitors. »Und jetzt zu Tony. Bitte, bringen Sie mich zu ihm.« Der Fremde zögerte. »Ich weiß, in welcher Zelle er war, doch Diana sagte, daß sie ihn persönlich befragen wolle. Sonst weiß ich nichts über seinen Verbleib.« »Also gehen wir.« Martin hatte ganz offensichtlich Angst. »Das ist ein gut abgeschirmtes Gebiet mit einem Höchstmaß an Sicherheitsvorkehrungen. Wenn ich dort mit Ihnen gesehen werde, kann ich mich nicht mehr herausreden.« »Das Risiko für Sie ist nicht annähernd so groß wie das meine. Also gehen wir.« Der Visitor öffnete den Mund, um zu widersprechen. Als er jedoch Mikes Blick begegnete, schwieg er. »Also gut«, sagte er schließlich widerstrebend. Schnell und zielstrebig gingen sie weiter. Mike hatte die dunkle Brille wieder aufgesetzt und die Kappe tief ins Gesicht gezogen. Doch er hatte Schwierigkeiten mit dem Sehen – schon ohne Brille war die Beleuchtung auf dem Schiff äußerst
trübe für menschliche Augen. Aber es blieb ihm keine andere Wahl. Schließlich erreichten sie den Abschnitt mit den Gefängniszellen. Martin prüfte die Nummern und schob dann den Schlüssel ins Schloß. »Ich muß Sie warnen, Mike, das wird kein erfreulicher Anblick sein.« Donovan nickte. »Okay.« Sie gingen hinein. Der Raum war kalt und still und erfüllt vom Geruch nach Blut und Exkrementen. In der Mitte stand ein mit einem Tuch zugehängter Tisch. Martin trat auf den Tisch zu, hob das Tuch an einer Ecke an und spähte darunter. Als sich Donovan auf seine Seite stellte, drehte er sich, wortlos nickend, zu ihm um. Mike hielt den Atem an. »Tony«, sagte er dann leise, obwohl er wußte, daß sein Freund ihn nicht mehr hören konnte. Sanft schob er Martin zur Seite und hob das Tuch hoch. Tony Leonettis Gesicht war ruhig und friedlich. Irgend jemand hatte seine Augen zugedrückt. Auf seinem Gesicht waren keinerlei Schrammen oder Kratzer zu sehen. Auf der Suche nach der Todesursache hob Mike das Tuch höher und ließ seine Augen prüfend über Tonys Körper wandern. Die Todesursache war offensichtlich. Jemand hatte Tonys Körper aufgeschnitten, jemand mit vollendeten chirurgischen Fähigkeiten – doch man hatte darauf verzichtet, ihn wiederzuzunähen. Der Tisch, auf dem Tony lag, war leicht nach unten gewölbt, und Tonys Leichnam lag zentimetertief in Blut. Mike erschauerte und schluckte. Dann berührte er sanft das Gesicht seines Freundes. »Tony… mein Gott, es tut mir so leid, alter Freund.« Er ließ das Tuch wieder auf das stille, blasse Gesicht sinken. »Diana?« fragte er, bemüht, seiner Stimme einen festen Klang zu geben.
»Ja.« Martins Stimme klang beinahe so elend, wie Mike sich fühlte. »Sie hat… medizinische Versuche eingeführt und demonstriert ihrem Team gelegentlich chirurgische Techniken.« »Ich möchte sie umbringen«, sagte Mike mit harter, brüchiger Stimme. »Da müßten Sie sich in einer langen Reihe anstellen«, entgegnete Martin traurig. Aus der Ecke drang ein Stöhnen an ihr Ohr, und sie drehten sich erschrocken um. Eine Gestalt in einem blauen Arbeitshemd lag zusammengerollt auf dem dunklen, kalten Boden. Donovan eilte auf sie zu und drehte den Verletzten vorsichtig um. Er war ganz offensichtlich geschlagen worden von jemandem, dem sein grausamer Job Spaß zu machen schien – sein Gesicht war so verunstaltet, daß es schwer war, seine Züge oder sein Alter zu erkennen. Das linke Auge war so böse angeschwollen, daß es eine häßliche rötlichblaue Beule an der Seite des Kopfes bildete. Die aufgeplatzten und zerschlagenen Lippen bewegten sich, und Donovan vernahm ein heiseres Flüstern: »Wer… wer sind Sie?« »Ein Freund.« »Sie sind… keiner… von ihnen?« »Nein.« Der Mann versuchte ein schwaches Lächeln. An seinem dunklen Haar und seinem Tonfall erkannte Mike, daß er Mexikaner war. »Sie wollten mich zum Reden bringen… aber ich habe ihnen nichts gesagt.« Ein häßliches Grinsen trat auf sein Gesicht. »Haben Sie… etwas Wasser? Ich… habe meinen letzten Speichel benutzt, um… Diana ins Gesicht zu spucken.« »Hier«, sagte Mike und hielt ihm einen Becher an die Lippen. Der Mann konnte nur mit Mühe schlucken, doch es gelang ihm, den Becher ganz auszutrinken. Martin brachte ihm eine
Art Arztköfferchen, und Mike säuberte und verband das Gesicht des Mannes. Währenddessen verband Martin seine gebrochenen Rippen und gab ihm mehrere Spritzen. Auf Donovans fragenden Blick hin erklärte er: »Um Infektionen vorzubeugen. Hauptsächlich Antibiotika, aber auch eine, um ihn wieder auf die Beine zu bringen. Ich nehme an, Sie wollen ihn mitnehmen?« Darüber hatte Donovan noch gar nicht nachgedacht, doch er nickte: »Ja. Glauben Sie, daß wir ihn in ein Patrouillenfahrzeug schmuggeln können?« »Ich werde vorausgehen und mich umsehen. Aber da ist noch jemand, den Sie mitnehmen sollten. Gestern haben sie ein junges Mädchen aufgelesen, und ich glaube, sie wird als Druckmittel benutzt, um ihren Vater dazu zu bringen, eine der Untergrundbewegungen zu verraten. Diana schien ganz besonders an ihr interessiert zu sein – Sie sollten sie also schnell von hier wegbringen. Sie ist noch ein Kind.« »Okay, ich bin bereit. Ich kümmere mich um ihn, während Sie das Kind suchen. Wir treffen uns dann in… zehn Minuten… auf dem Landedeck.« Martin verglich die Uhren. »Sagen wir fünfzehn. Bis dann, Mike.« Als er gegangen war, gab Donovan seinem Patienten noch einen Becher Wasser. »Glauben Sie, daß Sie stehen können?« fragte er, als der Mann getrunken hatte. »Wir werden versuchen, aus dieser Kiste herauszukommen. Fühlen Sie sich in der Lage dazu?« »Ich glaube, ja, amigo«, sagte der Mann. »Gut. Ich heiße übrigens Mike Donovan.« Sie schüttelten sich die Hände. »Sancho Gomez.« »Freut mich, Sie kennenzulernen, Sancho, wenn auch unter solchen bedauerlichen Umständen.«
Als es Zeit war zu gehen, ergriff er Sanchos Arm, nahm das Gewehr von der Schulter und legte die Hand auf den Kolben. »Offiziell nehmen wir jetzt einen kleinen Gefangenentransport von einem Zellenblock zum anderen vor«, sagte er. »Tun Sie so, als hätten Sie Angst vor mir, Sancho.« »Comprende.« Ohne Zwischenfall erreichten sie das Landedeck, wo sie sich einen Platz zum Verstecken suchten. Ein paar Minuten später erschien Martin, der ein verängstigtes junges Mädchen hinter sich herzog, dessen Gesicht schmutzig, tränenüberströmt und von Makeup verschmiert war. Martin blickte sich hastig um, dann schob er das Mädchen in eins der Patrouillenfahrzeuge. Kurz darauf kletterten auch Mike und Sancho in die Fähre, und Martin machte sich daran, ebenfalls einzusteigen. »Also, los!« »Sie kommen auch mit?« fragte Mike überrascht. »Ich muß. Es ist töricht zu glauben, daß mich niemand mit Robin und Ihnen gesehen hat. Es wird hier jetzt zu gefährlich für mich.« »Sie sollten aber hierbleiben, Martin.« Donovan beugte sich aus der Fähre und sah ihn eindringlich an. »Warum?« »Wir brauchen hier oben jemanden, der auf unserer Seite ist. Für den Untergrund werden Sie kaum von Nutzen sein.« »Aber, Mike…« Martin hatte sichtbar Angst. »Ich muß dieses Ding doch für Sie fliegen.« »Ach was! Ich kann es fliegen! Sie bleiben hier, Martin.« »Sie können dieses Fahrzeug nicht steuern!« »Wollen wir wetten? Ich bin ein guter Pilot, und bei jedem Flug, den ich mit Ihnen gemacht habe, habe ich Sie genau beobachtet. Ich kann die Fähre fliegen. Ich weiß es.« »So hören Sie doch…«
»Geben Sie es doch zu, Martin.« Mike sah ihm in die Augen. »Sie haben Angst, nicht wahr?« »Ich…« Martin ließ die Schultern sinken und sah sich um. »Es würde sehr gefährlich für mich werden.« »Sie schaffen es schon.« Mike klopfte ihm auf die Schultern. »Niemand hat Sancho und mich auch nur eines Blickes gewürdigt. Und niemand wird Sie mit der gekaperten Fähre in Verbindung bringen. Sie brauchen nur von hier zu verschwinden, damit ich abfliegen kann.« Als Martin noch immer zögerte, schüttelte Mike ihn kräftig bei den Schultern. »Verdammt, Martin! Gefährlich für Sie? Es wird gefährlich für uns alle! Ich habe meinen Sohn und meinen Partner verloren. Und was ist mit Barbara? Sie war bereit, sich von mir erschießen zu lassen, um uns zu helfen! Und für Sancho ist es auch nicht gerade ein Tag im Disneyland. Zum Teufel, Martin, wir haben alle verdammt viel Angst, aber jeder von uns muß sein Möglichstes tun.« Er hielt inne, als er sah, wie Martin Sancho einen schnellen Blick zuwarf. »Also, was ist, Mann? Sind Sie bereit?« Martin nickte. »In Ordnung.« Er deutete auf die Armaturen. »Die Fähre neigt dazu, auszubrechen, Mike. Sie ist sehr empfindlich.« »Wie kontrolliere ich die Richtung?« Martin zeigte es ihm. »Gut. Und die Geschwindigkeit?« Auch das demonstrierte Martin ihm, und er nickte. »Und das hier ist der Höhenmesser. Die Maschine ist vollgetankt. Viel Glück, Mike.« »Danke.« Zaghaft startete Mike das Triebwerk. »Sie sollten diese Babys in Neu-England verkaufen«, murmelte er. »Sie könnten ein Vermögen damit machen.« Als Martin sich umdrehte, um zu gehen, hielt Donovan ihn am Arm fest. »He… Martin. Danke für alles. Ich bin stolz darauf, Sie zum Freund zu haben. Wir sind glücklich, daß es Sie gibt.«
Martin nickte. »Und ich bin froh, Sie zum Freund zu haben. Aber wenn Sie jetzt nicht machen, daß Sie hier herauskommen, werden wir es nicht erleben, daß wir alte Freunde werden – was wahrscheinlich das Beste wäre. Also, ›hauen Sie ab‹ – so nennen Sie das ja wohl.« »Okay.« Während Mike die Luke schloß, lief Martin davon. »Alles anschnallen.« Gerade, als er den Gashebel durchdrückte, hörte er einen Schrei. »Verdammt! Sie haben uns entdeckt! Also los!« Er gab Vollgas, und die Patrouillenfähre machte einen Satz nach vorn auf die Türen des Landedecks zu. Sie begannen sich gerade zu schließen, und Donovan mußte das Fahrzeug schnell zur Seite abdrehen. Die Fähre schlingerte leicht, als sie gegen die gegenüberliegende Tür stieß – dann waren sie draußen. Sie ließen das Mutterschiff rasch unter sich zurück. Als Donovan den Hebel nach vorn drückte und versuchte, ein Gefühl für die Fähre zu bekommen, steuerten sie plötzlich auf den aufgewühlten blaugrünen Pazifik zu. Während die Fähre nach unten sauste, rief das neben Donovan sitzende Mädchen schrill auf. »Reißen Sie sie hoch!« »Das versuche ich ja«, fauchte Donovan und zog den Hebel zurück. Er mußte hart gegen die in ihm aufsteigende Panik ankämpfen, als er den Ozean durch die Windschutzscheibe näher kommen sah. Dann neigte sich der Bug der Fähre nach oben… und weiter nach oben… Fast genauso plötzlich, wie sie zuvor in die Tiefe gerast waren, fanden die drei Menschen sich jetzt kopfüber in der Fähre wieder, als diese steil in die Höhe raste. Das Mädchen schrie laut auf. »Halt den Mund, du Idiot!« schimpfte Donovan und konzentrierte sich auf die Steuerung. Durch äußerst behutsames Bedienen der Hebel gelang es ihm schließlich, die Fähre unter Kontrolle zu bringen und einigermaßen ruhig zu fliegen. Er setzte zu einem weiten Bogen in Richtung Meer an.
Martin hatte recht – das Ding flog fast von allein. Doch bevor er es wagte zu landen, wollte er erst noch eine Weile fliegen, um sicherer in der Bedienung der Fähre zu werden. »Wohin fliegen Sie, amigo?« fragte Sancho, der hinten in der Fähre saß. »Auf die See hinaus, damit ich dieses Baby noch ein bißchen testen kann, ohne dem übrigen Verkehr in die Quere zu kommen«, erwiderte Mike. »Ich will dieses Ding erst noch eine Weile ausprobieren, bevor ich an die Landung auch nur denke. Hier draußen werde ich hoffentlich ein wenig Ruhe dafür haben.« »Es tut mir leid, es Ihnen sagen zu müssen, Señor Donovan, aber ich fürchte, wir werden verfolgt.« »Was?« »Zwei andere Vehikel dieser Art verfolgen uns, und…« Ein Einschlag, der die Fähre erzittern ließ, unterbrach ihn. »Was war das?« schrie das Mädchen. »…und schießen auf uns«, fuhr Sancho fort. »Ich fürchte, wir sind in Schwierigkeiten.«
18. Kapitel
Ruby Engels zog ihren uralten Einkaufswagen hinter sich her, während sie langsam den vertrauten Bürgersteig hinunterging. Mindestens zum zwanzigsten Mal sah sie prüfend auf ihre Uhr – 12.40 Uhr. Nur noch wenige Minuten zu gehen. Sie holte tief Luft und betete zu Gott, daß er ihr die Kraft geben möge, das zu tun, was getan werden mußte. Entgegen ihrer am Morgen zur Schau getragenen Zuversicht hatte Ruby entsetzliche Angst. Ihr Leben lang war sie eine gesetzliebende Bürgerin gewesen, und es war schwer, in ihrem Alter etwas daran zu ändern. Plötzlich sah sie vor sich zwei vertraute Gestalten – Menschen, die je wiederzusehen sie nie erwartet hatte. Sie beschleunigte ihre Schritte und rief lächelnd: »Stanley! Lynn! Sind Sie wieder zurück?« Stanley und Lynn Bernstein standen draußen im Hof in der Nähe ihrer Badehütte. Auf Rubys Ruf hin blickten sie überrascht auf. »Ruby!« Ruby ließ ihren Wagen an der Straßenecke stehen und eilte auf die beiden zu. »Ich bin ja so froh, Sie zu sehen. Ich hatte schon befürchtet, daß Sie nicht mehr zurückkommen würden!« Stanleys Arm war vom Ellbogen abwärts bandagiert – er hielt ihn sehr gerade, so als würde ihm schon die leiseste Erschütterung Schmerzen bereiten. Lynn schien unverletzt zu sein, doch ihre blauen Augen wirkten verändert – so, als hätte sie Furchtbares mitansehen müssen und begänne erst jetzt zu begreifen, daß sie mit dem Leben davongekommen war. Mit zitternden Armen streckte sie der alten Frau die Hand entgegen. »Ruby, es ist so gut, wieder zu Hause zu sein!«
»Wo ist Abraham?« Die Bernsteins wechselten einen schnellen Blick. »Wir haben ihn nicht mehr gesehen«, antwortete Stanley dumpf. »Als wir nach Hause kamen, war nur Daniel da.« Das Aussprechen von Daniels Namen schien ihm körperliche Schmerzen zu bereiten. »Auch er hatte ihn nicht gesehen; er versprach, den Visitor Brian zu fragen, wo Vater ist, aber…« Er schluckte. »Ich fürchte, es ist besser, wir wissen es nicht.« Zitternd schlug Lynn die Hände vors Gesicht. »Daniel sagt, es täte ihm leid… daß wir…« »Beruhige dich doch, Lynn«, sagte Stanley und legte den gesunden Arm um seine Frau. »Ich verstehe«, meinte Ruby. »Bitte, passen Sie auf sich auf, Stanley. Bis später, Lynn. Versuchen Sie, sich ein wenig auszuruhen.« Sie berührte tröstend Lynns Schultern und ging schnell davon. Sie weigerte sich nachzudenken. Automatisch setzte sie einen Fuß vor den anderen – eins-zwei, eins-zwei –, als sie ihren Einkaufswagen nahm und den Weg weiterging, den sie so oft mit ihrem Freund gegangen war. An der nächsten Ecke sah sie eins der Patrouillenfahrzeuge der Visitors, das mit geöffneter Luke neben zwei Polizeiwagen stand. Ruby blieb stehen. Ein paar Häuser weiter erkannte sie ein paar Visitor-Soldaten, die – begleitet von zwei Polizisten – dabei waren, eine Gruppe verstockt dastehender Jugendlicher zu durchsuchen, die vor einer Reihe von Visitor-Plakaten standen, die mit dem »Victory«-Symbol versehen waren. Dosen mit roter Sprühfarbe waren stumme Zeugen ihres Vergehens. Schnell nahm Ruby einen der Molotowcocktails aus dem Versteck in ihrem Einkaufswagen und holte ihr Feuerzeug aus der Tasche. Während sie an der offenstehenden Luke der Fähre vorbeiging, setzte sie den Zünder in Brand.
Niemand schenkte ihr Beachtung – die Visitors waren voll und ganz mit den Kindern beschäftigt. Mit schneller, sicherer Bewegung warf Ruby den Molotowcocktail in die offene Fähre. »Das ist für Abraham!« brummte sie mit einem erbitterten Blick auf die ihr den Rücken zukehrenden Visitors. Dann ging sie, den Einkaufswagen hinter sich herziehend, weiter. Der ersten kleinen Explosion folgte eine Sekunde später eine zweite, wesentlich stärkere. Als Ruby einen schnellen, prüfenden Blick zurückwarf, sah sie die Fähre in Flammen stehen; auch einer der Polizeiwagen hatte Feuer gefangen. Die Visitors und die Polizeibeamten starrten auf die Flammen, und die Kinder waren nur noch ferne, verschwommene Gestalten. Ein böses Lächeln lag auf ihrem Gesicht, bis sie bemerkte, daß einer der Polizisten ihr nachsah. Rubys Körper versteifte sich – dann jedoch sah sie sein Grinsen und das Victory-Zeichen, das er ihr verstohlen hinter seinem Rücken machte. Ruby Engels ging weiter die Straße herunter und ihre Blicke suchten nach einem neuen Angriffsziel.
19. Kapitel
Mit quietschenden Reifen bog der Lieferwagen um die Ecke. »Tut mir leid«, sagte Elias und rieb sich die Hände an seinen Jeans trocken. »Meine Hände sind verschwitzt.« In der Ferne hörten sie eine erneute Explosion. »Hast du auch Angst?« Er blickte in den Rückspiegel – der Wagen der Müllabfuhr war noch immer da. Juliet, die neben ihm saß, blickte angespannt aus dem Fenster auf die brennenden Überreste eines Polizeiwagens. »Ja, Elias. Ich hoffe nur, daß niemand verletzt wird. Ich möchte keinen von uns verlieren.« In Robert Maxwells Kopf, der neben Juliet auf dem schwankenden Behelfssitz saß, überschlugen sich die Gedanken. Er warf einen schnellen Blick auf die Uhr – 1.47 Uhr. Noch zwei Stunden. Ich werde mich während des Angriffs davonmachen und irgendein Beförderungsmittel stehlen müssen, damit ich Kathy und die Mädchen herausholen kann. Er dachte an die Menschen in dem Lager in den Bergen, stellte sich Juliets Gesicht vor, wenn sie erführe, daß er sie verraten hatte – dann jedoch schob er diese Gedanken entschlossen von sich. Robin. Denk an Robin, die da oben in diesem verdammten Schiffskoloß ist… Als der Lieferwagen wieder um eine Ecke bog, sahen sie direkt vor sich ein riesiges Gebäude aus Beton und Ziegelsteinen, das von einem Eisenzaun umgeben war. Zwei Visitor-Soldaten standen am Tor Wache. Hinter dem Zaun bemerkten sie zwei abgestellte Militärfahrzeuge. »Da. Dort ist die Laderampe, Elias.« Juliet deutete nach vorn.
»Ich sehe sie. Festhalten!« Der Wagen raste auf das Tor zu und durchbrach krachend den Eisenzaun. »Achte auf die beiden auf dem Dach!« schrie Juliet. Elias riß den Wagen herum, und dieser prallte gegen ein abgestelltes Transportfahrzeug. Dann setzte Elias ihn rückwärts die Laderampe herauf. Der Müllwagen rollte durch die Überreste des Tors herein. Während das pulsierende Zischen der Visitor-Gewehre die Luft erfüllte, wurde die Hintertür des Wagens geöffnet; bewaffnete Untergrundkämpfer sprangen heraus und begannen, auf die Visitors zu schießen. Ein paar Kämpfer versuchten, die Wachtposten auf dem Dach mit das Sonnenlicht reflektierenden Spiegeln zu blenden. Juliet sprang aus dem Lieferwagen und lief nach hinten; ihre Hüfte tat entsetzlich weh, doch sie spürte den Schmerz kaum. »Aufmachen! Wir müssen ihn beladen! Schnell!« Die Hintertür des Lieferwagens wurde geöffnet, und weitere Widerstandskämpfer stürzten auf die Laderampe heraus. Verfolgt von den Geräuschen des draußen tobenden Kampfes, rannten sie zusammen mit Juliet in das Waffenarsenal hinein. Juliet hatte bereits die ersten Waffen in der Hand, als Elias neben sie trat. »Oh! Sieh dir bloß all diese herrlichen Schießeisen an!« »Keine Zeit zum Aussuchen!« fauchte sie. »Ladet sie ein!« Schnell bildeten sie eine Kette und reichten die Waffen von Hand zu Hand in den Lieferwagen. Elias und Brad rasten herum und übergaben den Leuten Maschinengewehre, eine Bazooka und Munition, einen Raketenwerfer und Raketen. Jemand schrie auf, und Juliet blickte sich erschrocken um. Einer der Kämpfer schleifte einen anderen herbei; dann sah sie Robert eine stöhnende Frau hereintragen. »Oh, nein!« Sie eilte an die Verwundeten heran. »Wir müssen sie in den Lieferwagen bringen.«
Mit angstverzerrtem Gesicht rief Robert: »Ich muß hier raus und das Lager in den Bergen warnen! Die Visitors greifen es heute nachmittag an!« »Was?« »Robin wurde gefangengenommen – ich habe nur versucht, ihr zu helfen! Aber zu viele Menschenleben sind in Gefahr – ich kann nicht länger schweigen und sie ihrem Schicksal überlassen!« Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und stürzte aus dem Gebäude. Er entdeckte einen abgestellten Jeep, sah den Schlüssel im Zündschloß stecken und sprang auf den Fahrersitz. Juliet blieb unschlüssig stehen, doch es gab nichts, was sie hätte tun können. Robert startete den Jeep, ließ den Motor aufheulen und raste, tief über das Lenkrad gebeugt, davon. »Elias!« rief Juliet. »Hilf mir, diese Leute in den Lieferwagen zu bringen.« Während sie die beiden Verletzten hinaustrugen, rief sie den anderen Rebellen zu: »Der Wagen ist gleich voll – sagt es den anderen! Macht euch bereit, von hier abzuhauen. Wir müssen sofort nach dem Lager in den Bergen – unsere Kameraden werden angegriffen!« Die nächsten Minuten verliefen in einem ziemlichen Durcheinander. Weitere Verwundete wurden eilig in den Lieferwagen gebracht, und Juliet sah, daß zumindest einer von ihnen den Weg bis zum Lager in den Bergen nicht überleben würde. Elias und Brad überwachten den Rückzug, während Juliet hinten im Lieferwagen bei den Verletzten blieb. Als sie auf den Hof hinausspähte, sah sie mehrere rotgekleidete Gestalten auf dem Boden liegen. Alle Fahrzeuge der Visitors standen in Flammen. In diesem Augenblick bemerkte sie, daß das Feuer sich zum Munitionslager hin ausbreitete. »Elias!« rief sie. »Bring uns hier raus!«
Im gleichen Augenblick, als der Motor ansprang, kletterte Brad zu ihr in den Wagen. Er blickte auf die aufgestapelten Waffen. »Ich glaube, wir haben unsere Sache gut gemacht.« »Wenn man das bei fünf Verwundeten, von denen einer in Lebensgefahr schwebt, behaupten kann, dann hast du recht. Komm mal rüber zu mir.« Als er neben ihr war, fuhr sie fort: »Halte diesen Lappen hier fest, bis die Blutung zum Stillstand kommt. Wie weit ging deine Erste-Hilfe-Ausbildung bei der Polizei?« »Nun, ich habe einem Baby auf die Welt geholfen. Aber im wesentlichen lernte ich nur die Dinge, die zu tun sind, bis die Ambulanz kommt.« »Das ist mehr, als die meisten Menschen können. Zumindest wird dir beim Anblick von Blut nicht gleich schlecht.« »Was hast du da vorhin über das Lager in den Bergen gesagt?« »Bevor er wegging, erzählte Robert mir, daß die Visitors seine Tochter Robin in ihrer Gewalt und ihn gezwungen hätten, ihnen die Lage des Lagers zu verraten. Sie haben vor, es anzugreifen. Wir müssen unsere Ausrüstung von da wegbringen.« »Oh, verdammt! Dieser Mistkerl!« »Bist du verrückt, Brad? Was sollte der arme Kerl denn tun? Das Leben seiner Tochter opfern? Ich kann nur hoffen, daß es uns auf irgendeine Art und Weise gelingt, sie zurückzuholen. Vielleicht kann uns dieser Martin, von dem Mr. Donovan gesprochen hat, dabei helfen.« »Jeder andere wäre mir lieber.« Bis sie mit dem Lieferwagen aus der Stadt waren, hatten sie die Verwundeten, so gut sie konnten, versorgt. Leonors Kopf in ihrem Schoß haltend, saß Juliet, mit dem Rücken gegen einen Stapel Gewehre gelehnt, auf dem schwankenden Boden. Beruhigend hielt sie die Hand der Frau und gleichzeitig
kontrollierte sie ihren schwachen, unregelmäßigen Puls. Brad sah zu ihnen herüber. »Wird sie durchkommen?« Juliet sah ihn betreten an und schüttelte den Kopf. Obwohl Leonor bewußtlos war und sie wohl kaum hören konnte, wollte sie nicht laut sprechen. Sie wußte, daß das Gehör am längsten von allen Sinnesorganen arbeitete. »Wir müssen gleich dasein«, sagte Brad und blickte auf die Uhr. Juliet nickte und beobachtete Leonor besorgt. Ihr Puls begann zu flattern, zu jagen, und sie fuhr keuchend in die Höhe. Dann war es vorbei. »Sie ist tot«, sagte Juliet, und ihr wurde bewußt, wie sehr ihre Hüfte schmerzte. Doch das war ohne Bedeutung. Im fahlen Licht der Innenbeleuchtung sah Brad sie besorgt an, dann kam er schnell zu ihr herüber. »He, Julie. He…« Unbeholfen legte er den Arm um die Schultern, und Juliet lehnte sich einen langen Augenblick lang an ihn. Als der Lieferwagen sich in einer scharfen Kurve auf die Seite neigte, glitt Leonors Kopf aus dem Schoß Juliets. »Das ist die Abzweigung zur Bergstraße«, sagte Juliet. Dem veränderten Motorengeräusch entnahm sie, daß der Wagen jetzt die Steigung nahm. »Jetzt dauert es nicht mehr lange. Wie spät ist es, Brad?« Sie sah das schwache Aufleuchten seiner Uhr. »2.50 Uhr.« »Soll das etwa heißen, daß die ganze Sache im Waffenlager nur eine halbe Stunde gedauert hat?« »Weniger«, antwortete Brad. »Das ist unheimlich, nicht wahr? Das ging uns auch in Vietnam so. Wenn wir in einen Kampf verwickelt oder vom Feind eingeschlossen waren, verging die Zeit meist unheimlich schnell – oder langsam.« Juliets Körper versteifte sich. »Ich höre Schüsse.« Für einen Augenblick war das pulsierende Zischen der Visitor-Waffen und das Schreien von Menschen zu hören. »Sie
greifen das Lager an.« Juliet sprang auf und pochte an die Trennwand zur Fahrerkabine. »Beeil dich, Elias!« »Er kann dich nicht hören, Julie«, meinte Brad. Mit schußbereiten Gewehren bezogen sie vor der hinteren Luke Aufstellung und warteten darauf, daß der Wagen hielt, um den Kämpfenden beistehen zu können. Mit quietschenden Reifen kam der Wagen zum Stehen, und Brad stieß sofort die Tür auf. »Hier! Gewehre!« Das Lager hallte wider vom Zischen der Visitor-Waffen, und Juliet sah eine Patrouillenfähre im Tiefflug in Richtung des Lagers schweben. Blaue Energiestrahlen blitzten auf und leckten über den Boden, die Zelte, verbrannten Menschen. Juliet wagte kaum, sich umzublicken und reichte nur hastig Waffen aus dem Lieferwagen. Vor Entsetzen konnte sie kaum einen klaren Gedanken fassen. Brad und Elias zerrten die Bazooka aus dem Lieferwagen und stellten sie auf, während Juliet das nächstbeste Gewehr ergriff und unbeholfen aus dem Wagen kletterte. »Im Wagen sind Verwundete und Waffen!« rief sie einem neben ihr stehenden Mann zu, den sie als Terry erkannte. Sie hielt ihn am Arm fest. »Nimm dir ein paar Leute und hol sie raus! Wenn der Tank getroffen wird, kommen die Verletzten um – und obendrein verlieren wir dann auch noch die Waffen!« »In Ordnung!« erwiderte er und rannte davon. In diesem Augenblick hörte Juliet wieder eine Fähre herankommen. »Hol sie herunter, Brad!« rief Elias, und der Ex-Polizist feuerte auf das Shuttle über ihnen. Eine heftige Explosion erfaßte die Visitor-Fähre, und sie begann zu trudeln und stürzte hinter den Bäumen ab. Einen Augenblick später hörten sie ein lautes Krachen, und orangefarbene Stichflammen züngelten gen Himmel. Juliet gab den beiden Männern einen Wink, und sie luden hastig die Bazooka nach. Wieder sank eine der Fähren in
Richtung des Lagers herab – die Shuttles kamen so schnell heran, daß es schwer war festzustellen, wie viele es waren. Im gleichen Augenblick, in dem eine braunhaarige Frau aus einem brennenden Zelt herausgestürzt kam, loderte dicht vor ihr einer der blauen Blitze. Vor Schmerz schrie sie auf und krümmte sich zusammen. Ein etwa dreizehn Jahre alter Junge rannte hinter ihr her, doch er war nicht stark genug, um sie hochzuheben. »Hilfe!« rief er, doch niemand von den in panischem Entsetzen durcheinanderrennenden Menschen schien ihn zu hören. Juliet griff nach einem Gewehr und humpelte auf ihn zu. »Ich krieg sie nicht hoch!« schluchzte er. Juliets Hüfte schmerzte sehr, und es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie den Jungen erreicht hatte. Mit der rechten Hand griff sie nach dem Arm der Frau und begann, sie mit Hilfe des Jungen nach dem Gebäude zu zerren, das die wissenschaftliche Ausrüstung beherbergte. In ihrer Nähe sah sie ein paar Leute den Raketenwerfer aufstellen. Beeilt euch… schnell, schnell… schneller! dachte Juliet, während ihr, benommen von den stechenden Schmerzen in ihrer Hüfte, undeutlich bewußt wurde, daß sie rannte. Doch ihre Bewegungen kamen ihr plump und schwerfällig vor wie in einem nicht enden wollenden Alptraum. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie die größte der Visitor-Fähren direkt auf sie zukommen. Sie ließ den Arm der Frau fallen, drehte sich um und hob die Waffe, die sie vorhin in aller Eile an sich genommen hatte. Eine 45er-Maschinenpistole, stellte sie, sich an Brads Lektionen erinnernd, fest. Ihr Verstand sagte ihr, daß es völlig verrückt war – eine Maschinenpistole gegen eine Raumfähre –, doch wie benommen von der ganzen irrealen Szenerie um sich herum legte sie die Waffe so an, wie Brad es ihr gezeigt hatte. Sie zielte. Es war das erstemal in ihrem Leben, daß sie auf irgend etwas anderes schoß als eine Strohpuppe.
Das Gewehr ruckte in ihrer Hand, als sie ein paar Salven abfeuerte. Würden die Kugeln die Wände der Fähre überhaupt durchdringen? Als die Fähre vorbeiglitt und auf das Lager feuerte, erkannte Juliet einen der Insassen. Es war Diana. Ihr schönes Gesicht war so oft auf Titelbildern von Zeitschriften abgebildet gewesen, daß ein Irrtum ausgeschlossen war. Wieder drückte Juliet auf den Auslöser, und dieses Mal erkannte sie an den aufsprühenden Funken, daß sie die Fähre getroffen hatte. Doch die Fähre schwebte unbeschädigt weiter. Elias und Brad feuerten mit der Bazooka auf sie, verfehlten sie jedoch. Juliet ergriff wieder den Arm der Frau. »Komm!« rief sie dem Jungen zu. Wieder hörte sie die Fähre im Tiefflug heransurren, und sie wußte mit tödlicher Gewißheit, daß der Pilot sie dieses Mal nicht verfehlen würde. In panischer Angst rief sie dem Jungen zu: »Lauf weg! Ich schaffe es allein!« Doch er schüttelte eigensinnig den Kopf, und so schleppten sie die Frau gemeinsam weiter. Juliet hielt den Blick krampfhaft auf das vor ihr liegende Gebäude gerichtet; sie wollte einfach nicht um sich sehen. Doch ihre Ohren konnte sie nicht verschließen, und sie hörte das drohende Flirren der Fähre näher und näher kommen… Plötzlich vernahm sie das gedämpfte Sirren eines zweiten Shuttles, das pulsierende Zischen seiner Bordwaffen. »Sehen Sie nur!« Der Junge deutete nach oben. Dianas Fähre war offensichtlich getroffen worden und trudelte unkontrolliert dahin, während das andere VisitorBeiboot in Richtung des Lagers glitt – und das PatrouillenFahrzeug angriff, das sich von der anderen Seite des Lagers her näherte. Der Pilot hatte Dianas Fähre wieder unter Kontrolle bekommen und flog, begleitet von einem anderen Shuttle, langsam in Richtung der Stadt und des Mutterschiffs
davon. Die neu hinzugekommene Fähre folgte ihnen, eröffnete das Feuer aus den Bordwaffen, drehte dann ab und kehrte nach dem Lager zurück. Staubwolken wirbelten auf, als die Fähre holprig landete. Die Luke öffnete sich, und ein ihnen allen bekanntes Gesicht war zu sehen. »Hallo!« »Mike!« rief der neben Juliet stehende Junge und hüpfte außer sich vor Freude auf und nieder. »Wie sind Sie an dieses Schiff gekommen?« »Ich habe es gegen Briefmarken eingetauscht«, antwortete Mike. Juliet fühlte eine Hand auf ihrem Arm, die sie sanft beiseite schob. Dann sah sie, wie Louise und Bill die noch immer bewußtlose, jetzt jedoch leise stöhnende Frau hochhoben. Sich ihrer noch immer steifen, distanzierten Haltung Donovan gegenüber sehr bewußt, humpelte Juliet auf die Visitor-Fähre zu. »Es ist gut, Sie zu sehen, Mr. Donovan«, sagte sie kühl. »Sie haben eine besondere Begabung dafür, im richtigen Augenblick aufzutauchen.« Weitere Widerstandskämpfer versammelten sich um sie. »Scheint so«, entgegnete Donovan. »Sie haben Glück gehabt, daß es Sancho gelungen ist herauszufinden, wie man die Bordwaffen dieses Shuttles bedient.« Elias und Brad hoben einen fast bewußtlosen Mann aus der Fähre. Er brachte es fertig, schief zu lächeln, als Donovan aus Zeige- und Mittelfinger der einen Hand ein Victory-Zeichen formte. Robin Maxwell, die jetzt noch niedergeschlagener aussah als bei der letzten Begegnung mit Juliet, kletterte vom Passagiersitz herunter. »Haben Sie meine Eltern gesehen, Miss Parrish?« »Nein«, erwiderte Juliet. »Hat irgend jemand Robert Maxwell gesehen?«
»Ja, ich«, sagte einer der Männer. »Er kam kurz vor Ihnen hier an und hielt auf das Gebäude mit den Schlafräumen zu.«
Immer wieder den Namen seiner Frau rufend, taumelte Robert Maxwell an dem in Flammen stehenden Gebäude mit den Schlafräumen vorbei. Trotz der sengenden Hitze des Feuers zitterte er am ganzen Körper. Wenn Kathy dort drin gewesen war… Doch er wollte nicht daran denken und ging weiter. »Kathy?« Vage wurde er sich bewußt, daß die Visitor-Fähren weg waren – doch der Grund dafür interessierte ihn nicht. »Polly? Kathy? Oh, mein Gott, so antwortet mir doch!« Er kam an einen Schuppen, in dem Konserven und andere Vorräte lagerten. Robert rieb sich die tränenden Augen, um besser sehen zu können. Unter dem Überhang des Schuppens stand ein kleiner Tisch, auf dem etwas Blaues lag. Blau, dachte Robert benommen. Meine Lieblingsfarbe. Er erinnerte sich daran, daß Kathleen sich einmal beschwert hatte, weil er ihr zu jedem Geburtstag einen Pullover schenkte, und zwar immer einen blauen… Als sein Blick wieder klar war, erkannte er, daß das hübsche Blau rote Flecken hatte… »Kathy!« Der Schrei blieb ihm im Hals stecken. »Nein!« Er rannte auf sie zu. Sie lag quer über dem Tisch und ihre Beine baumelten wie leblos herunter. Eine dunkle Lache hatte sich auf der Tischplatte gebildet, und aus dem klaffenden Loch aus ihrem Unterleib strömte Blut und tropfte an ihren Beinen herunter. Das Gesicht war von roten Striemen überzogen, doch als Robert sie hochhob, schlug sie die grünen Augen auf. »Kathy? Wo sind die Mädchen? Ist alles in Ordnung mit ihnen?« Kaum merklich bewegte sie den Kopf vor und zurück.
Er berührte sie an der Stirn und spürte ihr schmutziges, verklebtes Haar. »Oh, Gott, Kathy! Was habe ich nur getan!« Aufschluchzend barg er ihren Kopf an seiner Brust, wiegte ihn hin und her. »Nein… nein…« Die Zeit schien stillzustehen, wurde zu diesem einen Augenblick, dem Verlangen, seine Frau zu beschützen, das Unvermeidliche abzuwehren. Es dauerte nicht lange. Er wußte es sofort, als es endlich vorüber war und ihr Körper schwer… so unendlich schwer… in seinen Armen wurde. Als Robert sie schließlich losließ und in ihre leeren, starren und übergroßen Pupillen starrte, war es ihm, als blicke er in ein Meer unendlicher Finsternis. Nicht fähig, dieses Gefühl der Trostlosigkeit und Verlorenheit beim Anblick ihrer leeren Pupillen noch länger zu ertragen, drückte er schnell ihre Augen zu. Dann ließ er Kathys Leiche behutsam auf den Tisch heruntersinken, zog sein Jackett aus und stülpte es sanft über sie. Irgend etwas drückte ihn in der Seite, und als er an sich herunterblickte, sah er die im Halfter steckende Pistole. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit er das Halfter für den Angriff am Morgen umgeschnallt hatte. Meine Schuld, dachte er, als er auf den Leichnam seiner Frau blickte und das zerstörte Lager beobachtete. Einzig und allein meine Schuld, Kathys Tod. Meine kleinen Mädchen… die Menschen, die mir vertrauten… Er dachte an Robin, die sich jetzt hilflos in diesem verdammten Schiff befand, und verfluchte sich selbst. Verfluchte sich mit einer Bitterkeit, die sein ganzes Inneres zu versengen schien. Ich kann so nicht weiterleben, dachte er. Ich kann es einfach nicht. Kalt, schwer und tröstlich glitt die Pistole in seine Hand. Geistesabwesend entsicherte er sie, starrte in das kleine, schwarze Loch am Ende der Mündung, in die Dunkelheit, die ihm Erlösung von dieser Schuld, diesem Schmerz versprach. Dann fand sein Finger den Abzug.
»Vati! Vati!« Robert Maxwell ließ die Waffe fallen, als er Polly kommen sah, die ihre Schwester Katie auf dem Arm trug. Beide weinten, schienen jedoch unverletzt zu sein. »Katie! Polly! Oh, Gott!« Robert stürzte auf sie zu, schloß sie in die Arme. Weinend hielten sie sich in den Armen, und dann war – o Wunder über Wunder! – auf irgendeine unerklärliche Weise auch Robin bei ihnen.
Mike Donovan starrte Juliet Parrish fassungslos an. »Was soll das heißen, wir sollten unsere Aufmerksamkeit lieber den Mutterschiffen widmen und so viele wie möglich von ihnen zerstören… Sind Sie verrückt geworden, Doc? Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Die Visitors haben Tausende – Tausende – von unseren Leuten an Bord! Menschen, die sie entführten! Die Zerstörung der Mutterschiffe würde ihren Tod bedeuten!« »Das weiß ich«, erwiderte Juliet, ohne ihn anzusehen. Sie beobachtete die Evakuierung des Lagers. »Elias! Sorg dafür, daß die Lastwagen rauskommen! Zuerst die mit der Munition. Wir werden natürlich versuchen, einen Weg zu finden, sie aus den Schiffen herauszuholen, Mr. Donovan, aber…« »Versuchen?« Er ergriff ihren Arm und drehte sie zu sich herum, so daß sie ihn ansehen mußte. Über den dichten braunen Haarschopf hatte er sich eine lächerlich kleine Baseballmütze gestülpt. Juliet hielt seinem Blick stand. »Ja, versuchen, Mr. Donovan, Sie haben mich richtig verstanden. Vielleicht sind wir dazu gezwungen, diese Tausende von Menschen zu opfern.« »Opfern?« Seine Stimme überschlug sich vor Wut. »Ja, um Millionen – ja, Milliarden – anderer zu retten, die noch hier auf der Erde leben. Mir gefällt das auch nicht, ganz
und gar nicht – aber möglicherweise haben wir keine andere Wahl!« Sie winkte jemandem hinter Donovan zu und rief: »Jetzt die Laborausrüstung. Und die Verwundeten.« Mike stand inmitten der eilig umherlaufenden Menschen und blickte der davonhumpelnden Juliet nach. Dann blieb sein Blick an einer Reihe von Tragbahren hängen, die darauf warteten, in die Wagen geladen zu werden. Als er einen vertrauten braunen Kopf unter den Verwundeten entdeckte, trat er auf die betreffende Frau zu. »Fran! Was ist passiert?« Fran Leonetti sah blaß aus. Am Arm und der Seite zeigten sich dicke Verbände; doch als Donovan zu ihr gerannt kam, wandte sie ihm den Kopf zu. »Hallo, Mike«, sagte sie. »Mich hat es während des Angriffs erwischt, doch Juliet Parrish und Josh brachten mich aus der Gefahrenzone, bevor Schlimmeres passieren konnte. Wo ist Tony?« Mike bemerkte, daß er in der Eile, das Lager zu erreichen, gar nicht mehr an Tony gedacht hatte, und fühlte so etwas wie Schuld. Während er auf Fran herabblickte, wußte er plötzlich, daß er mit der Antwort ein wenig zu lange gezögert hatte. Ihre braunen Augen waren – wahrscheinlich von den Schmerzmitteln – leicht getrübt, doch sie ließ ihn nicht aus den Augen. »Schlechte Nachrichten?« fragte sie sehr leise. »Mike! Sag es mir!« Donovan schluckte. Dann ergriff er ihre unverletzte Hand und drückte sie sanft. »Es tut mir leid, Fran. Die Visitors hatten ihre Sicherheitspatrouillen verstärkt, und davon wurden wir überrascht. Sie schlugen mich bewußtlos. Als ich wieder zu mir kam, halfen mir ein paar von ihnen zu fliehen, erklärten jedoch, sie könnten nicht an Tony heran. So schnell es mir möglich war, schlich ich mich noch einmal an Bord des Mutterschiffs, um Tony zu suchen. Doch es war… zu spät.«
»Also tot«, konstatierte sie, nicht bereit, es zu glauben. »Willst du mir etwa sagen, daß Tony tot ist?« »Ja. Oh, mein Gott, es tut mir so leid, Fran, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr.« Der Schmerz, den er die ganze Zeit über unterdrückt hatte, drohte ihn zu überwältigen. Er schluckte und versuchte, ruhig durchzuatmen. Er durfte sich jetzt nicht gehenlassen. Fran brauchte ihn. Er hielt ihre Hand mit beiden Händen umschlossen und wünschte, er könnte sie in die Arme nehmen. Doch die Verbände hinderten ihn daran. »Es tut weh…« Frans Stimme klang ebenso überrascht wie schmerzerfüllt. »Oh, Gott, Mike, es tut so weh – jetzt weiß ich, was es heißt, ein gebrochenes Herz zu haben… Es tut so weh.« Tränen liefen ihr übers Gesicht, doch sie schien es nicht einmal zu bemerken. »Er war erst achtundzwanzig… drei Jahre jünger als ich. Es ging alles so gut. Wußtest du, daß wir eine Familie gründen wollten? Ich wollte nicht im Sommer schwanger sein, und darum planten wir, noch ein paar Monate zu warten…« »Fran«, sagte jemand. »Wir bringen dich jetzt weg.« Als Donovan aufblickte, sah er Elias und Brad vor sich stehen. »Ist genug Platz im Wagen, daß ich sie begleiten kann? Ich mußte ihr sehr schlechte Nachrichten über ihren Mann bringen und mochte bei ihr bleiben.« »Was ist mit diesem Reptilien-Go-Kart da drüben?« fragte Brad und nickte in Richtung des Visitor-Patrouillenfahrzeugs. »Juliet sagte, wir sollten es in den Wäldern beim Hauptquartier verstecken. Sie sind der einzige, der das Ding fliegen kann.« »Ja«, antwortete Donovan. »Ich glaube, Sie haben recht. Ich muß jetzt gehen, Fran«, fügte er an die Verletzte gerichtet hinzu und strich ihr das Haar aus dem tränennassen Gesicht. »Aber ich besuche dich bald im Lager, einverstanden?« »Okay«, flüsterte sie.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, komme ich mit Ihnen, Fran«, sagte Josh. »Es tut mir schrecklich leid wegen Ihres Mannes…« »Na gut. Ich glaube, es gibt hier noch genug Platz für dich, wenn wir ein wenig zusammenrücken«, meinte Elias. Mike stand auf und ging durch das zerstörte Lager zu der Patrouillenfähre hinüber. Diesen Kampf haben wir gewonnen, dachte er. Die Visitors haben die Laborausrüstung nicht zerstören können, und wir konnten Waffen erbeuten. Doch das war erst der Anfang, und bereits jetzt haben wir einen schrecklich hohen Preis bezahlt… Als es an der Hintertür klopfte, blickten Stanley und Lynn von ihren Tellern hoch. Stanley stand auf, trat ans Fenster heran und sah kurz nach draußen. Dann öffnete er schnell die Tür. »Robert!« Geräuschlos trat Robert Maxwell ein und deutete dann mit fragendem Blick auf ein Bild von Daniel. »Er ist vorhin weggegangen«, sagte Stanley. »Mit Brian.« »Warum sind Sie hergekommen?« fragte Lynn mit feindseliger Miene und drehte unwillig ihre Serviette zwischen den Händen. »Bitte, ich muß mit Ihnen reden.« Mit wildem Aufblitzen in ihren Augen schüttelte Lynn heftig den Kopf. »Sie müssen gehen! Unser Sohn kann jeden Augenblick zurückkommen! Vergessen Sie nicht, daß er es gewesen ist, der…« »Ich weiß«, erwiderte Robert. »Aber der Widerstand braucht Ihre Hilfe.« »Wie bitte?« fragte Lynn fassungslos und drehte sich verwirrt zu ihrem Mann um. »Haben Sie den Verstand verloren?« Lynn war aufgesprungen. »Auch mir gefällt das alles nicht, aber wir sind schon einmal verhaftet worden. Sehen Sie ihn an.« Sie deutete
auf ihren Mann. »Er ist es, der wirklich zu leiden hatte. Die Visitors haben ihn gefoltert! Er wußte nichts, was ihnen hätte helfen können – aber sie haben es trotzdem getan! Und sie ließen uns nur aus einem einzigen Grund gehen – weil unser Sohn – mein Sohn – ihr Informant ist. Sie wollten ihn auf ihrer Seite behalten. Wir waren ihnen völlig gleichgültig.« »Das ist ja auch einer unserer Beweggründe. Die Visitors verdächtigen Sie nun nicht mehr, und so haben Sie auch nichts mehr von ihnen zu befürchten. Es ist wie beim Blitz – er schlägt nie zweimal an der gleichen Stelle ein.« »Der einzige Grund, warum sie uns gehen ließen, war, daß wir anderen erzählen konnten, was mit uns geschehen ist – was für Folterungen diejenigen erwarten, die sich gegen sie stellen. Wenn sie uns noch einmal verhaften, werden sie uns töten!« Robert sah sie lange schweigend an. Als er endlich sprach, war seine Stimme heiser und brüchig: »Vor drei Tagen haben sie Kathleen getötet, Lynn. Meine kleinen Mädchen haben keine Mutter mehr. Wenn ich sterbe, werden meine Kinder zu Waisen. Ich bin zu der Ansicht gelangt, daß es nicht so schlimm ist, selbst zu sterben, wenn dadurch Tausende – vielleicht sogar Millionen – anderer Menschen gerettet werden. Es gibt Kämpfe, die größte persönliche Risiken und Opfer wert sind, und das ist hier der Fall!« Er sah Lynn sehr ernst an und fügte hinzu: »Bitte, Lynn… überlegen Sie es sich noch einmal.« Erschöpft sank Lynn auf ihren Stuhl zurück, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ach, Robert, es tut mir so leid wegen Kathleen. Aufrichtig leid, aber…« Hilfesuchend sah sie ihren Mann an. »Es ist unmöglich, Robert. Unmöglich.« Zum ersten Mal seit Roberts Eintritt rührte sich Stanley. Er trat an seinen Schreibtisch heran und kam kurz darauf mit einem Blatt Papier zurück, das er seiner Frau gab. »Was ist das?«
»Vater hat es uns hinterlassen. Er schrieb den Brief an jenem Morgen, als sie uns holten… er muß geahnt haben, was ihn erwartete. Lies ihn, Lynn. Laut, so daß Robert zuhören kann.« Automatisch begann Lynn zu lesen: »Meine geliebte Familie. Es tut weh zu wissen, daß ich in den nächsten Tagen nicht bei Euch sein kann. Ich bete zu Gott, daß ich der einzige sein werde, den sie heute verhaften. Es tut weh zu wissen, daß ich Euch nicht mehr wiedersehen werde… Stanley, mein Sohn… Lynn, die so lieb zu mir ist wie eine Tochter, die ich nie gehabt habe. Ich vermisse Dich schon jetzt… und Daniel, um den ich mir die meisten Sorgen mache. Aber ich bin zu alt, um noch wegzulaufen. Im Gegenteil, ich muß bleiben, um zu zeigen, daß ich Vertrauen in die Gerechtigkeit habe. Ihr glaubt vielleicht, daß ein alter Mann keine Angst mehr vor dem Tod hat, doch dieser alte Mann hier hat schreckliche Angst. Ich hoffe jedoch, daß ich ein wenig von der Kraft und Stärke meiner Frau besitze. Aber im Augenblick habe ich Angst wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet. Trotzdem habe ich mich entschieden. Wir müssen die Dunkelheit, die uns ganz einzuhüllen droht, bekämpfen. Jeder von uns muß seinen Teil dazu beitragen und sich mit den anderen zusammenschließen, bis aus den einzelnen Strahlen ein gleißendes Licht wird, das über die Dunkelheit triumphiert. Bevor diese Aufgabe nicht erfüllt ist, hat das Leben auf dieser Erde keinen Sinn mehr. Wir können nicht als hilflose Opfer leben. Mehr als alles andere müssen wir daran denken, auf welcher Seite wir stehen – und bereit sein zu kämpfen. Eure Mutter und ich werden an Eurer Seite marschieren und Eure Hände halten. Wir werden mit Euch den Sieg besingen… und Ihr werdet uns in Euren Herzen fühlen. Unser Geist wird…«
Von Schluchzen geschüttelt, hielt Lynn inne, und Stanley las für sie zu Ende: »Unser Geist wird immer bei Euch sein… und unsere Liebe.« Er sah seine Frau an. »Verstehst du, Lynn? Wir müssen helfen… oder wir hätten nichts gelernt.«
ZWEITES BUCH
Vier Monate später…
20. Kapitel
Die auf den Angriff der Visitors auf das Berglager folgenden vier Monate waren erfüllt von Aktivität. Mike Donovan traf sich weiterhin mit Martin und tauschte Informationen mit dem Visitor-Offizier aus, der mit Eifer daranging, die Fünfte Kolonne in den Reihen der Visitors zu organisieren und zu erweitern. Unter der Leitung einer Frau namens Jennifer vom New Yorker Mutterschiff half eine ganze Gruppe von Andersdenkenden den Widerstandskämpfern nach besten Kräften. Doch ihre Möglichkeiten waren begrenzt, denn seit Donovans Flucht mit der Patrouillenfähre hatten die Visitors verschärfte Sicherheitsmaßnahmen ergriffen. Trotz größter Anstrengungen machte Martin nur geringe Fortschritte bei der Suche nach Sean. Die geringen Erfolge Martins standen in krassem Gegensatz zu den Triumphen, die Diana und John feiern konnten. Eine neu entwickelte Rüstung schützte nun Kopf und Brust der Visitor-Soldaten, und dagegen ließ sich mit den meisten Handfeuerwaffen nichts mehr ausrichten. Selbst der Einsatz von Maschinenpistolen führte nur dazu, daß die jeweiligen Schützen durch den Rückschlag von den Beinen gerissen wurden. Die Mitglieder der Widerstandsbewegung trainierten unermüdlich darauf, die verletzlichen Punkte zu treffen, doch sie taten sich schwer. Durch die neue Rüstung, ihre eigene und von Natur aus dicke Haut sowie ihre menschenähnlichen Körperanzüge gelang es den Visitors, mehrere Angriffe der Widerstandsbewegung auf Fabriken zurückzuschlagen, in denen sie Menschen »behandelten«. Sie riefen sie unter einem Vorwand zusammen, betäubten sie mit Gas und schlossen sie
dann in die Glaskanister ein, die Donovan an Bord des Mutterschiffs gesehen hatte. Jetzt, da sie die Erde fest unter Kontrolle hatten, gaben die Visitors die Entsalzungsverfahren des Meerwassers vorerst einmal auf und begannen, die Wasserreservoirs anzuzapfen. Bald schon füllten die Forderungen nach verstärktem Naturschutz die Schlagzeilen der Presse, denn die Wasservorräte der Großstädte wurden bedrohlich knapp. Diana setzte ihre Konvertierungsversuche an großen internationalen Politikern fort – auch der Präsident der Vereinigten Staaten und der Verteidigungsminister gehörten dazu. Es wäre vielleicht einfacher gewesen, diese Männer zu eliminieren, doch die dann notwendigerweise abzugebenden Erklärungen über ihr Verschwinden wären unangenehm gewesen, insbesondere, weil Kristine Walsh andauernd Interviews mit ihnen haben wollte. Kristine setzte ihre Arbeit für die Visitors fort, doch die Zweifel an ihren guten Absichten wuchsen. Corley Walker, ein berühmter Physiker und Nobelpreisträger, rügte sie einmal in aller Öffentlichkeit, weil sie den Visitors als Pressesprecherin diente. Er erklärte, sie sei keine Journalistin mehr, sondern nichts anderes als der Propagandaminister eines faschistischen Regimes. Die offen an den Tag gelegte Feindseligkeit und Verachtung des Mannes empfand Kristine als niederschmetternd und demütigend. Ein paar Wochen später wurde sie kurz vor ihrer abendlichen Rundfunksendung zu Diana gerufen – die ihr lächelnd Corley Walker als »besonderen Gast« präsentierte. Einen sehr veränderten Corley Walker, der ihr freundlich die Hand schüttelte und über ihre Bridge-Party mit den Fords plauderte, die sie bei ihrer Begegnung in Palm Springs ausgetragen hatten – seine vormalige Feindseligkeit war völlig verschwunden. Während Kristine ihn lächelnd begrüßte, mußte sie sich sehr
zusammennehmen, um ihren Schock darüber zu verbergen, aus Angst, Diana könnte es bemerken. Fragen, die sie seit ihrem letzten Treffen mit Donovan unterdrückt hatte, drängten sich ihr wieder auf. Donovans Worte fielen ihr ein, und sie wünschte sich sehnlichst, mit ihm darüber reden zu können – doch ein Treffen mit einem Mann, der auf den Fahndungslisten der Visitors stand, wäre einfach zu gefährlich gewesen. Donovan selbst setzte seine ganze Kraft dazu ein, neue Mitstreiter für den Widerstand zu gewinnen und einigen ausgewählten Männern beizubringen, die Visitor-Fähren zu fliegen. Sein Verhältnis zu Juliet Parrish war noch immer angespannt – er war nie ein Vereinsmeier gewesen und hatte unter den Beschränkungen, die sein neues Leben im Untergrund mit sich brachte, sehr zu leiden. Vielleicht wäre ihm alles leichter gefallen, wenn da nicht diese Träume gewesen wären… mindestens einmal in der Woche träumte er von Sean – wilde, verzweifelte Alpträume, in denen er seinen Sohn wieder und wieder sterben sah, ohne ihm helfen zu können. Alle Mitglieder der Bewegung spürten diese Spannung. Elias war es gelungen, einen Job im Krankenhaus zu bekommen, was sich als äußerst nützlich für die Beschaffung von Medikamenten und weiteren Laborgeräten erwies. Außerdem setzte er seinen »Schwarzhandel« fort, nur gehörten seine Kunden für Pot, Kokain, Beruhigungs- und Aufputschmittel jetzt ausnahmslos zu der Gruppe der Sternenfreunde. Auch Daniel Bernstein, der inzwischen der Kopf aller Jugendgruppen der Visitors im Gebiet von Los Angeles geworden war, gehörte zu seinem Kundenkreis. Als Daniels »Dealer« schnappte er immer wieder Informationen auf, während er den jungen Mann und seine Freunde, zu denen auch ein paar Visitors gehörten, die herausgefunden hatten,
wie die Drogen sie in eine Hochstimmung versetzten, kostenlos mit Stoff belieferte. Obwohl er wußte, daß Elias die Drogen nur benutzte, um die Disziplin in den Reihen der Visitors zu untergraben und an Informationen zu gelangen, sah Caleb Taylor den Handel seines Sohnes nicht so gern. Und es fiel ihm schwer, seinen Widerwillen gegen diese Aktivitäten seines Sohnes zu unterdrücken. Elias spürte diese ablehnende Haltung, und so war das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ziemlich gespannt. Als für das außerhalb der Stadt liegende Hauptquartier der Visitors eine Putzfrau gesucht wurde, bewarb sich Ruby Engels um diesen Job und bekam ihn auch. Und sie stellte mit Verwunderung fest, welch interessante Einblicke sie beim Leeren der Mülleimer gewinnen konnte. Vor Jahren hatte sie einmal ein paar Jahre lang an kleinen Bühnen als Schauspielerin gearbeitet, und diese schauspielerische Begabung kam ihr jetzt sicher zugute. Der Führungsstamm der Widerstandsbewegung war in den letzten Monaten um ein paar wichtige neue Leute angewachsen: Cal Robinson, ein junger Biochemiker, der wie Juliet ein Medizinstudium absolviert hatte; die junge Maggie Blodgett, die zusammen mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann eine Lufttransportgesellschaft betrieben hatte, und ihr Vater Andrew, ein katholischer Priester, der bewies, daß er während des Guerillakriegs in Südafrika sehr viel über Kriegsstrategie gelernt hatte. Zu den Stammitgliedern der Bewegung war eine große Anzahl von Kontaktpersonen gekommen, die sie – wie Lynn und Stanley Bernstein – mit Informationen und tatkräftiger Hilfe unterstützten, ohne ihr normales Leben aufzugeben. Fred King hatte ständig Angst, verhaftet zu werden. Er war Assistenzarzt im gleichen Krankenhaus, in dem auch Elias
arbeitete, und hatte ein paar Jahre lang zusammen mit Juliet die Schulbank gedrückt. Juliet wußte, wie dringend sie einen voll ausgebildeten Mediziner brauchten, und sie bat ihn, sich der Widerstandsbewegung anzuschließen. Doch King weigerte sich beharrlich – er sei Arzt und kein Kämpfer. Doch selbst seine halbherzige Hilfe war von unschätzbarem Wert für die Bewegung. Er war es auch, der Juliet von den im Zusammenhang mit Johns streng geheimem Besuch im Krankenhaus geplanten Feierlichkeiten erzählte. Es hieß, der Oberste Kommandeur der Visitors wolle eine bahnbrechende medizinische Entdeckung bekanntgeben, die die Visitors der Menschheit zu schenken beabsichtigten. Zu diesen Feierlichkeiten sollte auch eine umfassende Berichterstattung durch die Medien gehören, doch Fred wußte nicht genau, wann die Veranstaltung stattfinden sollte – oder wollte es zumindest nicht sagen. Auf solch ein Ereignis hatte Juliet gewartet. Die Widerstandskämpfer hatten in den letzten Monaten zu viele Niederlagen hinnehmen müssen, um sich eine solche Chance entgehen zu lassen, den Visitors öffentlich die Maske vom Gesicht reißen zu können und zu demonstrieren, daß Widerstand gegen die fremde Herrschaft durchaus möglich war. Juliet ging die verschiedenen Möglichkeiten mit Robert Maxwell durch, der jetzt mit seinen Töchtern im Hauptquartier lebte. Nach Kathleen Maxwells Tod war die Familie enger zusammengewachsen. Robert hatte Josh Brooks formlos adoptiert. Selbst Robins tränenreiches Eingeständnis ihrer Schwangerschaft hatte Robert nicht aus der Ruhe bringen können. Natürlich war er zunächst schockiert gewesen, doch er hatte sich sehr schnell wieder gefangen und respektierte sogar, daß Robin den Namen des Vaters ihres Kindes nicht nennen wollte. Beim Anblick der dunklen Schatten unter ihren Augen
quälte er sich insgeheim mit der Vorstellung, sie könne während ihrer Gefangenschaft auf dem Visitor-Schiff von einem Mitgefangenen vergewaltigt worden sein. Robins Entschluß, den Namen des Vaters nicht zu verraten, hatte seine tiefere Ursache in ihrem eigenen Unbehagen beim Gedanken an Brian. Trotz ihrer Unerfahrenheit wußte sie instinktiv, daß irgend etwas an seiner Art, sie zu lieben, nicht gestimmt hatte – es war anders gewesen, als wenn zwei Menschen sich liebten. Aus ihrer anfänglichen Verliebtheit in den hübschen, jungen Visitor waren Gefühle geworden, die beinahe an Haß grenzten. Sie konnte die Art und Weise nicht vergessen, in der er sie niedergeworfen und gewaltsam genommen hatte. So ertrug sie ihre Schwangerschaft mit sehr gemischten Gefühlen und einer tief in ihrem Inneren sitzenden Angst. Zu Beginn der Schwangerschaft hatte Robert sie gefragt, ob sie das Kind abtreiben lassen wolle, doch – geprägt durch ihre katholische Erziehung – hielt Robin eine Abtreibung für moralisch und ethisch unvertretbar und lehnte Roberts Vorschlag ab. Jetzt war sie bereits im fünften Monat, und ihre Angst nahm zu. Sie wünschte, sie hätte eingewilligt. Das Baby in ihrem Leib schien schneller als normal zu wachsen. Sie fühlte sich irgendwie seltsam… Eines Nachts war sie schlaftrunken zum Kühlschrank getaumelt und hatte eine Handvoll rohes Gehacktes gegessen. Es hatte wunderbar geschmeckt – bis sie richtig aufwachte und sich bewußt wurde, was sie tat. Kurze Zeit darauf hatte sie beim morgendlichen Gesichtwaschen ein kleines, grünliches Stückchen Haut an ihrem Hals entdeckt, das aussah wie eine alte Schramme. Voller Entsetzen hatte sie versucht, es abzubürsten, doch der seltsam gefärbte Streifen blieb und dehnte sich weiter aus. Juliet versuchte, das Mädchen zu beruhigen, indem sie ihr sagte, seltsame Hautveränderungen während der
Schwangerschaft seien nichts Ungewöhnliches. Doch auch Juliet konnte ihre Verblüffung beim Anblick des seltsamen Fleckes nicht ganz vor Robin verbergen, und das verstärkte nur noch ihre Befürchtungen. Je größer ihre Angst wurde, desto hartnäckiger klammerte sich Robin an ihre Weigerung, die wahre Natur der Visitors zu akzeptieren. Sie weigerte sich, sich Donovans Film anzusehen, und unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertraute sie Polly an, daß Mike und Juliet den Film gefälscht hätten, um neue Mitglieder für die Bewegung zu gewinnen. Als ihre Schwester sie zu überzeugen versuchte, gab Robin ihr eine Ohrfeige, brach dann in Tränen aus und bat Polly um Vergebung. Nachdem er mit Polly gesprochen hatte, kam Robert zu dem Schluß, daß Robins Erlebnisse an Bord des Mutterschiffs eine derartige Angst in ihr ausgelöst hatten, daß sie sich unbewußt weigerte, die Wahrheit zu erkennen. Sie wollte einfach nicht glauben, daß sie von solch fremdartigen Kreaturen gefangengenommen worden war. Niemand in der Familie griff je wieder dieses Thema auf, und Robin entwickelte eine erstaunliche Fähigkeit, alle Bemerkungen über die reptilienhafte Natur der Visitors zu überhören. Es war Elias, der schließlich bestätigen konnte, daß John wirklich eine Rede im Hospital halten würde. Das genaue Datum jedoch war auch ihm nicht bekannt. Fred King fertigte einen Grundriß des Krankenhauses an, während Ruby Engels versuchte, alles über die Sicherheitsvorkehrungen in Erfahrung zu bringen. Steven, der Visitor-Offizier, der noch immer Eleanor Dupres den Hof machte, war verantwortlich für die Sicherheitsmaßnahmen, und sie waren äußerst streng. Eine ausgewählte Zahl von Prominenten und VisitorSympathisanten würde nur einmal gültige SonderEintrittskarten erhalten. Eleanor sollte Ehrenvorsitzende der Konferenz sein und ebenso wie Dr. Corley Walker eine Rede
halten. Man sprach davon, daß der Präsident der Vereinigten Staaten und viele Gouverneure auf der Gästeliste stünden. Bei Donovans nächstem heimlichen Treffen mit Martin versprach der Visitor-Offizier, einen Vorrat von VisitorUniformen zu besorgen. Waffen jedoch könne er auf keinen Fall liefern. Aber es war ihm gelungen, über den Computer Sean Donovans Namen abzurufen, und er hatte festgestellt, daß der Junge sich in Sektion 34 auf dem Mutterschiff von Los Angeles befand. Er bat Mike um ein Foto seines Sohnes, und dieser versprach, ihm eins zu besorgen. Spontan wollte Mike sich sofort auf das Mutterschiff begeben, um Sean zu suchen, doch dann wurde ihm klar, daß er damit ein zu großes Risiko eingegangen wäre. Seine Gefangennahme hätte die gesamte Widerstandsbewegung gefährdet, weil er inzwischen einfach zuviel wußte. Zu Martins eigener Sicherheit erzählte er ihm nichts von ihren Plänen, doch er forderte zwei Medien-Experten der Visitors an, die den Untergrund unterstützen sollten. Mike wollte verhindern, daß die Zensoren der Visitors die Übertragung der Feierlichkeiten abschalteten, wenn diese durch die Widerstandskämpfer gestört wurde. Auf dem Rückweg zum Hauptquartier gab er sich – und Sean – das Versprechen, nach dem Angriff so schnell wie möglich die Suche nach ihm zu beginnen. Im Hauptquartier fand er Juliet, Maggie Blodgett, Robert Maxwell, Elias, Brad und Ruby Engels vor dem Fernseher versammelt. Sie sahen sich die von Kristine Walsh verlesenen Abendnachrichten an. Neben Kristine saß seine Mutter Eleanor, um besonders charmantes Auftreten bemüht. An ihrem Hals und ihren Ohren schimmerten nagelneue Diamanten, und an einem ihrer perfekt manikürten Finger funkelte ein Stein von der Größe eines Zahns. Kristine sagte gerade: »John, der Oberste Kommandeur, hat das
Großklinikum von Los Angeles ausgewählt, um eine Mitteilung zu machen, die er mir folgendermaßen, und ich zitiere wörtlich, beschrieb: ›… die Antwort auf eine Frage, die Ihre Welt seit Jahrhunderten bewegt und die helfen wird, unendliches Leid zu lindern.‹ Dies könnte ein bedeutungsvoller Augenblick in der Geschichte sein, meine Damen und Herren, und es ist bezeichnend für einen so außergewöhnlich ehrenhaften Mann wie John, daß er für eine solche Erklärung von sicher weltbewegender Bedeutung dieses ehrenwerte Forum gewählt hat.« »Weltbewegend kann ja wohl nur sein, wie wir sie wieder los werden«, bemerkte Mike sarkastisch. Alle lachten. Dann schwenkte die Kamera auf Eleanor, und Donovan schaltete abrupt den Fernseher aus, woraufhin ihn alle erstaunt ansahen. »Wie ist es gelaufen?« fragte Robert Maxwell. »Teils gut, teils schlecht. Uniformen ja, Waffen nein. Zu den Sicherheitsmaßnahmen der Visitors gehört offenbar auch eine tägliche Kontrolle des Waffenbestandes.« »Verdammt«, sagte Juliet spontan, blickte sich dann jedoch sofort schuldbewußt um, um zu sehen, ob Vater Andrew in Hörweite war – er war es nicht. »Was ist mit dem Text auf den Eintrittskarten, Ruby?« »Das wird erst im letzten Augenblick bekanntgegeben. Doch es werden Sonderkarten sein, die nur sehr schwer, wenn überhaupt, zu fälschen sind.« »Kannst du uns eine davon besorgen?« fragte Juliet. »Ich glaube nicht. Putzfrauen haben die Möglichkeit, Mülleimer zu leeren und ab und zu ein paar Informationen aufzuschnappen, aber in den Druckereien der Visitors haben sie nichts zu suchen.« »Benutzen sie ihr eigenes Material oder unseres?« wollte Donovan wissen.
»Unseres.« »Dann können wir die Karten auch fälschen«, meinte Donovan. »Aber es wird nicht einfach sein«, fügte Brad nachdenklich hinzu. »Was ist schon einfach?« Donovan sah ihn an. »Zu unserer Widerstandsbewegung gehören die verschiedensten Leute. Sie sind Polizist, Brad…« »Ex-Polizist.« »Und Sie, Elias, sind ein Gangster.« Elias grinste. »Ex-Gangster.« »Sie beide zusammen sollten eigentlich in der Lage sein, den besten Fälscher in der Gegend ausfindig zu machen.« »Pascal«, sagte Brad spontan. »Dan Pascal.« Elias schnitt eine Grimasse. »Wenn er nicht gestorben ist. Die Leute aus der Unterwelt verschwinden zur Zeit beinahe ebenso häufig wie Wissenschaftler.« »Finden Sie es heraus«, sagte Donovan knapp.
Robert Maxwell nahm das Fernglas und trat ans Fenster des gemieteten Zimmers heran. Verborgen hinter dem billigen Vorhang blickte er prüfend auf die neu errichtete Sicherheitsmauer, die das Großklinikum von Los Angeles umgab. Neben einem Tor in der Mauer hatten mehrere bewaffnete Visitor-Soldaten Stellung bezogen. Gerade trat eine Gestalt aus dem Wachthäuschen, in der Maxwell seinen ehemaligen Nachbarn Daniel Bernstein erkannte, und überprüfte einen Lincoln, der am Kontrollpunkt vorgefahren war. Nach gründlicher Untersuchung winkte Daniel den Wagen durch.
»Du eitler, kleiner Bastard!« knurrte Robert, als er sah, wie Daniel zu den Visitor-Soldaten hinüberstolzierte, vielleicht um ihnen Befehle zu erteilen. Er drehte sich um, als sich die Zimmertür hinter ihm öffnete und dann wieder schloß. Ruby Engels kam in ihrer Putzfrauenaufmachung herein. Müde zog sie ihr großes buntes Kopftuch herunter, wobei ihr auch die häßliche, platinfarbene Perücke vom Kopf glitt. »Wir haben Probleme.« »Was ist passiert?« fragte Mike Donovan, der, ein Notizbuch in der Hand haltend, auf dem Bett saß. »Was für Probleme?« »Es gibt keine Möglichkeit, an diese Eintrittskarten heranzukommen. Und es heißt, daß sie nicht zu fälschen sind.« »Man kann alles fälschen«, widersprach Donovan träge. »Manche Dinge erfordern etwas mehr Mühe als andere.« »Es gibt keine Möglichkeit, eine zu ergattern?« fragte Robert. Auf ihr von Make-up verkleistertes, beinahe maskenhaft wirkendes Gesicht trat ein unwilliger Ausdruck. »Ich konnte nicht einmal in die Nähe einer solchen Karte kommen. Und das ist noch nicht alles – sie werden exakt gezählt. Falls eine Karte fehlt, werden sie das ganze System ändern und noch einmal neu numerieren.« Robert ließ sich schwer auf das Bett fallen. »Das heißt also, wir müssen eine stehlen, sie nachmachen und wieder zurückbringen, ehe sie ihr Verschwinden bemerkt haben?« »So ist es.« Sie ließ sich auf einen Stuhl fallen und stützte die Füße auf den billigen Schreibtisch. »Huidini könnte das bewerkstelligen.« »Ich vielleicht auch«, meinte Donovan. Sein Körper straffte sicher schien eine Idee zu haben. »Auf welche Weise?« wollte Robert wissen. Donovan grinste böse. »Mit Hilfe meiner lieben Mutter.«
Juliet Parrish ging nachdenklich im Aufenthaltsraum des Hauptquartiers auf und ab. Sie dachte über den Plan zur Fälschung der Sondereintrittskarten nach, den Donovan ihr unterbreitet hatte. Der Plan gefiel ihr nicht; sie hielt ihn für zu gefährlich. Sie teilte dem ehemaligen Reporter ihre Bedenken mit, und er pflichtete ihr bei. Dann starrte er sie aus seinen grünen Augen an und fragte unschuldig, ob sie eine bessere Idee habe. »Mist!« sagte Juliet, sah sich jedoch sofort schuldbewußt um. Sie wußte zwar, daß Vater Andrew sehr schlecht hörte – so war sie doch von Eltern erzogen worden, die das Fluchen in Gegenwart eines Gottesmannes für eine Sünde hielten, die einem Mord oder noch Schlimmerem gleichkam. Flüchtig fragte sie sich, wie es ihrer Familie wohl ginge – dann jedoch schob sie diesen Gedanken schnell beiseite. Jetzt, da die Visitors die Telefonnetze kontrollierten, konnte sie keine Verbindung zu ihren Verwandten aufnehmen, und in den vergangenen Monaten hatte sie gelernt, sich nur noch um Dinge Sorgen zu machen, die sie unmittelbar berührten. Elias betrat den Raum. »Wir haben so eine Echse und seine Menschenfreundin gefangen und auf Eis gelegt. Willst du sie als Filet oder als Frikassee?« »Du hast einen gefangen? Das ist ja prima!« Auf Juliets Gesicht trat ein strahlendes Lächeln. »Großartig! Dann kann ich also mit einem dieser Experimente anfangen!« »Wenn er dann noch am Leben ist, Doc.« »Was soll das heißen?« »Ein paar von unseren Leuten haben offenbar häßliche Blutgelüste entwickelt.« »Oh, Gott! Da muß ich wohl schnell Einhalt gebieten.« »Dachte mir, daß du ihn noch zappelnd haben willst.« Schnell lief Juliet hinter Elias her zum Labor hinüber, wo Ruby, Robert, Brad und Caleb einem traurig dreinschauenden
Visitor, der zusammengekauert in einer Ecke des Labors hockte, mit feindseligen Mienen gegenüberstanden. Eine verängstigte blonde Frau hatte sich zwischen ihn und die Widerstandskämpfer gestellt, ganz offensichtlich, um ihn zu schützen. »Hören Sie auf, Robert!« sagte Ruby, als Elias und Juliet den Raum betraten. »Sie benehmen sich, als wären Sie einer von ihnen.« »Er hat meine Frau getötet«, sagte Maxwell. Juliet hatte den Anthropologen noch nie in diesem Ton reden hören. »Und meinen Kollegen«, sagte Brad. Er versuchte, um die Frau herumzukommen, und Juliet bemerkte das Aufblitzen von Stahl in seiner Hand. Die blonde Frau rührte sich nicht vom Fleck. »William hat niemanden getötet. Er ist kein Soldat – er ist nur ein Techniker.« »Aha!« Brads Stimme klang äußerst skeptisch. »Und woher wissen wir, daß das wahr ist?« »Weil ich es sage«, mischte sich Caleb Taylor mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme ein. »Er hat in der gleichen Fabrik wie ich gearbeitet. Er mag zwar einer von ihnen sein, doch er hat mir das Leben gerettet. Harmony sagt die Wahrheit – er ist kein Soldat.« »Wir brauchen Informationen«, sagte Brad, und seine Augen funkelten hinter den Brillengläsern. »Und er wird sie uns geben, nicht wahr, Streifenauge?« »Hört auf!« schrie Juliet. »Nicht auf diese Weise!« »Was willst du, Julie?« fragte Brad. »Hier ist dein Versuchskaninchen. Du machst dir doch auch keine Gedanken darüber, wie deine Mäuse und Meerschweinchen sich fühlen, oder?« »Oh, doch, das tue ich«, entgegnete Juliet kühl. »Und ich mache mir Sorgen um uns alle. Persönliche Tragödien dürfen
nicht dazu führen, daß wir die Visitors auf ebenso grausame Weise behandeln wie sie uns.« Vater Andrew sah zur Tür herein und trat, auf Juliets Winken hin, ein. »Du hast recht, Julie«, sagte Ruby. »Das dürfen wir nicht zulassen.« »Sie haben leicht reden, Ruby. Sie haben ja auch keinen persönlichen Verlust erlitten«, entgegnete Maxwell aufgebracht. »Abraham Bernstein und ich waren siebzehn Jahre lang befreundet, Robert«, fauchte Ruby. »Bedeutet sein Verlust nichts?« »In dieser Atmosphäre können keine Entscheidungen getroffen werden«, mischte sich Vater Andrew ein. »Ich schlage vor, wir setzen die Diskussion fort, wenn wir uns ein wenig beruhigt haben.« »Gute Idee, Pater«, pflichtete Elias ihm bei.
Mit abgestellten Scheinwerfern fuhr der kleine Lieferwagen die Straße herunter auf das Dupressche Haus zu. Das Gebäude war schon von weitem zu erkennen, denn nahezu alle Fenster waren hell erleuchtet. Dutzende von Autos parkten zu beiden Seiten auf der Straße, und Donovan, Dan Pascal, Elias, Brad und Juliet konnten schon von weitem das Gelächter der Partygäste hören. Brad, der am Steuer saß, warf den anderen, die zusammengedrängt inmitten eines Waldes von Kameras, chemischen Prüfgeräten, Mikroskopen, Papier- und Tintenproben sowie Farbrollen – kurz, dem Paradies eines jeden Fälschers – hockten, einen fragenden Blick zu. Dan Pascal, ein schlaksiger Mann mit ständig gelangweiltem Gesichtsausdruck, ließ seinen Blick über Elias, Donovan und Juliet schweifen, die ihm in schwarzen Uniformen
gegenübersaßen. »Ein Polizist, ein Gauner und ein paar Soldaten – alle friedlich an einem Ort versammelt! Das verstehe, wer will!« Brad lenkte den Wagen über den Bordstein und hielt hinter einem dichtbelaubten Eukalyptusbaum. »Ein Ex-Polizist, zwei Gauner und Soldaten, wollten Sie wohl sagen«, brummte er. Elias zuckte zusammen, und Dan Pascal sagte mit einem Kopfnicken in Brads Richtung: »Zuerst jagt er mich, dann wirbt er mich an. Wie ist ein solch vorbildlicher Polizist wie Sie nur in solch eine Gesellschaft geraten?« »Im Krieg gelten andere Gesetze«, meinte Donovan mit bösem Grinsen. »Sind Sie bereit?« »Ja.« Elias legte dem Fälscher die Hand auf die Schulter. »Dan, jetzt müssen Sie zeigen, was Sie können. Dieses Mal ist nur das Beste gut genug, oder wir sind alle tot. T-o-o-t, verstehen Sie?« »Picasso hat auch niemand gesagt, wie er malen soll, Taylor«, entgegnete Pascal. »Also fangt an.« »Seid vorsichtig«, flüsterte Juliet. Elias und Donovan verließen den Wagen, und die drei anderen blieben schweigend sitzen, bis sie endlich ein leises Geräusch hörten und Elias wiederauftauchte. »Habt ihr sie bekommen?« fragte Juliet. »Ja. Mike wußte genau, wo er zu suchen hatte – in einem Bodensafe im dritten Stock. Aber das Haus wimmelt von Reptilien, wir müssen uns also beeilen.« Hastig reichte er Pascal eine rechteckige Plastikkarte. »Sieht aus wie so eine verdammte Kreditkarte«, bemerkte Elias. »Die Zeremonie findet in neun Tagen statt. Das Datum steht drauf.« Pascal ergriff die Karte und begann zu arbeiten. »Wo ist Donovan?« fragte Juliet nervös.
»Er ist oben geblieben, damit wir nicht noch einmal das Seil hochwerfen müssen. Er sagt, daß er den Safe wieder abschließen und sich verstecken wolle, bis ich zurückkomme.« Pascal untersuchte den Ausweis zunächst unter Rotlicht, dann unter einem Spektroskop. Unendlich langsam nahm er einen kleinen Buchstaben aus dem Magnetstreifen, der so klein war, daß man ihn mit bloßem Auge nicht erkennen konnte. Dann untersuchte er ihn unter dem Mikroskop, während der Computer die Markierungen auf dem Streifen selbst entschlüsselte. Elias blickte nervös auf die Uhr. »Ich will Sie ja nicht drängeln, Picasso, aber…«, sagte er dann. Der Fälscher drehte sich um und sah ihn schweigend an, doch Elias verstand ihn auch so und verdrückte sich in eine Ecke. Jetzt wurde Juliet unruhig. »Mußte dieses Weib ausgerechnet heute abend diese verdammte Party geben?« »Ja, zu blöd«, meldete sich Elias. »Ein Haufen Reptilien da drin…« »Was sie ihnen und ihren menschlichen Gästen wohl an der gemeinsamen Tafel serviert?« fragte Robert. »Die menschlichen Gäste«, sagte Juliet mit unterdrücktem, nervösem Auflachen. »Schsch«, zischte Pascal, und alle verstummten. Der Kaypro surrte, piepte – und dann erschien eine Formel auf dem Bildschirm. »Gut«, stieß Pascal hervor und beugte sich über ein rechteckiges Stück Plastik. Er tippte einen Befehl ein und steckte Augenblicke später die gefälschte Karte mit ihrem Magnetstreifen hinein. Dann gab er einen weiteren Befehl ein, und das Wort »Match« erschien auf dem Bildschirm. »Das ist es!« sagte er und reichte Elias die Originalkarte, der, wie ein Rennpferd vor dem Start zitternd, wartend dastand. Er nahm die Karte und verschwand in der Nacht.
Oben in Eleanor Dupres verschwenderisch eingerichtetem Schlafzimmer ging Donovan nervös vor dem Fenster auf und ab. Er blieb jedoch stets in unmittelbarer Nähe der Vorhänge, um sich – falls nötig – schnell verstecken zu können. »Nun komm schon!« knurrte er. »Komm!« Von unten her hörte er die Geräusche der Party, doch er zwang sich, das Stimmengemurmel und Gelächter zu ignorieren. Vielmehr konzentrierte er sich auf mögliche, die Treppe heraufkommende Schritte. Seine persönliche Beute, ein Foto von Sean, hatte er bereits in der Tasche. Eleanor besaß so viele Fotos von ihm, daß sie kaum bemerken würde, wenn eins fehlte. Nervös blickte er in Richtung des Fensters. Wo bleibst du, verdammt? Er war einfach zu nervös. Beruhige dich, du Idiot! Du warst auch schon mal besser. Nur jetzt nicht die Nerven verlieren… Ja, dachte er, aber ich war auch noch nie in solcher Bedrängnis. Wenn wir diese Sache verpatzen, ist der ganze Widerstand im Eimer… »Hssst.« Das Geräusch war kaum zu hören, aber Mike zuckte zusammen, als hätte man ihn mit einer Nadel gestochen. Hastig lief er auf den Balkon hinaus und zog das dünne Seil mit der daran befestigten Karte herauf. Er winkte Elias zu, bedeutete ihm zu verschwinden und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Er hatte den Safe geöffnet, die Karte an ihren Platz zurückgelegt und wollte sich gerade zum Balkon umwenden, als die Tür zur Halle geöffnet wurde und seine Mutter eintrat. Ihr Mund öffnete sich, doch anstatt zu schreien, ging sie, ohne zu zögern, zu ihrer Schmuckkassette hinüber und nahm eine kleine 22er-Automatik heraus. »Rühr dich nicht von der Stelle, Michael!« Mit beinahe sichtbarer Anstrengung zwang Donovan sich, seiner Mutter ins Gesicht zu sehen und nicht auf den Fleck im
Teppich zu starren, unter dem sich der Bodensafe befand. »Das wäre ein schönes Bild fürs Familienalbum, Mutter«, sagte er. »Kompliment, dein Kleid ist wunderbar. Und diese Diamanten! Ein Geschenk von Steven?« »Was machst du hier?« herrschte sie ihn an. »Ich wollte dich fragen, ob du weißt, daß die Visitors Sean entführt haben. Sie halten ihn auf dem Mutterschiff von Los Angeles gefangen. Bedeutet dir das noch irgend etwas?« Er sah, wie sie bei der Erwähnung ihres Enkels zusammenzuckte. »Du lügst.« »Das würde ich in einer solch ernsten Angelegenheit nie tun. Ich möchte dich vielmehr bitten, mir zu helfen, ihn da herauszuholen – nutze deinen Einfluß bei Steven und Diana. Sonst wird er eines Tages auf ihrem Mittagstisch landen… roh und in Stücken.« »Wie bitte?« Die Waffe in ihrer Hand schwankte leicht, dann hielt sie sie wieder ruhig. »Es ist wahr. Die Visitors sind Reptilien, Mutter. Sie wollen unser Wasser, und sie wollen alles Leben auf unserem Planeten… unseres eingeschlossen. Als Nahrung.« Eleanor lachte auf. »Wirklich, Michael, als nächstes möchtest du mich wohl glauben machen, daß du telepathische Kräfte oder so etwas Ähnliches besitzt. Das ist verrückt… Science Fiction!« »Du…« Er starrte sie an. »Hör mir zu! Ob du mir glaubst, was ich dir gesagt habe, oder nicht – die Wahrheit ist, daß dein Enkel und zehntausend andere Menschen bereits Gefangene an Bord der Schiffe deiner Freunde sind! Versuch nicht, mir zu erzählen, daß du nicht weißt, was in dieser Stadt, ja, auf der ganzen Welt vorgeht.« »Natürlich weiß ich es.« Ihre haselnußbraunen Augen waren kalt und voll Verachtung. »Ich bin kein Narr, aber ich weiß zu überleben. Andernfalls wäre ich nie aus diesem Provinznest in
Louisiana herausgekommen, wo ich angefangen habe. Hätte den Alkoholismus deines Vaters nie durchgestanden…« »Hast du je darüber nachgedacht, warum er trank? Warum auch Arthur langsam zum Säufer wird? Er ist ein grundanständiger Kerl… aber schwach, ebenso wie Vater. Du würdest nie einen Mann geheiratet haben, dem du nicht rücksichtslos deinen Willen aufzwingen kannst, oder?« Sie überhörte auch diese Bemerkung. »Und deshalb weiß ich auch, auf mich selbst achtzugeben. Und das solltest du ebenfalls. Steven sagte mir, daß die Visitors viel dafür geben würden, wenn du auf ihrer Seite wärst.« »Ach, wirklich?« Donovan schürzte verächtlich die Lippen. »Tut mir leid, ich habe mir noch nie viel aus Diamanten gemacht.« »Michael!« Ein Anflug von Zuneigung trat auf ihr kaltes, vornehmes Gesicht. »Ich weiß, die Visitors sind keine Heiligen. Aber sie sind mächtig. Und du und ich sind in einzigartigen Positionen, weißt du das nicht? Warum sollen wir das nicht ausnützen?« »Weil ich nicht auf Kosten anderer Menschen überleben kann. Das hieße nicht zu leben, sondern sich wie ein Blutegel mit Blut zu mästen. Das ist Unrecht!« Er hielt inne, fuhr dann in weicherem Ton fort: »Es gab einmal eine Frau, die mir, als ich Kind war, sagte, was Recht ist und was nicht. Ich frage mich, was zum Teufel aus ihr geworden ist.« Eleanors Blick wurde hart. »Leer deine Taschen!« Als er es tat, fiel Seans Foto auf den Boden. »Was ist das?« Er zeigte es ihr. »Nur ein Bild von Sean. Albern, nehme ich an… und sentimental.« Sie fuchtelte mit der Waffe herum. »Was wolltest du hier?« Donovan zuckte die Achseln. »Ich brauche Geld. Ich dachte, du hättest vielleicht ein paar Dollars in deinem Portemonnaie. Ich wollte es nicht auf diese Weise tun, aber als ich einmal
versucht habe, dich anzurufen, hast du deine ReptilienLeibwächter auf mich gehetzt.« »Nimm die Hände hoch!« Donovan kam der Aufforderung nach und musterte seine Mutter beunruhigt. Die Art und Weise, wie sie die Waffe hielt, zeigte deutlich, daß sie damit umzugehen verstand. Und sie entsicherte sie nun. »Willst du mich erschießen, Mutter? Das ist doch verrückt!« Langsam begann er, die Hände zu senken. »Nimm die Hände hoch!« Er ließ sie weiter sinken. »Wir hätten es nie für möglich gehalten, daß hier so etwas geschehen könnte. Aber es ist geschehen! Eines Morgens wachten wir auf, und unser Land hatte sich in einen faschistischen Staat auf einem Planeten verwandelt, der zum Gefängnis wurde.« Eleanor hob entschlossen den Kopf. »Diejenigen von uns, die Recht und Ordnung respektieren, sind noch immer frei. Nur Verbrecher wie du schreien ›Faschisten!‹« »Nein, Mutter.« Langsam, ganz langsam, beinahe, ohne seine Füße zu bewegen, näherte er sich dem Fenster. »Du bist nur so frei wie das Zaumzeug, das sie dir anlegen. Wenn du zu sehr daran ziehst, werden sie dich daran aufhängen.« Er hatte die Verandatür erreicht und machte Anstalten, den Balkon zu betreten. »Bleib stehen! Ich schieße!« Ihre Stimme klang wie zersplitterndes Glas. Gleichgültig sah Donovan sie an. »Dein eigenes Kind töten? Selbst du bringst das nicht fertig, Mutter. Leb wohl. Du tust mir leid.« Er verschwand auf den Balkon. Eleanors Finger krümmte sich um den Abzug, doch sie brachte es nicht fertig abzudrücken. Statt dessen senkte sie, vor Wut und Enttäuschung zitternd, die Waffe und überlegte, wie sie sich schützen sollte, falls jemand ihn gesehen hatte. Mit schnellen,
entschlossenen Bewegungen zerrte sie am Mieder ihres Kleides und zerriß es. Mit den Fingern zerwühlte sie ihr perfekt frisiertes Haar. Dann holte sie tief Luft, schrie und schoß zweimal in die Wand.
21. Kapitel
Vorsichtig tröpfelte Juliet Parrish einen großen Fleck gelblichgrünen Blutes auf ein steriles Glasplättchen. Dann setzte sie behutsam ein zweites Plättchen darauf und legte es unter das Elektronen-Mikroskop. Sie arbeitete verbissen, bemüht, die bohrende Angst in ihrem Innern zu unterdrücken. Als die Tür zum Labor geöffnet wurde, blickte sie hoffnungsvoll auf. Als sie jedoch Pater Andrew in der Tür stehen sah, war ihr die Enttäuschung deutlich anzusehen. »Ist er zurück?« »Noch nicht«, antwortete der Priester. »Machen Sie sich keine Sorgen, Julie. Mike Donovan kann selbst auf sich aufpassen.« »Elias und Brad wollten bleiben und auf ihn warten. Ich war es, die ihnen befahl wegzufahren.« Gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfend, biß Juliet sich auf die Lippe. »Und das war auch vollkommen richtig so. Donovan würde Sie erwürgen, wenn Sie dumm genug gewesen wären, den gefälschten Paß aufs Spiel zu setzen, um auf ihn zu warten. Sie haben getan, was Sie tun mußten. Sie durften nicht das gesamte Unternehmen gefährden.« Sie rieb sich die Augen. »Viele solcher Entscheidungen kann ich nicht mehr treffen. Sie nehmen mich derart mit, daß ich kaum noch wage, morgens in den Spiegel zu sehen.« »Es wird leichter werden.« »Das bezweifle ich.« Pater Andrew seufzte. »Als ich damals während des Krieges in Afrika war, kam eines Tages ein Soldat in die Kirche. Ich hielt eine Familie bei mir versteckt, die mich um Hilfe gebeten hatte. Er sagte, er sei auf der Suche nach verdächtigen
Guerillas.« Er schüttelte den Kopf. »Guerillas! Ein elfjähriger Junge und seine zwölf Jahre alte Schwester und ihre Mutter. Er fand sie in ihrem Versteck und wollte sie erschießen.« Er strich sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich mußte mich entscheiden, ob ich es zulassen wollte oder nicht.« »Sie haben ihn getötet«, entgegnete Julie und sah ihn eindringlich an. Es war eine Feststellung, keine Frage. »In meiner eigenen Kirche. Vielleicht waren sie wirklich Guerillas – so etwas kam damals des öfteren vor. Doch ich glaubte es nicht und mußte nach eigenem Ermessen handeln. Und auf diese Weise verhielten auch Sie sich heute abend.« Als die Tür erneut geöffnet wurde, drehten sie sich beide um und sahen Mike Donovan, der sie lächelnd ansah. »Hallo, Leute. Hat mich jemand vermißt?« Juliet lief auf ihn zu und umarmte ihn stürmisch. Donovan verbarg seine Verblüffung über ihren Gefühlsausbruch und zog sie enger an sich. »Es tut mir so leid, Donovan«, stieß Juliet hervor. »Wir wollten Sie nicht im Stich lassen, aber…« »He – he, Kindchen.« Er strich glättend über ihre zerwühlten Haare. »Ich hätte Ihnen den Kopf abgerissen, wenn Sie etwas anderes getan hätten.« Lange ruhten ihre Blicke ineinander, dann trat Juliet, erleichtert auflachend, einen Schritt zurück. »Sehen Sie, Pater?« Der Schalk saß in ihren Augen, als sie Donovan angrinste. »Er ist viel zu selbstsüchtig, um zu sterben.« Elias Taylor sah zur Tür herein. »He, Mike! Hat Ihre alte Dame Sie zum Abendessen eingeladen?« Donovan grinste. »Sie bestand darauf. Immer diese gesellschaftlichen Verpflichtungen!« Außer William, der hinter der Plexiglaswand des Sterilisationsraumes saß, lachten alle. Mit einem fragenden Blick auf den Visitor meinte Donovan: »So sieht unser Neuankömmling also aus. Hat er inzwischen geredet?«
»Ein bißchen. Ich habe ihm etwas Blut abgenommen. Sie müssen es sich ansehen!« Er ging mit ihr zum Mikroskop hinüber. »Pater, könnten Sie wohl Robert herbitten?« wandte sie sich an den Priester. »Er sollte sich das Blut auch ansehen.« »Gewiß«, erwiderte er und verließ das Labor. Donovan starrte auf die gelblich-grüne Blutprobe herab. »Unheimlich. Andererseits bin ich sicher, daß einem Laien wie mir menschliches Blut beinahe ebenso komisch vorkommen würde. Elias erzählte mir, daß eine Frau bei ihm war, als sie ihn aufgelesen haben. Was ist mit ihr?« »Sie ist noch hier. Ihr Name ist Harmony Moore. Sie hat einen Imbißwagen in den Richland-Werken. Jetzt, da sie die Lage unserer Basis kennt, dürfen wir sie nicht gehen lassen.« »Glauben Sie, daß wir sie für uns gewinnen können?« »Sie sagt, sie sei Pazifist, aber vielleicht kann sie uns auf andere Weise nützlich sein. Sie hat eine Ausbildung als Krankenschwester hinter sich.« »Was haben die beiden gemacht?« fragte Donovan. »Ich nehme an, sie hatten ein Rendezvous«, antwortete Juliet. »Sie machen Witze.« Er blickte zu William hinüber. »Weiß sie, wer sie wirklich sind?« »Ich glaube nicht. Sie…« »Was ist los, Julie?« fragte Robert Maxwell von der Tür her. Der Blick, den er William zuwarf, war kalt und böse. »Eine Blutprobe. Sehen Sie sie sich einmal an«, entgegnete Juliet und trat beiseite. »Hah…«, stieß Maxwell hervor und vergaß vor Begeisterung seinen Widerwillen gegen den Visitor. »Sehen Sie nur. Ein völlig anderer Blutfarbstoff!« »Ja«, pflichtete Juliet ihm bei. »Doch ich habe noch ein paar andere überraschende Erkenntnisse gewonnen. Sein Organismus unterscheidet sich nicht so sehr von dem unseren,
wie Sie vielleicht glauben. Die Röntgenbilder zeigen Herz, Lunge, Niere – alle ungefähr an derselben Stelle wie bei uns. Nur ein wenig anders geformt natürlich.« Maxwell deutete auf William. »Er ist mit alldem einverstanden?« »Ja«, erwiderte Juliet. »Er scheint zu verstehen, warum es einen Widerstand geben muß – warum wir zurückschlagen. Als ich ihn fragte, was man ihm erzählt habe, bevor er hierherkam…« Sie grinste. »Es ist lustig. Er hat Schwierigkeiten mit unserer Sprache. Ich fragte, ob er, bevor er auf die Erde kam, gewußt habe, daß wir intelligente Lebewesen seien, und er erwiderte: ›Nein. Sie erzählten uns, daß Sie alle Matten seien.‹« Wieder kicherte Juliet, als sie Roberts verständnisloses Gesicht sah. »Harmy, die Frau, die bei ihm war, korrigierte ihn: ›Nicht Matten, William. Sie meinen Ratten.‹« Doch Roberts mürrischer Gesichtsausdruck änderte sich nicht. »Nun kommen Sie schon, Bob. William ist nichts weiter als ein Techniker. Er ist kein Soldat und hat Kathleen nicht getötet.« »Aber er ist ein Visitor – und damit mitverantwortlich.« »Nein, das stimmt nicht«, erklärte Donovan grob. »Das wäre dasselbe, als wollten Sie alle Deutschen für Dachau verantwortlich machen oder alle Japaner für Pearl Harbour.« »Oder alle Amerikaner für Hiroshima«, fügte Juliet hinzu. »Vergessen Sie nicht, daß Sie ohne Martin Robin nicht wiedergesehen hätten.« Maxwell seufzte. »Vielleicht haben Sie recht. Trotzdem mag ich nicht mit einem solchen Kerl unter einem Dach wohnen.«
Eine Woche vor dem geplanten Überfall auf das Großklinikum von Los Angeles ging Mike Donovan in einem der örtlichen
Lebensmittelgeschäfte einkaufen. Er trug eine VisitorUniform, die durch eine dunkle Brille, eine Kappe und Pistole vervollständigt wurde. Mehrere an der Vorderseite des Supermarktes angebrachte Anschlagszettel verkündeten, daß die Visitors die Lebensmittelzuteilungen für die einzelnen Bürger erhöht hatten. Die Hand am Abzug der Waffe betrat er den Laden, wobei er sich bemühte, die Rührt-Euch-Haltung der Visitor-Wachen einzunehmen. Seine hinter der dunklen Brille verborgenen Augen wanderten schnell durch die Gänge und beobachteten prüfend die Kunden. Es waren vielleicht fünf Minuten vergangen, als Kristine Walsh den Laden betrat. Sie trug ebenfalls eine dunkle Brille, ein grelles T-Shirt und Jeans; ihr Haar hatte sie unter einem roten Kopftuch hochgesteckt. Sie blickte sich hastig suchend um und hielt dann zielstrebig auf die Fleischabteilung zu. Donovan erreichte sie, als sie vor den »Hamburgern« stand. »Kris…«, sagte er. Sie wandte sich halb um, erkannte ihn. »Du! Ich dachte, Arthur Dupres…« »Sprich leise und sieh auf das Fleisch herunter. Tritt an den Geflügelstand heran – dort sind die Spiegel günstiger angeordnet.« Er nahm neben dem Fleischstand Aufstellung. Kristine schlenderte hinter ihm her den Gang entlang, nahm gelegentlich eine Fleischpackung in die Hand, betrachtete sie prüfend und legte sie in ihren Einkaufswagen. Als sie näher kam, nickte er ihr zu und flüsterte, fast ohne die Lippen zu bewegen: »So ist es besser. Übrigens hast du mich früher Mike genannt.« »Ich habe mich schon gewundert, warum dein Stiefvater mich heimlich sprechen wollte. Das war ein lausiger Trick von dir, Mike. Wenn sie erfahren, daß ich mit dir rede…«
»Ich war nicht sicher, ob du kommen würdest, wenn du wüßtest, daß ich dich zu sprechen wünsche.« »Natürlich wäre ich nicht gekommen! Du stehst ganz oben auf ihrer Fahndungsliste! Sie würden dich ohne Vorwarnung erschießen!« »Sprich leise!« »Was willst du, Mike?« »Die Visitors haben Sean, meinen Sohn. Ich will ihn retten.« »Sean?« »Ja. Sie haben ihn zusammen mit der übrigen Bevölkerung von San Pedro festgenommen.« Kristine schwieg einen langen Augenblick lang. »Vielleicht sind sie alle tot«, sagte sie schließlich. »Nicht ganz. Sie werden irgendwo auf deinem Schiff gelagert.« »Wovon sprichst du?« Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. »Die Leute werden zum Versand in Plastikbehälter gepackt und schlafen in der Hibernation – eine Art Scheintod. Aber sie können wieder zum Leben erweckt werden.« »Warum tun sie das?« »Nahrung.« Entsetzt riß sie die Augen auf, und nur sein warnendes Zischen hielt sie davon ab, laut zu reagieren. »Nein! Das glaube ich nicht!« »Wach doch endlich auf, Kris! Du bist doch sonst nicht so dumm! Warum, glaubst du, haben sie die tägliche Lebensmittelration erhöht? Um uns zu mästen! Sie wollen alle Lebewesen dieses Planeten als Nahrungsmittel mitnehmen, außer den Fischen vielleicht. Und zwar angefangen mit uns! Wenn wir erst aus dem Weg geschafft sind, ist der Rest ein Kinderspiel. Was ich dir damals gesagt habe… und was du sicher auch in den Bulletins der Untergrundbewegung gelesen
hast… ist wahr. Sie sind Reptilien. Sie essen frisch getötete Lebewesen, uns eingeschlossen.« Donovan nestelte einen der Abzüge, die er von Seans Foto hatte machen lassen, aus der Tasche und reichte ihn ihr. »Das ist ein Bild von Sean. Nimm es!« Dann gab er ihr den fremdartig aussehenden goldenen Schlüssel. »Und dies hier. Er ist in der sogenannten Sektion 34.« Seine Stimme wurde zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Bitte.« Ihre Finger umschlossen Foto und Schlüssel. »Ich werde tun, was ich kann, Mike. Doch du mußt dich versteckt halten. Es ist mein Ernst – sie versuchen alles, um dich zu fassen. Wenn ich erfolgreich bin, werde ich es dich wissen lassen.« »Da ist ein Offizier namens Martin. Kennst du ihn?« »Ja. Er ist einer von Dianas Adjutanten.« »Genau, den meine ich. Er weiß, wo ich zu erreichen bin. Du kannst ihm vertrauen.« »In Ordnung.« Kristines Stimme wurde hart. »Ich mache das nur für dich, Mike. Ich bin kein Verbündeter eurer Widerstandsbewegung – dazu werde ich zu streng überwacht. Ich bin zu tief in das alles verwickelt, um jetzt da herauszukommen.« Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und ging mit ihrem Wagen weiter. Donovan wartete, bis sie den Laden verlassen hatte, dann schlenderte er durch die Gänge und pirschte sich langsam auf den Ausgang zu. Er war gerade auf den Parkplatz hinausgetreten, als ihn ein Visitor ansprach. »Hallo! Neu hier, nicht wahr? Von welcher Abteilung sind Sie?« Als sich Donovan zu dem Mann umdrehte, sah er sich einem großen »Schwarzen« gegenüber, der eine Kopf und Brust bedeckende Rüstung trug und dessen Augen ihn durch den abgedunkelten Sichtschutz des Helms wachsam anblickten. Donovan zögerte einige Sekunden lang, dann nickte er ihm
freundlich zu und hob zwei Finger. Der Mann betrachtete ihn nachdenklich. »Ich verstehe. Nun, es war schön, Sie kennenzulernen. Aber jetzt werde ich mich verabschieden, und Sie ebenfalls.« Donovan befeuchtete seine Lippen; ein verschreckter, ängstlicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht, selbst in dem Augenblick noch, als er die Waffe zog und schoß. Blaues Feuer blitzte, und Ozongeruch erfüllte die Luft. Der schwarze Soldat brach, noch im Tod nach seiner Waffe greifend, mit jenem langgezogenen, unartikulierten Todesschrei der Visitors zusammen. Mike war schon losgerannt; er hastete an den vom Parkplatz herunterfahrenden Autos vorbei und stürzte, ohne sich umzusehen, über die Straße. Er hörte Bremsen quietschen, dann das Krachen eines Zusammenstoßes. Schließlich erreichte er den auf der anderen Seite der Straße liegenden Wald und lief, ständig die verdammten, schweren Stiefel der Visitors verfluchend, weiter. Kein Wunder, daß die Deutschen den Krieg verloren haben, dachte er. Sie konnten an nichts anderes als an ihre schmerzenden Füße denken. Es dauerte mehrere Stunden, bis er ein Haus erreichte, das einem Freund gehörte. Dort wechselte er die Kleider, und der Hausbesitzer fuhr ihn zum Hauptquartier zurück. Als er am Kanal entlang auf die Anlage zuging, sah er Juliet mit blassem, wütendem Gesicht in der Eingangstür stehen. »Kann ich Sie kurz sprechen, Donovan?« Er ärgerte sich über sich selbst, doch er folgte ihr gehorsam in einen der jetzt am Tag verlassenen Schlafräume. Juliet schloß leise die Tür, und Donovan kam sich wie ein kleiner Lehrjunge vor, der ins Büro seines Chefs beordert worden war. Einen Augenblick lang starrte Juliet ihn stumm an. Ihre Augen glitzerten, und Mike hätte gern gewußt, ob die Ursache dafür Wut oder zurückgedrängte Tränen waren. Als sie endlich
redete, stand der ruhige Klang ihrer Stimme in krassem Gegensatz zu ihrer Miene. »Wie konnten Sie sich nur so rücksichtslos und gemein verhalten, Donovan?« Wieder einmal stellte Mike staunend fest, wie schnell ein Gerücht sich verbreiten konnte. Trotzdem wurde er wütend. »Einen Augenblick, Doc. Ich hatte einen guten Grund für das, was ich getan habe.« »Gewiß. Sie wollen Ihren Sohn zurückhaben und sind bereit, sich an jeden heranzumachen, von dem Sie glauben, daß er Ihnen helfen könnte. Selbst wenn der Betreffende der größte Verräter aller Zeiten ist – ich finde das erbärmlich, Donovan!« »Ich glaube nicht, daß Kristine Walsh jetzt noch bereit ist, die Visitors zu unterstützen. Und selbst, wenn sie es wäre – sie wird mir helfen, Sean zurückzubekommen. Das hat sie gesagt, und ich glaube ihr.« Er sah sie lange an. »Julie, er ist mein Sohn. Wie könnte ich da nicht alles in meiner Macht Stehende tun, um ihn gesund zurückzubekommen?« »Ich habe keinerlei Zweifel, daß Ihre Motive durchaus bewundernswert sind, Donovan; nichtsdestoweniger sind alle persönlichen Motive ungerechtfertigt, wenn man unsere derzeitige Lage in Betracht zieht.« Juliet drehte sich zur Tür um. Sie hob die Hand, und Donovan glaubte, sie wolle nach der Klinke greifen. Statt dessen ballte sie die Hand zur Faust und hämmerte gegen den Türrahmen. »Zum Teufel, Donovan! Wie konnten Sie uns das antun?« »Kristine wird versuchen, Sean zu finden. Was zum Teufel erwartet man von mir? Daß ich vergesse, einen Sohn zu haben? Daß er da oben auf diesem gottverdammten Schiff ist? Es ist durchaus möglich, daß sie ihn zum Frühstück servieren! Ich kann meine persönlichen Gefühle den Zielen dieser Bewegung nicht völlig unterordnen – das entspricht nicht meinem Wesen!«
»Dann gehören Sie vielleicht nicht zu uns.« Ihre Stimme war jetzt wieder fast schmerzhaft ruhig; doch er sah, wie es in ihrem Gesicht arbeitete. »Sie dürfen so etwas nie wieder tun. Dafür wissen Sie zuviel. Sie haben uns alle in Gefahr gebracht, Donovan.« »Aber…« Sie hob abwehrend die Hand. »Sagen Sie jetzt nichts mehr. Denken Sie nur an meine Worte. Das erwarte ich von jedem einzelnen hier. Daß er uns über das persönliche Wohlergehen und die eigene Sicherheit stellt. Anders funktioniert es nicht. Sie haben nicht an uns gedacht, Mike.« Donovan hatte gewußt, daß er ein ungeheures Risiko einging, indem er Kontakt zu Kristine aufnahm, doch er hatte sich gezwungen, das einfach zu vergessen. Juliets Worte führten ihm die Schuld, die er auf sich geladen hatte, deutlich vor Augen, und bittere Reue erfüllte ihn. Er schluckte, fühlte Tränen in den Augen – und wandte sich schnell ab, damit Juliet sie nicht bemerkte. »Das ist nicht wahr. Ich habe an die Bewegung gedacht.« Donovan biß sich auf die Lippe und fuhr sich erregt mit den Fingern durchs Haar. Juliet sah ihn traurig an. »Mike, wir brauchen Sie. Ich brauche Sie. Aber wenn Sie uns nicht Ihr Bestes geben können – dann sollten Sie gehen. Bevor Sie wirklichen Schaden für uns anrichten können.« Aus Angst, die Stimme könnte ihm den Dienst versagen, blieb Donovan stumm. Sie wandte sich zur Tür. »Wir sind eine Gemeinschaft, Mike«, sagte sie sanft, »und wir befinden uns im Krieg. Wir können uns einen Einzelgänger, der sich uns nur dann verpflichtet fühlt, wenn es seinen persönlichen Interessen entgegenkommt, nicht leisten.«
Langsam ging Harmony Moore durch den Gang in Richtung des Laboratoriums, in dem Willy gefangengehalten wurde. Hinter sich hörte sie Schritte, und sie wußte, daß Maggie ihr folgte. Harmony hielt ihre Hände weit vom Körper weg – sie wußte, wie gut Maggie mit dem Gewehr umgehen konnte und daß sie es immer bei sich trug. Vor der Tür zum Labor stand, ebenfalls bewaffnet, der Mann, den sie Brad nannten. Er blickte ihr mißtrauisch entgegen. »Was ist?« Obwohl sie Angst hatte, sah Harmony ihn entschlossen an. »Haben Sie Willy irgend etwas getan?« »Nur ein paar Blutproben abgenommen.« Er starrte sie an. »Auf menschliche Weise. Mehr, als dieser Kerl verdient.« »Sie täuschen sich in ihm. Er hat niemals irgend jemandem etwas zuleide getan. Er ist anständig«, sagte Harmy böse. »Gewiß«, entgegnete Brad sarkastisch. »Wenn Sie Reptilien mögen. Sie haben einen seltsamen Geschmack, Lady.« »Das ist auch gelogen. Ich glaube diesen Gerüchten nicht.« »Haben Sie den Film, den Donovan an Bord des Mutterschiffs gedreht hat, nicht gesehen?« »Ich habe ihn gesehen. Ich habe Kristine Walshs Sonderbericht gesehen, und die Terroristen haben ihn mit Masken und solchem Zeug verändert – wie in Horrorfilmen.« Er lachte trocken auf. »Glauben Sie das wirklich? Kommen Sie mal her.« Er packte ihr Handgelenk und bedeutete Maggie, die Tür zum Labor zu öffnen. »Behalte ihn im Auge, Mag.« William saß in einer Ecke des Labors auf dem Boden. Sein Gesicht war ausdruckslos, doch Harmy konnte seine Angst spüren, als er Brad sah. Dann blieb sein Blick an Harmy hängen, und er freute sich offenbar, sie wiederzusehen. »Harmony! Sie haben Ihnen nichts getan?« Sie lächelte ihn beruhigend an, als Brad sie an seine Seite zerrte. »Ich hoffe, Sie haben gute Nerven, Lady«, sagte er und
griff dann nach Williams Hand. Der Visitor wollte sie ihm entziehen, hielt jedoch in der Bewegung inne, als er sah, wie Maggie Blodgett das Gewehr hob. Brad begann, kräftig mit den Fingernägeln an Williams Hand zu kratzen. »Hören Sie auf!« schrie Harmy. »Was tun Sie da?« Voll Entsetzen sah sie, wie die Haut an der Hand ihres Freundes sich abschälte und grünliche Schuppen und fünf ungewöhnlich dünne, mit vielen Gelenken versehene Finger, die mit kurzen, stacheligen Krallen versehen waren, zum Vorschein kamen. »Sehen Sie!« fauchte Brad und packte das Handgelenk des sich heftig sträubenden Visitors. »Jetzt fragen Sie ihn, ob diese Filme gefälscht sind! Fragen Sie ihn, warum sie hergekommen sind!« Harmy streckte den Finger vor, als wolle sie die schuppige Haut berühren, wich dann jedoch, am ganzen Körper zitternd, zurück. »Ist das wahr?« fragte sie, sah dabei jedoch nicht Brad, sondern William an. William ließ den Kopf hängen und bedeckte seine entblößte Hand mit der anderen. Brad rüttelte ihn. »Die Dame hat dich etwas gefragt!« »Es ist wahr«, sagte William. »Es tut mir leid, Harmony.« Harmy wich zur Tür zurück, drehte sich dann, blind vor Tränen, um und taumelte davon.
22. Kapitel
Kristine Walsh starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das schlafende/tote Gesicht von Sean Donovan. Der Junge trieb, eingehüllt in eine durchsichtige, gallertartige Flüssigkeit, nackt in dem Container herum. Er war umgeben von anderen Kindern – diese ganze Reihe von Containern enthielt Kinder. Genug an der Zahl, um mindestens eine Schule zu bevölkern. Kristine schluckte und grub die Fingernägel in die Handflächen, aus Furcht, ohnmächtig zu werden. Schnell setzte sie sich auf das Bodengitter und stützte den Kopf auf die Knie, bis das Sausen in ihren Ohren nachließ und sie wieder sehen konnte, ohne daß ihr schwindelig wurde. Was kann ich tun? fragte sie sich. Ich stehe diesem Alptraum allein gegenüber – kann ich überhaupt etwas unternehmen? Sie glaubte es nicht – und das war das Schlimmste von allem. Mit all diesem Schrecken zu leben und hilflos zu sein… Sie umklammerte den Schlüssel, den Mike Donovan ihr gegeben hatte, prägte sich die Reihe und den Standort von Seans Container ein und kehrte zurück. Während sie durch den schattigen Gang von Sektion 34 ging, beschloß sie, bis nach der Übertragung aus dem Krankenhaus zu warten. Dann würde sie Kontakt zu Martin aufnehmen und ihm Mikes Sohn übergeben. In Erwartung der feierlichen Präsentation von Johns »Geschenk« waren Diana und John im Augenblick noch sicherheitsbewußter als gewöhnlich. Ihr Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln, als sie daran dachte, wie sehr sie von John beeindruckt gewesen war, ja, wie sie sich sogar von seinem Charme hatte einwickeln lassen…
Selbst wenn es mir gelingt, Sean hier herauszuholen, dachte sie verzweifelt, was ist mit all den anderen? Tränen standen in ihren Augen, als sie vorsichtig durch die Luke trat und sich einen Augenblick lang dagegenlehnte, um sich zu sammeln und wieder die sachlich-kühle Haltung anzunehmen, hinter der sie sich zu verstecken pflegte. Als sie Schritte hörte, trat sie schnell von der Tür weg und ließ den Schlüssel in ihre Tasche gleiten. Zusammen mit zwei Wachtsoldaten kam Steven um die Ecke und sah sie mit unverhohlenem Mißtrauen an. »Was machen Sie hier, Kristine?« Sie lächelte ihn unbefangen an. »Ich habe mich verlaufen. Und wenn ich fünf Jahre statt fünf Monate auf diesem Schiff bin – ich werde nie lernen, mich hier zurechtzufinden, fürchte ich.« Er sah sie mit kaltem Blick an. »Das ist verbotenes Gebiet, wie Sie wissen. Wir werden den Vorfall mit Diana besprechen müssen.« Er nickte den Wachen zu. Sie nahmen Kristine in die Mitte und führten sie zu Dianas kombiniertem Labor/Büro. Während Kristine wartete, beobachtete sie Diana und Steven durch die durchsichtige Trennwand und versuchte, in ihren Gesichtern zu lesen. Schließlich kam Diana herein. Die Tiere rannten in panischem Entsetzen quiekend in ihren Käfigen umher und blieben dann wie erstarrt stehen, als Diana an ihnen vorbeiging. Mit drohender Miene blieb Diana vor ihr stehen, und Kristine fühlte sich fast ebenso verängstigt wie die Tiere. »Was haben Sie in der verbotenen Zone gemacht, Kristine?« »Ich habe mich verlaufen. Ich war auf dem Weg zum Landedeck, um ein paar Sachen von meiner Ausrüstung aus meiner persönlichen Fähre zu holen, und da – ich glaube, Diana, Ihre Leute haben diese Schiffe wie Labyrinthe gebaut.« Sie brachte ein Lachen zustande.
Nun betrat Steven den Raum, ging auf Kristine zu und zog mit einer blitzschnellen Bewegung den Schlüssel aus ihrer Tasche. »Interessant«, bemerkte er. »Ich würde gern wissen, ob Sie ihn auch benutzten. Haben Sie in Sektion 34 nach jemandem gesucht? Vielleicht nach einem Verwandten?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, erklärte Kristine mit Bestimmtheit. »Ich fand dieses Instrument in der Tür und wollte es in Verwahrung geben.« Diana und Steven wechselten einen schnellen Blick. Dann sagte Diana aufseufzend: »Ich habe zuviel Respekt vor Ihnen, Kristine, um die Sache zu beschönigen. Sie müssen jetzt wählen. Wir wollen, daß Sie für uns arbeiten. Sie sind von ungeheurem Wert für unsere beider Völker. Ich brauche Sie.« »Ich fühle mich geehrt«, sagte Kristine vorsichtig. »Von was für einer Wahl sprechen Sie?« »Wir möchten, daß Sie weiterhin als Pressesprecherin für uns tätig sind«, entgegnete Steven. »Sie können das freiwillig tun oder…« Seine Stimme verlor sich. Er lächelte, und plötzlich fiel es Kristine leicht, sich ihn als Reptil vorzustellen. Sie holte tief Luft. »Ich nehme an, Sie verfügen über Mittel, mich zur Zusammenarbeit… zu zwingen. Wie Corley Walker.« Diana nickte. »Genau. Unglücklicherweise ist das Konvertierungsverfahren, das bei Mr. Walker so hervorragend funktionierte, unberechenbar. Es kann für die betroffene Person ungeheuer gefährlich sein, und ich möchte Sie diesem… Risiko nicht aussetzen.« Sie legte die Hand auf Kristines Schulter und sah ihr direkt in die Augen. »Ich will Sie nicht verlieren, Kristine. Ich mag Sie um Ihrer selbst willen, und ich schätze die Dienste, die Sie uns leisten. Ich hoffe, Sie sind sich über Ihre eigene Lage ebenso klar wie ich. Bitte, denken Sie darüber nach.«
Sie sah Kristine noch einmal eindringlich an, und dann drehte sie sich um und verließ, von Steven gefolgt, den Raum. Kristine blieb allein in dem stillen Raum zurück; ihre einzigen Gesellschafter waren die eingesperrten Tiere.
Vorsichtig piekte Juliet Parrish eine sterile Nadel in Williams schuppigen Rücken. »Nur noch ein paar in dieser Reihe«, sagte sie und meinte damit die Allergietests. »Ich weiß, daß es schmerzt – aber es läßt sich schwer vermeiden, weil Ihre Haut soviel dicker ist als die unsrige.« »Ich verstehe«, erwiderte Willie mit seiner seltsam widerhallenden Stimme, die jetzt ein wenig gepreßt klang. Er lag bäuchlings auf dem Untersuchungstisch, und ein großer Teil seines Rückens war freigelegt. Er hatte Juliet gezeigt, wie sich die Plastikhaut zurückziehen und wieder reparieren ließ. Seine Hände waren inzwischen wieder mit der künstlichen Haut bedeckt. Seit Brads Enthüllung in der vergangenen Nacht hatte er Harmony Moore nicht mehr gesehen – aber jedesmal, wenn er die Augen schloß, durchlebte er wieder jenen Augenblick, als sie ihn mit diesem entsetzten Gesichtsausdruck angesehen hatte. Juliet warf Sancho Gomez einen kurzen Blick zu. Er fungierte dezent als ihr Assistent. »Martin sagt, sie seien immun gegen alle bekannten menschlichen Krankheiten. Und bis jetzt scheint Willie keine allergischen Reaktionen zu zeigen.« »Willie«, wandte sie sich wieder an den Visitor. »Gab es während Ihrer Zeit auf der Erde irgendwelche Stoffe, auf die Sie mit Unbehagen oder Krankheitsgefühlen reagiert haben? Autoabgase zum Beispiel? Gemüse? Irgend etwas?«
»Nein«, erwiderte Willie leise. »Das einzige, was mir Unbehagen verursacht hat, war die Erkenntnis, daß die menschliche Masse ebenso intelligent ist wie wir…« »Die menschliche Rasse, Willie«, unterbrach Juliet ihn lächelnd. »Ja, danke«, fuhr er fort. »Und daß es einige Menschen gibt, die ich lieber mag als meine eigenen Leute. Was da passiert, ist ganz entsetzlich, und ich verstehe, daß Sie alles tun müssen, um Ihr Volk zu retten. Uns geht es ebenso.« Julie arbeitete ruhig weiter. »Aber es gibt doch sicher noch einen anderen Weg, um Ihr Volk zu retten, als das Leben auf diesem Planeten zu vernichten«, meinte sie nachdenklich. »Ich weiß es nicht«, antwortete Willie unglücklich. »Bevor wir hierherkamen, hätte ich nie geglaubt, daß Sie uns so ähnlich sind. Vom Aussehen einmal abgesehen.« »Und macht es einen Unterschied, jetzt, da Sie es wissen?« »Ja, für mich jedenfalls. Was die anderen denken, weiß ich nicht. Das Leben auf unserem Planeten hängt von uns, vom Erfolg unserer Mission ab. Zumindest sagt das der Große Denker. Jetzt jedoch glaube ich, daß wir versuchen sollten, einen anderen Weg zu finden.« Die angelehnte Tür schwang auf; Juliet blickte fragend hoch und sah Harmony Moore, die offensichtlich auf dem Gang gestanden und gelauscht hatte. Sie trat beiseite, um Robin Maxwell Einlaß zu gewähren. Das Mädchen trug ein ErsteHilfe-Köfferchen in der Hand. »Julie! Polly hat sich einen Splitter eingezogen. Könnten Sie mir helfen…« Als sie Williams entblößten Rücken sah, die grünlichen Schuppen, die im Schein der Deckenbeleuchtung aufglänzten, hielt sie abrupt inne. Ihre Augen wurden weit, und ihre Hand betastete den Flecken an ihrem Hals. Das Erste-HilfeKöfferchen fiel zu Boden und sein Inhalt verteilte sich über die Erde. Schwer atmend taumelte Robin zurück.
»Robin! Was ist los?« Juliet wollte sich dem Mädchen nähern, doch Robin war bereits aus dem Raum gestürzt. Dann hörte sie ihr Schreien vom Gang her. »Sancho! Bitte bleiben Sie bei William!« rief Juliet und eilte Robin nach. Als sie das schreiende Mädchen erreichte, hatten sich schon mehrere Leute im Gang eingefunden – Robert Maxwell, Mike Donovan, Caleb und Elias, Ruby, Cal und Robins Schwestern. Juliet griff nach der Hand des Mädchens, das hysterisch an seinem Hals zerrte und versuchte, das seltsame Mal abzureißen. »Robin! Was ist los? So antworte mir doch!« Einen Augenblick lang fürchtete sie, das rasende Mädchen schlagen zu müssen, um es zur Vernunft zu bringen, doch da stieß Robin plötzlich hervor: »Nein! Nein! Ich kann es nicht bekommen! Ich will eine Abtreibung!« Robert Maxwell versuchte, seine Tochter in die Arme zu nehmen, doch sie stieß ihn, keuchend und wild mit den Augen rollend, zurück. »Bitte, Julie! Sofort! Ich muß es abtreiben lassen!« Juliet zwang sich zur Ruhe. »Es ist ja schon gut, Robin. Laß uns darüber reden.« »Aber du sagtest doch, du wolltest es nicht abtreiben lassen, Binna«, sagte Robert Maxwell verwirrt. »Als ich dich vor ein paar Monaten, als es noch möglich war, fragte…« »Jetzt habe ich meine Meinung geändert!« »Das Wichtigste ist, daß du dich erst einmal beruhigst, Robin«, sagte Juliet. »Nicht, ehe ich es los bin«, schluchzte Robin. »Sie müssen es tun, Julie. Sie müssen es!« Ihre Augen waren gerötet und voller Tränen. »Es ist eins von ihnen – von den Reptilien!« Die Menschen um sie herum erstarrten. Schließlich streckte Robert die Arme aus und zog das schluchzende Mädchen an sich. Alle sahen einander bestürzt an.
»Robin«, sagte Robert, »was willst du damit sagen?« »Ein Visitor ist der Vater!« schluchzte Robin, und irgend jemand reichte ihr ein Taschentuch. »Bist du ganz sicher?« fragte Juliet. »Das ist ungeheuer wichtig, Robin.« Polly trat dicht an Robin heran. »Es war Brian, nicht wahr?« »Ja!« entfuhr es Robin. »Das glaube ich nicht«, sagte Elias fassungslos. »Ich habe keine große Schulbildung, Julie, aber ich erinnere mich, daß man uns im Biologie-Unterricht lehrte, daß sich verschiedene Arten nicht kreuzen lassen. Jetzt soll ich ihr abnehmen, daß ein Mensch und eine Echse – ein Reptil, das noch nicht einmal von diesem Planeten stammt – ein Baby zeugen können! Dafür wäre eine Bootsladung voll Samen nötig!« »Sei still, Elias«, sagte Juliet. »Wir wissen nicht, was oben auf dem Schiff mit Robin passiert ist. Vielleicht hat man sie unter Drogen gesetzt oder bewußtlos geschlagen oder…« »Nein!« Robin schüttelte wild den Kopf. »Ich bilde mir das nicht ein und übertreibe auch nicht. Es war Brian – er ist der einzige, mit dem ich je geschlafen habe. Als ich da oben gefangen war, kam er zu mir, sagte, er wolle mich befreien… Ich habe geglaubt, ihn zu lieben. Oh, Gott!« Wie irr zerrte sie an ihren dunklen Haaren, so als könne nur der Schmerz angesichts des Entsetzens sie davor bewahren, den Verstand zu verlieren. »Wie konnte ich nur so dumm sein! Es ist sein Baby, und ich will es abtreiben lassen!« Juliet nahm das schluchzende Mädchen in die Arme. »Ich glaube, das sollten wir lieber unter uns besprechen… nur du, Robin, dein Vater, Cal und ich. Einverstanden?« Die Umstehenden nickten zustimmend und wandten sich ab. Juliet nickte Cal zu, und sie gingen zusammen mit Robin und ihrem Vater ins Labor. Dort sah ihnen William von seinem Platz hinter der Plexiglastür her traurig entgegen. »Nun,
Robin«, begann Juliet, »ich glaube, du solltest mir jetzt genau erzählen, was da oben auf dem Mutterschiff passiert ist. Schildere mir alles so genau, wie du nur kannst. Denke daran, daß es hier nicht nur um dein Leben geht.« »Okay, Julie.« Robin blickte auf, und ihre blaugrünen Augen schimmerten feucht. Dann begann sie zögernd, von ihrer Gefangenschaft zu berichten. Als sie die medizinische Untersuchung schilderte, der man sie unterzogen hatte, ließen Juliet und Cal sich jede Einzelheit berichten. »Das kann alles Mögliche gewesen sein«, meinte Juliet nachdenklich. »Doch niemand von den wenigen, denen es gelungen ist, vom Mutterschiff herunterzukommen, ist solch einer Prozedur unterzogen worden. Das scheint eins von Dianas Experimenten zu sein. Erzähl weiter, Robin.« Zögernd und in abgerissenen Sätzen, den Blick starr auf den Boden gerichtet, erzählte Robin den Rest der Geschichte. Als sie geendet hatte, saß Robert schwer atmend und unruhig die Hände ringend da. »Es sieht also wirklich so aus, als habe der Geschlechtsverkehr tatsächlich stattgefunden«, sagte Juliet, nachdem sie Robin in ihr Zimmer zurückgeschickt hatte, um sich das Gesicht zu waschen und sich die Haare zu bürsten. »Der Schweinehund hat sie vergewaltigt«, sagte Robert. »Wenn ich daran denke, wie mein kleines Mädchen behandelt worden ist!« »Hören Sie auf, Robert«, sagte Cal entschieden, aber nicht unfreundlich. »Auf diese Weise kommen wir nicht weiter, und es wird Robin sicher nicht helfen.« »Aber selbst wenn der Geschlechtsverkehr wirklich stattgefunden hat – wie läßt sich die Empfängnis erklären?« Julie schüttelte den Kopf. »Elias hat recht – es kann eigentlich keine Verbindung zwischen den Arten geben.«
»Du vergißt, daß die Visitors wissenschaftlich weiter fortgeschritten sind als wir«, führte Cal aus. »Selbst wir haben in dieser Richtung bereits Schritte unternommen. Hast du je von der Sonnenbohne gehört?« Juliet erinnerte sich ansatzweise und nickte. Robert Maxwell jedoch schüttelte den Kopf, und Cal fuhr fort: »GenVerschmelzungen werden seit 1981 durchgeführt. Genetikern von der USDA und der Universität von Wisconsin ist es gelungen, die genetische Substanz einer Sonnenblume in eine Bohne zu übertragen – oder umgekehrt. Das weiß ich nicht mehr genau. Auf jeden Fall wurde aus der Verbindung dieser beiden Pflanzen eine neue Art geschaffen. Als Übertragungsmittel wurde ein Bakterium benutzt. Falls das eins von Dianas Experimenten war, hatten sie Brian möglicherweise vorher Strahlungen ausgesetzt oder Chemikalien benutzt oder einen chirurgischen Eingriff vorgenommen. Vielleicht haben sie auch mehrere Verfahren gleichzeitig angewendet; oder aber sie könnte auch eine völlig neue Technik entdeckt haben, von der wir nicht die entfernteste Vorstellung haben. Es ist also nicht unmöglich, daß Robin ein Kind in sich trägt, dessen Vater Brian ist.« Er seufzte. »Es ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.« Als William an die Plexiglastür klopfte, drehten sich die drei erschrocken um. Juliet schloß die Tür auf. »Was ist los, William?« »Ich muß Ihnen etwas sagen.« Er blickte zögernd zu Boden, hob dann den Blick und sah Juliet an. »Bei unseren Frauen verändert die Haut am Hals während der Schwangerschaft die Farbe. Dieser Streifen ist schon kurze Zeit nach der Empfängnis zu sehen und breitet sich im Verlauf der Schwangerschaft weiter um den Hals herum aus. Ich habe diesen Streifen bei Robin gesehen.«
Juliet dankte ihm ernst, dann warteten die drei schweigend, bis Robin zurückkam. Das Mädchen hatte sich einigermaßen von ihrem Schock erholt. »Können wir die Abtreibung heute noch vornehmen, Julie?« fragte sie. Juliet zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, Robin. Wir müssen erst noch einige Untersuchungen durchführen.« Sie ging mit Robin auf den Gang hinaus. »Ich muß mit Fred reden und ihn fragen, ob er ein Zimmer im Krankenhaus bekommen kann.« Als sie Schritte auf dem Gang hörten, kamen die anderen Mitglieder der Widerstandsbewegung wieder aus den Zimmern. Juliet zögerte. »Ich will dir nichts vormachen, Robin. Der Eingriff kann gefährlich sein, weil dabei viele unbekannte Faktoren eine Rolle spielen. So eine Schwangerschaft hat es bisher noch nicht gegeben.« »Das ist mir egal!« erwiderte Robin ruhig, aber entschlossen. »Ich würde lieber sterben als dieses… Ding bekommen.« »Abtreibung ist Mord, Robin!« erklärte Pater Andrew eindringlich. Elias starrte den Priester an. »In diesem Fall nicht. Möchten Sie eine Echse auf die Welt bringen, Padre?« »Wir wissen nicht, ob es ein Reptil sein wird«, mischte sich Caleb ein. »Wir haben keine Ahnung, wie es aussehen wird, nicht wahr, Julie?« Juliet nickte und zuckte resigniert die Achseln. »Und deshalb bin ich gegen eine Abtreibung«, beharrte Pater Andrew. »Dieses Kind könnte eine Brücke zwischen den beiden Rassen bilden.« »Die Welt ist voller Monster«, meinte Brad. »Warum sollten wir ein weiteres in die Welt setzen?« »Nicht alle Visitors sind Ungeheuer«, widersprach Sancho. »Sie sind intelligente Lebewesen. Einer von ihnen hat mir das Leben gerettet.«
Beschützend legte Robert den Arm um seine Tochter. »Das spielt doch jetzt gar keine Rolle. Robin ist meine Tochter – und nicht Gegenstand eines wissenschaftlichen Experiments.« Doch Pater Andrew blieb hartnäckig. Er sah Robin an und sagte sanft: »Das ist die erste Paarung zwischen der menschlichen und einer von einem anderen Planeten stammenden Rasse. Diese Entscheidung ist von zu großer Bedeutung, als daß man sie einem siebzehnjährigen Mädchen – und ihrem verständlicherweise sehr erregten Vater – überlassen dürfte.« »Niemand wird mit meiner Tochter herumexperimentieren, Pater.« »Hört auf!« schrie Robin. »Das Ganze ist schon schwer genug, ohne… ohne all dies.« Sie kämpfte gegen die Tränen an. »Ja, hören Sie auf!« sagte Mike Donovan, der sich zum ersten Mal zu diesem Thema äußerte. »Solche Argumente haben wir schon früher gehört… daß das Leben zu wertvoll sei, um es auf irgendeine Weise zu zerstören. Aber in diesem Fall ist das anders.« »Das Prinzip ist dasselbe«, beharrte der Priester. »Nein, das ist es nicht. Robin könnte ein Wesen einer völlig neuen Art zur Welt bringen. Das hier ist mehr als ein interessantes wissenschaftliches Experiment – es könnte eine echte Bedrohung werden.« »Wissenschaftliche und moralische Verwicklungen wären bei dieser Schwangerschaft unvermeidlich. Dies ist ein einzigartiger…« »Das sind Gefahren meistens«, unterbrach Donovan den Priester kalt. »Es bedeutet eine ungeheure Verantwortung. Es ist Robins Körper, und es sollte auch ihre Entscheidung sein.«
Robin sah den Ex-Reporter dankbar an, wandte sich dann nach einem langen Augenblick atemlosen Schweigens an den Priester: »Ich will es nicht haben. Ich will die Abtreibung.«
Gekleidet in die Uniform eines Krankenpflegers spähte Elias vorsichtig aus der Tür der Proctologischen Abteilung, und den Revolver verbarg er hinter seinem Körper. Als sich die Schritte entfernten, drehte er sich erleichtert zu Brad um. »Nur eine Schwester«, flüsterte er und schloß die Tür. Hastig setzten die beiden Männer dann ihre Arbeit fort. Sie klebten die Ritzen der Tür mit Band zu, so daß kein verräterischer Lichtschein in den Gang fiel. Sie hatten die Arbeit kaum beendet, als sie erneut Schritte hörten und sie erschrocken zusammenfuhren und ihre Waffen zückten. Doch auch diese Schritte entfernten sich wieder. Brad wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Lange halte ich das nicht mehr aus«, sagte er und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Das ist Wahnsinn! Was ist, wenn jemand hereinkommt?« Elias grinste. »Oh, ich glaube, daß wir hier sicher sind. Es ist drei Uhr nachts – hast du jemals gehört, daß um diese Zeit ein Notfall mit Hämorrhoiden eingeliefert wurde?« Brad sah seinen Begleiter mißbilligend an. Lange saßen sie schweigend da, dann drehte sich Brad nach der anderen Tür des kleinen Raumes um. »Ich möchte wissen, was da drin jetzt passiert.« »Weiß ich nicht«, antwortete Elias sehr hilfreich. »Aber das eine sage ich dir. Ich möchte nicht in der Haut des Mädchens stecken. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte eine von diesen Eidechsen in mir…« Er setzte sich hin und blickte, das Gewehr im Anschlag, auf die geschlossene Tür des Operationssaales.
Barfuß, mit einem Krankenhausnachthemd bekleidet, lag Robin auf dem Operationstisch. Ihre Beine waren hochgestützt. Damit sie den Operationsbereich nicht sehen konnte, hatten sie etwa in Brusthöhe ein Laken hochgezogen. Jetzt trat Juliet mit einer hypodermatischen Nadel neben sie. »Nur eine Blutprobe, Robin. Es wird nicht weh tun.« Robin hielt die Hand ihres Vaters umklammert und starrte mit versteinerter Miene zur Decke hoch. »Es ist mir egal, wie weh es tut. Hauptsache, es geht vorbei.« Juliet nickte. Dann wickelte sie ein Elastikband um den Bizeps des Mädchens und strich über die Innenseite ihres Unterarms. Eine Ader trat hervor, und Juliet setzte die Nadel an. Orangerot gefärbtes Blut floß in die Spritze, und Juliet warf einen schnellen Blick auf Robin und ihren Vater. Doch sie hatten sich beide abgewandt und sahen die seltsame Farbe des Blutes also nicht. Schnell zog Juliet die Nadel heraus und wischte über die Einstichstelle. Dann ging sie mit der Spritze ins angrenzende Labor, wo Fred King und Cal sie erwarteten. »Seht euch das an«, sagte sie mit gesenkter Stimme. »Ich hätte beinahe die Spritze fallen lassen. Habt ihr so etwas je gesehen?« Sie untersuchte die Flüssigkeit eingehend unter dem Mikroskop. »Dieses Blut weist einige der charakteristischen Merkmale auf wie das Blut des Visitors, das du mir gezeigt hast«, sagte Fred und blickte auf. »Ausscheidungsstoffe des Fötus müssen das verursacht haben.« Fred und Juliet gingen in den Operationssaal zurück, während Cal im Labor blieb, um weitere Tests durchzuführen. »Hast du schon einmal eine Unterleibsuntersuchung machen lassen, Robin?« fragte Fred sanft. »Einmal«, antwortete Robin. »Es war irgendwie peinlich, aber es hat nicht weh getan.«
»Nun, ich nehme jetzt eine vor, und Julie hilft mir dabei. Auch ein paar Bauchpalpationen. Aber hab keine Angst, es wird nicht weh tun.« »Okay.« Eine Zeitlang arbeitete der junge Arzt schweigend und konzentriert. Er nahm auch eine kurze Untersuchung des Unterleibs vor, hielt sich jedoch wesentlich länger mit dem Betasten und Befühlen des Bauches auf. »Im wievielten Monat ist sie?« fragte er Juliet, ohne aufzublicken. »Das genaue Datum der letzten Periode weiß sie nicht mehr, aber sie müßte ungefähr im fünften oder sechsten Monat sein«, antwortete Juliet. »Fühl selbst«, wies er Juliet an und zeigte auf einen Punkt auf Robins Unterleib. »Ich habe da einen Kopf gefühlt, genau da, wo er sein sollte – aber die Gebärmutter ist für dieses Stadium der Schwangerschaft schon sehr groß. Und im Augenblick scheint auch schrecklich viel Bewegung da drin zu sein. Fühlst du etwas?« »Nein«, antwortete Juliet, bemüht, sich zu konzentrieren. »Hast du Herzschläge ausgemacht?« »Ja – aber sie klingen irgendwie undeutlich und ein wenig langsam.« Er seufzte. »Ich weiß nicht recht. Ich wünschte, ich hätte mehr Erfahrung auf diesem Gebiet. Ich habe erst einen Kurs in Geburtshilfe mitgemacht – im Herbst werde ich einen weiteren belegen.« »Was sollen wir deiner Meinung nach tun?« »Ich meine, wir sollten uns erst ein klares Bild verschaffen, bevor wir mit der Abtreibung beginnen.« »Eine Laparoscopie?« »Ja. Ich bitte Cal, die Instrumente bereitzulegen.« »Gut. Ich spreche mit Robin und ihrem Vater.« Juliet ging um das Laken herum, um mit Robin zu reden. »Wir machen jetzt einen kleinen Schnitt in deinen Unterleib,
Robin, damit wir sehen können, wie es in deinem Bauch aussieht. Es wird nicht weh tun – wir müssen dich nicht einmal betäuben. Bevor wir beginnen, gebe ich dir 50 Milligramm Demerol, und gegen die Schmerzen möchte ich Akupunktur anwenden. Ich habe diese Methode in China erlernt. Es ist erstaunlich – du wirst keinerlei Schmerzen spüren, und wir haben nachher nicht das Problem, eine halb bewußtlose Patientin von hier wegbringen zu müssen.« »Nehmen Sie keine normale Abtreibung vor?« fragte Robin. »Du darfst nicht vergessen, daß du mindestens schon zwanzig, vielleicht sogar schon vierundzwanzig Wochen schwanger bist, Robin. Da können wir keine einfache Abtreibung mehr machen. Wenn wir in deinen Bauch sehen, werden wir leichter entscheiden können, ob wir eine der üblichen Einleitungen durchführen können oder eine Hysterotomie – das ist eine Art kleiner Kaiserschnitt – machen müssen.« Robin nickte. »Ich verstehe, Julie. Ich weiß, daß Sie sich alle Mühe geben. Ich… ich möchte Ihnen auch noch sagen, daß ich weiß, was für ein Risiko Sie für mich auf sich nehmen. Danke.« »Natürlich wollen wir dir helfen, Liebes.« Juliet ging hinaus und kam nach kurzer Zeit mit dem Demerol zurück. Als sie sicher war, daß das Medikament gewirkt hatte, nahm Juliet mehrere dünne Nadeln und kehrte zu Robin zurück. »Es wird nicht weh tun, Robin. Du spürst gleich einen leichten Druck, aber das dürfte alles sein. Es wird nicht bluten und auch keine Schrammen hinterlassen.« »Gut, Julie«, sagte Robin, die sich durch das Demerol leicht schläfrig fühlte, mit geschlossenen Augen. Als sie dann ruhig auf dem Operationstisch lag, prüfte Juliet die Positionen der Nadeln, die sie in Robins Unterarme gesteckt hatte. Dann schob sie vorsichtig zwei Nadeln in die
Ohren des Mädchens, schließlich eine weitere in die Nähe des Schlüsselbeins. »Sie spricht gut darauf an. In etwa fünf Minuten können wir beginnen.« Caleb hatte inzwischen die Ergebnisse verschiedener Blutuntersuchungen vorliegen. Juliet kontrollierte noch einmal Robins Reaktionen und fand das Ergebnis zufriedenstellend. Auf ihr Nicken hin machte Fred vorsichtig einen kleinen Schnitt in den Bauch des Mädchens. »Ruhig, Julie. Tupfer, bitte. Ich sehe mir das hier zunächst an, und dann kannst du weitermachen. In Ordnung?« »Du bist der Arzt«, antwortete Juliet leicht gequält. Wenige Minuten später stellten sie den Apparat an, auf dem sie die Bilder sehen konnten, die die winzige Kamera im Bauch ihrer Patientin aufgenommen hatte. »Ich sehe es, Fred«, sagte Juliet ruhig. »Stränge dünner Fäden durchziehen die Bauchhöhle.« Vorsichtig bewegte sie die winzige Kamera des Laparoskops. »Ja, ich sehe sie deutlich…« Plötzlich blickte sie ihn besorgt an. »Mein Gott, Fred, sie wachsen durch die Gebärmutterwand hindurch. Es sieht so aus, als würden sie Leber und Blase berühren.« Fred nickte düster. »Genau das habe ich auch zu sehen geglaubt. Es ist unheimlich.« Er sprach sehr leise, damit Robert und Robin ihn nicht hören konnten. »Ich möchte versuchen, mir den Fötus anzusehen.« Juliet assistierte ihm, als er in das Kopfstück spähte und das winzige Laparoskop bewegte. »Siehst du ihn?« fragte sie. »So etwas Ähnliches…«, murmelte er. »Ich habe so etwas noch nie gesehen. Die Gebärmutter ist dunkel, gallertartig, und die winzigen Fäden scheinen herauszulaufen und sich durch die gesamte Bauchhöhle zu erstrecken. Wie Hunderte von Nabelschnüren. Ich werde versuchen, eine durchzuschneiden.«
Er verlagerte das Gewicht und starrte angestrengt auf das Projektionsbild vor seinen Augen, während er einen winzigen Faden in den Schnitt zog. Plötzlich drang Roberts aufgeregte Stimme an ihr Ohr. »Julie! Was geht da vor? Sie hat das Bewußtsein verloren. Ihre Temperatur ist um vier Grad gesunken, und ihr Puls ist bei 130.« Vorsichtig zog Fred den winzigen Faden heraus. »Jetzt ist es besser.« Roberts Stimme klang erleichtert. »Ihr Puls stabilisiert sich.« Fred trat hinter dem Apparat hervor; über dem Grün seines Mundschutzes begegnete der Blick seiner braunen Augen dem Juliets. »Unterrichten Sie mich auch über die kleinste Veränderung, Robert«, sagte er und setzte dann die vorsichtige Arbeit mit dem Skalpell fort. »Der Puls flattert wieder.« Beinahe unmittelbar darauf war Roberts gepreßte Stimme zu hören. Fred seufzte. »Das ist es, Julie. Er wird sie umbringen, bevor wir an den Fötus heran können.« Juliet, die noch immer Robins flehentliche Bitte, die Abtreibung vorzunehmen, im Ohr hatte, blickte ihn entsetzt an. »Was ist mit dem Aussalzungsverfahren? Wenn wir die Salzlösung einführen, wird der Fötus vielleicht getötet, bevor…« »Das willst du riskieren?« Er schüttelte den Kopf. »Wir wissen viel zu wenig über den Stoffwechsel der Visitors. Vielleicht halten ihre Babys ein Salzbad für eine wunderbare Sache. Wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen, Julie. Diese ganze Angelegenheit liegt außerhalb unseres Vorstellungsvermögens. Diana wüßte vielleicht, wie sich dieses Ding abtreiben läßt – wir nicht.« Juliet nickte, und die plötzliche Erkenntnis ihrer Hilflosigkeit ließ sie sich schwach und elend fühlen. Während Fred die Wunde schloß, ging sie zu Robert hinüber und bedeutete ihm
mit einem Kopfnicken, sich vom Operationstisch abzuwenden, damit Robin ihn nicht hören konnte. Kopfschüttelnd deutete sie auf die Wölbung unter der sterilen Binde. »Es tut mir leid, Robert. Wir sind nicht in der Lage, es zu tun. Der Fötus ist mit ihren Organen verbunden. Wenn wir versuchen, ihn herauszunehmen, stirbt Robin. Wir müssen den Dingen ihren Lauf lassen – was immer auch daraus werden mag.«
Es war schon spät, als Juliet aus dem Krankenhaus zurückkam und Mike Donovan aufsuchte, der im Gemeinschaftsraum auf sie wartete. Robert brachte Robin ins Bett und gab ihr ein Schlafmittel, das Fred ihr verschrieben hatte. Elias und Brad hatten die Wache übernommen, und Cal war laut gähnend in den Schlafraum gegangen. Einen Augenblick lang lehnte Juliet sich an den Türpfosten; sie war so müde, daß sie fürchtete, im Stehen einzuschlafen. Mike betrachtete besorgt ihr erschöpftes Gesicht. »Es geht Ihnen nicht gut?« fragte er. »Nicht besonders«, erwiderte Juliet und schüttelte müde den Kopf. »Der Fötus ist in Robins Organe hineingewachsen. Er will sich offensichtlich nicht entfernen lassen.« »Mein Gott!« sagte Donovan. »Das arme Kind.« »Ja«, entgegnete Juliet. Sie empfand nichts als dumpfe Benommenheit. Sie drehte sich um und machte Anstalten, durch den Gang in Richtung ihrer Unterkunft zurückzukehren, doch schon nach wenigen Schritten war Donovan neben ihr. »Ich bin auf dem Weg in die Küche, um eine Kleinigkeit zu Abend zu essen. Ich bringe Sie in Ihr Zimmer.« »Ich brauche jetzt ein wenig Ruhe«, entgegnete Juliet, ohne aufzublicken. »Sie fühlen sich ganz schön elend, nicht wahr? Möchten Sie darüber reden?«
Sie wußte, daß Donovan damit mehr ihren seelischen Zustand als Robins Operation meinte. Wie aus weiter Ferne hörte sie sich mit für sich selbst fremd klingender Stimme antworten: »Ich bin todmüde, und ich habe es satt, Donovan. Ich habe es satt, den Rebellenführer zu spielen. Satt, die Leute zusammenzuhalten. Satt, mich als Arzt auszugeben, weil meistens niemand anderes da ist. Mein Gott, das Ganze ist ein Witz! Ich schaffe es einfach nicht mehr… Soll doch jemand anders meinen Posten übernehmen.« Nachdenklich sah er sie von der Seite her an, und dann erwiderte er ruhig: »Sie machen das sehr gut, Doc. Es gibt niemand anderen. Und Sie tun es, weil Sie die einzige sind, die es tun kann. Ich weiß, daß ich es nicht schaffen würde – den Angriff zu planen, die Leute zusammenzuhalten, jedem die Aufgabe zuteilen, die er am besten ausführen kann…« Juliet war leicht überrascht, daß Donovan, der normalerweise so selbstbewußt und leicht überheblich war, zugab, etwas nicht schaffen zu können. Doch ihre Gedanken kreisten immer noch um Robins hoffnungslose Lage. »Das Mädchen stirbt vielleicht, weil ich heute abend eine falsche Entscheidung getroffen habe. Weil ich nicht genug weiß.« »Weil Sie nicht alles wissen, wollten Sie sagen?« »Ja.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und schämte sich, weil sie sich vor Donovan derart gehenließ. Doch sie konnte sich nicht beherrschen. Ihr ganzer Körper zitterte vor Erschöpfung. Warm und fest zugleich fühlte sie seine Arme um ihre Schultern, als er sie stützte. »Niemand – außer Ihnen selbst – erwartet, daß Sie alles wissen«, sagte Donovan und drückte sie leicht an sich. »Sie sind so verdammt hart gegen sich selbst, Doc. Nehmen Sie die Dinge etwas leichter.« Sie gab ein kurzes Lachen von sich. »Ganz schön arrogant, nehme ich an?«
Er grinste gequält. »Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um mir Gedanken über Ihre Arroganz zu machen. Haben Sie das vergessen?« Juliet sah ihn an und fragte sich, ob er sie auslachte. Doch dann begriff sie, daß das nicht der Fall war. Donovan wollte sich für seine Eskapaden vom Vortag entschuldigen. Sie erwiderte sein Lächeln, und gemeinsam setzten sie ihren Weg durch die Halle fort. Als sie vor ihrer Tür ankamen, sah sie ihn an und sagte: »Danke, Donovan.« Er nickte. »Gute Nacht, Doc.« Juliet taumelte in ihr Zimmer, ließ sich aufs Bett fallen und spürte zum ersten Mal seit Wochen wieder den Schmerz in der Hüfte. Sie kam nicht mehr dazu, sich die Schuhe auszuziehen und das Licht zu löschen. Die Erschöpfung war zu groß, und sie schlief sofort ein.
Als Donovan mit einem Bier aus der Küche zurückkam, sah er durch die halb offenstehende Tür das Licht in Juliets Zimmer brennen. Leise klopfte er an, um festzustellen, ob Juliet noch wach war. Als er keine Antwort bekam, spähte er hinein. Als er die auf dem Bett liegende, tief schlafende zierliche blonde Frau betrachtete, lächelte er herzlich – was in krassem Gegensatz zu seinem sonst stets zur Schau getragenen spöttischen Gesichtsausdruck stand. Er stellte sein Bier ab und schlich auf Zehenspitzen ins Zimmer. Vorsichtig zog er Juliet die Schuhe aus und legte eine Decke über sie. Als er sich umdrehte, um die Schreibtischlampe auszuschalten, fiel sein Blick auf den an der Wand hängenden Kalender. Mit großen blauen Kreuzen waren die Tage bis zu ihrem Angriff auf das Krankenhaus vermerkt.
Der Tag des Anschlags selbst war rot eingekreist. Nur noch drei Tage, dachte Donovan. Dann geht der Spaß erst richtig los…
23. Kapitel
Cal Robinson lenkte die Limousine schnell und geschickt durch den dichten Verkehr im Geschäftsviertel und fuhr in Richtung Großklinikum. Juliet Parrish und Robert Maxwell saßen im Fond des Wagens und gingen ein letztes Mal die Einzelheiten ihres Angriffsplans durch. »Sind Sie sicher, daß Martin begriffen hat, daß er und Lorraine vom Mutterschiff aus weitersenden sollen, wenn die anderen Visitoren von hier aus versuchen, die Übertragung zu beenden?« fragte Maxwell und zupfte nervös an seiner Fliege. »Ja, das bin ich«, erwiderte Juliet und beugte sich vor, um seine Fliege ein letztes Mal zurechtzurücken. »Jetzt rühren wir sie nicht mehr an. Sie sitzt perfekt.« »Ich habe seit Jahren keinen Smoking mehr getragen«, brummte Robert. »Jetzt ist mir auch wieder der Grund dafür eingefallen. Dämliches Affenkostüm!« Er glättete den Stoff über den Schultern, vergewisserte sich dann noch einmal, daß die Pistole, die er in einem um den Unterarm gebundenen Halfter trug, auch griffbereit war. »Mein Gott, komme ich mir albern vor!« murmelte er. »Wieso führt ein dreiundvierzig Jahre alter Professor sich wie James Bond auf?« »Ich finde, Sie wirken sehr vornehm, Robert«, meinte Juliet lächelnd. »Wie sehe ich aus?« »Großartig«, antwortete er mit belegter Stimme, als ihm plötzlich schmerzhaft bewußt wurde, wann ihm eine Frau zum letzten Mal diese Frage gestellt hatte. »Danke«, sagte sie nervös. »Und Dank auch an Lynn, daß sie mir das Abendkleid besorgt hat. Ich hatte völlig vergessen, daß ich eins brauche.«
»Das ist schon in Ordnung«, sagte Robert und blickte zum Fenster hinaus, während die Limousine durch die Nacht rollte. Er sagte ihr nicht, daß der Schal Kathleen gehört hatte – es war nicht nötig, Juliet an ihren Tod zu erinnern. »Die Farbe steht Ihnen sehr gut.« »Es ist meine Lieblingsfarbe«, gab sie zu. »Zum Glück konnte Maggie mir beim Ändern des Kleides helfen. Ich war noch nie sehr gut im Nähen. Der Schnitt ist wirklich sehr schön.« Das Kleid bestand aus rot schimmerndem Stoff, der mit goldenen Fäden durchwirkt war. Das tief ausgeschnittene, blusige Oberteil ließ ihre hübschen Schultern frei. Unter dem reich verzierten Mieder verbarg sie die Pistole, die mit Heftpflaster unter ihrem Arm befestigt war. An der Innenseite ihrer Unterschenkel war eine weitere Pistole versteckt. »Sie sehen eher wie ein Fotomodell aus als wie ein wandelndes Waffenarsenal«, meinte Robert lächelnd. Juliet lächelte zaghaft. »Die ganze Sache ist völlig verrückt. Maggie und ich haben dieses Kleid so entworfen, daß ich, wenn es nötig sein sollte, den Rock hochstecken und laufen kann. Falls ich es bis zum vereinbarten Treffpunkt schaffe, finde ich dort unter den Waffen versteckt ein Paar Turnschuhe. Während ich heute unter der Trockenhaube saß, habe ich eine lange Liste durchgecheckt. Und die ganze Zeit über, während der Maggie mich frisierte, haben wir die einzelnen Punkte des Plans durchgesprochen, wie wir das Sicherheitssystem der Visitors zu unserem eigenen Vorteil nutzen können.« »Also, ihr wunderbaren Menschen«, sagte Cal vom Fahrersitz her, »wir sind gleich da. Viel Glück.« »Danke, Cal«, sagte Juliet, zog den Schal um ihre Schultern und ergriff ihr Abendtäschchen, das nichts außer Taschentüchern und Parfüm enthielt.
Nachdem er den Wagen vor dem gesicherten Eingang des Krankenhauses vorgefahren hatte, lief Cal, der eine tadellose Chauffeuruniform trug, um die Limousine herum, um Juliet und Robert die Tür zu öffnen. Die gefälschten Sondereintrittskarten in der Hand haltend, blieben sie auf dem Bürgersteig stehen. In der Menschenmenge erkannte Maxwell Kristine Walsh, die eine Reihe der Gäste, die darauf warteten, die Sicherheitskontrolle passieren zu dürfen, interviewte. In diesem Augenblick leuchtete auf dem Spezialkontrollgerät ein rotes »Abgelehnt« auf und eine Sirene schrillte. Sofort stürzten sich Steven und ein paar Visitor-Soldaten auf ein unglückseliges junges Paar und führten es ab. Der Vorfall trübte die fröhliche Atmosphäre ein wenig. »Sie verstehen offensichtlich keinen Spaß. Das kann unangenehm werden.« Juliet lächelte weiterhin und hielt Roberts Arm. »Es wird noch viel unangenehmer werden, wenn wir mit diesen Pässen auffallen.« Prüfend warf sie einen Blick in Richtung Kristine Walsh und ihres Fernsehteams. »Meiden Sie die Kamera, Robert. Sie sucht jemand, den sie zu dem Zwischenfall interviewen kann.« Während sie in der Menge warteten, entdeckten sie weiter hinten Elias, der einen Abendanzug trug, und hinter ihm Maggie und Caleb in Visitor-Uniformen. Weiter hinten in der Menschenmenge sahen sie, ebenfalls in Visitor-Uniform, Brad. Auch Pater Andrew, im schwarzen Pastorenanzug mit weißem Kragen, war anwesend. Er schob einen Rollstuhl vor sich her, in dem Ruby mit einer über den Schoß gebreiteten Decke saß. Sie trug ebenfalls ein Abendkleid und üppigen Schmuck. Die Menge trat respektvoll zurück, um dem Priester und der behinderten Frau Platz zu machen. Den Paß in der Hand haltend, trat Juliet an den Kontrollapparat. Sie konzentrierte sich voll darauf, ihre Hände ruhig zu halten, als sie die Karte in den Schlitz schob. Nach
einer Sekunde, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, war ein leises Piepen zu hören, und in grüner Schrift leuchtete das Wort »Passieren« auf. Erleichtert ging Juliet weiter, und dieses Mal war das Lächeln in ihrem Gesicht ehrlich. Nachdem sie die Vorhalle des Krankenhauses betreten hatten, mischten sich Robert und Juliet erst einmal unter die anderen Gäste, bis die anderen Widerstandskämpfer ihre abgesprochenen Positionen eingenommen hatten. Über der sich mit Drinks und Canapés im Kreis bewegenden Menschenmenge war ein weit in den Raum ragendes Podium errichtet. Maxwell erkannte Arthur und Eleanor Dupres und sorgte dafür, daß er und Juliet nicht in ihr Blickfeld gerieten. Juliet berührte leicht seinen Arm und deutete auf einen schweren Samtvorhang vor dem Podium. »Dort muß er herauskommen. Bestimmt befindet er sich hinter der Bühne und wartet auf seinen großen Augenblick.« Mit einem sehnsüchtigen Blick zur Bar nickte Robert. »Sind Sie sicher, daß wir keine Zeit für einen Drink haben?« Juliet warf ihm einen mißbilligend-spöttischen Blick zu. »Sie sind unverbesserlich, Robert. Ein kleiner Überfall mit überwältigenden zwölf Prozent Erfolgsaussichten, und Sie müssen sich Mut antrinken!« Maxwell grinste sie an. »Selbst 007 braucht manchmal eine Stärkung bei seinem Job.« Er wurde ernst und sah auf die Uhr. »Sie müßten jetzt eigentlich alle drin sein. Wann soll der Tanz beginnen?« »Auch in Visitor-Kreisen gilt es als vornehm, Verspätung zu haben, nehme ich an.« Die Minuten verstrichen quälend langsam, und Juliet und Robert standen lächelnd und nickend da und bemühten sich, sich ihre innere Anspannung nicht anmerken zu lassen. Auf der anderen Seite der Halle sahen sie Pater Andrew und Ruby.
Beide hielten Gläser in der Hand. »Sodawasser hoffentlich«, flüsterte Juliet. Schließlich erschien Kristine Walsh mit ihrem Team, und Kameras wurden aufgestellt. Die Präsentation würde also bald beginnen. Hinter der Dekoration sah Robert rotes Licht aufleuchten; dann erkannte er Dianas dunklen Kopf. Urplötzlich setzten die Fanfaren ein, und Robert und Juliet zuckten unwillkürlich zusammen. Der dunkle Vorhang wölbte sich, und dann trat der Oberkommandeur, in gleißendes Blitzlicht getaucht, lächelnd und winkend heraus. Donnernder Applaus erfüllte die Halle, und auch Maxwell klatschte. John stieg die Stufen zum Podium hoch, blieb dann stehen und wartete, bis es wieder ruhig wurde. Während Stille eintrat, ergriff Robert Juliets Arm und schob sich mit ihr in der nach vorne drängenden Menge auf das Podium zu. Unter Einsatz ihrer Ellbogen und häufiger Entschuldigungen gelangten sie schließlich dicht an die Absperrung, direkt gegenüber der auf das Podium führenden Treppe. Johns warme, widerhallende Stimme erfüllte die Halle. »Guten Abend, meine Damen und Herren. Wir Visitors sind ganz besonders stolz auf die heutige Zeremonie, gibt sie uns doch Gelegenheit, uns für die wunderbare Gastfreundschaft, die uns die Bewohner der Erde seit unserer Ankunft gewährt haben, erkenntlich zu zeigen. Sie haben sich große Mühe gegeben, um uns mit den Mitteln zu versorgen, die wir zur Rettung der Bevölkerung unseres Planeten brauchen. Es ist also nur fair, daß wir uns revanchieren.« Robert und Juliet drängten näher an die Absperrung heran. Ein schneller Blick durch die Halle zeigte Robert, daß Sancho Gomez und Elias sowie Pater Andrew in unmittelbarer Nähe zweier Wachtposten standen. Sorgfältig suchte er nach einem Ziel für sich selbst und entschied sich für einen Soldaten, der
hinter dem Podium stand. Der Mann trug eine StandardVisitor-Uniform und eine Kappe, nicht die neue Rüstung. Maxwell freute sich – er hatte zwar geübt, aber er war froh, eine größere Zielfläche zu haben. John fuhr fort: »Ich fühle mich deshalb geehrt, Ihnen mitteilen zu können, daß ab morgen die Türen dieses Krankenhauses – ebenso wie in wenigen Wochen die vieler anderer auf der ganzen Welt – offenstehen werden und ein sicherer, wirksamer und schmerzloser Impfstoff gegen eine Krankheit zur Verfügung stehen wird, die eine Geißel für Millionen Menschen ist… Krebs.« Ein Schuß knallte, dann ein zweiter. Menschen schrien und ergriffen die Flucht. Robert hielt seine Pistole in der Hand und zielte sorgfältig auf den Wachtposten, der gerade nach vorn stürzte. Die 357er-Magnum ruckte in seiner Hand, und der Posten griff sich an den Hals und fiel zu Boden. In jedem Gang, der in die Halle führte, war das Poltern von Stiefeln zu hören, als die Sicherheitstrupps der Visitors heranstürmten – doch kurz darauf schoben sich die schweren Stahltore zu und riegelten den Saal ab. »Brad und Caleb haben es geschafft«, wandte sich Robert an Juliet. Wieder peitschte ein Schuß, und während Robert mit der Pistole in der Hand weiter nach vorn ging, sah er Pater Andrew, der einem Wachtposten die Pistole an die Kehle setzte. Ruby grinste wie ein kleines Mädchen im Zirkus. Gleichzeitig erreichten Robert und Juliet mit schußbereiten Pistolen die zum Podium führende Treppe. Als er hinter der Treppe etwas Rotes aufblitzen sah, machte Robert einen Satz nach vorn – es war Diana, der es gelungen war, sich aus einem Versteck hinter dem Podium eine Waffe zu holen. Mit einer Brutalität, die zu besitzen er nie für möglich gehalten hätte, hieb ihr Robert mit dem Lauf seiner schweren Pistole auf die Finger, so daß ihre Waffe auf den Boden fiel. Dann packte er
die sich heftig Sträubende, die mehr Kraft als die meisten Männer ihrer Größe zu besitzen schien, hielt sie fest und bedrohte sie mit der Pistole. »Bleib schön ruhig, du Echse!« Juliet kam zu ihm herauf und nahm Dianas Waffe an sich. Maxwell drehte sich um und drückte Diana seine Pistole in den Nacken. Er spürte das übermächtige Verlangen, sie zu erschießen für das, was sie seiner Tochter angetan hatte. Doch er wußte, daß er das nicht tun durfte, denn John setzte sich nur deshalb nicht zur Wehr, weil er Diana in unmittelbarer Gefahr sah. »Still gestanden!« rief er laut. »Niemand rührt sich! Und wenn ich sage, niemand, dann meine ich es auch!« Mein Gott, dachte Robert, solche Töne habe ich seit den alten CagneyFilmen nicht mehr gehört. Mit Dianas Waffe in der Hand kam Juliet zu ihm. »Meinen Sie, wir müssen Druck auf das Kamerateam ausüben?« fragte Robert sie. »Nein«, antwortete sie und kletterte die Stufen zum Podium hinauf. »Kristine Walsh hat sie dazu aufgefordert, die Übertragung fortzusetzen – ich habe es gesehen.« Als Juliet das Podium betrat, wurde der Oberste Kommandeur nach hinten gedrängt. Die fremdartige Waffe in ihrer Hand stand in unheimlichem Gegensatz zu ihrem Abendkleid und ihrer festlichen Frisur. »Das Gesicht nach vorne!« befahl sie laut und fuchtelte mit der Waffe herum. Einige Sekunden lang rührte sich John nicht von der Stelle. Als Juliet jedoch die Waffe hob und damit auf ihn zielte, gehorchte er zögernd. Mit schußbereitem Laser trat Juliet vor. Diana hinter sich herzerrend, ging Robert um das Podium herum, wo er Kristine Walsh entdeckte, die die Kameraleute anwies, eine Großaufnahme von Juliet zu machen. Mikrofone wurden in ihre Richtung geschwenkt. »Bitte hören Sie mir zu!« Juliets Stimme hallte durch die Halle. »Die Visitors sind nicht unsere Freunde. Sie sind
gekommen, um unseren Planeten zu erobern und uns alle zu töten! Sie sind keine menschlichen Wesen, wie sie vorgeben.« Sie streckte schnell die Hand aus, zerrte heftig an Johns Gesicht und riß ihm mit einem schnellen Ruck die menschliche Maske herunter. Als rundum in der überfüllten Halle Entsetzensschreie laut wurden, spürte Robert, wie sich Diana in seinem Griff versteifte. Dann hallte ihre Stimme durch die Halle: »Brecht die Übertragung ab! Kontrollraum! Abbrechen!« »Halt den Mund, du Hexe!« Robert rammte ihr die Pistole an den Hals und sah, wie ihre Maske dabei einriß. Glänzende, schwarzgrüne Schuppen kamen zum Vorschein. »Ich würde dich am liebsten auf der Stelle erschießen!« Hoffentlich haben Martin und Lorraine die Sendegeräte an Bord des Mutterschiffs eingeschaltet, dachte er und blickte zum Podium hoch. »Sehen Sie sich ihn an!« sagte Juliet und drehte Johns Kopf zur Seite, so daß die versammelten Personen sein Profil sehen konnten. »Sie stehlen unser Wasser! Sie verschleppen unsere Mitmenschen an Bord ihrer Schiffe! Wir – die Widerstandsbewegung – bekämpfen sie, und wir brauchen Ihre Hilfe!« Das Hämmern an der Tür neben Pater Andrew wurde plötzlich lauter. Dann sah man, wie die Tür erbebte. Und plötzlich sprang sie auf, und Steven, der Sicherheitsoffizier der Visitors, stürmte herein, begleitet von einigen Soldaten. Ruby, die noch immer im Rollstuhl saß, streifte sich die Decke vom Schoß und begann, mit ihrer Maschinenpistole auf die hereinstürmenden Soldaten zu feuern. Einige von ihnen gingen getroffen zu Boden, woraufhin sich die übrigen zurückzogen. Ruby sprang aus dem Rollstuhl und eilte davon. Maxwell versetzte Diana mit dem Pistolenknauf einen letzten Hieb. Dann schleuderte er sie zur Seite und rannte ebenfalls
los, ebenso wie Juliet, die die hochhackigen Schuhe ausgezogen hatte und vom Podium heruntersprang. Sancho fing sie auf. Als Robert den beiden folgte, wurde er beinahe von John niedergerissen, der – seine reptilienhaften Züge vor der Kamera verbergend – hinter den Vorhang hastete. Dann erreichte Maxwell die anderen Widerstandskämpfer, und gemeinsam wandten sie sich zur Flucht.
»Weiter drehen!« rief Kristine Walsh ihrem Team zu. »Das ist großartig!« Die Widerstandskämpfer rannten auf die Türen zu und verließen den Saal. Irgend jemand ergriff ihren Arm. Es war Diana. Mit einer Hand bedeckte sie die aufgerissene Stelle in ihrer Maske, während sie kurz und präzise ihre Anweisungen erteilte: »Gehen Sie auf Sendung und überzeugen Sie die Zuschauer, daß das, was sie gerade gesehen haben, ein Schwindel der Terroristen war.« Fasziniert starrte Kristine auf das Stück schwarzgrüner Schuppen, das Dianas Hand nicht verdecken konnte. Unvermittelt streckte Diana die Hand vor und schlug Kristine ins Gesicht. »Los, Kristine!« Gehorsam wandte sich Kristine ihren Kameras und Mikrofonen zu. »Meine Damen und Herren… Sie haben gerade einen Angriff der Terroristen auf das Krankenhaus gesehen…« Sie legte eine lange Pause ein. »Das jedenfalls befahlen mir die Visitors, Ihnen zu sagen. Aber was wir alle eben gesehen haben, ist die Wahrheit! Die Widerstandskämpfer versuchen, unseren Planeten diesen Fremden wieder zu entreißen, die uns belogen und betrogen haben und jetzt danach trachten, uns alle zu töten. Sie sind Monster, meine Damen und Herren, die versuchen, uns unsere
Erde wegzunehmen. Und jetzt kennen wir auch ihre wahren Gesichter!« Aus den Augenwinkeln heraus sah Kristine, wie Diana auf einen Wachtposten zulief und ihm die Waffe aus der Hand riß. Kristine sprach schnell weiter: »Wir müssen sie bekämpfen, meine Damen und Herren! Wir müssen sie zurückschlagen, oder sie werden uns völlig vernichten. Schließen Sie sich der Widerstandsbewegung an und…« Der Schuß aus der Laserpistole traf Kristine mitten in die Brust, warf sie zurück wie eine knochenlose Puppe. Während sie zu Boden fiel, empfand Kristine für einen kurzen Augenblick ein starkes Gefühl der Befriedigung, dann spürte sie gar nichts mehr.
Mike Donovan war der erste, der aus dem Luftschacht auf das Dach hinauskletterte und direkt in die Mündung eines VisitorGewehrs starrte. Eine Patrouillenfähre parkte auf dem Dach des Großklinikums, und mehrere Visitor-Soldaten sahen zu, wie die Rebellen nacheinander aus dem Schacht herauskletterten und die Hände hoben. Plötzlich stürmten, angeführt von Steven, mehrere Soldaten heran. Sie blieben jedoch stehen, als sie sahen, daß die Widerstandskämpfer bereits gestellt waren. Der Pilot beugte sich aus der Fähre und winkte Steven zu. »Sagen Sie Diana, daß wir die Aufrührer gefangen haben und ich sie jetzt ins Mutterschiff bringe.« Unverkennbarer Stolz schwang in der widerhallenden Stimme mit. Steven schien sich zu ärgern, daß er nicht selbst bei der Überwältigung der Rebellen dabeigewesen war; schließlich jedoch wies er die Soldaten an, die Gefangenen fortzuschaffen. »Informieren Sie das Mutterschiff. Man soll uns noch ein
Shuttle schicken, damit der Oberste Kommandeur zurückkehren kann.« »Geht in Ordnung, Sir«, erwiderte der Pilot. Die Soldaten trieben die Gefangenen in die Fähre. Die Rebellen bewegten sich langsam und sehr still – sie wirkten plötzlich sehr niedergeschlagen und deprimiert. Dann hob die Patrouillenfähre ab – und an Bord brach jäher Jubel los. Die »Visitor-Soldaten« rissen ihre Helme herunter, und die Gesichter von Bill Graham, Cal Robinson und einigen anderen Widerstandskämpfern kamen zum Vorschein. Maggie war der Pilot, und neben ihr saß William und grinste. »Phantastisch, einfach phantastisch!« jubelte Caleb. »William, mein Bester, ich danke Ihnen.« »Er hat sich wirklich prächtig verhalten«, sagte Maggie. William wirkte verlegen. »Ich wollte helfen«, sagte er schlicht. »Und das haben Sie wahrhaftig!« rief Brad. »Habt ihr Stevens Gesicht gesehen?« Sie fuhren fort, zu lachen, sich zu beglückwünschen und auf die Schultern zu klopfen, während die Fähre in einem weiten Bogen in Richtung Hauptquartier flog. Donovan mußte schreien, um sich in dem Lärm Gehör zu verschaffen. »Ruhe!« Er starrte in die fragenden Gesichter. »Wo ist Julie?« Noch ehe sie wirklich begonnen hatte, war die Feier zu Ende.
24. Kapitel
In der riesigen Halle des Großklinikums hielten sich Dutzende von festlich gekleideten Personen auf, und die Kameras der Fotografen surrten und klickten, als John, der Oberste Kommandeur der Visitors, mit gewinnendem Lächeln vor die aufmerksame Menge trat. Seine von den Wänden des Saales widerhallenden Worte wurden von einer Vielzahl vor dem Podium angebrachter Mikrofone aufgenommen, »…ein sicherer, wirksamer und schmerzloser Impfstoff gegen eine Krankheit, die eine Geißel für Millionen von Menschen ist – Krebs.« Donnernder Applaus ertönte. Mit devotem, bescheidenem Lächeln nickte John in die pausenlos aufflackernden Blitzlichter der Fotografen. »Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Danke. Danke.« Als John mit dankbarem Lächeln die Stufen vom Podium herunterstieg, schwoll der Beifall an, wurde zum Orkan. »Ausblenden!« rief eine widerhallende Stimme. »Applaus ausblenden.« Mit leisem Knacken verstummte der Applaus. »Gut«, nickte Diana. »Wo ist Eleanor Dupres? Es ist Zeit für ihren Auftritt.« »Ich bin hier, Diana.« Die dunkelhaarige Frau nahm ihren Platz vor der Kamera ein, Maskenbildner legten letzte Hand an ihr Make-up. »Fertig?« Eleanor nickte. »Okay. Licht an. Drei… zwei… eins… Aufnahme.« Eleanor Dupres blickte mit gewinnendem Lächeln in die Kamera. »Was Sie eben gesehen haben, meine Damen und
Herren, war die richtige Übertragung von den gestrigen Feierlichkeiten hier im Großklinikum von Los Angeles. Unglücklicherweise blendeten Terroristen, die den Visitors ihre Großmut mit Haß und Niedertracht dankten, eine gefälschte Sendung ein, in der sie Material, das sie bei verschiedenen Fernsehsendern gestohlen hatten, benutzten. Einer der Hauptverantwortlichen für diesen Anschlag war der ehemalige Reporter Mike Donovan.« Eleanors Lächeln schwand, und ihr Gesicht nahm den Ausdruck wohldosierten, aber bitteren Schmerzes an. »Einer der tragischsten Vorfälle des vergangenen Abends war der Tod von Kristine Walsh, der Pressesprecherin der Visitors. Terroristen nahmen sie gefangen und filmten ihren Tod, ließen es jedoch so aussehen, als seien die Visitors dafür verantwortlich.« Sie hielt einen Augenblick inne und fuhr dann sehr ernst fort: »Ich bin davon überzeugt, für alle friedliebenden Menschen auf diesem Planeten zu sprechen, wenn ich sage, daß die Visitors uns viel mehr gegeben als von uns verlangt haben. Und ich bin sicher, daß Sie unseren tiefen Schmerz über den skrupellosen Mord an der begabten Journalistin teilen – die erbarmungslos von Terroristen getötet wurde, die wir entlarven und vernichten müssen, wenn unser Planet je wieder Frieden finden will.« Wieder legte sie eine Pause ein, um dann dramatisch hinzuzufügen: »Dieser Kommentar stammt von Eleanor Dupres aus dem Großklinikum von Los Angeles. Guten Abend.« »Schnitt.« Eleanor sah Steven und Diana unsicher an. »Wie war ich?« »Perfekt«, antwortete Diana herzlich. »Großartig, Eleanor!« »Hauptsache, Sie sind zufrieden«, entgegnete Eleanor, während ihr Blick über die als menschliche Gäste gekleideten Visitors wanderte. Von ihrem Platz aus konnte sie jedoch auch
deutlich die vielen Einschüsse der Visitor-Gewehre sehen, die die Wände der Halle verunzierten. Der Saal sah aus, als hätte hier ein ganzer Krieg stattgefunden – abgesehen von der Stelle, die für die Fernsehübertragung aufgeräumt und hergerichtet worden war. Während Diana wegging, um die Aufräumungsarbeiten zu überwachen, lächelte Eleanor Steven an. »Glauben Sie, daß die Fernsehzuschauer diese Übertragung… akzeptieren werden?« »Wir haben inzwischen einige Erfahrungen in diesen Dingen gesammelt«, erwiderte Steven, ohne sie anzusehen. »Die Menschen neigen dazu, das zu glauben, was sie glauben möchten, und es ist sicher angenehmer, der heutigen Version Glauben zu schenken, oder?« »Natürlich«, erwiderte Eleanor und sah ihn an. Sie hatte Dianas Verärgerung über Stevens »unentschuldbar mangelhafte« Sicherheitsvorkehrungen wohl bemerkt und wußte, daß jetzt nicht unbedingt der geeignete Augenblick war, um mit einem Anliegen an den Visitor heranzutreten. Doch seitdem er seinen neuen Aufgabenbereich übernommen hatte, blieb Steven nicht mehr sehr viel Zeit für gesellschaftliche Verpflichtungen. Sie mußte also jetzt, da er zugegen war, mit ihm reden. »Ich möchte Sie um etwas bitten«, sagte sie und lächelte herzlich. »Um was geht es?« fragte Steven, bemüht, in seinem gewohnt galanten Ton zu sprechen, was ihm jedoch nicht so recht gelang. »Um zwei Dinge.« Sie zögerte. »Nur heraus damit, Eleanor«, sagte Steven, und dieses Mal gelang ihm sein Lächeln besser. Eleanor griff in ihre Abendtasche. »Das ist ein Foto meines Enkels. Ich möchte, daß er zu mir zurückkehrt. Er wird…
festgehalten. Ich habe gehört, daß er auf dem Schiff von Los Angeles ist.« Sie gab ihm das Bild. Steven betrachtete es prüfend, nickte dann. »Das ist kein Problem. Ich werde mich darum kümmern.« »Danke, Steven.« Eleanor hob den Blick und sah ihm in die Augen. »Nun zu meinem zweiten Anliegen. Ich glaube, ich habe Ihre… Bewegung auf nicht unbeachtliche Weise unterstützt.« »Wenn es eine Frage des Geldes ist…« »Nein, nein. Es geht mir nicht um Geld.« Sie wählte ihre Worte sehr sorgfältig. »Ich würde gern in einer… zufriedenstellenderen Art und Weise für Sie arbeiten.« »Sie möchten eine Position?« Seine Offenheit irritierte sie, doch sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Ja, in gewisser Weise ist es das, was ich möchte.« Er war ganz liebenswürdiges Entgegenkommen. »Würde Ihnen ›Weltpressesprecher‹ zusagen?« »Kristine Walshs Position?« »Ja.« »Nun, ja. Das wäre…« »Bewilligt. Der Posten gehört Ihnen. Aber jetzt muß ich gehen. Ich habe eine Sicherheitsübung zu beaufsichtigen.« Er ergriff ihre Hand und verbeugte sich tief. »Guten Tag, Eleanor.« »Guten Tag, Steven.«
Daniel Bernstein sah Steven nach, als der Visitor durch den Raum ging. Dabei entging ihm der Blick nicht, mit dem Diana ihrem Sicherheitsoffizier nachsah. Mit ironischem Lächeln betrachtete er die neben ihm stehende attraktive junge Frau, die
eine Schwesterntracht trug. »Diana ist stocksauer auf Steven – ich hörte John heute zu ihr sagen, daß die Untergrundbewegung zu einer echten Gefahr für ihre Mission hätte werden können, wenn Diana nicht die Idee mit der neuen Sendung gehabt hätte.« »John?« wiederholte die Frau und sah mit einem Blick zu ihm auf, der ihn sich um Zentimeter größer fühlen ließ. »Sie meinen doch nicht etwa…?« »Natürlich«, erwiderte er selbstgefällig. »Der Oberste Kommandeur. Ich traf ihn heute morgen. Er gratulierte mir, weil ich die Anführerin der Rebellen gefangengenommen habe.« »Was haben Sie?« »Ich war es, der die Reifen des Ambulanzwagens zerschossen hat, mit dem Juliet Parrish gestern abend fliehen wollte. Diana sagte, ihre Gefangennahme sei ein Ausgleich für den Aufwand, den sie wegen der Neuaufnahme der Präsentationsfeierlichkeiten auf sich nehmen mußte, die heute abend gezeigt werden soll.« »Juliet Parrish! Sie ist die Anführerin der Widerständler?« »Ja. Ein kleines, blondes Ding. Überhaupt nicht mein Typ. Ich mag Frauen wie… Sie, Schätzchen.« Er bedachte sie mit einem breiten Grinsen. Unter seinem Blick senkte sie leicht errötend die Augen. »Also ein richtiger Held! Sie haben also ganz allein ein paar Terroristen gefangen?« »Ja, einen von ihnen mußte ich sogar töten – sie sagten, er sei Assistenzarzt hier im Krankenhaus gewesen. King war sein Name. Die Anführerin jedoch habe ich unverletzt bekommen.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es wäre vielleicht besser für sie gewesen, auf der Stelle zu sterben. Diana war ganz außer sich wegen des Überfalls. Juliet Parrish dürfte ziemlich in der Tinte sitzen.«
»Wo ist sie jetzt?« Die Frau sah sich mit großen Augen in der Halle um. »Sie haben sie noch gestern abend an Bord des Mutterschiffes gebracht.« »Was wird dort mit ihr geschehen?« »Weiß ich nicht. Wenn ich Diana wäre, würde ich sie zu dem Eingeständnis zwingen, daß die Fernsehübertragung, die die Leute gestern abend gesehen haben, eine Fälschung war.« »War sie das wirklich?« »Natürlich, Baby. Sie sind doch wohl nicht so dumm, all den Kram zu glauben, oder?« »Natürlich nicht«, erwiderte sie aufgebracht. »Aber es sah alles so realistisch aus.« Das war es auch, du dummes Luder, dachte Daniel und ließ seinen Blick abschätzend über ihre Uniform gleiten. Ein schönes Kostüm trägst du da… Sie blickte in Richtung der sich in der Halle versammelnden Visitor-Soldaten. »Was geht da vor?« »Sicherheitsübungen.« Daniel schenkte ihr ein gönnerhaftes Lächeln. »Also, wie wäre es, wenn Sie mir Ihre Telefonnummer geben, Süße? Ich möchte Sie heute abend gern zum Essen ausführen.« »Wirklich?« Ein enttäuschter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Aber ich habe erst kurz vor Beginn des Ausgangsverbots Dienstschluß. Vielleicht an meinem freien Tag?« »Zerbrechen Sie sich wegen der Sperrstunde nicht Ihren hübschen Kopf«, grinste er. »Das Ausgangsverbot gilt nur für Zivilisten – Sie aber werden mit dem Stellvertretenden Kommandeur aller Sternenfreunde ausgehen.« »Wirklich?« Die Bewunderung in ihren Augen war offensichtlich, obwohl sie sich bemühte, gelassen zu bleiben. »Wenn Sie von einem Rendezvous sprechen – ich wäre schon interessiert, Daniel. Falls Sie jedoch mehr etwas Horizontales
im Sinn haben, muß ich Sie warnen. Ich gehöre nicht zu dieser Art Frauen.« Wollen wir wetten, Süße? dachte Daniel boshaft und musterte sie lächelnd. »Das weiß ich doch, Margaret«, protestierte er und gab sich empört. »Aber sagen Sie mir nicht, daß Sie eine von diesen Männerhassern sind, die glauben, daß alle Männer nur das eine wollen.« »Nun ja… das nicht gerade.« Sie sah ihn von der Seite her an und bemühte sich, ihr Lächeln zu verbergen. »Ich hielt es nur für besser, das klarzustellen, bevor wir uns treffen.« Daniel lächelte. »Okay, Margaret. Ich bin im Bilde. Also bis heute abend.« »Okay«, gab sie sich lächelnd geschlagen. »Und nennen Sie mich Maggie. Ich hasse den Namen Margaret.« »In Ordnung, Maggie.«
Brad McIntyre spähte angestrengt durch das Fernglas. Der grauhaarige Mann, der im Schatten von ein paar Büschen auf halber Höhe des Hügels hockte, beobachtete durch den Feldstecher das Hauptquartier der Widerstandsbewegung. »Sieh dir das an, Sancho«, sagte er und zeigte auf den Mann. »Der Bursche sieht zwar nicht wie ein Visitor aus – aber er wirkt irgendwie verdächtig.« »Was, meinst du, sollen wir mit ihm machen?« fragte Sancho. »Woher kommt er wohl?« »Ich weiß es nicht«, entgegnete Brad. »Wir können ihn jedenfalls nicht so einfach weggehen lassen. Ob er sich uns vielleicht anschließen will?« »Ich habe nicht den Eindruck«, sagte Sancho nachdenklich. »Er sieht aus wie einer der Vorarbeiter, die ich während meiner Zeit als Pflücker hatte. Eines Tages hat er einem
Jungen den Unterkiefer gebrochen, nur, weil er ihm widersprochen hat.« »Hm… der Bursche ist nicht bewaffnet, soweit ich das beurteilen kann.« Sancho schaltete das Walkie-Talkie ein. »Hier Bergpatrouille. Hört Ihr mich?« »Hier HQ. Wir hören dich«, antwortete Calebs Stimme. »Wie lautet Ihre Erkennungssequenz?« »E-4-2-9, SB.« »Weiter.« »Wir haben unten am Berg einen Kerl entdeckt, der das Hauptquartier durch ein Fernglas beobachtet. Es wird hier langsam ein bißchen zu voll, oder?« »Wir packen, so schnell wir können.« Calebs Stimme wurde ein wenig persönlicher. »Aber ich bin sicher, daß Julie nichts verraten hat.« Sancho schüttelte den Kopf. »So etwas kann man nicht sagen, wenn man nicht selbst da oben gewesen ist. Diese Eidechsen haben sehr überzeugende Mittel.« »Ich möchte nicht darüber nachdenken«, sagte Caleb. »Was ist mit dem Burschen? Könnt ihr ihn überwältigen und zum Verhör hierherbringen?« »Ja, ich glaube, das wäre ganz ratsam«, erwiderte Sancho. »Stellt ein kleines Empfangskomitee zusammen, okay?« »Alles klar. Ende.« Seufzend stellte Sancho das Walkie-Talkie ab. Dann glitt sein Blick wieder in Richtung der stillen Gestalt am Berg. »Ich gehe vor. Du gibst mir Deckung.« Er rappelte sich hoch, nahm seine Schrotflinte und machte sich an den Abstieg. Seine Schritte waren auf dem dichten bräunlichen Gras kaum zu hören. Geräuschlos trat er schließlich von hinten an den stillen Beobachter heran, zielte
mit der Schrotflinte auf den Kopf des Mannes und sagte: »Hallo, mein Freund! Suchen Sie etwas?« Der Mann bewegte nicht einmal den Kopf, um sich nach dem Gewehrlauf umzusehen. Sancho hörte, wie Brad zu ihm aufschloß. Dann stellte sich der Ex-Polizist vor das Fernglas und blockierte dem Mann die Sicht. Dieser jedoch streckte nur gleichgültig die Hand aus und schob McIntyre einfach beiseite. Seine Stimme hatte den Klang einer Feile, die über rostiges Metall gezogen wurde. »Seien Sie so nett und sagen Sie dem Mexikaner da hinten, er soll sein Gewehr sinken lassen, bevor ich es ihn herunterschlucken lasse.« Brad starrte ungläubig auf den Mann herunter. »Sie haben ein ganz schön freches Mundwerk, Bürschchen.« Sancho fuchtelte mit der Flinte herum. »Warum stehen Sie nicht auf, Amigo, und machen einen Spaziergang mit uns? Bewegen Sie sich schön langsam, sonst wird dieser Mexikaner Ihnen liebend gern eine Schrotladung in Ihr muy poco Hirn schießen.« »In fünf Minuten werden Sie auf den Wolken tanzen, Sie Würstchen.« Voller Wut wollte Sancho den Mann packen, als etwas Kaltes und Hartes sich sanft in sein linkes Ohr bohrte. Er erstarrte, dann hörte er eine Stimme sagen: »Fallen lassen.« Langsam senkte Sancho die Flinte und kam der Aufforderung nach. »Sie da!« sagte die Stimme, und dieses Mal war Brad gemeint. »Geben Sie mir die Smith & Wesson, aber schön langsam.« Übertrieben langsam gab Brad dem auf der Erde hockenden Mann sein Gewehr, der es ergriff, ohne auch nur das Fernglas herunterzunehmen. »Sieh dir das an, Chris«, sagte er verächtlich. »Das ist kein Lager, das ist ein Mausoleum. Jesus, sind die blöd!« Er legte
das Fernglas in die Tasche zurück, die er am Hals trug, ergriff die neben ihm im Gras liegende Flinte und stand auf. Er war mittelgroß, das Gesicht schmal und verschlossen. Doch in seinen blauen Augen funkelte es lebhaft. Es waren gleichzeitig kalt blickende Augen, denen zwar keine Bewegung entging, die aber nichts von dem verrieten, was in dem Mann vor sich ging. »Okay, Freundchen, Sie und Ihr Mexikaner können uns jetzt zu Ihrem Anführer bringen.« Am Lagereingang wurden sie von Caleb und mehreren anderen erwartet. Als sie die gegen Sanchos Schläfe gepreßte Gewehrmündung bemerkten, traten sie langsam beiseite, um die vier Männer passieren zu lassen. In der Eingangshalle wandte sich der grauhaarige Mann an Sancho: »Gibt es hier einen Konferenzraum?« Sancho hatte seine Stimme wiedergefunden und antwortete düster: »Ich sage Ihnen überhaupt nichts.« »Chris«, sagte der Mann, und der andere spannte den Gewehrhahn und führte die Waffe näher an Sanchos Ohr. »Ich zeige Ihnen, wo er ist«, warf Brad hastig ein. »Aber es wird Ihnen nichts helfen. Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten – Sie befinden sich stark in der Minderzahl.« Die Hände noch immer über den Kopf erhoben, ging er die Treppe hoch und betrat dann den Korridor. Sancho, der noch immer den Gewehrlauf am Kopf spürte, folgte ihm. Hinter sich hörte er Caleb, Elias und die anderen. In der Tür des Hauptbesprechungszimmers blieb Brad stehen. »Hier.« Mike Donovan saß an einem der Tische und schrieb in sein Notizbuch. Als er Brads Stimme vernahm, blickte er auf. Dann wanderte sein Blick zu dem grauhaarigen Mann mit der Schrotflinte, und seine Augen wurden schmal. »Aha! Ich habe mich schon gefragt, wann Sie wohl auf der Bildfläche erscheinen würden.«
Die beiden Eindringlinge senkten ihre Waffen, und Sancho drehte sich zu seinem Bezwinger um. Chris war jung und kräftig gebaut und sah aus wie ein gemütlicher Vielfraß. »He, Kumpel«, sagte der grauhaarige Mann. »Lange nicht gesehen.« »Kann man wohl sagen«, entgegnete Donovan. »Wir sind uns in Laos und El Salvador begegnet«, erklärte er den Widerstandskämpfern. »Ham Tyler, Meister in Geheimoperationen und Liebhaber schlechter Nachrichten. Wenn die Welt nicht so schlecht wäre, würde er sich zu Tode langweilen.« »Wenn die Welt nicht so schlecht wäre, könnten Sie über nichts anderes als über Rosenausstellungen berichten«, entgegnete Tyler und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die er wohl für ein Lächeln hielt, dem jedoch jeglicher Charme fehlte. »Das ist mein Partner, Chris Faber.« Er hielt inne, um dann zum Schlag auszuholen: »Und ihr hier seid alle verloren!« Er nickte den Widerstandskämpfern zu. »Kommt rein, Leute. Ich möchte mich mit euch unterhalten.« Caleb, Elias, Robert Maxwell und die anderen schoben sich vorsichtig hinter Chris Faber ins Zimmer, der noch immer die 357er-Magnum, wenn auch mit gesenktem Lauf, in der Hand hielt. Ham Tyler setzte sich auf einen der schäbigen Stühle und blickte sich mit geringschätzigem Grinsen in dem Raum um. Dann schüttelte er seufzend den Kopf. »Dieser Bursche hier will Sie glauben machen, daß Sie diese Monstren mit ein bißchen Krafteinsatz und Gott auf Ihrer Seite überwältigen können. Doch das bringt Ihnen nichts als den Tod. Es wird Zeit, daß Sie das den Profis überlassen!« Donovan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sagte mit vor Sarkasmus triefender Stimme: »Das sind höchst vertraute
Klänge! Wenn die Welt eine Grabschrift brauchte – das wäre die richtige!« »Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu streiten, Donovan«, fauchte Tyler. »Dazu haben wir keine Zeit. Wir sind weltweit organisiert, und von jetzt ab werdet ihr Burschen tun, was wir euch sagen.« »Hoppla!« explodierte Brad. »Für wen zum Teufel halten Sie sich?« »Seien Sie still!« Tyler starrte ihn an, und Brad erwiderte den Blick zunächst, senkte dann aber den Kopf. »Gestern abend hatten Sie Glück und konnten einen Erfolg erzielen. Aber ohne professionelle Führung sind Sie dem Tode geweiht. Wir sind organisiert, und wir haben einen Plan. Und neue Munition, die den Visitors das Fürchten lehren wird. Es liegt bei Ihnen: Entweder Sie bleiben unabhängig und werden irgendwann vernichtend geschlagen, oder Sie schließen sich uns an und helfen, diese schuppigen Biester von unserem Planeten zu jagen.« Alle redeten aufgeregt durcheinander, bis Brad sich mit einem verächtlichen Blick auf Tyler, der schweigend dasaß, zu Wort meldete: »Ich finde, wir sollten ihn mit einem Tritt in den Hintern hinausbefördern, um ihm gute Manieren beizubringen. Ihr habt Donovan gehört – dieser Mann ist ein Kriegstreiber. Es macht ihn an, wenn Menschen getötet werden. Woher wissen wir, daß er nicht für Diana arbeitet?« Mit der Schnelligkeit eines Leoparden sprang Tyler von seinem Stuhl auf und packte Brad bei der Kehle. Faber, der noch immer lässig im Türrahmen lehnte, spannte den Gewehrhahn. »Sie Mistkerl!« zischte er, dicht vor Brads Gesicht. »Sagen Sie so etwas nie wieder!« »Hören Sie auf, Ham!« sagte Donovan. Als Tyler sich wieder gesetzt hatte, wandte er sich an Brad. »Er ist ein mieser Kerl,
aber er ist ein Mensch! Er ist viel zu gemein und pervers, als daß Diana ihn umwandeln könnte.« Tyler nickte und bleckte die Zähne, was wohl so etwas wie ein zufriedenes Lächeln sein sollte. »Er hat recht. Hören Sie mir zu. Donovan mag mich vielleicht nicht, aber er ist sich darüber klar, daß ich sehr genau weiß, was ich tue.« »Ich möchte Ihnen folgendes sagen, Tyler.« Mike durchquerte den Raum und blieb mit ausdrucksloser Miene dicht vor dem Mann stehen. »Und Sie sollten sich bemühen, mich gleich zu verstehen, sonst müßte ich es Ihnen in einer Weise erklären, die selbst Sie begreifen.« Seine grünen Augen hielten Tylers Blick fest. »Lassen Sie Ihre schmutzigen Hände von uns! Lassen Sie diese Leute in Ruhe! Sie sind keine professionellen Mörder wie Sie und Ihr Bürschchen da drüben, aber sie… wir alle… haben mehr dazu beigetragen, die Visitors durcheinanderzubringen, als irgendeine andere Gruppe. Wir sind vielleicht keine professionellen Guerillas, doch wir sind eine Einheit, und wir haben mehr Aufsehen erregt als Sie.« Tyler nickte mißmutig. »Ja, ja. Das war wirklich eine tolle Show, die Sie im Krankenhaus abgezogen haben.« »Die Visitors wissen, daß wir da sind, Mann. Wo ist Ihre sogenannte Organisation bis jetzt gewesen?« mischte sich Elias ein. »Sie haben verdammt recht: Die Visitors wissen, wo Sie sind. Tatsächlich planen sie gerade einen Überfall auf dieses Lager«, entgegnete Ham. Donovan wandte sich seinen Leuten zu. »Gut. Er mag ein Berufskiller sein, aber er hat sicher recht, wenn er meint, wir müßten uns organisieren. Wir haben ja auch schon nach einer Möglichkeit gesucht, Kontakt mit anderen Widerstandsgruppen aufzunehmen und uns zu einer einheitlichen Organisation zusammenzuschließen. Wenn er uns
also gibt, was wir wollen, sollten wir uns auch bereit erklären, ihm zu helfen.« »Und was wollen Sie von mir?« Donovan wandte sich wieder Tyler zu. »Juliet Parrish, unsere Anführerin, wurde bei dem Überfall gestern abend gefangengenommen. Wir wollen sie zurück. Wir brauchen sie.« Ham nickte. »Der Handel gilt. Die Organisation wird alles tun, um sie da herauszuholen.« Er streckte Donovan die Hand entgegen, doch Mike zögerte. In diesem Augenblick waren vom Korridor her schnelle Schritte zu hören, und kurz darauf stürzte Pater Andrew keuchend zur Tür herein. »Ruby hat gerade von der Arbeit aus bei den Bernsteins angerufen, und Stanley kam herüber, um uns zu warnen. Die Echsen sind auf dem Weg hierher! Wir müssen hier weg!« »Ich habe es Ihnen ja gesagt«, bemerkte Ham ruhig. »Über die Einzelheiten unserer Verbindung werden wir später reden. Jetzt sollten Sie lieber schnell von hier verschwinden! Als Zeichen unseres guten Willens werden Chris und ich Ihren Rückzug decken. Ich habe ein paar gute Ideen für eine kleine Party im Lager.« »Okay. Nehmt die Geräte und ladet sie auf die Wagen. Es darf nicht länger als zehn Minuten dauern! Also los!« rief Donovan, und der Raum leerte sich. »Was haben Sie an Sprengstoff da?« fragte Ham. »Nicht viel«, erwiderte Donovan nach kurzem Überlegen. »Ein paar Handgranaten, etwas Dynamit.« »Sprengkapseln?« »Ja.« »Okay, bringen Sie sie her. Chris und ich haben draußen noch ein paar Sachen versteckt.« »Wo ist er?«
»Rausgegangen, um sie zu holen, ebenso wie unsere schwereren Geschütze.« »In Ordnung.« Mike lief bereits zur Tür hinaus. Eine Minute später kam er mit einer Holzkiste zurück, die er in aller Eile mit Sprengstoff beladen hatte. »Okay, Mike. Sehen Sie zu, daß Ihre Leute hier wegkommen.« Donovan stellte die Kiste auf den Boden und verschwand. Kurze Zeit später hörten Tyler und Faber ihn Anweisungen für die Verladung der Laborgeräte geben. Ham nickte Chris zu. »Okay, er scheint damit fertig zu werden. Du übernimmst das Laden – ich gebe dir Deckung.« Abwägend betrachtete er die automatische Maschinenpistole, die Faber ihm entgegenhielt. »Ist sie mit Teflon geladen?« »Darauf kannst du Gift nehmen.« »Gut. Also gehen wir.« »Ich habe mit Sam gesprochen, während ich hinten am Wagen war. Sie haben keine zehn Minuten Zeit mehr«, sagte Faber und verstaute die Granaten methodisch in einem Pappbehälter. »Ich sage es ihm.« Draußen in der Halle sah er Donovan am oberen Fenster stehen. Er beobachtete, wie der Lieferwagen, der noch immer mit Netzen und Zweigen getarnt war, davonfuhr. »Da verschwindet unsere Laborausrüstung«, sagte Mike. »Chris hat den Standort der Echsenpatrouillen kontrolliert. Sie müssen sich beeilen.« Donovan warf Ham einen gequälten Blick zu. »Großartig.« Er hob die Hände und rief mit lauter Stimme: »Ruhe, Leute! Bitte mal alle herhören!« Das aufgeregte Durcheinander ebbte ab, und Tyler begann: »Soviel ich weiß, gibt es einen Fluchtweg durch den Abwasserkanal. Keine schöne Angelegenheit – aber Sie
werden sich daran gewöhnen. Nehmen Sie, soviel Sie tragen können, und rennen Sie los!« »Okay. Ihr habt gehört, was er gesagt hat! Also los!« rief Donovan. »Haben Sie uns Ihre ganze Munition gegeben?« fragte Ham kurze Zeit darauf, als sie zusammen mit Faber in der Tür standen und zusahen, wie die Widerstandskämpfer in den Kanal hinunterkletterten. »Diejenigen, die Taschenlampen bei sich führen, bleiben bei denen, die keine haben!« rief Donovan, bevor er sich noch einmal an Tyler wandte. »Wir haben noch die Bazooka – sie befindet sich im Nebenzimmer des Raumes, in dem wir uns eben aufhielten. Dort lagern auch ein Raketenwerfer und einige Granaten.« »In Ordnung, Mike. Wir werden von hier aus operieren. Jetzt machen Sie, daß Sie wegkommen. Ihre Leute brauchen Sie. Haben Sie den Ort für ein Notlager ausgewählt?« »Ja.« »Eins, von dem Juliet Parrish nichts weiß?« Für einen Augenblick umwölkten sich Donovans Augen. »In der Tat, ja, wir haben heute früh einen Platz ausgewählt. Aber Juliet hat nicht geredet…« »Sicher nicht. Also, hauen Sie ab, mein Freund.« Donovan drehte sich um und lief, seine Taschenlampe in der Hand haltend, in Richtung des Abwasserkanals. »Erinnerst du dich an das Ding, das wir damals in dem Waffenlager in Afghanistan abgezogen haben?« wandte sich Tyler an Faber. »Willst du es noch einmal versuchen?« »Erraten.« Ein paar Minuten später hörten sie draußen die Patrouillenfähren ankommen. Ham spähte vorsichtig zum Fenster hinaus und sah, wie sich einer der Visitor-Stoßtrupps
dem Gebäude näherte. »Bist du fertig?« fragte er Faber, der mit einer Schachtel voller Handgranaten an ihm vorbeilief. Von der Treppe her hörten sie das Poltern schnell näher kommender schwerer Stiefel. Chris nickte und stellte behutsam die Granaten ab. »Hier ist die richtige Stelle dafür.« »Behalte ein paar davon bei dir, falls die Hinterfenster versperrt sind und wir sie aufsprengen müssen.« Faber nickte, nahm die Granaten und verschwand in dem dunklen Gang. Tyler stellte vorsichtig die Bazooka auf, wobei er darauf achtete, daß sie nicht zu nahe an die Handgranaten herankam. Dann schleppte er hastig ein paar Matratzen aus einem der Schlafräume und richtete sie als Abschirmung hinter der Bazooka auf. Augenblicke später erreichten die Visitor-Soldaten das hintere Ende des Ganges. Tyler zielte auf die Handgranaten, drückte ab und warf sich hinter die Matratzen. Eine heftige Druckwelle erschütterte den Gang, als die unter dem Hauptträgerbalken an dieser Seite des Gebäudes plazierten Granaten explodierten. Der ganze westliche Bereich der alten Anlage fiel in sich zusammen, und die Visitors wurden unter den Trümmern begraben. Auch einige der Matratzen hatten Feuer gefangen, doch Tyler kletterte unverletzt ins Freie. Selbstgefällig wanderte sein Blick über die schwelenden Ruinen. Hier und dort glänzte der Stoff orangeroter Uniformen inmitten der geschwärzten Steine, und an einer Stelle ragten Arme und Beine aus dem Schutt. An den aufgeplatzten Stellen der künstlichen menschlichen Haut schimmerten grünschwarze Schuppen. »Welch eine Verschwendung«, brummte Ham mit boshaftem Grinsen. »Wie viele schöne Koffer hätte man daraus machen können.«
25. Kapitel
Harmony Moores Imbißwagen holperte so heftig über die schmutzige alte Straße, daß sie sich schon Sorgen um den hinten im Wagen stehenden Kühlschrank machte. Sie zwang sich also, langsamer zu fahren, und erneut sagte sie sich, daß den anderen während ihrer Abwesenheit nichts zugestoßen sein konnte. Sie kam gerade vom neuen Hauptquartier zurück, um eine weitere Ladung aufzunehmen – viele der Chemikalien und Medikamente mußten unbedingt kühl gelagert werden, und der kleine Kühlschrank in ihrem Wagen war dafür bestens geeignet. Das neue Hauptquartier, ein in einem verlassenen Landstrich gelegenes leerstehendes Kino, lag auf der anderen Seite der Stadt. Um einer besonders tiefen Furche auszuweichen, riß Harmy das Steuer nach rechts und bog dann scharf links in den vom Berg herunterführenden Weg ein. Voller Erleichterung sah sie schließlich Elias, Brad, Donovan und Caleb in der Mitte eines Feldes auf der Hinterklappe ihres kleinen Lieferwagens sitzen. Nicht weit entfernt von ihnen gähnte das schwarze Loch der Öffnung des Abwasserkanals. Bei der Erinnerung an die schauerliche Flucht durch die Kanalisation, in der sie sich ängstlich an Calebs Hand geklammert hatte, erschauerte sie. Selbst dort unten noch hatten sie die Erschütterungen der Explosion gespürt. Die Taschenlampe war Caleb aus der Hand gefallen, und sie mußten sich von da an ihren Weg durch die Dunkelheit tasten. Harmy war sicher, daß sie noch viele Jahre später von dieser Flucht träumen würde. Sie liebte die Dunkelheit nicht.
Während sie auf die Männer zufuhr, kletterte Donovan von der Klappe herunter und lief ihr entgegen. »Alles in Ordnung auf der Ranch?« »Pater Andrew gibt sich große Mühe, alles in den Griff zu bekommen. Robin sah nicht allzu gut aus – sie wirkte irgendwie verstört. Sie wissen ja, wie es ihr noch vor kurzem ging.« »Ja.« Harmy blickte sich um. »Muß ich noch etwas wegfahren?« »Nur Willie. Er sitzt hinten im Wagen. Er hat seine dunkle Brille verloren und sagt, die Sonne sei ihm zu hell. Sind Sie bereit, ihn ins Hauptquartier zu bringen?« »Hm…« Harmy zögerte. »Wäre es schlimm, wenn ich dieses Mal nicht fahre? Es ist meine dritte Fahrt, und ich bin ziemlich müde.« »Kein Problem. Elias oder Brad sind sicher bereit, Sie abzulösen.« »Danke, Mike.« Ein paar Minuten später saß William, mit Handschellen an den Kühlschrank gefesselt, hinten in Harmys Wagen. Als Harmy zur Tür hereinsah, starrte er niedergeschlagen ins Leere. Harmy zögerte, biß sich auf die Lippen und ging um den Wagen herum zum Führerhaus. »Ich glaube, ich fahre hinten im Wagen mit, Mike, um Willie Gesellschaft zu leisten.« »Gewiß«, sagte Mike und ließ den Motor anspringen. »Ich brauche keine Gesellschaft – mir geht genug im Kopf herum.« Schnell lief Harmy nach hinten und kletterte in den Wagen. Sie hatte kaum Zeit, sich hinzusetzen und nach einem Halt zu suchen, als sich das Fahrzeug in Bewegung setzte und brummend losrollte. Hinten im Laderaum war das Holpern besonders unangenehm.
William beobachtete sie, doch als Harmy sich zu ihm umdrehte, blickte er schnell zur Seite. Sie zögerte, dann lächelte sie. »Hallo, Willie!« Erschrocken und dankbar und wachsam zugleich sah er sie an. »Hallo, Harmony! Ich bin froh, Sie gesund wiederzusehen.« »Haben Sie Hunger? Ich habe genug zu essen da. Gemüse, Käse… Käse vertragen Sie doch, oder?« »Ich weiß es nicht«, antwortete er, »aber ich habe sowieso keinen Hunger. Danke für das Angebot.« »Es ist das mindeste, was ich tun kann«, entgegnete sie. »Dumm, daß man Sie gefesselt hat. Sie haben es sicher nicht gerade bequem.« »Es ist nicht so schlimm«, meinte Willie. »Ich verstehe, warum sie das tun müssen.« Er hielt inne, sah sie verwirrt von der Seite an. »Harmony, warum sind Sie so nett zu mir?« »Ich mag Sie, Willie«, erwiderte sie sanft und sah ihm in die Augen. »Wir sind immer noch Freunde, nicht wahr?« »Aber Sie haben gesehen, wie ich aussehe!« Er wirkte sehr verlegen. »Sie haben… meine Hand gesehen, meinen Rücken.« Er holte tief Luft. »Und Johns Gesicht!« »Ja, das habe ich«, sagte Harmy langsam. »Sie sehen wirklich nicht besonders gut aus… zumindest nicht nach unseren Maßstäben. Aber ich kann mir vorstellen, daß wir Ihnen anfangs auch irgendwie häßlich vorgekommen sind, oder nicht?« William war sichtlich überrascht. »Nun… ja. Sie haben uns ja auch von Anfang an nur Ihr richtiges Gesicht gezeigt.« Er zögerte. »Sie sind eine besondere Frau, Harmony. Kein anderer Mensch hat mich je so behandelt… so unbesorgt. Ist das das richtige Wort?« Sie lächelte sanft. »Ich weiß es nicht. Was wollten Sie mir denn sagen?«
»Daß es für die meisten Menschen einen Unterschied macht, wenn sie wissen, wie ich unter meiner künstlichen Haut aussehe.« Er strich sich über die glatten und faltenlosen Wangen. »Aber bei Ihnen ist das anders. Sie sind unbesorgt.« »Ich glaube, Sie wollten sagen, ich bin tolerant, Willie.« »Tolerant. Danke.« »Nun, ich will Ihnen die Wahrheit sagen. Auch bevor ich wußte, wie Sie wirklich aussehen, hatte ich mich nicht in Ihr Äußeres verliebt, Willie.« Sie lächelte. »Es gibt zu wenig wirklich anständige Menschen, als daß ich aufhören könnte, Sie zu mögen, nur weil Sie anders aussehen. Dazu ist das Leben zu kurz.« Er sah sie an, streckte dann sehr langsam die Hand aus und berührte die ihre. »Danke, Harmony. Ich werde Ihre Worte nie vergessen, egal, was mit mir geschieht.« Er lächelte zaghaft. »Ich weiß«, sagte Harmony sanft und rückte dichter an ihn heran.
Es dauerte einen ganzen Tag, bis die Leute der Widerstandsbewegung ihr neues Hauptquartier in dem verlassenen Filmgelände eingerichtet hatten. Da viele der Gebäude nur noch Fassaden waren, kamen sie in dem alten Salon unter. Calebs Freund Bill Graham trieb zwei alte Wohnwagen auf. Einen davon benutzten sie als Labor, den anderen als Munitionslager. Ham Tyler hielt Wort und stellte ihnen wirkungsvollere Waffen und Munition zur Verfügung. Cal Robinson, Robert Maxwell und Harmony Moore analysierten Blutproben und verfolgten jede nur erdenkliche biologische Spur, die vielleicht zu einer Waffe gegen die Visitors führen konnte. Doch diese Bemühungen wurden durch den Mangel an visitorähnlichen Versuchstieren entscheidend behindert – das Untersuchen der Auswirkungen verschiedener
Substanzen auf Williams Blut war nicht dasselbe. Einige der irdischen Reptilien wiesen die gleichen Merkmale wie die Visitors auf, und die Wissenschaftler waren in der Lage, sie für einige Experimente einzusetzen. Es war eine kaum Fortschritte machende, entmutigende Arbeit – insbesondere für Maxwell, der voller Verbissenheit versuchte, sich seine während des Studiums zum Dr. phil. vor fünfzehn Jahren erworbenen Kenntnisse in Erinnerung zu rufen. Er mußte auch ständig gegen die Depressionen ankämpfen, die ihn zu überwältigen drohten, wann immer er seine Tochter sah. Robin zog sich mehr und mehr in sich selbst zurück. Ein paar Wochen nach Juliets Gefangennahme beging das Mädchen einen Selbstmordversuch, doch sie brachte nicht mehr als ein paar schwache, ihre Unerfahrenheit zeigende Schnitte über ihrem Handgelenk zuwege, bevor Polly, alarmiert durch die verschlossene Tür zu Robins Schlafzimmer, ihren Vater herbeirief. Seit diesem Vorfall wurde Robin nie mehr allein gelassen. Sie unternahm auch keinen weiteren Versuch mehr, saß nur schweigend und in sich gekehrt da und starrte ins Leere. Und sie mußten sie beinahe dazu zwingen, etwas zu essen. Die Maxwells waren nicht die einzigen in den Reihen der Widerstandskämpfer, die an Depressionen litten. Mike Donovan hatte meistens zuviel zu tun, um festzustellen, wie verzweifelt er eigentlich war, doch in den wenigen Augenblicken, die er für sich allein hatte, fragte er sich, warum er dem allem nicht einfach ein Ende setzte – mit dieser Last kann niemand weiterleben! dachte er dann. Wut und Schmerz über Kristine Walshs Tod und quälende Schuldgefühle wegen Juliets Gefangennahme erfüllten ihn, und er mußte sich zwingen, seinem Drang zu handeln nicht nachzugeben und zu warten. Er war nie sehr geduldig gewesen, doch während der langen Tage nach Juliets Gefangennahme blieb ihm nichts
anderes übrig, obgleich er es haßte, einfach nur die Hände in den Schoß zu legen. Während Juliets Abwesenheit hatte er de facto die Führung der Gruppe übernommen, und seitdem zollte er der jungen Frau insgeheim nur noch mehr Respekt. Erst jetzt erkannte er in vollem Umfang, welche Bürde auf ihren Schultern gelastet hatte. Schon allein die Überwachung der Beschaffung und Verteilung der Vorräte war ein Full-time-Job – nicht nur, was die Waffen und Munition anbelangte. Die Leute mußten essen, baden, ihre Kleider waschen – am Tag nach dem Überfall auf das Hauptquartier war Donovan zum Ziel beißender Kritik geworden, als sich herausstellte, daß er vergessen hatte, Toilettenpapier auf die Einkaufsliste zu schreiben. Und die Finanzen! Als Mike Juliets Aufstellungen der Einnahmen und Ausgaben zu Gesicht bekam, war er entsetzt über die säuberlich aufgeschriebenen Zahlenkolonnen, die zahllosen Kontobücher und Scheckhefte mit der jeweils sorgfältig erarbeiteten falschen Identität. Eine Widerstandsbewegung zu unterhalten, war eine teure Angelegenheit – obwohl eine Reihe der Rebellen, wie Elias zum Beispiel, ihre Einkünfte der Bewegung zukommen ließen, stand sie stets hart am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Finanzielle Unterstützungen von Leuten wie den Bernsteins halfen zwar ein wenig, aber die Geldknappheit war eine ständige Belastung. Donovan hatte Zahlen nie gemocht. Inzwischen sah er in seinen Alpträumen nicht nur Sean, sondern wachte oft schweißgebadet aus Träumen auf, in denen er verzweifelt über den Kontobüchern hockte und erkannte, daß die Bewegung aus Mangel an Geld zum Scheitern verurteilt war. Die schlimmsten Nächte jedoch waren die, in denen er von Juliet träumte. Außer den Informationsbröckchen, die Maggie
Daniel Bernstein abgewinnen konnte, hatten sie nichts über sie erfahren – bis zu dem Tag, an dem Donovan sich von Ham Tyler zu einem seiner planmäßigen Treffen mit Martin begleiten ließ. Tyler holte Donovan in einem Streifenwagen der Polizei von Los Angeles ab. Er trug eine entsprechende Uniform, und als Donovan durch das Seitenfenster in den Wagen sah, bot Ham ihm ebenfalls solche Kleidung an. »Hier, Kumpel. Die sollte Ihnen passen. Wir müssen uns beeilen, damit wir unseren schuppigen Freund nicht warten lassen.« Während sie auf die Straße einbogen, die vom Hauptquartier wegführte, blickte Donovan an seiner Kostümierung herunter. Das war eine gute Idee – damit würden sie es leichter haben. »Woher haben Sie den Wagen und die Uniform?« »Ich kenne da gewisse Quellen«, erwiderte Ham. »Vergessen Sie nicht, ich war schon im Geschäft, als Sie noch in den Windeln lagen.« »Tatsächlich«, erwiderte Donovan mit ironischem Lächeln. »Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie kurz vor der Pensionierung stehen. Oder ist es wahr, daß Meuchelmörder niemals sterben – wenn niemand mehr da ist, den sie umbringen können, machen sie sich einfach aus dem Staub.« Tylers Hände umklammerten das Lenkrad. »Sie verdammter Mistkerl! Ich sollte Sie…« Der Wagen geriet ins Schlingern, als Donovan plötzlich rief: »Sehen Sie sich das an! Da ist noch eins!« Tyler brachte den Wagen zum Stehen, und die beiden Männer starrten zum Himmel empor. Eine weitere gewaltige Scheibe, die fast noch größer war als das Mutterschiff selbst, glitt genau darüber in Position. »Woher zum Teufel kommt dieser Diskus?« brummte Tyler. »Vom Sirius wahrscheinlich«, meinte Donovan. »Mein Gott, das Ding verdunkelt das ganze Land.«
»Prima! Alles, was wir brauchen, sind noch mehr von diesen schuppigen Biestern, die wir bekämpfen können!« »Mit diesen beiden riesenhaften Schiffen, die hier den Tag zur Nacht machen, wird es bald keinen einzigen Baum mehr in diesem Land geben.« Donovan riß die Tür des Streifenwagens auf und stieg ein. Den Rest der Fahrt über hielt er stumm den Blick gesenkt. Sie stellten den Streifenwagen ein paar Häuserblocks vom Treffpunkt entfernt ab, suchten eine Tiefgarage auf und verhielten sich ganz so, als seien sie zwei Polizisten im Dienst. Sie verharrten eine Weile da, spähten in die Finsternis und nahmen den penetranten Geruch von Benzin und Auspuffgasen wahr. Skeptisch blickte sich Ham um. »Also, Kumpel, wo ist nur Ihr Alligator-Freund?« »Er hat bis jetzt mehr für uns getan als Sie, Ham«, entgegnete Donovan ärgerlich. »Also hören Sie auf, so zu reden. Er wird kommen.« »Schön, daß es noch so vertrauensselige Menschen auf der Welt gibt.« Sie hatten etwa fünfzehn Minuten gewartet, als sie ein leises Schaben vernahmen. Sie drehten sich rasch um und sahen Martin, der aus der Dunkelheit kommend auf sie zuschritt. »Hallo, Mike.« »Mein Gott! Wie ein Sumpfalligator gleitet er geräuschlos aus der Finsternis.« Ham starrte den Visitor an. Donovan warf ihm einen gereizten Blick zu. »Martin, dieser Mann… hat sich uns angeschlossen und hilft uns. Ich mag ihn nicht, aber ich habe vor, ihm zu vertrauen, zumindest solange dieser Krieg andauert. Ich bitte Sie, Verständnis dafür zu haben.« »Ich vertraue Ihnen, Donovan, und das genügt mir.«
»Gut. Also, das ist Ham Tyler. Er führt den amerikanischen Zweig einer weltweiten Widerstandsbewegung an, mit der unsere Gruppe zusammenarbeitet. Tyler, das ist Martin.« Hams Gesicht zeigte deutlich seine Abneigung gegen den Visitor, und zum ersten Mal seit Tagen amüsierte Donovan sich. »Neuigkeiten von Julie?« fragte er, jetzt wieder ernst. Martin sah ihn traurig an. »Noch hält sie stand, aber ich fürchte, nicht mehr lange. Diana will sie konvertieren oder töten. Ich habe sie noch nie derart entschlossen gesehen.« Donovan stieß einen unterdrückten Fluch aus und ballte wütend die Fäuste. »Wir müssen sie befreien!« »Hat sie geredet?« fragte Tyler. »Davon hätte ich vermutlich erfahren«, erwiderte Martin. »Sie hat einen sehr starken Willen und besitzt die erstaunliche Fähigkeit, Dianas Methoden standzuhalten.« »Wenn sie nichts verraten hat, wie haben sie dann das Hauptquartier in der Kläranlage gefunden?« wollte Ham wissen. »Durch Pascal, den Fälscher. Diana folterte ihn, und er hat geredet. Sie nahmen ihn während des Überfalls gefangen und töteten ihn, weil kein anderer da war, den sie töten konnten.« »Schade um ihn«, bemerkte Mike. »Er war ein wahrer Künstler in seinem Fach.« Er starrte auf seine nach wie vor geballten Fäuste. »Martin, Sie müssen uns helfen, Juliet da herauszuholen.« »Sie wird so streng bewacht, daß ich nicht einmal die Möglichkeit habe, mit ihr zu sprechen. Es ist unmöglich, Mike.« »Aber mit Ihrer Hilfe und der Unterstützung der übrigen Angehörigen der Fünften Kolonne…« »Wir sind zu wenige – und die anderen zu viele. Es ist sehr gefährlich für uns.«
Ham trat mit einem raschen Schritt auf Martin zu und blieb dicht vor ihm stehen. »Sie verdammter Mistkerl: Hören Sie jetzt meinem Begleiter zu – und kommen Sie seinen Forderungen nach, verstanden? Wenn Sie sich nämlich als störrisch erweisen, wickle ich Sie in Ihre verdammte menschliche Haut und serviere Sie Ihren Kumpanen als exotisches Hors d’œuvre. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« Martin sah Tyler lange an und wandte sich dann mit fragendem Blick an Donovan. »Dieser Mann ist anders als alle anderen Menschen, denen ich begegnet bin.« Mike verdrehte die Augen und hob die Schultern. »Ich weiß. Aber zum Glück gibt es nicht allzu viele von seiner Sorte.« Er bedachte Tyler mit einem langen Blick. »Was ich Ihnen vorhin über die anderen sagte, gilt auch für Martin. Vergessen Sie das nicht.« Ham zuckte die Achseln und nickte. »Okay, okay. Seien Sie nicht so empfindlich, mein Freund.« Er wandte sich wieder Martin zu. »Was ist mit dem neuen Schiff, das über dem Ihren schwebt?« »Es wird von der Obersten Kommandeuse Pamela befehligt. Diana sprach mit ihr, kurz bevor ich wegging. Das ist auch der Grund, warum ich mich verspätet habe. Sie befindet sich mit ihrem Schiff nur für einen Tag im Bereich der Erdatmosphäre, und sie war zuerst bei John im New Yorker Schiff. Der Große Denker will, daß wir raschere Erfolge erzielen. Pamela hat speziell ausgebildete Ingenieure und Techniker für ein neues Projekt mitgebracht.« »Was für ein Projekt?« »Ich kenne die Details nicht, aber sie erwähnte, daß wir – wenn es gelingt – in der Lage wären, sämtliche Wasservorräte von Südkalifornien in weniger als einem Monat abzuziehen.« »Teufel noch mal!« rief Ham. »Ist das denn möglich?«
»Ich bin Pamela schon einmal begegnet. Sie macht keine leeren Versprechungen«, erwiderte Martin ernst. »Sie ist berühmt für ihre taktischen und strategischen Fähigkeiten. Auf ihre Weise könnte sie noch gefährlicher sein als Diana. Doch die beiden hegen wenig Sympathie füreinander. Ich glaube, Pamela hält Diana für korrupt. Sie teilt Dianas… Hang… zu mehr durchtriebeneren Methoden, an die Macht zu gelangen, nicht. Pamela bevorzugt die direkte militärische Eroberung und steht Dianas Konvertierungs- und Vernichtungsbestrebungen ablehnend gegenüber.« »Eine Frau als militärischer Anführer?« fragte Tyler skeptisch. »Nun hören Sie schon auf, Ham!« Donovan warf ihm einen gereizten Blick zu. »Sie haben keine Ahnung, wie dämlich Ihre Kommentare wirken!« Martin war irritiert. »Aber auch hier auf der Erde haben Frauen Machtpositionen inne, nicht wahr?« »Mit Sicherheit nicht in dem Maße, wie es ihnen zustünde«, antwortete Donovan. »Ham hier hat Probleme im Umgang mit Leuten anderer Rassen, anderer Hautfarbe – und vor allen Dingen dem anderen Geschlecht. Übrigens…« Er hielt inne, als ihm plötzlich etwas einfiel. »Es gibt überhaupt keinen Grund zu glauben, daß ein Visitor, der die menschliche Maske einer Frau trägt, auch wirklich eine Frau ist, oder? Jeder von euch könnte Mann oder Frau darstellen. Martin, was sind Sie wirklich, ein Mann oder eine Frau?« »Ich bin ein Mann«, antwortete der Visitor lächelnd. »Die meisten von uns entscheiden sich auch äußerlich für ihr wirkliches Geschlecht, doch es gibt Ausnahmen. Pamela jedoch ist eine Frau«, fügte er an Ham gewandt hinzu. »Das bringt mich auf eine Idee«, erklärte Donovan. »Wir haben schon einmal davon gesprochen, daß wir versuchen wollen, Diana zu eliminieren. Jetzt sagen Sie uns, daß sie sich
nicht besonders gut mit Pamela versteht. Ich frage mich, ob es eine Möglichkeit gibt, einen Mordversuch so zu arrangieren, daß er – selbst, wenn er mißlingt – Diana und Pamela noch mehr entzweit.« »Ich weiß es nicht. Pamela erklärte, wie enttäuscht sie darüber sei, daß es Diana bisher nicht gelungen ist, die Widerstandsbewegung zu zerschlagen. Diana war ziemlich aus der Fassung gebracht.« »Genau das brauchen wir«, rief Donovan erregt. »Aber ohne Hilfe kommen wir dabei nicht weiter. Wir benötigen Unterstützung von jemandem, der problemlos ins Mutterschiff gelangen kann.« »Das ist unmöglich. Sie haben Spezialausweise eingeführt, denen die jeweilige Stimme unterlegt ist. Das dürfte eins der Hauptprobleme für Julies Befreiung sein.« »Verdammt!« stieß Mike hervor. »Ich hatte gedacht, wir könnten einen von uns so herrichten, daß er aussieht wie einer von Dianas Adjutanten – um den Betreffenden anschließend an Bord zu schleusen. Wenn es ihm dann gelänge, Diana zu töten – gut. Wenn nicht, könnte er vielleicht Pamela zur Strecke bringen. Dadurch wären die Visitors vielleicht so lange von Julie abgelenkt, daß wir Zeit genug hätten, eine Rettungsaktion zu organisieren.« Ham blieb skeptisch. »Wer auch immer bis zu Diana vorstieße – der Betreffende hätte vermutlich nicht mehr die Gelegenheit, auf die Erde zurückzukehren. Obwohl Ihre Idee mit der Maske nicht schlecht ist.« Donovan nickte. »Es wäre wahrscheinlich ein Himmelfahrtskommando«, gab er zu, »doch ich bin bereit, das Risiko auf mich zu nehmen. Alles ist besser, als hier herumzusitzen, diese verdammten Zahlenkolonnen zu addieren und nur immer wieder dasselbe Ergebnis zu bekommen.« »Aber Sie werden hier unten gebraucht«, meinte Martin.
»Nicht so dringend wie Julie.« »Sie vergessen den Spezialausweis«, gab der Visitor-Offizier zu bedenken. »Trotzdem räume auch ich Ihrer Idee gewisse Erfolgschancen ein.«
Brian blickte erstaunt von dem Foto hoch, das Steven ihm gegeben hatte. »Aber das ist doch nur ein kleiner Junge! Warum wollen Sie, daß wir ihn ausfindig machen?« »Ein Befehl von höherer Stelle«, erwiderte Steven knapp. »Ich bin nicht befugt, den Anforderer zu benennen.« »Wie heißt er? Wenn ich seinen Namen habe, kann ich ihn im Computer finden. Nur anhand eines Fotos ist das sehr schwierig.« »Ich kenne seinen Namen nicht«, log Steven. Als Brian ihn mit unverhohlener Verwunderung ansah, wurde sein Ton schroff. »Ich will ganz einfach nur, daß er ausfindig gemacht wird. Lassen Sie das Schiff von Ihrer Einheit gründlich durchsuchen und erstatten Sie mir Bericht. Aus sicherer Quelle weiß ich, daß der Junge sich auf dem Schiff von Los Angeles befindet.« Brian nickte bedächtig. »Wie Sie wünschen, Sir. Sie wissen, daß Sie mir vertrauen können – ich habe Ihnen jetzt schon eine ganze Weile gute Dienste geleistet. Warum wollen Sie, daß wir gerade diesen Jungen unter all den Hunderten anderer lokalisieren, die an Bord des Mutterschiffs sind?« Steven lächelte. »Lassen Sie es mich so nennen – es ist ein kleines… Geschenk… für Diana.« »In Ordnung, Sir. Ich erstatte Ihnen Bericht, sobald ich ihn gefunden habe. Soll ich ihn wieder zum Leben erwecken lassen?« »Ja, tun Sie das.« Steven nickte dem jungen Offizier kühl zu und ging davon. Brian saß noch lange da und starrte
nachdenklich auf das Foto des Jungen mit haselnußfarbenen Augen und dem dichten braunen Haar.
den
Laute Rockmusik dröhnte aus dem Bernsteinschen Haus und hallte durch die Nacht. Doch die Nachbarn der Bernsteins beschwerten sich nicht. Und sie wußten, warum. Kichernd hob Daniel Bernstein die Flasche Chivas an die Lippen und leerte den Rest des Inhalts in einem Zug. Auf dem Boden neben ihm saß Maggie Blodgett, die sich angetrunken gab und kicherte. Ein aufmerksamer Beobachter jedoch hätte erkennen können, daß die junge Frau vollkommen nüchtern war. Doch Daniel war bereits viel zu benebelt. »Verdammt!« Er starrte auf die leere Flasche. »Schon wieder leer!« Er sah zu Lynn und Stanley hinüber, die in steifer Haltung auf der Couch saßen. Lynn arbeitete unkonzentriert an einer Crewelstickerei, während Stanley ein aufgeschlagenes Buch auf dem Schoß liegen hatte. »He, Mutter! Ich sagte, die Flasche ist leer! Hast du nicht gehört?« Lynn warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu, trat dann schweigend an den Barschrank heran und kam mit einer Flasche Black Velvet zurück, die etwa noch zu einem Fünftel gefüllt war. »Es tut mir leid, Daniel, das ist alles, was noch da ist.« »Scheiße! Diese Brühe können wir doch nicht trinken!« Er blickte seine Eltern mißtrauisch an. »Wo sind all die Flaschen Chivas, die ich kürzlich mitgebracht habe?« »Sie sind alle weg, Daniel.« Zum ersten Mal seit Stunden sagte Stanley etwas. »Du hast sie ausgetrunken.« Der junge Bernstein starrte seinen Vater an. »Doppelte Scheiße! Ich wette, du hast sie ausgetrunken – du willst ja immer alles haben, was ich kriege. Gib es doch zu – du bist neidisch. Ich habe alles bekommen, was du nie hattest –
Macht, Ansehen, Geld…« Er grinste Maggie an. »Eine schöne Frau, die alles tut, was ich will.« Tiefe Röte überzog Stanleys Gesicht, und Lynn öffnete hastig die Whisky-Flasche. »Hier, Daniel.« »Maggie zuerst«, sagte Daniel galant. Vorsichtig goß sich Maggie ein paar Tropfen in ihr Glas und gab dann Daniel die Flasche. »Täubchen!« kicherte Daniel und setzte die Flasche an den Mund. »Ich sage es ja, sie sind ganz einfach neidisch, und deshalb behandeln sie mich wie ein Stück Dreck. Sie haben mich immer wie ein Stück Dreck behandelt.« »Das ist nicht wahr, Daniel«, widersprach Lynn beklommen. »Doch«, beharrte Daniel. »Aber jetzt bin ich kein Stück Dreck mehr! Nur mir habt ihr es zu verdanken, daß ihr etwas zu essen habt! Und daß ihr ein Dach über dem Kopf habt! Ihr lebt überhaupt nur noch durch mich.« Wie aus weiter, weiter Ferne starrte Stanley seinen Sohn an. »Und wir sind todmüde durch dich.« Wutentbrannt griff Daniel nach seiner Waffe. »Du altes Miststück! Ich werde dich…« Er brach ab, als Maggie ihre Hände um sein Gesicht legte und ihn zu sich herumdrehte. »Daniel«, sagte sie in zärtlichem Ton, »warum unterhältst du dich dauernd mit deinen Eltern anstatt mit mir?« Sie grub ihre Finger in sein dichtes, dunkles Haar, zog seinen Kopf näher zu sich heran, öffnete die Lippen und küßte ihn. Daniel vergaß seine Wut, gab sich ganz ihrem Kuß hin. Unbeholfen nestelte er an den Knöpfen ihrer Bluse, fand die glatte Haut ihrer festen Brüste. Einen Augenblick lang wehrte sie sich, bis er bemerkte, daß sich seine Waffe in ihren Leib bohrte. Er legte sie beiseite und zog sich die Uniform aus. Heftig atmend und so aufgeregt, daß er sich kaum noch beherrschen konnte, zerrte er an ihren Jeans. Erst als er in ihr
war, triumphierend in sie stieß und die Schauer der Befriedigung ihm sagten, daß er trotz des Likörs seine Männlichkeit unter Beweis stellen konnte – daß es, oh, Jesus, schnell und leicht gehen würde – erst in diesem Augenblick fielen ihm seine Eltern wieder ein. Trunken löste er seinen Mund von Maggies Lippen – die Vorstellung, daß sie ihm hatten zusehen müssen, steigerte noch seine Befriedigung. Doch Lynn und Stanley hatten den Raum verlassen.
Nackt, mit dick geschwollenen Händen, die übersät waren von blutigen Stellen, an denen sie sich selbst gebissen hatte, kauerte Juliet Parrish in einer Ecke ihrer Zelle. Sie hatte festgestellt, daß der Schmerz die einzige Möglichkeit war, mit alldem Horror und Entsetzen fertig zu werden, mit dem Diana sie quälte. Sie ließ den Kopf hängen und versuchte, sich an die letzte Zeile eines Gedichtes zu erinnern, das sie in Gedanken rezitiert hatte. Sie hatte Poesie schon immer geliebt und es als tröstliche Ablenkung empfunden, sich die Verse in Erinnerung zu rufen. Sie durfte nicht zuviel denken. Das war eine der Hauptwaffen ihrer Befrager – die schrecklichen Vorstellungen, die sich das Opfer von dem machte, was das nächste Verhör bringen mochte. Welches Gedicht hatte sie gerade deklamiert? Zu ihrem Entsetzen konnte Juliet sich nicht daran erinnern. Ihr fiel nur ein einziger Vers eines Gedichts von Tennyson ein, dessen Titel ihr jedoch entfallen war. Es war ein sehr trauriges Gedicht, und Juliet versuchte, an etwas anderes zu denken, an etwas, das sie nicht mit solcher Sehnsucht nach zu Hause erfüllte. Doch ihre Gedanken drehten sich im Kreise, und Tränen strömten ihr über die Wangen.
Plötzlich wurde die Tür geöffnet, und zwei Wachtposten betraten, gefolgt von Diana, die Zelle. Juliet versuchte, nicht der Furcht nachzugeben, doch ihr Körper und ihre Stimme straften sie Lügen, als sie wimmernd zurückwich. »Nein… nein. Bitte… bitte… nein!« Grinsend kamen die Wachen auf sie zu und packten sie brutal an den Armen. Juliets Beine schleiften über das Metallgitter, als die Soldaten sie fortzerrten. »Nein! Nein! Nicht schon wieder! Ich kann nicht!« Mit ausdrucksloser Miene sah Diana zu, wie die zierliche, blonde Gestalt sich sträubte und versuchte, sich aus dem Griff der Wachtposten zu befreien. Als die Soldaten um eine Ecke herum verschwanden, wurden Juliets Protestschreie zu einem zusammenhanglosen Jammern. Diana lächelte.
26. Kapitel
Brian wartete, bis die Labortechniker das Suspensionsgel aus dem Gesicht des Hibernanten gewischt hatten. Der Junge blinzelte, würgte und begann heftig zu zittern. Einer der Laboranten legte ein Tuch über ihn, während der andere ihm eine Injektion gab. Wenige Minuten später hörte der Junge auf zu zittern und öffnete langsam die Augen. Er hustete, und Brian klopfte ihm beruhigend auf die Schultern. »Alles in Ordnung?« Der Junge nickte schwach und blickte sich im Labor um. »Wie heißt du?« fragte Brian. Die Stimme des Jungen war ein heiseres, gezwungenes Flüstern. »Sean.« Wieder hustete er. »Sean Donovan.« Brian stutzte, dann breitete sich ein Grinsen über sein Gesicht aus. »Steven, du bist wirklich nicht auf den Kopf gefallen«, flüsterte er zu sich selbst. »Ein Geschenk für Diana, in der Tat.« Diana beobachtete, wie sich Juliet Parrishs Körper in der gläsernen Konvertierungskabine krümmte und zuckte. Kabel und Elektroden überwachten und dirigierten die Phantasienfolge, die die Techniker dem menschlichen Gehirn aufzwangen. Juliets Hände waren festgeschnallt, so daß sie nicht mehr hineinbeißen konnte. Diana warf einen schnellen Blick auf die Monitore. »Gut, das sieht gut aus«, sagte sie leise. »Vielleicht kriegen wir sie dieses Mal. Ich dachte gestern schon, es sei so weit, aber heute…« Sie beugte sich vor und sprach in ein Mikrofon: »Julie? Julie, hören Sie mir zu. Hier spricht Diana. Ich möchte Ihnen helfen,
Julie. Lassen Sie mich Ihnen helfen, da herauszukommen. Geben Sie mir Ihre Hand, Julie.« »Nein…« Die blonde Frau stöhnte und fuhr unter einem erneuten Stromstoß zusammen. Ihre Beine zuckten unkontrolliert umher. Sie warf den Kopf herum, als wolle sie über ihre Schulter nach hinten sehen. »Nein!« Diana beobachtete, wie die Phantasienfolgen mehr und mehr Teil des Denkens Juliets wurden. Der neben ihr stehende Techniker hob warnend die Hand. »Ich glaube nicht, daß ihr Herz viel mehr aushält.« »Machen Sie weiter«, befahl Diana unerbittlich. »Binden Sie ihre Arme los.« »Julie? Julie, hören Sie zu. Ich will Ihnen helfen. Reichen Sie mir die Hand, und ich hole Sie da heraus. Dann werden Sie nicht mehr davonlaufen müssen. Reichen Sie mir Ihre Hand, Julie!« »Nnnn…« Juliet schrie auf, und ein wildes Zucken durchfuhr ihren Körper. »Er wird mich kriegen! Hilfe! Oh, mein Gott, bitte! Hilfe! Diana – Diana! Hilfe!« »Geben Sie mir Ihre Hand! Bitte, Julie!« Langsam hob die junge Frau ihre linke Hand. »Hier, Diana. Holen Sie mich hier heraus!« »Das wär’s! Ihr Widerstand ist gebrochen. Holen Sie sie da raus!« Hastig zogen die beiden Techniker die Frau aus der Glaskammer. »Heißt das, sie ist konvertiert?« fragte der neben Diana stehende Mann. »Oh, nein…«, erwiderte die stellvertretende Kommandeuse nachdenklich, »doch es ist ein erster, wesentlicher Schritt.« Aus der an der Wand angebrachten Sprechanlage ertönte eine Stimme: »Diana, hier ist das Landedeck. Wir haben gerade erfahren, daß Mike Donovan gefangengenommen und an Bord gebracht worden ist.«
»Donovan!« Diana war kaum in der Lage, ihre freudige Erregung zu unterdrücken. »Zwei an einem Tag! Bringen Sie ihn sofort hierher!« »Das wird uns eine ungeheure Hilfe sein«, wandte sie sich dann an den Techniker. »Um in Julie Mißtrauen gegen ihre Freunde zu erwecken, setzte ich Donovan als Dreh- und Angelpunkt im Konvertierungsverfahren ein und machte ihn zu einer der bedrohlichsten Figuren für sie. Jetzt zu sehen, wie sie auf ihn reagiert, dürfte höchst interessant sein. Auf diese Weise kann ich beurteilen, welche Fortschritte ich mit Juliet gemacht habe.« Augenblicke später glitt die Tür zum Labor auf, und zwei Soldaten brachten Donovan herein. »Wie schön, Sie zu sehen, Mr. Donovan!« begrüßte ihn Diana. »Zu freundlich von Ihnen, uns einen Besuch abzustatten«, fuhr sie fort. »Julie wird überglücklich sein, Sie zu sehen.« Sie bedeutete den beiden Soldaten, Donovan näher heranzuführen. Juliet wurde gerade von einem der Techniker aus der Konvertierungskammer herausgebracht. Diana trat näher an ihn heran und wandte sich dabei wie beiläufig an Juliet: »Julie«, sagte sie, »begrüßen Sie…« Mit unerwarteter, beinahe übermenschlicher Kraft stieß Donovan die beiden Soldaten zur Seite und hatte plötzlich eine Visitor-Pistole in der Hand. Das pulsierende Zischen der Entladung hallte von den Laborwänden wider. Diana sprang zur Seite und konnte dem Energieblitz gerade noch ausweichen. Im Fallen riß sie Juliet mit zu Boden. Sie hörte eine Explosion und sah, wie sich ihre Adjutantin über dem Tisch zusammenkrümmte. Ihr Körper war verkohlt. Die beiden Soldaten schossen auf Donovan, und in dem Chaos aus hin und her zuckenden Blitzen verlor Diana vorübergehend die Orientierung. Einer der Techniker ergriff ein Gewehr und feuerte auf Donovan, der zu Boden stürzte.
Zitternd senkte der Techniker die Waffe und sah zu Diana hinüber, die sich gerade wieder hochrappelte. Sie trat auf die am Boden liegende Gestalt zu und stieß sie mit der Stiefelspitze an. Keine Reaktion. »Verdammt!« sagte sie. »Er ist tot.« »Mike?!« Zum ersten Mal zeigte Juliet eine Reaktion. »Mike?!« Auf Händen und Füßen kroch sie an die leblose Gestalt heran. »Nein! Mike! Nein!« »Bringt sie raus!« sagte Diana wütend, »und schickt ein paar Leute zum Aufräumen her.« Dann sah sie zu, wie die Techniker die schluchzende Frau von Donovan weg in Richtung Tür zerrten. »Vielleicht sind wir doch noch nicht so weit, wie wir dachten«, sagte sie, mehr zu sich selbst. Als Diana eine Stunde später in ihrem kombinierten Büro/Labor saß, leuchtete das Signal über der Tür auf. »Identifikation?« fragte Diana. »Pamela«, tönte es aus einem Lautsprecher. Mit einem unterdrückten Fluch öffnete Diana die Tür und ließ die Oberste Kommandeuse eintreten. Sie war kaum in der Lage, das Lächeln Pamelas zu erwidern, die in ihrer Körpermaske wie eine auffallend attraktive und etwa fünfunddreißigjährige Frau wirkte. »Ich habe mit Jake vom Internen Sicherheitsdienst gesprochen«, sagte Pamela freundlich. »Ich wußte gar nicht, daß wir Schwierigkeiten an Bord unserer Schiffe haben.« »Interne Sicherheitsprobleme?« Diana legte ihr Schreibgerät beiseite. »Mir sind keine bekannt. Ich achte sehr auf strenge Disziplin und die übliche Überwachung.« »Wirklich?« Pamelas perfekt geschwungene Augenbrauen hoben sich. »Da bin ich leider nicht so sicher. Vielleicht sollten wir doch einmal darüber reden, Diana… meine Liebe.« Langsam erhob sich Diana von ihrem Stuhl. »Wenn Sie die Ereignisse von heute morgen meinen…«
»Jake erzählte mir von dem Mordversuch.« »Nun ja, ich hätte die beiden Soldaten, die so nachlässig waren, disziplinarisch bestraft, aber sie waren bereits tot«, erwiderte Diana im Ton aufrichtigen Bedauerns. »Aber ein Mordversuch durch einen menschlichen Widerstandskämpfer dürfte wohl kaum ein Sicherheitsproblem für uns darstellen.« »Da stimme ich völlig mit Ihnen überein. Es zeichnet sich jedoch eine neue… Entwicklung ab, die wir nicht unbeachtet lassen dürfen. Ich fürchte, es könnten weitere Anschläge folgen. Und das dürfen wir nicht zulassen.« »Natürlich nicht«, entgegnete Diana steif. »Seien Sie versichert, daß ich dieses Schiff völlig unter Kontrolle habe und sich daran auch in Zukunft nichts ändern wird.« »Sind Sie sicher?« entgegnete Pamela, und der harte Unterton in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Ich glaube, Sie sollten jetzt lieber mit mir kommen, Diana.« »Wohin?« »In die Leichenkammer. Ich möchte Ihnen etwas zeigen, das sehr… aufschlußreich für Sie sein wird.« Als Diana und Pamela die Tür zur Leichenkammer öffneten, nickte ihnen Steven, der neben Martin stand, grüßend zu. Zwischen den beiden Offizieren lag eine mit einem Tuch bedeckte Gestalt. »Ich glaube, Sie sollten Diana jetzt zeigen, was Sie entdeckt haben«, wandte sich Pamela an Martin. »Ja, Oberste Kommandeuse«, antwortete Martin und zog mit einem schnellen, um Verzeihung bittenden Blick auf Diana das Tuch von dem leblosen Körper zurück. Diana starrte auf Mike Donovan herunter. Da griff Martin in den Mund des Toten und zog eine lange Reptilienzunge heraus. »Er ist noch nicht eindeutig identifiziert«, sagte er. Dianas Augen weiteten sich, und ihre Haare gerieten in Bewegung, als ihr unter der menschlichen Perücke verborgener Kamm anschwoll. »Einer meiner eigenen Leute!« Sie begann,
wild zu fluchen, und ihre Zunge zuckte vor, als sie die undeutlichen Zischlaute ihrer eigenen Sprache ausstieß. Die Haut in den Mundwinkeln platzte auf und zeigte ihren reptilienhaften Kiefer; die kleinen und spitzen Zähne knirschten übereinander. Sie stürzte sich auf den Toten und zerfetzte mit den Fingernägeln sein Gesicht, so daß die schuppige Haut zum Vorschein kam. Sie taumelte zurück, als sie einen kräftigen Schlag auf den Kopf erhielt. »Reißen Sie sich zusammen, Diana!« sagte Pamela scharf. »Das ist ein Befehl! Bringen Sie sofort Ihr Gesicht in Ordnung!« Vor Wut zitternd, bedeckte Diana mit den Händen ihr zerfetztes Gesicht und verließ den Raum. Später am Tag trafen sich die vier Visitor-Offiziere zu einer Stabsbesprechung. Dianas Gesicht war wieder hergerichtet worden. Nach ihrem Wutausbruch am Morgen strahlte sie nun eiskalte Ruhe aus. »Das geht auf das Konto der Fünften Kolonne«, erklärte Steven sachlich. »Ich habe schon von ihren Aktivitäten auf anderen Schiffen gehört, doch es ist das erste Mal, daß sie hier in Erscheinung tritt. Sie breitet sich in der ganzen Flotte aus. Inzwischen berichten bereits alle Schiffe von ähnlichen Zwischenfällen.« »Nicht auf meinem Schiff«, stieß Diana hervor. »Auf meinem Schiff wird es keine 5. Kolonne geben.« »Ich möchte vorschlagen, alle wichtigen Gefangenen ins Hauptquartier auf der Erde zu bringen, bis wir dieses Schiff wieder völlig unter Kontrolle haben«, schlug Martin vor. »Das erscheint mir sicherer.« »Er hat recht«, pflichtete Steven ihm bei. »Solange an Bord dieses Schiffes Angehörige der Fünften Kolonne operieren, droht uns Gefahr. Juliet Parrish, eine der wichtigsten Personen
der Widerstandsbewegung, ist unsere Gefangene. Wir können es uns nicht leisten, sie zu verlieren.« »Ganz meiner Meinung«, nickte Pamela. »Ja«, stimmte auch Diana zu. »Martins Vorschlag soll sofort durchgeführt werden. Ich möchte, daß sie noch heute nacht weggebracht wird.« »Sehr wohl«, sagte Steven und nickte Martin zu. Daraufhin verließen die beiden Offiziere den Raum. Diana und Pamela blieben allein am Konferenztisch sitzen. Träge überflog Pamela ein paar Berichte. »Ich werde Anweisung geben, die Sicherheitsmaßnahmen zu verschärfen«, erklärte sie. »Das ist mein Schiff.« Diana blickte hoch. »Und auf meinem Schiff erteile ich die Befehle.« »Diana«, erwiderte Pamela in geduldigem Ton, der Diana zur Weißglut brachte. »Ihr Schiff ist Teil meines Geschwaders. Sie vergessen meinen Rang.« Einen Augenblick lang trommelte Dianas Finger ungeduldig auf der Tischplatte, dann entgegnete sie lächelnd: »Ich besitze vielleicht nicht Ihren Rang, Pamela, aber ich genieße die besondere Gunst des Großen Denkers. Und das ist häufig wichtiger als ein Rang.« Pamelas Gesicht nahm einen sanften, bedauernden Ausdruck an. »Ich würde mich an Ihrer Stelle nicht zu sehr auf meine Beziehung zum Denker verlassen, Diana. Dabei hat schon so mancher Schiffbruch erlitten. Tatsächlich kamen mir vor meiner Abreise Gerüchte von einer neuen Gefährtin zu Ohren. Ich bin ihr noch nicht begegnet, doch es heißt, sie sei sehr schön. Und ein wenig älter als Sie… mit außerordentlich schöner, herrlich gemusterter Haut.« »Das glaube ich Ihnen nicht!« »Diana, sexuelle Anziehungskraft ist vergänglich und kein Fundament für einen so ausgeprägten Ehrgeiz wie den Ihren.
Als Sie selbst die Gunst des Denkers genossen, stellten viele Leute fest, wie schnell Sie unzufrieden mit ihren Leistungen waren.« Diana hob das Kinn. »Einen Mangel an Ehrgeiz habe ich bei Ihnen auch nie festgestellt, Pamela.« »Aber er bewegt sich stets im Rahmen meiner Möglichkeiten.« Wieder lächelte Pamela. »Sie sollten auch nicht vergessen, daß Ihr… Liebhaber… Sie fast neun Lichtjahre weit fortgeschickt hat. Wohl kaum ein Anzeichen dafür, daß er es nicht ertragen kann, Sie nicht zu sehen.« Mit einem zufriedenen Lächeln auf dem Gesicht verließ Pamela den Raum. Mike Donovan klopfte heftig an der Tür des alten Salons. »Herein!« rief Ruby Engels. Donovan trat ein. Ruby Engels war gerade dabei, sich auf ihre Rolle als Putzfrau vorzubereiten. »Wir sind fertig zum Aufbruch«, wandte sich Donovan an Ham Tyler, der neben Ruby saß. »Ich habe gerade die Waffen verteilt. Ich hoffe nur, daß die Teflon-Munition ausreicht.« »Wenn Ihre Leute so gute Schützen sind, wie Sie behaupten, wird sie genügen«, erwiderte Ham und sah zu, wie Ruby übertrieben viel Rouge auf ihre Wangen auftrug. »Sie brauchen es nicht zu tun, Ruby«, erklärte Mike. »Sie nehmen ein entsetzliches Risiko für uns auf sich. Denken Sie nicht, daß ich das nicht weiß.« Ruby sah ihn lange schweigend an. »Wenn Sie eine Möglichkeit sehen, Julie ohne meine Hilfe zurückzuholen, sagen Sie es mir. Dann bleibe ich zu Hause und stricke.« Donovan senkte den Blick. »Ruby…« »Sie ist eine wirkliche Schauspielerin, mein Freund. Etwas, wovon Sie überhaupt nichts verstehen. Ich sage Ihnen, ich hätte diese Dame in Polen gut gebrauchen können. Unter all dem Make-up ist sie hart wie Stahl.« Ham kramte in einer auf
dem Boden stehenden Tasche. »Ich habe ein paar Geschenke für Sie, Ruby. Hier.« Vorsichtig überreichte er ihr einen Totschläger, einen Eispickel, der in einer ledernen Scheide steckte, und ein Walkie-Talkie. Er zog den Eispickel aus der Scheide und sah sie fragend an. »Sie wissen, wohin Sie damit zielen müssen, Ruby?« Ruby nickte. »Ich glaube, ja.« Sie berührte mit den Fingerspitzen ihre Kehle, ihre Augen und eine Stelle kurz unterhalb ihres Ohres. »Richtig«, stellte Ham anerkennend fest. »Und für den Fall, daß sie diese verdammte Rüstung nicht tragen – genau zwischen den Schulterblättern ist die richtige Stelle auf dem Rücken.« »Verstanden«, sagte Ruby. »Auf mein Zeichen hin ziehen Sie die Sicherung raus«, fuhr Ham fort und tippte auf das Walkie-Talkie. »Nichts bringt eine Truppe mehr durcheinander, als wenn plötzlich das Licht ausgeht. Wir warten und greifen sofort ein, wenn es dunkel wird. Dann machen Sie sich aus dem Staub, klar?« »Ja«, erwiderte Ruby. »Die ganze Aktion steht und fällt mit Ihnen, Ruby.« »Eine Starrolle also!« Ruby grinste. »Seit dem Kindermädchen in ›Romeo und Julia‹ hatte ich keine so gute Rolle mehr.« Donovan ergriff ihre Hand. »Wenn wir Erfolg haben, wird Julie erfahren, welches Risiko Sie ihretwegen auf sich genommen haben – ich unterrichte sie davon. Sie besitzen mehr Schneid als wir alle.« Ruby hob in schelmischem Protest den Zeigefinger. »Von Ihnen habe ich auch schon schöne Geschichten gehört, Donovan, zum Beispiel davon, daß Sie es riskierten, gefangengenommen zu werden, nur um an Diana
heranzukommen. Wir alle tun, was wir tun müssen. Das ist alles.« »Nun…« Er zögerte, nahm sie dann unbeholfen in die Arme, sorgsam und bemüht, ihr Make-up nicht zu verschmieren. »Seien Sie vorsichtig, okay?« »Ich kann auf mich aufpassen«, entgegnete Ruby. »Sie brauchen Ihren Leuten nur das Startzeichen zu geben.«
Das Hauptquartier der Visitors war hell erleuchtet wie eine Einkaufspromenade während der Weihnachtszeit. Ham Tyler spähte durch den elektrischen Zaun auf die ferne Villa, vor der die Visitor-Flagge wehte. Dicht daneben war die Landebahn zu erkennen. Visitor-Soldaten in voller Rüstung hatten in der Säulenhalle Aufstellung bezogen. Einige Offiziere wanderten nervös umher und blickten immer wieder in Richtung des großen Raumschiffes empor. Ham senkte das Fernglas. »Sie scheinen die Fähre mit den prominenten Gefangenen jeden Augenblick zu erwarten«, wandte er sich an die anderen. »Man erkennt es an der Art, wie sie sich benehmen. Es wird also bald losgehen.« Ruhig griffen die Rebellen nach ihren Waffen, während Tyler den elektrischen Zaun betrachtete. Dann schaltete er das Walkie-Talkie ein. »Ruby?« »Hier«, kam die leise Antwort. »Was ist mit der Stromversorgung?« »Ich bin im Keller bei den Sicherungskästen. Ich kann den Strom für eine Minute abstellen, aber nicht länger. Beim Kontrollpunkt vor dem Tor befindet sich ein Monitor, und wenn der Wachtposten dorthin sieht, während der Strom abgestellt ist, sind wir geliefert.«
»In Ordnung.« Tyler ergriff einen schweren Drahtschneider und gab Elias einen zweiten. Dann betätigte er erneut die Sendetaste. »Wir sind soweit. Schalten Sie den Strom ab.« In hektischer Eile schnitten die beiden Männer ein Loch in den Zaun. Sobald der letzte Draht durchtrennt war, hob Ham das Walkie-Talkie. »Alles klar, Ruby.« Caleb, Elias, Sancho, Brad, Maggie, Donovan, Chris und die anderen traten dicht an Tyler heran, um seine letzten Anweisungen in Empfang zu nehmen. »Gut. Jetzt kriechen Sie, einer nach dem anderen, durch das Loch. Alle außer Ihnen, Donovan. Sind Sie bereit?« Donovan nickte. »Sobald die Lichter ausgehen, durchbreche ich das Tor.« »Gut. Bringen Sie den Wagen in Gang, wir haben nicht viel Zeit.« Dann drehte er sich wieder zu den anderen um. »Ich möchte Sie noch einmal warnen. Wenn Sie den Draht berühren, während Sie durch das Loch kriechen, werden Sie aussehen wie zu lange gebratene Pommes frites.« Alle hatten verstanden. »Gut«, fuhr Tyler fort. »Also, kriechen Sie durch und verteilen Sie sich. Mein erster Schuß ist das Zeichen für Sie, so viele Echsen wie möglich zu erledigen, bis das Licht ausgeht. Dann packen Sie sich einen der Gefangenen und kommen mit ihm an den Rand der Landebahn, so nahe wie möglich beim Tor. Noch Fragen?« Alle schwiegen. Vorsichtig kletterten die Männer durch den Zaun und verschwanden in der Dunkelheit. Tyler ging als letzter. Ein paar Minuten später schlich auch er, etwa fünfzig Meter von der hohen Schutzmauer vor dem Hauptquartier entfernt, in die Finsternis davon. Vor der Mauer standen ein paar Autos, die Landebahn selbst war frei.
Forschend spähte er in die Dunkelheit, entdeckte jedoch keine verdächtigen Bewegungen. Entweder waren Donovans Leute wirklich so gut, wie er behauptete, oder sie hatten sich in der Schwärze verirrt. Er wußte es nicht. Plötzlich gab einer der vor dem Hauptquartier postierten Visitor-Soldaten einen lauten Ruf von sich, und die anderen Wächter bezogen eilig Stellung. An der Unterseite des Mutterschiffs war ein Lichtfleck zu sehen, der sich jedoch sogleich wieder verdunkelte, als die vergleichsweise kleine Patrouillenfähre aus dem Landedeck glitt und fast geräuschlos heranschwebte. Also, macht euch bereit, dachte Ham. Einen Augenblick später war die Fähre gelandet. Die Luke öffnete sich, und Diana und Steven kletterten heraus. Ihnen folgten einige verstört wirkende Gefangene, die von den Visitor-Soldaten eskortiert wurden. Als erste betrat Juliet den Boden, und neben ihr ging Martin. Tyler sah, wie die blonde Frau stolperte und der Visitor-Offizier schnell ihren Arm ergriff, um sie zu stützen. Das ist das Zeichen, dachte Ham und zielte sorgfältig. Als er abdrückte, griff sich Martin ans Bein, stürzte zu Boden und riß Juliet dabei mit sich. Energieblitze durchzuckten die Nacht, und Schüsse peitschten. Einige Visitor-Soldaten gingen zu Boden, und andere feuerten in die Dunkelheit. Ham blickte sich suchend nach Diana um, doch er konnte sie nicht entdecken – diese verdammte schuppige Hexe scheint unverwundbar zu sein, dachte er und feuerte weiter. Als die Visitor-Soldaten sich neu zu formieren begannen, schaltete er das Walkie-Talkie ein. »Hallo, Ruby, es geht los.« Kurz darauf vernahm er vom Keller her dumpfes Krachen, und dann gingen die Lichter aus. Tyler hörte das Bersten des Tores, als Donovan es mit dem schweren Lkw durchbrach.
Dann war er auf den Beinen und lief in Richtung des vereinbarten Treffpunktes. Die Nacht war erfüllt vom pulsierenden Zischen der Laser, als Tyler über die Landebahn rannte. Dabei stieß er fast gegen einen verstört aussehenden, älteren Mann. Er packte ihn am Arm und zerrte ihn mit sich. (Erst später, als er den Mann genauer ansah, stellte er fest, daß er den Bürgermeister von Los Angeles gerettet hatte.) Nur seinem Gehör folgend stürzte er mit dem Mann durch die Dunkelheit auf den Lkw zu – entweder wollte Donovan den Visitors absichtlich keine sichtbare Zielscheibe bieten, oder die Scheinwerfer waren bei dem Feuerwechsel zerstört worden. Beim Wagen angekommen, schob er den Mann in den Laderaum des Lkw, wo auch Juliet Parrishs blonder Schopf zu sehen war. Dann kletterte er hastig zu Donovan ins Führerhaus. Die Luft war noch immer erfüllt von jenem gräßlichen Fauchen, mit dem sich die Waffen der Visitors entluden. Donovan wendete den Wagen, gab Gas und fuhr los, während Maggie und Elias hereingezerrt wurden, die sich bis dahin außen am Fahrzeug festgehalten hatten. Als der dahinrasende Wagen gegen den Torpfosten stieß, zuckte Tyler erschrocken zusammen. »Haben wir sie?« schrie Donovan über den Motorenlärm hinweg. »Es lief alles unheimlich glatt. Ihre Leute haben gut gearbeitet.« Als er den Reporter von der Seite her ansah, entging ihm die Erleichterung nicht, die sich auf Donovans Gesicht ausbreitete – selbst im schwachen grünen Licht der Armaturenbrettbeleuchtung war das deutlich zu erkennen. »Meinen Sie nicht, Sie sollten die Scheinwerfer einschalten, mein Freund?« fragte er sanft.
»Oh, ja.« Hastig holte Donovan das Versäumte nach, während der schwere Wagen holpernd über die Nebenstraße rollte. Ham grinste. »Seit Sie mit dieser Gruppe zusammen sind, haben Sie sich ziemlich verändert. Ist es nicht so, Donovan?« »Sieh einmal an, Sie haben Ihr Interesse an der menschlichen Psyche entdeckt! Wann faßten Sie den Entschluß, Psychoanalytiker zu werden?« »Sie sollten eigentlich wissen, daß ein Mann, der seit fünfundzwanzig Jahren in diesem Geschäft ist, eine gute Beobachtungsgabe haben muß. Hat er sie nicht, insbesondere, was seine Mitmenschen anbelangt, überlebt er nicht lange.« »Ich weiß nicht, was ich von Ihnen halten soll, Ham. Manchmal zeigen Sie fast menschliche Züge – dann wieder geben Sie rassistische und faschistische Pseudoweisheiten zum besten, und ich könnte Ihnen den Hals umdrehen! Wie ist das möglich?« »Eine natürliche Begabung, nehme ich an.« Ham spürte selbst, wie gezwungen seine Stimme klang, und auch Donovan entging dieser Unterton nicht. »Was bedrückt Sie?« »Ich mache mir Sorgen um Ruby.« »Warum? Wenn alles nach Plan läuft, wird sie nie mit dieser Sache in Verbindung gebracht werden. Schließlich ist sie der Nachtschicht zugeteilt worden – sie hatte also jedes Recht, dazusein.« »Ich weiß, aber ich mache mir trotzdem Sorgen. Es lief alles so glatt – ohne jeden Zwischenfall –, daß ich nicht eher beruhigt sein werde, bis ich weiß, daß Ruby nichts geschehen kann.« »Ich verstehe.«
Mit der Taschenlampe in der Hand, die sie, zusammen mit dem Plastiksprengstoff und den Zündkapseln in ihrem Putzeimer versteckt hatte, ging Ruby Engels vorsichtig durch das dunkle Kellergeschoß. Jetzt war der Eimer leer, und sie trug ihn mit der anderen Hand – sie durfte keinerlei Hinweise auf die Identität des Saboteurs hinterlassen. Sie war fast am Fuße der Kellertreppe angelangt, als die Tür aufgerissen wurde und sie vom grellen Licht einer starken Taschenlampe geblendet wurde. Oben an der Treppe stand Daniel Bernstein. Ruby sprang erschrocken zur Seite und schrie auf. Dabei ließ sie den Eimer – und ihre eigene Lampe – fallen. »Mein Gott, Junge! Wie kannst du mich derart erschrecken!« »Was machen Sie hier unten?« Ruby humpelte, scheinbar unter Schmerzen, auf die Treppe zu. »Ich war gerade dabei, die Haupthalle zu putzen, als das Licht ausging. In der Dunkelheit habe ich mich dann verlaufen, und ehe ich wußte, wie mir geschah, stolperte ich und fiel die Treppe herunter. Habe mir beinahe den Knöchel gebrochen.« »Sie lügen«, sagte Daniel und näherte sich ihr. »Ich habe Licht hier unten gesehen. Wo haben Sie die Taschenlampe versteckt?« Rubys Handgelenke wurden feucht, und sie zwang sich, nicht in Richtung der Kiste zu sehen, hinter die sie die Taschenlampe gestoßen hatte. »Ich weiß nicht, wovon du redest, Junge. Bitte gib mir die Hand und hilf mir die Treppe hoch. Es ist ein Wunder, daß ich mir nicht die Beine gebrochen habe. Und das ist die Wahrheit.« »Kenne ich Sie nicht?« Der junge Mann leuchtete ihr ins Gesicht. »Sie kommen mir bekannt vor.« Ruby kicherte und zeigte dabei das richtige Maß an Koketterie. »Mich kennen, Süßer? Ich wünschte, du hättest
mich vor dreißig Jahren gekannt! Ich habe dich noch nie gesehen. Einen so gut aussehenden Jungen wie dich würde ich nicht vergessen.« »Nein!« Im grellen Licht der Lampe sah sie, wie seine Augen schmal wurden. »Ich weiß, daß ich Sie kenne.« Er packte sie bei der Schulter und schüttelte sie. »Wer sind Sie?« Als er seine Hand von ihrer Schulter nahm, verfing er sich in ihrer ausgefransten, platinfarbenen Perücke, die dabei verrutschte. Er riß sie ihr ganz vom Kopf, und Rubys dichtes weißes Haar kam zum Vorschein. »Ich habe es gewußt!« rief er triumphierend. »Ruby Engels, die auf der anderen Straßenseite wohnte! Das verrückte alte Huhn, das davonlief und sich der Widerstandsbewegung anschloß…« Ruby gab ihren Widerstand auf. »Ja, du kennst mich.« »Und Sie haben auch die Hauptsicherung in die Luft gesprengt, nicht wahr? Wenn ich Sie überführe, wird man mich als Held feiern.« »Ja, für die Visitors magst du dann ein Held sein – aber entehrst auch den Namen deines Großvaters. Laß mich gehen, Daniel. Um seinetwillen, wenn schon nicht mir zuliebe.« Er zögerte, und Ruby glaubte, bei der Erwähnung von Abraham Bernstein einen Anflug von Schmerz auf seinem Gesicht zu erkennen. »Nein!« stieß er dann hervor. »Daniel«, sagte sie in einschmeichelndem Ton und trat dicht an ihn heran. »Ich kenne dich von klein auf. Denk doch nur daran, wie du immer zu mir gekommen bist, wenn ich Lebkuchen gebacken habe. Du standst draußen vor der Glastür und hast gewartet, bis ich sie aus dem Ofen nahm. Ich habe sie für dich immer mit kleinen Gesichtern verziert, Danny, mit lustigen, kleinen Gesichtern.« Sie sah, wie er mit sich kämpfte.
»Du warst ein lieber Junge damals, Danny. Solltest du dich derart verändert haben? Jemanden verraten, der gut zu dir und ein Freund deines Großvaters war? Das glaube ich nicht.« »Hören Sie auf!« Seine Stimme schwankte, gewann dann jedoch an Sicherheit und Selbstbewußtsein. »Hören Sie auf! Ich warne Sie!« Drei Schritte… Oh, Gott, laß mich hier rauskommen. Laß mich meine Freunde wiedersehen. Laß mich erfahren, was aus unserer Aktion wurde…Ist es gelungen, Juliet zu befreien? Vier Schritte… fünf… bitte, lieber Gott… sechs Schritte… Der Schuß traf sie voll in den Rücken. Ruby erstarrte, hörte das jähe Zischen der Waffe und konnte einen endlosen Augenblick lang nicht begreifen, warum ihre Hände sich nicht am Geländer festhalten wollten. Sie fiel… Ich falle… Ein brennender Schmerz durchfuhr ihren Rücken, als ihr Körper zur Seite glitt. Dann spürte sie, daß sie – im Zeitlupentempo, wie sie glaubte – die Treppe herunterstürzte. Hilf mir, Gott, bitte… Sie schlug auf dem Zementboden auf und blieb regungslos liegen; sie wollte Atem holen, doch es gelang ihr nicht. Der Schmerz war zu umfassend, übermächtig. Er hatte die Welt um sie herum ausgelöscht und jetzt sie selbst. So einfach war das. Sie fühlte, wie er nach ihr griff… sie mit elementarer Gewalt zerschmetterte… Instinktiv versuchte sie, Luft zu holen, doch der Schmerz schnürte ihr den Hals zu, breitete sich in ihrem ganzen Leib aus und zerfraß sie innerlich. Er schleuderte sie in eine Finsternis, in der es nichts gab, noch nicht einmal Schmerz. Als Daniel Bernstein über sie hinwegsprang, um seine Freunde zu benachrichtigen, war Ruby Engels tot.
27. Kapitel
Juliet Parrish und Mike Donovan starrten zu dem riesigen Mutterschiff empor, das kaum dreihundert Meter über den Wipfeln in der Luft hing. Von der gewaltigen Masse baumelte – wie eine bizarre Nabelschnur – ein Schlauch von ungeheuer großem Durchmesser herunter, der unten an ein riesiges Rohr angeschlossen war. Das Rohr wiederum führte in das neben dem Stausee liegende Pumpwerk hinunter. Donovan machte eine stumme, hilflose Geste. »Martin hat also nicht gescherzt. Wie sollen wir gegen so etwas ankämpfen?« »Ich weiß es nicht.« Juliet strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich weiß es einfach nicht. Wir dürfen uns jedoch vom Ausmaß solcher Unternehmungen nicht entmutigen lassen. Je größer sie sind…« »Ja«, entgegnete Donovan, doch es klang wenig überzeugt. »Wie lange mag es dauern, bis das Reservoir erschöpft ist?« »Chris Faber hat errechnet, daß wir höchstens noch zwei Tage Zeit haben.« »Dann dürfen wir nicht länger warten. Wir brauchen die Filme von dem Pumpwerk, um unseren Angriff planen zu können.« Er sah sie besorgt von der Seite an. »Alles okay mit Ihnen, Doc?« Sie lächelte zaghaft. »Ja. Sehe ich nicht gut aus?« »Doch, doch. Sie geben einen perfekten Visitor-Techniker ab.« Langsam gingen die beiden Widerstandskämpfer auf das Pumpwerk zu.
Seit Juliets Befreiung waren zehn Tage vergangen. Während dieser Zeit hatte sie sich ausgeruht und versucht, wieder neue körperliche und geistige Kraft zu schöpfen. Der tiefe Schmerz um Ruby Engels Tod trug nicht gerade zu ihrer Genesung bei. Lynn und Stanley Bernstein hatten berichtet, daß ihr Sohn Daniel sich im Alkoholrausch damit gebrüstet hatte, Ruby Engels getötet zu haben. Für sie alle war Ruby Engels Tod ein schwerer Schlag gewesen, denn sie war allgemein beliebt und bewundert worden. Selbst Robin, die sonst kaum noch auf irgend etwas reagierte, hatte tagelang geweint. Als Ham Tyler von Rubys Tod erfuhr, schwieg er lange Zeit und mied die Gesellschaft der anderen. Nie zuvor hatte Donovan eine derartige emotionale Reaktion bei ihm gesehen. Seine Trauer führte schließlich zu einer wilden Entschlossenheit, die Visitor-Bewegung zu vernichten, und Donovan befürchtete sogar, Ham könne mit dem Gedanken spielen, sich persönlich an Daniel zu rächen. Einer der wenigen Lichtblicke der letzten Woche war Ham Tylers Geschenk an die Gruppe gewesen: die Erfindung eines japanischen Rundfunkingenieurs – kleine Apparate, die der Stimme ihres Trägers – an dessen Brust geheftet – jenes seltsame Nachhallen der Stimmen der Visitors verlieh. Eine zweite gute Nachricht war aus dem Mutterschiff herausgeschmuggelt worden – Martin erholte sich erfreulich schnell von der Fleischwunde, die Ham ihm während des Überfalls zugefügt hatte. Als sie beim Pumpwerk angekommen waren, gingen sie einmal ganz um die Anlage herum, und Donovan filmte die Außenseite des Werkes mit einer winzigen Videokamera, die ebenfalls Ham besorgt hatte. Am Eingang blickte sie der wachhabende Visitor-Soldat mißtrauisch von oben bis unten an. »Identifikation!« sagte er brüsk.
Mit Hilfe ihrer Stimmapparate nannten sie den Identifikationscode, den die Fünfte Kolonne ihnen gegeben hatte. Der Wachtposten nickte. »Ausweise?« Sie zeigten sie ihm. Der Soldat prüfte sie und senkte das Gewehr. »In Ordnung.« In der Anlage sondierten die beiden Widerstandskämpfer schnell das Terrain. Sie wagten es nicht, sich zu lange dort aufzuhalten – als sie zum zweiten Mal an einem der Techniker vorbeikamen, sah der Visitor sie erstaunt an. Nachdem sie das Netz von Laufplanken und Gängen gefilmt hatten, das sich wie ein Spinnennetz von einer massiven Turbine zur nächsten spannte, machten sie sich hastig auf den Rückweg zum Ausgang. Als sie wieder draußen und ein gutes Stück von der Anlage entfernt waren, blieben sie stehen, und Donovan schwenkte die Kamera schnell über die umliegende Berglandschaft. Nachdenklich blickte Juliet über das weite Land. »Wir sollten die Anlage einmal systematisch im Kreis umgehen und eine genaue Skizze anfertigen, Donovan. Es wäre sehr gut, wenn wir einen zweiten Fluchtweg fänden.« Donovan zuckte die Achseln. »Sie sind der Boss. Wenn Sie sich stark genug fühlen – ich bin bereit.« »Mir geht es gut«, entgegnete sie schroff. »Also gehen wir.« Beinahe eine Stunde lang schon hatten sie das Gelände durchwandert, als sie an einen alten Pfad kamen. Es handelte sich dabei um kaum mehr als einen Reitweg, doch das war besser als gar nichts. »Warten Sie einen Augenblick, Donovan. Ich möchte den Weg eintragen.« Sie zog ihre Übersichtskarte heraus und begann eifrig, den Pfad einzuzeichnen. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß Donovan sie – nein, ihre Hand – anstarrte. Ihre linke Hand. Sie zeichnete mit der linken Hand!
Sie bohrte den Bleistift so heftig in das Papier, daß die Spitze abbrach. Dann starrte sie lange auf ihre eigene Hand. »Oh, Gott, Donovan. Sehen Sie mich an. Ich bin einer von ihnen!« Er trat dichter an sie heran und musterte sie besorgt. »Nein, das sind Sie nicht, Doc. Sie sind völlig in Ordnung, seit Sie wieder hier…« »Nein, das bin ich nicht.« Juliets Stimme wurde zu einem Schluchzen, und es kostete sie sichtlich Mühe, die Fassung wiederzugewinnen. »Ich habe es mir nur nicht anmerken lassen, das ist alles. Dies ist nicht das erste Mal, daß ich mich dabei ertappe, wie ich die linke Hand benutze, Donovan. Diese Hexe – sie hat meinen Geist verwirrt. Es könnte sein, daß ich uns alle verrate und es nicht einmal merke. Ich sollte verschwinden, bevor ich Schaden anrichte.« »Blödsinn! Wir brauchen Sie! Das einzige, was die Gruppe während Ihrer Abwesenheit zusammengehalten hat, war der Gedanke daran, wie wir Sie befreien könnten.« »Ich weiß nicht.« Sie strich sich das Haar aus der Stirn und hob dann entschieden den Bleistift mit der rechten Hand auf. Die Spitze war natürlich immer noch abgebrochen. Ruhig zog Donovan sein Taschenmesser heraus und spitzte den Stift an. Nachdem sie den Weg eingezeichnet hatte, beschlossen sie, ihren Rundgang um das Pumpwerk fortzusetzen und schließlich nach dem Lieferwagen zurückzukehren, den sie in der Nähe des Tores versteckt hatten. Nach einem etwa halbstündigen Fußmarsch kamen sie an ein Feld mit Senfgras, das mit seiner kräftigen Farbe in erfreulichem Kontrast zu der braungelben Eintönigkeit des Grases stand, das in der Nähe des Pumpwerks wuchs. Sie waren jetzt so weit von der Anlage entfernt, daß nicht einmal mehr das Donnern der Turbinen zu hören war. Es herrschte eine wohltuende, nur vom leisen Rascheln des Grases unterbrochene Stille. Juliet ging noch ein paar Schritte weiter
und ließ sich dann unvermittelt ins Gras fallen. »Das wär’s. Ohne eine Pause gehe ich keinen Schritt mehr weiter. Haben Sie die Flasche bei sich?« »Ja.« Donovan ließ sich neben sie auf den Boden sinken und gab ihr das Wasser. Juliet trank in hastigen Zügen und gab ihm dann die Flasche zurück. »Ich bin völlig außer Form«, sagte sie und streckte sich im Gras aus. »Diese Wochen auf dem Mutterschiff fordern jetzt ihren Tribut. Ich könnte keinen einzigen Hügel mehr hochklettern, selbst wenn Diana mit der ganzen Flotte auftaucht.« »Ich bin auch fix und fertig.« »Donovan?« »Ja?« »Es war mir ernst, als ich sagte, daß ich mich… irgendwie seltsam fühle.« Sie rollte sich auf die Seite, stützte den Kopf in die Hand und sah ihn eindringlich an. »Es könnte sein, daß sie mich konvertiert haben.« »Würden Sie das nicht merken? Sie kommen mir jedenfalls nicht verändert vor.« Sie versuchte, sein Grinsen zu erwidern, doch der Versuch mißlang. »Ich weiß es nicht. Meine Erinnerung an die letzten paar Sitzungen ist ziemlich verschwommen.« »Wie war das? Wie hat Diana es gemacht?« Sie sprach sehr leise, und am Klang ihrer Stimme merkte Donovan, daß sie noch nie mit jemandem darüber gesprochen hatte. »Die Visitors haben die Möglichkeit, alle Gedächtnisspeicher des menschlichen Gehirns zu aktivieren und Assoziationen zu Phantasievorstellungen zusammenzufügen. Ich vermute, sie benutzen dabei auch Drogen, um den Widerstandswillen zu brechen. Sie konfrontieren ihre Folteropfer mit deren ureigensten Angstpsychosen.«
Sie rollte sich wieder auf den Rücken und starrte in den von kleinen Wölkchen überzogenen Himmel – auf den Bereich des Firmaments, der nicht vom Mutterschiff verdeckt war. »Ich wurde in einsame Gebäude gejagt; Männer verfolgten mich. Ich versuchte, mich zu verstecken, doch sie fanden mich. Sie fanden mich jedesmal. Manchmal…« Sie schluckte, und Donovan konnte sehen, wie ihr Kehlkopf sich bewegte. »Manchmal befand ich mich in einer Art Abwasserkanal, und ich versuchte, mich mit den Händen an den Wänden entlangzutasten. Und die Wände erwachten zum Leben…« Donovan stöhnte leise, und Juliet setzte sich auf und sah ihn an. »Ja, es war wirklich schlimm. Das Schlimmste jedoch war, es zu durchleben – wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will.« »Ja«, murmelte er, ergriff eine Handvoll Gras und blickte den in der sanften Brise davonfliegenden Halmen nach. »Was immer auch mit Ihnen da oben geschehen ist, Julie, Sie haben Zweifel. Und das bedeutet, daß Sie nicht völlig konvertiert worden sein können.« »Das wäre dasselbe, als wenn eine Frau sagt, sie sei nur ein bißchen schwanger – entweder sie ist es, oder sie ist es nicht.« »Die Visitors haben Ihr Gehirn ein wenig durcheinandergebracht, Julie, das ist alles. Solange Sie keinen Kontakt mit ihnen haben, haben sie keine Gewalt über Sie.« Julie schwieg lange Zeit und deutete dann in Richtung des Stausees, den sie jetzt nicht mehr sehen konnte. »Der See ist bereits leer– haben Sie es bemerkt?« »Ja.« »Als nächstes kommen die Weltmeere dran«, fuhr sie mit beinahe gleichgültiger Stimme fort – doch als Donovan sie ansah, erkannte er Tränen in ihren Augen. »Nein«, widersprach er, setzte sich auf und legte ihr den einen Arm um die Schultern. »Das verhindern wir.«
Sie schluckte. »Vielleicht ist das sogar möglich – aber nur dann, wenn ich den Visitors nicht gegen meinen erklärten Willen in die Hände spiele.« »He…he, Doc. Ich passe auf Sie auf, falls Sie das beruhigt.« Sie sah ihn offen an. »Ich habe eigentlich das Gefühl, daß Sie das ohnehin schon getan haben.« »Tatsächlich?« Plötzlich war er sich deutlich bewußt, daß sich etwas geändert hatte – sie hatten die unsichtbare Barriere, die zwischen Mann und Frau stand, überschritten, eine Schwelle, die man erst bemerkte, wenn man sie überwunden und hinter sich gelassen hat. »Ja«, erwiderte sie. »Ich wollte nicht, daß… Sie es bemerken.« Er räusperte sich, begann von neuem: »Sie waren so fertig. Dann kam noch die Sache mit Ruby, und…« Er zögerte. »Ich wollte nicht, daß Sie…« Hilflos brach er ab und starrte sie an. »Das ist das erste Mal, daß ich Sie habe stottern hören«, sagte sie lächelnd. »Wirklich?« »Ja«, erklärte sie bestimmt. Dann küßte sie ihn sanft auf den Mund. Ein paar Sekunden später wich Juliet errötend zurück, und es funkelte in ihren Augen. »Schön«, sagte sie, ein wenig außer Atem. »Sie haben einige Erfahrung, Donovan.« Er griff in ihr Haar und löste das Band, mit dem sie es am Hinterkopf zusammengebunden hatte. Wie ein filigraner Schleier glitt es an seinen Händen entlang. »Wann, um alles in der Welt, wirst du mich endlich Mike nennen?« »Das habe ich schon einmal getan«, erwiderte Juliet und berührte ihn behutsam an der Wange. »Wann?« »Als ich an Bord des Mutterschiffes glaubte, dich tot vor mir auf dem Boden liegen zu sehen. Wenn irgend etwas mich aus
diesem Grauen aufgerüttelt hat, so der Gedanke, du seist tot.« Sie zögerte und fuhr dann, noch jetzt bei der Erinnerung an diesen schrecklichen Augenblick erschauernd, fort: »Ich glaube, bis zu diesem Augenblick habe ich es selbst nicht gewußt.« »Julie.« Er küßte sie, dieses Mal drängender, fordernder, fühlte, wie ihr warmer, weicher Mund sich unter seinen Lippen öffnete wie eine Blume. Er zog sie an sich, und seine Hände suchten nach den versteckten Verschlüssen der VisitorUniform.
Als Juliet aufwachte, stellte sie fest, daß sie ziemlich lange geschlafen haben mußte. Der Stand der Sonne hatte sich verändert, und die gespannte Haut an ihrem verlängerten Rücken sagte ihr, daß sie einen Sonnenbrand bekommen würde. Donovan schlief noch immer; er lag auf dem Rücken und schnarchte leise; die Arme hatte er noch immer fest um ihren Körper gelegt. Juliet lächelte und schmiegte sich an ihn. Es war so friedlich hier, daß ein Sonnenbrand ihre stille Freude nicht trüben konnte. Nur noch ein paar Minuten, dachte sie und fühlte, wie eine wohlige Wärme ihren Körper durchströmte. Es ist so verdammt lange her, daß ich gespürt habe, daß ich lebe – daß ich eine Frau bin. Ihre Hände lagen auf Donovans Bauch, und lange Zeit genoß sie einfach nur, wie sich seine Brust hob und senkte. Sie fühlte seine glatte feste Haut, das seidenweiche Kitzeln der Brusthaare an ihren Handflächen. Dann plötzlich wachte er auf. Juliet sah zu ihm hoch. »He, Mike«, sagte sie mit breitem Grinsen. »Lange nicht gesehen.«
»Wie lange habe ich geschlafen?« murmelte er und zog sie enger an sich. »Weiß ich nicht. Deine Uhr liegt irgendwo hinter mir. Aber nach dem Sonnenstand zu urteilen, sollten wir uns wohl langsam auf den Heimweg machen.« Er blickte auf die Uhr. »Großer Gott!« sagte er. »Wir haben doch tatsächlich zweieinviertel Stunden lang geschlafen.« Juliet stützte sich auf den Ellenbogen. »Es ist verdammt gut, daß Diana nicht zufällig hier aufgetaucht ist. Es wäre ziemlich peinlich gewesen, nackt gefangengenommen zu werden.« Lachend zog er sie zu sich herunter und küßte sie, so als hätten sie alle Zeit der Welt. Juliet beugte sich ihm entgegen. Ihre Arme schlossen sich um seine Schultern, doch als er sie auf den Rücken rollte, wich sie plötzlich zurück. »Was ist los?« fragte er und sah sie besorgt an. »Ach, nichts«, erwiderte sie. »Ich wünschte mir nur, ich hätte die verdammte Uniform angezogen, bevor ich eingeschlafen bin. Ich habe einen Sonnenbrand.« Er begann zu lachen, und sie schnitt eine Grimasse. »Lach nur, Donovan. Ihr dunkelhaarigen Typen habt keine Ahnung, was es bedeutet, einen Sonnenbrand zu bekommen.« »Nein«, stieß er lachend hervor. »Aber ich bin voller Mitgefühl, wirklich.« »Alles, was du empfindest, ist…« Hastig unterbrach er sie: »Nein, ehrlich! Ich habe mir gerade vorgestellt, was sie wohl denken werden, wenn wir – um Stunden zu spät – mit roten Nasen nach Hause kommen und du nicht auf deinem Hintern sitzen kannst. Vermutlich hält man mich für einen Lustmolch.« Er lachte erneut. »Ja, wirklich«, sagte Juliet. »Ich muß dabei insbesondere an Pater Andrew denken. Tja, manchmal ist es alles andere als angenehm, dauernd mit vielen Menschen auf engstem Raum zusammenzuleben, nicht wahr?«
»Allerdings«, sagte er. »Ist dir aufgefallen, daß wir kein einziges Doppelbett im Hauptquartier haben?« Juliet überlegte. »Da müssen wir uns etwas einfallen lassen.«
28. Kapitel
Der Überfall auf das Pumpwerk wurde zu einem Erfolg, über den die Widerstandskämpfer sich nur mit halbem Herzen freuen konnten. Es gelang ihnen zwar, die technische Anlage in die Luft zu sprengen und einen großen Teil der Spezialeinrichtungen zu zerstören sowie einige von Pamelas neuen Technikern zu töten – aber während der Kämpfe verloren sie Brad. Der junge Mann starb in dem wilden Gedränge auf dem Weg zum Ausgang, den die Widerstandskämpfer erreichten mußten, ehe die Sprengladung, die sie angebracht hatten, in die Luft ging. Mit gebrochenem Bein lag er auf einer der Laufplanken und konnte nicht herunterklettern. So blieb er liegen und gab den letzten, davonstürzenden Kameraden Feuerschutz. Trotz seiner Proteste wollten Maggie und Sancho ihm zu Hilfe eilen, doch nach einem letzten langen Blickwechsel mit dem Ex-Polizisten befahl Ham Tyler ihnen mit vorgehaltener Pistole, den Weg fortzusetzen. Eine beklommene Atmosphäre der Resignation breitete sich danach im Lager der Widerstandsbewegung aus – mühsam quälten sich die Rebellen durch jeden einzelnen Tag, so als seien die Stunden Feinde, die es ebenso zu bekämpfen galt wie die Visitors. Schließlich begannen sie, in albernen Ablenkungen Zuflucht zu suchen – ein paar Tage lang waren derbe Witze an der Tagesordnung, dann sahen sie sich billige Filme auf dem Videorecorder an. Bei einer Flasche Liebfrauenmilch und einem Joint, den sie sorgfältig vor Pater Andrew versteckt hielten, ließen Donovan und Juliet eines Abends gleich zweimal den Schinken »Der Angriff der
Killertomaten« über sich ergehen. Auch Schnulzen fanden ihre Anhängerschaft unter den Leuten, die keiner geregelten Arbeit nachgingen. Polly Maxwell hämmerte wild an die Tür des kleinen Schlafzimmers Juliets, in dem es jetzt infolge des neu aufgestellten Doppelbetts noch enger geworden war. »Mr. Donovan! Mr. Donovan!« Mit nackter Brust und bloßen Füßen öffnete Donovan die Tür. »Was ist?« »Kommen Sie schnell zum Fernseher!« Sie stürzte davon. »Was ist los?« Juliet saß an ihrem Schreibtisch und versuchte, das Bellamy-Scheckbuch, das Mike in heilloses Durcheinander gebracht hatte, zu entwirren. »Weiß ich nicht, aber es klingt, als ginge es um etwas Wichtiges.« Er zog sich ein Hemd über und folgte Polly zusammen mit Juliet durch den Flur. Sie fanden den größten Teil der Gruppe im Gemeinschaftsraum versammelt. Die Männer und Frauen starrten gebannt auf den Fernseher, wo gerade irgendein Film lief. Donovan blieb in der Tür stehen. »Was gibt es?« »Das werden Sie gleich sehen, Mr. Donovan. Sie zeigen es vor jeder Werbung«, sagte Josh Brooks und blickte zu ihm auf. »Setzen Sie sich und warten Sie.« Mike setzte sich auf einen der wackeligen Stühle, und Juliet blieb neben ihm stehen. Wenige Minuten später brach der Film mit einem lauten Orgelcrescendo ab, und Dianas Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Dies ist eine Sondermeldung der Visitors«, sagte sie. Die Kamera fuhr zurück. Jetzt war Diana ganz zu sehen. Auf ihrem Schoß saß ein Kind. Donovan erstarrte – es war Sean. Sanft strich Diana dem Jungen über das Haar. »Wir bitten die Bewohner von Los Angeles um ihre Mithilfe. Dieser kleine
Junge hier kam ins Hauptquartier der Visitors, um seinen Vater zu suchen. Wir wären ungeheuer dankbar, wenn Sie uns helfen könnten, den Vater zu finden.« Das Bild verblaßte; Augenblicke später war auf dem Bild eine winzige, vor einem riesigen Toilettenbecken stehende Frau zu sehen. Angewidert stellte Donovan das Fernsehgerät ab. »Was wollen Sie jetzt machen, Mr. Donovan?« fragte Josh. »Ich weiß es nicht, Josh«, antwortete Mike langsam. Unruhig spielten seine Hände mit Seans Baseballkappe, die er wie einen Talisman stets bei sich trug. »Nun, ich nehme an, Diana will uns auf diese Weise mitteilen, was sie will. Wahrscheinlich wird es auch bis zur Fünften Kolonne durchsickern. Ich spreche morgen mit Martin darüber.« Fran Leonetti sah ihn fragend an. »Was, glaubst du, will sie?« »Keine Ahnung. Wahrscheinlich meinen Kopf auf einem Silbertablett.« Juliet sagte nichts dazu und strich nur sehr sanft und liebevoll über Donovans Nacken.
»Nun, wie ist die Lage?« fragte Elias, als Donovan am nächsten Tag von seinem Treffen mit Martin zurückkam. Donovan saß am Konferenztisch und bekritzelte den vor ihm liegenden Notizblock über und über mit einem V. »Diana hat alle Besatzungsmitglieder des Mutterschiffes von Los Angeles informiert«, erwiderte er und sah nicht auf. »Wenn wir ihre Forderungen nicht erfüllen, wird sie Sean töten – damit droht sie jedenfalls.« »Sie würde kein kleines Kind umbringen«, meinte Maggie und blickte sich, Zustimmung heischend, um. »Oder doch?« Ihre Stimme verlor sich.
»Diese Echsen wären zu allem bereit, um zu erreichen, was sie wollen«, erklärte Elias. »Und was wollen sie, Mike?« »Mich. Im direkten Austausch. Wir nennen Ort und Zeitpunkt. Sie bringen Sean und lassen ihn frei. Und ich gehe mit ihnen.« »Mist!« Elias sprach aus, was sie alle dachten. Lange Zeit sagte niemand ein Wort. Schließlich strafften sich Donovans Schultern. »Ich glaube nicht, daß sie ihn töten werden«, sagte er langsam. »Sie brauchen meine Mutter als Pressesprecherin, und Eleanor würde – so korrupt sie auch sein mag – nie zulassen, daß sie ihren Enkel töten. Sie würde nicht dulden, daß sie Sean weh tun. Ich werde es nicht tun.« »Auf keinen Fall, Mike.« Juliet ergriff sein Handgelenk. »Ich weiß, was dich diese Entscheidung gekostet hat.« »Überschätzen Sie Eleanors Wert für sie nicht, Mike«, sagte Robert Maxwell und schüttelte den Kopf. »Diana würde nicht zögern, Eleanor Dupres aus dem Weg zu räumen, wenn sie ihnen zur Last wird.« »Robert hat recht«, pflichtete Elias ihm bei. »Diese Dame ist kalt wie Eis. Sie würde Sean aus purem Trotz umbringen.« Donovan sah in die Runde. »Ihr wißt, was sie mit mir machen wird. Bestimmt bringt sie mich sofort in ihre verdammte Konvertierungshalle. Oder in diese Folterkammer mit der Lötlampe. Oder sie läßt mir eine Art Wahrheitsserum injizieren. Ich weiß einfach zuviel. Wenn sie mich zum Reden bringt, könnte ich alles zerstören, wofür wir gearbeitet haben.« Er schwieg nachdenklich. »Doch es gibt einen Weg«, fuhr er dann fort und verzog das Gesicht. »Ich wünschte allerdings, der Gedanke wäre mir nie gekommen.« Nervös trommelte er auf die Tischplatte, dann hob er die Augen und blickte ruhig in die Runde. »Ich könnte Gift nehmen«, erklärte er.
Dann wandte er sich an Juliet. »Gibt es ein Gift, das ich kurz vor dem Austausch einnehmen könnte und das so wirkt, daß ich noch aus eigener Kraft zu ihnen gehen kann, dann jedoch sterbe, bevor sie irgend etwas aus mir herausbringen können?« »Da gibt es eine ganze Reihe. Eine Überdosis Cyanid wäre das Beste – falls wir es bekommen können«, erwiderte Juliet automatisch. Dann jedoch schüttelte sie heftig den Kopf. »Was rede ich da? Das kommt überhaupt nicht in Frage! Auf keinen Fall, Donovan!« »Aber…« »Ich sagte ›nein‹, und das ist endgültig, Mike. Es gibt noch genügend andere Möglichkeiten, als daß wir zu solch drastischen Maßnahmen greifen müßten. Du vergißt Martin und die Fünfte Kolonne.« »Aber…« »Außerdem können wir dafür sorgen, daß du ihnen keine aktuellen Informationen mehr liefern kannst. Wir verlegen das Hauptquartier, ohne daß du es erfährst. Wir ändern unsere langfristigen Pläne, die Bankkonten und die Codes.« Er sah sie skeptisch an. »Wir schaffen es«, bekräftigte sie ihre Worte. »Mach die Dinge nicht noch schlimmer für uns, als sie ohnehin schon sind.« Sie hielt inne, straffte dann die Schultern und fügte hinzu: »Es ist schon schwer genug, dir zu sagen, daß du wieder auf das Schiff gehen sollst, und zu wissen, daß ich – daß wir – dich vielleicht nie wiedersehen.« »He!« Er ergriff ihre Hand. »Also gut, du hast deine Entscheidung getroffen – aber schreib mich nicht so schnell ab, Julie. Ich halte unbestritten den Rekord, was das Betreten und Verlassen des Mutterschiffes anbelangt. Vielleicht gelingt es mir noch einmal. Vielleicht kann Martin mir helfen.« »Glauben Sie?« fragte Elias ruhig. »Ich hoffe es.«
Der Austausch sollte bei Nacht auf einer abgesperrten Brücke auf der Stadtautobahn von Los Angeles stattfinden. Ham Tyler und Juliet waren Donovans offizielle Begleiter, doch vorsichtshalber hatten sie zusätzlich Sancho und Elias als Scharfschützen versteckt. Als die Lichter der Patrouillenfähre das vereinbarte Signal blinkten, ließ Ham die Scheinwerfer des Lieferwagens, den er steuerte, aufleuchten. Dann wandte er sich an Mike. »Da sind sie.« Einen quälenden Augenblick lang schwieg er, dann fügte er hinzu: »Das alles tut mir sehr leid, Donovan. Ich wünschte, ich könnte irgend etwas für Sie tun.« »Ich weiß.« Mit einem gequälten Lächeln streckte Mike ihm die Hand entgegen. »Kümmern Sie sich um Julie und die Gruppe.« Stumm verabschiedete er sich von Juliet – es gab nichts mehr zu sagen. Er küßte sie, dann drehte er sich um und machte sich auf den langen Weg über die Brücke. In der Ferne sah er eine kleine Gestalt näher kommen. Sean. Donovan beschleunigte seine Schritte und hielt wachsam Ausschau. Als er Seans Gesicht erkannte, begann er zu laufen. »Sean!« Er packte den kräftigen jungen Körper und hob ihn hoch. »Vati…« Sean hob ihm das Gesicht entgegen. »Oh, Vati…« »He…« Donovan zauste das dichte, braune Haar, das dem seinen so ähnlich war. Er brachte kein Wort heraus; sein Hals war wie zugeschnürt. Dann kam ihm ein Gedanke, und er holte die Baseballkappe aus der Tasche. »Hier. Ich habe sie für dich aufgehoben.« »Vati…« Seans Augen glitzerten feucht. »Ich muß jetzt gehen. Du siehst gut aus, Sohn. Richte Julie aus, ich hätte gesagt, du mußt zum Friseur.« Er küßte den Jungen auf die Wange und drückte ihn ein letztes Mal an sich. Dann ließ er ihn wieder herunter und ging den gleißenden Scheinwerfern entgegen.
Unmittelbar nach seiner Ankunft an Bord des Mutterschiffes wurde Donovan einer der sorgfältigsten Untersuchungen unterzogen, die er je erlebt hatte. Verglichen mit Dianas Technikern waren die Gefangenenaufseher in Kambodscha wahre Musterbeispiele an Feingefühl und Takt. Als er sich schließlich wieder ankleiden durfte und in eine Zelle gebracht wurde, taten ihm alle Knochen weh. Die Zeit verlor jede Bedeutung für ihn. Anfangs wunderte er sich, weil er nicht sofort in die Folterkammer der Visitors gebracht wurde. Nach einigen Schlaf- und Wachperioden jedoch begriff er, daß Diana viel mehr Einfühlungsvermögen in die menschliche Psyche besaß, als er ihr zugetraut hätte. Ihn ohne Licht und ohne Uhr in der Zelle alleine zu lassen, war ein äußerst wirksames Mittel, um auch den stärksten Willen zu brechen. Er hatte einfach zuviel Zeit, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was mit ihm geschehen würde. Daß die Zeit überhaupt verstrich, spürte er lediglich an seinem wachsenden Bart. Manchmal glaubte er sogar, daß das Schiff gar nicht mehr über Los Angeles schwebte, daß man ihn vergessen hatte und er sich auf dem Weg zum Sirius befand. Sein Verstand sagte ihm zwar, daß er nicht länger als höchstens ein oder zwei Wochen eingesperrt sein konnte, doch manchmal fiel es ihm schwer, daran zu glauben. Als eines Tages dann doch die Tür aufglitt, fuhr er erschrocken zusammen. Ein Visitor mit einem Essenstablett trat ein. Donovan blieb auf seiner Pritsche hocken und sah ihm mißtrauisch entgegen. Der Fremde blickte ihn ernst an. »Stört Sie das Klima hier drin?« Trotz seiner Überraschung fand Donovan sofort die richtige Antwort. »Nur in der Nacht.« »Dann müssen Sie eine Nachteule sein.«
Donovan grinste erfreut. »Es ist schön, Freunde zu haben. Hat der Oberleguan Sie geschickt?« Damit war Martin gemeint. Der Visitor nickte. »Mein Name ist Oliver. Aber ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie, Mr. Donovan.« »Wie meinen Sie das?« »Während Ihrer Gefangenschaft hier oben hat Diana ein neues Wahrheitsserum entwickelt, das – wie sie selbst sagt – idiotensicher ist. Sie wird es spätestens morgen an Ihnen erproben.« Donovan schluckte. »Das klingt gar nicht gut.« »Ja, und nach Ihrer letzten Flucht sind die Sicherheitsvorkehrungen an Bord des Mutterschiffes verdreifacht worden. Wir müßten schon eine ganze Armee aufstellen, um Sie dieses Mal herauszuholen. Doch dieses Risiko können wir wegen eines einzelnen Mannes nicht eingehen. Es tut mir leid, Mr. Donovan.« »Ich verstehe.« »Wir dürfen Ihretwegen nicht entlarvt werden.« »Auch das verstehe ich.« »Wirklich? Dann werden Sie auch verstehen, warum ich Ihnen das hier bringen soll.« Der Visitor holte eine kleine grüne Kapsel aus der Tasche. »Ich bin nicht als Ihr Scharfrichter geschickt worden, Mr. Donovan. Es ist Ihre Entscheidung.« Lange starrte Donovan auf das winzige, in Gelatine gehüllte Stück Tod. Ich brauche etwas Zeit, dachte er. Zeit, um mich von der Welt zu verabschieden, vor allem von den Menschen. Er holte tief Luft. Er streckte die Hand aus, doch gerade, als sich seine Finger um die Kapsel schlossen, wurde die Tür geöffnet. Einer von Dianas Adjutanten – nach Martins Beschreibung mußte es Jake sein – trat mit gezückter Waffe ein. Oliver wirbelte herum und
stieß dabei wie zufällig mit dem Ellenbogen gegen Donovans Hand, so daß die Kapsel herunterfiel, während seine Hand zur Pistole griff. Doch bevor er ziehen konnte, schoß Jake, und Oliver stürzte zu Boden. Donovan warf sich quer durch den Raum, und sein Blick klebte an der schillernden Kapsel fest. Gerade als er sie wieder an sich genommen hatte, trat Jake mit den schweren Stiefeln auf seine Hand. »Es tut mir leid, Mr. Donovan«, erklang von der Tür her Dianas Stimme, »aber wir können Sie nicht ohne eine letzte Beichte gehen lassen.« Wenig später wurde Donovan auf eine Vorrichtung geschnallt, die eine beunruhigende Ähnlichkeit mit dem Behandlungsstuhl eines Zahnarztes aufwies. Während einer der Techniker eine Injektion vorbereitete, lächelte Diana Donovan fröhlich an. »Sie sollten sich entspannen, Mr. Donovan. Es macht ohnehin keinen Unterschied, ob Sie sich verkrampfen oder nicht. Nach diesem Schuß werden Sie kooperativer sein, und wir werden uns nett unterhalten können.« Die Tür glitt auf, und Martin kam herein. »Hier sind die Berichte, die Sie haben wollten.« Er brach ab, als sein Blick auf Donovan fiel. Angst stand in seinem Gesicht. »Danke, Martin. Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich? Sie kennen Los Angeles sehr gut und können mir helfen, die geographischen Angaben, die Mr. Donovan mir geben wird, genau zu bestimmen.« Diana verabreichte Mike eine Injektion in den Arm. »Gern, Diana.« In steifer Haltung blieb Martin stehen, und sein Blick ruhte ängstlich auf Donovan. Lange Zeit spürte Mike überhaupt nichts – dann fühlte er, wie eine sanfte, warme Woge Körper und Geist durchflutete. Er fühlte sich ungeheuer entspannt – wie jemand, der am Morgen nach erquickendem
Schlaf aufwacht. Verwirrt bemerkte er, daß er eine Erektion hatte. Gleichgültig kontrollierte Diana seine körperlichen Reaktionen, dann nickte sie. »In Ordnung. Wie fühlen Sie sich, Mr. Donovan?« »Gut«, sagte Mike. Wozu lügen, solange es nicht nötig war? »Schön. Nun wollen wir uns ein wenig über das Wesen der Wahrheit unterhalten. Sie sind doch ein wahrheitsliebender Mensch, nicht wahr, Mr. Donovan?« »Es kommt ganz darauf an, mit wem ich rede.« Sie neigte anmutig den Kopf. »Sehr klug, wirklich. Doch die volle Wirkung des Serums ist noch nicht eingetreten. Wie lautet Ihr vollständiger Name?« »Michael Sean Donovan.« »Welch hübscher irischer Name. Ihre Mutter hat mir von Ihrem Vater erzählt und warum er Ihnen diesen Namen gegeben hat.« Sie lächelte sanft. »Und wie alt sind Sie?« 36… 36… 36… Mikes Kopf wollte zerspringen, er rang nach Worten. »Sieben… und…dreißig.« Diana schüttelte den Kopf. »Wie interessant! Sie lügen, Mr. Donovan! Ich hätte keine bessere Frage wählen können, um Sie sozusagen auf Herz und Nieren zu prüfen. Ich weiß nicht, wer von Ihnen beiden störrischer ist – Sie oder Juliet Parrish.« Die Erwähnung Juliets rief Mikes schwindende Sinne wieder in die Realität zurück. Er mußte Widerstand leisten. Unbedingt. »Und welche Farbe hat Ihr Haar, Mr. Donovan?« »Blau.« Donovans Antwort kam schnell, ohne zu überlegen. »Tatsächlich?« »Braun.« Mike zuckte zusammen, als er sich dieses Wort aussprechen hörte. Sie lächelte und fuhr ihm mit der einen Hand durchs Haar. »Ja, ein sehr hübsches Braun. Das ist viel, viel besser. Jetzt
erzählen Sie mir etwas über die Fünfte Kolonne, Mr. Donovan. Ist jemand aus dieser Gruppe hier an Bord?« »J-ja…« Aus den Augenwinkeln heraus sah Mike, wie Martin ihn beschwörend ansah. »Das wußte ich bereits. Aber ich würde gern etwas anderes in Erfahrung bringen. Wer ist der Anführer, Mr. Donovan?« Schweiß lief über Mikes Gesicht, als er sich krampfhaft bemühte, die Lippen zusammenzupressen, um keinen Laut von sich zu geben. »Nnnnnn…« »Wer ist der Leiter der Fünften Kolonne, Mr. Donovan?« Donovan rang nach Luft, und dann war es geschehen. »Martin«, kam es über seine Lippen. Martin hatte den Laser schon gezogen, als Diana sich fassungslos nach ihm umdrehte. Mit gezogener Waffe sprang Dianas Techniker auf Martin zu, doch der war schneller. Er duckte sich hinter Mikes Stuhl und schoß zuerst. Der Visitor ging zu Boden, und Martin gab einen weiteren Schuß auf Diana ab, die gerade auf den Gang floh. Martin stürzte hinter ihr her und schloß die Innentür ab. Nachdem er Donovan, der die Welt in diesem Augenblick durch einen rosaroten Schleier sah, losgebunden hatte, öffnete er hastig das Gitter zu einem Luftschacht. Dann hob er Donovans schlaffen Körper hoch und schob ihn in den Schacht. Er hörte Donovans undeutliches Fluchen. »Nein, nicht wieder diesen verdammten Luftschacht, Martin… Nur ihretwegen bin ich in diesen Schlamassel geraten… ich möchte nach Hause…« Der Visitor zerrte ihn durch den Schacht, bis sie einen der höheren Gänge erreichten, in dem sie aufrecht stehen konnten. Jetzt kicherte Mike. »Sie sind wie ein Stein, Mike«, sagte Martin und zog sich Donovans Arme über die Schultern. »Können Sie mir nicht ein wenig helfen?« Donovan kicherte nur.
Seufzend warf Martin sich Mike über die Schultern und hastete, so schnell er konnte, durch die niedrigeren Gänge. Plötzlich hörte er ein rasselndes Brummen hinter sich und blickte sich suchend um. Wieder das Geräusch… und noch immer hinter ihm! Plötzlich begriff er, und er wußte nicht, ob er lachen oder fluchen sollte. Dann eilte er, begleitet von Donovans friedlichem Schnarchen, weiter durch den Gang.
»Julie!« Harmys Schrei kam aus dem Korridor des neuen Hauptquartiers. Juliet, die gerade in ihrem neuen Labor die Untersuchung der Leber durchführte, die sie dem Leichnam eines während eines Bombenangriffs getöteten Visitors entnommen hatte, erstarrte. »Ich komme! Was ist los?« Als sie den Säulengang erreichte, sah sie Robin entsetzt auf eine grüne gallertartige Pfütze zu ihren Füßen starren. Harmy stand neben ihr und stützte sie. »Ihre Fruchtblase ist geplatzt, Julie! Die Wehen haben eingesetzt!« Juliet legte einen Arm um die Schulter des Mädchens, das sich vor Schmerzen krümmte. »Hol Cal, Robert und Willie! Schnell!« befahl Juliet. »Ich bringe sie in das kleine Labor mit dem Untersuchungstisch.« Eine erste Analyse bestätigte Juliet, daß der Gebärmuttermund sich um zwei Zentimeter erweitert hatte. Sie konnte jetzt nichts anderes tun als warten. Robert blieb an der Seite seiner Tochter und unterwies sie in der LamazeAtemtechnik, während Juliet sich für ein paar Stunden hinlegte. Schlafen jedoch konnte sie nicht – sie befürchtete, daß ihr wohl eine lange Nacht bevorstand. Und sie irrte sich nicht. Das Fruchtwasser war kurz vor Mittag abgegangen. Bis Mitternacht hatte sich der
Gebärmutterhals kaum weiter ausgedehnt, der Fötus sich nicht gesenkt. Juliet nahm eine erneute Untersuchung vor und verordnete Robin eine halbe Dosis Demerol in der Hoffnung, daß Robin sich dadurch zwischen den einzelnen Wehen etwas entspannen konnte. Um vier Uhr früh nahm sie eine weitere Untersuchung vor und stellte dabei fest, daß der Gebärmuttermund sich noch immer nicht weiter gedehnt hatte. Robin war völlig erschöpft, ihre Augen starr und blutunterlaufen, die Stirn schweißnaß. Es gelang ihr auch nicht mehr, konsequent die Lamaze-Atmung auszuführen. Sie verkrampfte sich und war so den Wehenschmerzen hilflos ausgeliefert. Als Juliet sie um sechs Uhr noch einmal untersuchte und sich noch immer kein Fortschritt abzeichnete, blickte sie Cal voller Besorgnis an. Robin war beinahe von Sinnen vor Schmerzen, und Juliet bezweifelte, ob sie sie überhaupt hören konnte. Trotzdem ging sie mit Cal in die andere Ecke des Raumes. »Es dauert jetzt schon sechzehn Stunden, Cal, und es gibt keine wesentlichen Fortschritte. Der Fötus senkt sich nicht. Ich fürchte, wir müssen einen Kaiserschnitt machen.« Er nickte. »Hast du schon einmal einem beigewohnt?« »Ja, einmal. Dr. Bradley ließ mich sogar ein wenig assistieren. Wenn nur Fred hier wäre!« »Ich werde Harmy bitten, sie vorzubereiten, während wir uns waschen.« »Okay.« Eine halbe Stunde später stand Juliet mit dem Skalpell in der Hand neben ihrer Patientin, ihr müder Blick auf Robins gelborange verfärbten Leib geheftet. »Alles bereit?« wandte sie sich an Cal und Harmy, die einsatzbereit neben ihr standen. »Ist der Inkubator fertig?« »Ja«, antwortete Harmy.
Juliet schluckte und beugte sich vor. Im letzten Augenblick bemerkte sie, daß sie das Skalpell in der linken Hand hielt, und sie nahm es hastig in die rechte. »Ich mache einen BikiniSchnitt«, sagte sie zu Cal, während ihre Hand über die frisch rasierte Schamgegend des Mädchens tastete. »So wie damals, als ich Dr. Bradley im Armenviertel half.« »Klingt gut.« Cal nickte ihr ermutigend zu, doch die Angst in seinen Augen war unverkennbar. Juliet drückte das Skalpell leicht in die Haut. Als jedoch Blut herausquoll, mußte sie sich zwingen, nicht zurückzuweichen. Sie preßte die Lippen zusammen und zwang sich, sich auf nichts anderes als diesen fünfzehn Zentimeter langen Schnitt zu konzentrieren. Entschlossen und sicher setzte sie das Skalpell an, sah, wie sich die Haut- und Muskelschichten teilten. »Tupfer, und irgendeinen Sauger. Ich muß die Gebärmutterwand finden.« Ja, da war sie. Sie senkte die linke Hand in den Leib des Mädchens, maß die Tiefe. Dann zerschnitt sie die Gebärmutter an der untersten Stelle. Jetzt erkannte sie auch das Problem. Robin war etwas zu schmal gebaut – nicht in der Breite, sondern vom Bauch zur Wirbelsäule hin. Die Wölbung, wo der Kopf des Kindes liegen mußte, ging nach hinten. »Das ist eins unserer Probleme«, erklärte Juliet. »Eine Steißlage.« »Kein Wunder, daß sie solche Rückenschmerzen hatte«, sagte Cal. »Armes Kind.« »Also gut. Hier…« Sie griff nach der Wölbung, und plötzlich hielt sie einen glitschigen, krebsroten Säugling in Händen, dessen Körper noch immer von der durchsichtigen Fruchtblase umhüllt war. »Ein Mädchen! Saugt den Schleim aus ihrem Mund ab!« Harmy befolgte die Anweisung, und das Kind begann zu schreien. »Ist alles in Ordnung mit dem Baby?« fragte Robert, der noch immer aufmerksam die Reaktionen seiner Tochter beobachtete.
»Es scheint so«, erwiderte Juliet und sah zu, wie Harmy behutsam das kleine Gesicht und den Körper des Babys abwischte. Zum Glück hielt sie das Kind dabei über den Inkubator, denn plötzlich öffnete das Baby seinen hübschen, kleinen Mund, und eine lange Reptilienzunge zuckte hervor. Harmy hätte vor Schreck beinahe das Kind fallen gelassen, doch Willie, der ihr ruhig zugesehen hatte, sprang vor und nahm ihr das Baby aus den zitternden Händen. Juliet, die sich vorstellte, wie Robin reagieren würde, wenn sie ihr Kind sah, warf Cal einen verzweifelten Blick zu. Dann spürte sie, wie Robins Bauch sich unter ihrer Hand dehnte. »Einen Augenblick, es scheint noch etwas da drinnen zu sein.« »Zwillinge?« Cal beugte sich vor. »Kein Wunder, daß so viel Bewegung in ihrem Bauch war.« Juliet griff tiefer in den Leib des Mädchens, bis ihre Hände einen Kopf umschlossen. Als sie das Baby aus der Gebärmutter herauszog, stockte ihr der Atem. »Oh, Gott!« stieß sie hervor. »Was, zum Teufel, ist das?« Das Wesen war klein, von grüner Farbe und eindeutig reptilienhafter Abstammung. An seinen Gliedern saßen winzige Krallen, und auf dem Kopf befand sich ein Kamm. Als Juliet den Kopf mit zitternden Händen fester umschloß, öffnete das Wesen die Augen – zwei blaue, sehr menschliche Augen – und starrte sie stumm an. »Oh, Gott, ich…« Juliet biß sich auf die Lippe und wandte den Blick ab. »Wie ist das nur möglich?« Zögernd übergab sie William das Wesen, der als einziger bereit war, es anzufassen. Cal stand da und starrte es fassungslos an. »Das kann nicht sein, Julie!«
»Wir haben eine Patientin, Cal«, sagte Juliet, bemüht, die in ihr aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. »Robin braucht uns. Wir können später darüber reden.« »In Ordnung, Julie.« Er drehte sich um, um ihr wieder zu assistieren. »Klammern bereit?« »Hier, Julie.« Ohne einen Blick auf die beiden winzigen Wesen zu werfen, um die sich Harmy und Willie kümmerten, setzten sie ihre Arbeit fort. Robert stand neben seiner Tochter und hielt ihre reglose Hand. Im grellen Licht der Deckenbeleuchtung schimmerten stumme Tränen auf seinem Gesicht. »Eine Patrouille, Mike! Kommen Sie zurück!« Donovan schnitt eine Grimasse, als er – nicht zum ersten Mal in den vergangenen zehn Tagen – in hüfttiefem Schlamm watete. Seine Füße glitten auf dem glitschigen Metallboden aus, und er wäre hingefallen, hätte Martin ihn nicht reaktionsschnell aufgefangen. Auf der anderen Seite des Abflußgrabens angekommen, kletterten sie auf das schmale Sims und kauerten sich nieder, als die Soldaten näherkamen. Der Schlamm war zu einem unschätzbaren, doch immer wieder Übelkeit verursachenden Zufluchtsort für sie geworden – die Visitors gingen, ohne sie zu bemerken, in der Dunkelheit des hintersten Lagerraums an Bord des Mutterschiffes an ihnen vorbei. Sie blieben noch eine Weile hocken und lauschten dem verhallenden Echo ihrer Schritte. Zitternd infolge der feuchten Kälte ging Donovan auf dem schmalen Sims hinter Martin her. Dieser zitterte nicht – die Kälte machte ihm nichts aus – , aber Donovan war aufgefallen, daß seine Reaktionen langsamer wurden, wenn er sehr lange kalten Temperaturen ausgesetzt war. Als sie den Überhang einer riesigen Pumpe erreichten, wo sie sich einigermaßen sicher fühlten, blieben sie erschöpft stehen.
Donovan schloß die Augen. Sein Körper war vor Anstrengung schweißnaß. In ein, zwei Tagen würde er nicht mehr die Kraft haben, dieses ständige Davonlaufen und Sich-Verstecken auszuhalten. »Gut, daß Sie darauf aufmerksam geworden sind, Martin. Ich war zu sehr darauf konzentriert, nach dem Tropfen von Wasser zu lauschen, als daß ich sie gehört hätte.« »Ich habe sie nicht gehört, Mike«, entgegnete Martin. »Ich spürte die Vibration ihrer Schritte auf dem Boden.« »Nun, wie auch immer; es hat uns gerettet.« Donovan lehnte sich zurück und lauschte – dann hörte er es. »Martin! Ich höre Wasser! Hier entlang!« Sie kletterten durch das Röhrenlabyrinth, in die Richtung, aus der sie das Geräusch vernahmen. Als sie ans Ziel gelangten, ließ Donovan Martin den Vortritt. »Sie haben uns gerettet. Sie verdienen es, der erste zu sein.« Mike blickte zur Seite, als Martin sich zu dem von einem feuchten Balken heruntertropfenden Wasser vorbeugte – der Anblick seiner Zunge verursachte ihm noch immer Unbehagen. Dann vernahm er das schnelle Herantrippeln winziger Füße, und er wußte, was nun geschehen würde. Als er sich umdrehte, sah er, wie Martin mit unglaublicher, unmenschlicher Geschwindigkeit vorschnellte, um die Ratte zu fangen. Quiekend zappelte das Tier in seiner Hand, und Mike sah es mitleidig an. Martin lächelte ihm zu. »Ich weiß, der Anblick verursacht Ihnen Übelkeit. Ich gehe ein paar Schritte weiter. Sie brauchen nicht zuzusehen, wie ich die Ratte esse.« »Nein, nein. Machen Sie sich deshalb keine Gedanken. Ich schulde Ihnen mehr, als ich je zurückzahlen kann. Wenn Sie mir nicht den Inhalt dieser Lebensmittelpakete Lorraines gegeben und selbst nur von dem gelebt hätten, was Sie in
diesem Sumpf auftreiben konnten, wäre ich längst tot. Ich muß mich daran gewöhnen.« Aus Rücksichtnahme Donovans empfindsamem Magen gegenüber tötete Martin die Ratte, bevor er sie herunterschluckte. »In vielerlei Beziehung sind wir Ihnen sehr ähnlich«, sagte er, »doch in manchen Dingen unterscheiden wir uns gewaltig voneinander.« »Erzählen Sie mir von der Geschichte Ihres Volkes, Martin. Mußten Sie schon immer Kriege führen, um zu überleben?« »Nein, tatsächlich gab es in unserer Geschichte viel weniger Kriege als bei Ihnen, bis unser Denker kam. Jetzt gibt es auf den Schiffen die Fünfte Kolonne und zu Hause die Allianz.« »Die Allianz? Was sind das für Leute? Interstellare Marxisten oder nur eine alltägliche radikale Bewegung?« »Sie sind gegen den Großen Denker. Man könnte sie eher gemäßigt nennen. Sie waren zum Beispiel auch gegen den Plan, die Erde zu erobern. Sie setzen sich in der Mehrzahl aus den… intellektuellen Kreisen unserer Gesellschaft zusammen. Sie haben gute Ideen, doch sie sind nicht in der Lage, dafür zu kämpfen.« »Wenn Sie sich jedoch mit der Fünften Kolonne verbündeten, in deren Reihe sich viele Militärexperten wie Sie selbst befinden…« »Ja, das könnte vielleicht zum Erfolg führen«, erwiderte Martin langsam. »Doch wozu jetzt darüber nachdenken? Sie sind Lichtjahre von hier entfernt, besitzen keine Schiffe und kaum militärische Ausrüstung.« »Dann hat es wohl auch keinen Sinn, auf das Angriffssignal zu warten.« Als Martin ihn verständnislos ansah, fügte Mike erklärend hinzu: »Sie können uns demnach nicht helfen.« »Nein«, bestätigte Martin.
»Aber vielleicht könnten Sie ihnen helfen. Wenn es Ihnen gelänge, eines der Mutterschiffe in Ihre Gewalt zu bekommen…« »Das könnte ihnen eine große Hilfe im Kampf gegen den Denker sein – doch im Augenblick sehe ich da kaum eine Aussicht auf Erfolg.« »Wir kommen hier raus«, erklärte Donovan, bemüht, selbst daran zu glauben. »Vielleicht gelingt es Lorraine, uns weitere Nahrungsmittel und auch Waffen zukommen zu lassen.« »Das letzte Mal hat sie ein ungeheures Risiko auf sich genommen, und ich sagte ihr, sie solle sich nicht noch einmal in solche Gefahr bringen.« »Sie ist sehr mutig.« »Ja.« »Alle Ihre Leute sind sehr tapfer. Kannte ich eigentlich den Burschen, der unter der Maske meines Gesichts versuchte, Diana zu töten?« »Ja, es war Barbara.« »Oh…« Donovan verspürte einen schmerzhaften Stich im Herzen, als er sich daran erinnerte, wie die junge Frau versucht hatte, ihm zu helfen. »Das tut mir leid.« Lange Zeit schwiegen sie. Donovan spürte, wie er langsam in den Schlaf hinüberzugleiten drohte, und er kämpfte dagegen an. »Was glauben Sie, wie lange wir es hier noch aushalten können?« »Ich weiß es nicht. Wenn Sie mich nicht wachgehalten und Ihre Körperwärme mit mir geteilt hätten, wäre ich wahrscheinlich schon vor Tagen erstarrt. Ich würde wahrscheinlich länger als Sie überleben, weil ich mich von den Ratten, die aus dem Labor entwichen sind, ernähren kann. Doch wenn Sie fort sind, wird niemand mehr da sein, der mich wachhält, und dann fände auch ich den Tod.« Er sah Mike an.
»Haben Sie etwas dagegen, sich eine Weile mit mir zu unterhalten? Ich muß wach bleiben.« »Ich auch«, erwiderte Mike. »Worüber wollen Sie sich unterhalten?« »Ich würde Sie – die Menschen – gern besser verstehen. Erzählen Sie mir etwas über sich. Wovor haben Sie Angst… und warum? Was haben Sie aus dieser ganzen Geschichte gelernt?« »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie es war, bevor Sie kamen. Es kommt mir vor, als sei es schon seit Ewigkeiten so«, entgegnete Donovan. »Und wovor ich Angst habe – offen gesagt, vor vielen Dingen, von denen ich einige nicht so gern zugeben würde.« Er hielt einen Augenblick nachdenklich inne. »Ja, ich fürchte mich vor dem Tod. Lange Zeit hatte ich auch Angst, in zu engen Kontakt zu anderen Menschen zu kommen. Das ist jetzt allerdings nicht mehr so.« Donovan starrte auf seine Hände und begann damit, sich den Dreck abzukratzen, der auf den Fingern bereits eine Kruste bildete. »Ich habe Angst zu versagen«, fuhr er fort. »So viel hängt von uns ab. Nicht zu versagen, war für mich schon fast zu einem Trauma geworden. Diese Angst machte mich geradezu leichtsinnig, zu einer Art Perfektionist. Wahrscheinlich ist dadurch auch meine Ehe gescheitert. Ich suchte für alles stets die Schuld bei Maggie. Wenn ich jetzt darüber nachdenke…« Seine Stimme verlor sich, und er kratzte sich nachdenklich am Bart. Nach langem Schweigen fuhr er fort: »Leute, die zuviel Macht besitzen, machen mir angst. Wie Diana zum Beispiel. Ich kann solche Leute nicht verstehen.« Martin lehnte sich gegen die relativ trockene Seite des Balkens. »Wovor haben Sie noch Angst?« »Ich habe Angst zu fallen. Oft träume ich, aus großer Höhe herunterzustürzen. Wenn ich von einem wirklich hohen Punkt
aus in die Tiefe sehe, beginnen meine Hände zu zittern, und mir wird schwindelig.« »Aber Sie sind Pilot. Sie müssen also auch das Fallschirmspringen trainiert haben.« »Ja. Zweimal bin ich gesprungen, doch davor hatte ich keine Angst. Ich mußte es tun, wenn ich fliegen wollte, und fliegen zu können, wünschte ich mir mehr als irgend etwas anderes auf der Welt. Eines Nachts erhielt ich den Auftrag zu einem Aufklärungsflug über den Versorgungslinien nach Hanoi. Ich steuerte eine U2, die sehr schwer zu fliegen ist, und die rechte Tragfläche wurde getroffen. Ich stürzte aus tausend Meter Höhe ab… und mein Fallschirm öffnete sich nicht.« »Was? Aber wieso…« »Mein Reservefallschirm funktionierte. Die Landung war ein bißchen rauh, und der Marsch zurück hinter unsere Linien war die reinste Qual. Seitdem jedoch träume ich oft von diesen ersten Sekunden, als ich fiel und mein Fallschirm sich nicht öffnete.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Ich hatte so große Angst, daß ich mir fast in die Hosen gemacht hätte.« Ein paar Minuten lang schwiegen sie beide. Als Mike bemerkte, daß Martin die Augen zufielen, stieß er ihn mit dem Fuß an. »Jetzt sind Sie dran! Wovor haben Sie Angst?« »Daß ich unrecht tun könnte, wenn ich gegen mein eigenes Volk und den Großen Denker kämpfe.« Donovan sah ihn an. »Tun Sie mir einen Gefallen. Machen Sie sich darüber nicht zu viele Gedanken, bevor wir nicht hier herausgekommen sind, ja?« Martin lächelte. »Sie wissen, daß es mir wirklich leid tut, Sie in all diese Schwierigkeiten gebracht zu haben. Wenn ich doch nur in der Lage gewesen wäre, in dem verdammten Labor meinen Mund zu halten.«
»Es war nicht Ihre Schuld. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis mich irgend jemand entlarvt hätte.« Wieder huschte eine Ratte über eins der über ihren Köpfen hängenden Rohre. Ekel stand auf Donovans Gesicht, als er hinaufblickte. Martin holte seine Pistole heraus und reichte sie seinem menschlichen Freund. Donovan zuckte die Achseln, nickte dann und erschoß das Tier. Angewidert hob er dann den versengten, kleinen Körper hoch und gab Martin die Pistole zurück. »Nun… zumindest ist sie gebraten.« »Was war das Widerlichste, was Sie je gegessen haben?« »Ich weiß es nicht. Wir haben uns gar nicht erst bemüht, das Zeug zu identifizieren, das sie uns in den Gefangenenlagern vorsetzten.« Donovan holte sein Taschenmesser heraus und begann, dem Tier das Fell abzuziehen. Nach seiner ekelerregenden Mahlzeit schlief Donovan ein, während Martin, der wußte, daß er auf keinen Fall einschlafen durfte, stundenlang im Lager herumwanderte. Dabei blieb er stets wachsam, um sich von keinem der Visitor-Soldaten überraschen zu lassen. Als er in die Nähe einer der Luken kam, entdeckte er einen kleinen Stahlkasten, der an einem Balken befestigt war. Aufgeregt öffnete er ihn und fand zwei kleine, in Plastik eingewickelte Pakete. Schnell kehrte er zu Donovan zurück. Er stieß ihn leicht mit der Fußspitze in die Seite, und Mike schlug die Augen auf. »Aufwachen, Donovan! Sehen Sie, was ich gefunden habe!« »Was…« Mike rollte sich auf die Seite; das Rattenfleisch lag ihm noch immer schwer im Magen. »Kommen Sie.« Martin forderte ihn dazu auf, ihm zu folgen. »Ich habe eine der alten Luken entdeckt«, erklärte er, während
er Donovan in die entsprechende Richtung führte. »Sie ist unser Weg in die Freiheit.« »Wovon reden Sie?« »Von einem alten, unbenutzten Fluchtsystem. Heute wird es nicht mehr verwendet, da es mehr Landedecks und Riesenshuttles gibt. Ursprünglich parkten unsere Schiffe draußen im All, doch unsere Ingenieure wußten, daß sie die meiste Zeit über an eine Atmosphäre gebunden sein würden. So entwarfen sie ein System von Luken, die sie mit Notrutschen und Fallschirmen versahen. Ich habe einen dieser Notausgänge entdeckt, und die Fallschirme sind auch noch da.« Schlaftrunken und hungrig ging Donovan hinter ihm her. Schließlich blieb Martin stehen und zeigte auf eine Luke im Deck. »Helfen Sie mir, das Rad nach oben zu drehen.« Minutenlang mühten sich die beiden ab, aber schließlich bewegte sich das Rad zischend. Schnell drehten sie es weiter, bis die Luke sich öffnen ließ. Eiskalte Luft strömte ihnen entgegen. Unter sich sahen sie traurige Wolken und weit, weit unten – wie den Grund eines Brunnens – den Boden. Aus dieser Entfernung sah er wie eine Höhenlinienkarte aus. »Hier, legen Sie das an«, sagte Martin und streifte sich die Gurte über die Arme, die an einem der Plastikpakete befestigt waren. Dann zog er aus einem an der Seite befindlichen Schlitz einen Riemen heraus und schnallte ihn über der Brust fest. »Soll das heißen, wir springen?« fragte Mike mit belegter Stimme. »Was sonst?« Martin blickte zu ihm hoch. »Aber…« »Sie müssen ihn so über die Arme legen«, erklärte Martin und ging ihm beim Angurten des Fallschirmes zur Hand, so wie man einem kleinen Kind beim Anziehen eines
Wintermantels helfen würde. »Jetzt die Bänder über die Brust.« »Ich glaube, ich träume«, stieß Mike hervor. »Bevor ich einschlief, habe ich noch darüber gesprochen, und jetzt träume ich. Wenn ich aufwache, wird mir noch immer speiübel von der verdammten Ratte sein, und alles ist nur ein Traum gewesen…« »Reden Sie keinen Unsinn, Mike! Dies ist der einzige Weg nach draußen! Es ist ein Wunder, daß ich diese Dinger überhaupt entdeckt habe – sie müssen hier schon seit über zwanzig Jahren gehangen haben.« »Großartig! Kriegen wir bei Versagen das Geld zurück? Es ist nicht einmal ein Reservefallschirm dabei.« »Sie funktionieren schon – bestimmt. Kommen Sie, Donovan! Es ist unsere einzige Möglichkeit.« »Das hat Ihr Kumpel Oliver auch gesagt, als er mir die Kapsel gab. Es bedeutet den sicheren Tod.« »Aber nein! Schließen Sie einfach die Augen, Donovan! Und dann nur ein Schritt und an der Brustschnalle ziehen. Der Fallschirm öffnet sich von selbst.« »Wir bleiben sicher mitten am Raumschiff hängen.« »Nein, die ersten tausend Meter oder so legen Sie im freien Fall zurück.« »Im freien Fall?« Schnell trat Donovan einen Schritt zurück. »Sie gehen zuerst, Martin. Ich komme nach.« »In Ordnung, Mike. Ich vertraue Ihnen, mein Freund.« Der Visitor schob sich an der Luke vorbei, so als wolle er der Aufforderung Donovans nachkommen. Als er dabei seinen Begleiter passierte, gab er ihm einen jähen Stoß. Mike verlor das Gleichgewicht und fiel in Richtung der Wolken. Als Martin Mikes Schreie der Empörung, Wut und der Angst vernahm, mußte er grinsen. »Aber nicht allzu sehr«, fügte er leise hinzu und trat, noch immer lächelnd, ins Nichts hinaus.
29. Kapitel
Wütend eilte Diana durch die Gänge des Mutterschiffs. Als sie ihren Adjutanten entdeckte, fauchte sie ihn an: »Ich habe gerade Ihre Nachricht bekommen. Wo sind sie?« Der Hauptmann senkte die Stimme. »Im Konferenzraum auf Deck 5.« Diana nahm die Mitteilung mit einem kurzen Nicken entgegen und kehrte dann wieder in ihr Büro/Labor zurück. Sie drückte auf einen hinter den Vorhängen des Schlafbereichs verborgenen Knopf und wartete ungeduldig darauf, daß die Tür aufglitt. Dahinter kam eine breite Monitorwand zum Vorschein. Sie schaltete sie ein und sah, daß die Konferenz bereits begonnen hatte – die Konferenz, von der sie nur durch Zufall erfahren hatte. John, der Oberste Kommandeur, sagte gerade: »…Sie wissen, wir haben viel zu wenig Leute hier an Bord. Ich muß soviel wie möglich an Verantwortung delegieren.« Pamela schüttelte mißbilligend den Kopf. »Sie vergessen, daß Diana kein Militärexperte ist, John, obwohl sie diese Rolle zweifellos gerne übernehmen würde. Ihre dubiose Beziehung zu unserem Großen Denker hat ihren Ehrgeiz ungeheuer angestachelt. Dabei ist sie letztlich nur Wissenschaftlerin.« Steven nickte ernst. »Unser Denker selbst hat uns vor persönlichen Machtgelüsten gewarnt.« »Ich bedaure es, das sagen zu müssen«, fuhr Pamela fort, »aber sie gefährdet Ihre ganze Flotte, John.« Diana fauchte in Richtung Bildschirm. »O ja, ich kann mir denken, wie sehr du das bedauerst!«
»Wenn man Bilanz zieht«, sprach Pamela weiter, »so muß man feststellen, daß die Mißerfolge ihre Erfolge bei weitem übersteigen. Nehmen wir nur das Fiasko im Krankenhaus. Oder die Flucht von Donovan und Parrish. Sie wird ganz einfach zu einer Last, von der wir uns trennen müssen. Außerdem kann ich mir gut vorstellen, daß Sie es leid sind, ständig ihre Fehler zu decken, John.« Als John widerstrebend nickte, schlug Diana wild mit der Hand gegen die Wand. Bedauern lag in Pamelas Stimme, als sie fortfuhr: »Weder Steven noch ich haben Spaß daran, jemanden aus Ihrem Stab in Mißkredit zu bringen.« »Nichts ist dir lieber!« fauchte Diana. »Aber es darf auf keinen Fall die Mission gefährdet werden, und deshalb hielten wir es für ratsam, uns an Sie zu wenden«, schloß Pamela. »Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit«, entgegnete John langsam. »Ich weiß, wie schwer es Ihnen und Steven gefallen sein muß, dieses Thema anzuschneiden, und ich verspreche Ihnen, über die Angelegenheit nachzudenken.« »Ich bin sicher, daß Ihre Entscheidung – wie immer sie auch ausfallen mag – richtig sein wird«, erklärte Pamela mit verbindlichem Lächeln. Diana schmetterte die Hand auf den Abschaltknopf. »Du verdämmte Hexe!« Sie wartete ein paar Minuten, bis sie sich wieder etwas beruhigt hatte, und dann machte sie sich auf den Weg nach dem Konferenzraum von Deck 5. Mit einem Lächeln auf den Lippen trat sie ein. »Ah! John! Wie schön, Sie hier zu sehen! Mein Adjutant informierte mich gerade, daß Ihr Schiff vor kurzem eingetroffen ist.« Die drei Personen im Raum waren sichtlich betreten. »Ich begrüße Sie, Diana«, sagte John. »Wir hätten Sie von unserer kleinen Konferenz unterrichtet, aber…«
Pamela half John aus der Verlegenheit, indem sie ihm ins Wort fiel: »Wir dachten, Sie hätten schon genug Verpflichtungen. Und da dies ohnehin eine militärische Besprechung war, wollte ich Sie nicht durch eine Einladung belasten.« Diana nickte lächelnd. »Natürlich. Ich bin ja schließlich auch nur Wissenschaftlerin.« Mit sichtlicher Befriedigung sah sie, wie Pamela infolge ihrer wohlüberlegten Wortwahl die Stirn runzelte. »Doch ich wollte Sie drei als Militärkommandeure dieser Mission wissen lassen, daß ich eine militärische Entscheidung getroffen habe, die meiner Meinung nach schon lange überfällig war.« Pamela lächelte ein wenig gezwungen. »Ich hoffe, nichts zu… Exotisches.« »Einem Amateur mag mein Plan vielleicht exotisch vorkommen, für den Experten jedoch dürfte er außerordentlich gut durchdacht und von grundlegender Bedeutung sein.« Sie hielt einen Augenblick inne, um dann die verbale Bombe platzen zu lassen. »Ich habe einen Spion in die Reihen der gefährlichsten Widerstandsbewegungen eingeschleust.« »Was hast du?« Steven setzte sich kerzengerade auf. »Sie haben Ihre Kompetenzen überschritten, Diana«, bemerkte John. »Ja, glücklicherweise«, gab Diana gelassen zu und wandte sich dann an Steven: »Diese Idee hätte eigentlich von dir kommen sollen, Steven. Du bist zuständig für die militärische Sicherheit.« »Du bist zu weit gegangen, Diana«, entgegnete Steven scharf. »Einen Augenblick bitte«, mischte sich John ein. »Warum haben Sie bis jetzt noch keinen Spion eingesetzt, Steven?« Als Steven mit der Antwort zögerte, ergriff Pamela das Wort: »Wir waren gerade dabei, einen solchen Plan auszuarbeiten.
Nun ist sie uns zuvorgekommen – aber für wen arbeitet dieser Spion? Für Diana – oder für uns? Wir haben eine Rangfolge in der Kommandohierarchie, die befolgt werden muß, John.« »Ja«, pflichtete Steven ihr mit einem Seitenblick auf Diana bei. »Ist das nicht der Fall, entsteht ein Chaos.« »Und nach dem Chaos – was folgt dann?« Pamela lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Revolution vielleicht.« »Moment mal!« brauste Diana auf. »Was wollen Sie damit andeuten?« »Nichts… nichts, Diana.« Pamela warf John einen vielsagenden Blick zu, als wolle sie ihn darauf hinweisen, wie schnell erregbar Diana war. »Was ich damit sagen will, ist, daß – ganz gleich, wie gut Ihre Idee mit dem Spion auch sein mag – Sie Ihre Kompetenzen überschritten haben, indem Sie Ihre Vorgesetzten nicht davon in Kenntnis setzten.« Diana setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich jedoch anders und schwieg. John blieb ebenfalls still.
Juliet Parrish unterwies gerade einige neu angeworbene Mitglieder der Bewegung in der Pflege ihrer Waffen, als Caleb Taylor hereinkam. »Stanley Bernstein ist gerade mit einer Ladung Lebensmittel eingetroffen«, erklärte er mit dem Anflug eines Lächelns. »Aha!« sagte Juliet leicht verärgert. »Brauchen Sie jemand, der Ihnen beim Hereintragen hilft?« »Ja, wir brauchen wirklich Hilfe«, erwiderte Caleb. »Er hat ein paar Delikatessen gebracht – Dinge, die wir lange nicht gesehen haben.« Juliet zuckte die Achseln. »In Ordnung.« Stanley stand neben seinem Kleintransporter. »Mögen Sie Sardinen?« fragte er Juliet.
Juliet starrte auf die beiden schmutzigen Gestalten, die sich in einer Ecke des Wagens zusammengekauert hatten. »Mike…«, flüsterte sie schließlich. Grinsend setzte Donovan sich auf. »Hallo, Doc«, sagte er. Martin kroch um ihn herum und erweckte ganz den Anschein, als genösse er es, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben – auch wenn es nicht sein Heimatboden war. »Hallo, Julie«, sagte er. »Wir sind uns nur einmal kurz begegnet, und da waren Sie nicht in sehr guter Verfassung. Ich bin Martin.« Tränen liefen über Juliets Gesicht, und Caleb und Stanley wandten sich mit zufriedenem Lächeln ab. Juliet schluckte und wischte sich mit dem Ärmel die Wangen trocken. »Da wir gerade von körperlicher Verfassung reden – was zum Teufel ist mit euch beiden geschehen? Ich bin schon Landstreichern begegnet, die besser ausgesehen – und gerochen – haben.« »Das ist eine lange Geschichte«, sagte Donovan und kletterte langsam aus dem Wagen. »Viel Spaß und Spiel sozusagen.« Schnell ergriff Juliet seinen Arm, während Caleb Martin behilflich war. Überrascht blickte Mike sich um. »Das neue Hauptquartier? San Pedro?« »Wir waren der Meinung, daß du nie auf diese Idee kommen würdest«, erklärte Juliet. »Und hier ist niemand, der etwas dagegen haben könnte.« »Sean?« »Er ist in der Schule am Ende der Straße. Wir haben ein paar Klassen eingerichtet, damit die Kinder tagsüber beschäftigt sind. Ich schicke jemanden, um ihn herzuholen.« »Warte, bis ich mich gewaschen und etwas gegessen habe«, entgegnete Donovan und setzte sich leicht schwankend in Bewegung. »Ich möchte ihn mit meinem Aussehen nicht erschrecken.«
»Laß uns hineingehen«, meinte Juliet und legte ihm den Arm um die Taille. »Zuerst sorgen wir dafür, daß du wieder sauber wirst, und anschließend untersuche ich dich.« »Das glaube ich gern«, murmelte Caleb leise, doch nicht leise genug, daß man es nicht hätte hören können. »Sie haben eine schmutzige Phantasie, Caleb«, entgegnete Juliet grinsend. »Dieser Mann braucht Ruhe.« »Ja«, gab Donovan zu, »du kannst dir nicht vorstellen, was ich durchgemacht habe, um zu dir zurückzukommen.« Im Haus hatte es sich in Windeseile herumgesprochen, daß Donovan zurückgekehrt war, und die vier mußten sich ihren Weg durch die Menschenansammlung bahnen. Irgend jemand hatte eine Flasche Champagner entkorkt, und bald war eine kleine Feier im Gange. Während sie Martin Calebs und Willies Obhut überließ, führte Juliet den schwankenden Donovan in das andere Badezimmer. »Warte einen Augenblick«, sagte sie. »Beweg dich nicht.« Kurz darauf kam sie mit zwei großen Plastiktüten zurück. »Stell dich hier drauf«, sagte sie. »Die andere ist für diese widerlichen Klamotten.« Gelassen zog sie ihm die schmutzigen Lumpen aus und stopfte sie – zusammen mit den Schuhen – in die Tüte. »Du siehst aus, als hättest du bis zur Hälfte im Müll gesteckt, Donovan.« »Das kommt der Wahrheit recht nahe«, gab er zu. »Tatsächlich war es Müll und Kloakenwasser.« »Oh, Gott! Und wie dünn du geworden bist!« Entsetzt starrte sie auf seine sich deutlich abzeichnenden Rippen. »Ja.« Er sah an sich herunter. »Ich sehe schrecklich aus.« Unter der Dusche erholte er sich so weit, daß er fragen konnte, wie die Dinge während der Wochen seiner Abwesenheit gelaufen seien. Nachdem Juliet ihm eine kurze
Zusammenfassung ihrer militärischen Aktivitäten gegeben hatte, fragte er nach Robin. »Ich habe sie letzte Woche durch Kaiserschnitt entbunden«, erwiderte sie mit hohl klingender Stimme. »Ihre Fruchtblase war geplatzt, aber die Wehen machten keine Fortschritte.« Die Ringe des Duschvorhangs rasselten, als Donovan den Wasserhahn zudrehte und den Vorhang beiseite schob. »Das arme Kind. Geht es ihr wieder besser?« Juliet reichte ihm mit bitterem Lächeln ein Handtuch. Er musterte sie aufmerksam. »Hm. Schlechte Nachrichten, nicht wahr? Ist sie in Ordnung?« »Körperlich schon. Sie kann sogar noch weitere Kinder bekommen, allerdings nur noch durch Kaiserschnitt.« Die Erinnerung an die Geschehnisse drohten sie zu überwältigen. Sie holte tief Luft und schilderte ihm die Geburt: »…danach veränderte sich das kleine Mädchen von Tag zu Tag. Jeden zweiten Tag verschlingt es alles, was wir ihm geben. Dann schläft es, und wir finden Hautschuppen in der Wiege. Mit jeder Häutung wird es größer und entwickelt sich weiter. Es ist größer und sieht älter aus als die kleine Katie.« Er schüttelte den Kopf, Wassertropfen spritzten um ihn herum. »Arme Robin! Das ist unheimlich!« Er trocknete sich mit einem Handtuch die Haare. »Aber du sagtest, es waren Zwillinge…« »Ja.« Juliet holte tief Luft. »Da war noch etwas in der Gebärmutter. Es sah aus wie ein Reptil, doch seine blaugrünen Augen wirkten sehr menschlich. Es lebte nur ein paar Stunden.« Mike trat aus der Dusche heraus, band sich das Handtuch um die Hüften und setzte sich auf den Wäschekorb. »Julie, wie ist es möglich, daß solche Zwillinge geboren werden?« »Ich weiß es nicht. Es widerspricht allen biologischen Gesetzen, die mir bekannt sind. Ich frage mich sogar, ob Diana
es erklären könnte – offen gesagt, ich glaube es nicht. Pater Andrew sagt, daß Gott unseren beiden Arten zeigen will, daß alles Leben eins ist, und das ist eine bessere Erklärung als jede andere, die Cal und mir in den Sinn gekommen ist.« »Das reptilienhafte Baby ist gestorben?« »Ja. Aber wir haben seinen Körper aufbewahrt, um einige Tests an ihm durchzuführen. Sag Robin bloß nichts davon – sie steht ohnehin kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Vorgestern entdeckte Robert ein Bakterium in seinem Darm. Obwohl es an sich harmlos ist, schied es einen Stoff aus, der das Wesen wahrscheinlich getötet hat. Als wir Elizabeth – so hat Robin das menschlich aussehende kleine Mädchen genannt – untersuchten, fanden wir es auch in ihrem Darm. Doch ihr hat es nicht geschadet.« Donovan sah sie eindringlich an. »Wenn es jedoch das andere Baby getötet hat, das mehr wie die Visitors war, so könnte es vielleicht…« Juliet nickte. »Ja, vielleicht. Wir erproben es jetzt an irdischen Reptilien, um festzustellen, wie sie darauf reagieren. In einer Woche etwa wissen wir, ob es für uns von Nutzen sein kann.« »Warum machst du dir Gedanken darüber, ob es schädlich ist oder nicht…« Er brach ab. »Tut mir leid, war eine dumme Frage. Wir können unsere Ökologie nicht noch mehr durcheinanderbringen, als sie ohnehin schon ist, nur um die Visitors loszuwerden.« »Nun, wir haben das Bakterium heute früh kultiviert und auf die Reptilien angesetzt, und bis jetzt zeigt keins von ihnen irgendeine Reaktion. Der nächste Schritt wird natürlich sein, es daraufhin zu untersuchen, ob es auf die Visitors dieselbe Wirkung ausübt wie auf das tote Kind. Wenn ja…« Sie blickte hoch und sah, wie Mike die Bedeutung ihrer Worte erkennen begann.
»Wenn es so ist und wir sicher sind, daß es auf Menschen keine schädliche Wirkung hat – dann haben wir unsere Waffe! Die Waffe, nach der wir so lange gesucht haben!« Sie nickte und bemühte sich, gelassen zu bleiben, doch es gelang ihr nicht, ihre freudige Erregung ganz zu verbergen. »Vielleicht.« Donovan stand auf und zog sie hoch. »He… Mir fällt gerade ein, daß ich nicht mehr schmutzig bin.« Juliet legte ihm die Arme um den Hals, und eine Zeitlang standen sie schweigend in dem dampfenden Raum. »Ich bin so froh, daß du wieder da bist, Mike. Es mag sentimental klingen, aber wann immer ich nicht mit etwas beschäftigt war, das meine volle Aufmerksamkeit beanspruchte, habe ich gebetet, du mögest gesund zurückkommen.« »Vielleicht war es das, was mich an jenem letzten Tag, als ich vor Hunger und Durst schier sterben wollte, davon abgehalten hat aufzugeben.« Sanft strich er ihr übers Haar und streichelte ihre Wange. »Ich zerkratze dich noch.« »Ich weiß nicht… irgendwie gefällt mir der Bart«, entgegnete Juliet. Lange Zeit schwieg Mike, hielt sie nur in seinen Armen. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme fast verlegen. »Ich war nie sehr religiös, doch während der langen Zeit meiner Abwesenheit habe ich ebenfalls für ein Wiedersehen mit dir gebetet.« Er hielt inne und zog sie enger an sich. »Vielleicht wird es nach all dem eines Tages doch wieder ein normales Leben geben. Bisher habe ich nie gewagt zu glauben, daß dieser Schrecken je ein Ende haben konnte. Jetzt aber halte ich es für möglich, daß bald eine Zeit beginnt, in der ich ein normales Leben führen kann und nicht mehr kämpfen muß – ein Leben zusammen mit meinem Sohn. Und auch mit dir, Julie.« Sie schmiegte sich an ihn, sah ihn jedoch nicht an.
»Ich weiß es nicht, Mike. Ich will nicht darüber nachdenken – nicht bevor dies vorüber ist.« Langes Schweigen schloß sich an diese Worte an. Schließlich blickte Juliet zu Donovan auf. Seinem Blick entnahm sie, daß er versuchte, sie zu verstehen, aber auch, daß sie ihn verletzt hatte. Hilflos suchte sie nach den richtigen Worten. »Es ist nicht so, wie du denkst. Du weißt, wie ich empfinde – zumindest solltest du es wissen. Doch die Verantwortung für diese ganze Gruppe hier läßt keinen Platz mehr für etwas anderes – nicht einmal für meine eigenen Gefühle. Kannst du das verstehen?« Er nickte. »Ja, ich glaube schon. Mach dir deshalb keine Gedanken. Es kann warten – ich kann warten. Ich hatte da oben auf dem Mutterschiff ganz einfach sehr viel Zeit zum Nachdenken.« Er zuckte die Achseln. »Ich bin mir darüber klargeworden, wer mir am meisten bedeutet: du und Sean.« Er stand auf und blickte in Richtung Tür. »Ich glaube, du solltest mir jetzt ein paar Sachen zum Anziehen besorgen. Und dann werde ich versuchen, etwas Eßbares aufzutreiben.« »Gut. Ich koche dir etwas. Was möchtest du essen?« »Alles außer Ratten.« Ungläubig starrte sie ihn an und schluckte dann. »Ich habe das Gefühl, diese Bemerkung war nicht ganz so witzig gemeint, wie sie klang.« »Da könntest du recht haben.« In der Küche erwartete sie Ham Tyler. Er musterte Mike mit dem für ihn typischen Grinsen. »Gott ist tatsächlich mit den Dummen!« Ostentativ blickte Mike sich um, während er sich hinsetzte. »Hast du eine Fliegenklatsche, Julie? Ich glaube, hier summt irgendwo eine Mücke herum.« »Wie ist es Ihnen gelungen, vom Mutterschiff herunterzukommen, Kumpel?« fragte Tyler. »Haben Sie die
Visitors mit Moralpredigten in den Tod getrieben? Können wir jetzt alle nach Hause gehen?« Donovan blickte ihn an, als sähe er ihn erst jetzt. »Ham Tyler, so wahr ich hier sitze! Hat Sie immer noch niemand erschossen?« Tyler zuckte die Achseln. »Tut mir leid. Keine bedeutenden Zusammenstöße mit dem Feind, seit Sie fort sind, mein Freund.« »Ich dachte mehr an jemanden von hier.« Juliet hatte begonnen, ein paar Eier aufzuschlagen. »Der Alltag hat uns wieder! Werdet ihr beiden es denn niemals leid, euch wie Halbwüchsige zu streiten?« Tyler ignorierte ihre Bemerkung. »Haben Sie ihn schon mit der derzeitigen Situation vertraut gemacht, Julie?« »Ja.« Juliet drehte sich um, als sie das leise Trippeln kleiner Füße hinter sich hörte. Stumm starrte Donovan auf das kleine Mädchen, das mit verwuschelten Haaren, eine alte Puppe an sich gepreßt, in der Tür stand. Es schien etwa fünf Jahre alt zu sein. »Das ist Robins Tochter?« »Ja, das ist Elizabeth. Ich sagte dir ja schon, daß sie… ungewöhnlich schnell wächst.« Sie stellte einen Teller mit Rührei und Toast vor ihn auf den Tisch. »Willie sagt, daß die Visitor-Kinder erst mit etwa sechs Jahren richtig zu wachsen beginnen und sich bis dahin kaum verändern. Er sagt, ein solches Wachstum habe es bei seiner Art auch noch nie gegeben.« Zärtlich zerzauste Juliet Elizabeths Haar. »Na, mein Liebling? Möchtest du ein Stück Rosinentoast?« Sie hielt ihr eine Scheibe entgegen, die das Kind wortlos ergriff, um dann – mit vollem Mund kauend – zu verschwinden.
Mit anerkennendem Lächeln blickte Mike von seinem Teller auf. »Das schmeckt wunderbar, Julie! Danke. Kann Elizabeth sprechen?« »Bis jetzt hat niemand sie je etwas sagen hören. Die meiste Zeit verbringt sie damit, sich Bücher anzusehen. Sogar technische Handbücher. Sie sitzt dann nur stundenlang da, starrt in die Bücher und blättert die Seiten um. Sie hat auch so ein Spiel wie Polly, mit dem man schreiben lernen kann. Ich kam einmal dazu, als sie verschiedene Worte vollkommen korrekt niederschrieb. Aber sie sagte kein Wort.« »Sie muß sehr intelligent sein, wenn sie sich das allein beigebracht hat.« »Ja. Harmy und Willie kümmern sich viel um sie, und ich habe ihnen dabei geholfen, wann immer ich Zeit fand. Pater Andrew liest ihr aus der Bibel vor. Sie scheint es zu verstehen, aber sie spricht nicht… armes, kleines Ding. Es ist schon schwer genug, in dieser Welt als Mischling zu leben – wie schlimm muß es da erst sein, das Produkt einer Kreuzung zwei völlig verschiedener Spezies zu sein!« Als hätte er seinen Namen gehört, kam Willie in die Küche. »Donovan! Ich freue mich, daß Sie zurückgenommen sind.« »Zurückgekommen, Willie!« verbesserte ihn Juliet lächelnd. »Es ist schön, ihn wieder hier zu haben, nicht wahr?« »Hallo, Willie«, sagte Mike. »Ich bin fertig mit dem Füttern der Tiere im Labor, Julie«, erklärte Willie. »Danke, Willie.« »Sind sie alle in Ordnung?« fragte Ham Tyler und blickte den Visitor gespannt an. »Ja, es geht allen gut«, erwiderte Willie. Ham warf Juliet einen vielsagenden Blick zu. »Sieht so aus, als habe der Stoff den Test an unseren eigenen Echsen bestanden.«
»Um sicher sein zu können, brauchen wir mindestens noch fünf Tage«, entgegnete sie. »Dann können wir wirklich sehen, ob dieser Stoff irgend etwas wert ist«, erklärte Ham mit einem abschätzenden Blick auf Willie. »Ich habe gehört, daß Sie noch einen von ihnen mitgebracht haben, Kumpel. Das war eine gute Idee.« Voll böser Ahnungen sah Mike ihn über den Rand seines Glases hinweg an. Dann lehnte er sich über den Tisch. »Nein! Das können Sie doch nicht ernsthaft vorhaben, Tyler.« »Selbst Sie würden das nicht tun!« rief Juliet und warf Willie einen besorgten Blick zu. Ham grinste boshaft. »Warum regt ihr euch nur alle so auf? Schließlich sind einige meiner besten Freunde Reptilien!«
30. Kapitel
Ham Tyler befand sich in der Küche der Bernsteins und schob eine Hühnerkasserolle in den Mikrowellenherd. Caleb Taylor stand hinter ihm an der Frühstücksbar und drehte eine in einem Eiskübel stehende Flasche Champagner. Aus dem Eßzimmer ertönte Daniel Bernsteins Stimme: »He, Paps! Mehr Champagner bitte!« Mit schiefem Grinsen in Tylers Richtung glättete Caleb seine formelle Butleruniform. »Ja, Massah. Ich komme«, murmelte er, nahm die Flasche aus dem Eiskübel und trocknete sie fachgerecht mit einem Handtuch ab. Dann legte er das Handtuch über den Arm und ging durch die Flügeltür ins Eßzimmer. Daniel, Maggie, Brian und ein kleines, strohblondes Mädchen, das Maggie lediglich als Carol Ann vorgestellt hatte, sowie Lynn und Stanley saßen am Eßtisch. Der Tisch war mit feinstem Kristall, kostbarem Porzellan und Silber gedeckt. Ein in der Mitte arrangiertes Bouquet aus Teerosen rundete die stilvolle Dekoration harmonisch ab. Bei Calebs Eintreten drehte Daniel sich um. »Beeil dich, Paps! Wir haben eine Menge zu feiern heute.« »Sehr gut, Mr. Bernstein«, erwiderte Caleb mit ausdrucksloser Stimme, entkorkte die Flasche und fing die überschäumende Flüssigkeit gekonnt mit dem Handtuch auf. »Wo ist der 79er Dom Perignon?« protestierte Daniel mit einem verächtlichen Blick auf die Flasche Moet & Chandon. »Diese Brühe können wir ja wohl nicht trinken.« »Es tut mir leid, Mr. Bernstein. Es waren nur noch zwei Flaschen Dom Perignon da.« »Hm, ja… also gut. Wo bleibt das Essen?« fragte Daniel.
»Es ist gleich fertig, Sir.« Stanley hob das Glas und beugte sich vor. »Bevor wir essen, würde ich gern einen Toast auf unseren Sohn ausbringen, der gerade zum Junior-Sicherheitschef der Visitor-Flotte ernannt worden ist. Gute Arbeit, Sohn. Kümmere dich um unser aller Sicherheit.« Glückwünsche schwirrten durch die Luft, als alle auf Daniels Gesundheit tranken. »Das alles verdanke ich nur Brian«, erklärte Daniel mit breitem Grinsen. »Unsinn!« entgegnete Brian ernst. »Es ist dein Verdienst. Ich habe lediglich die Voraussetzungen geschaffen. Du warst es, der den Rebellenführer und Saboteur auf so spektakuläre Weise gefangengenommen hat. Dir gebührt die Ehre.« Daniel hatte Tränen in den Augen, als er Brian auf die Schulter klopfte und dann Maggie an sich zog. »Ich habe die besten Freunde auf dem ganzen verdammten Planeten.« Carol Ann, die kleine, sommersprossige Strohblonde, lächelte geziert. »Nun, ich finde das alles so aufregend! Wie ein Dinner mit dem FBI oder so.« Daniel verdrehte die Augen und wandte sich mit gesenkter Stimme an Maggie: »Um Gottes willen! Wo hast du die denn aufgegabelt?« Maggie zuckte die Achseln. »Ich wußte nicht, welcher Typ ihm gefallen würde«, flüsterte sie zurück. »Außerdem benehmen sich viele Mädchen den Visitors gegenüber ziemlich prüde.« »Das FBI«, sagte Brian nachdenklich. »Das war…«, hastig korrigierte er sich, »das ist eine der Organisationen, die den Politikern der Vereinigten Staaten dabei helfen, für Recht und Ordnung im Land zu sorgen. Das ›Federal Bureau of Investigation‹ – die Bundespolizei.« Carol Ann sah ihn lächelnd an. »Ach, dafür stehen die Buchstaben FBI. Das habe ich nicht gewußt.«
Es entstand eine kurze Pause, bis Maggie freundlich erklärte: »Carol Ann ist Friseuse, müssen Sie wissen.« »Tatsächlich?« fragte Brian interessiert. »Und was macht eine Friseuse?« »Frisieren«, antwortete Carol Ann. »Schneiden, waschen, Dauerwellen legen und solche Dinge. Sie haben schönes Haar, Brian.« Sie stand auf und strich mit den Fingern durch seine bronzefarbenen Locken. »Oh, das fühlt sich aber komisch an! Das ist doch kein Toupet, oder? Man könnte meinen, sie sind angeklebt.« Sie betrachtete eindringlich seine Haarwurzeln, was Brian sichtlich Unbehagen verursachte. »Nein«, sagte sie schließlich nachdenklich und setzte sich wieder hin. »Es ist irgendwie unheimlich.« Brian wechselte hastig das Thema, indem er auf den geduldig in der Tür wartenden Caleb deutete. »Diese Schwarzen. Wir haben gehört, daß sie früher Sklaven waren. Stimmt das?« »Oh, ja.« Daniel sah seinen Vater mit bewußt provozierendem Grinsen an. »Es ist wirklich zu schade, daß wir so manche der alten Gewohnheiten aufgegeben haben.« Caleb, der kurz in der Küche verschwunden war, kam gerade rechtzeitig zurück, um die Bemerkung mitzubekommen. Befriedigt registrierte Daniel, wie verlegen seine Eltern ob seiner Bemerkung waren. Brian nickte. »Es ist angenehm, wenn es eine Gesellschaftsklasse gibt, deren Aufgabe es ist, zu dienen. So bleibt der oberen Klasse genügend Zeit, um sich mit wichtigeren Dingen zu beschäftigen.« Mit zusammengepreßten Lippen stellte Stanley Bernstein sein Glas auf den Tisch. »In diesem Land gibt es eine bestimmte Bezeichnung für Leute mit dieser Anschauung.« »Vater!« Daniel sah seinen Vater vorwurfsvoll an, dann nickte er Caleb zu. »He, Paps! Mein Glas ist leer. Füll es nach!«
»Wie lautet diese Bezeichnung?« wandte sich Brian an Stanley Bernstein. Mit breitem Grinsen schüttete Caleb, der an den Tisch herangetreten war, den restlichen Champagner über Daniels Kopf. »Man nennt sie Rassisten, Brian«, antwortete er an Stanleys Stelle. Als der Visitor aufsprang, hob Caleb die Flasche und schmetterte sie auf seinen Kopf. Sich vor Schmerzen krümmend, ging Brian zu Boden. Daniel sprang wütend auf und griff nach seiner Waffe. In diesem Augenblick wirbelte Carol Ann herum und bohrte ihre Gabel in Daniels Hand, so daß er die Laser fallen ließ. Grinsend nahm Maggie die Waffe an sich und zielte auf Daniel. Ham Tyler, Elias und Juliet Parrish kamen mit einem großen Teppich aus der Küche. Schützend preßte sich Daniel die blutende Hand an die Brust und starrte fassungslos zum Fenster hinaus. Auf der anderen Straßenseite stand der Lieferwagen einer Teppichreinigungsfirma. Benommen sah er zu, wie die drei Widerstandskämpfer tatsächlich begannen, Brian in den Teppich einzurollen. Elias sah seinen Vater grinsend an. »Rollin’ down to Georgia…« »Wenn wir wieder im Hauptquartier sind, werden wir ihm ein paar Spirituals vorsingen. Er wollte doch alles über die Sklaverei wissen, nicht wahr?« »Erfahrungen sind der beste Lehrmeister, so heißt es doch, nicht wahr, Papa?« Daniel warf Maggie einen flehentlichen Blick zu. Die jedoch verzog nur das Gesicht, hob dann gekonnt die Waffe und entsicherte sie. »Rühr dich nicht von der Stelle, Liebling. Oder ich schieße – und zwar auf eines deiner Körperteile, das dir sehr wichtig ist.«
Vor Wut kochend wandte sich Daniel an seine Eltern: »Mama? Papa? Ihr werdet doch nicht zulassen, daß so etwas in unserem Haus geschieht, oder?« Lynn bemühte sich nicht, ihre Befriedigung zu verbergen, als sie erwiderte: »Ach, sind wir jetzt wieder ›Mama‹ und ›Papa‹? Nein. Du bist ein Fremder für uns. Ein fremder Mörder, der in unser Haus gekommen ist und den Sohn, den wir liebten, getötet hat. Wir kennen dich nicht.« »Aber ich habe euch gerettet, euch ernährt.« »Und unseren Namen entehrt«, fügte Stanley unerbittlich hinzu. »Du hast unser Vertrauen mißbraucht, den Tod deines Großvaters verschuldet und kaltblütig einen unserer Freunde umgebracht. Wir haben keinen Sohn.« Stanley legte den Arm um Lynns Schultern, und gemeinsam gingen sie zur Tür hinaus. Caleb, Elias und Juliet hatten Brian inzwischen ganz in den Teppich gerollt und trugen das Bündel durch die Küche hinaus. Daniel blickte Ham Tyler an. »Haben Sie das gehört? Sie lassen mich einfach im Stich. Meine eigenen Eltern!« »Man hätte dich gleich nach der Geburt ersäufen sollen, du dreckiger kleiner Judas!« entgegnete Ham und sah ihn kalt an. »Wenn Sie erwarten, daß ich Sie um mein Leben bitte, so irren Sie sich gewaltig!« Speichel tropfte Daniel von den Lippen, und er lachte hysterisch. »Ich bin froh, daß meine Eltern weg sind. Allein bin ich besser als je zuvor zurechtgekommen. Ich habe erreicht, was kein anderer Mensch geschafft hat! Ich bin einer ihrer Offiziere geworden! Sie nehmen Befehle von mir entgegen! Und ich bin stolz darauf! Prost!« »Ach, halt die Klappe!« sagte Ham und brachte ihn mit einem Hieb zum Schweigen. Blut rann ihm aus Mund und Nase, als Daniel unter dem Tisch zusammensank. Mit einem Ruck nahm Ham die Rosen aus der Vase und reichte sie
Maggie. »Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Lady. Gratulation.« Sie nahm die Rosen entgegen und blickte nachdenklich auf Daniel herunter. »Ich glaube, er ist erledigt, Ham – aber irgendwie genügt mir das nicht. Er soll mit dem Tode büßen für das, was er getan hat. Für Ruby. Für mich.« Ham zog die Augenbrauen hoch. »Habe ich gesagt, daß wir mit ihm fertig sind?« »Wie meinen Sie das?« Er sah sie grinsend an. Dann erklärte er ihr im einzelnen, was er vorhatte. Und jetzt begann auch Maggie zu grinsen. Ham trat an das Telefon im Wohnzimmer heran, wählte schnell eine Nummer und rief Maggie zu: »Kommen Sie her. Sie könnten meine Stimme erkennen. Ich habe den Visitors oft per Telefon Bombenanschläge angekündigt und sie zum Teufel gewünscht.« Maggie nahm den Hörer, lauschte auf das Klingeln am anderen Ende. Dann sagte eine Stimme: »VisitorHauptquartier.« »Ich möchte mit Steven, dem Sicherheitsoffizier, sprechen. Sagen Sie ihm, daß es sich um eine Angelegenheit von äußerster Dringlichkeit handelt, die die Sicherheit der Visitors betrifft.« »Ja?« hörte sie kurz darauf eine männliche Stimme. »Hier spricht Steven. Wer ist da?« »Mein Name spielt keine Rolle«, erklärte Maggie schnell, »aber ich bin ein Mensch, der an Recht und Ordnung glaubt, und ich begrüße die Hilfe, die die Visitors unserem Planeten angedeihen lassen, um Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten. Ich habe gerade gesehen, wie einer Ihrer Offiziere gefangengenommen wurde. Es handelt sich um Brian, einen der Jugendführer, und ich weiß, wem er das zu verdanken hat. Es war Daniel Bernstein. Ich hörte ihn sagen, daß er – wenn es
Brian nicht mehr gäbe – der Chef Ihres Sicherheitsdienstes werden könne. Er sagte das zu einem grauhaarigen Mann, dessen Namen ich nicht kenne. Er nannte ihn den ›Fixer‹. Ich hoffe, Ihnen damit geholfen zu haben.« Grinsend legte Maggie auf. »Das gefällt mir schon besser«, sagte sie und drückte die Rosen an sich. »Mir auch, Lady.«
»Wie ist es gelaufen?« fragte Mike Donovan, als Juliet ins Wohnzimmer trat. Als Juliet ein »V«-Zeichen machte, ließ er Sean, der neben ihm auf der Couch saß, allein vor dem Fernseher zurück und ging mit Juliet ins große Labor. Elias und Caleb schnürten das Teppichbündel auf und ließen den jetzt wieder bei vollem Bewußtsein befindlichen Brian mit wirkungsvoller Dramatik auf die Erde rollen. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit blinzelte Brian ins Licht, rappelte sich dann hoch und wich in eine Ecke zurück. »Wo bin ich?« Elias grinste. »Soweit es Sie betrifft, sind Sie in Harlem, mein Freund.« »Harlem?« Brian begriff die Zusammenhänge ganz offensichtlich nicht. »Am Ende der Welt«, erklärte Caleb und zog den Butlermantel aus. Ham Tyler kam zusammen mit Maggie, die noch immer das Rosenbouquet bei sich trug, ins Zimmer. Brian blickte von einem unfreundlichen Gesicht zum anderen, von einer gezogenen Waffe zur nächsten – und wirkte sichtlich eingeschüchtert. Robert Maxwell, der einen weißen Laborkittel trug, trat an seine Seite. »Sie hätten keine bessere Wahl treffen können, Julie. Wann können wir das Toxin an ihm ausprobieren?«
Juliet strich sich müde das Haar aus der Stirn, und ihre Züge verhärteten sich. »Wir haben schon einmal darüber gesprochen, Robert. Wir werden eine Reihe von Tests durchführen, aber wir haben kein willenloses Meerschweinchen vor uns. Brian wird durch seine Kenntnisse der Sicherheitsmaßnahmen von Nutzen für uns sein und uns für eine Reihe von Tests zur Verfügung stehen. Aber das ist auch alles. Vergessen Sie das nicht.« Maxwells Lippen wurden zu einem schmalen Strich, doch er machte keine weiteren Einwände mehr. Juliet dirigierte den jungen Visitor in den Isolationsraum, und Brian hastete hinein, als sei er froh, die dicken Plexiglaswände zwischen sich und den anderen zu haben. Die Tür zum Labor öffnete sich, und Robin kam herein. An der Hand hielt sie ihre Tochter Elizabeth, die inzwischen bereits wie eine Neunjährige aussah. »Robin!« rief Brian. Ein von der Decke herunterbaumelndes Mikrofon machte seine Worte für alle hörbar. »Robin, sag ihnen, sie sollen mich gehen lassen. Hilf mir, Robin!« Langsam kam Robin mit ihrem Kind ins Zimmer herein. Robert Maxwell machte Anstalten, sich ihr in den Weg zu stellen, doch Donovan hielt ihn zurück. »Lassen Sie sie mit ihm reden, Bob. Das ist das erste Mal seit langer Zeit, daß sie von sich aus etwas tut. Vielleicht hilft es ihr, ihn wiederzusehen.« Maxwell sah den Reporter lange schweigend an, dann nickte er und blieb, wo er war. Brians Stimme wurde leise, beinahe zärtlich: »Robin, mein Liebling. Ich bin so froh, dich zu sehen. Sag diesen Leuten, daß sie von mir nichts zu befürchten haben. Du weißt es. Ich liebe dich, Robin.« Robin starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an. Erst jetzt bemerkte Brian das kleine Mädchen an ihrer Seite. »Das Kind… ist es deine Schwester, Robin?«
Zum ersten Mal seit Wochen sprach Robin mehr als nur ein Wort. »Das ist deine Tochter, Brian. Ich gab ihr den Namen Elizabeth.« Brian war ganz offensichtlich erschüttert von dieser Mitteilung, doch Donovan sah, daß er schnell seine Fassung wiedergewann und ein berechnender Ausdruck auf sein Gesicht trat. »Das freut mich, Robin. Das bedeutet, daß wir eine Familie sind. Wir drei können zusammen fortgehen.« »Wohin könnten wir denn gehen, Brian?« Robin war einfach zu ruhig, zu gefaßt. Donovan fühlte, wie er feuchte Hände bekam. »Mit deinen Leuten möchte ich nicht Zusammensein. Ich weiß inzwischen, wie sie aussehen. Ich weiß auch, wie du aussiehst. Wäre mir das damals klargewesen, hätte ich nie zugelassen, daß du mich anrührst. Das weißt du auch. Du hast mich angelogen.« »Nein, das habe ich nicht. Ich liebe dich wirklich.« »Halt den Mund, Brian!« Robin begann langsam zu zittern. »Du hast mich angelogen, als du sagtest, du wolltest mir zur Flucht verhelfen. Du hast mich mit deinem falschen Gesicht belogen, und du wolltest nicht aufhören, als ich schrie und dich anflehte! Durch dich entstand ein Ungeheuer in meinem Körper! Elizabeth hatte eine Zwillingsschwester, die aussah wie du – bis auf die Augen. Sie hatte die Augen meiner Mutter! Deine Leute haben meine Mutter getötet! Du hast sie getötet!« Mit einem plötzlichen, heftigen Ruck drehte sie am Türknauf der Isolationszelle, zog ein Fläschchen mit einem rötlichen Pulver unter ihrem weiten Sweatshirt hervor, schleuderte es in die Kammer und knallte die Tür zu. Dann verriegelte sie sie wieder. Alle standen wie erstarrt, bis Maxwell schrie: »Es ist das Toxin! Sie hatte das Toxin bei sich.«
»Was hast du getan?« schrie Brian, der von dem blassen, rötlichen Pulver eingehüllt wurde, das infolge seiner panikartigen Bewegungen auf- und niederwallte. »Hilfe!« Er begann, gegen das Plexiglas zu hämmern. Donovan wollte ihm zu Hilfe eilen, doch Juliet hielt ihn am Arm fest. »Nicht aufmachen, Donovan. Vielleicht ist die Substanz harmlos, aber das wissen wir nicht genau. Es könnte sein, daß es ungefährlich für ihn ist, uns aber alle tötet, wenn wir jetzt die Tür öffnen.« Brians Schreie wurden plötzlich zu einem kurzen, abgehackten Keuchen. Verzweifelt umklammerte er seinen Hals, als er schnaufend in die Knie ging. »Es ist das Toxin«, sagte Cal Robinson. »Es ist in seine Atemwege eingedrungen. Die Abfallprodukte verstopfen die Zellen, sie können keinen Sauerstoff mehr aufnehmen. Er erstickt.« Brian zerrte an seinem Gesicht. Die menschliche Haut zerriß und blätterte ab, und seine reptilienhaften Züge kamen zum Vorschein. Noch immer zuckend, fiel er seitwärts zu Boden und starb einen langsamen Tod. Ham betrachtete ihn mit grimmiger Befriedigung. »Er ist erledigt«, sagte er kalt, »doch er wird noch eine ganze Weile zappeln. Jedermann weiß, daß eine Schlange nicht vor Sonnenuntergang stirbt.« Mit fiebrigen Augen und dem Anflug eines Lächelns drehte sich Robin zu den anderen um. »Er ist tot«, sagte sie. »Jetzt kann er mich nicht mehr belügen.« Sie schwankte, und Robert sprang vor, um sie aufzufangen. Elizabeth beobachtete teilnahmslos, wie Maxwell ihre Mutter aus dem Labor trug. Ham sah ihr nach und richtete seinen spöttischen Blick dann auf Elizabeth. »Sie hat ihr Pulver offensichtlich bereits im Mutterleib verschossen.« Angewidert sah Donovan ihn an. Dann jedoch überkam ihn das plötzliche dringende Bedürfnis zu lachen. Ein paar der
anderen Widerstandskämpfer sahen ins Labor, um festzustellen, was passiert war. Sancho blickte argwöhnisch auf den roten Staub, der sich langsam und in Form kleiner roter Flocken auf dem Boden und der Leiche Brians ablagerte. »He, vielleicht kann ich das Zeug verkaufen? Was meint ihr?« »Nur zu, Sancho«, sagte Juliet erbittert. »Am Ende jedoch könnten Sie mehr damit vernichten, als Sie gewinnen. Wie töricht und unüberlegt Robins Vorgehen heute abend auch gewesen sein mag – armes Mädchen, sie ist schon eine ganze Zeitlang nicht mehr recht bei Verstand –, sie hat einen Teil unserer Probleme gelöst.« »Es hat ihn getötet! Was willst du mehr, Julie?« fragte Elias. »Wir müssen herausfinden, ob es uns nicht auch tötet.« »Wir können ja Streichhölzer ziehen«, erklärte Ham. Caleb warf ihm einen bösen Blick zu. »Wir können es auch mit einem Volksentscheid versuchen. Ich halte Ihnen persönlich die Tür auf, Mr. Tyler.« »Und ich stelle freiwillig meine Mutter zur Verfügung«, erklärte Donovan, und das war nicht nur scherzhaft gemeint. »He, Kumpel, wo sind denn all Ihre Ehr- und Anstandsgefühle geblieben, ihre strengen Moralvorstellungen, die Sie immer so laut hinausposaunen?« rief Tyler in gespieltem Entsetzen, um einen Augenblick später hinzuzufügen: »Ich habe ein Kartenspiel in meinem Zimmer. Wir lassen die Karten entscheiden. Wer die niedrigste zieht, gewinnt.« »Nun mal langsam!« sagte Donovan. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, entgegnete Ham. »Wenn wir nicht bald damit anfangen, diese Waffe zu produzieren, haben die Echsen die Erde in eine wasserlose Wüste verwandelt.« »Trotzdem müssen wir es erst in Ruhe besprechen, Tyler. Ich mag die Art und Weise nicht, in der Sie mit Menschenleben
umgehen. Das ist alles zu zufällig, zu unüberlegt. Für Sie spielt ein Menschenleben überhaupt keine Rolle.« Ham winkte verächtlich ab. »Ich traue diesem Burschen nicht«, wandte er sich an die anderen Anwesenden im Raum. »Hier geht es ums Überleben, und er redet von Moral. Zu überleben bedeutet, unmoralisch zu handeln, Kumpel. Es bringt Aggression mit sich und Tod, ganz gleich, wie zivilisiert Sie sind oder wie sehr Ihnen das Töten widerstrebt. Daran kommen wir nicht vorbei, ob Sie es nun zugeben wollen oder nicht.« Er stemmte die Hände in die Hüften und starrte sie an. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Die Visitors oder wir. Die Parole heißt jetzt Überleben – und nicht Moral und Ethik.« Donovan schüttelte den Kopf. »Das genau ist der Unterschied zwischen Ihnen und uns, Tyler. Sie quatschen eine Menge Zeug daher, das sogar ganz vernünftig klingt, aber nur, weil es so einfach ist.« »Julie!« rief Caleb plötzlich. Als Donovan sich umdrehte, sah er Juliet gerade die Isolierungskammer betreten und die Tür von innen verschließen. »Nein!« Mike stürmte durchs Zimmer, preßte die Hände gegen die Plexiglaswand und starrte in die Zelle. »Julie! Komm raus! Sofort!« Er hämmerte gegen die Tür, doch Juliet nahm unbeirrt einen tiefen Atemzug. »Julie!« Donovan schlug wie verrückt gegen die Tür, doch das Schloß hielt stand. »Mach die Tür auf!« »Komm raus, Julie!« rief Caleb, der neben Donovan getreten war. »Kommen Sie, Caleb. Versuchen wir es gemeinsam!« Sie wollten sich gerade gegen die Tür der Isokammer werfen, als stahlharte Hände ihre Arme packten.
»Nein!« sagte Ham. »Sie dürfen die Zelle nicht einfach aufbrechen! Wir brauchen sie noch.« Donovan holte zu einem wilden Schlag gegen Tyler aus, doch gerade diese Bewegung schien ihn wieder zur Besinnung zu bringen, denn plötzlich ließ er die Arme sinken und starrte Ham schwer atmend an. »Sie…« Er wollte sich auf ihn stürzen, doch Caleb hielt ihn zurück. »Das ist Ihre Schuld! Wären Sie nicht so verdammt blutrünstig gewesen, hätte sie es nie getan!« »Nun mal langsam, Donovan. Es war Juliets eigener Entschluß.« Mike gab sich fürs erste geschlagen und begann wieder, gegen die Tür zu hämmern. »Holt den anderen Schlüssel! Er ist im Labor!« »Es ist zu spät, Mike. Sie atmet das Zeug jetzt schon eine Minute lang ein«, meinte Elias. »Hol ihn!« Elias ging davon, und Mike drehte sich wieder zu der Plexiglaswand um. Als er sah, daß Juliet noch immer bei bester Gesundheit zu sein schien, beruhigte er sich ein wenig. Als Elias mit dem Schlüssel zurückkam, riß Mike ihn ihm ungeduldig aus der Hand, um die Tür aufzuschließen. In diesem Augenblick jedoch schloß Juliet mit triumphierendem Lächeln – ein »V« signalisierend – die Tür selbst auf und verließ den Raum. Mike fing sie sofort auf. »Du Idiotin!« sagte er. »Du verrückte Nuß!« Er preßte sie wild an sich. »Ham hatte recht, wir brauchten eine Antwort. Außerdem war mir die Vorstellung, mit dem Zeug in den Lungen zu sterben, angenehmer, als euer Gezänk länger mitzuerleben.« Über Donovans Schulter hinweg blinzelte sie Tyler belustigt zu.
»Wir brauchten mehr Leute mit so einer Einstellung. Manchmal muß man eben etwas riskieren«, erklärte Ham eigensinnig. Mike schob Juliet ein Stück von sich weg und sah ihr forschend ins Gesicht. »Wie fühlst du dich?« »Gut. Es hat einen schwachen Geruch. Wie Oregano.« »Aber nicht genug, um einen zu töten.« Sie lachte. »Nicht, wenn man die italienische Küche mag, du Narr!« Er zog sie wieder an sich. »Ich liebe dich.« Ham Tyler gab würgende Töne von sich. Donovan drohte ihm mit dem Zeigefinger und küßte Juliet, lange und innig. »Ich dachte schon, ich würde nie mehr Gelegenheit haben, das zu tun.« Mit einem unsicheren und leisen Lachen strich sie ihm das Haar aus der Stirn. »Jetzt – bleibt uns vielleicht doch noch Zeit für ein gemeinsames Leben.« »Schluß jetzt!« Ham Tylers Stimme ließ sie auseinanderfahren. »Zurück an die Arbeit! Außer den Wissenschaftlern, mit denen Juliet reden muß, erfährt niemand – und ich meine damit wirklich niemand –, der nicht hier im Raum war, was geschehen ist. Verstanden? Elias, Sie weisen alle, die den Tod unseres Schuppenfreundes miterlebt haben, darauf hin, daß sie nicht einmal mit ihrer Familie darüber reden dürfen. Das hier ist streng geheim.« Die Tür zum Labor flog auf, und Chris Faber stürmte herein, gefolgt von Robert Maxwell. »Der Pater!« stieß er hervor. »Er ist mit dem Kind verschwunden!« »Was?« ertönte es aus mehreren Kehlen. »Es stimmt«, sagte Maxwell. »Ich hatte Robin und Elizabeth gerade in ihr Zimmer zurückgebracht, als Pater Andrew hereinkam. Er wußte nicht, was heute abend geschehen war, und Robin begann zu weinen. Sie meinte, sie habe einen Mord
begangen, und bat ihn um Absolution. Sie erzählte ihm, daß sie Brian getötet habe.« »Hat sie ihm auch gesagt, wie?« fragte Ham. »Nein, nein. Dafür war sie viel zu durcheinander. Aber er hat begriffen, daß sie den Visitor getötet hat, der Elizabeths Vater ist. Er sagte, er werde für sie beten und Gott würde verstehen, daß ein Mensch aus Kummer und Verzweiflung um den Verstand gebracht werden könne. Und daß ein Mensch, der das durchgemacht habe, was sie erlitt, nicht für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden könne. Er versicherte ihr, Christus würde ihr vergeben. Danach beruhigte sie sich ein wenig. Ich gab ihr noch ein Sedativ und brachte sie ins Bett. Als ich das Zimmer verließ, waren Pater Andrew und Elizabeth weg.« »Ich habe alles abgesucht, Boß«, sagte Chris zu Ham. »Er ist verschwunden. Wahrscheinlich glaubte er, daß Robin als nächstes versuchen würde, das Kind umzubringen.« »Mein Gott!« Ham schlug die Hände zusammen. »Nun, zumindest weiß Pater Andrew nichts von dem Toxin, und das Kind spricht nicht.« »Also, Leute, fangt an zu packen!« rief Juliet. »Donovan, hilf mir bei der Überwachung. Elias, du fährst die Wagen vor. Ich möchte, daß wir in einer Stunde hier weg sind. Mit allem Drum und Dran, verstanden? Wir müssen wieder umziehen.«
Diana saß allein im Konferenzraum des Mutterschiffs und beobachtete durch die Sehklappe den aufgehenden Vollmond. Aus dieser Höhe wirkte er sehr groß, sehr klar. Die Tür ging auf, und Jake trat mit zwei Gestalten ins Zimmer. »Ich habe gute Nachrichten, Diana.« Die stellvertretende Kommandeuse setzte sich auf. »Und wie lauten sie, Hauptmann?«
»Ein Mitglied der Widerstandsbewegung ist freiwillig an Bord gekommen.« »Wie ungewöhnlich!« sagte Diana, ohne sich zu bemühen, ihr Mißtrauen zu verbergen. »Einfach so?« »Er behauptet, ein Friedensbote zu sein. Er sagt, er hat einen Beweis für die Verknüpfung unserer beider Völker mitgebracht.« »Bringen Sie ihn herein, Hauptmann«, befahl Diana. Ein bärtiger, beleibter Mann, der ein kleines, etwa neun Jahre altes Mädchen an der Hand führte, trat ein. »Setzen Sie sich«, forderte ihn Diana auf. »Wer sind Sie?« Der Mann nahm Platz, und das kleine Mädchen kletterte schweigend auf einen Stuhl neben ihm. »Mein Name ist Pater Andrew Doyle, Diana«, sagte er. »Ich bin Priester der römischkatholischen Kirche. Und das ist Elizabeth – das erste interplanetare, wirklich interstellare Kind.« Ungläubig starrte Diana das kleine Mädchen an, und ihre Gedanken überschlugen sich. »Wollen Sie damit sagen, daß sie Robin Maxwells Tochter ist?« »Ja.« »Aber ihre Größe! Sie kann doch erst ein paar Wochen alt sein!« »Doch. Ist ein solches Wachstum gefährlich?« »Ich werde sie untersuchen müssen. Ich nehme an, daß wir das überschnelle Wachstum irgendwie verlangsamen können. Möglicherweise durch eine Kontrolle der Sekrete der Schleimdrüsen.« »Elizabeth ist ein ungewöhnliches Kind, Diana. Sie spricht nicht, aber sie ist sehr intelligent – wie Sie selbst feststellen werden, falls Sie sie testen wollen. Und sie ist ein Symbol. Ein Symbol für die universale Einheit aller Lebewesen. Ich hoffe, sie wird zu einer Brücke des Friedens zwischen unseren beiden Völkern.«
»Das wäre natürlich sehr schön«, entgegnete Diana und beobachtete den Priester aus schmalen Augen, »doch ich frage mich auch, ob Sie sie nicht in erster Linie deshalb hierher brachten, weil Sie Angst um sie haben.« Der Pater starrte sie einen Augenblick lang stumm an. »Ja, auch das war einer meiner Beweggründe«, gab er zu. »Ihre Mutter ist selbst noch ein Kind, und man sollte ihr die Verantwortung für ein solches Wunder nicht aufbürden. Doch auch Sie sollten erkennen, daß ihre Existenz ein Beweis dafür ist, daß wir alle Teil des gleichen kosmischen Plans sind – des gleichen genetischen Stoffes, ganz gleich, wie sehr wir uns auch äußerlich unterscheiden.« »Fahren Sie fort«, forderte Diana ihn auf. »Wenn Sie also meinen Ausführungen folgen, müssen Sie zu dem logischen Schluß kommen, daß das Rauben von Menschen zur Nahrungsbeschaffung für Ihr Volk an Kannibalismus grenzt. Essen die Visitors ihresgleichen?« »Nein«, erwiderte Diana. »Seit hundert Jahren ist so etwas nicht mehr geschehen.« Sie beugte sich vor und sah Elizabeth eindringlich an, die ihren Blick unbefangen erwiderte. »Ihr Mut, hierherzukommen, beeindruckt mich, Andrew. Mut ist eine Tugend, die ich hoch schätze. Und Ihre Argumentation ist, obwohl ein wenig brüchig, so doch wohl durchdacht. Ich habe gar nicht gewußt, daß es bei den Menschen Religionen gibt, die eine klare Denkungsweise und logische Schlußfolgerungen betonen.« Pater Andrew lächelte. »Wir Jesuiten leben in diesem Sinne. Ich würde mich gerne mit Ihnen darüber unterhalten und auch meine eigene Position weiter klarstellen.« »Auch ich würde gern wieder mit Ihnen reden.« Diana erhob sich und wandte sich an Jake: »Sorgen Sie dafür, daß Pater Andrew ein Gastquartier bekommt und gut behandelt wird. Elizabeth muß ich erst noch einer Untersuchung unterziehen.«
Das kleine Mädchen blickte zu Pater Andrew auf, als der Priester aufstand. »Wir sehen uns später, Elizabeth«, sagte er und legte ihr die Hand auf den Kopf. Es sah beinahe so aus, als segne er sie. Dann folgte er Jake durch die Tür. Diana streckte dem kleinen Mädchen die Hand entgegen. »Komm, Elizabeth.« Das Kind zögerte, dann glitten ihre Finger in Dianas Hand. Diana blickte auf sie herab und strich ihr kurz übers Haar. »Was mache ich jetzt mit dir?« fragte sie sich laut. Elizabeth blickte zu ihr auf, gab aber keine Antwort.
31. Kapitel
Die nächsten vier Wochen waren sehr hektisch. Das Hauptquartier der Widerstandsbewegung wurde in die Johnson-Molkerei außerhalb von Los Angeles verlegt, die aufgrund der Wasserknappheit hatte geschlossen werden müssen. Terence Johnson, der Besitzer, war verständlicherweise nicht gerade ein Freund der Visitors – sie hatten seine Existenz ruiniert, und seine Tochter, eine Laborantin, war während der ersten Auseinandersetzungen mit den Fremden von den Sternen verschwunden. Nachdem die Rebellen das Toxin in Fässern kultiviert hatten, bereiteten sie es für den Transport in andere Teile der Welt vor. Sie arbeiteten rund um die Uhr, tagein, tagaus, und sie setzten sich mit anderen Widerstandsgruppen in Verbindung. Nach den ersten Wochen wurden sie von einer Fabrik in der Schweiz in ihrer Arbeit unterstützt. Juliet, Robert und Cal zogen sich wieder ins Labor zurück, um an einem Impfstoff zu arbeiten, der die Mitglieder der Fünften Kolonne vor dem tödlichen roten Staub schützen sollte. Nach einer Woche intensiver Arbeit hatten sie eine Substanz entwickelt, die ihre Visitor-Freunde vor dem Toxin schützen würde, doch sie wußten nicht, wie lange die Wirkung dieses Serums anhalten mochte. Sämtliche Mitglieder der Fünften Kolonne wurden angewiesen, Sauerstoffmasken zu tragen und es – wenn möglich – zu vermeiden, die Substanz einzuatmen. Lorraine auf dem Schiff von Los Angeles und Jennifer auf dem New Yorker Schiff hatten es übernommen, die Verteilung und Injektion des Immunisierungsserums zu überwachen. Inzwischen hatte sich die Fünfte Kolonne innerhalb der ganzen
Flotte der Visitors in einem Ausmaß verbreitet, das John und Pamela in Angst und Schrecken versetzt haben würde, wären sie davon informiert gewesen. Mit seiner Kenntnis der Visitor-Codes und der internen Abläufe auf dem Mutterschiff war Martin ein Verbündeter von unschätzbarem Wert für sie. Er war in die Rolle eines stillen, unauffälligen, in der Stadt lebenden Menschen geschlüpft und hörte viele der internen Visitor-Sendungen mit einem selbstgebastelten Empfänger ab. Kurz bevor die Verteilung des Toxins abgeschlossen war, erhielt Donovan eine dringende Botschaft des Visitors, in der er ihn um ein Treffen in einem kleinen chinesischen Restaurant in der Stadt bat. Als Donovan das Restaurant betrat, kam ihm unverzüglich der kleine, runzlige Besitzer entgegen. »Einen Tisch für eine Person?« »Wa Chi«, nannte Donovan ihm das Codewort. »Natürlich, Sir. Hier entlang.« Ohne Zeit zu verlieren, führte er Mike in sein privates Eßzimmer, verbeugte sich noch einmal und verließ den Raum. Bei seinem Eintritt erhob sich Martin, kam ihm entgegen und streckte den Arm aus. Sie schüttelten sich die Hände, und als Donovan sich setzte, wurde ihm plötzlich bewußt, daß ihm die Kälte der Haut der Visitors schon lange nicht mehr aufgefallen war. Die Zeiten ändern sich, dachte er. Mein Gott, wie sie sich ändern… Ohne seine Uniform, im normalen Straßenanzug, kam Martin ihm seltsam fremd vor. »Dies Treffen ist gefährlich für uns beide«, begann Donovan mit gesenkter Stimme. »Es muß etwas sehr Wichtiges sein, nicht wahr?« »Ungeheuer wichtig, Mike. Ich mußte Sie sehen. Der Widerstand läßt sich da auf etwas ein, das verhängnisvoll sein kann, wenn auch nur ein kleiner Fehler gemacht wird.«
»Das wissen wir. Wenn Diana und ihre Kameraden davon erfahren, sind wir geliefert.« »Nein.« Martin schüttelte heftig den Kopf. »Das betrifft nicht nur den Widerstand. Es betrifft Ihren gesamten Planeten. Was immer für eine Waffe das auch ist, an der Sie zur Zeit arbeiten…« Donovan sah ihn scharf an. »Woher wissen Sie davon?« Martin blickte auf das verschlissene rote Tischtuch. »Als ich kürzlich zum neuen Hauptquartier fuhr, wollte Sancho mich nicht passieren lassen. Selbst der größte Idiot kann sich da ausmalen, daß die ultimative Waffe entdeckt worden ist und der große Gegenschlag unmittelbar bevorsteht.« »Ja… gut. Aber wo liegt das Problem?« »Der Große Denker… kann manchmal sehr unvernünftig handein. Er ließ an Bord eines Mutterschiffes in der Flotte eine Vorrichtung installieren, die der Oberste Kommandeur oder sein Stellvertreter im äußersten Notfall einsetzen soll. Diese Vorrichtung ist verbunden mit dem Gravitationsantrieb und verwandelt das Schiff in eine Art thermonukleare Bombe mit einer Sprengkraft von Hunderten von Gigatonnen. Das würde genügen, die ganze Erde zu zerstören. Nach einer solchen Explosion gäbe es auf diesem Planeten kein Leben mehr.« Donovan starrte ihn in fassungslosem Entsetzen an. »Sagen Sie, daß Sie scherzen, Martin.« Martin schüttelte den Kopf. »Nein, ich scherze nicht. Ihre Waffe – wie sie auch beschaffen sein mag – müßte schon alle Visitors an Bord des Schiffs auf einen Schlag töten, damit niemand mehr dazu kommt, den Universalen Destruktor zu aktivieren. Irgendein patriotischer Fanatiker würde den letzten Befehl des Großen Denkers sonst bestimmt noch ausführen.« Donovans Stimme war nur noch ein Flüstern. »Es ist möglicherweise schon zu spät, Martin. Die Waffe ist ein Toxin, und es ist bereits hergestellt und verpackt. Die New
Yorker Gruppe hat eine Verteilungsmethode ausgearbeitet, die jeden Fleck der Erde erfaßt und sie für immer wertlos für die Visitors macht. Was sollen wir tun? Selbst wenn wir die anderen Gruppen über diese Vorrichtung informieren, kann es durchaus sein, daß eine oder mehrere von ihnen sich entscheiden, im Alleingang zu handeln.« »Demnach wirkt das Toxin nicht sofort?« »Nein. Es wirkt erst eine oder zwei Minuten, nachdem es inhaliert wurde. Und es verbreitet sich nur so schnell, wie die Luft zirkuliert. Sie hätten also noch Zeit.« Er blickte seinen Freund an. »Unsere ganze Hoffnung ist, daß Ihre Leute, wenn das Toxin erst einmal in der Luft ist, erkennen, daß die Erde für sie wertlos geworden ist. Vielleicht ziehen sie dann ab. Auf diese Weise würde es wesentlich weniger Tote geben.« »Vermutlich steuern die Schiffe dann tatsächlich in den interplanetaren Raum – bis auf das mit der tödlichen Vorrichtung.« »Welches Schiff ist es?« fragte Mike, doch irgendwie glaubte er, die Antwort bereits zu kennen. »Dianas. Sie war eine derjenigen, die bahnbrechende Pionierarbeit auf diesem Gebiet leisteten. Und was noch viel schlimmer ist – auf ihrem Schiff befinden sich mehrere Offiziere von hohem Rang, die in der Lage sind, dieses Programm auf dem Computer abzurufen und den entscheidenden Code einzugeben. Diana, Steven, Pamela und John, wenn er sich nicht gerade an Bord des New Yorker Schiffes aufhält – sie alle sind in der Lage dazu. Ebenso wie ich.« »Nun gut. Ich mache mich jetzt besser auf den Rückweg, um die anderen zu informieren. Haben Sie noch immer die alte Wohnung?«
»Nein, ich bin wieder umgezogen.« Schnell kritzelte Martin Adresse und Telefonnummer auf ein Streichholzbriefchen und gab es Mike. Einen Namen hatte er allerdings nicht notiert. Donovan griff in seine Tasche. »Rollen Sie Ihren Ärmel hoch, Martin.« »Wozu?« fragte der Visitor, kam Mikes Bitte jedoch nach. »Ich muß Sie gegen den Staub immunisieren. Das Serum hat keine Nebenwirkungen, und Sie werden es brauchen. Hier.« Er holte eine mit einer klaren Flüssigkeit gefüllte, hypodermatische Spritze hervor und injizierte das Antimittel in den Oberarm seines Freundes. »Mein Gott, habt ihr eine dicke Haut«, brummte er, als er sich die gebogene Nadel ansah. »Danke, Mike«, sagte Martin. »Es ist wohl besser, wenn Sie als erster gehen.« »In Ordnung. Ich danke Ihnen, Martin.« Er sah den Visitor eindringlich an. »Sind Sie sicher, daß Sie sich in alldem nicht irren? Könnte es nicht ein Bluff sein, ein Trick des Denkers, um seine Truppe bei der Stange zu halten?« »Es ist kein Bluff, Mike. Die Gefahr ist echt.« Er holte tief Luft. »Ich habe bereits einmal einen Einsatz miterlebt.«
Diana beobachtete Elizabeth, die in ihrem Büro/Labor am Computer-Terminal saß und ihre kurzen Finger pausenlos über die Tasten tanzen ließ. Das Kind blickte kein einziges Mal auf – seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich der Maschine. »Ist das ein Spiel?« fragte Pater Andrew, der zusah, wie sich auf dem Bildschirm eine phantastische Folge von bunten Linien und Symbolen bildete. »So etwas Ähnliches«, antwortete Diana, die Elizabeth gespannt beobachtete. »Es ist ein Programmierspiel, mit dem sich unsere Halbwüchsigen befassen. Aber es ist sehr kompliziert, und ich habe noch nie erlebt, daß sich ein Kind
daran versucht hat. Und sie gewinnt auch noch.« Verwirrung und Erstaunen lagen in ihrer Stimme. »Ich sagte Ihnen ja, daß sie sehr intelligent ist«, entgegnete Pater Andrew voller Stolz. »Wenn sie doch nur reden würde.« »Intelligent? Das Kind ist ein Genie! Ich glaube, ich konnte ihren Intelligenzquotienten nicht einmal richtig messen. Er ging über die Skala hinaus.« Der Priester sah sie forschend an. »Ist das ein Grund zur Besorgnis?« »Ihre Zeugung ist es, die mir Sorgen macht. Ich weiß nicht, ob es richtig war, dieses genetische Experiment durchzuführen. Bisher war ich immer davon überzeugt, daß wir intelligenter sind als die Menschen. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.« »Wie ich sehe, haben Sie ihr Wachstum erfolgreich verlangsamt.« »Ja, ihr physisches jedenfalls. Mit ihrer psychischen Entwicklung ist es etwas anderes. Sie verbringt ihre ganze Zeit vor dem Computer. Gestern sah ich, wie sie mit einem Programm spielte, das ich nicht einmal kannte. Sie hatte es selbst geschrieben, in unserer Sprache.« »Haben Sie übrigens schon in die Bibel gesehen, die ich Ihnen gegeben habe?« »Ja. Es war sehr interessant. Macht durch Liebe und Frieden – welch ungewöhnliches Konzept! Und offenbar hat es bei Ihrem Christus und seinen Jüngern auch funktioniert.« »Die meisten Religionen der Menschen legen großes Gewicht auf die gleichen Ideale, Diana. Innerer Frieden und Nächstenliebe.« Er hielt inne und starrte geistesabwesend in die Luft. »Wollen wir uns darüber unterhalten, wie wir unseren beiden Völkern Frieden bringen können?« »Und was erwarten Sie da von mir? Daß ich Ihnen erlaube, Ihres Gottes Wort auf unseren Planeten zu bringen? Soll ich
den Denker davon überzeugen, daß seine Bestrebungen falsch sind und es besser für ihn wäre, seine Nächsten zu lieben? Selbst dann, wenn die Betreffenden 8.7 Lichtjahre entfernt sind?« »Ich würde freiwillig mit Ihnen fliegen und jedem Gottes Wort bringen, der es hören will. Wenn auch der Denker zu meinen Zuhörern gehörte und Gottes Wort ihn dazu brächte, seine Vernichtungspläne aufzugeben, um so besser.« »Das würden Sie tun?« »Ja, in der Tat.« In diesem Augenblick leuchtete die Signallampe an der Tür auf. »Das wird Jake sein«, sagte Diana und bedeutete Pater Andrew, sich zurückzuziehen, so daß er nicht gesehen werden konnte. »Kommen Sie herein, Hauptmann.« »Sie haben mich rufen lassen, Diana?« »Ja. Ich mache mir Sorgen wegen Pater Andrew. Möglicherweise wird die Fünfte Kolonne versuchen, ihn umzubringen. Ich möchte, daß seine Wache verdoppelt wird.« Jake nickte. Er schien verlegen zu sein und sah sie nicht an. »Ich werde Ihre Bitte sofort an Pamela weiterleiten.« Diana richtete sich auf und erwiderte betont ruhig: »Das ist keine Bitte, Hauptmann! Das ist ein Befehl Ihrer Vorgesetzten!« »Es tut mir leid, Diana, aber Pamela gab heute morgen die Anweisung, daß alle militärischen und die Sicherheit betreffenden Maßnahmen zuerst mit ihr abgesprochen werden müssen. Offensichtlich sind Pamela und unser Denker in diesem Punkt einer Meinung, und er ermächtigte sie, diese Regelung durchzusetzen.« Diana bemühte sich, ihre Wut zu verbergen, jedoch mit sehr wenig Erfolg. »Ich verstehe. Das wäre alles, Hauptmann.« Nachdem sich die Tür hinter Jake geschlossen hatte, kam Pater Andrew wieder zu Diana herein. Ein schwaches Lächeln
spielte um seinen Mund. »Ich sehe, wir haben noch mehr gemeinsam als nur den genetischen Stoff. Auch unser Planet wird von Machtkämpfen erschüttert.« »Sie lächeln? Amüsiert Sie das?« »Lediglich die Tatsache, daß wir gar nicht so verschieden sind.« Sie lächelte bitter. »Es ist die reine Ironie, daß ich glaube, Ihnen genauso vertrauen zu können wie meinen eigenen Leuten.« »Vielleicht war uns das vom Schicksal vorherbestimmt.« Wieder lachte Diana, doch es war ein trauriges Lachen. »Ich bin nicht vom Schicksal geschlagen. Ich wurde ein Opfer von Verrat und Treuebruch. Sie sind alle eifersüchtig, jeder einzelne von ihnen – sie haben nur eins im Sinn: mich zu erledigen. Ich habe mein Leben meinem Planeten und dieser Mission geweiht, Körper und Seele dem Großen Denker.« Sie sank auf ihren Stuhl zurück und ließ die Schultern hängen. »Jetzt hat auch er mich verlassen.« »Als ich sagte, vielleicht sei es uns vom Schicksal vorherbestimmt, meinte ich damit, daß Sie möglicherweise für eine höhere Mission auserwählt worden sind.« »Von Ihrem Gott?« »Vielleicht. Oder von dem Ihren.«
Sancho, Maggie, Caleb, Juliet, Ham, Elias und Donovan saßen am Konferenztisch im Hauptquartier der Widerstandsbewegung. Sie führten gerade eine heftige Diskussion, und Donovan, der den Vorsitz der Runde übernommen hatte, schlug mit der Faust auf den Tisch. »Halt! Halt! Hört auf!« Er holte tief Luft. »Ruhe jetzt! Sofort!« Langsam kehrte Stille ein.
»Na bitte!« sagte Donovan. »Jetzt sagt einer nach dem anderen seine Meinung. Fangen Sie an, Ham.« »Wie ich gerade gesagt habe – wozu viel Zeit mit Diskutieren verschwenden? Es gibt keinen Mittelweg.« Donovan zeigte auf Juliet, die neben Ham saß. Sie schüttelte den Kopf. »Doch, es gibt immer einen Weg der Mitte! Es gibt immer einen Kompromiß.« Sie blickte in die Runde. »Wenn wir am Tag X nicht siegen, können wir es in Zukunft immer noch. Martin und die Fünfte Kolonne sind nicht untätig. Sie bemühen sich ständig, für Unruhe unter den Visitors zu sorgen. Dank Elias und vieler anderer Menschen auf der ganzen Welt wird die Disziplin in ihren Reihen mit Drogen und Alkohol untergraben. Wir können durchaus darauf verzichten, das Toxin einzusetzen, und trotzdem gewinnen.« Sancho wollte offensichtlich dringend etwas sagen. »Jetzt Sie, Sancho«, sagte Mike. »Es tut mir leid, aber in diesem Punkt bin ich anderer Meinung als unser Boß. Die Fünfte Kolonne konnte uns bisher nicht dabei helfen, unsere Leute auf den Schiffen zu befreien, geschweige denn, uns wesentliche Waffenlieferungen zukommen zu lassen. Sicher, Martin und seine Kameraden sind unsere Verbündeten, aber wann immer wir Erfolge erreichen konnten, gingen sie auf unsere eigenen Bemühungen zurück. Doch auch ich bin wie Juliet der Meinung, daß wir durchaus siegen können, ohne dieses Risiko auf uns zu nehmen. Es dauert nur etwas länger.« Ham Tyler fiel ihm ins Wort. »Auf Schaumschläger können wir verzichten. Nun hört endlich auf mit dem Gerede, Leute. Man kann einen Krieg nicht gewinnen, wenn man bereits kapituliert, bevor er überhaupt angefangen hat.« »Ich habe nicht von Kapitulation gesprochen, Tyler!« brauste Sancho auf. »Aber man gewinnt auch keinen Krieg durch bloßes Sieg-Geschrei! Und nennen Sie mich nicht noch einmal
einen Schaumschläger, sonst könnte es sein, daß ich Sie beim nächsten Kampf aus Versehen erschieße.« »Keine Streitereien bitte«, sagte Donovan. »Der nächste, der unaufgefordert das Wort ergreift, wird heute abend den Abwasch übernehmen. Robert.« »Wir haben bereits viele gute Leute verloren«, begann Maxwell, und Trauer überschattete sein Gesicht. »Ben, den ich zwar nicht gekannt habe, Ruby, Brad und bei den Kämpfen in der letzten Woche Chris Faber. Und Kathleen. Wenn wir unsere Chance, die Visitors zu besiegen, aufgeben, sind sie ganz umsonst gestorben.« »Was meinen Sie dazu, Maggie?« Donovan nickte der schlanken jungen Frau mit den honigfarbenen Haaren zu. »Ich kann es noch nicht sagen. Ich möchte Sie noch etwas fragen.« »Heraus mit der Sprache«, entgegnete Donovan. »Was ist mit dieser Allianz, von der Martin gesprochen hat?« »Ich habe den Eindruck, es handelt sich dabei um eine Art Völkerbund – mit viel Idealismus, aber wenig militärischer Schlagkraft. Zusammen mit der Fünften Kolonne könnte sie sicher etwas erreichen, aber wahrscheinlich würde das für uns zu lange dauern.« »Danke«, sagte Maggie. »Der nächste.« »Elias«, sagte Donovan. »Ich verstehe Roberts Gefühle«, begann der junge Mann, »denn auch ich habe einen Menschen verloren, der mir viel bedeutet hat. Aber es wäre dumm, die ganze Welt in die Luft zu sprengen, um den Tod unserer Freunde zu rächen.« »Jetzt Sie, Caleb.« Calebs Stimme klang jetzt noch tiefer als sonst. »Ich bin das Kriegführen leid, das ist die reine Wahrheit. Aber es dürfte wohl nicht sehr sinnvoll sein, das Handtuch zu werfen, ehe wir zum Weltmeisterschaftskampf in den Ring treten.«
Elias sah seinen Vater ernst an. »Doch, Vater. Nämlich dann, wenn man weiß, daß der Gegner doppelt so groß wie man selbst ist.« »Und zudem noch bessere Waffen hat«, warf Juliet ein und beugte sich, die Hände zu Fäusten geballt, vor. »Ich habe genau gewußt, daß Sie so denken, Doc!« entgegnete Ham mit vor Sarkasmus triefender Stimme. »Sagen Sie mir – mit welcher Hand haben Sie sich heute früh die Zähne geputzt?« Donovan schlug mit der Hand auf den Tisch. »Also gut, ich habe euch gewarnt. Elias, Sie waschen das Geschirr ab«, erklärte er, und der Klang seiner Stimme ließ erkennen, daß er keinen Widerspruch duldete. »Julie, du hilfst ihm. Und Ham bringt den Müll weg, und Sie können sich gleich mit in die Mülltonne stecken, Tyler, denn da gehören Sie hin.« Protestgemurmel wurde laut. »Also gut. Ich gebe jetzt grünes Licht zur offenen Diskussion«, fuhr Donovan fort. »Aber wenn noch einmal jemand zu schreien anfängt, schmeiße ich den ganzen Kram hier hin und geh mit meinem Sohn Fangen spielen.« »Ich möchte Sie gern ein wenig über mich und meine Vorstellungen aufklären, Ham«, wandte sich Juliet an Tyler. »Seit dem Tag, an dem diese Gruppe zum erstenmal zusammenkam, hatte ich nie etwas anderes im Sinn, als die Visitors von unserem Planeten zu verjagen. Aber wir sprechen hier nicht von irgendeinem Buschkrieg – wir reden über die mögliche Zerstörung der Welt. Von diesem ganzen verdammten Planeten, Tyler, und allem Leben darauf! Man muß nicht konvertiert worden sein, um zu kapieren, daß das ein ganz schön wahnwitziger Gedanke ist.« Ham war nicht bereit, auch nur einen Zentimeter von seinem Standpunkt abzuweichen. »Entweder Sie töten das Raubtier,
meine Liebe, oder es wird Sie zum Frühstück verspeisen… und wir alle wissen, daß das wörtlich gemeint ist.« »Wissen Sie was?« mischte sich Donovan ein. »Wir alle wissen jetzt, was es heißt, das Schicksal der Welt in Händen zu haben. Ein ganz schön verrücktes Gefühl, nicht wahr? Wir wissen, was es bedeutet, solch eine Verantwortung zu tragen.« Er blickte einen nach dem anderen der Reihe nach an. »Es gibt Menschen auf dieser Welt – oder es gab sie zumindest noch vor zehn Monaten –, die ohne zu zögern auf jenen Knopf gedrückt hätten, weil es ihnen völlig egal war, was – von ihrem kleinen Zipfel der Erde abgesehen – mit dem Rest der Welt passiert. Jetzt jedoch besitzen wir die Macht. Und jeder einzelne hier im Raum muß darüber nachdenken, was aus dem Rest der Welt werden soll. Das ist eine verdammt schwere Entscheidung.« Er sah Ham an. »Also, wie fühlt man sich da? Sie sind jetzt ein Russe.« Er wandte sich an Elias. »Du ein Amerikaner, und du…« – er deutete auf Juliet –, »… bist irgendein Religionsfanatiker aus dem Mittleren Osten, der die Macht besitzt, die Welt zu zerstören.« Er lehnte sich mit ausdruckslosem Gesicht auf seinem Stuhl zurück, doch in seinen Augen funkelte es. »Also, wie fühlt ihr euch, Leute?« Eine kurze Pause des Schweigens trat ein. »Wir glauben, daß wir recht haben, und die anderen glauben dasselbe von sich«, erklärte Maggie schließlich. »Gibt es jemanden, der verrückt genug ist, die Welt zu zerstören, nur weil sie sich seinem Willen nicht unterwerfen will?« »Diana wäre in der Lage dazu«, entgegnete Juliet leise. »Hat sie Ihnen aufgetragen, das zu sagen?« fragte Ham. »Halten Sie den Mund, Tyler!« riefen Donovan und Juliet beinahe gleichzeitig und blickten sich dann an. »Du schuldest mir ein Bier«, meinte Donovan.
»Wenn wir dann noch leben, gebe ich dir gern eins aus«, erwiderte Juliet düster. Dann schwieg sie nachdenklich. »Die Fünfte Kolonne gewinnt – ebenso wie wir – täglich neue Anhänger«, fuhr sie schließlich fort. »Es besteht also auch die Möglichkeit, daß die Visitors mit der Zeit zu einer Truppe werden, die keine Bedrohung mehr für uns darstellt.« Robert Maxwell schüttelte den Kopf. »Das hat Neville Chamberlain seinerzeit auch einmal über Hitler gesagt. Wollen wir dieses Risiko eingehen?« Wieder schloß sich Stille an, und nach einer Weile meinte Donovan: »Nun gut. Jeder konnte seine Meinung sagen. Was also sollen wir jetzt machen? Abstimmen?« Er sah Juliet fragend an. »Ich glaube, ja«, erklärte sie. »Wir sind mehr an Demokratie gewöhnt als an jede andere Regierungsform. Ich hole Papier und Bleistift.« »In Ordnung«, sagte Donovan, als sie mit den Schreibutensilien zurückgekehrt war. »Schreibt ein Wort auf das Stück Papier. Wer unserem Plan den Vorzug gibt, demzufolge eine Gruppe den Staub verbreitet, während eine andere das Mutterschiff überfällt und versucht, es unter Kontrolle zu bekommen, bevor Diana auf den Knopf drücken kann, der schreibt ›Ja‹. Wer seine Meinung wegen des verhängnisvollen Universalen Destruktors an Bord des Raumschiffes von Los Angeles geändert hat, schreibt ›Nein‹. Haben mich alle verstanden?« Ham Tyler stand auf. »Ich mache da nicht mit.« »Jeder von uns hat eine Stimme zu vergeben, sogar Sie, Tyler.« »Nein. Jeder weiß, wie ich darüber denke. Wenn die Gruppe meine Meinung nicht teilt, so kann ich auch dadurch nichts ändern, daß ich hier sitze und etwas auf einen Stimmzettel schreibe. Aber ich möchte die Gruppe noch einmal daran
erinnern, daß die Visitors mit der Absicht hierhergekommen sind, uns auszutrocknen.« Er hob die Hand, um Einwänden zuvorzukommen. »Gut, gut. Ich weiß, daß die meisten von ihnen nicht wußten, daß wir intelligente Lebewesen sind – sie waren lediglich Befehlsempfänger. Der wahre Grund ihrer Mission jedoch bleibt bestehen – sie kamen her, um uns alles Wasser zu stehlen. Und wenn sie das getan haben, kommen wir selbst an die Reihe. Nicht nur wir hier, sondern die gesamte Menschheit. Bis dahin wird unsere Welt bereits zu einer Wüste geworden sein. Jetzt jedoch – hier und in diesem Augenblick – haben wir eine Chance gegen die Visitors. Wir werden vielleicht nie wieder eine so gute bekommen, Leute. Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, daß wir es nicht schaffen, daß es uns nicht gelingt, das Mutterschiff rechtzeitig unter Kontrolle zu bringen, ehe jemand den Destruktor aktivieren kann. Aber ich glaube, wir schaffen es. Ich habe mehr als zwanzig Jahre mit solchen Sachen zu tun gehabt, und dies ist meine Überzeugung: Wir sind gut. Wir alle. Ich habe noch nie mit einer besseren Truppe gearbeitet, und das sage ich nicht nur so dahin. Doch wie immer diese Gruppe sich auch entscheidet – ich werde zu ihr stehen. Sie müssen jetzt die Risiken gegeneinander abwägen – alles zu riskieren und dadurch vielleicht wieder leben zu können oder sich tatenlos zurückzulehnen und dadurch nur das Sterben zu verlängern. Das ist keine Übertreibung! Wir wissen, was die Visitors planen. Ich sagte, daß es in diesem Kampf keinen Weg der Mitte gibt – wenn wir nicht siegen, sterben wir.« Lange saßen sie schweigend da, blickten sich nur nachdenklich an. Dann wandte sich Maggie an Tyler: »Sie glauben wirklich, daß wir das Schiff rechtzeitig unter Kontrolle bringen können?«
»Ja«, erwiderte Ham entschieden, drehte sich um und verließ das Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Hat noch irgend jemand etwas zu sagen?« fragte Donovan. Als alles schwieg, fuhr er fort: »Also gut. Dann stimmen wir ab.« In der Abgeschiedenheit ihres Büros schob Juliet langsam die Papierschnitzel zusammen und zählte sie dann, um sicherzugehen, ein zweites Mal durch. Es war entschieden. Mit geringer Mehrheit (aber wie konnte es auch anders sein – wir sind eine kleine Gruppe, dachte sie bitter) hatte man für den Angriff gestimmt. Jetzt mußte sie ihre Leute in einen Kampf führen, vor dem ihr graute. Verdammt, verdammt, verdammt, dachte sie müde, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wenn ich nun recht habe und die anderen sich irren… Verzweifelt stützte sie den Kopf auf die Hände, als sie erkannte, daß die Angst es ihr unmöglich machte, das Risiko richtig einzuschätzen. Schon als kleines Kind hatte Juliet schreckliche Angst vor einem Atomkrieg gehabt – größere Furcht als ihre Freunde. Jahrelang war sie schon rein körperlich nicht in der Lage gewesen, sich Bilder von Atompilzen anzusehen, weil ihr schon beim Anblick der Fotos schlecht wurde. Oft war sie nachts schweißgebadet aus Träumen aufgewacht, in denen die Bomben gefallen waren und sie die einzige gewesen war, die einen kühlen Kopf behielt und alles organisierte, die Fluchtwege plante, die Kranken und Sterbenden pflegte. Und bei alldem schienen ihre Füße, wie es so oft in Träumen geschieht, am Boden festgewachsen zu sein. Immer wieder ist es diese Urangst in mir, die mich schwach macht, dachte sie verwundert. Sie blickte auf ihre Hand herunter, die die Stimmzettel träge hin- und herschob. Die linke! Verdammt, verdammt! Ich dachte, es ginge mir jetzt
besser. Vielleicht hat Ham Tyler doch recht. Vielleicht bin ich doch konvertiert, und das ist der Grund, warum ich nicht… Die Tür hinter ihr öffnete sich, und Donovan trat ein. »Fertig?« Er sah ihr Gesicht und wollte sich wieder zurückziehen. »Ich komme später wieder.« »Nein, es geht schon. Komm rein, Mike.« Während er die Tür hinter sich schloß, blickte er sie forschend an. »Bist du sicher? Ich habe Verständnis dafür, wenn du noch etwas Zeit brauchst.« Juliet begann zu lachen – und es war ein hysterisches Lachen, wie sie selbst voller Entsetzen bemerkte. »Zeit? Natürlich. Genau das ist es, was ich brauche! Zeit, und eine ganze Horde gottverdammter Fremder, die mit meinem Kopf und meinem Leben Murmeln spielen!« »Heh!« Donovan näherte sich ihr, hob sie einfach hoch und legte sie auf die Matratze. Dort hockte er sich neben Juliet und umarmte sie. »Ich verstehe dich doch! Ich verstehe dich«, murmelte er ihr zu. So hielt er sie lange Zeit, streichelte ihren Rücken, ihr Haar. Schließlich hob Donovan den Kopf und versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen. »Du weinst, Doc?« »Nein«, flüsterte sie. »Ich wünschte, ich könnte es. Ich habe um Ben geweint, um Ruby, um Brad und um Chris. Ich habe keine Tränen mehr, und ich fürchte, das Schlimmste kommt erst noch.« »Dann weint ohnehin niemand mehr, weil niemand mehr Zeit dazu hat.« »Ja.« »Demnach hat man sich für den Victory-Tag entschieden?« »Ja.« Juliet wich ein wenig von Donovan zurück und sah ihn an. »Du hast auch dafür gestimmt, nicht wahr?« Er sah ihr in die Augen. »Ja, das habe ich. Ich glaube, Ham hat recht. Ich glaube, daß wir gut genug sind, und mit ein
wenig Glück gelingt es uns bestimmt, das Mutterschiff unter unsere Kontrolle zu bringen und Diana zu überwältigen. Denn sie ist es, vor der wir Angst haben müssen. Martin glaubt, daß weder Pamela noch John wahnsinnig genug sind, um den Destruktor auszulösen, und Steven hat nicht genug Mut dazu. Ich bin überzeugt davon, daß wir Diana überwältigen können, ehe sie den Knopf zu drücken vermag. Und darum bin ich für die Aktion gewesen.« »Wirst du das Ham erzählen? Er würde wahrscheinlich in Ohnmacht fallen, wenn er erfährt, daß du einmal seine Partei ergreifst.« Donovan lachte. »Davon bin ich überzeugt.« Juliet sah ihn ernst an. »Ich mag die Art, wie du jetzt lachst. Als ich dir zum ersten Mal begegnete, hast du nie richtig gelacht, weißt du. Es war mehr ein kurzes, verlegenes Kichern, so als hättest du Angst, es könnte jemand merken, daß du dich freust.« »Ich war ein emotionaler Krüppel, bevor ich dich traf.« »Nein, das warst du nicht. Und jetzt versuchst du gerade, mich aufzuheitern.« »Ist es mir gelungen?« »Ja, ein bißchen. Genug jedenfalls, daß ich tun kann, was getan werden muß.« Seine Hand glitt an ihrem Hals herab und berührte ihre Schulter. »Wieviel besser geht es dir?« Sie lachte leise auf. »Du bist unersättlich, Donovan. Wir sprechen davon, daß die Welt vielleicht in wenigen Tagen in die Luft gesprengt wird, und du kannst an nichts anderes denken als ans Bett.« Er blickte sie ernst an. »Kannst du dir bei den Aussichten eine bessere Art und Weise vorstellen, die Zeit bis dahin zu verbringen?«
Sie küßte ihn, und ihre Hand glitt unter sein Hemd. Dann rückte sie ein wenig von ihm ab. »Wenn du es so betrachtest – nein, ich kann mir nichts Besseres vorstellen. Ganz abgesehen davon tut es uns ganz gut, noch ein paar Minuten für uns alleine zu haben. Denn wenn ich erst einmal hinausgehe und der Gruppe die Entscheidung verkünde, habe ich keine Zeit mehr, mich irgendwohin zu setzen – außer gerade noch auf der Toilette.« Er lachte wieder auf diese seltsam verlegene Art. »Es wäre schrecklich, mit voller Blase umgebracht zu werden.« Dann begann er, ihre Bluse aufzuknöpfen. Seine Finger bewegten sich langsam und strichen dabei leicht über ihre Brust. Während seine Hände weiter über ihren Körper glitten, beugte er sich vor und küßte sie. Es war ein erregender Kuß, voller Verlangen und Leidenschaft. Juliet schloß die Augen, und sie spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Kehle, und er sah sie fragend an. »Magst du das?« fragte er mit heiserer Stimme. »Du weißt, daß ich es mag«, entgegnete sie und küßte ihn. Dann zog sie ihn zu sich herunter, und während sie ihn voll verzweifelter Wildheit umarmte, bemühte sie sich, nicht daran zu denken, daß es das letzte Mal sein könnte.
32. Kapitel
»He, Sean! Wollen wir Fangen spielen?« rief Josh Brooks, als er auf den Parkplatz der Molkerei trat, Sean Donovan blieb stehen und blickte erfreut auf. Dann jedoch wurde er wieder ernst. »Nein, ich glaube nicht«, erwiderte er. »Warum nicht?« fragte Josh. »Bist du krank? Du willst überhaupt nie mehr so wie früher mit mir spielen. Bist du mir böse?« Sean zögerte mit der Antwort. »N-nein. Ich mag nur einfach nicht.« Mike Donovan, der gerade aus dem Bürogebäude kam, um sich in die Fabrik zu begeben, blieb stehen. »Das ist eine gute Idee. Habt ihr etwas dagegen, wenn ein Dinosaurier wie ich mitmacht?« »Oh, nein, Mr. Donovan! Ich hole noch einen Handschuh.« Joshs sommersprossiges Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen, und er lief fort. Kurz darauf kehrte er mit einem zweiten und schon recht mitgenommen wirkenden Handschuh zurück. »Wer will den hier?« Donovan sah Sean an. »Ich werfe den Ball erst euch zu, und anschließend spiele ich den Fänger.« »In Ordnung«, sagte Sean unsicher, und Josh reichte ihm den Handschuh. Sean starrte ihn an und streifte ihn sich dann über die rechte Hand. Mike beobachtete ihn aus schmalen Augen. Sein Sohn hatte zwei Jahre lang bei den »Little-League-AllStars« gespielt, in einem Team, das immerhin zur dritten Liga gehörte.
»Gut. Seid ihr fertig?« Mike warf Josh den Ball zu und beobachtete, wie der nicht ganz so athletisch gebaute Junge das Leder recht gekonnt auffing. »Gut, Josh. Du hast dich verbessert seit dem letzten Sommer.« »Danke, Mr. Donovan.« »Jetzt ist Sean dran«, sagte Mike und warf seinem Sohn den Ball so zu, daß er ihn leicht fangen konnte. Sean zögerte und streckte die linke Hand aus, so als wolle er damit das Leder fangen. Der Ball flog an ihm vorbei und prallte an dem Eisenzaun hinter ihm ab. »He, Sean! Was ist los mit dir?« Josh starrte seinen Freund verblüfft an. »Der war leicht zu fangen.« »Macht nichts«, sagte Mike, bemüht, seine Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen. Sein Puls hämmerte hinter den Schläfen. »Selbst Brooks Robinson brauchte eine Weile, um in Form zu kommen. Also gut, Sean: Versuchen wir es noch einmal.« Der Ball flog in hohem Bogen auf Sean zu, und der Junge mußte zurückweichen, wenn er ihn fangen wollte. Einen Augenblick zögerte er, und dann hob er die Hand – doch er verfehlte das Leder um gut dreißig Zentimeter. Entsetzt schloß Donovan die Augen, und seine Gedanken drehten sich hilflos im Kreis. Oh, Gott! Gib mir die Möglichkeit, diese Hexe Diana umzubringen, bevor ich sterbe! Ob es irgend jemand bemerkt hat? Was sollen wir machen, wenn es den anderen auffällt? Ich muß ihn wegbringen, ihn beschützen. Aber heute abend ist die Besprechung wegen des Angriffs, da kann ich nicht weg… Himmel, was soll ich nur tun? »He, Mr. Donovan… ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Josh starrte ihn besorgt an.
»Ja, ja.« Mike öffnete die Augen, versuchte zu lächeln, brachte jedoch nur ein schiefes Grinsen zustande. »Wo ist Sean?« »Er war furchtbar aufgeregt, weil er den Ball nicht erwischt hat, und ist weggelaufen. Ich glaube, er weinte sogar. Was hat er nur, Mr. Donovan?« »Ach, nichts, Josh. Er sagte mir noch heute morgen, daß er sehr viel für seine Geschichtsarbeit zu tun habe. Wahrscheinlich will er jetzt lernen.« »Sicher«, entgegnete Josh mit besorgter Miene. »Das muß es sein.« »Natürlich«, bekräftigte Mike. »Jeder kann einmal einen schlechten Tag haben.« Als das Signal über der Tür aufleuchtete, blickte Diana auf. »Herein«, sagte sie und sah dem eintretenden untersetzten Mann mit kaltem Blick entgegen. »Ah, Pater Andrew! Danke, daß Sie gekommen sind. Ich wollte Ihnen sagen, daß ich Ihre Bibel zu Ende gelesen habe.« »Und?« »Ich fand sie äußerst interessant. Von einigen der hübschen poetischen Passagen war ich tief beeindruckt.« »Das ist wunderbar! Ich freue mich so sehr, das zu hören.« »Ich habe auch darüber nachgedacht, was passieren könnte, wenn Ihre Religionen, die Liebe und Frieden predigen – denen treu zu bleiben den Menschen oft Schwierigkeiten zu bereiten scheint –, wenn diese Religionen auf meinem Planeten eingeführt würden. Wenn ich mich also von diesen Lehren beeinflussen ließe und versuchte, sie meinen… weniger hartgesottenen Artgenossen zu vermitteln – was würde wohl aus ihnen werden?« »Es könnte den Verlauf der Geschichte Ihres Planeten und Ihres Volkes verändern«, antwortete Pater Andrew mit warmem Lächeln.
»Ja, das könnte es. Sie haben mich sehr beeindruckt, Pater Andrew, Sie und Ihr Gott. Ihre Worte klingen äußerst faszinierend. Besonders für diejenigen, die… Kummer haben.« »Ich bin nur das Sprachrohr, Diana. Ich versuche zu hören, was Gott mir sagen will, und gebe es weiter.« »Sie sind zu bescheiden, Pater. Die Gespräche, die wir in den letzten Tagen geführt haben, waren außerordentlich aufschlußreich für mich. Sie haben mir neue Energie verliehen, und ich muß Ihnen dafür danken.« Ein breites Grinsen erhellte Pater Andrews Gesicht. »Ich muß gestehen, dieses Lob kommt unerwartet für mich, insbesondere aus dem Munde einer so selbstbewußten Person.« »Selbstbewußt? Bis vor ein paar Tagen noch hätte ich mich nie anders bezeichnet. Aber Sie haben mir gezeigt, daß ich auch verwundbar bin. Ich hätte mir bisher nie erlaubt, solche Dinge zu fühlen oder gar auszusprechen. Ja, ich wußte nicht einmal, daß sie existierten.« Betont langsam zog sie den Laser, und der grelle Blitz aus dem Lauf der Waffe traf den Priester mitten auf der Brust. Während sie zusah, wie er mit entsetzt aufgerissenen Augen zu Boden sank, fügte sie hinzu: »Und ich werde nicht zulassen, daß sie noch länger existieren.« Sie schleuderte die Bibel neben die Leiche des Priesters, wo sie angesichts der Hitze der energetischen Entladung sogleich zu Asche verbrannte. Selbst im Todeskampf wollte Pater Andrew nicht glauben, was mit ihm geschah, und er starrte sie fassungslos an. »Verwundbar zu sein, ist eine nutzlose Schwäche, mein lieber Priester. Meine Stärke lag schon immer darin, daß ich in der Lage war zu tun, was getan werden mußte, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für mich und für andere.« Sie drückte auf den Knopf des Interkoms. »Jake?« »Ja, Diana?«
»Schicken Sie sofort einen Aufräumtrupp in mein Quartier.« »Ja, Diana.« Ein leises Geräusch aus dem angrenzenden Raum ließ sie herumfahren. Elizabeth stand im Türrahmen und starrte Diana mit großen Augen an.
Der Rat der Widerstandskämpfer saß am Konferenztisch, während Ham Tyler vor ihnen stand und auf eine alte Tafel schrieb. In dem durch die Jalousien hereinfallenden Licht der Morgensonne flimmerte ein Schleier weißen Kreidestaubs. »Während die Los Angeles-Gruppe in Edwards zuschlägt, wird die D.C.-Gruppe bei Andrews tätig sein. Die PortsmouthGruppe übernimmt Pease, und die Leute von Saint Louis machen in Scott Dampf. Und so weiter. Auf diese Weise werden die Visitors so überrumpelt, daß es bestimmt einige Stunden dauert, bis sie eine organisierte Gegenaktion unternehmen. Dann aber ist das Toxin schon in der Luft und erledigt sie.« »Hat das jeder verstanden?« fragte er. »Den Plan, die Zeit, den Treffpunkt? Wir können uns keinen Schnitzer leisten, Leute.« Alle nickten. Es gab keine Fragen. »Gut«, sagte Tyler. »Dann viel Glück für uns alle.« Als sich niemand rührte, fügte er hinzu: »Das ist alles. Wecken um halb vier. Und eßt nicht zuviel.« Langsam erhoben sich die Rebellen, schlenderten umher, bildeten kleine Gruppen und unterhielten sich. Caleb Taylor blickte auf, als sein Sohn mit einem Stoß Visitor-Uniformen hereinkam. »Sieben Stück, Paps.« Der alte Mann verzog das Gesicht. »Du solltest zehn bringen. Und du kommst zu spät. Du hast die Einsatzbesprechung
versäumt, die Ham Tyler einberufen hat. Wo hast du dich herumgetrieben?« »Ich habe mich nicht herumgetrieben, Paps«, erwiderte Elias, und seine Züge verhärteten sich, nahmen wieder den teilnahmslosen, leichtfertigen Ausdruck von früher an. »Ich habe mein Bestes getan.« Er ließ die Uniformen auf den Tisch fallen und ging in sehr steifer Haltung hinaus. Sein Vater gab einen verächtlichen Ton von sich. »Bitte, Caleb«, sagte Juliet und legte die Hand auf seinen Arm. »Er macht doch nur noch mit den Visitors Drogengeschäfte. Sonst rührte er das Zeug bestimmt nicht mehr an. Er hat sich geändert, Caleb. Merkst du das denn nicht?« Caleb wich ihrem Blick aus. »Er ist ein lausiger Dealer.« Einen Augenblick lang starrte Juliet ihn sprachlos an. Dann packte sie seinen Arm und drehte ihn zu sich herum, so daß er sie ansehen mußte. »Jetzt hör mir mal zu, Caleb Taylor! Elias ist einer unserer besten Leute! Und ich lasse nicht zu, daß du ihm wenige Stunden vor dem Angriff den Schneid nimmst. Das akzeptiere ich nicht, verstehst du? Zum Teufel, Caleb, was soll er denn machen, damit du ihn endlich liebst? Sterben, wie Ben?« Taylor starrte sie an. Schock, Wut und Ablehnung glitzerten in seinen Augen. Als Juliet den Blick nicht von ihm abwandte, senkte er den Kopf. »Stimmt das? Bestrafe ich Elias, weil er lebt und Ben tot ist?« »So könnte man es bezeichnen«, erwiderte Juliet sanft. »Ich weiß, daß du das nicht absichtlich getan hast, und ich meine, du solltest dich noch vor dem Angriff mit ihm aussöhnen. Es könnte ja immerhin sein, daß…« – sie holte tief Luft und blickte zu Boden; dann sah sie ihn wieder an –, »… daß am Victory-Tag etwas passiert, was Gott verhindern möge.«
Caleb nickte. »Danke, Julie«, sagte er schließlich leise und verließ den Raum, um mit Elias zu sprechen. Donovan hatte den Konferenzraum bereits verlassen, um nach Sean zu suchen. Schließlich fand er ihn in dem an den Konferenzraum angrenzenden Zimmer, vor sich ein aufgeschlagenes Geschichtsbuch. Mike blieb in der Tür stehen. »Sean?« Sein Sohn richtete sich erschrocken auf und blickte ihn aus weitaufgerissenen Augen an. »Oh, Vati! Was gibt’s?« »Ich möchte, daß du mit mir kommst, Sean. Wir machen eine Spazierfahrt.« Ein seltsamer Ausdruck, den Mike nicht deuten konnte, huschte über Seans Gesicht. »Wohin, Vati?« »Wir besuchen deine Großmutter.« Vorsichtshalber zog er eine weiße Lieferantenuniform an und setzte eine dunkle Brille und eine weiße Kappe auf, die er tief über die Augen zog. Dann nahm er Harmys Lieferwagen und ließ Sean einsteigen. Eine Zeitlang versuchte er, sich mit ihm zu unterhalten, doch Sean blieb einsilbig, und so gab Mike es schließlich auf. Zwei Häuserblocks von Eleanors Villa entfernt stellte Donovan den Wagen auf dem Bürgersteig ab. »Ich möchte dich bitten, von hier aus allein weiterzugehen, Sean. Es wäre zu gefährlich für mich, mich weiter zu nähern.« Er tippte an die verschlissene Baseballkappe des Jungen. »In Ordnung, Papa.« Sean zögerte. »Warum schickst du mich weg, Vati?« »Das kann ich dir nicht sagen, Sohn. Es ist ein Geheimnis. Aber es ist nur für kurze Zeit, und du bist hier in Sicherheit. Sag deiner Großmutter, sie soll gut auf dich aufpassen. Ich weiß, sie wird es tun.« »Ja, Vati.« Er wirkte ein wenig traurig und bedrückt, als er zu seinem Vater aufblickte.
»Ich liebe dich, Sohn. Vergiß das nicht.« Er zog den Jungen an sich und küßte ihn auf die Wange. »Sei lieb zu deiner Großmutter.« »Ja. Auf Wiedersehen, Vati.« Robert Maxwell klopfte an Robins Zimmertür. »Binna? Hier ist dein Vater. Ich muß mit dir reden.« Es dauerte eine Weile, bis er ein lakonisches »Komm herein, Vati« vernahm. Als er eingetreten war, mußten sich seine Augen erst an das Halbdunkel gewöhnen. Mit einem unterdrückten Fluch auf den Lippen trat er an die Jalousien heran und zog sie hoch. Sonnenlicht flutete herein und zeigte deutlich das ungepflegte glatte Haar des Mädchens, die tiefen Ringe unter seinen Augen. Robin rollte sich auf die Seite, um nicht ins Licht sehen zu müssen. Dann blieb sie wieder regungslos liegen. Maxwell setzte sich neben sie auf das Bett. »Robin, komm endlich wieder zu dir. Es sind nur noch Stunden bis zum Victory-Tag – du mußt dich zusammenreißen und dich um die Kinder kümmern. Wir brauchen jeden einzelnen.« Robin antwortete nicht. Wie sie so zusammengerollt auf dem Bett lag, hatte sie beinahe etwas Embryohaftes an sich. Robert streckte die Hand aus und schüttelte sie bei der Schulter. »Du siehst schrecklich aus. Dein Haar ist schmutzig. Wann hast du zum letzten Mal geduscht? Oder einmal richtig gegessen, anstatt immer nur auf dem Teller herumzustochern? Wann gehst du wieder einmal mit deinen Schwestern spazieren? Du bist jetzt die Mutter für sie. Sie brauchen dich. Willst du sie im Stich lassen? Was würde deine Mutter sagen, wenn sie dich jetzt sehen könnte?« »Laß mich allein«, preßte Robin hervor. »Das kann ich nicht, verdammt! Dazu brauche ich dich zu sehr, Robin. Ich weiß, du hast viel durchgemacht, aber das habe ich auch. Wir alle. Willst du den Rest deines Lebens
passiv an dir vorüberziehen lassen, weil du zu feige bist, dich den Tatsachen zu stellen?« Robin zuckte einige Male krampfhaft und blieb dann wieder still liegen. »Es ist Zeit, erwachsen zu werden, Robin, ob du nun willst oder nicht. Du warst unser Erstgeborenes, und wir haben dich sehr verwöhnt. In vielerlei Hinsicht ist Polly ein wohlgerateneres Kind, denn wir haben an dir gelernt und bei ihrer Erziehung nicht dieselben Fehler gemacht.« Robert holte tief Luft. »Jetzt wird sie bald dreizehn. Möchtest du, daß sie psychische Störungen erleidet, weil sie allein, ohne Mutter aufwächst mit einer Schwester, die sich nur um sich selber kümmert?« »Ich habe immer meine Pflicht getan.« »Unsinn! Du hast dich wie ein Zombie durch die Tage geschleppt, hast nie gelacht, nie geredet. Die Leute kriegen Depressionen, wenn sie dich sehen.« Er hörte ihr unterdrücktes Schluchzen, fuhr jedoch unbarmherzig fort: »Und die Schule! Zuerst hast du nichts getan, weil du dauernd am Telefon hingst und mit deinen Freundinnen gequasselt hast. Jetzt willst du nicht lernen, weil das Leben dir übel mitgespielt hat. Was für eine Entschuldigung fällt dir wohl in zehn Jahren ein? Oder in zwanzig? Wenn du nicht endlich versuchst, die verlorene Zeit nachzuholen, wird dein Leben so leer sein, daß du eines Tages wieder einen Selbstmordversuch unternimmst. Möchtest du das?« Sie weinte jetzt heftiger. »Ich habe dich in Ruhe gelassen, so lange es ging, Robin. Aber du mußt dich jetzt zusammenreißen, hier und jetzt.« »Ich bin nicht Mutter! Ich bin nicht so stark wie sie!« »Ich bin auch kein Kämpfer, zumindest war ich es nicht, bevor all das hier anfing. Jetzt bin ich in der Lage, eine M-16 im Dunkeln zusammenzusetzen und ein Ziel auf dreihundert
Meter Entfernung zu treffen. Ich kann mit Plastiksprengstoff und Handgranaten umgehen. Ich habe gelernt, Robin, weil ich leben wollte. Und du wirst auch lernen müssen, das zu wollen.« Er strich ihr übers Haar. »Ich habe dir heute sehr ernste Dinge gesagt, Binna. Dinge, die ich nur einem Erwachsenen sagen konnte. Ich glaube, daß du stark genug bist, um es zu schaffen, dich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Wir brauchen dich so sehr, mein Liebes.« Lange, bange Sekunden befürchtete er, zu weit gegangen zu sein – oder daß sie schon so weit entfernt war, als daß er sie noch in die Wirklichkeit zurückholen konnte. Dann jedoch rückte sie näher an ihn heran. »Es tut mir so leid, Vati. Ich habe dich im Stich gelassen.« Er zog sie zu sich hoch, wiegte sie in seinen Armen. »Nein, das hast du nicht, mein Liebling. Niemand kann dir einen Vorwurf machen, weil dich das alles so mitgenommen hat. Aber jetzt ist es an der Zeit aufzuwachen und der Realität ins Auge zu sehen.« »Ich will es versuchen, Vati.« »Das weiß ich, Binna.« Maxwell stand auf und wollte sich gerade umwenden, als Robin fragte: »Vati? Diese Verantwortung, von der du sprachst – sie bezieht sich doch ebenso auf mein eigenes Kind wie auf Polly und Katie, nicht wahr?« »Es ist möglich, daß wir Elizabeth nie wiedersehen, Robin.« »Ich weiß. Aber wenn sie zurückkommt, darfst du nicht versuchen, mich davon abzuhalten, sie zu sehen. Versprichst du mir das?« Maxwell atmete schwer und lachte dann bitter auf. »Jetzt bist du dran, Dr. Maxwell«, murmelte er. Er wählte seine Worte mit aller Vorsicht, als er erwiderte: »Ich kann nicht leugnen, daß ich den Visitors gegenüber viele bittere Gefühle hege,
Robin. Aber Elizabeth ist meine Enkelin.« Er schüttelte den Kopf. »Ich werde natürlich nicht versuchen, dich davon abzuhalten, sie zu sehen, aber ich kann dir trotzdem nicht versprechen, daß ich sie mit offenen Armen in unser Haus aufnehme. Auch mit den besten Absichten kann man Monate voller Bitterkeit und Schmerz nicht so einfach auslöschen. Doch ich werde es versuchen und mich daran erinnern, daß sie nur ein Kind und nicht verantwortlich ist für das, was geschah. Ja, ich will versuchen, sie zu akzeptieren.« Er drehte sich um und sah Robin an. Seit Monaten zeigte ihr Gesicht zum erstenmal wieder Leben. »Wir müssen uns beide Mühe geben, Vati. Vielleicht kann ich ihr ohnehin keine richtige Mutter sein. Willie sagt, daß die Visitors ihre Kinder nicht in der gleichen Weise erziehen wie wir. Sie werden viel zu schnell groß. Doch wenn sie zurückkommt, kann ich versuchen, sie zu verstehen und ihr zu helfen. Ich kann versuchen, ihre Freundin zu sein.« »Es sind Bakterien. Was für welche, weiß ich nicht«, nuschelte Sean, während er an einem Erdnußbutterkeks kaute. »Was haben sie mit den Bakterien vor, mein Liebling?« fragte Eleanor. »Sie wollen sie mit Hilfe einiger Düsenflugzeuge in der Atmosphäre verteilen.« Steven beugte sich vor. »Und woher bekommen sie die Flugzeuge?« »Vom Luftwaffenstützpunkt Edwards. Sie wollen sie dort stehlen.« »Ein gemeiner Dieb also! Was wird Michael noch alles tun, um unseren Namen zu entehren?« bemerkte Eleanor zornig. Seans kleines Gesicht verdunkelte sich. »Sprich nicht so von Vati, Oma. Ich liebe meinen Vater. Sie haben ihn nur durcheinandergebracht. Diana sagt, seine Seele sei krank, und sie könne ihn mit meiner Hilfe heilen. Sie zeigte mir
Traumbilder: In manchen von ihnen war er krank, und die anderen zeigten ihn nach der Heilung: gesund und freudig lachend.« Steven warf Eleanor einen vielsagenden Blick zu. »Machen Sie ihn sich nicht zum Feind, Eleanor«, flüsterte er. »Die Konvertierung ist manchmal sehr riskant, insbesondere dann, wenn man versucht, so starke emotionale Bindungen zu lösen.« Er wandte sich wieder Sean zu, der sich gerade einen Milchbart von der Oberlippe wischte. »Du warst uns eine große Hilfe, Sean. Weißt du, wie viele Flugzeuge sie stehlen wollen?« »Eine Menge, glaube ich. Und sie haben Freunde in anderen Städten. Sie wollen alle gleichzeitig angreifen.« »Für wann ist das alles geplant, Schatz?« fragte Eleanor. »Kann ich ein Stück Kuchen haben?« Steven und Eleanor, die die Köpfe zusammengesteckt hatten, fuhren auseinander. »Es ist nicht sehr höflich, das Thema zu wechseln, mein Lieber«, wies Eleanor ihn zurecht. »Aber ich habe immer noch Hunger. Seit dem Mittagessen sind zwei Stunden vergangen!« »Natürlich kannst du ein Stück Kuchen haben, Liebling. Sobald du unsere Frage beantwortet hast, wird Großmama dir ein Stück abschneiden.« »Der Angriff soll morgen früh bei Morgengrauen stattfinden. Ich möchte bitte Schokolade haben.« »Bist du sicher, Sean?« fragte Steven. »Ganz sicher. Sie waren alle zu einer großen Besprechung versammelt, und ich saß im Nebenzimmer und belauschte sie. Ich konnte alles sehr gut verstehen.« »Du bist ein braver Junge.« Schnell schnitt Eleanor ihm ein Stück Kuchen ab und schickte ihn nach draußen. Steven sah Eleanor mit berechnendem Lächeln an. »Diese Information ist von unschätzbarem Wert für uns. Mein
einziges Problem ist jetzt die Frage, wen ich zuerst informieren soll – Diana oder Pamela?« Eleanor lächelte ihn verständnisvoll an. »Bestimmt wird man Ihnen für diese Informationen sehr dankbar sein – aber von wem können Sie mehr für sich selbst erwarten – von Diana oder von Pamela?« »Darüber denke ich gerade nach.« Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. »Sie werden Ihre alten Freunde nicht vergessen, wenn Sie Oberster Kommandeur sind, nicht wahr, Steven?« Er sah sie abschätzend an. »Nein, wenn sie nicht zu ehrgeizig werden.« Er berührte das vor ihr liegende Buch, in dem ein Lesezeichen steckte. »Der Prinz« von Machiavelli lautete der Titel. »In dem Buch steht, wie man durch politische Intrigen vorwärtskommt, nicht wahr, Eleanor?« »Nun… ja, aber das bedeutet nicht…« »Das ist auch besser so. Ich mußte schon den jungen Bernstein aus dem Verkehr ziehen, wie Sie ja wissen. Er wurde zum Sicherheitsrisiko. Einem vom Ehrgeiz zerfressenen Sicherheitsrisiko.« Wachsendes Unbehagen entstand in Eleanor, als sie zaghaft fragte: »Was haben Sie mit ihm gemacht?« Steven lächelte. »Ich versichere Ihnen, es ist besser, wenn Sie das nicht erfahren, verehrte Dame.« Diana stand vor dem Konferenzraum und schaltete den Interkom ein. »Pamela? Hier ist Diana. Ich möchte Sie sprechen.« »Ich bin sehr beschäftigt, Diana. Hat es nicht noch etwas Zeit?« »Leider nicht. Es geht um den Großangriff, den die Rebellen für morgen früh planen.«
Das Schott öffnete sich, und Diana trat ein. Pamela saß am Tisch, während ihr Adjutant an der Sehklappe stand und den abnehmenden Mond betrachtete. »Auf welche Weise haben Sie von dem Angriff erfahren, Diana? In diesem Fall hätte man wohl eher mich informieren sollen.« Diana neigte hochmütig den Kopf. »Ich bin durchaus berechtigt, diese Information zu erhalten, Pamela. Schließlich stammt sie aus einer Quelle, die nur dank meiner Methode sprudelt.« Pamelas Gesicht war eine kalte, ausdruckslose Maske. »Sie haben lediglich Anspruch auf Informationen, die den wissenschaftlichen Teil unserer Mission betreffen – auf nichts anderes!« »Auf meinem Weg hierher kam ich über das Landedeck. Ich habe dort keinen einzigen startbereiten Truppentransporter und keine Soldaten gesehen. Ist es möglich, daß Sie den Bericht des Jungen nicht ernst nehmen?« »Es ist nicht üblich, Truppenbewegungen auf das Geschwätz eines Menschenkindes hin in Gang zu setzen.« »Ich habe ihn selbst konvertiert. Seine Information ist zuverlässig.« »Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, daß ich Ihren Konvertierungsverfahren nicht traue. Doch wie auch immer – ich sorge dafür, daß sich jemand darum kümmert, falls Sie das beruhigt.« »Wann wollen Sie etwas unternehmen? Die Angriffe sollen in acht Stunden beginnen.« Pamela warf ihrem Adjutanten einen bedeutsamen Blick zu, dann erwiderte sie mit ironisch-gönnerhaftem Lächeln: »Ihr Wissenschaftler regt euch immer viel zu schnell auf.«
Diana erwiderte ihr Lächeln. »Und bei euch Militärs weiß man nie, was ihr vorhabt. Das kann man von mir nicht behaupten.« Sie zog einen Laser unter den Falten ihres weiten Kleides hervor und betätigte den Auslöser. Der Energieblitz traf die fassungslose Pamela in der einen Schulter. Dann schnellte sie herum und schoß auf den Adjutanten, ehe dieser zur Waffe greifen konnte. Tödlich getroffen fiel er zu Boden. Diana ging und blickte auf Pamela, die auf allen vieren umherkroch und versuchte, die zu Boden gefallene Waffe ihres Adjutanten zu erreichen. »Sie arbeiten mit Hinterlist und Intrigen, Pamela. Sie versuchen, die Leute gegeneinander auszuspielen. Ich persönlich bevorzuge den direkten Weg. Aber machen Sie sich keine Sorgen, Kommandeuse. Ich werde meine ganzen wissenschaftlichen Fähigkeiten einsetzen, um Ihre Flotte zu befehligen. Zuerst schütze ich sie vor den Angriffen der Rebellen, und das bringt mir gewiß den Dank des Großen Denkers ein. Anschließend vernichte ich den ganzen Widerstand, der sich seinen Plänen entgegenstellt – und das alles innerhalb weniger Stunden.« Sie lächelte aufreizend. »Leben Sie wohl, Pamela. Tut mir leid, daß Sie schon so früh in den Ruhestand treten müssen.« Sie hob den Laser, zielte sorgfältig und drückte ab.
»Nette Party, Julie«, sagte Robert Maxwell, als sein Blick über die in der Cafeteria der Molkerei versammelten Rebellen wanderte. Obwohl die Spannung im Raum nahezu greifbar war, schienen sie sich blendend zu amüsieren: Sie lachten und plauderten. »Das Glas Bier für jeden war eine gute Idee. Niemand von uns hat so etwas erwartet.«
Juliet lachte. »Ich hielt es für besser, die Leute hier feiern zu lassen. Sonst hätten sie vielleicht nach anderen Möglichkeiten Ausschau gehalten, sich vor dem Einsatz noch ein wenig zu vergnügen. Außerdem werden sie nach dem Bier sicher besser schlafen können.« »Wann ist Sperrstunde?« »Es ist fast zehn Uhr. In ein paar Minuten werde ich die Feier beenden müssen.« Sie sah in Richtung des Tisches, an dem Robin, Polly, Josh, Katie und Harmy saßen. »Robin sieht heute abend so verändert aus. Sie ist ein sehr hübsches Mädchen. Haben Sie irgend etwas zu ihr gesagt, das sie aus ihrer Niedergeschlagenheit herausgerissen hat?« »Ja. Ich habe heute mit ihr geredet, und ich glaube, sie hat verstanden, was ich meinte.« »Gut. Wir werden sie morgen wirklich brauchen.« Donovan gesellte sich ihnen hinzu, und er trug ein Tablett mit einem gebratenen Hähnchen, Kohlsalat sowie einem Glas Bier. »Du bekommst kein anderes, wenn du das fallen läßt«, warnte ihn Juliet. Donovan warf Robert einen schnellen Blick zu, dessen Aufmerksamkeit Elias gewidmet war. Dieser baute gerade einen Plattenspieler und Lautsprecher auf. Donovan beugte sich vor und flüsterte Juliet zu: »Ich setze mein Leben und meinen Schlaf für den Boß aufs Spiel und bekomme nicht einmal ein Extra-Bier, Doc?« Sie lächelte ihm verständnisvoll zu, gab jedoch keine Antwort. »Alle mal herhören!« rief Elias und versuchte, seinen Worten mit einer weitausholenden Handbewegung Nachdruck zu verleihen. »Ich möchte etwas sagen.« Als keiner ihn beachtete und alle ungeniert weiterplapperten, sprang Caleb Taylor auf die kleine Rednerempore neben
seinem Sohn. »He, ihr Versager! Mein Sohn möchte zu euch sprechen, und da ist es ja wohl das mindeste, daß ihr zuhört!« Calebs dröhnende Stimme erzielte die gewünschte Wirkung, Ruhe kehrte ein. Elias nickte seinem Vater mit warmem Lächeln zu. »Danke, Paps.« Dann wandte er sich wieder der Gruppe zu. »In wenigen Minuten wird Juliet euch sagen, daß ihr euch ins Bett begeben sollt. Bevor sie das jedoch tut, möchte ich noch ein paar Worte sagen und euch ein Lied vorspielen, das symbolhaft ist für das, was ich empfinde. Einer Dame verdanken wir heute abend ganz besonders viel«, fuhr er fort, und alle Köpfe wandten sich Juliet zu, die mit dankbarem Lächeln nickte. »Ohne diese Dame wäre niemand von uns hier. Sie hat uns zusammengebracht. Ihr verdanken wir es, daß wir zu einer Streitmacht geworden sind, die die Sache, die wir begonnen haben, morgen zu einem Ende führen wird, so daß wir alle nach Hause gehen können.« Alle Blicke waren auf Juliet gerichtet. Man klatschte und prostete ihr zu. »Und so möchte ich, meine lieben Freunde, meine Brüder und Schwestern, jetzt das Lieblingslied meines Lieblingssängers – Diana widmen.« Ausrufe der Überraschung wurden laut, dann setzte Elias mit feierlichem Ernst die Nadel auf die Platte. Als einen Augenblick später Michael Jacksons »Beat it« erklang, brach allgemeines Gelächter aus. Das Gelächter schwoll an und zerstreute den letzten Rest der Spannung. Donovan beugte sich vor und flüsterte Juliet ins Ohr: »Du hast das gewußt, nicht wahr?« »Ja«, antwortete sie. »Es war meine Idee, sie glauben zu machen, ich sei gemeint.« Das Gelächter hielt an und erfüllte im Wettstreit mit dem Hämmern der Musik die Nacht.
33. Kapitel
Im Hochgefühl des über Pamela errungenen Sieges thronte Diana im Nachrichten- und Kontrollzentrum des Mutterschiffs und hörte sich einen Bericht über die Flotte an, die sie zum Luftwaffenstützpunkt Edwards entsandt hatte. »Die Truppen haben Stellung bezogen, Diana. Die Soldaten sind einsatzbereit und befinden sich außer Sichtweite in Warteposition.« »Dann ist also alles klar?« »Ja.« »Und bis jetzt noch keine Anzeichen von den Rebellen?« »Nein, aber es dauert auch noch fast eine Stunde bis zur Morgendämmerung. Die Widerständler haben vermutlich verschlafen.« Die beiden Visitors lachten. »Sehr gut, Kommandeur. Wir bleiben in Kontakt. Ende.« »Verstanden. Ende.« Die Tür glitt auf, und der Oberste Kommandeur John eilte mit düsterer Miene herein. Der weißhaarige Visitor kam sofort auf den Kern der Sache zu sprechen. »Warum, zum Teufel, hat Pamela so viele Truppen zur Erde entsandt? Im Verteidigungsfall sind wir hier auf dem Mutterschiff entschieden unterbesetzt.« »Pamela ist tot«, entgegnete Diana und sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. »Sie war so leichtsinnig, sich einen Anhänger der Fünften Kolonne zu ihrem persönlichen Adjutanten auszuwählen. Ich bin jetzt die verantwortliche Kommandeuse.« Ihre Erklärung versetzte John ganz offensichtlich einen Schock, doch er zwang sich, sich zunächst den dringenderen
Angelegenheiten zu widmen. »Wie konnten Sie es wagen, ohne meine ausdrückliche Genehmigung Truppen auf dem Planeten zu stationieren?« »Kurz vor ihrem Tod hatte Pamela bereits mit den Vorbereitungen begonnen, um den Widerstand auf der Erde zu eliminieren.« Sie blickte John mit gewinnendem Lächeln an. »Ich führe lediglich ihre Befehle aus. Das Warten hat jetzt ein Ende. Die Rebellen sind dabei, einen wahrscheinlich weltweiten Angriff auf die Luftwaffenstützpunkte zu starten. Auf diese Weise haben wir Gelegenheit, das gesamte Widerstandsnetz mit einem Schlag zu vernichten.« John runzelte die Stirn. »Das ist lächerlich. Was versprechen sie sich davon, die Luftwaffenstützpunkte anzugreifen? Ihre Düsenjets nützen ihnen nichts gegen unsere Schiffe.« »Sie haben vor, mit den Jets bakterielles Gift zu versprühen.« »Ich dachte, man hätte uns gegen alle auf der Erde vorkommenden Bakterien und Viren geimpft.« Diana zuckte die Achseln. »Offenbar glauben die Rebellen, neue Krankheitskeime entdeckt zu haben.« »Ist das denn möglich?« John nickte betroffen. »Natürlich ist das möglich.« Als sie seinen besorgten Gesichtsausdruck bemerkte, fügte sie schnell hinzu: »Aber machen Sie sich deshalb keine Sorgen. Wir werden dafür sorgen, daß das Toxin nie in die Atmosphäre gelangt.« Sie stand auf und forderte John mit einer anmutigen Handbewegung auf, auf dem Platz des Kommandeurs Platz zu nehmen. »Jetzt, da Sie hier sind, John…« John neigte dankend den Kopf, setzte sich und begann, die Truppenstationierungen auf der Strategietafel zu studieren. »Das ist ja eine riesige Armee.« »Pamela wollte einen wirklich entscheidenden Sieg erringen.«
»Auf diese Weise sollte das nicht allzu schwierig sein«, entgegnete er und bedachte sie mit einem beifälligen Lächeln. »Und falls wir durch irgendwelche verrückten Umstände doch nicht erfolgreich sein sollten…« Sie schob einen Schlüssel in ein in der Mitte der Tafel befindliches Schloß und drehte ihn um. Daraufhin stieg ein glänzender Metallkasten, der an jeder Seite mit einem Schloß versehen war, aus der Tafel empor. In der Mitte des Kastens blinkte ein rotes Licht auf, darunter waren ein kleines Computer-Tastenfeld und ein Terminal plaziert. »Haben Sie Ihren Schlüssel, John?« Der Oberste Kommandeur nickte. »Ja, hier. Aber ist das nicht etwas… voreilig?« Sie sah ihn erstaunt an. »In diesem Punkt sind unsere Befehle eindeutig. Bei allen großen militärischen Aktionen müssen wir darauf vorbereitet sein, zur letzten Vergeltungsmaßnahme zu greifen.« »Aber… die Vorrichtung wird dieses Schiff zerstören. Und uns mit ihm.« »Ich kann den Zeitpunkt der letzten Zerstörungssequenz so programmieren, daß uns genügend Zeit bleibt, um auf eins der anderen Schiffe zu fliehen.« »Gut.« John begann, die Standorte der Truppen zu überprüfen. Diana stand, ihren Schlüssel in der Hand haltend, hinter ihm und blickte auf die Strategietafel.
In eine Visitor-Uniform gekleidet saß Martin in der Pilotenkanzel des Truppenschiffs und lenkte es gerade auf das undeutlich vor ihm zu erkennende Landedeck des
Mutterschiffs zu, als eine Stimme aus dem Bordkom ertönte: »Truppenschiff 3-0 2-8, bitte melden Sie sich.« William, der neben Martin saß, beugte sich vor. »Hier ist Truppenschiff 3-0 2-8. Erbitte Lande- und Entladeerlaubnis.« Juliet, Donovan, Sancho, Maggie, Harmy, Caleb und Elias standen hinter ihm im Gang. Sie alle trugen ebenfalls VisitorUniformen und lauschten angespannt. Wieder ertönte die ausdruckslose Stimme: »Sie sind nicht auf der vorgeschriebenen Anflugbahn, 3-0 2-8. Gehen Sie auf Minimalgeschwindigkeit, während ich das überprüfe.« Donovan machte eine Handbewegung, die soviel wie »Kehle durchschneiden« hieß, was ihm einen Ellenbogenpuff in die Seite und einen vorwurfsvollen Blick Juliets einbrachte. Gleich darauf jedoch stöhnte Juliet leise auf und rieb sich den schmerzenden Ellenbogen, der gegen etwas Hartes gestoßen war, das unter der Brustklappe von Donovans Uniform verborgen war. Donovan zog seine Videokamera heraus. »Ich habe sie in letzter Minute eingesteckt. Dachte mir, ich könnte vielleicht ein paar gute Aufnahmen machen.« Er verstaute die kleine Kamera in seinem Tornister. »Okay, 3-0 2-8«, meldete sich die Stimme wieder. »Ich gebe Sie zur Landung frei. Ich finde zwar Ihren Frachtbrief nicht, aber das ist nichts Neues. Der Computer spielt schon die ganze Woche über verrückt.« Jetzt öffneten sich die riesigen Türen zum Landedeck. »Es ist fast leer«, erklärte Donovan, der gespannt hinausspähte. Juliet lächelte. »Die Luftwaffenstützpunkte in den Vereinigten Staaten müssen jetzt wie die Autobahn von Los Angeles während der Hauptverkehrszeit aussehen.« In Donovans Gesicht spiegelten sich Schmerz und bittere Ironie zugleich. »Sean hat seine Sache gut gemacht.«
»Du warst noch besser«, entgegnete Juliet, die begriff, was in ihm vorging. »Es ist nicht leicht, den eigenen Sohn zu belügen.« »Dafür sollten wir alle den Oscar bekommen, allen voran Ham Tyler. Ich saß da und habe jeden einzelnen Augenblick gehaßt.« »Auf jeden Fall hat es funktioniert. Er hat es geglaubt und weitergegeben. Auf diese Weise haben wir seine Konvertierung für unsere Zwecke genutzt. Vergiß nicht, Mike – er ist kein Verräter und kein Spion. Er ist ein kleines Kind und war nicht in der Lage, sich gegen Diana zur Wehr zu setzen.« »Ich frage mich, ob er je wieder normal sein wird.« »Wenn wir siegen und die Visitors verschwinden, glaube ich das schon. Er wird sich zwar einer Therapie unterziehen müssen, wenn er erkennt, was mit ihm geschehen ist – aber bestimmt wird er wieder gesund.« Das Truppenschiff setzte mit leisem Zischen der Bremsdüsen auf dem Deck auf. Jeder der Rebellen hatte einen Vorrat an Aerosol bei sich. Sancho war zusätzlich mit einem Strahlapparat ausgerüstet, den er wie einen Rucksack, der die gleiche Farbe hatte wie seine Uniform, um ihn weniger auffällig zu machen, auf dem Rücken trug. Alle waren mit den Stimmen-Umwandlern ausgestattet. Nachdem sie vorsichtig aus dem Fahrzeug geklettert waren, führte Juliet Harmy in das einzige andere Truppenschiff, das am südlichen Ende des Landedecks stand und in dem sie ihr »Lazarett« einrichten sollte. Diese etwas größere Fähre war zum Fluchtfahrzeug für die Mitglieder der 5. Kolonne ausgewählt worden. Die Rebellen hatten Gasmasken bei sich und einen Vorrat des Impfstoffes, so daß sie in der Lage waren, jedes Mitglied der 5. Kolonne,
das noch nicht geimpft worden war, zu immunisieren. Die Sicherheitsmaßnahmen an Bord des Mutterschiffs von Los Angeles waren außerordentlich streng gewesen, so daß Lorraine nicht zu all ihren Leuten hatte Kontakt aufnehmen können. Juliet, Donovan und Sancho gingen los, um sich auf ihrem Weg zum Hauptkontrollzentrum mit Lorraine zu treffen, während Caleb und Elias auf dem Landedeck blieben, um das Toxin über das Belüftungssystem zu verteilen. Maggie, Willie und Martin standen Wache. Während Caleb und Elias einen in der Nähe gelegenen Ventilationsschacht öffneten und sich gerade daranmachten, den Staub in das Belüftungssystem des Mutterschiffs zu blasen, betraten zwei Visitor-Wachen das nördliche Ende des Landedecks und blickten neugierig in ihre Richtung. »Sie glauben wahrscheinlich, wir laden ganz normal ab«, sagte Martin und stieß Willie verstohlen in die Seite, »aber wir dürfen sie nicht zu nahe herankommen lassen. Lenken Sie sie ein bißchen ab.« Wie zufällig schlenderte Willie also auf die beiden Patrouillensoldaten zu. »Hallo! Ich komme gerade von der Schicht in den Richland-Werken«, sagte er. »Seit gestern abend habe ich keine Nachrichten mehr gehört. Was ist passiert, seit Diana diese Botschaft von John erhalten hat?« »Welche Botschaft?« fragte der eine der beiden Soldaten neugierig. »Jemand erzählte mir, sie habe von John die Nachricht erhalten, der Denker wiese ihr demnächst eine andere Kommandeuse mit den gleichen Befugnissen zu. Können Sie sich Dianas Reaktion vorstellen?« Er schlenderte weiter auf den Eingang zu und sorgte dabei dafür, daß die Wachen dem Ventilationsschacht den Rücken zukehrten.
»Oh, ja, die kann ich mir allerdings vorstellen! Was hat sie gemacht?« »Nun, zuerst einmal sagte sie John, er könne sich die Botschaft in den… Hintern stecken. Dann…« Immer weiter redend, führte Willie die Wachen außer Sichtweite. Martin wandte sich Elias und Caleb zu. »Wie lange brauchen Sie noch?« »Noch ein oder zwei Minuten, dann können wir es anstellen, und die Pumpe wird automatisch weiterblasen, bis der Toxinvorrat erschöpft ist.« »Machen Sie schnell!« Wachsam nach vorne blickend, gingen Donovan, Juliet und Sancho über den im Halbdunkel liegenden Steg, als ein leiser, zischender Laut sie zufammenfahren ließ. Es war Lorraine, die aus den Schatten auf sie zutrat. Schnell führte sie die drei durch den Gang und sah auf die Uhr. »Eine Gruppe, die noch nicht immunisiert ist, befindet sich auf dem Weg zur Fluchtfähre. Die Leute müssen jede Sekunde hier sein«, sagte sie leise. Als sie kurz darauf um eine Ecke bogen, sahen sie sich einer Gruppe von Visitors gegenüber. Die drei Menschen erstarrten, bis Lorraine vortrat. »Scott! Sie müssen sich beeilen! Martin wartet bei der Fluchtfähre!« »Krempeln Sie Ihre Ärmel hoch, schnell!« drängte Juliet und trat mit einem Injektor auf die Visitors zu. Hastig nahm sie dann die Impfungen vor. Während Juliet ihre Arbeit verrichtete, trat Lorraine nervös von einem Bein auf das andere. »Sie müssen sich beeilen. Diana ist ein schlechter Verlierer. Wenn sie erkennt, daß sie keine Chance mehr hat, aktiviert sie sofort den Universalen Destruktor und verwandelt Ihren Planeten damit in eine nukleare Wüste.« »Ich weiß«, entgegnete Donovan düster.
»Da bin ich mir nicht sicher«, sagte Lorraine. »Vielleicht machen Sie sich noch immer kein vollständiges Bild von Diana. Bevor ich hierherkam, gelang es mir, einen Blick auf den Monitor zu werfen, der das Strategiezentrum zeigt. Dort sah ich Diana und John sitzen. Sie hörten sich die Berichte von den auf der Erde stationierten Truppen an und wurden immer nervöser. Sie hat den Destruktor für den Einsatz vorbereitet. Jetzt müssen nur noch zwei Schlüssel hineingesteckt werden – der ihre und Johns. Anschließend muß nur noch der Aktivierungscode eingegeben werden, um mit dem Countdown zu beginnen.« »Martin hat es mir erzählt. Wir haben abgestimmt, mit dem Ergebnis, daß wir das Risiko eingehen wollen.« »Es ist ein wahnsinniger Plan. Sie setzen Ihre Welt aufs Spiel. Ich hätte keine solche Entscheidung getroffen.« »Ihre Argumente kommen ein wenig zu spät«, erwiderte Donovan trocken. »Wir haben einen Beschluß gefaßt, und jetzt können wir nur noch versuchen, die Aktion zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Wo ist das Hauptkontrollzentrum?« »Ich zeige es Ihnen. Allein fänden Sie nie den Weg dorthin.« Schweigend setzten sie sich wieder in Bewegung. Blasses Rosa überzog den Himmel. Ham Tyler stand wartend auf dem offenen Feld, blickte auf seine Uhr und gab das Signal. »Okay. Es ist sechs Uhr. Also, gehen wir es an!« Auf sein Signal hin stiegen Hunderte von in Farbe, Größe und Muster verschiedenen Heißluftballons in den Himmel empor. Ein oder zwei der Ballons waren durchsichtig; in ihrem Inneren wirbelte eine rötliche Staubwolke umher. Ham sah zu, wie sein eigener Ballon, den er eigens für diesen Zweck gekauft hatte, aufstieg. Es war ein besonders großer, schwarzer Ballon, auf den mit blutroter Farbe ein »V« gemalt war.
Er dachte daran, daß das Signal nun rund um die Welt ging und über Kairo und London, Paris, Moskau, Sydney, Hongkong und New York ebenfalls Ballons gen Himmel emporstiegen. Über allen Hauptstädten der Welt, ebenso wie über vielen kleineren Städten, trieben solche Ballons den Wolken entgegen. Der Druck in ihnen war so berechnet worden, daß sie in einer bestimmten Höhe platzten. Ein Teil des Staubs würde zur Erde zurückgleiten, sich auf harmlose Weise mit dem Boden und dem Wasser vermischen. Der Rest würde zu einem organischen, sich selbst fortentwickelnden Zusatz in der Atmosphäre werden, der den Planeten für immer wertlos für die Visitors machte. Lächelnd beobachtete Ham, wie die Ballons höher und höher schwebten.
Eine Hand griff nach seiner Schulter und weckte Sean Donovan unsanft aus seinen Träumen. Erschrocken drehte er sich herum und atmete sogleich erleichtert auf, als er Arthur Dupres erkannte. »Großpapa Arthur? Was ist los?« »Sei leise.« Der große, glatzköpfige Mann preßte sich kurz den Zeigefinger auf die Lippen. »Draußen gibt es etwas Wunderbares zu sehen. Ich fahre mit dir nach unserer Hütte in den Bergen, und dort sehen wir es uns an.« Er bedeutete Sean, sich schnell anzuziehen. »Was ist es?« fragte der Junge. »Ballons, mein Sohn. Tausende von Ballons, die gen Himmel schweben. Es ist wunderschön.« »Aber warum?« »Ich weiß es nicht genau, aber ich glaube, auf diese Weise will die Erde den Visitors auf Wiedersehen sagen. Beeil dich, Sean.« »Kommt Oma auch mit?«
Arthur zögerte. »Nein, ich glaube nicht, Sean. Du weißt, sie steht nicht gern früh auf.« »Dann also nur wir beide?« Sean hatte seinen Stiefgroßvater immer gemocht – Großvater Donovan war schon vor seiner Geburt gestorben. Mit Großpapa Arthur in die Berge zu fahren, würde ihm viel Spaß machen. Doch dann fiel ihm etwas ein, und er runzelte bekümmert die Stirn. »Großpapa Arthur? Mein Papi kommt zurück, um mich zu holen. Ich muß hierbleiben und auf ihn warten.« »Wir sind morgen schon wieder zurück. Ich hinterlasse ihm eine Nachricht, daß du mit mir weggefahren bist.« »Dann ist es gut«, antwortete Sean glücklich. Nachdem Sean sich angezogen hatte, schlichen sie leise durch die Gänge des großen Hauses, brachten leise die Treppe hinter sich und stiegen draußen ins Auto. Als Arthur den Motor anließ, blickte er noch einmal zum Haus zurück, und ein solch trauriger Ausdruck trat auf sein Gesicht, daß Sean hätte weinen mögen. »Großpapa Arthur? Fehlt dir Oma jetzt schon?« Arthur sah ihn an und setzte den Wagen in Bewegung. »Ja«, erwiderte er. »Ich vermisse deine Großmutter sehr. Ich vermisse sie jetzt schon sehr lange.« Der Wagen fuhr schon eine Weile die Straße herunter, als Sean plötzlich rief: »Großpapa! Ich sehe die Ballons! Sind sie nicht schön?« »Das sind sie, Sean«, entgegnete Arthur. »Es ist das Schönste, was ich je gesehen habe.« Martin und Willie halfen den Mitgliedern der Fünften Kolonne beim Einsteigen in die Fluchtfähre, während Harmy nervös nach draußen blickte. »Beeilen Sie sich!« drängte Martin. »Sie müssen so schnell wie möglich hier heraus! Diana muß den Staub im Belüftungssystem bald bemerken!« Vom Laderaum führte ein Schlauch zum Luftschacht.
Als wären seine Worte ein Signal gewesen, begann eine Sirene zu schrillen, während eine Stimme rief: »Verteidigungsalarm! Feindliche Menschen an Bord! Verteidigungsalarm!« Die Stimme redete weiter und gab die Einsatzorte der einzelnen Truppenteile durch. William blickte zu Martin hoch. »Ich würde gern wissen, ob Donovan und Juliet es geschafft haben.« »Das können wir erst später erfahren«, erwiderte Martin. »Maggie, Harmy, Elias und Caleb, Sie gehen mit Scott und den anderen. Setzen Sie die Menschen in der Nähe des Hauptquartiers ab, bevor Sie zu einem anderen Schiff zurückgehen.« Als er Maggies Pfiff hörte, blickte er erschrocken hoch und sah einen Trupp Soldaten mit schußbereiten Gewehren das nördliche Ende des Landedecks betreten. Im gleichen Augenblick rief Harmy, die den südlichen Eingang beobachtete: »Sehen Sie da!« Unterbrochen vom pulsierenden Zischen der Gewehre, hallte ihr Schrei von den Wänden des höhlenartigen Landedecks wider. Elias und Caleb rissen den Schlauch vom Luftschacht los und sprühten das Toxin direkt in Richtung der sich vom nördlichen Eingang her nähernden Soldaten. Einige fielen zu Boden, andere feuerten weiter, so als sei überhaupt nichts geschehen. Ein Schuß hallte aus dem hinteren Teil der Fluchtfähre, und William, der gerade in Deckung ging, sah Scott auf die in der Nähe des südlichen Eingangs befindlichen Soldaten feuern. Durch den Druck der Explosion platzten einige mit Chemikalien gefüllte Kanister, und plötzlich wütete ein Feuer im südlichen Teil des Landedecks. Durch das Inferno hörte William Martin rufen: »Wir müssen hier raus! Kommen Sie, Willie!«
William deutete auf die Soldaten im nördlichen Teil. »Warum leben sie immer noch?« »Manche von ihnen waren offenbar klug genug, rechtzeitig diese mit Gasmasken ausgestatteten Helme aufzusetzen. Auf diese Weise bleiben ihnen noch etwa fünf Minuten. Schnell zur Fähre!« William riß sich zusammen. Er nickte und rannte los. Auf dem Weg zur Fluchtfähre versuchte er, Harmy in dem brennenden Chaos auszumachen. Dann hörte er sie seinen Namen rufen. Er blickte sich verzweifelt um und versuchte, ihren Standort ausfindig zu machen. Dann plötzlich stand sie vor ihm, zwischen ihm und dem Blitz eines Lasers. Mit einem Schmerzensschrei fiel sie vornüber, und nur dank seiner außergewöhnlichen Schnelligkeit konnte William verhindern, daß er über sie stolperte. Schnell packte er ihre Arme und zerrte sie in den Schutz eines Frachtstückes. Durch die Rauchschwaden sah er Maggie, die immer wieder ihre Waffe abfeuerte und an ihm vorbeistürmte, und dann den Soldaten, der Harmy niedergeschossen hatte. Willie stützte den Kopf der Frau auf seinen Schoß und versuchte, den Puls an ihrem Hals zu finden. »Harmony?« Ihre Augen standen offen, doch sie schien nicht bei Bewußtsein zu sein. Schließlich fand er ihren Puls; er war sehr schnell und wurde ständig schwächer. »Harmony?« wiederholte Willie. Sie war in den Rücken getroffen worden, doch er mochte sie nicht umdrehen, um die Wunde zu untersuchen. Er wollte sie nicht sehen. Selbst mit seiner begrenzten Kenntnis der menschlichen Physiologie wußte er, daß sie starb. Ihr Atem war nur noch ein schmerzerfülltes Keuchen. Betäubt von Schmerz und Entsetzen beugte er sich über sie und wünschte, sein Volk könne weinen. Menschen weinten,
wenn sie Schmerz empfanden, und es schien zu helfen. Er konnte nichts anderes tun, als ihren immer schwächer werdenden Puls zu fühlen und zu wünschen, daß er hätte ihr helfen können. Dann wäre alles soviel leichter gewesen. »Harmony?« rief er wieder, jedoch ohne viel Hoffnung. Doch dieses Mal hörte sie ihn. Sie blinzelte, und ihr trüber Blick richtete sich auf ihn. »Willie?« Ihre schwache Stimme war in dem Lärm des Kampfes kaum zu hören, doch er wußte, daß sie seinen Namen ausgesprochen hatte. »Harmy?« Er hielt sie umschlungen und spürte plötzlich die Knochen unter ihrer dünnen Haut. Der Haut, die wahrhaftig kein Schutz war. Ihre zarte, zerstörte Haut, die einen zerbrechlichen, zerstörten Körper bedeckte. »Willie…« Es kostete sie unendliche Mühe, die Worte zu formulieren. »Du mußt gehen. Hier bist du… nicht sicher.« »Bitte, Harmony.« Er wußte gar nicht, worum er sie bat. Nicht zu sterben? Das war lächerlich. Oder vielleicht darum, noch ein wenig auszuharren? »Bitte, Harmony…«, wiederholte er. Dann waren die Worte da, die er wohl nie ausgesprochen hätte, wenn da nicht die plötzliche Erkenntnis gewesen wäre, daß dies die letzte Gelegenheit war. »Ich liebe dich, Harmony.« Sie nickte kaum merklich. »Ich weiß. Geh jetzt, Willie.« »Nein, ich verlasse dich nicht.« Er preßte sie an sich, so als könne er mit seinen Armen das Leben in ihrem Körper erhalten. »Ich bleibe immer bei dir.« Unendlich schwach huschte der schwindende Schatten eines Lächelns um ihren Mund. »Für immer, Willie.« Schützend beugte er sich in dem brennenden Landedeck über sie, hielt sie in seinen Armen, wartete. Als die Visitor-Truppen zurückgeschlagen waren und die Luken der Fluchtfähre schon geschlossen werden sollten, fand Martin ihn.
Er sank neben Willie auf die Knie, berührte mit den Fingerspitzen Harmonys Hals. »Sie ist tot, Willie.« »Ich weiß.« Dumpf starrte Willie ins Leere. »Sie müssen hier weg. Ich helfe Ihnen, sie zu tragen.« William erwiderte nichts. »Kommen Sie, Willie. Sie würde bestimmt auch wollen, daß Sie gehen.« »Ich weiß«, sagte William. Harmy hätte ihn bestimmt dazu aufgefordert, mit seinen Leuten fortzugehen. Er fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn sie auf ihren Planeten zurückkehrten. Martin hatte davon gesprochen, daß er Kontakt zur Allianz aufnehmen und die eroberten Mutterschiffe dazu benutzen wolle, den Großen Denker zu stürzen. Dann würden sie endlich Frieden haben. Wieder blickte er auf Harmys Gesicht herunter. Frieden. Harmy hatte daran geglaubt. »Ich bin bereit«, sagte er und rappelte sich hoch. »Ich kann sie allein tragen.«
Dianas Lippen bildeten nur noch einen dünnen weißen Strich, als sie sich vorbeugte, um mit den Bodenstreitkräften zu sprechen. »Kommandeur! Rufen Sie sofort so viele Truppen zusammen, wie es Ihnen innerhalb von drei Minuten möglich ist!« »Wir sind schon auf dem Weg.« »Was immer sie auch planen – sie haben keine Chance«, wandte sie sich dann an John. John nickte. Seine Finger tanzten über die Strategietafel, dann plötzlich erstarrte er. »Was ist das? In der Luft schwebende Gebilde, Tausende davon!« »Kampfflieger? Jets?« »Nein. Dazu sind die meisten von ihnen viel zu klein. Sie steigen schnell empor, als seien sie leichter als die Luft.«
Diana schaltete den Bildschirm an, dann sah auch sie die Ballons. »Ballons?« stieß sie ungläubig hervor. »Soll das ein Witz sein?« »Sie sind nirgendwo befestigt.« »Nein. Warum lassen sie Tausende von Ballons in die… Atmosphäre aufsteigen?« Plötzlich fiel ihr eine mögliche Erklärung dafür ein. Sie versteifte sich und starrte entsetzt auf das farbenprächtige Schauspiel. »Sie glauben doch wohl nicht, daß sie uns mit den Ballons von ihren Angriffen auf die Luftwaffenstützpunkte ablenken können, oder?« fragte John verwirrt. Diana wirbelte herum, starrte ihn wütend an. »Begreifen Sie noch immer nicht? Die Luftwaffenstützpunkte waren nur ein Vorwand. Sie benutzen keine Düsenflugzeuge, um ihr Toxin zu versprühen, sondern die Ballons.« »Wie naiv! Selbst mit Millionen von Ballons können sie nicht so viel Toxin transportieren, um uns ernsthaft in Gefahr zu bringen.« »Sie…« Sie verdrehte ungläubig die Augen. »Begreifen Sie denn nicht? Die Menschen brauchen die Ballons nur in die richtige Höhe zu bringen, auf daß sie dort ihren tödlichen Inhalt in die Atmosphäre freigeben. Der Wind verteilt die Bakterien, die sich dann rasch vermehren, das Wasser verseuchen und Teil der lebenden Organismen werden – der gesamten Nahrungskette. Dann ist die ganze Erde innerhalb kürzester Zeit völlig wertlos für uns!« »Vielleicht können wir sie einsammeln, bevor sie platzen…« »Dazu ist es jetzt schon zu spät.« Bitter fügte Diana hinzu: »Sie sind viel klüger, als ich ihnen je zugetraut hätte.« »Eine fatale Fehleinschätzung – für uns alle.« »Hier drin sind wir sicher«, entgegnete Diana.
»Bis jetzt«, erwiderte John düster. »Aber ich habe, offen gesagt, keine Lust, den Rest meines Lebens hier eingeschlossen mit Ihnen zu verbringen.« »Seien Sie still«, sagte Diana geistesabwesend. Sie wandte sich wieder dem Bildschirm zu und beobachtete die farbenprächtige, mit dem Wind segelnde Flotte. Wild überschlugen sich ihre Gedanken, während sie sich den Kopf nach einer Lösung zerbrach. »Zum Teufel mit ihnen!«
Steven starrte aus dem Fenster im dritten Stock auf die über den Rasen vor dem Hauptquartier der Visitors verstreuten Leichname seiner Soldaten. Die Widerstandskämpfer waren beständig auf dem Vormarsch. »Was soll ich tun?« fragte er Eleanor verzweifelt. »Ich weiß es nicht«, erwiderte sie und klammerte sich am Schreibtisch fest, und die Angst in ihr verwandelte sich allmählich in Panik. »Der rote Staub, den sie in diesen Bomben explodieren ließen – er würde auch Sie töten, nicht wahr?« »Er hat meine Leute getötet«, entgegnete Steven. »Es wäre zwar sehr schön, zu glauben, ich sei immun dagegen, aber auch sehr dumm.« »Seien Sie nicht sarkastisch! Ich weiß nicht, was wir tun sollen! Ich kam her, um Schutz vor dem Mob zu suchen, der mein Haus umlagert. Ich hätte es beinahe nicht mehr bis hierher geschafft!« »Sie müssen mir helfen«, sagte er und blickte auf die näher und näher kommenden Soldaten herunter. Ein Mann mit stahlgrauem Haar führte die Truppe an, und begleitet wurde er von jemandem mit dunkelbraunem Haar. »Sagen Sie ihnen, ich ergebe mich. Sagen Sie ihnen, ich bitte um Gnade!« »In Ordnung«, erwiderte Eleanor, die neben ihn ans Fenster getreten war. »Das ist Robert Maxwell. Er ist mein Nachbar –
er wird nicht zulassen, daß mir etwas passiert. Gehen Sie in den Nebenraum. Sie sollen nicht glauben, daß Sie mich benutzen, um ihnen eine Falle zu stellen.« »Gut«, erwiderte Steven und begab sich durch den Raum ins angrenzende Sekretariat hinüber. Eleanor wartete, bis die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, dann öffnete sie das Fenster und lehnte sich hinaus, so daß sie sie sehen konnten. »Nicht schießen! Ich bin Eleanor Dupres, Michael Donovans Mutter! Ich bin eine von Ihnen! Der Leiter des Hauptquartiers ist hier, er hält mich gefangen. Helfen Sie mir!« Während die Rebellen zögernd stehenblieben, vernahm Eleanor hinter sich die Stimme Stevens. »Sie verdammte Hexe! Dachten Sie, ich bin so dumm, nicht zuzuhören?« Sein Gewehr entlud sich fauchend. Der todbringende Schuß schleuderte die Leiche Eleanors zum Fenster hinaus. Von dem Aufprall weiter unten spürte sie schon nichts mehr.
»Das Hauptkontrollzentrum ist direkt vor uns«, sagte Lorraine, hielt dann den Atem an und lauschte. »Jemand verfolgt uns. Schnell!« Donovan, Juliet und Sancho blickten sich prüfend um. »Ich höre nichts«, sagte Juliet, die angestrengt in das Halbdunkel des Korridors spähte. »Sie hat auch nichts gehört«, erklärte ihr Mike. »Sie können die Vibrationen der Bewegungen fühlen.« Plötzlich tauchte mit der verwirrenden Geschwindigkeit eines Visitors eine Gestalt vor ihnen auf. »Nicht schießen!« Es war Martin. »Ist die Fluchtfähre gestartet?« fragte Juliet. »Ja«, erwiderte Martin, »aber Harmy hat es nicht geschafft.«
»Oh, Gott, nein!« flüsterte Juliet. »Haben Sie Ihre Steckkarte, Martin?« fragte Lorraine. »Hier«, antwortete er, ging auf das vor ihnen liegende Tor zu und schob die Plastikkarte in den entsprechenden Schlitz. Einen Augenblick später blickte er hoch. »Diana muß den Öffnungsmechanismus blockiert haben.« Donovan hob seine Waffe und zielte auf das Schloß. »Dann müssen wir uns eben gewaltsam einen Zugang in die Zentrale verschaffen. Jemand soll hier Wache halten. Ich möchte nicht, daß wir von einem Trupp Visitor-Soldaten überrascht werden.«
Entsetzt starrte Diana von einem der vielen Monitore, die in dem Raum installiert waren, zum anderen. Überall in den Gängen des Mutterschiffs lagen tote Visitors, und ein ständig aufflackerndes Licht bestätigte ihr, daß das todbringende Toxin sich weiter an Bord ausbreitete. Auf dem Bildschirm, der das Hauptquartier von Los Angeles zeigte, sah sie Stevens Leichnam in der Halle liegen. Es war ihm also nicht gelungen zu fliehen. Aus seiner Körperposition war nicht zu entnehmen, wodurch er ums Leben gekommen war. Auf dem Rasen vor dem Hauptquartier feierten die Widerstandskämpfer und prosteten sich mit Bierkrügen zu. Die Flagge der Visitors war eingeholt worden. Auch die Bilder aus anderen Teilen der Welt bezeugten die Siege der Menschen, die Niederlage der Visitors. Dianas Züge wurden hart. »Diese dummen Kinder! Sie feiern nichts anderes als das Ende ihrer eigenen Welt.« Sie wandte sich an John. »Ihr Schlüssel?« »Die Flotte ist gerade dabei, die Erdumlaufbahn zu verlassen«, sagte er, und seine Zunge zuckte nervös hervor. »Wir werden uns beeilen müssen.«
»Wir kommen schon noch weg«, beruhigte sie ihn, »doch zuerst will ich es diesem Planeten heimzahlen.« »Warum?« John starrte sie an. »Wir sind verloren, Diana. Sie haben uns geschlagen. Unsere Bodentruppen werden den Weg zurück nicht mehr schaffen. Es ist vorbei. Begreifen Sie das nicht? Oder will Ihre Eitelkeit es nicht wahrhaben?« Vom Notausgang an der anderen Seite des Kontrollraumes her war ein leises Geräusch zu hören. Von der kleinen Luke aus führte eine Leiter zu einer Fähre herunter, die vom Hauptkontrollzentrum aus gesteuert werden konnte und die die letzte Fluchtmöglichkeit für die im Nachrichten- und Militärzentrum Eingeschlossenen darstellte. Diana eilte an die Luke heran und öffnete sie. Ihre Waffe hielt sie dabei schußbereit in der Hand. Die Arme auf die Knie gelegt, hockte Elizabeth auf dem unter Diana liegenden Deck und starrte mit ausdrucksloser Miene zu ihr herauf. Mit einer Handbewegung bedeutete Diana ihr, die Leiter hochzuklettern. »Wer ist das?« fragte John, als er das Kind eintreten sah. »Ein Mensch?« »Nicht ganz. Wir sollten sie bei unserer Flucht mitnehmen. Sie ist zu intelligent, als daß unser Volk auf sie verzichten könnte. Sie ist Robin Maxwells und Brians Tochter.« John blickte das Kind mißtrauisch an. »Auf wessen Seite steht es?« »Auf unserer natürlich«, fauchte Diana. »Beeilen Sie sich, John. Ihren Schlüssel.« Vom Hauptportal her war das Geräusch von Laserpistolen zu hören. »Sie brechen durch«, sagte John. »Wir müssen uns beeilen und an Bord des Fluchtschiffs gelangen.« »Ihren Schlüssel, John!«
Er starrte sie an. »Nein, da mache ich nicht mit. Es ist widerwärtig, eine Welt zu vernichten, nur um sein Ego zu retten.« Diana richtete die Mündung ihrer Waffe auf seinen Kopf. »Überlegen Sie es sich noch einmal, John.« Widerstrebend gab er ihr seinen Schlüssel, und Diana schob ihn zusammen mit ihrem eigenen in das Aktivierungsmodul des Destruktors. Der Countdown begann. Voller Verachtung sah John sie an. »Pamela sagte, Sie seien ehrgeizig, Diana, aber sie hat sie unterschätzt. Sie besitzen ein Maß an Ehrgeiz, das jede Vernunft überschreitet. Sie haben Pamela getötet, nicht wahr? Sie sind wahnsinnig!« »Halten Sie den Mund!« schrie Diana und erschoß ihn.
»Wir sind fast durch!« schrie Sancho, als das Schloß des Tores kirschrot aufzuglühen begann. Von drinnen her hörten sie das pulsierende Zischen eines Visitor-Gewehrs. Im gleichen Augenblick hallte ein schrilles Aufheulen durch die leeren Gänge. »Es ist der Destruktor!« rief Martin. »Diana hat ihn aktiviert!« »Aufpassen! Wir sind durch!« Die Tür sprang auf, und im gleichen Augenblick fuhr ihnen ein sengender Laserstrahl entgegen. Donovan warf sich auf die Erde, rollte sich zur Seite und schoß. Diana fiel zu Boden. Sie stürmten in das Hauptkontrollzentrum, wo Elizabeth stumm gegen eine Wand gelehnt stand, während Diana und John nebeneinander auf dem Boden lagen. »Können Sie dieses Ding ausschalten?« wandte sich Donovan an Martin, als er auf den Metallkasten mit dem pulsierenden roten Sensor heruntersah.
»Nein«, erwiderte Martin. »Der Apparat ist auf einen bestimmten Countdown programmiert. Die Standardverzögerung liegt bei drei Minuten.« »Wir haben ganze dreißig Sekunden gebraucht, um hier hereinzukommen!« rief Juliet, die spürte, wie ihre alte Urangst sie wieder zu überwältigen drohte. Am liebsten hätte sie ihre Waffe weggeworfen und wäre schreiend davongelaufen. Sie zitterte so heftig, daß sie beinahe das Gewehr fallen ließ. »Ich kann nur versuchen, uns aus der Erdumlaufbahn herauszusteuern«, entgegnete Martin, der verzweifelt an den Navigationskontrollen hantierte. »Dann sterben nur wir sechs. Doch ich fürchte, selbst dazu reicht die Zeit nicht mehr aus.« Während Juliet, Donovan und Sancho an der Tür Wache standen, arbeiteten die beiden Visitors fieberhaft. Das Mutterschiff erbebte, dann wurden die Vibrationen der Maschinen stärker. Das Schiff stieg höher in den Himmel, der mehr und mehr eine dunkle, indigoblaue Farbe annahm. »Julie«, rief Diana leise. Erstaunt drehte Juliet sich um. Sie glaubte schon, daß sie Geister hörte. Trotzdem trat sie an die auf dem Boden liegende stellvertretende Kommandeuse heran und starrte schweigend in das Gesicht, das in den vergangenen Monaten zum Inbegriff des Schreckens und des Entsetzens für sie geworden war. »Ich kann Ihnen helfen, Julie… Lassen Sie mich Ihnen helfen.« Die Worte waren kaum mehr als ein leiser Hauch, und nur Juliet konnte sie hören. »Wissen Sie, wer Ihnen so weh getan hat, Julie? Sie müssen ihn töten…« Unschlüssig drehte Juliet sich um und starrte auf Donovans Rücken. Ihre linke Hand begann zu zittern und tastete kaum merklich nach der Waffe. Einige Sekunden später spürte sie das Metall des Lasers und hob ihn. Der Zeigefinger krümmte sich langsam um den Auslöser. »Töten Sie ihn…«
»NEIN!« Juliet warf die Waffe durch das aufgebrochene Schott und zerrte Diana hoch. Mit einem Haß, wie sie ihn nie zuvor in ihrem Leben verspürt hatte, stieß sie die verwundete Kommandeuse durch die Luke hinter sich, sah ihren Körper fallen und hörte, wie er unten auf dem Deck aufschlug. »Was ist passiert?« Donovan und Sancho hatten sich nach Juliet umgedreht und starrten sie fassungslos an. »Nach meiner Uhr bleibt uns weniger als eine Minute«, sagte Martin vom Pilotensitz her. »Wir schaffen es nicht. Die Entfernung zur Erde ist nach wie vor viel zu gering.« In diesem Augenblick trat Elizabeth unvermittelt an das Hauptkontrollpult und richtete den Blick auf das DestruktorTerminal. Rasch tanzten ihre Fingerkuppen über die Tasten und gaben einen bestimmten Code ein. Auf dem Monitor leuchteten einige Visitor-Symbole auf. »Was macht sie da?« fragte Donovan. »Sie hat das Hauptzerstörungsprogramm abgerufen«, erwiderte Lorraine müde. »Sie kann die Sache nicht schlimmer machen, als sie ohnehin schon ist. Also, was soll’s?« Elizabeths Blick huschte prüfend über das Tastenfeld, und wieder bewegten sich ihre Finger und gaben einen Befehl ein. Dann drehte sie sich lächelnd zu Juliet und Mike um und griff nach der Hand Juliets. Juliet kniete nieder und zog das Kind in ihre Arme. »Armes, kleines Ding. Sie begreift nichts.« Während die Sekunden auf Martins Chronometer tickten und die Alarmsirenen unbarmherzig weiterschrillten, legte Mike den Arm um Juliet. Mit feuchten Augen blickte sie zu ihm auf. »Wie sinnlos es in den letzten zwanzig Sekunden unseres Lebens auch klingen mag – ich liebe dich.« »Das ist nicht sinnlos. Ich liebe dich auch.« »Acht«, sagte Martin und sah auf seine Uhr. »Sieben… sechs… fünf… Lebt wohl, alle miteinander… drei… zwei… eins… Es ist soweit…«
Juliet hielt den Atem an und rechnete jeden Augenblick damit, vom nuklearen Feuer der Explosion zu Asche verbrannt zu werden. Nach endlosen Sekunden wagte sie es auszuatmen. Holte tief Luft. Also hat Martin sich um ein paar Sekunden verrechnet – es ist aus. Wieder mußte sie Luft holen, und sie fühlte sich benommen und verwirrt. Noch immer heulten die Sirenen. »Oh, Gott!« Juliet warf die Arme hoch. »Ich kann es nicht mehr ertragen! Laß es doch endlich vorüber sein!« »Das ist verrückt«, sagte Martin plötzlich. »Das Schiff hätte schon vor neunzig Sekunden explodieren müssen.« Alle blickten einander verblüfft an. »Falls dies der Himmel ist, so möchte ich die Hölle nicht kennenlernen«, bemerkte Sancho. »Was geht da vor?« fragte Donovan. Dann kam ihm ein Gedanke, und er blickte auf das kleine Mädchen herunter, das dicht neben ihm stand und sich an ihn schmiegte. »Es muß Elizabeth gewesen sein. Was hat sie gemacht?« Martin stand bereits an den Kontrollen des Destruktors und blickte prüfend auf die Symbole, die noch immer auf dem Bildschirm glühten. »Es ist lange her, seit ich mit diesen Dingen zu tun hatte. Können Sie uns sagen, was hier vor sich geht, Lorraine?« Lorraine trat neben ihn und begann, das Programm zu studieren. Dabei sprach sie leise zu sich selbst. »Hier ist die Verzögerung… drei Minuten, das stimmt… aber…« Sie blickte auf. »Elizabeth hat uns gerettet! Das Programm Dianas enthielt eine Zeitoption – vermutlich deswegen, um ihr die Flucht zu ermöglichen. Elizabeth aber hat neue Daten eingefügt, die zu einer programmtechnischen Rückkopplung führen. Dadurch erreicht der Countdown nie null.«
Als Studentin hatte Juliet einen Anfänger-Programmierkurs besucht. »Eine Endlosschleife?« fragte sie. »Genau das«, erwiderte Lorraine. »Wenn wir wollen, können wir den Destruktor demontieren.« Sie beugte sich herunter und umarmte das Kind. »Danke, Elizabeth.« »Nichts zu danken«, erwiderte Elizabeth und starrte sie schweigend an. »Soll das etwa heißen, wir sind in Sicherheit?« fragte Donovan wie vom Donner gerührt. »Du hast es erfaßt«, antwortete Juliet mit ausdrucksloser Miene. »Wir haben nicht mehr nur wenige Sekunden, sondern noch fünfzig oder mehr Lebensjahre vor uns.« Einen Augenblick lang starrte Mike sie sprachlos an, dann grinste er. »He…! Das ist ja wunderbar!« Als könnten seine Füße ihn nicht länger tragen, setzte er sich plötzlich auf den Boden. »Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll.« »Ich habe das Gefühl, daß ich gleich beides tun werde, möglicherweise zur gleichen Zeit. Sobald ich aufgehört habe zu zittern«, sagte Juliet, ließ sich neben ihn auf den Boden fallen und zog Elizabeth auf ihren Schoß. Wie benommen vor Erleichterung blieben alle eine Zeitlang sitzen und sahen sich grinsend an. Martin war es, der schließlich das Wort ergriff: »Ich glaube, ich sollte unseren Kurs überprüfen. Wir müssen bereits hinter dem Mond sein und nehmen immer noch Geschwindigkeit auf. Schließlich wollen wir Ihrer Sonne ja keinen Besuch abstatten.« Einen Augenblick lang machte er sich an der Navigationskontrolle zu schaffen, und kurz darauf erhellten sich einige Bildschirme vor ihnen. »Sehen Sie sich das einmal an, Donovan. So weit haben Sie sich noch nie von der Erde entfernt, oder?«
»Wahrhaftig«, stieß Mike hervor. »Das ist etwas für das Buch der Rekorde. Ob ich das für die Zeitung – oh, verdammt, die Zeitung!« »Was ist los?« fragte Juliet. »Meine Kamera! Die habe ich völlig vergessen. Diese ganze herrliche, dramatische Geschichte – und ich habe nichts davon für die Nachwelt festgehalten.« »Wir waren ziemlich beschäftigt«, meinte Juliet. »Du mußt dich erst wieder daran gewöhnen, über die Ereignisse auf der Welt zu berichten.« »Anstatt selbst dabei mitzuwirken? Ich freue mich schon darauf, meine Granaten und Laserpistolen gegen etwas Friedlicheres einzutauschen. Vielleicht heirate ich. Übrigens, willst du meine Frau werden?« Sie hob die Augenbrauen. »Oh, Liebling. Das klingt so… dauerhaft. Da zeigt sich der Generationsunterschied zwischen uns.« »Nun komm schon, mach einen ehrbaren Mann aus mir. Bitte.« »Ich denke darüber nach. Vielleicht sollten wir erst einmal eine Zeitlang zusammenleben.« »Wir treffen eine voreheliche Vereinbarung… alles, was du willst.« »Die Hochzeitsreise können wir zum Mars machen.« »Du redest Blödsinn, Mike.« »Vielleicht.« »Das ist seltsam«, sagte Martin. »Die Fluchtfähre wurde gerade aus dem Hauptkontrolldeck herausmanövriert.« »Woher wissen Sie das?« Martin zeigte auf die Luke, durch die die Leiter in die Tiefe führte. Juliet näherte sich ihr und blickte hinunter. Dianas Körper lag nicht mehr auf dem Deck. »Diana?« fragte Mike.
»Möglicherweise«, erwiderte sie. »Aber sie war schwer verwundet.« »Mit der Fluchtfähre kann man von hier aus nicht zur Erde zurückgelangen. Und falls sie es doch schafft, ist sie ohnehin verloren.« »Sie haben recht.« Mike sah seinen Gefährten an. »Julie und ich haben unsere eigenen Pläne. Was wollen Sie jetzt machen, Martin?« »Zuerst desaktiviere ich den Destruktor und schalte den Alarm aus. Dann…« Er bedachte Lorraine mit einem nachdenklichen Blick. »Wir kehren nach Hause zurück. Wir haben viel zu tun.« Er stand auf, nickte ihnen grüßend zu und trat auf den Korridor. Lorraine sah ihm nach. »Was ist mit Elizabeth? Wir könnten sie mitnehmen… doch ein Planet im Kriegszustand ist nicht gerade der geeignete Platz für ein Kind.« »Die Erde ist sicher auch nicht der friedlichste Platz in der Galaxis«, entgegnete Mike, »doch im Augenblick zumindest gibt es dort keine Kriege. Bis morgen jedenfalls.« »Sie kann mit uns kommen«, meinte Juliet. »Vielleicht können wir die Abmachung erfüllen, die John uns angeboten hat…« Sie betrachtete die Leiche des Obersten Kommandeurs. »Ich stelle mir eine ehrliche und aufrichtige Übereinkunft vor. Wir haben viele Dinge, die Sie brauchen. Sie besitzen vieles, das wir benötigen. Vielleicht können wir darüber verhandeln. Elizabeth könnte zu der Brücke zwischen unseren Völkern werden, von der Pater Andrew gesprochen hat.« Sie hielt nachdenklich inne. »Ob er noch am Leben ist?« Elizabeth schüttelte den Kopf. »Diana hat ihn getötet.«
Ein paar Stunden später kam Martin zurück. Eine Stunde zuvor war der Alarm verstummt. »Alles erledigt?« fragte Donovan.
»Ja«, erklärte der Visitor-Offizier und nahm dann seinen Platz auf dem Pilotensitz wieder ein. »Der Destruktor ist demontiert. Wir können nach Hause fliegen.« »Gut«, sagte Juliet und sah auf die Uhr. »Wie lange brauchen wir?« »Nicht lange. Eine Stunde vielleicht.« Sie saßen auf dem Boden und blickten auf den Bildschirm, als Martin das riesige Schiff zurücksteuerte. Jetzt konnten sie die Erde sehen. Donovan blickte auf die kleine bläuliche Sichel, die beständig größer wurde. Wie noch nie zuvor in seinem Leben bewunderte er die Schönheit der Erde. Zu schade, daß Tony das nicht sehen kann, dachte er. Bei der Erinnerung an seinen Freund kam ihm ein anderer Gedanke. »Wenn wir zurück sind, müssen Sie noch ein, zwei Tage bei uns bleiben, Martin«, sagte er. »Wir werden so viel zu tun haben, daß uns der Tag unseres Sieges wie ein Sonntagspicknick vorkommt, Julie. Nur gut, daß wir jetzt ein paar Minuten ausruhen können…« »Warum soll er noch bleiben?« fragte Juliet. »Die Leute im Lager. Wir müssen sie wieder zum Leben erwecken. Wenn die Behörden nichts dagegen haben, können Sie das Wasser behalten, Martin. Als Zeichen unseres guten Willens.« »Danke, Mike«, erwiderte Martin. »Ich könnte mir, ehrlich gesagt, auch keine praktikable Methode vorstellen, es zurückzubringen.« »Ich auch nicht.« »Wie schrecklich!« rief Juliet und richtete sich abrupt auf. »Ich habe all die armen Leute vergessen. Das ist furchtbar. Wie konnte ich nur!« »Wie du selbst sagtest – wir waren ziemlich beschäftigt.« Mike lächelte sie an und fügte seufzend hinzu: »Wirklich
schlimm ist die Tatsache, daß die anderen Mutterschiffe ihre Fracht nicht zurückbringen werden.« »Wenn wir siegen, können wir die Hibernanten vielleicht befreien«, meinte Martin. »Ja, eines Tages vielleicht«, entgegnete Juliet, bemüht, nicht allzu undankbar zu klingen. Es war nicht Martins Schuld. Doch der Gedanke an diese Menschen machte ihr klar, daß die Freude nicht ungetrübt sein würde. Daß der Sieg unendlich viele Opfer gefordert hatte. Seufzend blickte sie zu Donovan auf. »Du hast recht«, sagte sie. »Morgen haben wir bestimmt viel zu tun.« »Die Verantwortung«, sagte Donovan nachdenklich und offenbarte wieder sein altes scheues Grinsen. »Wenn man erst einmal bewiesen hat, daß man in der Lage ist, die Dinge in den Griff zu bekommen, kommt man nicht mehr zur Ruhe. Aber denken wir an die Sonnenseite, Doc. Es gibt wieder ein Morgen. Und das habe ich fast nicht mehr zu hoffen gewagt.« Seite an Seite sitzend beobachteten sie auf dem Bildschirm, wie die Erde größer und größer wurde, und sie ruhten sich aus, solange sie noch eine Gelegenheit dazu hatten.