Der Besucher aus dem Jenseits Ein Gespenster‐Krimi von Franc de...
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Der Besucher aus dem Jenseits Ein Gespenster‐Krimi von Franc deLorca »Marcel! – Ich kann nicht mehr! Das Böse ist stärker – die Geister aus dem Jenseits haben mich besiegt. Ich schreibe Dir noch diese Zeilen, damit Du weißt, warum ich von Dir gehe. Sobald diese grauenhaften Schauergestalten wiederkommen, mache ich Schluß! Ich habe die Hölle durchlitten, schlimmer kann es nicht mehr wer‐ den. Ich glaube, ich fühle sie bereits! Ich werde…« An dieser Stelle brach der Abschiedsbrief von Odile Vincent an ih‐ ren Mann ab. Nachbarn hörten am 11. März 1967 am frühen Abend gräßliche Schreie aus dem Haus am Stadtrand von Reims dringen. Ehe ihr jemand zu Hilfe kommen konnte, stürzte sich Odile Vin‐ cent vom Dach ihrer Villa. Sie war auf der Stelle tot. Die Polizei kam nach einer kurzen Untersuchung zu dem Ergebnis, daß es sich ein‐ wandfrei um Selbstmord handelte. Die Akten wurden geschlossen. Die schreckliche Wahrheit kam nicht an den Tag. »Wir sind gleich da!« Jean Marulin streckte die Hand aus und fuhr seiner neben ihm sitzenden Frau zärtlich durch die langen, blonden Haare. »Laß die Hand am Lenkrad!« rief Janine Marulin erschrocken. »Bei diesen Kurven!« Leise lachend legte Jean die Hand wieder an das Steuer und zog den Wagen durch die nächste Haarnadelkurve. Die schmale Straße kletterte mit atemberaubender Steigung einen kahlen, fast vollstän‐ dig verkarsteten Berghang hinauf. »Ich werde diese Straße nie fahren!« rief Janine. »Du weißt, daß ich nicht schwindelfrei bin, Cheri!« »Das weiß ich nicht«, antwortete ihr Mann. »So lange kennen wir uns schließlich nicht. Wir haben immer noch Gelegenheit, Überra‐ schungen miteinander zu erleben. Du bist also nicht schwindelfrei?
Das mußt du dir bei unserem neuen Haus schnell abgewöhnen.« Janine Marulin vermied es, aus dem Seitenfenster zu blicken. Di‐ rekt neben dem Wagen fiel das Gelände steil ab. Es gab nicht einmal eine Leitplanke. Wenn Jean von der Straße abkam, waren sie unrett‐ bar verloren. Dann mußte sich der Wagen überschlagen und min‐ destens hundert Meter tief abstürzen, ehe er irgendwo zerschmettert liegenblieb. »Ist es nicht seltsam, daß wir Flitterwochen im eigenen Haus ver‐ bringen?« rief Janine fröhlich, um ihre Angst zu überspielen. »Und daß ich dieses Haus noch nie gesehen habe?« »Das ist ja das Besondere an unseren Flitterwochen«, behauptete Jean und steuerte den Wagen mit ruhiger Hand durch die nächsten Serpentinen. »Wir sind übrigens gleich da. Noch zwei oder drei Kurven, dann hast du es überstanden.« Janine beugte sich vor, um durch die Windschutzscheibe nach oben zu sehen. Direkt vor ihr stieg eine Steilwand an, deren oberen Hand sie durch das blendende Sonnenlicht nicht erkennen konnte. Im ersten Gang quälte sich der Wagen die Steigung hinauf. Oben angekommen, zweigte eine Seitenstraße ab. Staub wirbelte hoch, als Jean auf die nicht asphaltierte Zufahrtsstraße einbog und nach zweihundert Metern scharf bremste. »Herrlich!« rief Janine aus. »Jean, hier ist es traumhaft schön!« Sie stieß die Wagentür auf, sprang heraus und blieb überwältigt stehen. Ihre Augen schweiften über die weißen Felsen, auf denen ein klobiges, wie eine Burg wirkendes Haus stand. Tief unter ihnen glit‐ zerte die tiefblaue Fläche des Meeres. Weiße Schiffe, von hier oben wie Spielzeug wirkend, zogen ihre Bahnen. Palmen und Zypressen wiegten sich im Wind, der nach Meer und heißem Sand roch. Langsam stieg Jean aus und betrachtete seine Frau. Vierundzwan‐ zig Jahre, aber noch immer verspielt und leichtlebig wie ein junges Mädchen. Der Wind zerrte an ihrem Sommerkleid, daß es sich um ihren tief gebräunten Körper schmiegte. Ihre goldblonden Haare
flogen in der steifen Brise. Sie war wunderschön, wie sie versunken dastand und die Pracht der Landschaft in sich aufsaugte. Jean trat von hinten an sie heran und legte seine Hände auf ihre nackten Schultern. Janine schmiegte sich an ihn und hob ihm ihre Lippen zum Kuß entgegen. »Das ist das schönste Hochzeitsgeschenk, das du mir gemacht hast«, erklärte sie mit strahlenden Augen. »Dieses Haus… ich liebe es jetzt schon.« Lachend faßte Jean sie an der Hand und zog sie mit sich zum Ein‐ gang. »Komm, du mußt es von innen sehen! Auch wenn es noch so heiß ist, drinnen bleibt es immer kühl. Vom Wohnzimmer aus sieht man das Meer, vom Schlafzimmer aus sieht man auch das Meer, und von den anderen Zimmern aus…« »… sieht man auch das Meer!« fiel ihm Janine lachend ins Wort. »Und dieser Garten! So herrlich verwildert! Versprich mir, daß du nichts daran änderst!« Jean versprach es und führte seine junge Frau durch alle Räume. Glücklich betrachteten sie gemeinsam jeden einzelnen Gegenstand des komplett eingerichteten Hauses. »Natürlich kannst du einige Dinge auf den Dachboden stellen und durch andere ersetzen, Cheri«, meinte er gegen Ende ihres Rund‐ ganges. »Du richtest doch gern ein, nicht wahr?« »Ja, das schon.« Janine blieb zögernd stehen. »Aber in diesem Haus stimmt einfach alles zusammen. Die Leute, die, früher hier gewohnt haben, hatten einen sehr guten Geschmack. Was waren das überhaupt für Menschen, Liebling?« Jean Marulin zuckte die Schultern. »Keine Ahnung! Der Makler wußte das auch nicht, weil er für einen Kollegen einsprang. Ich habe gehört, daß es ein Ehepaar war, das plötzlich nach USA auswandern mußte. Aber das ist doch gleichgültig, meinst du nicht?« Obwohl Jean Marulin wieder den unbeschwerten Ton wie auf der Herfahrt anschlug, ging seine Frau nicht darauf ein. »Ich finde es wichtig, zu wissen, wer früher in einem Haus ge‐
wohnt hat«, murmelte sie. »Es prägt den Charakter des Gebäudes, besonders, wenn man die Möbel mit übernimmt.« »Deshalb sollst du ja auch nach eigenem Geschmack verändern.« Jean hakte sich bei ihr unter und zog sie wieder ins Wohnzimmer. Mit einer fast feierlichen Geste stieß er die großen Flügeltüren auf und führte Janine auf die Terrasse. Schweigend und über so viel Schönheit staunend, ging die junge Frau über die kunstvoll verlegten Steinplatten. In Tonschalen blüh‐ ten Blumen, Bäume spendeten Schatten. Ein steinernes Geländer schloß die Terrasse ab. Janine stützte sich auf dieses Geländer und beugte sich nichtsah‐ nend vor. Im nächsten Moment fuhr sie mit einem schrillen Angst‐ schrei zurück. Jean sprang eben noch rechtzeitig hinzu, um sie aufzufangen, sonst wäre sie auf die Steinplatten gestürzt. Erschrocken hielt er sie fest. Schluchzend klammerte sieh Janine an ihm fest. Sie zitterte am ganzen Körper und bekam kaum Luft. »Aber, Cheri, was ist denn?« rief er besorgt. »Wieso bist du so er‐ schrocken?« Erst allmählich erholte sich Janine Marulin. Sie starrte ihren Mann aus großen Augen an. »Hinter dem Geländer… Abgrund… mindestens zweihundert Me‐ ter… tief…!« keuchte sie stockend. »Das hast du gewußt!« rief Jean. »Du hast gewußt, daß das Haus direkt am Steilhang liegt.« Sie nickte und schluckte schwer. »Aber da ist noch etwas«, flüster‐ te sie. »Ich weiß nicht, was es ist, aber ich fühle es. Auf dieser Ter‐ rasse ist etwas Schreckliches geschehen, das ich…« »Unsinn!« fuhr er dazwischen. »Das bildest du dir ein, weil du nicht schwindelfrei bist und über die senkrechte Felswand erschro‐ cken bist. Cheri, du wirst dich daran gewöhnen, glaub mir! Und dann wird dir die Terrasse genauso gut gefallen wie alles andere.
Meinst du nicht auch?« »Ja«, murmelte Janine und warf schaudernd einen letzten Blick auf die Terrasse. Dann wandte sie sich ab und betrat hastig das Haus. »Ich werde mich schon daran gewöhnen.« * Das nur siebenhundert Einwohner zählende Dorf Camarat an der Cote d’Azur hatte eine Sensation. Das Haus auf den Klippen war wieder bewohnt. Einen Tag nach dem Einzug des jungen Ehepaares gab es in Ca‐ marat kein anderes Gesprächsthema. Die meisten Unterhaltungen wurden leise geführt, als scheuten die Menschen davor zurück, ihre Gedanken laut auszusprechen. »Sieben Jahre hat es leergestanden«, meinte ein alter Mann, der die einzige Tankstelle des Dorfes betrieb. Einige Frauen machten wäh‐ rend des Einkaufens Pause bei ihm. Ein paar alte Männer hatten sich ebenfalls an der Tankstelle versammelt, um die Neuigkeiten auszu‐ tauschen. »Sieben Jahre sind eine lange Zeit.« »Aber nicht so lange«, meinte eine der Frauen, »daß das Gesche‐ hene vergessen ist.« »Das kann man nie vergessen«, krächzte ein alter Mann heiser. »Dieses Haus ist verflucht!« »Verflucht auf ewige Zeiten«, rief ein anderer. »Aber diese jungen Leute aus Paris haben doch gar nichts damit zu tun«, gab eine Frau zu bedenken. Sie war die einzige, die einen kühlen Kopf behielt. »Es sind Städter, die sich an der Küste ein Haus gekauft haben, mehr nicht.« »Mehr nicht?« fragte ihre Nachbarin schrill. »Du wirst schon se‐ hen, wohin das führt. Das hat nichts Gutes zu bedeuten!« »Alte Geschichten soll man nicht wieder aufrühren«, behauptete der Tankstellenbesitzer. »Und vergossenes Blut soll man verschwei‐ gen. Aber genau das Gegenteil machen doch diese Leute aus Paris.
Sie…« Er verstummte, als ein Wagen an der Tankstelle hielt und der Fah‐ rer die Tür aufstieß. Die versammelten Dorfbewohner grüßten freundlich und zerstreuten sich rasch in alle Richtungen. »Habe ich etwa gestört?« fragte Dr. Pierre Roux, obwohl er genau wußte, daß es so war. »Aber nein«, murmelte der Tankwart. »Voll?« »Für dreißig Francs!« Dr. Roux zog die Geldscheine aus der Ho‐ sentasche und warf sie auf den Kühler seines alten Wagens. »Was haben Sie denn von den Leuten im Haus auf den Klippen gehört?« erkundigte er sich. »Oder wissen Sie noch gar nichts davon, Mar‐ cel?« fügte er grinsend hinzu. Der Tankstellenbesitzer warf ihm einen giftigen Blick zu. »Sie ma‐ chen sich über mich lustig, Doktor«, brummte er. »Ich weiß nur, daß sie dort wohnen, mehr aber auch nicht.« »Sollen nette Leute sein«, versuchte der Arzt, mehr aus dem alten Mann herauszubekommen. »Weiß ich nicht«, erwiderte der Alte und verschloß wieder den Tank des klapprigen Wagens des Arztes. »Ich weiß nur, daß dieses Haus verflucht ist.« Mit laut aufheulendem Motor startete Dr. Roux seine Klapperkiste und rumpelte über die Hauptstraße davon. »Das gibt noch ein Unglück«, murmelte der alte Tankstellenbesit‐ zer. »Menschen im verfluchten Haus! Das kann nicht gut gehen!« * »Wie hast du geschlafen, Cheri?« fragte Jean Marulin beim Frühs‐ tück und blickte seine Frau verliebt an. »Ich hoffe für dich, daß du genauso gut geschlafen hast wie ich.« »Oh ja, danke.« Janine lächelte, so daß er nicht merkte, daß sie in Wirklichkeit eine sehr unruhige Nacht verbracht hatte. Gestern abend waren sie, erschöpft von der Fahrt von Paris an die Cote
d’Azur, ins Bett gefallen. Doch wenn sie geglaubt hatte, gleich ein‐ schlafen zu können, so hatte sie sich getäuscht. Jean war sehr zu ihrer Enttäuschung sofort in einen tiefen Schlummer gefallen. Sie jedoch hatte lange wach gelegen. Die un‐ sinnigsten Gedanken hatten sie gequält, Gedanken von Blut und Tod. Selbst als sie endlich in einen leichten Halbschlaf fiel, kam ihre Phantasie nicht zur Ruhe. Ein paarmal träumte sie auch, über das Geländer der Terrasse zu kippen und in die bodenlose Tiefe zu stür‐ zen. Dann flog sie mit weit ausgebreiteten Armen durch die Luft, unter sich das tiefblaue Meer mit den weißen Schaumkronen, den Sandstrand und die Felsen, auf denen sie gleich zerschmettert lie‐ genbleiben mußte. Jedesmal war sie schweißgebadet aufgewacht, ohne ihren Mann dabei zu wecken. Sie hatte gar nicht geahnt, daß Jean einen so tiefen Schlaf hatte. »Du hast einen sehr tiefen Schlaf«, sagte sie jetzt beim Frühstück, das nur aus Kaffee und Gebäck aus Frischhaltepackungen bestand. »Ich bin einmal wach geworden und habe mich heftig umgedreht, aber du hast nichts bemerkt.« »Schon immer gut geschlafen.« Jean trank einen Schluck Kaffee und warf einen Blick auf die Uhr. »Ich muß gleich los.« »Du fährst weg?« Janine runzelte die Stirn und griff sich an die Kehle. »Wieso denn?« »Hast du es schon wieder vergessen, Cheri? Wir haben es gestern abend besprochen. Ich fahre nach Toulon, während du das Haus in Ordnung bringst. Wir brauchen Lebensmittelvorräte, damit wir nicht jede Kleinigkeit in Camarat kaufen müssen. Diese Dorfkrämer nehmen doch viel zu hohe, Preise. In Toulon suche ich mir einen preisgünstigen Supermarkt. Nach dem Mittagessen bin ich wieder hier. Du brauchst nichts für mich aufzuheben, ich esse unterwegs eine Kleinigkeit.« »Ist gut«, sagte sie und beobachtete, wie er hastig aufstand, den Kaffee austrank und zu Brieftasche und Sonnenbrille griff.
»Janine, mach kein so trauriges Gesicht!« Lachend beugte er sich über seine Frau und zog sie zärtlich in seine Arme. »Du warst doch auch damit einverstanden, daß wir uns für ein paar Stunden tren‐ nen, damit heute abend alles fertig ist und wir die nächsten Tage ganz für uns allein haben.« »Sei vorsichtig«, bat sie und küßte ihn. »Ich liebe dich«, flüsterte er ihr ins Ohr, lief zum Wagen und wink‐ te ihr noch einmal zu. Lange blickte Janine der Staubwolke nach, die Jeans Auto hinter sich herzog. Sie fand nicht die Kraft, ins Haus zu gehen und die dringend nötigen Arbeiten durchzuführen. Da sie sich strikt gewei‐ gert hatte, ständiges Personal einzustellen, mußte sie selbst Staub wischen und für die Küche sorgen. Eine volle Stunde saß sie reglos am Frühstückstisch auf der son‐ nenüberfluteten Terrasse und versuchte, ihre düsteren Gedanken niederzukämpfen. Sie hatte überhaupt keinen Grund, sich zu fürch‐ ten. Und sie war bisher auch ihr ganzes, Leben über nicht ängstlich gewesen. Woher kam auf einmal diese Furcht? Endlich gab sich Janine Marulin einen Ruck, erhob sich und wollte den Frühstückstisch abräumen. Janine! Erstaunt hob sie den Kopf. Jemand hatte sie gerufen. Den Namen hatte sie deutlich verstanden, obwohl die Stimme aus großer Entfer‐ nung kommen mußte. Janine! Da war es noch einmal gewesen. Sie konnte nicht unterscheiden, ob ein Mann oder eine Frau nach ihr rief. Janine! Jetzt klang es wieder so, als wären es mehrere Personen. Sie kann‐ te hier an der Cote d’Azur niemanden, zumindest nicht in dieser menschenleeren Gegend. Sollten ein paar ihrer Bekannten und Freunde aus Cannes oder Nizza herübergekommen sein und sich jetzt mit ihr einen Scherz erlauben?
Janine, komm zu uns! Folge uns! Trotz der Wärme, die an diesem Julimorgen über der Cote d’Azur lag, fröstelte Janine. Gehetzt blickte sie um sich, konnte aber nicht feststellen, woher sie die Stimme – oder die Stimmen – hörte. »Wer ist da?« flüsterte sie mit blutleeren Lippen. »Wer ist da?« Niemand antwortete, doch aus weiter Ferne erklang erneut der lo‐ ckende Ruf: Janine! »Nein!« schrie sie auf, wirbelte herum und lief zurück zum Haus, aber vor der Glastür zum Wohnzimmer stockte ihr Fuß. Langsam drehte sie sich wieder um. Wie eine Schlafwandlerin kehrte sie zurück, überquerte die Terrasse und beugte sich über das steinerne Geländer. Jetzt wußte sie, woher die Stimmen kamen. Sie sah niemanden, aber aus der Tiefe schallte es zu ihr herauf wie das Brausen der Brandung. Janine! Komm zu uns! Folge uns! Hier sind wir! Wir warten auf dich, Janine! Grauen vor der bodenlosen Tiefe packte sie. Vor ihren Augen drehte sich alles. Mit einem erstickten Schluchzen klammerte sie sich am Geländer fest, und doch konnte sie sich kaum noch gegen den Wunsch wehren, sich über das Geländer in die Tiefe zu schwin‐ gen. Ein durchdringender Hupton ließ Janine Marulin zusammenzu‐ cken. Verstört wandte sie den Kopf und sah neben dem Haus einen alten, klapprigen Wagen stehen. Das Hupsignal löschte die hypnotische Wirkung der Stimmen aus. Janine konnte wieder klar denken. Entsetzt wich sie ein paar Schritte zurück und erkannte voll Grau‐ en, was sie beinahe getan hätte. Als Sie Schritte hinter sich hörte, nahm sie sich zusammen. Der Be‐ sucher sollte nicht merken, in welcher Verfassung sie sich befand.
* »Bonjour, Madame!« Der große, breitschultrige Mann mit den zer‐ zausten Haaren blieb abwartend am Rand der Terrasse stehen. Janine fühlte sich von seinen dunklen Augen unter den buschigen Brauen durchleuchtet, seziert, durchschaut. Sie war überzeugt, daß er alles über sie wußte, wenn er sie ein paar Sekunden lang beobach‐ tete. »Madame«, wiederholte der Fremde, als sie nicht auf seinen Gruß reagierte. »Störe ich?« »Wie? Ach so, nein, entschuldigen Sie, Monsieur!« Janine Marulin riß sich aus ihren Gedanken. »Kommen Sie näher!« Dr. Roux stellte sich vor und ließ die junge Frau keine Sekunde aus den Augen, während sie ihn zum Sitzen einlud und ihm eine Tasse Kaffee anbot, die er dankend annahm. »Der Pfarrer wird auch noch kommen«, meinte Dr. Roux lächelnd. »Das ist so üblich in unserem kleinen Dorf. Jeder, der etwas mit den Leuten zu tun hat, macht seinen Antrittsbesuch. Bin ich wirklich der erste? Der Besitzer des größten Ladens von Camarat wird auch noch erscheinen, keine Sorge.« »Bisher war niemand da.« Janine fand die Art des Arztes ange‐ nehm. Nach der schlechten Nacht und dem bedrückenden Erlebnis vorhin mit den Stimmen, die sie in die Tiefe holen wollten, tat seine Nähe gut. Der Doktor gab sich natürlich und lebenslustig, ließ je‐ doch gleichzeitig ahnen, daß man sich in einer Notsituation auf ihn verlassen konnte. »Sie kochen einen ausgezeichneten Kaffee, Madame Marulin«, lob‐ te er nach einer Weile. »Sie versorgen das ganze Haus allein?« »Vorläufig ja.« Janine dankte mit einem gelösten Lächeln für das Kompliment. »Später möchte ich mich nach einer Hilfskraft aus dem Dorf umsehen. Mein Mann und ich, wir werden bis zum Winter hierbleiben, dann erst kehren wir nach Paris zurück. Das heißt…« »Das heißt?« drängte Dr. Roux, als sie stockte. »Wollen Sie unter
Umständen sogar im Winter hierbleiben?« »Mein Mann möchte«, gab Janine Auskunft. »Er kennt die Cote d’Azur wesentlich besser als ich. Es war auch seine Idee, hier ein Haus zu kaufen.« »Ach so«, meinte der Arzt und wich ihrem Blick aus. »Sie haben das Haus wohl sehr preiswert bekommen?« »Keine Ahnung«, gab sie zu. »Ich kümmere mich nicht mehr um Geschäfte, seit ich meinen Mann kenne. Wir haben erst vor vierzehn Tagen geheiratet, müssen Sie wissen, Doktor.« »Dann gratuliere ich sehr herzlich. Wo ist übrigens Ihr Mann?« Janine erklärte die Idee mit dem Einkauf in Toulon, und der junge Arzt stimmte ihr zu. »Teuer ist es zwar in Camarats Läden, aber dafür lernen Sie die Leute kennen«, gab er zu bedenken. »Wenn Sie einmal etwas brau‐ chen, wird Ihnen niemand helfen, wenn Sie sich nicht eingelebt ha‐ ben. An mich können Sie sich auf jeden Fall wenden, ich werde im‐ mer für Sie da sein – und natürlich auch für Ihren Mann«, fügte er hastig hinzu, damit kein falscher Eindruck aufkam. »Danke, Dr. Roux.« Janine strich sich fahrig eine Strähne ihres goldblonden Haares aus der Stirn. Irgendwie irritierte es sie, daß der Arzt so nahe bei ihr saß, als wäre seine Gegenwart gefährlich für sie. Andererseits konnte sie ihn nicht wegschicken. »Sie müssen sich wohl erst von dem Klima in Paris auf unser Kli‐ ma umstellen, nicht wahr, Madame Marulin?« Dr. Roux bemühte sich, so beiläufig wie möglich zu sprechen. »Sie haben auch be‐ stimmt sehr anstrengende Tage hinter sich, die viel Nervenkraft gekostet haben?« Janine schüttelte unwillig den Kopf. »Die Hochzeit war wunder‐ schön, ich weiß gar nicht, was Sie wollen. Und die Umstellung ist doch nicht schwer? In Paris nur Hitze und Staub, hier aber ist es herrlich. Ich fühle mich wohl und möchte gar nicht mehr weg.« Aus halb geschlossenen Augen musterte der Arzt die junge Frau, die verkrampft vor ihm in einem der Korbsessel saß und seinem
Blick auswich. »Ja, ich muß weiter.« Pierre Roux erhob sich und trat an die Brüs‐ tung heran. »Sie sind zu beneiden, Madame! Dieser Ausblick!« »Nein, gehen Sie nicht hin!« schrie Janine auf und streckte die Ar‐ me nach ihm aus. »Nicht dorthin!« Sie zitterte am ganzen Körper, als Dr. Roux sich erstaunt nach ihr umdrehte und einen Schritt vom Geländer zurückwich. Zu spät fiel ihr ein, daß sie sich diese lockenden Stimmen ja nur eingebildet hat‐ te und für den Arzt keine Gefahr bestand. Pierre Roux musterte sie möglichst unauffällig. Er machte sich Ge‐ danken über ihren überreizten Zustand. »Ich bin schwindelfrei, Madame«, sagte er lachend, um die anges‐ pannte Situation zu überspielen. »Noch einmal vielen Dank für den Kaffee! Wenn Sie mich brauchen, ich bin jederzeit für Sie da. Auf Wiedersehen, Madame! Grüßen Sie Ihren Mann von mir!« Sie blieb noch so lange sitzen, bis er seinen alten Wagen gewendet hatte und zurück zur Straße fuhr. Als der Wagen aus ihrem Blick‐ feld verschwand, fühlte sie sich plötzlich schrecklich einsam, als gäbe es außer ihr keinen einzigen Menschen mehr auf dieser Welt. Nach einem letzten scheuen Blick zu dem Abgrund vor der Ter‐ rasse machte sie sich an die Arbeit. * Bei der Polizei in Vichy existierte eine Aktennotiz mit dem Datum vom 19. September 1968. Diese Notiz besagte, daß Monsieur Craszinsky in der Polizeiwache erschienen war und sich nach dem Amtsarzt erkundigt hatte. Angeblich litt seine Frau, seit langer Zeit unter Depressionen, hatte es aber stets abgelehnt, sich von einem Arzt behandeln zu lassen. Der verzweifelte Ehemann hoffte, daß der Amtsarzt mit Hilfe der Polizei etwas unternehmen konnte. Er war zur Zeit allerdings überbeschäftigt und konnte erst am Abend dieses Tages zu den Craszinskys fahren. Für Madame Craszinsky kam jede Hilfe zu spät. Sie hatte sich bereits im
Keller ihres Hauses erhängt. Der Amtsarzt stellte Selbstmord fest, und die polizeilichen Untersu‐ chungen bestätigten seine Vermutung. Die Akten Craszinsky wurden ge‐ schlossen. * Als Jean Marulin am frühen Nachmittag aus Toulon zurückkam, deutete nichts mehr auf den Zwischenfall hin. Janine hatte sich um‐ gezogen und erwartete ihren Mann in blendender Laune. »Endlich wieder hier«, rief er, als er sich aus dem Wagen schob und auf sie zulief. »Jean!« Sie fiel ihm in die Arme und ließ sich leidenschaftlich küs‐ sen. »Ich habe dich so vermißt! Ich war so allein… das heißt, so ganz allein war ich nicht.« Mit einem schelmischen Lächeln wollte sie sich von ihm lösen, aber Jeans Arme lagen wie stählerne Klammern um ihren Körper. »Wieso warst du nicht allein?« fragte er in verändertem Tonfall. Seine Augen, blitzten. »Du bist ja eifersüchtig!« rief Janine lachend. »Du kannst richtig ei‐ fersüchtig sein! Wie schön!« Er senkte den Blick für einen Moment, dann sah er sie wieder durchdringend an. »Wer war hier, Janine?« fragte er ernst. »Dr. Roux, der Arzt aus Camarat.« Sie löste sich aus seiner Umar‐ mung und füllte auf der Terrasse Limonade in die Gläser. »Wenn wir etwas brauchen, können wir uns an ihn wenden. Er hat früher auch in Paris gelebt, sich aber hierher zurückgezogen.« »Im Alter gehen viele an die Cote d’Azur«, meinte Jean und nahm einen Schluck Limonade. »Oh, Dr. Roux ist jünger als du«, rief Janine gut gelaunt. »Du bist siebenunddreißig, und ihn schätze ich auf höchstens Anfang drei‐ ßig. Er läßt dich grüßen.« »Danke«, knirschte Jean, dem es schwerfiel, seine Eifersucht zu
unterdrücken. »Wie nett von ihm.« Janine erzählte alles, was sie von Dr. Roux gehört hatte, und schil‐ derte Jean anschließend, was sie den ganzen Tag über getan hatte. Nur die Stimmen, die sie aus der Tiefe gehört hatte, verschwieg sie, wie sie ihre Träume der letzten Nacht schon für sich behalten hatte. Sie wollte Jean damit nicht beunruhigen. Vor allem war sie über‐ zeugt, daß sich alles von allein wieder geben würde, sobald sie hier zur Ruhe kam. Anschließend berichtete Jean von seiner Fahrt nach Toulon. Ge‐ meinsam entluden sie den Wagen und stapelten die Vorräte in der altmodisch gemütlichen Küche. »Ich liebe dieses Haus von Minute zu Minute mehr«, rief Janine glücklich, als sie fertig waren und sich im Wohnzimmer auf die Le‐ dercouch setzten. »Ich auch«, stimmte Jean ihr zu. »Aber nur, weil du hier bei mir bist.« Er zog sie in seine Arme, und als sie seinen fordernden Küssen nachgab, hob er sie hoch und trug sie hinüber ins Schlafzimmer. Später lagen sie ermattet dicht nebeneinander. Das Rauschen des Meeres und das Pfeifen des Windes in den nackten Felsen vereinigte sich in Janines Phantasie zu einem einschläfernden Konzert, obwohl sie genau wußte, daß sie hier so hoch oben das Meer nicht hören konnte. Ihr Blick ging hinaus durch das offene Fenster in den freien Himmel. So schlief sie ahnungslos ein. Noch wußte sie nicht, wie ein schö‐ ner Tag zu Ende gehen sollte. * Wenn Janine Marulin schlecht träumte, genügte es meistens, daß sie sich im Schlaf sagte, sie wolle jetzt sofort aufwachen. Dann wur‐ de sie auch wach, beruhigte sich und schlief weiter. Sie träumte, daß sie am Strand unterhalb ihres Hauses spazieren
ging. Wo Jean war, wußte sie nicht, aber ein Stück vor ihr ging Dr. Roux, den sie einholen wollte. Wie so oft im Traum, bemühte sie sich vergeblich, schneller zu gehen. Der Arzt machte so weit ausho‐ lende Schritte, daß er sich immer mehr von ihr entfernte. Und als sie schrie, kam nur ein heiseres Ächzen über ihre Lippen. Erschöpft blieb sie stehen und blickte nach oben zum Himmel. In diesem Moment geschah es. Ihr Haus kam ins Wanken. Es neigte sich mitsamt dem gewaltigen Felsen, auf dem es stand, und stürzte auf sie herunter. Der ganze Strand wurde unter den Trümmern begraben. Dr. Roux starb vor ihren Augen. Nur sie selbst lebte noch, und sie sagte sich, daß sie erwachen wollte, weil es nur ein Traum war. Zitternd setzte sie sich im Bett auf und öffnete die Augen. Ihr Atem ging stoßweise, auf ihrer Stirn hatte sich ein dünner Schweiß‐ film gebildet. Stöhnend schüttelte sie den Kopf. Warum träumte sie seit zwei Nächten solche grauenhaften Dinge? Ein Blick auf Jean beruhigte sie. Wenigstens ließ er sich nicht von ihrer Unruhe anstecken. Er schlief tief und friedlich weiter und merkte nicht einmal, daß sie ihm die Decke über den Rücken herun‐ tergezogen hatte. Mit einigen Handgriffen brachte Janine es wieder in Ordnung und streckte sich selbst erleichtert neben ihrem Mann aus, als ein Ruck durch ihren Körper ging. Ihre Augen weiteten sich entsetzt. Sie hielt den Atem an und schloß die Fäuste so heftig, daß sich die Fingernägel in die Handbal‐ len bohrten. Neben dem Bett stand ein Mann. Das Mondlicht reichte nicht aus, sein Gesicht zu erhellen. Noch war er im Dunkel, aber er näherte sich dem Bett, das direkt von dem bleichen Schein des Mondes Übergossen wurde. Janine wollte schreien, aber die Stimme versagte ihr den Dienst. Der Mann war nur mehr wenige Zentimeter von der Bettkante ent‐ fernt.
Jetzt beugte er sich vor. Sein Gesicht geriet in den hellen Mond‐ schein. Ein markerschütternder Schrei tiefsten Grauens brach aus Janines Kehle. Der Mann vor ihr hatte kein Gesicht mehr. Es war zu einer roten Fläche entstellt. Ein Auge starrte sie unverwandt an. Janine schrie noch, als Jean neben ihr herumwirbelte, sich aufsetz‐ te und sie an den Schultern packte. »Komm zu dir!« brüllte er. »Janine! Komm zu dir! Was ist denn?« Er versetzte ihr zwei schallende Ohrfeigen, aber der Mann mit dem grauenhaft entstellten Gesicht blieb. Ganz dicht vor ihr stützte er sich auf das Bett und blickte sie durchdringend an. »Janine!« Jean schaltete das Licht ein. In derselben Sekunde war der Fremde verschwunden. Schluchzend fiel Janine Marulin zurück in die Kissen und schlug die Hände vor das Gesicht. Ein Weinkrampf schüttelte ihren schlan‐ ken Körper. »Na, na, schon gut«, redete er beruhigend auf sie ein. »Ist ja vorbei. Keine Angst, es war nur ein Traum!« »Nur ein Traum?« schrie Janine auf und drehte sich auf die andere Seite. »Ich habe geträumt, ja! Aber dann bin ich aufgewacht und habe dich zugedeckt! Und dann erst habe ich diesen Mann mit dem blutigen Gesicht gesehen. Er war hier, hier am Bett! Du mußt ihn auch gesehen haben!« »Nein«, sagte er tonlos. Erschüttert schwieg er. Da er seiner Frau nicht glauben konnte, ergab sich für ihn ein schrecklicher Schluß. »Du hältst mich für übergeschnappt«, sprach Janine seine Gedan‐ ken aus. »Gib es zu! Du glaubst, daß ich in ein Sanatorium gehöre, weil ich Dinge sehe…« »Hör auf!« unterbrach er sie. »Schlafen wir weiter!« Er drückte sie zurück auf das Bett und streckte sich neben ihr aus. »Laß das Licht brennen«, bat sie mit schwacher Stimme. »Ich will die Dunkelheit nicht mehr.«
Jean drehte die Nachttischlampe so, daß sie Janine nicht störte. Dann hauchte er ihr noch einen Kuß auf die Wange und war im nächsten; Moment eingeschlafen. Janine Marulin jedoch lag bis zum Morgengrauen wach und fiel erst mit dem Sonnenaufgang in einen bleiernen Schlummer. * Der Duft von frischem Kaffee weckte sie gegen neun Uhr. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie richtig wach war. Als sie aus dem Bett stieg und in einen Morgenmantel schlüpfte, konnte sie sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten. Barfuß tappte sie die Trep‐ pe hinunter und durch das Wohnzimmer hinaus auf die sonnenbe‐ schienene Terrasse. »Phantastisch!« rief sie aus. Jean hatte ein Frühstück zubereitet, aber was für eines! Es vereinigte sämtliche Vorzüge eines amerika‐ nischen, englischen und kontinentalen Frühstücks. Um alles aufbau‐ en zu können, hatte er zwei Tische zusammengeschoben. »Guten Morgen, Cheri«, begrüßte er seine Frau und drückte sie liebevoll an sich. »Ich dachte, ich sollte dir eine Freude machen, da‐ mit du dich hier wohl fühlst.« »Aber das tue ich doch ohnedies«, behauptete sie. »Wegen dieses dummen Traums…« »Reden wir nicht mehr davon«, bat er hastig. »Komm, setz dich, ich serviere!« Janine wußte bei Tageslicht selbst nicht mehr, ob sie nur einen Traum gehabt oder tatsächlich einen Mann an ihrem Bett gesehen hatte. Jean tat alles, um sie aufzuheitern. Seine gute Laune wirkte ansteckend, und der blaue Himmel über dem Meer und den weißen Felsen vertrieb die düsteren Gedanken. »Wir bleiben unsere ganzen Flitterwochen hier«, rief Jean. »Und wie lange die Flitterwochen dauern, bestimmen wir ganz allein. Da darf uns niemand stören.«
Mit halb geschlossenen Augen hörte Janine zu. Sie ließ sich von Jean ausmalen, wie sie den ganzen Sommer über in diesem herrli‐ chen alten Haus lebten und wie sie im Herbst das Sterben der Natur beobachteten. »Sterben«, wiederholte sie sinnend. »Vielleicht ist jetzt schon Herbst?« Jean Marulin biß sich auf die Unterlippe, als er merkte, welchen Fehler er begangen hatte. In ihrem augenblicklichen Zustand drehte Janine jedes Wort um. Er mußte vorsichtiger sein. »Ich räume jetzt ab und spüle, dann unternehmen wir etwas«, schlug Jean vor, als sie das Frühstück nach einer Stunde beendeten. »Kommt gar nicht in Frage«, entschied seine Frau. »Ich spüle! Du hast heute schon genug gearbeitet!« Sie ließ sich von ihm nicht helfen. Während sie abräumte, durfte er sich nicht aus dem Liegestuhl auf der Terrasse rühren. Endlich hatte sie alles in die Küche geschleppt und auf den Tischen und in der Spüle abgestellt. Erschöpft brachte sie Jean einen Stapel Zeitungen und einen Sonnenschirm. »Ich will dich in den nächsten zwei Stunden nicht in der Küche sehen, Cheri!« verkündete sie. »Du bleibst auf der Terrasse, auch wenn die Flut bis hierher steigen sollte.« »Warum darf ich nicht mitkommen?« fragte er lachend. »Ich möchte dir in der Küche gern helfen.« »Das kommt überhaupt nicht in Frage!« Janine hob drohend die Hand. »Du bringst höchstens alles durcheinander und stehst mir im Weg. Bis später, Liebling!« Sie kehrte ins Haus zurück und machte sich an die Arbeit. Dabei bemühte sie sich, nicht mehr an den Zwischenfall in der vergange‐ nen Nacht zu denken. Endlich standen alle Teller und Tassen in der Spüle. Janine drehte den Wasserhahn voll auf und griff nach der Geschirrbürste. Im nächsten Moment krallte sie sich entsetzt an der Spüle fest. Ihre Augen weiteten sich in namenlosem Grauen. Ihr Gesicht verzerrte
sich vor Abscheu. Aus der Wasserleitung schoß ein dicker Strahl einer roten Flüssig‐ keit und ergoß sich über das Geschirr, spritzte nach allen Seiten. Wie aus einer überdimensionalen Ader pulsierte der rote Saft. Für Sekunden glaubte Janine, wieder den Unbekannten vor sich zu sehen, der an ihr Bett gekommen war. Das Blut – sein zerstörtes Gesicht – die Stimmen aus dem Abgrund… Haltsuchend griff die junge Frau um sich. Im Zeitlupentempo knickten ihr die Beine unter dem Körper weg. Sie stürzte auf den Küchenboden, rollte auf die Seite und blieb reg‐ los liegen. * »… wirklich dringend!« hörte Janine aus weiter Ferne die Stimme ihres Mannes. »Beeilen Sie sich, Doktor, und stellen Sie nicht so viele Fragen. Das können Sie noch immer machen, wenn Sie hier sind!« »Jean«, flüsterte sie und versuchte, die Augen zu öffnen. Es gelang ihr nicht. »Jean!« Seine Hand legte sich beruhigend auf ihre Stirn. »Ist schon gut, Cheri, ich bin bei dir«, redete er auf sie ein. »Reg dich nicht auf, es ward alles gut!« »Aber… das Blut!« Janine riß die Augen auf und starrte ihn ent‐ setzt an. »Du hast es doch auch gesehen! Aus der Wasserleitung schoß das Blut heraus! Es ist überall und…« Verwirrt blickte Janine sich um. Sie lag auf zwei zusammenge‐ schobenen Stühlen in der Küche und konnte die Spüle überblicken. Die Wand und auch der Fußboden davor waren mit Wassersprit‐ zern übersät, aber keine Spur von Blut! »Ich habe es gesehen, es war da!« keuchte Janine. »Jean, bitte, sag, daß du es auch gesehen hast!« An seinem betretenen Gesicht erkannte sie, daß er ihr kein Wort glaubte. Mutlos ließ sie die Schultern hängen.
»Du hast Dr. Roux angerufen?« fragte sie leise. »In deinen Augen bin ich krank, nicht wahr?« »Liebling, ich kann doch nicht zusehen, wie du dich selbst kaputt machst!« Er setzte sich neben sie und zog sie fest an sich. »Diese Erscheinungen… Blut, ein Mann im Zimmer… das hast du dir alles eingebildet! Das ist nicht weiter schlimm, in der heutigen Zeit gehen einem schon einmal die Nerven durch. Dr. Roux wird dir helfen, ganz bestimmt. Du hast ihn sympathisch gefunden, also kann es dir auch nicht unangenehm sein, wenn er herkommt.« Vor dem Haus bremste ein Wagen. Der Motor erstarb mit einem Gluckern und einigen Fehlzündungen. Die Wagentür quietschte erbärmlich. Jean sprang auf und lief dem Arzt entgegen. Am liebsten hätte Janine Dr. Roux gar nicht ins Haus gelassen, doch sie war zu schwach, um sich gegen ihren Mann oder den Arzt zu wehren. Und als er endlich die Küche betrat, war sie sogar er‐ leichtert. Der junge Arzt verströmte Zuversicht und Stärke. Während er freundlich mit Janine sprach und sich von ihr erzäh‐ len ließ, was vorgefallen war, untersuchte er sie gründlich. Jean mußte so lange die Küche verlassen. »Wie war das mit dem Blut?« fragte der Arzt zuletzt, als er seine Instrumente wieder einpackte. »Es kam aus der Wasserleitung?« »Ein dicker Strahl!« Janine nickte bekräftigend, stand auf und ging zur Spüle. »Eigentlich müßte hier alles voll von Blut sein, Doktor. Es spritzte gegen die Wände, auf den Boden. Zwischen den Tassen müßten sich auch noch Spuren gehalten haben.« Dr. Roux machte sich die Mühe, das Spülbecken ganz auszuräu‐ men. »Tut mir leid«, meinte er schließlich achselzuckend. »Ich kann nichts finden. Bei Ihnen übrigens auch nicht, Sie sind vollständig gesund. Beneidenswert gesund sogar.« »Dann glauben Sie mir also, daß ich mir nicht bloß etwas eingebil‐ det habe?« fragte sie hoffnungsvoll. Der Arzt zuckte die Schultern. »Ich weiß noch nicht, was ich von der Sache halten soll, Madame«, meinte er vorsichtig. »Machen Sie
sich keine Sorgen, ich werde mich auch weiterhin um Sie küm‐ mern.« Er nahm seine Tasche und ging zur Küchentür. Janine blieb stehen und sah ihm mit Bedauern hinterher. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn er sie nicht mit Jean allein gelassen hätte. Ihr Mann glaubte ihr nicht, während der Arzt wenigstens an die Möglichkeit zu denken schien, daß sie recht haben könnte. In ihrer Situation war das mehr, als sie erwarten konnte. »Kopf hoch, Madame Marulin«, sagte Dr. Roux an der Tür und drehte sich noch einmal zu ihr um. Er lächelte, aber seine dunklen Augen blickten ernst. Draußen in der Halle hörte Janine den Arzt mit ihrem Mann spre‐ chen. Die beiden unterhielten sich im Flüsterton, doch war deutlich die Erregung zu erkennen, mit der Jean auf Dr. Roux einsprach. Endlich fuhr der alte Wagen des Arztes ab. Jean kam zurück in die Küche. »Siehst du, alles in Ordnung«, rief er und verstrahlte unbegründet Optimismus. »Dr. Roux meint, daß du dich jetzt ein wenig hinlegen und schlafen sollst. Das wird dir gut tun.« Ohne Widerrede ließ sich Janine Marulin nach oben ins Schlaf‐ zimmer bringen. Wortlos legte sie sich auf das Bett. Den Kuß ihres Mannes nahm sie kaum wahr. Als er das Schlafzimmer verlassen hatte, fiel sie in einen Dämmer‐ zustand, in dem sie alles hörte, was rings um sie vorging, sie selbst jedoch nicht fähig war, auch nur den kleinen Finger zu rühren. In diesem Zustand, der einer Lähmung gleichkam, erlebte sie noch einmal alles, was ihr seit ihrer Ankunft in diesem Haus zugestoßen war. Verzweiflung übermannte sie. Sie wollte aufspringen und weg‐ laufen, doch sie konnte sich nicht bewegen. Unsichtbare Fesseln hielten sie auf ihrem Bett fest. Endlich gab sie es auf, sich zu wehren. Als Jean Marulin um die Mittagszeit nach seiner Frau sah, schlief sie. Mit einem zufriedenen Lächeln schloß er wieder die Tür des Schlafzimmers.
* Der Rat des Arztes schien wirklich gut gewesen zu sein, denn als Janine Marulin erwachte, fühlte sie sich ausgeruht und erholt. Sie warf einen Blick auf die Armbanduhr, die ihr Jean zur Hochzeit ge‐ schenkt hatte und die von Brillanten funkelte. Sie hatte fast vier Stunden geschlafen, es war bereits drei Uhr nachmittags. Janine trat ans Fenster und betrachtete lange das tiefblaue Meer, das am Horizont in einer Dunstschicht mit dem Himmel ver‐ schmolz. Es war ein paradiesischer Flecken Erde, sie lebte in einem herrlichen Haus. Was wollte sie mehr? Von ihren angegriffenen Nerven durfte sie sich diese schöne Zeit nicht verderben lassen. Mit einem kurzen Rundgang durch das Haus überzeugte sie sieh davon, daß alles in Ordnung war. Jean hatte das Geschirr in der Kü‐ che gespült und auch sonst sauber gemacht. Sie hatte nichts anderes zu tun, als sich zu erholen. »Jean?« Ihre Stimme hallte durch das stille Haus. »Jean, wo bist du?« Als er nicht antwortete, machte sie sich auf die Suche. Die Terrasse vermied sie und überzeugte sich nur durch einen raschen Blick, daß Jean nicht draußen saß. Sie entdeckte ihn schließlich vom Fenster eines Gästezimmers im ersten Stock aus. Er hatte einen Spaziergang landeinwärts unter‐ nommen und kehrte jetzt mit langen Schritten zurück. Eine Weile sah sie ihm gedankenverloren zu. Das war also der Mann, mit dem sie ein ganzes Leben verbringen wollte! In diesem Moment wurde ihr voll bewußt, was das bedeutete. Ein ganzes Le‐ ben! Wie lange kannten sie einander? Erst ein knappes halbes Jahr. Das war nicht viel. Ob sie sich in Jean getäuscht hatte? Von ihrem Mann hätte sie erwartet, daß er ihr bedingungslos glaubte, aber er hielt sie nur für hysterisch und übernervös.
Aufstöhnend preßte Janine die Hände vor den Mund und stützte sich schwer gegen die Fensterbank. Für Sekunden sah sie dort drau‐ ßen auf der freien Fläche nicht ihren Mann, der winkend auf sie zu‐ lief, sondern ein Skelett, das sich ihr mit abgehackten Bewegungen näherte. Der bleiche Schädel hing schief. Auf der einen Seite klaffte ein großes Loch in der Schädeldecke. Das Skelett zog eine breite Blutspur durch den Sand des Gartens. »Hallo, Janine!« rief Jean. »Liebling! Wie geht es dir?« Sie schreckte hoch. Ihr Blick klärte sich wieder, und sie erblickte ihren Mann, der besorgt vor dem Haus stand und die Hand über die Augen legte, um sie gegen die grelle Sonne zu schützen. »Hast du gut geschlafen?« Zitternd nickte sie und zog sich vom Fenster zurück. Sie mußte sich beherrschen und ganz ruhig sein, wenn er jetzt ins Haus kam. Jean durfte nicht merken, daß sie schon wieder ein unheimliches Erlebnis gehabt hatte. Sie beschloß, von jetzt an alles für sich zu be‐ halten, da ihr ohnedies niemand glaubte. Als Jean Marulin das Haus betrat, hatte sich seine Frau bereits so‐ weit in der Gewalt, daß sie ihn mit einem schwachen Lächeln be‐ grüßen konnte. * Am 19. 11. 1969 wurde die Leiche einer etwa dreißigjährigen Frau aus der Seine bei Paris geborgen. Der Gerichtsmediziner stellte einwandfrei Tod durch Ertrinken fest. Die Identifizierung der Leiche gestaltete sich äußerst schwierig, weil die Tote keine Papiere bei sich trug und schon mehrere Wochen im Wasser gelegen hatte. Erst die genaue Beschreibung der Kleider der Toten brachte Erfolg. Mon‐ sieur Selmour aus Paris meldete, daß seine Frau am Tag ihres Verschwin‐ dens diese Kleidung getragen hatte. Der erschütterte Ehemann mußte schließlich bestätigen, daß die Tote aus der Seine seine Frau war. Er brach
völlig zusammen. Die Polizei ermittelte, daß Monsieur Selmour, ein Geschäftsmann, in den letzten Monaten im Ausland gewesen war. In dieser Zeit hatte seine Frau eine seltsame Verwandlung mitgemacht. Die früher lebenslustige Anne Selmour war schweigsam und menschenscheu geworden. Manchmal hatte sie davon gesprochen, daß böse Geister sie verfolgten. Der Fall war klar. Selbstmord aus Verfolgungswahn. * Viel Arbeit hatte Dr. Pierre Roux nicht. Aber gerade das war der Grund gewesen, weshalb er von Paris hierher an die Cote d’Azur gekommen war, und zwar in einen Küstenabschnitt, der fernab vom Touristengedränge lag. Während seiner Hausbesuche an diesem Tag war der junge Arzt unkonzentriert. Zu seinem Glück wurde er nicht gefordert. Er muß‐ te nur eine Brandwunde verbinden und einen alten Mann wegen einer Erkältung behandeln. Ständig kreisten seine Gedanken um das einsame Haus vor Cama‐ rat und um dessen Bewohner. Das »verfluchte« Haus! So nannten es die Dorfbewohner, auch wenn sie es nicht laut aussprachen. Dr. Roux wußte, woher diese Bezeichnung stammte, auch wenn er da‐ mals noch nicht im Dorf gewesen war. Nach dem Mittagessen hielt er es nicht mehr aus. Er mußte mehr über diesen sieben Jahre zurückliegenden Vorfall wissen. Es gab im Dorf niemanden, der die ganze Geschichte nicht in jedem Detail hätte schildern können, aber Dr. Roux wollte sich auf niemanden verlassen. Jeder erfand etwas dazu und bog die Geschichte nach seinen eigenen Vorstellungen zurecht. Es gab nur einen Mann in Camarat, der alles unverfälscht erzählen konnte, und das war der alte Jean‐Pierre, der ehemalige Dorfpolizist. Er kam Dr. Pierre Roux entgegen, als dieser die Gartentür aufstieß und auf das Haus zuging. Die beiden Männer begrüßten einander
herzlich, und der pensionierte Polizist lud den Arzt ein, sich mit ihm in den Schatten zu setzen. Dann holte er eine Flasche Rotwein und zwei Gläser. »Dabei spricht es sich leichter«, meinte er mit einem listigen Au‐ genzwinkern. »Und Sie sind doch zum Sprechen hergekommen, nicht wahr, Doktor?« Der Arzt nickte. »Ich war damals noch nicht da, als es passierte«, sagte er, und der alte Jean‐Pierre wußte sofort, wovon er sprach. »Und jetzt ist das Haus wieder bewohnt. Da interessiert es mich, was damals wirklich geschehen ist.« »Verstehe!« Der ehemalige Polizist schenkte ein, prostete dem Arzt zu und begann zu berichten. »Es war vor sieben Jahren, Dok‐ tor. Den Leuten im Dorf fiel auf, daß das Ehepaar Mabelais seit zwei Tagen nicht mehr in Camarat war. Sonst kam Monsieur Mabelais jeden Tag mindestens einmal mit seinem Fahrrad in den Ort, um irgend etwas einzukaufen.« Er unterbrach sich, nahm einen Schluck Rotwein und steckte sich eine Zigarette an. Sein Gesicht spannte sich an, als er weitersprach. Die Erinnerung regte ihn auf. »Monsieur Delamare vom Krämerladen hatte mich auf der Straße angehalten, Doktor. Ich sollte doch einmal nach den Mabelais sehen, die Sache wäre seltsam. Ich fuhr mit meinem Fahrrad hinaus zu dem einsamen Haus am Steilhang, klingelte und klopfte, aber nie‐ mand machte auf. Also ging ich auf die Terrasse.« Der alte Polizist schüttelte sich. »Glauben Sie mir, Doktor, es war schrecklich. Die ganze Terrasse war voll Blut – schon getrocknet. Eine breite Spur führte zum Ge‐ länder, und als ich mich über die Brüstung beugte, sah ich in der Tiefe die zerschmetterten Leichen der beiden Unglücklichen. Ich habe sofort im Haus nachgesehen, aber es fehlte nichts. Alles war voll Blut, es hatte ein fürchterlicher Kampf stattgefunden.« »Soviel ich weiß, wurden die Täter gefaßt?« warf Dr. Roux ein. Der Polizist nickte. »Ein halbes Jahr später in Paris. Es waren zwei junge
Männer, die selbst nicht genau sagen konnten, weshalb sie das getan hatten. Die Zeitungen berichteten damals in großer Aufmachung von dem Doppelmord.« »Seither stand das Haus leer«, erinnerte sich der Arzt. »Man hat es auch mir angeboten, als ich nach Camarat kam, aber ich wollte es nicht. Was ist eigentlich an den Gerüchten, daß es im Haus spukt? Ehrlich, Monsieur, gibt es Anzeichen, daß in dem Haus etwas nicht stimmt?« Der alte Jean‐Pierre starrte den Arzt sekundenlang entgeistert an. Dann warf er den Kopf in den Nacken und begann, schallend zu lachen. »Und ich habe Sie für einen intelligenten Menschen gehal‐ ten!« rief er prustend. »So ein Unsinn! Natürlich spukt es nicht! Wie kommen Sie auf diese verrückte Idee?« Dr. Roux stand rasch auf und zuckte verärgert die Schultern. »Weiß ich auch nicht«, murmelte er. »Vielen Dank für den Wein!« Der alte Polizist blickte seinem Besucher nach, bis er in seinen klapprigen Wagen stieg und losfuhr. Kopfschüttelnd griff er zur Flasche und schenkte sich nach. »Spuk im Mordhaus«, sagte er zu sich selbst. »Kompletter Un‐ sinn!« * Monique Haussman trat zwei Monate vor ihrem Selbstmord einem spiri‐ tistischen Zirkel bei. Am 1. März 1970 warf sie sich vor einen Zug im Hauptbahnhof von Lyon. Sie war auf der Stelle tot. Die Polizei fand keinen Abschiedsbrief. Dafür meldete sich zwei Tage, nachdem die Zeitungen über den aufse‐ henerregenden Selbstmord der bekannten Industriellenwitwe berichtet hat‐ ten, eine Frau, die sich als Abgesandte eines spiritistischen Zirkels vorstell‐ te. Sie und auch andere Mitglieder dieses Vereins sagten vor der Polizei aus, Madame Haussman habe die letzten Wochen ihres Lebens in panischer Angst vor bösen Geistern verbracht.
Die Polizei hörte sich diese Schilderungen höflich an und warf die Leute ebenso höflich hinaus. Der letzte Ehemann mußte nach dem Freitod seiner Frau in ein Sanato‐ rium eingeliefert werden, aus dem er spurlos verschwand. Er tauchte nie mehr auf, so daß die Polizei annahm, daß auch er Selbstmord begangen hatte. * Janine Marulin blieb ihrem Vorsatz treu. Sie sprach mit Jean nicht mehr über die Ereignisse, die sie in den letzten vierundzwanzig Stunden so sehr beunruhigt hatten. Jean erwähnte sie auch nicht. Er war nach wie vor davon überzeugt, daß sie sich alles nur eingebildet hatte. Er wollte seiner Frau bei der Zubereitung des Abendessens helfen, aber sie drängte ihn mit sanftem Nachruck aus der Küche. »Ich kann niemanden am Herd vertragen«, behauptete sie und versuchte, einen scherzhaften Ton anzuschlagen. Jean merkte jedoch ganz deutlich, daß sie ihn überhaupt nicht bei sich haben wollte. Er machte gute Miene zum bösen Spiel und zog sich zurück. Jani‐ ne starrte verbissen hinter ihm her. Sie wollte ihn nicht verletzen, aber sie ertrug seine Nähe nicht, solange er ihr nicht glaubte. Und genau das tat er nicht. Lustlos bereitete sie das Essen und nahm sich erst wieder zusam‐ men, als sie es im großen Wohnraum servierte. Die Schiebetüren zur Terrasse standen offen, eine kühle Brise wehte herein. »Das hast du wirklich schön gemacht, Cheri!« lobte Jean das sehr flüchtig gemachte Tischarrangement. Er bemühte sich auch sonst um eine bessere Stimmung, aber alles war vergeblich. Was immer er sagte, er erhielt von Janine eine höfliche, freundliche Antwort, mehr nicht. Sie hatte sich in ein Schneckenhaus zurückgezogen, aus dem sie nicht mehr herauskam. »Ich habe meine Zigaretten im Wagen vergessen«, sagte Jean, als
er fertig war und das Besteck weglegte. »Ich hole sie eben. Bin gleich wieder zurück.« Janine nickte nur, sah hinter ihm her und zerkrümelte gedanken‐ los ein Stückchen Weißbrot zwischen den Fingern. Den Rest schob sie in den Mund, spülte mit einem Schluck Wein nach und griff nach dem Tablett, um den Tisch abzuräumen. Dabei drehte sie sich zur Seite, so daß ihr Blick hinaus auf die Terrasse fiel. Der Anblick traf sie unvorbereitet und warf sie fast zu Boden. Über der Balustrade tauchten zwei blutverschmierte Hände auf, die nach Halt suchten. Dabei wußte Janine genau, daß es unmöglich war, auf der anderen Seite des Geländers den Steilhang heraufzuklettern. Die Felswand fiel senkrecht ab, hing sogar etwas über. Nicht einmal ein geübter Bergsteiger hätte diese Wand geschafft. Die blutigen Finger faßten die Kante des Geländers, mit einem Ruck zog sich der Unbekannte hoch. Mit einem erstickten Stöhnen griff sich Janine an die Kehle. Ihr Herz krampfte sich zusammen und drohte zu zerspringen. Sie be‐ kam kaum noch Luft. Das Gesicht, das über der Balustrade auftauchte, kannte sie be‐ reits, zerschunden, entstellt, blutüberströmt. Fast empfand sie Mit‐ leid mit dem Mann, doch dann überwältigte sie erneut das Entset‐ zen. Der Fremde schwang sich über die Balustrade und stand schwan‐ kend auf der Terrasse. Seine verkrampften Hände ruderten durch die Luft, als suche er verzweifelt nach einem Halt. Zwei, drei Schrit‐ te torkelte er auf das Haus zu, als Janine endlich aus ihrer Erstar‐ rung erwachte. Trotz ihrer Angst dachte sie nicht daran, Jean zu rufen. Sie stürzte zu der Terrassentür und schob sie zu. In der Eile verkeilte sich die Tür in der Laufschiene. Wie eine Wahnsinnige zerrte und riß Janine am Griff, bis die Tür wieder freikam und zufiel. Mit zitternden Fingern drehte sie den Schlüssel herum und wich
von der Glasscheibe zurück. Der Unbekannte hatte die Tür fast erreicht. Zwei Schritte fehlten noch, als vor dem Haus eine Autohupe ertönte. Janine zuckte zusammen. Das war nicht das Signal ihres eigenen Wagens. Jemand kam zu Besuch! Der blutüberströmte Fremde tat noch zwei Schritte auf die Tür zu. Seine ausgestreckte Hand berührte die Glasscheibe von außen, dann torkelte er wieder zurück bis an den Rand der Terrasse. Die Hupe ertönte ein zweitesmal. Janine kümmerte sich nicht dar‐ um. Sie konnte den Unbekannten nicht aus den Augen lassen. Noch ein paar Schritte weiter, dann stieß die Schauergestalt gegen das Geländer, warf die Arme hoch und kippte lautlos nach hinten in den Abgrund. * Hinter Janine ertönten Stimmen. Jean sprach mit Dr. Roux und lud ihn ein, mit ihm ins Haus zu kommen. »Janine! Wir haben Besuch!« Jean war schon in der Halle. »Janine, wo bist du? In der Küche?« Sie antwortete nicht, sondern trat auf die Terrasse hinaus. Unter Aufbietung ihrer ganzen Selbstbeherrschung mußte sich Janine zwingen, an die Balustrade heranzugehen. Zitternd beugte sie sich darüber und blickte in den Abgrund. Das letzte Tageslicht erleuchtete den Berghang. Janine konnte zwar nicht mehr jede Einzelheit unterscheiden, aber es reichte aus, um eines mit Sicherheit zu erkennen. Dort unten lag keine Leiche. Der Mann, der über die Balustrade in die Tiefe gestürzt war, hatte sich in Nichts aufgelöst. »Ach, hier bist du, Cheri!« Jean trat auf die Terrasse heraus und kam auf seine Frau zu. »Dr. Roux ist zu Besuch gekommen. Unter‐ hältst du dich mit ihm? Ich bin gleich zurück, möchte nur für Ge‐ tränke sorgen.«
Janine nickte und preßte die Lippen zusammen. Ihre Hände lagen fest auf der steinernen Balustrade, damit Jean das Zittern ihrer Hän‐ de nicht sah. »Guten Abend, Doktor«, sagte sie mühsam beherrscht. »Ist das ei‐ ne Krankenvisite?« Pierre Roux schüttelte den Kopf. Er ließ Janine nicht aus den Au‐ gen. Auf den ersten Blick sah er, daß sie unter einer ungeheuren inneren Anspannung stand. »Ich halte Sie nicht für krank, Madame Marulin«, antwortete er. »Daher komme ich vorbei, um mich nach Ihnen zu erkundigen. Sie haben Probleme, nicht wahr?« Gehetzt blickte sich Janine um. Jean war nirgends zu sehen. Sie hörte ihn im Haus rumoren. »Doktor, ich habe ihn wieder gesehen, diesen blutüberströmten Mann!« Ihr Atem ging flach, sie bekam vor Aufregung kaum noch Luft. »Mein Mann glaubt mir nicht! Er war schon einmal in unserem Schlafzimmer und verschwand, als mein Mann das Licht einschalte‐ te! Und Stimmen haben mich gerufen! Aus der Tiefe! Ich sollte hi‐ nunterspringen! Doktor, als Sie jetzt hupten, da war er wieder auf der Terrasse und wollte ins Haus! Ich habe die Glastür geschlossen, und Ihre Hupe hat ihn vertrieben! Er ist von unten gekommen, über die Balustrade geklettert und auf der Terrasse… und dann ist er wieder in die Tiefe gestürzt, aber da unten liegt er nicht!« Erschöpft brach Janine ab. Ihre Gedanken verwirrten sich, sie konnte nicht mehr zusammenhängend denken. »Sie glauben mir wohl auch nicht?« fragte sie mutlos. Als keine Antwort kam, öffnete sie die Augen und trat überrascht einen Schritt näher an den Arzt heran. Dr. Roux stand vor der Glas‐ tür zum Wohnraum und untersuchte sie sehr genau. »Ich habe Sie gefragt, ob Sie mir glauben«, drängte Janine. Dr. Roux wandte ihr das Gesicht zu. Sehr ernst betrachtete er die junge Frau. »Eigentlich kann Ihnen niemand glauben, Madame Ma‐ rulin«, meinte er leise. »Um sich das alles aber einzubilden, müßten Sie hochgradig geistesgestört sein. Das sind Sie nicht! Und noch et‐
was!« Er deutete auf die Glasscheibe. »Sie wußten nicht, daß ich kommen würde. Sie hatten daher keine Gelegenheit, das hier vorzu‐ bereiten.« Er trat einen Schritt zur Seite und deutete auf den blutigen Ab‐ druck einer Hand auf der Glasscheibe. »Das Blut ist noch ganz frisch«, erklärte Dr. Roux. »Was sagt ei‐ gentlich Ihr Mann dazu?« Janine riß sich von dem Abdruck los. »Ich habe ihm nichts mehr erzählt, weil er mich sonst für krank hält«, murmelte sie. »Ich möch‐ te auch nicht, daß Sie ihm etwas sagen, Doktor.« »Und was ist damit?« Er deutete auf die blutige Hand an der Tür. »Er wird die Spuren sehen und…« Bevor der Arzt etwas tun konnte, griff Janine nach einem mit Was‐ ser gefüllten Glas und kippte den Inhalt gegen die Scheibe. Mit ei‐ nem Papiertaschentuch wischte sie das Glas wieder sauber. »Wissen Sie eigentlich, wer früher in diesem Haus gewohnt hat, Madame?« hörte sie neben sich die Stimme des Arztes. Erstaunt wandte sie sich ihm zu. »Ist das denn wichtig?« fragte sie. »Nein, ich habe keine Ahnung, Doktor.« »Grüßen Sie ihren Mann von mir, Madame Marulin!« Dr. Roux nickte ihr flüchtig zu und verließ überstürzt die Terrasse. Als der Motor seines Wagens aufheulte, kam Jean aus dem Keller. Unter dem Arm trug er zwei Flaschen Wein. »Ich soll dich von Dr. Roux grüßen«, sagte Janine mit einem leicht‐ en Lächeln. »Er mußte dringend zu einem Patienten. Was weißt du eigentlich über die Leute, die früher hier gewohnt haben?« Jean stellte irritiert die Weinflaschen ab. »Nichts, das habe ich dir doch schon gesagt.« Kopfschüttelnd öffnete er eine der Flaschen. »Dann machen wir beide uns eben einen schönen Abend, Cheri.« Janine nickte und setzte sich zu ihrem Mann. Als er einschenkte, lief eine Gänsehaut über ihren Rücken. Der Wein floß rot wie Blut in die Gläser. Ängstlich warf sie einen Blick zu der Balustrade hinüber, aber dort
zeigte sich nichts. Die Schauergestalt ließ sich nicht mehr blicken. * Flitterwochen verliefen normalerweise ganz anders. Janine dachte traurig an ein junges Paar, das sie vor einigen Wochen in Paris beo‐ bachtet hatte. Die beiden waren fröhlich und unbeschwert gewesen, hatten gelacht und einander umarmt. Doch was tat sie mit Jean? Sie wich ihm aus, ging ihm aus dem Weg, wo sie nur konnte. Und wenn das nicht mehr möglich war, bemühte sie sich, nicht in seine Reichweite zu kommen. Der Gedan‐ ke war ihr unerträglich, daß ihr eigener Mann sie im Stich ließ und ihr nicht glaubte. Jean merkte ihre Ablehnung und war klug und rücksichtsvoll ge‐ nug, Janine in Ruhe zu lassen. Als sie an diesem Abend zeitig zu Bett gingen, hauchte er ihr nur einen Kuß auf die Wange und drehte sich sofort zur Seite. Janine lag noch lange wach und achtete auf Jeans Atemzüge. Bald fand sie heraus, daß er zwar so tat, als ob er schliefe, aber auch keine Ruhe fand. Neben dem Bett hatte sie einen kleinen Radiowecker aufgestellt. Die Leuchtziffern wanderten weiter. Gegen elf Uhr nachts hörte sie an Jeans leisem Schnarchen, daß er endlich eingeschlafen war. Sie selbst fühlte sich zwar todmüde, konnte jedoch die Augen nicht schließen. Unruhe hielt sie gepackt, Unruhe und die Vorahnung kommenden Unheils. Wieder sprangen die Leuchtziffern des Weckers weiter, als Janine plötzlich ganz deutlich ein schmerzliches Stöhnen hörte. Es hallte durch das ganze Haus, so daß sie nicht feststellen konnte, woher es kam. Mit einem kurzen Schrei brach es ab. Vor Angst zitternd, lag Janine im Bett und lauschte mit angehalte‐ nem Atem in die Dunkelheit. Was war geschehen? War der blut‐ überströmte Fremde wieder aufgetaucht?
Jean regte sich, rollte sich auf die andere Seite und schlief weiter. Minuten vergingen, ohne daß sich etwas ereignete. Hilfe! Um Himmels willen, nein! Hilfe! Janine verstand jedes Wort. Es war eine Frauenstimme, die um Hilfe rief, schrill und voller Entsetzen. Gleich darauf ertönte ein dumpfes Poltern wie von einem über die Treppe fallenden Körper. Obwohl sie von Grauen geschüttelt wurde, weckte Janine ihren Mann nicht auf. Sie fürchtete, daß die Schreie und Stimmen ver‐ stummen würden, sobald er aufwachte. Dann hatte sie wieder kei‐ nen Beweis dafür, daß sie nicht unter Halluzinationen litt, und Jean mußte glauben, daß sich ihr Zustand verschlechterte. Ein durch Mark und Bein gehender Schrei eines Mannes ließ Jani‐ ne heftig zusammenzucken. Im selben Moment setzte sich Jean auf. Automatisch schaltete er das Licht ein und starrte entsetzt auf seine Frau. »Was war das?« keuchte er, erhielt jedoch keine Antwort. »Janine! Wer hat hier geschrien?« Sie brachte keinen Ton über die Lippen. In das Entsetzen über die unheimlichen Vorgänge im Haus mischte sich die unendliche Er‐ leichterung darüber, daß nun auch Jean erlebte, was er ihr sonst nicht geglaubt hätte. Er legte seine Arme um sie, und Janine drückte sich zitternd und schutzsuchend gegen ihn. Hilfe! Hilfe! So helft uns doch! Mit einem Ruck sprang Jean aus dem Bett, als die Schreie diesmal von der Terrasse kamen. Er stürzte ans Fenster und beugte sich weit hinaus. Reglos verharrte er in dieser Stellung. Hilfe! Sie bringen uns um! Jean rührte sich nicht, als die Männerstimme noch einmal verzwei‐ felt aufbrüllte. Die Geräusche von harten Schlägen drangen von der Terrasse herauf. »Was ist denn?« flüsterte Janine, die ängstlich auf dem Bett kauer‐ te. Jean gab ihr keine Antwort, sondern stieß sich plötzlich vom Fens‐
ter ab und stürzte aus dem Zimmer. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe, dann glitt die Terrassentür zurück. Janine wagte es nicht, ans Fenster zu treten und hinunterzublicken. Minuten später kam Jean zurück. An seinem versteinerten Gesicht merkte sie, daß etwas Ungewöhnliches passiert sein mußte. Mit ei‐ nem tiefen Seufzer ließ er sich auf das Bett fallen. »Entweder bin ich verrückt geworden«, murmelte er dumpf, »oder in diesem Haus spukt es!« * Je länger Dr. Pierre Roux über die Vorfälle in dem einsamen Haus nachdachte, desto unsicherer wurde er. Was hatte das alles zu be‐ deuten? Sein erster Gedanke war gewesen, daß Janine Marulin hochgradig nervös und hysterisch, vielleicht sogar nervenkrank war. Diesen Eindruck machte sie jedoch nicht im geringsten. Danach hatte er vermutet, daß ihm das Ehepaar Marulin aus ir‐ gendeinem Grund etwas vorspielte. Dafür gab es jedoch keine Be‐ weise. Vor allem sah der Arzt keinen Sinn darin. Die wahrscheinlichste Erklärung schien ihm zuletzt die zu sein, daß Monsieur Marulin versuchte, seine, Frau als geisteskrank hin‐ zustellen, damit sie in eine Anstalt eingewiesen wurde. Vielleicht rechnete er auch damit, daß sie Selbstmord beging. Gegen diese Theorie sprach, daß Janine Marulin die einzelnen Er‐ scheinungen auch gesehen hatte, wenn sich ihr Mann in ihrer Nähe befand, zum Beispiel wenn er neben ihr schlief. Das bedeutete, daß er einen Helfer haben mußte, und das wiederum erschien dem Arzt unwahrscheinlich. Das Haus war nicht so groß, daß sich jemand darin vor Janine verstecken konnte, und der Garten bot auch nicht ausreichend Deckung. Der Arzt war von Paris weggegangen, weil er das hektische Großstadtleben nicht mehr mochte. Inzwischen war ihm das Leben
in Camarat zu ruhig geworden, so daß er dankbar für die Abwech‐ slung war. Er beschloß, das einsame Haus auf dem Felsen vor Ca‐ marat nicht mehr aus den Augen zu lassen. Um Mitternacht hielt er es nicht mehr in seinem eigenen Haus aus. Er setzte sich in den alten Wagen und fuhr hinauf zu den Felsen. Er hatte die Abzweigung noch nicht erreicht, als er auf ein intensives bläuliches Leuchten aufmerksam wurde. Es hüllte die Felsen mit dem einsamen, dem »verfluchten« Haus ein. Wie eine Aura lag der Lichtschein über dem Gebäude, ohne daß Dr. Roux erkennen konn‐ te, woher er stammte. Beunruhigt trat er das Gaspedal durch und wollte seinen Wagen in die Zufahrtsstraße steuern, als der Motor zu stottern begann. Gleich darauf blieb er stehen. Verärgert stieg der Arzt aus. Er befand sich noch weit entfernt und mußte ziemlich lange gehen. Am liebsten wäre er umgekehrt, aber er konnte nicht anders, er mußte das Geheimnis dieses Hauses er‐ gründen. Das bläuliche Leuchten erhellte seinen Weg, so daß er auf der stei‐ nigen Straße schnell ausschreiten konnte. Je näher er an das Haus herankam, desto deutlicher fühlte er, daß hier etwas nicht in Ord‐ nung war. Er war noch ungefähr einen halben Kilometer davon entfernt, als er auf der Terrasse die Schreie mehrerer Personen hörte. Für eine Sekunde erstarrte der Arzt, dann rannte er los. * »Verstehst du das?« Jean saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett und fixierte Janine. »Kannst du dir erklären, was hier vor sich geht?« Sie schüttelte den Kopf und tastete nach einem Glas Wasser, das neben dem Radiowecker stand. »Ich weiß nur, daß ich zweimal ei‐ nen blutüberströmten Mann gesehen habe, daß mich einmal Stim‐
men in den Abgrund locken wollten und daß du mir das alles nicht geglaubt hast.« Jean senkte verlegen den Blick, dann beugte er sich zu seiner Frau vor und küßte sie. »Entschuldige«, murmelte er. »Ich… ich konnte mir einfach nicht vorstellen…« »Schon gut«, sagte Janine und winkte ab. »Niemand kann sich das vorstellen, aber es war so.« »Jetzt weiß ich es auch.« Jean schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf. »Auf der Terrasse war vorhin niemand, obwohl wir beide ganz deutlich die Schreie und auch die Schläge gehört haben. Ich begreife nichts mehr.« »Dr. Roux hat mir eine merkwürdige Frage gestellt.« Janine erin‐ nerte sich an den Besuch des Arztes. »Er fragte, ob ich etwas über die Geschichte dieses Hauses und seine früheren Bewohner wüßte.« »Deshalb hast du mich das gleiche gefragt, nicht wahr?« Jean beugte sich gespannt zu ihr. »Und was hat der Doktor erzählt?« »Nichts.« Janine hob enttäuscht die Schultern. »Er hat nicht einmal eine Andeutung gemacht.« »Ich werde ihn gleich morgen früh fragen«, entschied Jean. »So geht es jedenfalls nicht weiter.« »Wir könnten auf der Stelle ausziehen«, schlug sie vor. »Und wo sollen wir schlafen? Wir haben kein Zelt, keine Luftmat‐ ratzen, nichts. Und in Camarat gibt es kein Hotel.« »Dann schlafen wir im Wagen.« Janine war von dem Gedanken, dieses Haus überstürzt zu verlassen, begeistert. »Das wäre eine gute Lösung. Der Wagen hat Liegesitze.« Jean hatte keine Einwände mehr. »Gut, gehen wir!« rief er und sprang aus dem Bett. Harte Schläge an der Haustür ließen ihn zu‐ sammenzucken. »Ob jemand zu uns will?« keuchte Janine. Er winkte ihr heftig zu. Schritte klangen in der Halle auf und nä‐ herten sich der Eingangstür. Wer ist da? rief eine unbekannte Frauenstimme.
Von draußen kam eine unverständliche Antwort. Gleich darauf hörten sie das Geräusch des Schlüssels, die Tür schwang auf. Die Frau schrie spitz auf. »Ein Überfall!« hauchte Janine kreidebleich. »In diesem Haus ist außer uns niemand!« zischte Jean. In seine Augen trat ein entschlossener Ausdruck. »Das ist Spuk! Eine andere Erklärung gibt es nicht!« Er ging zur Schlafzimmertür und wollte den Raum verlassen, als Janine aus dem Bett sprang, sieh einen Morgenmantel überwarf und ihm folgte. Ängstlich hakte sie sich bei ihm ein, als er auf die Treppe zuschlich. Von hier oben konnten sie einen Teil der Halle überblicken. Fas‐ sungslos blickten sie auf vier Gestalten, die sich einen lautlosen Kampf lieferten. Es waren zwei Männer in schwarzer Lederkleidung, eine Frau in mittleren Jahren und ein Mann um die fünfzig. Der Mann und die Frau trugen Pyjamas und Morgenmäntel. Die schwarzgekleideten Männer schlugen auf die Hausbewohner ein. Das Makabre an der Szene war, daß alle diese Gestalten nicht wirklich existierten. Janine und Jean konnten durch sie hindurchse‐ hen, als wären sie aus Glas. Wie Rauchwolken bewegten sie sieh durch die Halle und ließen die Betrachter keine Sekunde vergessen, daß sie nur Spukgestalten waren. Trotzdem wirkte die Szene entsetzlich echt. Die beiden Eindring‐ linge schlugen den Mann und die Frau zusammen und zerrten sie durch die Halle ins Wohnzimmer hinüber. Jean schlich die Treppe hinunter und zog Janine mit sich. Je tiefer sie kamen, desto besser konnten sie das Wohnzimmer überblicken. Die Schwarzgekleideten schleppten ihre Opfer hinaus auf die Ter‐ rasse. Bis hierher war alles in absoluter Stille geschehen, doch plötzlich drangen die gräßlichen Schreie des Ehepaares an Jeans und Janines Ohren. Die Männer in Schwarz schlugen auf ihre wehrlosen Opfer
ein, bis sie sich nicht mehr bewegten. Vor Grauen gelähmt erkannte Janine, daß dort draußen auf der Terrasse der blutüberströmte Mann lag, der sie zweimal in Angst und Schrecken versetzt hatte. Er war es gewesen, der ihr erschienen war. Die Mörder bückten sich, zogen ihre! Opfer über die Terrasse und hievten sie über die Brüstung. Mit einem kurzen Ruck verschwan‐ den die Leichen in der Tiefe. In diesem Augenblick sah Janine anstelle der Frau sich selbst. Sie stieß einen markerschütternden Schrei aus, als sie den Boden unter den Füßen verlor, und brach auf der Treppe zusammen. Jean konnte sie eben noch auffangen, dann wurde sie ohnmächtig. In derselben Sekunde verschwand der Spuk. * Als Jean Marulin das laute Klopfen an der Vordertür hörte, glaub‐ te er, daß sich der Spuk wiederholte. Er verhielt sich ganz still und drückte Janine an, sich. Noch immer stand er auf der Treppe und wartete, daß seine Frau wieder zu sich kam. Dann wollte er sie so schnell wie möglich zum Wagen schaffen und mit ihr wegfahren. Doch nun war das Klopfen dazwischengekommen. Jeden Moment erwartete er, daß die schemenhaft sichtbare Frau öffnete und die in Leder gekleideten Mörder hereinstürzten. Statt dessen klopfte es noch einmal, als Jean Marulin sich nicht meldete. Er warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr. Es war bereits ein Uhr nachts. Die Zeit war unnatürlich schnell vergangen. Der Spuk schien sich nicht zu wiederholen. Schon wollte Jean er‐ leichtert aufatmen, als er eine Bewegung auf der Terrasse wahr‐ nahm. Ein Mann näherte sich der offenstehenden Glastür. »Hallo, Monsieur Marulin? Madame?« Jean erkannte den Arzt. »Hier, Doktor!« rief er zurück. »Kommen Sie herauf und helfen Sie mir!«
Pierre Roux durchquerte hastig das Wohnzimmer und kam die Treppe herauf. Gemeinsam mit Jean trug er die Ohnmächtige hinauf ins Schlafzimmer und legte sie vorsichtig auf das Bett. Ohne Fragen zu stellen, untersuchte er Janine und schüttelte endlich den Kopf. »Nicht weiter schlimm, aber sie muß sich schonen, sonst haben diese Aufregungen Folgen für sie.« Dr. Roux musterte Jean Marulin aus zusammengekniffenen Augen. »Was ist denn diesmal passiert?« Erst zögerte Jean, doch dann berichtete er in allen Einzelheiten, was sich in seinem, Haus abgespielt hatte. Als er geendet hatte, blickte der Arzt nachdenklich zu Janine und sah, daß sie die Augen geöffnet hatte. »Madame, bleiben Sie ganz ruhig…«, setzte er an. »Es geht schon«, schnitt ihm Janine das Wort ab. »Ich habe alles gehört, was mein Mann gesagt hat. Es stimmt, so hat es sich abge‐ spielt. In diesem Haus spukt es.« Dr. Roux sah auf Jean Marulin, der jedoch nur hilflos die Schultern hob. »Sie haben vorhin eine wahre Begebenheit gesehen«, eröffnete er den beiden. »Vor sieben Jahren hat sich der Mord genauso in die‐ sem Haus abgespielt. Damals wurden Monsieur und Madame Ma‐ belais von zwei jungen Männern ermordet und in die Tiefe gestürzt. Seither stand das Haus leer, weil jeder Käufer durch die blutige Vergangenheit abgeschreckt wurde.« »Wenn ich das gewußt hätte…!« stöhnte Jean. »Schrecklich! Du mußt sofort weg von hier, Cheri!« wandte er sich an seine Frau. »Ich bleibe«, erklärte Janine überraschend energisch. »Ich weiß jetzt, worum es geht, und ich will nicht mehr weg. Ich möchte, daß dieses Haus von dem Fluch befreit wird, der auf ihm lastet.« »Ich helfe Ihnen gerne dabei, Madame«, bot der Arzt an. »Das ist einmal eine neue Aufgabe für mich.« »Gleich morgen früh beginnen wir damit«, schlug Janine vor, die neuen Mut geschöpft hatte. »Sie bleiben am besten über Nacht bei uns«, meinte Jean. »Wo ha‐ ben Sie Ihren Wagen?«
Der Arzt erklärte sein Mißgeschick. »Vielleicht versuchen Sie es jetzt noch einmal«, sagte Janine. »Der Spuk ist vorüber. Unter Umständen funktioniert jetzt auch ihr Auto wieder.« Dr. Pierre Roux befolgte ihren Rat. Jean fuhr ihn zu seinem alten Wagen, der beim ersten Versuch ansprang. In der Zwischenzeit rich‐ tete Janine für den Arzt eines der Gästezimmer her. Um zwei Uhr nachts erloschen die Lichter in dem einsamen Haus auf dem Felsen. Scheinbar war Friede eingekehrt, doch der Schein trog. * Im Abstand von vier Monaten wurden in Paris zwei Frauen tot aufge‐ funden. Madame Maronier starb im September 1971, Madame Chantil im Januar 1972. Die beiden Frauen hatten keine Beziehungen zueinander gehabt. Trotzdem gab es zwischen ihnen eine auffallende Übereinstimmung. Sie hatten beide wenige Wochen vor ihrem Tod ein neu erworbenes Haus bezo‐ gen. Den Untersuchungsbeamten der Kriminalpolizei fiel es nicht weiter auf, da zwei verschiedene Gruppen für die eindeutigen Selbstmordfälle zustän‐ dig waren. Maronier und Chantil waren zwei Namen unter vielen Selbstmördern, Nummern in einer anonymen Statistik, mehr nicht. Niemand erkannte ihre Motive, aus denen heraus sie aus dem Leben geschieden waren. Eine große Chance, andere Unglückliche vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren, wurde verspielt. * Janine Marulin ließ es sich nicht nehmen, für ihren Mann und Dr. Roux Frühstück zu machen. Sie stand eine Stunde früher als die bei‐
den Männer auf und schlich in die Küche. Ein Tag war so schön wie der andere. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, die Cote d’Azur erlebte einen der heißesten Sommer. Janine verscheuchte die düsteren Gedanken und die schrecklichen Erinnerungen an die Nachtstunden. Sie konnte sich kaum noch vor‐ stellen, was sie um Mitternacht alles erlebt hatte. Der Spuk kam ihr jetzt wie ein böser Traum vor, mehr aber nicht. Und doch hatte sich alles so zugetragen. Als Jean und Dr. Roux zum Frühstück auf die Terrasse kamen, be‐ obachtete Janine sie verstohlen. Die beiden vermieden es, über die Ereignisse der letzten Nacht zu sprechen. Wahrscheinlich erging es ihnen ähnlich wie ihr, nämlich daß sie nicht mehr daran glauben konnten, was geschehen war. Dr. Roux war außerdem gar kein Au‐ genzeuge und mußte sich auf Janines und Jeans Schilderungen ver‐ lassen. Vielleicht kamen ihm jetzt schon die ersten Zweifel an der Ehrlichkeit des Ehepaares Marulin. Während des gemeinsamen Frühstücks drehten sich die Gesprä‐ che um Belanglosigkeiten. Dr. Roux erzählte einiges über die Leute aus Camarat, und Jean schilderte seine früheren Reiseabenteuer. Janine hörte desinteressiert zu und war dankbar, als das Telefon klingelte. Sie sprang auf und lief in die Halle hinein, ehe Jean auf‐ stehen konnte. »Hallo, Janine, wie schön, daß du daheim bist!« hörte sie eine ihr bekannte Frauenstimme, die sie im Moment nicht richtig einordnen konnte. »Ich hatte schon Angst, du wärst bei dem herrlichen Wetter gar nicht da.« »Wer spricht?« fragte sie verwirrt. »Wer?« Die Anruferin lachte schallend. »Kannst du dich an deine alte Freundin Chantal nicht mehr erinnern?« »Chantal!« Die »alte« Freundin war knapp dreißig Jahre alt und reich verheiratet. Da ihr Mann sich die meiste Zeit seines Lebens mit Geschäften abgab, mußte sie sich allein vergnügen. Und Chantal fand immer wieder eine neue Methode, um sich das Leben zu ver‐
süßen. »Chantal, an dich hatte ich nicht gedacht«, gestand Janine ein. »Fein, das macht nichts«, erklärte ihre Freundin, ohne im gering‐ sten beleidigt zu sein. »Ich liege mit meiner Jacht vor Toulon. Heute mittag kreuze ich unterhalb deines neuen Palastes auf und nehme dich und deinen Jean an Bord. Ich kenne Jean noch gar nicht, du mußt ihn mir unbedingt vorführen!« »Einen Moment, das wird nicht gehen!« wehrte Janine ab. »Wir haben Probleme!« »Probleme? Welche Probleme?« Neugierde schwang in Chantals Stimme mit. »Stimmt es zwischen euch beiden nicht?« »Es sind Probleme mit dem Haus.« Janine zuckte zusammen, als sich eine Hand auf ihren Arm legte. Jean stand neben ihr. »Moment, Chantal, ich frage eben meinen Mann!« Sie deckte die Sprechmuschel ab und erklärte Jean, worum es sich handelte. Er war von der Idee sofort begeistert. »Natürlich gehst du an Bord«, sagte er mit Nachdruck. »Du kannst die Erholung brauchen. Inzwischen werden Dr. Roux und ich uns um das Haus kümmern. Sag deiner Freundin, daß ich dich an den Strand bringen werde.« Janine ließ sich nur zu gern überreden. Zwar hatte sie letzte Nacht erklärt, daß sie im Haus bleiben wollte, bis alles ausgestanden war, aber die Aussicht, dieses unheimliche Gebäude mit einer Jacht zu vertauschen, lockte sie. Sie sagte Chantal zu und vereinbarte mit ihr die genaue Stelle, an der das Beiboot auf sie warten sollte. Dann fiel sie Jean um den Hals. »Ich habe ein schlechtes Gewissen, daß ich dich allein lasse«, rief sie. »Sie brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben, Madame«, meinte Dr. Roux, der im Türrahmen auftauchte. »Ich bin bei Ihrem Mann, und ich werde schon auf ihn aufpassen. Und jetzt muß ich los, meine Patienten besuchen. Ich bin wieder hier, Monsieur Maru‐ lin, wenn Ihre Frau weg ist.«
Janine verabschiedete sich von dem Arzt. Er hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als sie von einer unheimlichen Beklemmung befallen wurde. Sie konnte es sich nicht erklären, aber wenn Roux nicht in ihrer Nähe war, fühlte sie sich unsicher. »Ich bringe noch alles in Ordnung, bis ich fahre«, murmelte sie und lief auf die Terrasse hinaus. Jean folgte ihr langsamer und beobachtete sie besorgt. Er ließ sie nur ungern gehen, aber das brauchte sie nicht zu wissen, sonst wäre sie geblieben. * Jean holte den Wagen rechtzeitig aus der Garage. Janine war fer‐ tig. Sie nahm nur eine kleine Reisetasche mit, die sie auf den Rück‐ sitzen verstaute. Der Motor röhrte kurz auf, und dann setzte sich der Wagen in einer Staubwolke in Bewegung. Vor der ersten Kurve drehte sich Janine noch einmal um. Es war ein wunderschönes Haus mit den Palmen und Pinien, der altmodi‐ schen Bauweise und der riesigen Terrasse. Sie wäre gerne für immer hiergeblieben, aber eine rätselhafte Macht wollte das verhindern. »Ich bringe das alles in Ordnung«, sagte Jean in diesem Moment, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Ich werde den Spuk beseitigen, damit wir hier in Frieden leben können.« Dankbar drückte Janine seine Hand. Sie hielt sich krampfhaft fest, während der Wagen durch die Haarnadelkurven fuhr und sich rasch der Küstenstraße näherte. In einiger Entfernung lag vor dem Strand eine elegante weiße Jacht vor Anker. Ein kleines Motorboot legte ab und hielt mit schäumender Bugwelle auf das Land zu. »Schade, daß du Chantal nicht kennenlernst«, meinte Janine, als Jean den Wagen anhielt und ihr ins Freie half. »Sie ist einfach um‐ werfend.« »Vielleicht, wenn ihr wieder zurückkommt«, antwortete Jean la‐
chend und führte seine Frau über den Strand zu dem Boot, das in‐ zwischen die Küste erreicht hatte. Zwei Matrosen nahmen die Reise‐ tasche entgegen und halfen Janine an Bord. Sie winkte Jean zu, der sich rasch ab wandte und zu seinem Wa‐ gen zurücklief. Gleich darauf fuhr er die steile Bergstraße zurück. Er wollte das Haus nach Möglichkeit nicht lange ohne Aufsicht lassen. Beklommen hob Janine den Blick und musterte aus schmalen Au‐ gen das alte Haus auf den Felsen. Erschrocken zuckte sie zurück, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den Boden des Motorboo‐ tes. Sofort sprangen die beiden Matrosen hinzu und halfen ihr wie‐ der hoch. Schreckensbleich starrte Janine auf den Felsen. Eben hatte sie zwei menschliche Körper herunterstürzen gesehen. Immer wieder waren sie gegen die Vorsprünge geprallt und hat‐ ten sich dabei überschlagen. »Können wir fahren, Madame?« fragte einer der Matrosen. Sie nickte, ohne den Blick von ihrem Haus abzuwenden. Das war keine optische Täuschung gewesen, und sie hatte es sich ebenso wenig eingebildet wie alles andere. Mit einem Ruck setzte sich das Motorboot in Bewegung. Sie ließ sich auf den Sitz gleiten und hielt sich fest. Das Boot schaukelte und sprang auf den Wellen, daß sie das Haus nicht mehr klar erkennen konnte. Wasserschleier schoben sich dazwischen. Endlich riß sie sich seufzend von dem Anblick los und wandte sich nach vorne zur Jacht. Chantal sorgte in der nächsten halben Stunde dafür, daß Janine nicht mehr zum Nachdenken kam. Mit ihrem überschäumenden Temperament lenkte sie die Freundin ab, wollte alles auf einmal erfahren und alles von sich erzählen. Erst als sie den Befehl zum Auslaufen gab, drängte sich das Mordhaus mit aller Macht in Jani‐ nes Gedächtnis. Die Motoren der Jacht liefen vibrierend an. Es war für Janine wie ein Abschied für immer. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und am liebsten wäre sie auf der Stelle umgekehrt, aber dazu war es jetzt zu
spät. * Dr. Roux wollte für einen ganz bestimmten Anruf nicht sein priva‐ tes Telefon benützen. Es bestand immer die Möglichkeit, daß je‐ mand im Dorf mithörte. Er selbst war schon ein paarmal unfreiwil‐ lig in anderer Leute Gespräche geraten. Das Telefonnetz von Cama‐ rat war einfach zu alt. Er zog es daher vor, nach Toulon zu fahren und dort von der Hauptpost aus mit Paris zu sprechen. Auf dem Zettel, den er bei sich trug, hatte er die Nummer eines Freundes bei der Pariser Surete notiert. Sein Freund war kein sehr hohes Tier bei der Kriminalpolizei, aber er kannte die wichtigsten Leute und konnte etwas unternehmen, wenn das überhaupt möglich war. Dr. Pierre Roux schilderte ihm alles mit sämtlichen Einzelheiten. Fassungslos hörte sich sein Freund die Beschreibung der blutüber‐ strömten Gestalt und der geisterhaften Ermordung des Ehepaares Mabelais an. Er machte sich Notizen und unterbrach den Arzt kein einziges Mal. Erst als Roux fertig war, stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Kannst du mir verraten, mein Lieber, was ich mit diesem Unsinn anfangen soll?« rief er. »Ich bin Kriminalbeamter, aber kein Spiritist! Spuk! Das glaubst du selbst nicht!« »Ich möchte doch nur, daß du dich umhörst«, drängte Dr. Roux. »Vielleicht kannst du etwas mit dieser Geschichte anfangen. Ich weiß es ja nicht, aber es ist einen Versuch wert.« »Und du kannst mir nicht den geringsten Tip geben, was du dir ungefähr vorstellst?« fragte sein Freund in Paris entgeistert. »Hast du einen Verdacht?« »Wenn ich etwas wüßte, hätte ich dich wahrscheinlich gar nicht gebraucht«, antwortete der junge Arzt ungeduldig »Ruf mich an,
wenn du etwas herausgefunden hast. Ich rufe dich dann zurück, damit nicht gleich ganz Camarat weiß, was wir miteinander zu besprechen haben.« Er verabschiedete sich von seinem Freund und machte sich auf den Rückweg. Janine Marulin mußte sich um diese Zeit bereits auf der Jacht befinden. Dort war sie bis auf weiteres in Sicherheit. Aber Jean Marulin war allein im Haus. Er schwebte in Gefahr. Dr. Pierre Roux trat das Gaspedal seiner alten Klapperkiste so weit durch, wie er eben noch verantworten konnte, ohne Selbstmord zu begehen. In Rekordzeit erreichte er das »verfluchte« Haus auf den Felsen. Er betrachtete es mit gemischten Gefühlen, während der Wagen über die Zufahrtsstraße holperte. Welche Überraschungen warteten, hier auf ihn? War es nur harm‐ loser Spuk, oder schwebte jeder in Gefahr, der das Haus betrat? Das alles waren Fragen, auf die es noch keine Antworten gab. Er mußte sie gemeinsam mit Jean Marulin in mühevoller Kleinarbeit suchen. Dr. Roux umrundete das Haus und betrat die Terrasse. Erschro‐ cken prallte er zurück. Direkt vor ihm lagen die Leichen von Jean und Janine Marulin, schrecklich zugerichtet und blutüberströmt. * »Du machst ein so trauriges Gesicht, Janine!« Chantal legte ihr den Arm um die Schultern und drehte sie zu sich herum. »Du hättest selbstverständlich Jean mitbringen sollen. Es ist nicht gut, wenn sich ein Paar so kurz nach der Hochzeit trennt!« »Es geht nicht um Jean«, antwortete Janine schroff und befreite sich von Chantal. Ihr Blick streifte wieder über die Wasseroberfläche und suchte den Felsen mit ihrem Haus. »Es geht um das Haus! Es ist verflucht.« »Wie bitte?« Chantal riß die Augen auf und blickte ihre Freundin
über den Rand ihrer schmetterlingsförmig geschwungenen Sonnen‐ brille an. »Was meinst du damit?« »In unserem Haus wurde ein Ehepaar ermordet«, erzählte Janine, die froh war, mit jemandem über ihre Probleme zu sprechen. »Sei‐ ther spukt es dort. Du kannst es dir nicht vorstellen! Deshalb hat Jean mich jetzt weggeschickt, während er versucht, den Bann zu brechen.« Chantals Lippen wurden zu schmalen Strichen. Sie rückte die Sonnenbrille wieder an ihren Platz und winkte dem Steward. »Brin‐ gen Sie uns zwei Drinks, irgendwas«, ordnete sie nervös an. »Hauptsache, es ist Alkohol dabei!« Dann faßte sie Janine am Arm und führte sie zu den Liegestühlen, die an Deck unter einem mächtigen Sonnenschirm aufgestellt war‐ en. Nur widerstrebend wandte sich Janine von der Küste ab, obwohl sie den Felsen kaum noch erkennen konnte. »So, meine Liebe«, sagte Chantal, die sich inzwischen einigerma‐ ßen gefangen hatte. »Jetzt erzählst du mir ganz genau, was sich in eurem Haus abgespielt hat. Alles, hörst du?« Janine nickte arglos. Sie bemerkte überhaupt nicht den angespann‐ ten Gesichtsausdruck ihrer Freundin, als sie zu schildern begann, was sie in dem alten Haus auf dem Felsen alles gesehen und erlebt hatte. Sie ließ nichts aus, und der Drink löste ihre Zunge noch zu‐ sätzlich. »Das ist ja einfach unglaublich!« rief Chantal zuletzt mit gespielter Verwunderung. »Hoffentlich haben Jean und dieser Arzt Glück!« »Ja, das hoffe ich auch«, meinte Janine gedankenverloren. »Jetzt tut es mir schon leid, daß ich sie allein gelassen habe, aber Jean hat darauf bestanden. Er meinte, ich sollte mich auf deinem Schiff erho‐ len.« »Das war wirklich die beste Idee«, pflichtete ihr Chantal bei. »Wir bringen das schon in Ordnung.« Janine war so mit ihren Problemen beschäftigt, daß sie sich gar nicht fragte, was Chantal mit dem Spukhaus zu tun hatte.
In Wirklichkeit meinte Chantal auch gar nicht den Spuk, an den sie keine Sekunde lang glaubte, sondern Janine selbst. Sie entschul‐ digte sich bei ihrer Freundin und ging zum Kapitän ihrer Jacht. »Geben Sie Anweisung an alle Mann, daß sie Madame Marulin be‐ sonders rücksichtsvoll behandeln«, sagte sie so leise, daß Janine es nicht hören konnte. »Madame steht unter einem schweren Schock!« Arme Janine, dachte sie, sie muß schnellstens zu einem guten Ner‐ venarzt. Ihrem Kapitän trug sie auf, über Funk den besten Spezialis‐ ten der Cote d’Azur ausfindig zu machen und einen Termin bei ihm zu vereinbaren. »Sagen Sie, daß es auf Leben und Tod geht, das wird helfen«, meinte sie abschließend und kehrte mit einem strahlenden Lächeln zu Janine zurück. * Der Anblick der beiden Toten jagte eisige Schauer über den Rück‐ en des jungen Arztes. Er hatte schon viele Leichen gesehen, das brachte sein Beruf mit sich. Er hatte auch schon die Opfer von Ver‐ kehrsunfällen, Bränden und Verbrechen gesehen. Aber das hier war schlimmer als alles andere. Dazu kam, daß er die Marulins gekannt hatte. Ihr Tod berührte ihn mehr als alles andere. »Doktor, sind Sie das?« hörte er eine Männerstimme aus dem Haus rufen. Sein Kopf ruckte herum, seine Augen weiteten sich ungläubig. Er kannte die Stimme. Schweiß brach auf seiner Stirn aus. Ihm wurde schwindelig, und er mußte sich an der Balustrade festhalten. »Doktor, ich habe Ihren Wagen gehört!« rief die Stimme. »Wo ste‐ cken Sie denn?« Als sich der Blick des Arztes wieder klärte, lag die Terrasse leer vor ihm. Nur unmittelbar vor der Schiebetür stand noch immer die Sitzgruppe.
Nirgendwo die Spur einer Leiche! Diesmal war er das Opfer des Spuks geworden. Mit zusammengebissenen Zähnen richtete er sich auf und ging auf das Wohnzimmer zu. »Ach, hier sind Sie!« empfing ihn Jean Marulin. »Ich habe mir be‐ reits den Kopf zerbrochen, was aus Ihnen geworden ist. Janine ist schon auf der Jacht.« »Das freut mich«, antwortete Dr. Roux tonlos. Der Schreck steckte ihm noch in den Knochen. »Haben Sie eine Ahnung, was wir tun können, um dem Geheimnis dieses Hauses auf die Spur zu kom‐ men?« Jean Marulin stellte eine Flasche eisgekühltes Mineralwasser und zwei Gläser auf den Tisch und schenkte ein. »Ich habe mir vorges‐ tellt, daß Wir nach persönlichen Gegenständen des ermordeten Ehepaares suchen«, erklärte er dabei. »Sehen Sie, ich verstehe nichts von Spuk und Geistern. Bis vor wenigen Stunden habe ich nicht einmal daran geglaubt.« »Ich auch nicht«, seufzte der Arzt. »Eben! Und deshalb können wir nur experimentieren. Durchsu‐ chen wir jeden Schrank und jede Truhe, den Dachboden und den Keller. Dann werden wir weitersehen.« Pierre Roux hielt nicht viel von dieser Idee, aber da er keinen Ge‐ genvorschlag zu machen hatte, stimmte er zu. Sie begannen mit der Arbeit, teilten sich das Haus untereinander auf und drehten den kleinsten Gegenstand um. Gegen sechs Uhr abends rief Jean Marulin nach Dr. Roux. »Ich ha‐ be genug!« stöhnte er. »Wir finden doch nichts.« »Es hat keinen Sinn«, stimmte ihm der Arzt zu. »Geben wir die Suche lieber auf! Aber irgendwie müssen wir weiterkommen!« »Ich mache uns erst einmal etwas zu essen«, entschied Jean. »Da‐ nach sehen wir weiter.« Dr. Roux folgte seinem Gastgeber in die Küche, blieb am Fenster stehen und starrte hinaus auf das Meer, das sich bereits dunkler färbte. Am Himmel zogen Wolken auf.
»Ich fürchte, Ihre Frau wird keine ruhige Fahrt haben«, murmelte er. »Sturm kommt auf!« Besorgt musterte Jean den Horizont. »Nicht so schlimm«, beruhig‐ te er sich selbst. »Dann läßt Chantal die Jacht in einen Hafen einlau‐ fen. Soviel ich weiß, hat die Jacht einen erfahrenen Kapitän.« »Woher wissen Sie das?« hakte Dr. Roux nach. »Ich dachte, Sie kennen die Freundin Ihrer Frau gar nicht.« »Nicht persönlich«, korrigierte ihn Jean Marulin. »Aber aus zahl‐ reichen Zeitungsberichten. Sie ist sehr bekannt, besser gesagt, ihr Mann ist es. Daher weiß ich Bescheid. So, das Essen ist gleich fertig!« Am Horizont zuckten Blitze nieder. Es wurde jetzt rascher dunkel als an anderen Sommerabenden. »Wir haben keine Fortschritte gemacht, was den Spuk angeht«, sagte Dr. Roux enttäuscht, als sie sich an den Küchentisch setzten. »Wenn uns nichts einfällt, kommt Ihre Frau zurück, und es hat sich nichts geändert.« »Wenn wir keinen Anhaltspunkt finden, warten wir einfach bis Mitternacht«, meinte Jean Marulin mit einem geringschätzigen Ach‐ selzucken. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf, Doktor! Entweder bleibt in Zukunft alles ruhig in diesem Haus, oder der Spuk wird sich wieder zeigen, und dann wird uns schon rechtzeitig etwas ein‐ fallen.« »Hoffentlich«, murmelte Dr. Roux skeptisch. Er dachte daran, daß er bei seinem Eintreffen auf der Terrasse einer Täuschung unterle‐ gen war. Eine übersinnliche Macht hatte ihm vorgegaukelt, die Lei‐ chen von Jean und Janine zu sehen. Wenn das kein böses Omen war! »Seien Sie nicht so pessimistisch, Pierre!« rief Jean aus. »Ich darf Sie doch Pierre nennen?« Dr. Roux nickte und wollte etwas erwidern, als in der Halle ein ohrenbetäubendes Krachen und Klirren ertönte. Die beiden Männer schnellten von ihren Stühlen und liefen in die Halle. Ein neben dem Eingang, hängendes Bild Janines war herunterge‐ fallen. Rahmen und Glas waren zerbrochen. Eine Glasscherbe hatte
das Bild genau an der Kehle durchstochen. Zwei weitere Glassplitter waren durch die Augen gedrungen. Jean, der sich bisher so ruhig und überlegen gezeigt hatte, verlor die Nerven. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf das Bild und versuchte, die Glassplitter aus dem Papier zu ziehen. Dabei zer‐ schnitt er sich die Finger. Blut tropfte auf das Bild der hübschen jungen Frau. Sogar Pierre, der gute Nerven hatte, schauderte. Noch immer steckten die Glas‐ splitter tief im Gesicht Janines. Die Blutstropfen waren seltsamer‐ weise genau auf die Einstichlöcher gefallen, daß es so aussah, als blute das Bild. »Immer mit der Ruhe, Jean, ganz ruhig!« redete Dr. Roux auf den aufgeregten Ehemann ein. »Das ist nicht das erste Bild, das von ei‐ ner Wand herunter fällt.« »Aber es hing an einem starken Nagel!« schrie Jean. »Dort, sehen Sie, Pierre! Der Nagel steckt noch immer in der Wand! Und hier, der Aufhänger ist auch noch am Rahmen! Das Bild ist nicht ohne beson‐ deren Grund heruntergefallen!« »Nichts passiert ohne besonderen Grund«, schwächte der Arzt ab. »Gehen Sie in die Küche. Ich räume hier auf.« Während Jean sich fügte und die Halle verließ, dachte Dr. Roux mit Grauen an seine Vision auf der Terrasse. Das mußte etwas zu bedeuten haben! Und jetzt dieser Zwischenfall mit dem Bild! Dr. Pierre Roux war froh, daß Janine Marulin weit weg von die‐ sem verfluchten Haus war, so daß sie sich nicht in Gefahr befand. * Die Jacht lag vor Cannes vor Anker. Chantal Leceur, die leicht ex‐ zentrische Millionärsgattin, hatte sich in den Kopf gesetzt, ihre Freundin Janine Marulin vor dem Schlimmsten zu bewahren. Das Schlimmste war in ihren Augen eine drohende Nervenkrise bezie‐ hungsweise die Gefahr von Zwangsvorstellungen. Bevor es schlim‐
mer wurde, wollte Chantal ihre Freundin zu einem Spezialisten bringen. Ihr Kapitän hatte einen Arzt in Cannes ausfindig gemacht. Der früheste Termin bei diesem Mann war der nächste Vormittag. Mit Einbruch der Dunkelheit kehrte Ruhe auf der Jacht ein, Janine war müde und zog sich in ihre Kabine zurück. Chantal blieb noch einige Zeit auf Deck, bis sie von dem drohenden Unwetter aufge‐ schreckt wurde. Sie suchte ihren Kapitän auf und erkundigte sich nach den Wet‐ termeldungen. »Keine Sorge, Madame, die Jacht wird den Sturm völlig unbe‐ schadet überstehen«, meinte der Kapitän. »Aber ich würde an Ihrer Stelle an Land gehen. Es könnte rauh werden. Und Madame Maru‐ lin würde ich mitnehmen.« »Genau das werde ich nicht tun«, entschied Chantal Leceur mit ei‐ nem undurchsichtigen Lächeln. »Gute Nacht, Kapitän!« Sie zog sich in ihre Kabine zurück. Nein, sie dachte gar nicht dar‐ an, mit ihrer Freundin an Land zu gehen, und wenn die See noch so rauh wurde. Solange sie sich auf der Jacht aufhielten, konnte ihr Janine nicht davonlaufen. Chantal wollte sie an Bord festhalten, bis sie zum Nervenarzt fuhren. Wegen des drohenden Unwetters ließ der Kapitän mehr Leute als die gewöhnliche Wache antreten. Die Matrosen hatten vorläufig noch nicht viel zu tun. Sie mußten sich nur bereit halten, um sofort eingreifen zu können. Sie saßen auf Deck herum und unterhielten sich leise, um die Schiffseignerin nicht zu stören. Einige von ihnen spielten Karten, zwei Matrosen hörten Radio. Gegen elf Uhr nachts wurden alle an Bord von einem seltsamen Phänomen erfaßt. Die Bewegungen wurden träger. Es sah fast so aus wie ein Film, den man zu langsam laufen ließ und der endlich ganz stehenblieb. Alle wurden erfaßt, vom Matrosen bis zum Kapi‐ tän. Zuletzt rührte sich nichts und niemand mehr auf dem Schiff. Auf dem Deck der Jacht entstand plötzlich ein bläuliches Leuch‐
ten. Eine kugelförmige Erscheinung breitete sich aus, zog sich wie‐ der zusammen und nahm Gestalt an. Als das Leuchten so unerwartet erlosch, wie es aufgetaucht war, standen zwei Männer an Deck, jung, von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet. Sie blickten nicht links und nicht rechts, sondern schritten ohne Umweg auf Janine Marulins Kabine zu. Janine lag in einem leichten Schlummer. Die Fahrt mit der Jacht hatte sie entspannt, aber andererseits machte sie sich Sorgen um ihren Mann und um Dr. Roux. Die beiden waren jetzt allein in dem Spukhaus, und was dort oben auf dem einsamen Felsen alles ge‐ schehen konnte, das hatte sie am eigenen Leib erfahren. Von der Sturmwarnung hatte Janine keine Ahnung. Sie glaubte noch immer an eine ruhige Erholungsfahrt, die ihren angeschlage‐ nen Nerven guttun würde. Als sich die Kabinentür öffnete, war sie augenblicklich hellwach. Sie wußte genau, daß sie von innen abgeschlossen hatte! Im nächsten Moment standen zwei Männer vor ihrem Bett. In der Kabine brannte eine blaue Lampe der Nachtbeleuchtung, deren Schein ausreichte, daß sie die Männer erkannte. Sie hatte sie in der letzten Nacht im Mordhaus gesehen! Es waren die Spukgestalten der beiden Mörder, ganz in Leder gekleidet und halb durchsichtig, als wären sie nicht körperlich vorhanden. Daß es sich nicht bloß um Trugbilder handelte, bekam Janine in der nächsten Sekunde am eigenen Leib zu spüren. Hart packten die Hände der Männer zu und zerrten sie aus dem Bett. Sie wollte um Hilfe schreien, doch eine unsichtbare Hand schnürte ihr die Kehle zu. Vor Angst halb wahnsinnig hing sie in den Griffen der Mörder. In rasender Geschwindigkeit zerrten sie ihr Opfer aus der Kabine, durch den kurzen Korridor und die Treppe hinauf. Ja‐ nines Füße schleiften über das Deck, dann verlor sie den festen Bo‐ den unter sich. Sie glaubte, ins Meer zu fallen, aber die Schauergestalten ließen sie
nicht los. Sie sprangen in das Motorboot, das neben der Jacht auf den Wellen schaukelte. Der Außenbordmotor röhrte auf, das Boot legte von der Jacht ab. In diesem Moment wurde es auf der Jacht lebendig. Befehle schall‐ ten über das Wasser, ein Scheinwerfer am Bug flammte auf. Es dauerte einige Zeit, bis der Lichtstrahl in die richtige Richtung zeig‐ te und das Motorboot erfaßte. Es war allerdings schon so weit ent‐ fernt, daß man an Bord der Jacht nicht mehr unterscheiden konnte, wer im Boot saß. Janine winkte zur Jacht zurück, hatte jedoch keine Hoffnung, daß ihr jemand helfen konnte. Sie hatten kein zweites Boot, und das große Schiff selbst war zu schwerfällig für eine Ver‐ folgung. Als Janine sich erneut nach vorne umwandte, erlebte sie die näch‐ ste böse Überraschung. Die beiden Männer waren verschwunden, doch als sie nach dem Steuerrad griff und wenden wollte, ließ es sich nicht bewegen. Das Boot wurde von unsichtbarer Hand gelenkt. Es steuerte einen Janine unbekannten Kurs, an dessen Endpunkt tödliches Grauen auf sie lauerte. * Seit dem Zwischenfall mit Janines Bild war Jean Marulin nur mehr ein Nervenbündel. Dr. Roux hatte mehrmals versucht, ihn zu beru‐ higen, aber es war ihm nicht gelungen. »Setzen Sie sich endlich, ich bringe Ihnen einen Cognac!« rief der Arzt gereizt. »Sie machen mich noch ganz nervös!« Marulin reagierte nicht darauf. Die Arme auf dem Rücken ver‐ schränkt, lief er weiterhin durch Wohnzimmer und Halle, den Kopf gesenkt, die Lippen fest aufeinander gepreßt. »Was erwarten Sie eigentlich«, redete Pierre Roux weiter auf den Hausherrn ein. »Glauben Sie, daß Sie innerhalb der nächsten Stun‐ den die endgültige Lösung für alles finden? Glauben Sie überhaupt,
daß es Ihnen gelingen wird, den Spuk dieses Hauses zu beenden?« Jean Marulin blieb vor dem Arzt stehen und musterte ihn mit ge‐ runzelter Stirn. »Ich habe dieses Haus für meine Frau und mich ge‐ kauft, weil es mir gefallen hat, Doktor«, sagte er leise. Seine Stimme klang heiser und mühsam beherrscht. »Ich möchte, daß wir hier leben können, verstehen Sie? Und deshalb werde ich nicht aufgeben, auch nicht, wenn Sie mir noch so zureden!« »Aber ich rede Ihnen doch gar nicht zu!« rief der Arzt verärgert. Marulin hatte bereits wieder den Rundgang durch die Räume im Erdgeschoß aufgenommen. »Ich will nur, daß Sie sich keine unnöti‐ gen Sorgen oder Mühen machen. Ich zum Beispiel glaube gar nicht daran, daß irgend jemand etwas gegen den Spuk in diesem Haus unternehmen kann. Bis vor wenigen Tagen habe ich noch gar nicht an die Schauergeschichten geglaubt, die man sich über das soge‐ nannte ›verfluchte Haus‹ erzählt hat. Heute habe ich eingesehen, daß es hier wirklich nicht mit rechten Dingen zugeht. Aber ein Mit‐ tel dagegen habe ich nicht. Sie etwa, Monsieur Marulin?« Jean blieb vor dem jungen Arzt stehen und blickte wütend, in das ruhige, braungebrannte Gesicht mit den dunklen Augen. Der Arzt war ihm unheimlich, vor allem weil er einsehen mußte, daß Roux recht hatte. Gerade als Jean zu einer heftigen Erwiderung ansetzte, schrillte das Telefon. Er wirbelte herum und rannte in die Halle hinaus, riß den Hörer ans Ohr und meldete sich. »Hier spricht Chantal Leceur, Monsieur Marulin«, rief eine nur schwer zu verstehende Frauenstimme. Störungen überlagerten die einzelnen Worte und löschten sie fast aus. »Können Sie mich hören? Sie sind doch Monsieur Marulin?« »Ja, Madame!« rief Jean zurück. »Sie sind die Freundin meiner Frau! Von wo rufen Sie an? Die Verbindung ist entsetzlich!« »Von meiner Jacht!« Chantal stieß einen Schrei aus. »Wir stecken vor Cannes mitten in einem grauenhaften Sturm! Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten!«
»Und wie geht es Janine?« rief Jean besorgt. »Ist sie sehr seekrank? Können Sie nicht an Land gehen?« Als keine Antwort erfolgte, glaubte er schon, die Verbindung wäre unterbrochen, doch dann hörte er Chantal verlegen husten. »Ihre Frau ist schon von Bord gegangen, Monsieur«, eröffnete sie Jean. »Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Irgendwie fühle ich mich mitschuldig, weil ich nicht genug auf Janine aufgepaßt ha‐ be. Sie hat unser Motorboot genommen, aber wohin sie gefahren ist, das kann ich nicht einmal erraten.« »Janine ist weg?« Jean wischte sich hastig den Schweiß von der Stirn. Immer wieder zuckte sein Blick durch die offenstehende Ter‐ rassentür in die stille Nacht hinaus. »Ist sie an Land gegangen?« »Keine Ahnung, Monsieur«, gab Chantal Leceur zu. »Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen, ehe ich etwas unternehme. Wir versu‐ chen jetzt, den Hafen von Cannes anzulaufen. Soll ich inzwischen die Polizei verständigen, daß sie nach dem Boot und nach Ihrer Frau sucht? Es kommt mir dabei gar nicht auf das Boot an! Wenn es ver‐ loren ist, kauft mein Mann ein neues. Aber das Boot führt uns zu Janine!« »Nein, keine Polizei!« wehrte Jean erschrocken ab. »Auf keinen Fall die Polizei! Es würde Janine zu sehr aufregen, verstehen Sie?« »Oh ja, ich verstehe sehr gut«, stimmte ihm Chantal zu. »Ich war entsetzt über ihren Zustand! Sie hat mir Dinge erzählt… von Spuk in ihrem Haus, von blutüberströmten Leichen, die aus dem Nichts auftauchen und auch plötzlich wieder verschwinden! Ich habe dar‐ aufhin sofort einen Nervenarzt in Cannes angerufen und bei ihm einen Termin für morgen vormittag ausgemacht. Janine wußte nichts davon, also ist sie nicht deshalb weggelaufen. Ich fürchte, daß sie sehr krank ist, Monsieur, tut mir leid für Sie!« »Einen Moment, Madame Leceur!« rief Jean, doch ehe er etwas erwidern konnte, war die Verbindung unterbrochen. Er hörte nur noch Rauschen in der Leitung. Wütend warf er den Hörer auf den Apparat zurück.
»Was ist geschehen?« fragte Dr. Roux, der schon die ganze Zeit neben Jean stand und gespannt auf eine Auskunft wartete. »Janine ist mit dem Motorboot von der Jacht geflohen«, sagte Jean Marulin düster. »Niemand weiß, wo sie gegenwärtig ist. Vielleicht ist sie auf direktem Kurs an Land gefahren, dann befindet sie sich in Sicherheit. Aber wenn sie mit dem Boot hierher unterwegs ist…« Sturmböen fauchten vom Meer herauf und rüttelten an den Pal‐ men im Garten. Der Wind fauchte durch das Wohnzimmer und blähte die Vorhänge. Das Toben des aufziehenden Unwetters gab Antwort auf die Fra‐ ge, was mit Janine geschah, wenn sie sich jetzt noch mit einem klei‐ nen Motorboot auf dem Meer befand. * Die Lichter der Jacht verschwanden, ringsum herrschte tiefe Dun‐ kelheit. Janine Marulin fühlte sich einsam und verloren wie noch nie. Dazu kam die grauenhafte Angst vor den Spukgestalten, die ihr aus dem Haus auf den Klippen gefolgt waren. Verstört kauerte sie auf den hinteren Sitzen des Bootes und hielt sich krampfhaft fest. Ihre Augen hatten sich schon an die Dunkelheit gewöhnt, so daß sie gegen den helleren Himmel von Zeit zu Zeit die Umrisse der zwei Männer erblickte. Dann waren sie wieder ver‐ schwunden, unsichtbar geworden, bis sie sich erneut ihrem Opfer zeigten. Wenn sie nichts zu ihrer Rettung unternahm, verschleppten sie die Spukgestalten an einen Ort, an dem vielleicht niemand sie fand. Noch ahnte sie nicht, was auf sie wartete. Daher war sie fest ent‐ schlossen, sich zu wehren. Unter der Sitzbank fand sie ein Paddel, das bei einer Motorpanne aushelfen sollte. Mit beiden Händen umfaßte sie es und wog es ab‐ schätzend. Es war nicht sonderlich schwer, aber es mußte ausrei‐ chen, um einen normalen Menschen mit einem Schlag auf den Kopf
zu betäuben. Die beiden Gestalten auf den Vordersitzen des Bootes waren allerdings keine normalen Menschen. Sie wollte es dennoch versuchen. Als sich wieder einmal die Köpfe ihrer Entführer gegen den Him‐ mel abzeichneten, schlug sie mit aller Kraft zu. Das Paddel sauste nieder und durchdrang den Kopf des Mannes, als wäre er eine Rauchwolke oder eine Nebelbank. Es sah schauerlich aus, wie das Paddel den Schädel scheinbar spaltete und in den Körper des Man‐ nes eindrang. Mit einem harten Krachen schlug es auf den Sitz. Ja‐ nine ließ es wie, ein Stück glühendes Eisen fallen und preßte sich gegen die Lehne. Sie erwartete, daß die Spukgestalt sie jetzt angreifen und bestrafen würde, doch nichts geschah. Das Paddel fiel auf den Boden, das Boot zog unbeirrt seine Bahn weiter über das nachtschwarze Meer. Nichts hatte sich geändert. Allmählich faßte Janine wieder Mut, als sie merkte, daß sie vorläu‐ fig unbeachtet blieb. Die unheimlichen Sendboten setzten ihren Weg unbeirrt fort. Janine versuchte, sich zu orientieren. Sie betrachtete lange die Lichtpunkte der Küste, doch sie bekam nur heraus, daß sich das Boot in Richtung Toulon bewegte. Irgendwann mußten sie auch Camarat erreichen. In diesem Moment fiel es Janine wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Die beiden Spukgestalten sollten sie nach Hause holen, zurück auf den Felsen bei Camarat in das einsame, das »verfluchte« Haus. Sie sollte ihrem Schicksal nicht entgehen. Weit vor sich erblickte sie oben auf der Bergkette eine Ansamm‐ lung von Lichtern. Fast sahen sie wie ein dichter Sternhaufen aus. Janine erbebte. Plötzlich wußte sie, daß es die Lichter von Camarat waren. Dort oben lag das kleine Dorf, in dem Dr. Roux wohnte und das ihr und Jean zur neuen Heimat hätte werden sollen. Und ein Stück seitwärts erblickte sie einen einzelnen hellen Punkt. Sehnsucht überkam sie. Das Licht gehörte zu ihrem Haus, in dem sie so schreckliche Dinge erlebt hatte, in dem sie sich jedoch bereits
heimisch fühlte. Dort oben war Jean. Er fehlte ihr. Und Dr. Roux wartete ebenfalls im Haus. Hätte sie die beiden Männer doch nur irgendwie auf ihre verzweifelte Lage aufmerksam machen können! Kaum hatte sie den Gedanken zu Ende geführt, als sie hinter sich ein dumpfes Brausen hörte. Entsetzt wirbelte Janine herum. Mitt‐ lerweile konnte sie im Dunkeln gut sehen, so daß sie die Wasser‐ wand sofort erblickte. Mindestens zwei Meter hoch, raste sie auf das Boot zu. Es war eine schwarze Wand, von einem durchgehenden weißen Gischtrand gekrönt. Dazu heulte und orgelte der Sturm. Mit einem wütenden Fauchen sprang er das kleine Boot Sekunden vor der Wogenwand an, zerrte an Janines Haaren und Kleidern und trieb ihr Tränen in die Augen. Mit aller Kraft klammerte sie sich an dem Sitz fest und warf sich zu Boden, als die Welle sie erreichte. Mit Donnergetöse überrollte die Wasserwand das Motorboot. Für Sekunden bekam Janine keine Luft. Kaltes Wasser umspülte sie und zerrte an ihr, aber sie ließ nicht locker. Sie wurde herumgeschleudert, prallte hart gegen die Bordwand und verkrallte sich noch fester. Der Motor heulte gequält auf, als die Schraube aus dem Wasser auftauchte und leer durchdrehte. Gleich darauf versank das Heck vollständig im Meer. Mit einem letzten Blubbern erstarb der Motor. Das Heck tauchte zwar wieder aus den Wellen auf, doch das gan‐ ze Boot behielt. Schlagseite und schlingerte in den rauhen Wellen. Janine hatte die gewaltige Woge zwar überstanden, doch jede kleine Welle drohte, das angeschlagene Boot zum Kentern und Sinken zu bringen. Das Ufer war weit, die Lichter von Camarat scheinbar unendlich fern. Zudem war der Motor ausgefallen, und sie wußte nicht, wie sie ihn wieder anwerfen konnte. Die Lage war hoffnungslos. Ihr Blick fiel auf die vorderen Sitze. Deutlich zeichneten sich die Umrisse der beiden Entführer ab. Sie hatten ihre Haltung nicht ver‐ ändert. Mutlos ließ sich Janine zurücksinken. Sie war bis auf die Haut durchnäßt und trieb hilflos auf dem Meer.
Nach einigen Sekunden schreckte sie hoch. Deutlich erkennbar änderten die Lichter von Camarat ihren Standort. Das Boot fuhr auch ohne Motor! Es wurde von einer unerklärlichen Kraft voran‐ getrieben. Kaum hatte Janine Marulin erkannt, daß sie sich der Küste näher‐ te, als das Boot auch schon mit einem häßlichen Knirschen auf Grund lief. Durch die Wucht des Aufpralls wurde sie von ihrem Sitz gerissen. Sie flog durch die Luft, prallte hart auf den Schotterstrand und verlor beinahe die Besinnung. Sie fühlte nur noch, daß eisige Hände sie packten. Dann wurde sie auch schon davongezerrt. Die schlimmsten Minuten ihres Lebens begannen. * »Ich verstehe Sie nicht!« rief Dr. Roux heftig aus. »Zuerst werden Sie beinahe hysterisch, weil das Bild Ihrer Frau von der Wand fällt! Und jetzt, da sie wirklich in Gefahr ist, tun Sie gar nichts!« Jean Marulin stand an der Schiebetür, die auf die Terrasse führte, und starrte in die sturmgepeitschte Nacht hinaus. Innerhalb weniger Minuten war das Wetter umgeschlagen. War es zuerst windstill und warm gewesen, so heulten jetzt die Böen um die kahlen Felsen, daß sich die Palmen tief bogen. »Wollen Sie mir nicht antworten?« rief der Arzt wütend. »Liegt Ihnen so wenig am Leben Ihrer Frau, daß Sie nicht einmal die Poli‐ zei verständigen?« »Polizei!« Zum ersten Mal seit Beginn des Sturms sprach Monsieur Marulin ein Wort. »Was soll die Polizei schon tun? Janine kommt hierher, das weiß ich ganz bestimmt. Wir brauchen keine Polizei!« Nervös blickte der junge Arzt auf die Uhr. Es ging auf Mitternacht zu, nur mehr wenige Minuten, dann brach die Geisterstunde an. »Die Polizei könnte nach dem Boot Ausschau halten«, meinte Dr. Roux.
»Überflüssig!« Jean winkte ab. »Sie wird durchkommen und hier auftauchen. Das Boot kann nur unten am Strand anlegen, sonst nir‐ gends. Ich weiß es, ich weiß es!« Er wiederholte es immer wieder, bis Dr. Roux nicht mehr wußte, was er davon halten sollte. Entweder machte sich Jean Marulin nur selbst Mut, indem er sich einredete, daß seiner Frau nichts passieren konnte. Oder er wußte aus einem anderen Grund Bescheid, zum Beispiel weil er eine Botschaft empfangen hatte, einen geistigen Hil‐ feruf seiner Frau oder etwas Ähnliches. »Ich rufe jetzt die Polizei und die Küstenwache an«, rief Roux plötzlich. »Ich halte das Warten einfach nicht aus!« Er lief in die Halle und riß das Telefon an sich. Mit fliegenden Fin‐ gern wählte er den Notruf der Polizei, nahm den Hörer ans Ohr und wartete vergeblich auf das Rufsignal. Auch als er die Gabel niederd‐ rückte und erneut losließ, geschah nichts. Das Telefon war und blieb stumm. »Die Leitung ist unterbrochen!« rief er zu Jean hinüber, der in der offenen Terrassentür lehnte. Der Wind zerrte an seinen Haaren und ließ ihn schwanken, so heftig blies, er gegen das Haus. Jean Marulin drehte sich auch nicht um, als der Arzt das Haus durch den Vordereingang verließ. Pierre Roux lief zu seinem Wagen und versuchte zu starten. Es tat sich überhaupt nichts. So sehr er sich auch bemühte, nicht einmal der Starter rührte sich. Wütend sprang er aus seinem Wagen und sah das Auto der Maru‐ lins in der offenen Garage stehen. Zu seiner Überraschung steckte der Zündschlüssel. Der Arzt zögerte nicht lange. Er schob sich hin‐ ter das Steuer des fast neuen Wagens und drehte den Zündschlüs‐ sel. Eine Gänsehaut lief über seinen Rücken, als auch diesmal nichts geschah. Das ging nicht mit rechten Dingen zu. Es konnte passieren, daß bei seiner alten Klapperkiste etwas nicht funktionierte. Aber daß der gleiche Fehler bei beiden Autos gleichzeitig auftrat, ließ auf Absicht schließen. Dazu kam das defekte Telefon. Offenbar wollte jemand verhindern, daß Pierre Roux oder Jean Marulin Kontakt mit
der Außenwelt aufnahmen. »So schnell gebe ich nicht auf«, murmelte der Arzt verbissen, senk‐ te den Kopf gegen den Sturm und marschierte los. Der Weg führte dicht an den Abhang heran, daß er aufpassen mußte, um nicht in die Tiefe gerissen zu werden. Das Heulen und Brausen übertönte alle anderen Geräusche. In der Ferne setzte Wetterleuchten ein. Noch drang der Donner nicht bis zur Küste, aber auf dem Meer mußte ein gewaltiges Un‐ wetter toben. Das Licht reichte aus, um den ganzen Küstenstreifen zu erkennen. Für einen Moment blieb der Arzt stehen und hob den Kopf. Im nächsten Moment weiteten sich seine Augen in ungläubigem Ent‐ setzen. Wenige Schritte vor ihm standen die zwei Spukgestalten aus dem Haus, die beiden jungen Männer in schwarzem Leder. Es war, als sähe er sie über eine heiße Herdplatte hinweg, über der die Luft waberte. Sekundenlang zerflossen die Gestalten, formten sich neu, verschwanden wieder. Mit zusammengebissenen Zähnen wollte der Arzt den beiden Ge‐ stalten ausweichen. Er verließ die Fahrstraße und stolperte über Felsen und Geröll. Schon glaubte er, es geschafft zu haben. Als er sich umwandte, waren die beiden verschwunden. Doch als er wieder die Richtung zum Dorf einschlug, standen sie vor ihm. Die starren Augen funkel‐ ten ihm feindselig entgegen. Obwohl sie nichts unternahmen, wagte er es nicht weiterzugehen. In drohender Haltung kamen die Spukgestalten näher. Dr. Roux wich Schritt um Schritt zurück, warf sich zuletzt herum und lief zum Haus zurück. Neben ihm klaffte der Abgrund. Ein Fehltritt, und er stürzte in die Tiefe. Gehetzt blickte er sich um. Die Spukge‐ stalten waren ihm dicht auf den Fersen. Er lief um sein Leben. Ganz deutlich fühlte er, daß sie ihn über die Felskante schleudern würden, wenn er zu lange zögerte. Sie wollten,
daß er ins Haus zurückging. Tat er es nicht, mußte er sterben. Keuchend erreichte der Arzt die Terrasse. Im selben Moment war‐ en die Geister verschwunden. Mit letzter Kraft torkelte er auf Jean Marulin zu, der noch immer in der offenen Schiebetür lehnte und ihm überrascht entgegenstarr‐ te. »Wo kommen Sie her, Doktor?« rief Marulin. Ehe der Arzt antworten konnte, ertönten drei harte Schläge gegen die Eingangstür. * Jean Marulin stieß sich vom Türrahmen ab und wollte zum Ein‐ gang laufen, doch Dr. Roux holte ihn in der Halle ein. »Bleiben Sie stehen!« rief er und hielt Marulin fest. »Sind Sie le‐ bensmüde?« »Das ist Janine!« schrie Jean und schlug verzweifelt um sich. »Ich weiß, daß es Janine ist!« »Es sind die Gestalten, die wir schon einmal gesehen haben«, rede‐ te der Arzt hastig auf ihn ein. »Es sind die beiden Mörder, die jun‐ gen Männer, die das Ehepaar Mabelais umgebracht haben.« »Es ist Janine!« schrie Jean erneut. Er versetzte dem Arzt einen hef‐ tigen Schlag, daß dieser zurücktaumelte, und sprang zur Tür. Ehe Pierre Roux etwas dagegen tun konnte, riß Jean die Eingangstür auf. »Janine!« Jean Marulin bückte sich. »Doktor, kommen Sie schnell! Sie müssen mir helfen!« Erst jetzt sah der Arzt, daß eine Gestalt vor dem Haus auf den Stu‐ fen lag. Er stürzte ins Freie und erkannte Janine Marulin, allerdings erst auf den zweiten Blick. Sie sah schrecklich aus! Ihre Kleider waren zerrissen, ihre Haut an vielen Stellen aufgeschrammt. Die Haare hingen ihr zerzaust ins Gesicht. Ihre Augen starrten mit einem wirren Ausdruck ins Leere. Sie schien überhaupt nicht zu begreifen, wo sie sich befand.
»Fassen Sie mit an!« befahl Dr. Roux und nahm Janine unter den Armen. »Wir legen sie auf das Sofa im Wohnzimmer!« Jean packte Janines Beine. Vorsichtig trugen sie sie ins Haus und ließen sie auf das Sofa gleiten. Doch als sie sich umdrehten, um die Haustür zu schließen, fiel diese von allein ins Schloß. Im selben Moment erblickten sie auch die beiden schwarz gekleideten Männer links und rechts neben der Tür. Dr. Roux war nicht weiter überrascht. Schließlich hatten ihn diese Spukgestalten daran gehindert, Hilfe aus dem Dorf zu holen. »Was wollen sie da?« flüsterte Jean erschrocken. »Woher kommen sie überhaupt?« »Es ist Mitternacht, Monsieur Marulin.« Dr. Roux warf einen be‐ sorgten Blick zur Deckenlampe, die zu flackern begann. »Gestern um die gleiche Zeit…« Weiter kam er nicht. Die Beleuchtung erlosch. Nur mehr das Wet‐ terleuchten erhellte den Raum. Da über der offenen See fast unun‐ terbrochen die Blitze niederzuckten, hatten sie ausreichend Licht, um das Geschehen in ihrer nächsten Nähe zu erkennen. »Was ist mit Janine?« fragte Jean ängstlich. »Warum rührt sie sich nicht?« »Sie ist nur ohnmächtig«, antwortete der Arzt beruhigend. »Sieht so aus, als habe sie jemand den Berg heraufgezerrt. Aber sie hat of‐ fenbar keine ernsten Verletzungen, nur einen Schock.« »Warum ist sie zurückgekommen und nicht auf der Jacht geblie‐ ben!« rief Jean aus. »Dort wäre sie in Sicherheit!« »Ich glaube gar nicht, daß sie freiwillig gekommen ist«, meinte der Arzt. »Ich vermute eher, sie wurde entführt. Aber das kann sie uns selbst erzählen, sobald sie wieder zu sich kommt.« Er warf einen scheuen Blick auf die beiden dunklen Gestalten ne‐ ben der Eingangstür. »Lassen wir sie jetzt in Ruhe«, schlug er vor. »Bleiben Sie bei Ihrer Frau, Monsieur Marulin. Ich gehe in die Küche und koche Kaffee. Der Herd wird doch mit Gas betrieben, oder nicht?«
Jean nickte. Seine Augen hingen an dem bleichen, eingefallenen Gesicht seiner Frau. »Ich werde auf sie aufpassen, damit ihr nichts geschieht«, flüsterte er und warf einen scheuen Blick zur Eingangs‐ tür, doch die schwarzen Gestalten waren verschwunden. »Ich hatte übrigens noch keine Gelegenheit, es Ihnen zu sagen, Marulin.« Dr. Roux, der schon zur Küche unterwegs war, blieb noch einmal stehen und wandte sich um. »Wir sind hier draußen abge‐ schnitten. Das Telefon ist defekt, die Wagen springen nicht an, und wenn man sich zu Fuß nach Camarat durchschlagen will, hindern einen diese Spukgestalten daran. Wir sind also aufeinander ange‐ wiesen.« Jean Marulin nickte müde. »Schon gut, Doktor! Ich habe verstan‐ den, wir müssen zusammenhalten.« Pierre Roux nickte ihm aufmunternd zu und verließ endgültig das Wohnzimmer. Jean beugte sich über seine Frau. »Janine!« rief er unterdrückt. »Kannst du mich hören?« Sie bewegte sich leicht. Schon schöpfte Jean neue Hoffnung, daß sie bald zu sich kommen würde, als er abgelenkt wurde. In der Halle klingelte das Telefon! * Für einige Sekunden schwankte Jean Marulin, ob er bei seiner Frau bleiben sollte, die wahrscheinlich bald zu Bewußtsein kam, oder ob er den Anruf entgegennehmen sollte. Er entschied sich für das Tele‐ fon, weil der Anrufer ihnen vielleicht helfen konnte. Der Gedanke, in diesem Haus gefangen zu sein, war erschreckend. »Hallo, hier Marulin!« rief Jean. Seine Hände, die den Hörer um‐ krampften, wurden vor Aufregung feucht. »Wer spricht dort?« Zuerst hörte er nur ein Rauschen und Knacken, das alles andere überlagerte, doch dann schälte sich deutlicher eine Frauenstimme aus dem Chaos heraus. »… geht es Ihnen?« rief die Frau. »Haben Sie etwas von Janine ge‐
hört?« »Madame Leceur?« rief Jean zurück. »Sind Sie Chantal Leceur? Ich kann Sie kaum verstehen!« »Ja, ich bin Chantal«, gab Janines Freundin zurück. Ihre Stimme war für wenige Augenblicke klar und deutlich zu verstehen. »Ich will nur wissen, ob Sie etwas von Janine gehört haben!« »Janine ist hier, Madame Leceur«, antwortete Jean hastig. »Es geht ihr gut. Aber von Ihrem Boot weiß ich nichts, tut mir leid.« »Ach, das ist nicht weiter wichtig«, beruhigte ihn Chantal. »Die Hauptsache ist Janine. Es ist ihr also nichts passiert!« »Sie hat einen Schock, aber…« Jean brach ab, weil das Rauschen und Knacken wieder einsetzte. »Hören Sie mich noch?« »… schlecht, aber es… noch an diese Spukgeschichten?« Immer wieder schwand Chantals Stimme vollständig. »… unbedingt zum Arzt, bevor es schlimme Folgen…« »Wir haben hier im Haus einen Arzt!« schrie Jean in den Hörer. »Er kümmert sich um Janine! Sie brauchen sich keine Sorgen zu ma‐ chen, Madame Leceur!« Aber er war nicht mehr sicher, daß sie ihn überhaupt noch hörte. Das Rauschen war so stark geworden, daß er nichts verstand. »Sie haben telefoniert?« ertönte in diesem Moment Dr. Roux’ Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und blickte in das erstaunte Gesicht des Arztes. »Das Ding hat plötzlich wieder funktioniert«, meinte Jean achsel‐ zuckend. »Chantal Leceur hat angerufen und sich nach Janine er‐ kundigt. Sie ist übrigens der Meinung, daß Janine… Sie verstehen, Doktor.« Er tippte sich vielsagend gegen die Stirn. Der Arzt verstand sofort, was er meinte. »Wahrscheinlich hat Ihre Frau ihrer Freundin etwas von den Vor‐ fällen in diesem Haus erzählt«, meinte er. »Und das glaubt nie‐ mand.« »Ich wollte es Chantal ausreden, daß Janine krank ist, aber da war
die Verbindung schon wieder zu schlecht«, fuhr Jean fort. »Funktioniert das Telefon jetzt wenigstens noch?« fragte Dr. Roux gespannt. »Wir könnten Hilfe aus Camarat holen und…« »Nichts!« Jean schüttelte den Hörer, aus dem kein Ton drang. »Die Leitung ist wieder tot.« Ergeben seufzend kehrte der Arzt in die Küche zurück. »Der Kaf‐ fee ist gleich fertig«, rief er und schloß hinter sich die Tür. Im nächsten Moment fuhr direkt vor der Terrasse ein Blitz nieder. Gleißende Helligkeit erfüllte den Raum, daß Jean aufschreiend die Hände vor die Augen riß. Der Donner betäubte ihn. Der Boden erzitterte unter seinen Füßen. Erst allmählich konnte er wieder Einzelheiten sehen und auch leise Geräusche hören. Schemenhaft erblickte er auf der Terrasse eine Gruppe von Perso‐ nen, die sich dem Abgrund näherten. Und er hörte einen langgezo‐ genen Schrei, der sich steigerte und in einem schrillen Diskant ab‐ brach. »Janine«, flüsterte er entsetzt. »Janine!« * Gleichzeitig stürmten Jean aus der Halle und Dr. Roux aus der Küche hinaus auf die Terrasse. Jean erblickte das von Grauen ge‐ zeichnete Gesicht des Arztes, der ihm etwas zurief. Da jedoch die Blitze in unmittelbarer Folge direkt vor dem Haus in die Tiefe fuh‐ ren und ins Meer einschlugen, konnte Jean nichts mehr verstehen. Ein Feuerwerk gigantischen Ausmaßes brannte vor seinen Augen ab. Fast vollständig geblendet taumelte er vorwärts. Wenige Schritte vor ihm wehrte sich Janine verzweifelt gegen die Griffe der beiden Spukgestalten. Die jungen Männer ganz in Schwarz hielten sie gepackt und zerrten sie zur Balustrade. Janine schrie um Hilfe. Ihre Augen waren in besinnungsloser Angst ver‐ dreht, ihr Gesicht entstellt. In diesen Sekunden durchlitt sie Todes‐
ängste. Jean stürzte sich auf den ihm am nächsten Stehenden und wollte ihn zu Boden schlagen, aber seine Fäuste trafen auf keinen Wider‐ stand. Sie durchdrangen den nur schattenhaft sichtbaren Körper. Mit einem Aufschrei taumelte er zurück und griff sich an die Kehle. Sekundenlang kämpfte er gegen eine Ohnmacht an, die mit unwi‐ derstehlicher Gewalt nach ihm griff. Durch einen dichten Schleier hindurch sah er, daß Dr. Roux die gleichen Schwierigkeiten hatte. Auch er bekam seinen Gegner nicht zu fassen, und er litt hinterher ebenso wie Jean an den Folgen des gescheiterten Angriffs. Einer der Männer hob die Hand und streckte sie nach dem Arzt aus. Pierre Roux preßte die Hände auf das Herz, richtete sich hoch auf und kippte lautlos nach hinten. Schwer fiel er auf die Steinplat‐ ten der Terrasse. Angstvoll wich Jean zurück. Es war zu spät. Schon drehte sich auch der Mann auf seiner Seite nach ihm um. Er fühlte einen Stich in seiner Brust, dann breitete sich ein Schmerz in seinem Körper aus, der ihm den Atem nahm. Stöhnend brach er in die Knie. Sein letzter Blick traf auf Janine, die wie eine Puppe zwischen den Spukgestalten hing. Die beiden Männer schleppten sie zur Balustra‐ de, hoben sie hoch in die Luft und… Mehr sah Jean Marulin nicht, weil er vor Schmerz fast besinnungs‐ los nach vorne kippte und auf die Steinplatten rollte. Keuchend blieb er so liegen, bis die Schmerzen nachließen und er wieder klar denken konnte. »Janine!« röchelte er. Wahrscheinlich lag sie bereits zerschmettert am Fuß des Felsens. Zaghaft hob er den Blick. Der schlaffe Körper seiner Frau lag vor dem steinernen Geländer auf dem Boden, die Beine angewinkelt, die Arme geknickt. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, weil es auf die andere Seite gedreht war. »Janine!« rief er. Erst jetzt merkte er, daß die Blitze aufgehört hat‐
ten. Nur mehr das ferne Wetterleuchten erhellte die gespenstische Szene. Auf allen Vieren kroch Jean Marulin zu seiner Frau und beugte sieh über sie. Ihre Augen standen weit offen, sahen aber nichts. Ihre Lippen zitterten, die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Beinahe wäre ihr das »verfluchte« Haus, das Mordhaus auf den Felsklippen, zum Verhängnis geworden. Aber noch lebte sie, auf rätselhafte Weise gerettet. * Auf dem Höhepunkt der Reisesaison vollzog sich im Jahre 1973 in Ver‐ sailles das Schicksal einer jungen Frau. Sie hieß Miriam Borres und be‐ wohnte mit ihrem Mann ein kleines Haus in der Nähe des berühmten Schlosses. Einige Touristen beobachteten am 6. August 1973, wie Madame Borres durch ihren Garten lief und dabei immer wieder mit beiden Händen in die Luft schlug, als werde sie von einem Insektenschwarm oder einer unsich‐ tbaren Gewalt verfolgt. Die Leute maßen diesem Zwischenfall keine Bedeutung bei, sondern gin‐ gen kopfschüttelnd weiter. Es waren nicht mehr dieselben Touristen, die sich im Park von Versailles aufhielten, als zwei Stunden später ein Polizeiwagen und eine Ambulanz in den Garten des kleinen Hauses rollten. Die Leiche Miriams lag im Swimmingpool. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten und sich dicht an die Kante des Pools gelegt. Jede Hilfe kam zu spät. In einem Abschiedsbrief schrieb sie wirr über Schauergestalten, die sie verfolgten, über Spuk um Mitternacht und über Morde, die vor langer Zeit geschehen wären, sie aber heute peinigten. Die zuständigen Stellen erkannten auf Selbstmord im Zustand geistiger Verwirrung. Die Akte Borres wurde geschlossen.
* Obwohl Dr. Roux erst nach Jean Marulin aus seiner kurzen Ohn‐ macht erwachte, erholte er sich am schnellsten, so daß er den ande‐ ren helfen konnte. Er schleppte zuerst gemeinsam mit Jean die junge Frau ins Wohnzimmer und legte sie wieder auf das Sofa. Danach holte er Kaffee für sie beide. Das heiße Getränk belebte mehr als jedes Medikament. »Wollen Sie meiner Frau gar nicht helfen, Doktor?« fragte Jean, dem der Schock über das Erlebte noch im Gesicht stand. »Viel kann ich für sie nicht tun, Monsieur Marulin«, antwortete der Arzt. »Es ist für sie am besten, wenn sie schläft und neue Kraft schöpft. Medikamente können ihr nicht darüber hinweghelfen, was sie eben erlebt hat.« Da Jean nicht antwortete, nahm Dr. Roux es als Zustimmung. Er trank einen Schluck Kaffee und deutete auf einen der Sessel. »Sie sollten sich auch ausruhen, Monsieur Marulin«, schlug er vor. »Ich muß morgen – heute früh wieder zu meinen Patienten. Dann sind Sie allein für Ihre Frau verantwortlich. Wenn Sie nicht wenigs‐ tens ein paar Stunden geschlafen haben, sind Sie ihr keine große Hilfe.« »Aber dann können Sie nicht schlafen«, wandte Jean ein. Roux winkte ab. »Halb so schlimm, ich habe im Moment nur leich‐ te Fälle zu behandeln. Außerdem kann ich nach den Krankenbesu‐ chen schlafen. Also, machen Sie es sich bequem. Ich bleibe so lange bei Ihrer Frau wach!« Jean ließ sich nicht lange bitten. Er konnte die Augen kaum offen‐ halten. Er saß noch nicht richtig in dem bequemen Sessel, als er auch schon einschlief. Zuerst ging Dr. Roux rastlos im Wohnzimmer auf und ab und trat zwischendurch auch auf die Terrasse hinaus, um sich wach zu hal‐ ten. Doch dann merkte er, daß in dieser Nacht der Spuk nicht wie‐ derkam. Er betrat das Wohnzimmer. Im selben Moment flammte die
Deckenbeleuchtung auf. Er dämpfte das Licht und ließ nur eine Stehlampe brennen, damit die beiden Schlafenden nicht gestört wurden. Schließlich wurde er zu müde, setzte sich und beobachtete Janine Marulin. Sie war längst nicht mehr ohnmächtig und schlief sehr un‐ ruhig. Immer wieder wälzte sie sich herum, und plötzlich setzte sie sich mit weit geöffneten Augen auf. Für einige Momente irrte ihr Blick ziellos durch den Raum, bis er auf dem Gesicht des Arztes hängen blieb. »Doktor!« flüsterte Janine. »Ich habe grauenhaft geträumt!« Verwirrt griff sie sich an die Stirn. Der Arzt ließ sie in Ruhe, damit sie sich über alles klar werden konnte. »Es war gar kein Traum?« Fragend legte sie den Kopf auf die Seite. »Nein, ich habe es wirklich erlebt! Zuerst die Entführung im Motor‐ boot! Dann schleppten mich die beiden Spukgestalten den Berghang hoch! In einem Tempo, Doktor, das Sie sich nicht vorstellen können! Sie haben mich vor dem Haus auf die Stufen geworfen und dort liegen lassen! Und danach haben sie mich auf die Terrasse geschleift und wollten mich in die Tiefe stürzen! Das alles habe ich wirklich erlebt!« Pierre Roux beugte sich vor und ergriff die eiskalten Hände der jungen Frau. »Warum bleiben Sie hier, Madame?« fragte er ein‐ dringlich. »Fahren Sie zurück nach Paris und lassen Sie dieses Haus, wie es ist! Sie können es nicht ändern!« Sie blinzelte verwirrt und schüttelte endlich den Kopf. »Ich weiß nicht, ob Sie recht haben, Doktor«, murmelte sie. »Aber ich möchte nicht weggehen. Ich verstehe mich selbst nicht, aber etwas bindet mich an dieses Haus. Ich will es nicht verlassen.« »Sie wollen es von dem Spuk befreien?« forschte der Arzt. »Ich weiß nicht«, hauchte Janine fassungslos. »Ich kann aber nicht weggehen. In diesem Haus wird sich mein Schicksal erfüllen, das fühle ich ganz deutlich.« Sie sagte es tonlos, als habe sie schon jede Hoffnung verloren.
Erschüttert biß der Arzt die Zähne zusammen und senkte den Kopf. Es klang fast so, als habe Janine Marulin mit ihrem Leben ab‐ geschlossen. »Schlafen Sie jetzt, Madame«, sagte er eindringlich. »Ihrem Mann habe ich die gleiche Therapie verordnet. Schlafen Sie! Morgen früh bei Tageslicht sieht alles ganz anders aus. Dann können Sie über Ihre Entscheidung noch einmal nachdenken.« Janine schüttelte geistesabwesend den Kopf. »Die Entscheidung ist schon längst gefallen«, antwortete sie kaum hörbar. Sie legte sich wieder hin, schloß die Augen und schlief sofort tief und fest. Erleichtert atmete der Arzt auf. Wenigstens diese Sorge war ihm abgenommen. Jetzt konnte auch er sich ein wenig Ruhe gönnen. Dr. Roux legte die Beine hoch und war im nächsten Moment eingeschlafen. * Am 12. Dezember 1974 nahm sich Esther Bergamo das Leben. Sie starb in Vallison, einem kleinen Nest in den französischen Alpen. Niemand von den Dorfbewohnern hatte geahnt, daß die junge Frau aus Paris gekommen war, um hier aus dem Leben, zu scheiden. Als die Pariser Polizei Nachforschungen anstellte, erfuhr sie, daß Madame Bergamo in den letzten Wochen ihres Lebens nicht mehr zurechnungsfähig gewesen war. Immer wieder hatte sie behauptet, von Geistern bedroht zu werden. Nie‐ mand hatte ihr geglaubt, auch ihr Ehemann nicht. Ärztliche – Hilfe hatte sie abgelehnt. Bald nach der Beerdigung schloß die Polizei die Untersuchung über den Fall Esther Bergamo ab. Selbstmord… * Bei Tageslicht sah wirklich alles anders aus. Das mußte Dr. Roux am eigenen Leib feststellen, als er die Augen aufschlug, ins grelle
Sonnenlicht blinzelte und daran dachte, was sich in der vergange‐ nen Nacht ereignet hatte. Mit einem raschen Blick stellte er fest, daß Janine Marulin noch immer auf dem Sofa lag und schlief. Die Decke, die er ihr gebracht hatte, zog sie eng um sich. Ihr Gesicht wirkte entspannt, und nur die zahlreichen Abschürfungen an den Armen zeugten von den erlitte‐ nen Strapazen. Aus der Küche kam das Klappern von Tassen und das Rauschen von Wasser. Dr. Roux stemmte sich aus dem Sessel, in dem er ge‐ schlafen hatte, reckte sich und ging in die Küche hinüber. »Alles in Ordnung?« fragte Jean, der diesmal den Kaffee kochte. »Setzen Sie sich, Doktor! Es gibt gleich Frühstück.« Pierre Roux ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen. »Gehen Sie mit Ihrer Frau weg«, sagte er rauh. »Sie ziehen hier nur den kürzeren! Oder glauben Sie wirklich, daß Sie gegen die unheimlichen Mächte dieses Hauses ankämpfen können?« Grinsend füllte Jean den Kaffee in die Tassen. »Sie ahnen gar nicht, wie niedrig der Preis für dieses Haus war, Doktor!« »Ich kann es mir vorstellen«, murmelte der Arzt. »Niemand wollte es haben.« »Und daher denke ich gar nicht daran«, fuhr Jean unbeeindruckt fort, »auf dieses Haus zu verzichten. Es wird mir schon irgend etwas einfallen, verlassen Sie sich darauf.« »Bis dahin kann es für Ihre Frau zu spät sein«, gab der Arzt zu be‐ denken. »Ist Ihnen übrigens aufgefallen, daß sich alle Angriffe nur gegen Ihre Frau richten? Sie wurden immer verschont.« »Sie aber auch«, konterte Jean Marulin. »Also, was wollen Sie mit Ihrer Andeutung sagen?« Der Arzt ließ sich durch den wütenden Ton des Mannes nicht be‐ eindrucken. »Ich will nur sagen, daß Ihre Frau letztlich für alles be‐ zahlen muß. Wenn Sie das Haus vom Spuk befreien wollen, gehen Sie dabei kein Risiko ein, Ihre Frau schon.« Er trank den Kaffee aus und stand auf. Jean betrachtete ihn sehr
nachdenklich und drehte unschlüssig seine Tasse in den Händen. »Sie haben recht«, murmelte er. »So habe ich es noch gar nicht be‐ trachtet.« »Dann tun Sie es!« Der Arzt blickte sich um. »Wo ist meine Tasche, Monsieur Marulin? Ich habe sie letzte Nacht neben den Herd ge‐ stellt.« »Draußen im Wohnzimmer.« Jean stand auf und brachte Roux zur Tür. »Während Sie schliefen, habe ich Ihnen die Tasche gebracht.« Pierre Roux betrachtete noch einmal mit einem langen Blick die schlafende Frau, dann nahm er seine Tasche an sich und verließ das Haus. Jetzt am Morgen sprang sein Wagen ohne Schwierigkeiten an. Im Rückspiegel sah er das »verfluchte« Haus auf den Klippen, bis die Zufahrtsstraße einen Bogen beschrieb und das Mordhaus aus sei‐ nem Blickfeld verschwand. * Jean Marulin saß neben seiner Frau, als sie die Augen aufschlug. Verstört blickte sie sich einige Sekunden um, bis sie sich an alles erinnern konnte. »Ganz ruhig bleiben, Cheri«, redete Jean auf seine Frau ein und legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich bin und bleibe bei dir.« »Jean!« Ein trockenes Schluchzen schüttelte ihren Körper. »Es war die schrecklichste Nacht meines Lebens! Eine zweite solche Nacht überlebe ich nicht!« »Es wird keine geben«, beruhigte er sie. »Janine, glaube mir! Es wird nicht mehr so schlimm werden.« »Wo ist Dr. Roux?« fragte sie plötzlich. »Ist er nicht mehr da, Jean?« »Er mußte seine Patienten besuchen, will aber wiederkommen.« Jean Marulin senkte verlegen den Blick und rieb sich unbehaglich die Hände. »Weißt du, Cheri, ich glaube, wir sollten ihm nicht so
sehr vertrauen. Schließlich kennen wir ihn so gut wie gar nicht.« »Aber Jean!« rief sie aus. »Dr. Roux hat uns geholfen! Er ist letzte Nacht hier geblieben, obwohl ihn niemand dazu gezwungen hat. Und er hat ebenso wie du versucht, mich aus den Händen der Spukgestalten zu befreien.« »Bist du sicher?« erwiderte Jean skeptisch. »Versteh mich richtig, ich habe nichts gegen den Doktor, aber ich bin vorsichtig. Es könnte doch sein, daß ihm dieses Haus so gut gefällt, daß er es unbedingt haben möchte.« »Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst!« Janine beobachtete ih‐ ren Mann mißtrauisch. »Hast du dich gefragt, warum es so plötzlich in diesem Haus spukt?« Jean ließ nicht locker. »Ich denke, dieser Spuk könnte etwas mit Dr. Roux zu tun haben. Kann sein, daß er über die Geister Macht ausübt und sie auf uns gehetzt hat, damit wir das Haus so billig wie möglich wieder verkaufen. Und dann greift er zu!« »Das glaube ich nicht!« rief Janine empört aus. »Das ist eine Lüge!« »Denk darüber nach«, empfahl ihr Jean. »Ich arbeite inzwischen weiter.« Er zog sie kurz in seine Arme, ließ sie jedoch wieder los, als sie sich gegen ihn wehrte. »Ich habe es nur gut gemeint«, sagte er leise und verließ den Raum. Janine lag wie erstarrt auf dem Sofa und blickte unverwandt zur Zimmerdecke. Stimmte das, was Jean eben angedeutet hatte? Konn‐ te sie dem Arzt nicht mehr vertrauen? In ihrem Kopf reifte ein verhängnisvoller Entschluß. * Die wenigen Stunden Schlaf hatten Dr. Pierre Roux genügt. Er war ausgeruht. Trotzdem waren seine Patienten an diesem Tag mit ihm nicht zufrieden. Er sprach kaum mit ihnen, auch wenn er sie tadellos
behandelte. »Der Doktor ist verliebt«, meinte eine alte Frau kichernd, nachdem er ihr Haus wieder verlassen hatte. »Seine Gedanken sind nicht bei der Arbeit, sondern ganz woanders.« Gegen zehn Uhr vormittags kam Dr. Roux in das Cafe auf dem Marktplatz, bestellte einen Pastis und zog sich an einen Ecktisch zurück. Der Wirt versuchte mehrfach, ein Gespräch mit ihm anzu‐ fangen, hatte aber keinen Erfolg. Der junge Arzt antwortete ihm nicht einmal. Neugierige Augenpaare folgten Dr. Roux, als er das Cafe wieder verließ und sich in seinen Wagen setzte. Ihm war eingefallen, daß er noch eine Patientin besuchen sollte, die unter chronischer Schlaflo‐ sigkeit litt. Für sie hatte er ein extra starkes Präparat besorgt, das er nur ungern verschrieb. Zu hoch dosiert konnte es gefährlich wer‐ den. Ehe er losfuhr, wollte er sich vergewissern, daß er das Mittel auch bei sich hatte und es nicht in seiner Praxis herumlag. Er klappte die Tasche auf und warf einen Blick hinein. Tatsächlich hatte er die Schachtel bei sich. Doch dann zog er die Augen zusammen. An einer Seite war die Schachtel nicht richtig verschlossen. Er holte sie aus der Tasche und schüttelte die Phiole heraus. Eisiger Schreck durchzuckte ihn, als er das offene Röhrchen erblickte. Es war leer, alle Tabletten fehlten. Sofort erinnerte sich Dr. Roux daran, daß Jean Marulin seine Ta‐ sche aus der Küche in das Wohnzimmer gestellt hatte. Janine mußte während der Nacht wach geworden sein und sich die Tabletten aus seiner Tasche besorgt haben. Erst jetzt begriff er, welch furchtbaren Fehler er und Jean Marulin begangen hatten. Sie hatten Janine überschätzt und sie für stärker gehalten, als sie war. In Wirklichkeit wollte sie nicht mehr weiterle‐ ben. Jetzt verstand er auch, was sie gemeint hatte, ihr Schicksal wer‐ de sich in diesem Haus erfüllen. Der Motor seines Wagens heulte auf. Rücksichtslos rammte der
Arzt den ersten Gang hinein und ließ die Kupplung kommen, daß ein harter Ruck das alte Auto durchschüttelte. Die Menschen auf den Straßen drehten sich erschrocken um, als Roux durch Camarat fegte. Er nahm die Kurven mit heulenden Reifen, daß das Heck aus‐ brach und gegen die Bordsteinkante knallte. Haarscharf entging er einem Zusammenstoß mit dem Wagen des Bürgermeisters, und er kümmerte sich auch nicht um die Rufe des alten Jean Pierre, des ehemaligen Dorfpolizisten. Die letzten Häuser von Camarat flogen an ihm vorbei. Als wäre es die Rally Monte Carlo, jagte er seinen Wagen über die kurvenreiche Straße am Steilhang entlang. Der junge Arzt hing vor Aufregung vornüber gebeugt über dem Lenkrad. Seine Hände, mit denen er es umklammerte, waren feucht vor Angst. Hoffentlich kam er noch nicht zu spät! Die Abzweigung! Dr. Roux riß das Steuer herum. Die Federung ächzte und knackte bedenklich, als der Wagen durch die Schlaglö‐ cher holperte und sich wild tanzend dem einsamen Haus näherte. Plötzlich geriet der Wagen zu weit nach links. Entsetzt schrie Roux auf. Das linke Vorderrad prallte gegen einen Stein, der dicht an der Kante des Felsens lag. Mit aller Kraft riß er das Lenkrad nach rechts und rammte den Fuß auf das Gaspedal. Im Geist sah er sich schon abstürzen. Für Sekundenbruchteile hing die linke Bordwand über dem Abgrund, dann faßten die Räder wie‐ der und rissen das Fahrzeug nach rechts. Pierre Roux stieß die angehaltene Luft aus und nahm hastig den Fuß vom Gaspedal. Der Wagen beruhigte sich und rollte in der aus‐ gefahrenen Spur weiter. »Das war knapp«, seufzte der junge Arzt. Er richtete seinen Blick voll auf das Haus, das wie unbewohnt vor ihm lag. Nichts rührte sich, als er vor dem Eingang bremste und ausstieg. Er lief zur Haustür und preßte den Daumen auf den Klingelknopf. Schrill tönte der grelle Ton durch das Haus, doch niemand kam, um ihm aufzumachen.
Der Arzt wartete nicht lange. Er umrundete das Haus und fand die Terrassentür offen. Im Wohnzimmer stockte er, dann lief er zu Janine Marulin, die schlaff auf dem Sofa lag. Ihr rechter Arm hing auf den Boden herunter, ihr Kopf war auf die Seite gerollt. Dr. Roux wußte Bescheid. Janine Marulin hatte die Tabletten ge‐ nommen. * Jeannette Verley wurde von ihren Verwandten und Bekannten als lebens‐ lustige Frau geschildert. Doch nachdem sie mit ihrem Mann Anfang des Jahres 1975 ein eigenes Haus bezogen hatte, änderte sich das schlagartig. Sie wurde immer verschlossener und ging allen Leuten aus dem Weg. Ihre Mutter drängte sie Anfang Juni zu einer Aussprache, bei der Jean‐ nette nur Ausflüchte gebrauchte. Sie war nicht bereit, über den Grund ihrer Depressionen zu sprechen. Mitte Juni wurde sie in Brest, ihrer Heimatstadt, von einer Polizeistreife aufgegriffen, als sie nachts durch den Stadtpark lief, als wäre sie auf der Flucht. Zuerst erklärte sie den verdutzten Polizisten, sie hätte die Geister in ihrem Haus nicht mehr ertragen. Doch später auf der Wache, widerrief sie alles und behauptete, es habe sich um eine Wette gehandelt. Sie wurde nach Hause geschickt. Kurze Zeit später war sie tot. Sie starb am 7. Juli 1975 an einer Überdo‐ sis Schlaftabletten. Das genaue Motiv wurde nie ermittelt. * »Dr. Roux!« Jean Marulin blieb erstaunt in der Tür stehen und starrte auf den Arzt, der vor dem Sofa kniete. »Was tun Sie hier?« Pierre Roux hob für einen Moment sein vor Anstrengung verzerr‐ tes Gesicht. »Ich versuche, Ihrer Frau das Leben zu retten!« keuchte er. »Sie können ruhig auch etwas dazu tun! Helfen Sie mir!«
Die Schrecksekunde dauerte nicht lange, dann tat Jean alles, was der Arzt von ihm verlangte. Eine halbe Stunde arbeitete Roux ver‐ bissen. Danach richtete er sich aufatmend auf. »Ich glaube, das hätten wir geschafft«, seufzte er. »Ich habe ihr den Magen ausgepumpt, ein Gegenmittel gespritzt und mit einer Mas‐ sage nachgeholfen. Sie bleibt am Leben.« »Um alles in der Welt, was war denn überhaupt los?« rief Jean, der nicht weniger erschöpft war als der Arzt. »Sie hatten meine Tasche ins Wohnzimmer gestellt, während ich schlief.« Dr. Roux zeigte dem Ehemann die leere Phiole. »Hier, extra starke Schlaftabletten. Ihre Frau hat sie in einem unbeobachteten Moment an sich genommen und irgendwann nach meinem Auf‐ bruch geschluckt.« »Ich hatte keine Ahnung!« stammelte Jean. »Ich habe angenom‐ men, daß sie tief schläft, und wollte einige Zeit im Garten arbeiten. Ich habe nicht einmal gehört, daß Sie gekommen sind.« »Gerade noch rechtzeitig, sonst wäre Ihre Frau gestorben.« Dr. Roux setzte sich neben Janine, die bleich auf dem Sofa lag. »Sie wird gleich zu sich kommen. Kochen Sie jede Menge Kaffee, aber beson‐ ders stark und heiß!« Jean lief in die Küche. Janine erwachte, als er eben die Kaffeekanne und die Tassen brachte. Stöhnend wollte sie sich auf die andere Seite drehen, doch Dr. Roux zwang sie dazu, wach zu bleiben. Durch energisches Zureden und den Kaffee brachte er sie endlich so weit, daß sie ansprechbar war. Sie bestätigte, was er vermutet hatte. Heimlich hatte sie die Schlaf‐ tabletten an sich genommen, während der Arzt noch schlief, und als er gegangen war, hatte sie sie geschluckt. Jean hatte nichts gemerkt und ahnungslos das Haus verlassen. »Sie müssen unbedingt weg von hier«, entschied Dr. Roux. »Ich möchte Ihnen in Ihrem Zustand keine Reise nach Paris zumuten, Madame Marulin, aber ich bringe Sie nach Camarat. Sie können in meinem Haus wohnen, bis Sie sich ganz erholt haben.«
Erstaunt merkte der junge Arzt, daß ihn die Vorstellung verwirrte, Janine Marulin in seinem Haus aufzunehmen. Er behielt natürlich seine Gefühle für sich, aber in diesen Sekun‐ den stellte er fest, daß sie ihm absolut nicht gleichgültig war und er sich mehr für sie interessierte als sonst für eine Patientin. »Ich bleibe hier«, sagte Janine schwach. »Ich verlasse dieses Haus auf keinen Fall.« »Janine!« Jean Marulin ergriff ihre Hand und drückte sie. »Du sollst nicht meinetwegen hierbleiben! Geh mit dem Doktor, er meint es gut!« Doch Janine schüttelte hartnäckig den Kopf. »Ich verlasse dieses Haus unter gar keinen Umständen!« wiederholte sie und ließ sich ermattet zurücksinken. »Ich möchte jetzt schlafen. Laßt mich in Ru‐ he, ich bleibe hier… ich will nicht…« Im nächsten Moment war sie eingeschlafen. Jean beugte sich be‐ sorgt über sie, doch Pierre Roux klopfte ihm auf die Schulter. »Lassen Sie sie schlafen«, flüsterte er. »Sie muß sich erholen.« Die beiden Männer gingen in die Halle hinüber, wo Jean Marulin kopfschüttelnd stehen blieb. »Begreifen Sie das, Dr. Roux?« fragte er fassungslos. »Warum möchte sie unbedingt bleiben? Dieses Haus hat ihr bisher doch nur Angst und Schrecken gebracht, daß sie sich deshalb sogar das Leben nehmen wollte.« »Ich weiß es auch nicht«, erwiderte der Arzt zurückhaltend. »Tut mir leid, ich muß an meine Patienten denken. Heute abend komme ich wieder bei Ihnen vorbei!« »Vielen Dank für alles!« rief Jean noch hinter dem, Arzt her, der hinaus zu seinem Wagen eilte. Dann kehrte er gedankenverloren ins Haus zurück. * Es war eine Ausrede gewesen, daß er sich um seine Patienten
kümmern müsse. In Wirklichkeit fuhr Dr. Roux nach Hause, stellte den Wagen in die Garage und schloß sich in seinem Wohnzimmer ein. Er mußte mit sich allein sein und alles genau überdenken. Bis vor wenigen Tagen hatte er an Spuk und ähnliche Schauerge‐ schichten nicht geglaubt. Im Dorf gingen Gerüchte um, in denen von unheimlichen Vorfällen in dem »verfluchten Haus« auf den Klippen die Rede war. Er hatte sie immer für blanken Unsinn gehal‐ ten. Aber nun dachte er anders darüber, auch wenn er nicht bereit war, an gewöhnlichen Spuk zu glauben. Hier steckte mehr dahinter als nur der Geist eines Ermordeten, der keine Ruhe fand. Er schenkte sich einen Schwenker Cognac ein, wärmte den Schwenker in der Hand und trank. Noch einmal ging er seine Über‐ legungen durch, über die er bisher mit keinem Menschen, gespro‐ chen hatte. Da er sich für alles interessierte, was in der Welt passierte, hatte er auch Berichte über Erscheinungen von Geistern und andere über‐ sinnliche Phänomene gelesen. In allen stimmte ein Punkt überein: Die Spukgestalten, die sich den Menschen gezeigt hatten, waren stets die Geister Verstorbener gewesen. Nun lebten aber die beiden Mörder des Ehepaares Mabelais noch, auch wenn sie sich zur Zeit im Gefängnis befanden. Wieso hatte er dann diese Männer gesehen? Wieso waren sie als Spukgestalten in dem Haus auf den Klippen erschienen? Genau das war der Punkt, der sein Mißtrauen entzündete. Noch hatte er keine Erklärung dafür, aber er wollte nicht eher ruhen, bis er sie fand. Dann wußte er vielleicht auch, wieso sich Janine Marulin entgegen aller Vernunft weigerte, dieses Spukhaus zu verlassen. Das Telefon riß ihn aus seinen Überlegungen. Hastig griff er nach dem Hörer und meldete sich. Sein Freund bei der Pariser Surete war am anderen Ende der Leitung. »Ich habe eine Menge Neuigkeiten für dich, Pierre!« rief er aufge‐ räumt. »Und zwar…« »Ich habe auch Sensationen für dich!« unterbrach ihn der junge
Arzt. »In diesem Haus spukt es wirklich. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, es ist kein Schwindel!« »Jetzt fängst du auch noch an!« stöhnte sein Freund. »Hör dir erst einmal an, was ich habe!« »Nein, nicht über meinen Apparat«, wehrte der Arzt hastig ab. »Ich habe dir doch gesagt, daß in unserem Dorf manchmal mehrere Leute ein Gespräch mithören können. Die alten Leitungen, du ver‐ stehst schon. Ich rufe dich von Toulon aus an, in einer halben Stun‐ de etwa, einverstanden?« Sein Freund war mit allem einverstanden. Dr. Roux fuhr sofort los, so daß er tatsächlich bereits nach einer halben Stunde mit der Surete in Paris telefonierte. Sein Freund hatte ihm nicht zu viel versprochen. Er war so ver‐ blüfft, daß er kaum mitschreiben konnte. Zuletzt hatte er eine Liste mit neun Namen. Kopfschüttelnd starrte er darauf. »Dann sollte Janine Marulin wohl die Zehnte sein«, murmelte er. »Das werde ich verhindern.« »Ich auch«, stimmte sein Freund zu. »Ich werde ebenfalls etwas unternehmen, darauf kannst du dich verlassen. Diesmal wird das teuflische Spiel nicht gelingen.« »Wäre es nur ein teuflisches Spiel, dann hätten wir es leicht.« Dr. Roux seufzte. »Aber es ist blutiger Ernst! In diesem Haus spukt es wirklich, da gibt es keine Tricks. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du dich selbst davon überzeugen.« »Wir haben heute nicht den ersten April«, gab sein Freund verär‐ gert zurück. »Also, Pierre, ich mache mich sofort auf den Weg. Bis ich da bin, bist du für die Sicherheit der jungen Frau verantwort‐ lich.« Dr. Pierre Roux wußte, daß Janines Leben ohnedies schon seit ei‐ niger Zeit nur noch von ihm abhing. Er wußte allerdings noch nicht, ob er sie auch weiterhin schützen konnte oder ob die feindlichen Kräfte stärker wurden als er.
* Die Befürchtungen des Arztes, daß Telefongespräche in Camarat nicht geheim blieben, waren nur zu berechtigt. Vor nicht allzu lan‐ ger Zeit hatten alle Gespräch noch von Hand vermittelt werden müssen. Aus dieser Zeit waren Leitungen übrig geblieben, von de‐ nen sich die Techniker nichts träumen ließen. Manchmal kamen abenteuerliche Schaltungen zustande. Das war offensichtlich auch der Fall gewesen, als Dr. Roux mit seinem Freund von der Surete in Paris telefonierte, denn nur wenige Minuten später lief eine sensationelle Meldung durch das Dorf. Der Doktor glaubte an Spuk und Geister im »verfluchten« Haus! Diejenigen, die bisher schon immer von schauerlichen Vorgängen in dem einsamen Haus gesprochen hatten, triumphierten. Endlich stand ein angesehenes Mitglied ihrer Gemeinde auf ihrer Seite. Dem Wort des Arztes kam Gewicht zu. Die Gegner dieser Theorie jedoch zuckten die Schultern und schüt‐ telten die Köpfe. »Jetzt ist der Doktor übergeschnappt«, meinten sie. »Wir müssen uns einen anderen Arzt suchen. Von einem solchen Kerl lassen wir uns doch nicht behandeln.« Auf dem Dorfplatz versammelten sich die älteren Männer, die am meisten zu sagen hatten. Sie berieten, wie sie sich in Zukunft dem Arzt gegenüber verhalten sollten. »Man muß ihn fortschicken«, meinte einer. »Das ist kein Arzt, sondern ein Scharlatan!« »Er hat aber behauptet, daß er es mit eigenen Augen gesehen hat«, meinte ein anderer. »Und ich glaube nicht, daß Dr. Roux lügt. Wenn er von Spuk gesprochen hat, dann hat es im Haus auch gespukt.« »Alles Unsinn!« rief ein dritter. »Er will sich nur interessant ma‐ chen, damit er mehr Patienten bekommt.« »Das hat er nicht nötig, weil es außer ihm in weitem Umkreis oh‐ nedies keinen Arzt gibt«, rief ein vierter Mann. »Ich bin für Dr.
Roux! Wir sollten ihm vertrauen!« Ehe sich die Diskussion ausweiten konnte, betrat ein Mann den Platz, bei dessen Anblick alle verstummten. Neugierige, zum Teil auch feindliche Augenpaare folgten Jean Marulin, als er den Platz überquerte. Jean tat, als bemerke er die Aufmerksamkeit nicht, die er hervor‐ rief. Er nickte den Nächststehenden freundlich zu und schleppte einen schweren Einkaufskorb zu seinem in der Nähe abgestellten Wagen. Es war Jean auch nicht entgangen, daß sie alle Gespräche einges‐ tellt hatten, als er auftauchte. »Wahrscheinlich haben sie über uns getratscht«, murmelte er verächtlich und startete. Absichtlich drehte er über den Hauptplatz eine Runde, ehe er zu‐ rück zu seinem Haus fuhr. Eines wußte er jetzt mit Sicherheit. Ganz gleich, was in dem ein‐ samen Haus auf den Klippen auch passierte – von den Leuten aus Camarat würde kein einziger eingreifen. Sie waren da draußen ganz allein auf sich gestellt. * Apathisch lag Janine Marulin auf dem Sofa. An ihren ersten Selbstmordversuch dachte sie kaum noch. Ihre Gedanken beschäf‐ tigten sich vielmehr mit ihrem bisherigen Leben. Sie ließ es noch einmal an sich vorbeigleiten, als wollte sie Abschied nehmen. Was bedeutete das Vermögen, das sie von ihren Eltern geerbt hat‐ te? Jetzt, da sie am Ende ihres Lebens stand, war es gar nichts mehr wert. Sie konnte sich nichts dafür kaufen. Es war genauso nutzlos geworden wir ihr kostbarer Schmuck, von dem der größte Teil in Paris zurückgeblieben war. Mit trägen Bewegungen erhob sich Janine vom Sofa und trat an die Terrassentür heran. Draußen prallte die Hitze auf die Steinplat‐ ten der Terrasse. Hier drinnen im Haus war es angenehm kühl und
luftig. Sie hatte es sich so schön vorgestellt, ihr Leben gemeinsam mit Jean in diesem Haus. Es hätte herrlich sein können, wenn nicht… Sie zuckte zusammen und drehte sich rasch um. Irgendwo im Haus hatte eine Tür geschlagen. Jean konnte es nicht sein, er war zum Einkaufen nach Camarat gefahren. Seine Rückkehr mit dem Wagen hätte sie gehört. Er schied also aus. Ein Besucher, der einfach ins Haus gekommen war, ohne zu klin‐ geln? Das kam auch nicht in Frage. Die einzige Antwort war, daß jemand mit feindlichen Absichten eingedrungen war und sie jetzt belauerte. Nach den wirren Ereignissen der vergangenen Nacht war das Te‐ lefon ausgefallen, daran konnte sich Janine noch erinnern. Im Mo‐ ment wußte sie allerdings nicht, ob es wieder funktionierte. Auf Zehenspitzen schlich sie zum Apparat in der Halle, während sich die Schritte näherten. Sie schienen von allen Seiten zu kommen, so daß Janine nicht feststellen konnte, woher ihr eigentlich die Ge‐ fahr drohte. Kurz entschlossen hob sie ab und wählte den Polizeinotruf. Nichts! Enttäuscht starrte sie auf den Hörer und warf ihn wütend auf das Telefon zurück. Wie sollte sie Hilfe holen? Der Wagen war weg, in der Nähe gab es kein Haus, die Hauptstraße führte weit ent‐ fernt vorbei, und überall warteten tausend Gefahren auf Janine. Wie sollte sie sich da allein helfen? War das jetzt, das Ende, auf das sie wartete? Sollte sie jetzt ster‐ ben? Schicksalsergeben ließ sie sich zurücksinken und schloß die Au‐ gen. Angespannt lauschte sie auf die Schritte. Sie kamen aus dem ersten Stock herunter in die Halle, gleichmäßige feste Schritte, ohne daß sie jemanden erblickte. Jetzt konnte sie auch unterscheiden, daß die Schritte von zwei Personen stammten. Sie näherten sich der Ein‐ gangstür und verstummten. Mit neuer Hoffnung richtete sich Janine auf. Vielleicht wurde sie
doch noch geschont. Es war heller Tag. Um diese Zeit hatten die Geister noch keine Macht über die Menschen. Erleichtert wollte sich Janine wieder zurücksinken lassen, als sie erneut die Schritte hörte, diesmal von der Terrasse. Mit einem erschrockenen Aufschrei sprang sie hoch und lief da‐ von. Plötzlich war sie nicht mehr in ihr Schicksal ergeben, sondern wollte ihr Leben verteidigen. * Gehetzt blickte sich Janine um. Die Schritte waren schon bedroh‐ lich nahe. Wer immer hinter ihr her war, er kam über die Terrasse und wollte von dort ins Wohnzimmer eindringen. Sie wich in die Halle zurück und rannte die Treppe nach oben. Im ersten Stock wandte sie sich zu ihrem Zimmer. Sie wußte, daß der Schlüssel von innen im Schloß steckte, so daß sie sich einschließen konnte. Außerdem wies das Fenster zur Terrasse. Vielleicht konnte sie wenigstens sehen, wer hinter ihr her war. Sie erreichte ihr Zimmer, ohne daß sich ihr jemand in den Weg stellte, schlug hinter sich die Tür zu und drehte den Schlüssel zwei‐ mal im Schloß. Dann stürzte sie ans Fenster und spähte vorsichtig durch die Gardine. Ein Luftzug trieb den Vorhang zur Seite, so daß Janine ungehin‐ dert nach unten blicken konnte. Soeben tauchte Dr. Pierre Roux in ihrem Blickfeld auf. Jeans Warnung vor dem Arzt fiel ihr ein. Was hatte Jean gesagt? Er mißtraute Dr. Roux, weil es in dem Haus bisher nicht gespukt hatte. Irgend jemand mußte diese ganzen Vorfälle ausgelöst haben. Zuerst hatte sie nicht auf Jean hören wollen. Und jetzt war es zu spät. Sie befand sich mit dem Arzt allein im Haus. Wer weiß, wann Jean zurückkam. Dr. Roux stand noch immer unschlüssig auf der Terrasse, als Jani‐ ne Marulin vor Entsetzen zu Eis erstarrte. Obwohl sie den Arzt un‐
ten auf der Terrasse sah, hörte sie in ihrem Rücken die Schritte, die sie vorhin in panische Angst versetzt hatten! Janine wagte nicht, sich umzudrehen. Sie wußte, daß etwas Grauenhaftes auf sie zukam, aber sie wollte es nicht sehen. Sie konn‐ te auch nicht schreien oder Dr. Roux auf andere Weise auf sich auf‐ merksam machen. Der Schreck lähmte sie vollständig. Schlagartig verdüsterte sich der bisher strahlend blaue Himmel. Die Sonne verschwand hinter einer pechschwarzen Wolkenbank. Es wurde so dunkel, daß Janine kaum noch die einzelnen Gegenstände auf der Terrasse unterscheiden konnte. Schlurfendes Schaben, dann hielten die Eindringlinge still. Janine stellte sich vor, daß sie vielleicht schon unmittelbar hinter ihr stan‐ den und die Hände nach ihr ausstreckten, wer immer es auch sein mochte. Diese Vorstellung gab ihr die Beweglichkeit wieder. Sie fuhr he‐ rum und schrie gellend auf. Keine zwei Schritte von ihr entfernt standen der Mann und die Frau, die sie in der Geisterstunde bereits gesehen hatte. Es waren die Geister des Ehepaares Mabelais, jener Leute, die vor ihnen in diesem Haus gelebt hatten und ermordet worden waren. Den Mann mit seinem völlig zerschlagenen, zerschundenen Ge‐ sicht hatte sie schon mehrmals gesehen. Aber nun drängte auch die Frau so nahe heran, daß Janine fast in Ohnmacht fiel. Auf den ersten Blick hatten die Mörder die Frau mehr geschont als ihren Mann, doch dann sah Janine die unnatürlich verrenkte Haltung des Kopfes und begriff, daß sich Madame Mabelais beim Sturz das Genick ge‐ brochen hatte. Janine schrie noch einmal, als die Frau die Arme nach ihr aus‐ streckte, als wollte sie sie an sich ziehen. Blut schimmerte auf den Händen. Die Spukgestalten waren durchsichtig wie gefärbtes Glas. Janine konnte jeden Gegenstand hinter ihnen erkennen, als wären sie gar nicht vorhanden. Deshalb faßte sie neuen Mut. Wenn diese Gestalten nicht wirklich
waren, konnten sie ihr auch nichts tun. Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende geführt, als sich der Mann mit dem zerstörten Gesicht vorbeugte, die Hand hob und nach einer Bodenvase schlug. Im nächsten Moment zersplitterte die Vase in Tausende von Scherben. Die Geister dieses Hauses konnten Schaden anrichten, auch wenn sie scheinbar nicht existierten! Erneut packte sie die Angst mit voller Wucht und ließ sie diesmal nicht mehr los. Sie hatte keine Möglich‐ keit, Hilfe zu holen, und sie durfte auch nicht auf eine schnelle Heimkehr Jeans zählen. Allein und hilflos stand sie zwei Schauer‐ wesen gegenüber, die ihr nach dem Leben trachteten. Als einziger Ausweg bot sich das offenstehende Fenster an. Zwar lag die Terrasse tief unter ihr, aber es blieb ihr keine andere Wahl. Schon drehte sie sich um und begann, auf das Fensterbrett zu klet‐ tern, als sie an beiden Armen gepackt wurde. Sie blickte in das be‐ ruhigend ernste Gesicht von Dr. Roux und wußte, daß sie nun in Sicherheit war. * An Dr. Roux vorbei starrte Janine auf die zwei schemenhaften Schatten, die von den blutigen Gestalten übrig geblieben waren. Und auch sie lösten sich innerhalb der nächsten Sekunden auf, so daß nichts mehr auf die schrecklichen Ereignisse hindeutete. Schluchzend sank sie dem Arzt an die Brust und bekam einen Weinkrampf. Mit unendlich viel Geduld beruhigte Dr. Roux sie wieder und gab ihr ein leichtes Medikament. Diesmal paßte er aller‐ dings genau auf, daß sie ihm kein zweitesmal etwas aus der Tasche entwendete. »Madame Marulin«, sagte der Arzt mit einem zuversichtlichen Lä‐ cheln. »Ich weiß jetzt alles über den Spuk in diesem Haus und über seine Hintergründe. Haben Sie Vertrauen zu mir! Ich kann Ihnen helfen.«
»Vertrauen?« Janine flüsterte das Wort und zuckte nur hilflos die Schultern. »Wem soll ich überhaupt noch vertrauen?« »Ich werde Ihnen helfen!« versprach er. »Sie müssen nur etwas Geduld haben. Heute nacht wird sich alles entscheiden. Ich werde heute abend kommen und…« »Das trifft sich gut«, ertönte Jean Marulins Stimme von der Tür her. »Ich wollte Sie für heute abend einladen, Doktor. Aber wenn Sie ohnedies kommen möchten, spare ich mir eine förmliche Einla‐ dung.« »Ich werde bestimmt hier sein«, versicherte Pierre Roux. Jean fuhr mit den Fingern über die offenstehende Tür von Janines Zimmer. »Das Schloß ist gesprengt?« fragte er voll böser Ahnungen. Er merkte erst jetzt, in welchem Zustand sich seine Frau befand. »Cheri, ist etwas geschehen?« rief er besorgt und lief zu seiner Frau. Dr. Roux packte unauffällig seine Instrumente ein und ging zur Tür. »Bis heute abend«, sagte er noch, dann verließ er das Haus. Der junge Arzt wußte nicht, was er von diesem Erlebnis halten sollte. Wahrscheinlich hätte sich Janine Marulin aus dem Fenster gestürzt, hätte er sie nicht zurückgehalten. Doch dieses Fenster lag nur im ersten Stock, so daß es unwahrscheinlich war, daß sie dabei ums Leben kam. Wie paßte nun dieser Angriff der Geister der bei‐ den Mordopfer in das bisherige Bild, bei dem alles auf Janines Tod ausgerichtet gewesen war? Auch darauf wußte Dr. Roux vorläufig noch keine Antwort. Des‐ halb kümmerte er sich wieder um seine Patienten. Einige schickten ihn an der Haustür weg, als wäre er ein Fremder und nicht ihr Arzt. Und erst, als ihm jemand erklärte, daß ihn die eine Hälfte der Bevöl‐ kerung von Camarat für verrückt hielt, während ihm die andere Hälfte zustimmte, begriff er, was hier vor sich ging. Sie wußten, daß er an den Spuk in dem Haus auf den Klippen glaubte. Alle im Dorf waren informiert. »Das soll meine geringste Sorge sein«, sagte Dr. Roux zu sich selbst. Er dachte an Janine, die ihn viel mehr beschäftigte.
* Nach dem letzten Patientenbesuch verzichtete Dr. Roux darauf, wie sonst üblich ein Glas Wein im Cafe zu trinken. Die Leute starr‐ ten schon auffällig genug hinter ihm her, wenn er durch die Straßen fuhr. Er wollte nicht für einen Menschenauflauf sorgen, indem er sich an die Theke stellte. Nachdem er den Wagen in der Garage abgestellt hatte, ging er ins Haus hinüber und sofort in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Seit dem Morgen hatte er nichts mehr in den Magen be‐ kommen, und mittlerweile war es später Nachmittag. Er stieß die Küchentür auf und blieb verblüfft stehen. Der Duft von gebratenem Fleisch zog ihm entgegen. Auf dem Herd standen zwei Pfannen und zwei Töpfe, alle gefüllt und dampfend heiß. »Das ist der Spuk in deinem Haus, Pierre!« Hinter der Küchentür trat ein Mann hervor und schlug dem Arzt lachend auf die Schulter. »Dein Gesicht müßtest du jetzt sehen, Pierre!« »Armand!« rief der Arzt fassungslos. »Wieso bist du schon hier? Du mußt von Paris geflogen…« »Natürlich bin ich geflogen«, unterbrach ihn sein Freund von der Pariser Surete. »Heute nacht soll alles ein Ende finden, wenn ich dich am Telefon richtig verstanden habe?« Er ging an den Herd und arbeitete weiter, als wäre er in seiner ei‐ genen Küche in Paris. Dr. Roux stellte sich rasch auf die neue Situation ein. Sein Freund war ein leidenschaftlicher Hobbykoch, so daß sein Abendessen schon gerettet war und er sich darauf freuen konnte. Bis es allerdings mit dem Essen so weit war, schilderte Pierre Roux noch einmal alles ganz genau und ließ nichts aus. Sein Freund machte sich Notizen und verglich sie mit den Unterlagen, die er mitgebracht hatte. Endlich nickte er zufrieden. »Es sieht ganz so aus, als hättest du recht, Pierre«, meinte er.
»Deshalb werden wir jetzt einen gemeinsamen Plan für diese Nacht erstellen. Eines steht allerdings schon fest. Für den speziellen Schutz von Janine Marulin bist du verantwortlich. Einverstanden?« Dr. Roux nickte. Hätte sein Freund nicht von sich aus den Vor‐ schlag gemacht, hätte er es zur Bedingung gemacht, daß er sich um Janine kümmern sollte. Mit der Genauigkeit eines Feldherrn erstellte Dr. Roux’ Freund aus Paris den Plan für ihr weiteres Vorgehen. Der Arzt war mit allem einverstanden. Beide begingen den gleichen Fehler. Sie bedachten nicht, daß sie es nicht mit menschlichen Gegnern zu tun hatten, sondern mit Wesen, gegen die sie keine Waffen besaßen. Viel zu spät sollten sie erst auf diesen Fehler stoßen. * An diesem Tag setzte die Dämmerung früher ein. Der Himmel hatte eine bleigraue Farbe angenommen, ohne sich zu bewölken. Das strahlende Blau wirkte verwaschen, die untergehende Sonne verlor an Kraft. Am Horizont standen einige weiße Federwolken. Das Meer färbte sich fast schwarz. Es war eine bedrückende Stimmung, die auf Sturm und Unwetter hinwies. Die Einwohner von Camarat zogen sich in die Häuser zu‐ rück und schlossen die Fensterläden. Eltern holten ihre Kinder he‐ rein, die Haustiere verkrochen sich. Auch in dem Haus auf dem Felsen war vorläufig Ruhe eingekehrt. Nach dem letzten Zwischenfall, bei dem Dr. Roux sie gerettet hatte, war Janine in ihrem Zimmer geblieben und hatte sich auf die Couch gelegt. Jean hatte ihr angeboten, sie ins gemeinsame Schlafzimmer zu bringen, doch sie hatte darauf bestanden, den speziell für sie ein‐ gerichteten Raum nicht zu verlassen. Nachdem Jean sich davon überzeugt hatte, daß sie schlief, ging er nach unten und nahm sich einen Cognac. Er trank gerade den ersten
Schluck, als es klingelte. Das war bestimmt Dr. Roux, dachte er, stellte das Glas ab und lief in die Halle. Doch als er die Eingangstür öffnete, sah er im schwindenden Licht des Tages eine elegant ge‐ kleidete, ihm völlig unbekannte Frau vor sich stehen. Große bern‐ steinfarbene Augen musterten ihn neugierig, ein sinnlicher Mund wölbte sich zu einem anerkennenden Lächeln. Die hoch angesetzten Backenknochen und die leicht schräg stehenden Augen gaben dem Gesicht der Frau etwas Rassiges, gleichzeitig auch Geheimnisvolles. Das leichte Sommerkleid wirkte auf den ersten Blick ungemein schlicht, auf den zweiten Blick erkannte man den Pariser Mode‐ schöpfer. Es umspielte den schlanken, gut gebauten Körper der Frau, schmiegte sich an die Brüste und schlang sich schwungvoll um die Hüften. »Wenn Sie mich lange genug betrachtet haben, könnten Sie mir verraten, ob Sie Jean Marulin sind«, sagte die Frau mit einer rauchi‐ gen Stimme, die Jean unter die Haut ging. Er nickte, grinste und rührte sich nicht von der Stelle. »Allerdings bin ich Jean Marulin«, meinte er. »Und wenn Sie lange genug ge‐ heimnisvoll gelächelt haben, könnten Sie mir verraten, wer Sie sind, Mademoiselle!« »Madame«, verbesserte sie ihn. »Madame Chantal Leceur. Wollen Sie mich hier draußen stehen lassen?« Verblüfft musterte Jean noch einmal die Frau, dann gab er den Eingang frei. »Ich hatte keine Ahnung, daß Sie kommen wollen, Madame Leceur«, murmelte er. »Sagen Sie Chantal, ich nenne Sie Jean, das vereinfacht alles.« Chantal Leceur betrat die Halle und blickte sich interessiert um. »Ich habe nämlich die Absicht, die nächste Zeit hier zu bleiben. Ich glau‐ be, Janine braucht mich dringend. Nichts gegen Sie, Jean, aber in manchen Situationen brauchte eine Frau eine Freundin und keinen Ehemann.« Jean fühlte sich überrumpelt. Chantal hatte sich im Wohnzimmer häuslich niedergelassen, ehe er sie dazu einladen konnte. Sie nahm
es als selbstverständlich hin, daß sie bleiben konnte. »Meine Koffer sind draußen im Wagen, Jean«, sagte sie, als hätte sie ihren Butler vor sich. »Wo ist eigentlich Janine?« erkundigte sie sich, während sie sich selbst aus der Cognacflasche bediente. »Ist sie wieder auf dem Damm?« »Sie schläft«, gab Jean verbissen zurück, ging gehorsam hinaus und holte aus einem schneeweißen Sportwagen zwei Schweinsle‐ derkoffer. Als, er das Haus wieder betrat, prostete ihm Chantal fröh‐ lich zu. »Janine wird sich sicher freuen, daß ich hier bin!« behauptete sie. »Sie haben am Telefon von einem Arzt gesprochen, Jean. Ist das ein Nervenarzt?« »Es ist nur der Arzt aus Camarat«, gab Jean zu. »Aber er ist sehr gut und hat auf Janine einen beruhigenden Einfluß. Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer, Chantal.« Mit den Koffern in den Händen schleppte er sich die Treppe hi‐ nauf in den ersten Stock. »Hier ist unser Schlafzimmer, und da hat sich Janine ein Zimmer eingerichtet«, erklärte er seiner Besucherin. »Im Moment schläft sie in ihrem eigenen Zimmer. Und dort drüben werden Sie wohnen!« Chantal redete ununterbrochen, während er die Koffer absetzte und ihr alles zeigte. »Vor allem muß sie von der fixen Idee geheilt werden, daß es spukt«, meinte sie. »Dieser Nervenarzt…« »In diesem Haus spukt es wirklich, Chantal«, erklärte Jean tro‐ cken. »Janine ist nicht verrückt.« Chantal Leceur verschlug es zum erstenmal die Sprache. Sie schnappte nach Luft, dann stemmte sie die Fäuste in die Seiten. »Sie wollen sich über mich lustig machen, Jean!« rief sie empört. »Janines Krankheit ist viel zu ernst, daß man Witze darüber machen könnte!« »Ich mache keine Witze«, erklärte Jean, der kurz vor einer Explo‐ sion stand, ganz leise, verließ das Gästezimmer und knallte hinter sich die Tür zu.
»Flegel!« zischte Chantal wütend und blickte sich im Raum um. Das alte Landhaus war prachtvoll eingerichtet, das hatte sie auf den ersten Blick gesehen. Auch das Gästezimmer wies einige besonders schöne Stücke auf, darunter eine eisenbeschlagene Truhe. Chantal strich mit den Fingern über die Truhe und versuchte, ob sich der Deckel anheben ließ. Er klappte zurück. Kaum hatte sie einen Blick in das Innere der Truhe geworfen, als sie einen spitzen Schrei ausstieß und zurücktaumelte. »Jean! Schnell, Jean!« schrie sie. Im nächsten Moment preschte Jean in den Raum. Er blieb verblüfft stehen, als er sah, daß Chantal keine Gefahr drohte. »Was ist denn?« rief er hastig. »Was haben Sie?« »Was ich habe?« Chantal blickte ihn aus unnatürlich geweiteten Augen an. »Sehen Sie doch selbst! Wie können Sie fragen, war‐ um…« Sie deutete auf die offene Truhe. Am ganzen Körper zitternd, konnte sie sich kaum aufrecht halten. Jetzt warf sie wieder einen Blick in die Truhe. Jean beobachtete, wie sich ihre Haltung veränderte. Das Zittern war plötzlich verschwunden, sie ließ den Arm sinken. »Das gibt es doch gar nicht«, murmelte sie fassungslos. »Jean, ich habe die Truhe geöffnet und darin Janines Leiche gesehen! Ich schwöre es Ihnen, es war Janine! Ich bin da ganz sicher! Aber jetzt… jetzt ist sie weg.« Jean zuckte die Achseln. In seinem Gesicht war nicht zu erkennen, was er in diesem Moment dachte. »Ich habe Sie gewarnt, Chantal«, sagte er ruhig. »In diesem Haus spukt es.« Als er die Tür von außen leise schloß, ließ sich Chantal Leceur fas‐ sungslos auf das Bett sinken. So blieb sie sitzen, bis es so dunkel geworden war, daß sie das Licht einschalten mußte. Als sie jetzt noch einen Blick in die leere Truhe warf, wußte sie selbst nicht mehr, ob sie vorhin tatsächlich Janines Leiche gesehen
hatte oder nicht. »Ich will Janine helfen, und dabei drehe ich selbst durch«, mur‐ melte Chantal Leceur und betrachtete besorgt ihr Gesicht im Spiegel. »In was für ein Haus bin ich da geraten?« * Bevor sie sich auf den Weg zu dem einsamen Haus auf den Klip‐ pen machten, wollten Dr. Roux und sein Freund aus Paris noch ein Glas Wein trinken. Der Arzt hielt seinen Wagen vor dem Cafe an und stieg aus. Armand blickte sich kopfschüttelnd um. »Ehrlich gesagt, ich habe nie begriffen, wieso du hierher gezogen bist«, meinte er. »Ein erfolgreicher Arzt in Paris, der alles aufgibt und in dieses Dorf geht.« »Ich fühle mich hier einfach wohl, das ist alles«, antwortete Pierre Roux einsilbig und betrat das Cafe. Sofort verstummten alle Gespräche. Die Männer wandten die Köp‐ fe und betrachteten schweigend den Arzt und’ seinen Begleiter. Die meisten Gesichter drückten nur Neugierde, einige aber auch Ableh‐ nung und Feindseligkeit aus. »Sehr gemütlich, Pierre«, sagte Armand laut. »Ja, ich kann verste‐ hen, daß du dich hier wohl fühlst.« Sie gingen an die Theke, wobei der Arzt es vermied, seine Mitbür‐ ger anzusehen. Er war wütend auf sich selbst, daß er so unvorsichtig gewesen war, am Telefon offen über das Spukhaus zu sprechen. Seither mieden ihn die Leute, obwohl sie sich selbst Spukgeschich‐ ten erzählten. Der Wirt schenkte zwei Gläser voll und schob sie über die Theke. Während sie tranken, verließen die übrigen Gäste nach und nach das Cafe. »Soll ich ihnen sagen, wer ich bin?« fragte Armand leise. Pierre Roux schüttelte den Kopf. »Das würde nichts ändern«, gab er genauso leise zurück. »Von diesen Leuten können wir uns keine
Hilfe erhoffen.« Armand bezahlte, sie verließen das Cafe und stiegen wieder in den Wagen. Die Männer des Dorfes lehnten an den Hauswänden oder standen in kleinen Gruppen beisammen. Der Arzt und sein Begleiter konnten leicht erraten, worum sich die Gespräche drehten. Unterwegs schlug Pierre Roux wütend mit der Hand auf das Lenkrad. »Keine Ahnung haben sie!« rief er aus. »Gerüchte treten sie breit, aber wenn jemand wirklich etwas erlebt hat, das wollen sie nicht wissen.« »Du solltest dich lieber auf deine Aufgabe konzentrieren«, mahnte sein Freund. »Es wird hauptsächlich von dir abhängen, daß der jun‐ gen Frau nichts passiert.« Bei dem Gedanken an Janine Marulin beruhigte sich der Arzt. Ihre Prophezeiung, daß sich ihr Schicksal in diesem Haus erfüllen mußte, fiel ihm wieder ein. Hoffentlich behielt sie nicht recht. Der Wagen holperte über die schmale Zufahrtsstraße entlang des Abgrundes, der Dr. Roux beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Die Lichter des Hauses kamen in Sicht. Es war bereits so dunkel, daß sich das alleinstehende Gebäude mit den Palmen und Pinien kaum noch vom Himmel abhob. »Ein herrlicher Besitz«, meinte Armand bewundernd. »Laß mich jetzt aussteigen.« Der Wagen hielt für einen Moment. Armand glitt ins Freie und verschwand in der Dunkelheit, während Dr. Roux weiterfuhr. Als er vor dem »verfluchten« Haus hielt, war die letzte, Nacht angebro‐ chen, die Nacht der Entscheidung. * Chantal Leceur war über die Veränderung, die mit Janine vor sich gegangen war, entsetzt. Sie ließ es sich zwar nicht anmerken, als sie ihre Freundin wiedersah, aber es versetzte ihr einen Schock. Janine war apathisch geworden, müde, schlaff. Sie schien es nicht einmal
wahrzunehmen, daß ihre Freundin gekommen war. Als Jean in die Küche ging, um einen Imbiß vorzubereiten, kam Chantal hinter ihm her. »Sie müssen sofort etwas unternehmen!« verlangte sie. »Janine ist nur mehr ein Schatten ihrer selbst!« »Sie lehnt jede Hilfe ab«, erwiderte er achselzuckend. »Was soll ich mit ihr tun? Sie mit Gewalt fortschaffen?« »Notfalls tun Sie das!« Chantal war außer sich. »Ich erkenne Janine kaum wieder!« »Dr. Roux wird bald kommen«, kündigte Jean an. »Sprechen Sie mit ihm und mit Janine. Vielleicht gelingt es Ihnen, Janine wegzub‐ ringen. Wir haben es jedenfalls vergeblich versucht.« »Und ob ich etwas unternehmen werde!« rief Chantal heftig und ging wieder in den Wohnraum hinüber, in dem Janine teilnahmslos auf einem Sessel kauerte. Chantal bemühte sich um ihre Freundin, die jedoch nicht reagierte. Jean kam aus der Küche, als es klingelte, und öffnete. »Dr. Roux! Wir haben schon auf Sie gewartet!« Der Arzt schob sich an ihm vorbei in die Halle und zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Sie haben Besuch?« fragte er. »Dann bin ich überflüssig.« »Das ist Chantal Leceur, die Besitzerin der Jacht«, erklärte Jean und machte die beiden miteinander bekannt. Dr. Roux achtete wenig auf Janines Freundin, sondern mehr auf sie selbst. Sie befand sich in einem schrecklichen Zustand, in dem ihr alles zuzutrauen war. Er mußte sie besonders scharf im Auge behalten, sonst ließ sie sich zu einer Verzweiflungstat hinreißen. Jean brachte eine kalte Platte aus der Küche. Alle griffen zu, nur Janine war nicht dazu zu bewegen. Auch als Chantal hinterher ein Kartenspiel vorschlug, beteiligte sie sich nicht. Dr. Roux sprach sie mehrmals an, ohne eine Antwort zu erhalten. Immer wieder blickten er und Jean verstohlen auf die Uhr. Das Kartenspiel schleppte sich einsilbig dahin, bis sich Dr. Roux für kur‐
ze Zeit entschuldigte. Es war ihm aufgefallen, daß vor der Terrasse eine seltsame Dun‐ kelheit lag, die nichts mit der Finsternis der Nacht zu tun hatte. Normalerweise sah man den Widerschein der Lichter der Küstenor‐ te und erblickte draußen auf dem Meer die Positionslampen vorü‐ berfahrender Schiffe. Als der Arzt auf die Terrasse trat, fand er seine Vermutung bestä‐ tigt, daß etwas nicht mit rechten Dingen vor sich ging. Er konnte überhaupt nichts sehen, was sich außerhalb der Terrasse befand, als habe jemand eine undurchsichtige Glocke über das Haus gestülpt. »Marulin!« rief er ins Wohnzimmer hinein. Jean erhob sich und kam zu ihm. Pierre Roux brauchte nichts zu erklären. Jean sah selbst, was los war. »Gefangen«, murmelte er niedergeschlagen. »Glauben Sie, daß wir noch eine Chance haben?« »Sie ganz bestimmt«, erwiderte Dr. Roux, ohne den Hausherrn an‐ zusehen. »Denn wer oder was immer hinter allem steckt, hat es nur auf Ihre Frau abgesehen. Janine ist das Opfer.« Jean Marulin protestierte nicht dagegen, daß der Arzt seine Frau beim Vornamen nannte. Wortlos wandte er sich ab und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo sich Chantal erfolglos um Janine bemühte. * Eine halbe Stunde vor Mitternacht erreichte die Spannung einen Höhepunkt. Sie hörten auf, Karten zu spielen, und saßen schwei‐ gend herum. Jeder wartete darauf, daß etwas passierte. Sie zuckten beim kleinsten Geräusch zusammen. Das Bewußtsein, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, zerrte an ihren Nerven. Dr. Roux ging in die Halle und probierte das Telefon. Es war wie in der vergangenen Nacht tot. Schon bevor er versuchte, die Wagen zu starten, wußte er, daß sie nicht einsatzbereit waren. Die Geister des Mordhauses sorgten dafür, daß ihre Opfer nicht entkommen konn‐
ten. Besorgt dachte Pierre Roux an seinen Freund aus Paris, der sich bisher vor dem Haus aufgehalten hatte. Nach ihrer Vereinbarung sollte er sich jetzt in unmittelbarer Nähe befinden. Es war wichtig, daß er rechtzeitig eingriff, sonst scheiterte der ganze Plan, den sie sich für Janines Rettung zurechtgelegt hatten. »Ich halte dieses Warten nicht mehr aus!« rief Chantal plötzlich, sprang auf und lief zur Terrassentür. Mit starren Augen blickte sie in die unnatürliche, absolute Dunkelheit hinaus. »Warum unter‐ nimmt denn niemand etwas dagegen?« »Ich habe etwas unternommen«, sagte Dr. Pierre Roux. Erstaunt drehten sich alle zu ihm um. Auch Janine löste sich für Sekunden aus ihrer Erstarrung und, wandte ihm den Blick zu. Dann versank sie jedoch sofort wieder in Apathie. »Sie haben etwas unternommen, Doktor?« wiederholte Jean Maru‐ lin verblüfft. »Gegen den Spuk?« »Nicht nur dagegen.« Dr. Roux warf einen nervösen Blick auf sei‐ ne Uhr. Eigentlich hätte Armand schon hier sein sollen. Er konnte jedoch nicht länger warten, sondern mußte beginnen, sonst brach die Geisterstunde an, bevor er alles gesagt hatte. »Ich habe von An‐ fang an nicht daran geglaubt, daß es so etwas wie ein Spukhaus gibt.« »Aber inzwischen haben Sie sich doch davon überzeugt, daß es in diesem Haus wirklich Geister gibt«, fiel Jean ein. »Als ich zum erstenmal hörte«, fuhr der Arzt fort, ohne auf den Zwischenruf einzugehen, »was in diesem Haus passiert ist, rief ich einen Freund an. Ich schilderte ihm alles, beschrieb ihm das Haus und die darin lebenden Personen und bat ihn, sich überall zu er‐ kundigen. Ich wollte wissen, was das alles zu bedeuten hat.« »Ich verstehe Sie nicht, Doktor«, unterbrach ihn Chantal. »Glaub‐ ten Sie nun an den Spuk oder nicht?« »Zuerst nicht«, gab Roux zu. »Deshalb setzte ich mich mit meinem Freund in Verbindung. Jetzt weiß ich, daß es wirklich Geister sind,
die Madame Marulin quälten.« Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte ein zusammenge‐ faltetes Stück Papier hervor, hielt es kurz hoch und faßte seine Zu‐ hörer ins Auge. Auch Janine war jetzt hellwach und folgte ihm ge‐ spannt. »Im Jahr 1967 brachte sich in Reims eine junge Frau um«, erklärte der Arzt. »Ich habe hier insgesamt die Namen von neun Frauen, die seit 1967 Selbstmord begangen haben.« »Doktor!« fuhr Jean auf. »Halten Sie es für richtig, vor meiner Frau solche Dinge zu besprechen?« »Sie meinen, weil Madame ebenfalls einen Selbstmordversuch un‐ ternommen hat?« Dr. Roux schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht vergessen, deshalb lese ich auch die Liste vor.« Nacheinander nannte er alle neun Namen, las das Todesdatum von seiner Liste ab und fügte auch hinzu, wo die Frauen gelebt hat‐ ten und gestorben waren. »Was soll das alles?« fragte Jean Marulin zitternd, als Dr. Roux endlich mit der Liste fertig war. »Warum erzählen Sie uns das al‐ les?« »Weil es viele Gemeinsamkeiten gibt«, antwortete der Arzt. »Und weil ich vermute, daß Madame Marulin die Nummer zehn dieser Liste werden sollte.« * Jean Marulin und Chantal Leceur sprangen auf und redeten gleichzeitig auf den Arzt ein, der gelassen sitzen blieb. Er schielte nur immer wieder nach seiner Uhr. Die Zeiger näherten sich be‐ drohlich Mitternacht. Nicht mehr lange, dann brach die Geister‐ stunde an, und er hatte seinen Plan noch nicht ausgeführt. Erst nach einiger Zeit könnte er sich wieder Gehör verschaffen. »Es gibt Übereinstimmungen zwischen den einzelnen Fällen«, wie‐ derholte er. »Alle diese Frauen haben kurz vor ihrem Tod ein neu
erworbenes Haus bezogen. Und in allen diesen Häusern hatte sich irgendwann in der Vergangenheit ein Mord ereignet. Fast alle dieser Frauen haben zu Verwandten oder Freunden von Geistern oder schaurigen Gestalten gesprochen, die sie verfolgten.« Betroffen sahen Jean und Chantal einander an. Dr. Roux seiner‐ seits beobachtete Janine. Sie konnte sich nicht ganz aus ihrem geiste‐ sabwesenden Zustand lösen, aber sie bemühte sich sichtlich, das Gehörte zu verarbeiten. »Das ist allerdings eine Überraschung«, meinte Jean, »Sie glauben, daß immer in Mordhäusern…« »Nicht immer, sondern nur unter bestimmten Bedingungen«, ver‐ besserte ihn der Arzt. »Nur wenn die Geister beschworen werden, dann…« Chantal stieß einen grellen Schrei aus, als ein Mann auf der Terras‐ se auftauchte und in den Wohnraum trat. »Beruhigen Sie sich!« rief Dr. Roux. »Das ist mein Freund aus Pa‐ ris, an den ich mich um Hilfe gewandt habe. Commissaire Armand Frechelle von der Surete.« Die Verblüffung wuchs. Chantal, die sonst nicht so leicht verlegen wurde, wußte nichts zu antworten. Und Jean rührte sich nicht aus seinem Sessel. »Dr. Roux hat vorhin etwas vergessen«, sagte Commissaire Fre‐ chelle. »Es gibt nämlich noch einen Punkt, der in allen Selbstmord‐ fällen übereinstimmt. Alle diese Frauen waren wohlhabend bis reich. Und alle hatten kurz vor ihrem Tod geheiratet. Ich habe mir die Beschreibungen der Ehemänner besorgt, und sie stimmen alle überein. Wir haben es mit einem einzigen Mann zu tun, der unter falschem Namen eine nach der anderen geheiratet und sie später beerbt hat.« Der Commissaire legte eine kurze Pause ein, in der er die Anwe‐ senden genau musterte. Janine hatte sich halb aufgerichtet. Ihre Au‐ gen funkelten jetzt angespannt. »Außerdem können wir annehmen, daß dieser Mann dafür ver‐
antwortlich ist, daß die Frauen durch Geister gepeinigt und in den Tod getrieben wurden«, fuhr der Commissaire fort. »Übrigens; Monsieur Marulin, die Beschreibung dieses vielfachen Ehemannes paßt haargenau auf Sie! Was haben Sie dazu zu sagen?« Janine stieß einen Schrei aus und starrte entsetzt auf ihren Mann. Jean hatte sich hervorragend in der Gewalt, er schüttelte nur lä‐ chelnd den Kopf. Chantal und Dr. Roux warteten atemlos darauf, was jetzt geschehen würde. »Das sind doch nur Vermutungen, Monsieur le Commissaire«, erwiderte Jean. »Sie haben sich eine Theorie zurechtgelegt, für die es keine Beweise gibt.« »Nein, keine Beweise?« Commissaire Frechelle zog drei Fotos aus seiner Tasche und hielt sie hoch. »Bilder von Monsieur Haussman, dessen Frau sich in Lyon umbrachte, von Monsieur Chantil, Paris und Monsieur Verley, Brest. Ich finde, Sie sehen diesen drei Män‐ nern zum Verwechseln ähnlich. Sie hätten sich nie fotografieren las‐ sen dürfen.« Er warf die Fotos auf den Tisch und trat einen Schritt näher an Jean heran. »Wollen Sie mich jetzt verhaften?« fragte Jean Marulin grinsend. Er ließ die Maske fallen. »Sie haben nichts gegen mich in der Hand. Gut, ich habe meinen Namen oft geändert und mit falschen Papie‐ ren geheiratet, aber dafür bekomme ich nicht viel. Meine armen Ehefrauen haben alle stets Selbstmord begangen, das steht einwand‐ frei fest. Ich habe nichts mit ihrem Tod zu tun!« Dr. Roux schnellte hoch und trat auf Marulin zu. »Sie haben die Häuser ausgesucht, in denen einmal ein Mord stattgefunden hatte!« schrie er Marulin an. »Und Sie haben die Geister der Mordopfer und der Mörder beschworen, um ihre Frauen vor Angst in den Tod zu treiben. Genauso, wie Sie es bei Janine versucht haben.« »Das müßten Sie erst einmal vor Gericht beweisen, Doktor!« rief Jean höhnisch aus. »Ich glaube nicht, daß Ihnen ein Richter das glauben würde!«
»Warum eigentlich immer der Umweg über Selbstmord?« warf Commissaire Frechelle ein. »Wieso haben Sie nicht einfach den Geis‐ tern den Auftrag gegeben, Ihre Frauen zu töten?« »Und wieso verfügen Sie überhaupt über die Fähigkeiten, Geister zu beschwören?« warf Chantal ein. Jean zuckte die Schultern, als unterhielten sie sich über ein harm‐ loses Thema. »Woher meine Fähigkeiten stammen, weiß ich selbst nicht. Weshalb Selbstmorde, Monsieur le Commissaire? Sehr ein‐ fach! Bei einem Selbstmord gibt es keinen Verdacht gegen den Ehe‐ mann, bei einem Mord aber schon. Die Polizei hätte mich viel ge‐ nauer beobachtet und bei meinem nächsten Unternehmen gestört.« »Wir haben alle Ihr Geständnis gehört«, rief Chantal. »Wir können es vor Gericht beschwören, Jean!« Plötzlich stand Janine auf und trat dicht vor ihren Mann hin. »Fühlt euch nur nicht zu sicher«, sagte sie mit brüchiger Stimme. »Ich habe ihn erkannt, dieses Scheusal. Er gibt sich noch nicht ge‐ schlagen.« »Sehr richtig, Cheri!« Jean Marulin – oder wie immer sein richtiger Name lautete – lachte schallend auf. »Ursprünglich wollte ich nur dich und den Doktor sterben lassen, weil er zu viel weiß, aber jetzt muß leider auch Madame Leceur daran glauben. Und Sie, Monsieur le Commissaire, selbstverständlich auch.« Commissaire Frechelle hob die Pistole, die er unauffällig gezogen hatte. Der Lauf zeigte auf Jean Marulin. »Sie werden gar nichts mehr tun«, sagte er scharf. »Nehmen Sie die Hände hoch!« Im nächsten Moment ertönte ein ohrenbetäubender Donnerschlag. In dem einsamen Haus auf den Klippen brach die Hölle los. * Der Boden wankte und bebte. In den Mauern bildeten sich breite Risse.
»Schießen Sie doch, Monsieur le Commissaire!« rief Jean Marulin höhnisch und deutete auf die Waffe in Frechelles Hand. »Versuchen Sie es! Es nützt Ihnen doch nichts, Sie sind verloren! Und die ande‐ ren auch!« Rings um das Haus zuckten die Blitze nieder. Eine Feuerwand umgab das Gebäude. Unter den unausgesetzten Donnerschlägen schwankten die Möbel und schwangen die Lampen hin und her. Das Haus erzitterte in seinen Grundfesten. »Zuerst lasse ich euch alle umbringen!« überschrie Jean den Lärm. »Danach stürzt das Haus mit dem ganzen Felsen in die Tiefe. Die Leute werden glauben, daß ich unter den Opfern bin. Es gibt keine Zeugen, und ich bin wieder frei!« Beschwörend hob er die Hände und schloß die Augen. Trotz des Donnerrollens hörten sie den eintönigen Singsang, den Marulin ans‐ timmte. »Hören Sie sofort auf, oder ich schieße!« schrie der Commissaire. »Marulin, ich meine es tödlich ernst!« Doch Jean kümmerte sich nicht um ihn. Unter seinen Beschwö‐ rungen begann das Haus zu schwanken. Die Risse in den Wänden verbreiterten sich. Commissaire Frechelle legte an, zielte auf Jean Marulin und ließ mutlos die Waffe sinken, als Marulin nicht reagierte. Dr. Roux schnellte sich auf Marulin und wollte ihn aus seiner Trance reißen, aber er kam gar nicht an ihn heran. Bevor er nämlich Marulin er‐ reichte, prallte er gegen eine unsichtbare Mauer und wurde zurück‐ geschleudert. Stöhnend brach er zusammen und blieb benommen auf dem Boden liegen. Jetzt gab es für Commissaire Frechelle kein Zögern mehr. Er hob seine Pistole, zielte auf den rechten Fuß und drückte ab. Der Schuß löste sich, doch die Kugel schlug in die Decke ein, obwohl der Lauf zum Boden zeigte. Frechelle versuchte es noch zweimal, ohne Maru‐ lin zu treffen. Wütend schleuderte er seine Pistole von sich und kniete sich ne‐
ben den Arzt, der sich langsam wieder aufrichtete. »Was sollen wir tun, Pierre?« rief er eindringlich. »Marulin ist un‐ verwundbar!« Pierre Roux schüttelte ratlos den Kopf. »Ich weiß es nicht«, flüster‐ te er. »Ich weiß es wirklich nicht.« Er kam torkelnd auf die Beine und probierte es an der Vordertür. Sie ließ sich nicht einen Zentimeter bewegen, als wäre sie durch ei‐ nen mächtigen Felsblock versperrt. Als er versuchte, über die Ter‐ rasse zu entkommen, stellten sich ihm vier schemenhafte Gestalten entgegen. Commissaire Frechelle und die beiden Frauen, die ihm gefolgt waren, prallten zurück, als sie die Erscheinungen sahen. Auf der Terrasse standen die blutüberströmten Gestalten des Ehe‐ paares Mabelais und die beiden schwarzgekleideten Mörder. Jean Marulins unheimliche Kräfte hatten sie herbeigerufen. * Marulin wollte sich durch das Wohnzimmer und die Halle zur Eingangstür zurückziehen. Dr. Roux erkannte, daß sie alle verloren waren, sobald Marulin das Haus verlassen hatte. Solange er sich selbst darin befand, mußte er verhindern, daß es mitsamt dem Fel‐ sen in die Tiefe stürzte. Doch sobald er im Freien war, würde er sei‐ ne übersinnlichen Kräfte einsetzen, um das Haus und alle darin be‐ findlichen Personen zu vernichten. Bevor Jean Marulin die Halle erreichte, versperrte ihm der Arzt den Weg. Marulin winkte mit der rechten Hand. Voll Entsetzen sah Dr. Roux einen der schwarzgekleideten Mörder auf sich zukommen. Er wich zurück und stellte sich so, daß sich Marulin zwischen ihm und dem Mörder befand. Marulin ging nicht weiter, sondern ver‐ suchte irritiert, der Schauergestalt auszuweichen. Aus den Augenwinkeln heraus sah Dr. Roux, daß sich die blut‐ überströmten Erscheinungen der Mordopfer Janine und Chantal näherten, während der zweite Mörder auf Commissaire Frechelle
zuging. Dann sprang Pierre Roux erneut auf Marulin los. Diesmal wurde er nicht durch eine unsichtbare Mauer aufgehalten. Marulin hatte offenbar vergessen, sich selbst gegen Angriffe zu schützen. Er versetzte dem Mann einen harten Stoß, der ihn gegen den schwarzgekleideten Mörder schleuderte. Marulin schrie erschrocken auf und stürzte zu Boden. Der Mörder griff ihn zwar nicht an, kümmerte sich aber auch nicht weiter um Dr. Roux, der hastig die Liste mit den Namen der Selbst‐ mörderinnen aus seiner Jacke zog. Er wußte selbst nicht, was er sich davon versprach, als er die Liste hoch in die Luft hielt. »Seht alle her!« überschrie er das Krachen des Donners. »Hier! Diese Frauen leben nicht mehr! Dieser Mann hier hat sie in den Tod getrieben!« Verzweifelt steigerte er seine Lautstärke, als niemand auf ihn acht‐ ete. Weder die Erscheinungen noch die lebenden Menschen im Raum kümmerten sich um ihn. »Marulin ist ein Mörder, der die Geister von Verstorbenen be‐ nützt, um Geld zu raffen!« schrie Dr. Roux weiter. »Er ist ein ganz gemeiner Mörder!« Jean Marulin raffte sich mit einem zynischen Lächeln auf und be‐ trachtete den Arzt verächtlich. »Sie schaffen es nicht, Doktor«, rief er. »Geben Sie auf! Weder Sie noch Ihre Freunde kommen lebend aus diesem Haus heraus.« Pierre Roux hielt mit beiden Händen die Liste der Selbstmörderin‐ nen. »Neun Frauen, Marulin!« zischte er. »Sie kommen nicht straflos davon! Odile Vincent ist ebenso durch Ihre Schuld gestorben wie Monique Haussman oder Madame Chantil!« Er hatte die Namen kaum ausgesprochen, als ein mehrfacher Schrei ertönte. Auch Marulin schrie auf. Er starrte über die Schulter des Arztes hinaus auf die Terrasse.
Erschrocken wirbelte Dr. Roux herum und taumelte einen Schritt zurück, als er sah, was auf der Terrasse vor sich ging. Neben den blutigen Gestalten der Mordopfer dieses Hauses waren drei andere Gestalten entstanden, Frauen, die er noch nie gesehen hatte. »Das ist Monique Haussman«, rief Commissaire Frechelle und zeigte auf eine der drei Frauen. »Ich habe ihr Foto gesehen! Das ist sie ganz bestimmt!« Pierre Roux fuhr zu Jean Marulin herum. Wenn das stimmte, was der Commissaire behauptete, dann waren jene Opfer Marulins er‐ schienen, deren Namen er genannt hatte. Ein einziger Blick auf Marulin bestätigte seine Vermutung. Der Mann war kreidebleich geworden und starrte auf die Terrasse hi‐ naus. Er dachte überhaupt nicht mehr an Flucht, sondern preßte sich zitternd gegen die Wand. Dr. Roux entfaltete mit bebenden Fingern die Liste. Mit lauter Stimme nannte er die Namen der übrigen Opfer. Jedesmal stieß Ma‐ rulin einen erstickten Schrei aus, und als Roux die Augen hob, stan‐ den alle genannten Frauen auf der Terrasse. Marulins magische Fähigkeiten hatten die Geister der Mordopfer dieses Hauses beschworen. Sie hatten aber auch ausgereicht, um die Geister von Marulins Opfern herbeizurufen. »Helft mir doch!« schrie Marulin auf. »Seht ihr denn nicht, daß sie mich töten wollen?« Das Licht erlosch im ganzen Haus. Nur von den neun Geisterwe‐ sen ging ein schwaches Leuchten aus, so daß Pierre Roux und die anderen die einzelnen Gegenstände im Raum erkennen konnten. »Hilfe!« brüllte Jean Marulin noch einmal auf, als sich die neun Spukgestalten in Bewegung setzten. »Schützt mich vor ihnen!« Die Geister schwärmten aus. Sie drängten sogar die blutigen Er‐ scheinungen des Ehepaares Mabelais und der schwarzgekleideten Mörder zurück und schoben sich näher an Marulin heran. Er wollte zur Vordertür fliehen, aber eine der Erscheinungen
schnitt ihm den Weg ab. Er prallte mit dem Geist zusammen und brach mit einem grauenhaften Aufschrei in die Knie. Dr. Roux sprang auf Janine Marulin zu und packte sie am Arm. Commissaire Frechelle reagierte genau so schnell und faßte Chantal Leceur an der Hand. Sie zogen die beiden Frauen zur Terrassentür. Doch kurz vor der Terrasse weigerte sich Janine weiter zu gehen. Sie drehte sich noch einmal um und warf einen Blick auf ihren Mann zurück. Sie konnten nicht mehr viel von ihm sehen. Die Geister der neun Frauen stürzten sich auf ihn und deckten ihn mit ihren halb durch‐ sichtigen Körpern zu. Die einzelnen Bewegungen flossen ineinander über. Sie konnten nicht exakt feststellen, was mit Marulin geschah. »Wir müssen endlich gehen!« drängte Dr. Roux, der mit Schau‐ dern an die Prophezeiung dachte, daß das Haus in die Tiefe stürzen werde. »Es wird zu gefährlich!« In diesem Augenblick ließen die Geister von Jean ab. Sie lösten sich wie Nebelstreifen in Nichts auf und zerflossen. Zurück blieb der regungslose Leichnam Jean Marulins. Sie hatten ihn schrecklich zugerichtet. Mit einem erstickten Schrei brach Janine zusammen. Dr. Roux fing sie auf. »Weg hier!« zischte er dem Commissaire zu. Der Arzt hob die Ohnmächtige hoch und setzte mit ihr über die Terrasse, während der Commissaire Chantal Leceur hinter sich her‐ zog. Sie erreichten die Wagen, verteilten sich und starteten. Die Moto‐ ren sprangen beim ersten Versuch an. Dr. Roux erreichte als Erster die Hauptstraße und hielt an. Com‐ missaire Frechelle bremste Chantals Sportwagen hinter ihm und stieg aus. Die Erde erzitterte unter einem heftigen Stoß. Ohrenbetäubendes Krachen und Knirschen erfüllte die Luft. Schreckensstarr verfolgten sie, wie sich der gesamte Felsen mit
dem Haus neigte und im Zeitlupentempo kippte. Noch lange nachdem das Haus mitsamt dem Felsen in die Tiefe gestürzt war und die letzten Geräusche der Steinlawine verstummt waren, standen sie reglos auf der schmalen Bergstraße, bis Dr. Roux den Motor startete und den Wagen langsam in Richtung Camarat rollen ließ. Der Schrecken war vorbei, Janine Marulin gerettet. Der Mörder hatte das Schicksal erlitten, das er anderen zugedacht hatte. Der Spuk im Mordhaus war zu Ende. Dr. Roux beschloß, sich in der nächsten Zeit intensiv um Janine zu kümmern. Vielleicht wollte sie trotz allem die Cote d’Azur nicht verlassen, und dann bot sich sein Haus in Camarat geradezu an. Vielleicht war sie sogar damit ein verstanden. Sobald einige Zeit vergangen war, konnte er sie fragen. Er trat das Gaspedal fester durch und streifte Janine mit einem kurzen Blick. Er wollte dafür sorgen, daß dieses schreckliche Erlebnis doch noch ein gutes Ende fand. ENDE Brian Elliot ist der Autor des neuen Gespenster‐Krimis Der Alptraum‐Meister Der hochgewachsene junge Mann schloß das blonde Mädchen fest in die Arme. »Ich liebe dich, Sue«, flüsterte er. »Wann wollen wir heiraten?« »Bald, Liebling, bald«, antwortete Sue. Sie küßten sich im blühenden Parkgarten des Hotels Gaunod in einer abgelegenen Ecke. Von der Party auf der Tanzterrasse wehten Musik und Stimmengewirr herüber. Für das Liebespaar versank die
Umgebung. Da löste sich eine hagere Gestalt aus dem Schatten eines blühen‐ den Oleanderbusches. Der Mann trug ein weißes Hemd, eine schwarze Fliege um den Hals und eine schwarze Hose. Sein Gesicht war bleich und scharfgeschnitten. Besonders fielen darin die großen, dunklen, dämonischen Augen auf, die wie in einem geheimnisvol‐ len Feuer zu glühen schienen. Er sah aus wie der wandelnde Tod – und er brachte das Grauen… In acht Tagen erwartet Sie ein neuer Thriller aus der BASTEI‐ Gruselküche! Der Alptraum‐Meister Nächste Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler sowie im Bahn‐ hofsbuchhandel. Preis 1,20 DM.