Neal Davenport Coco und der Maya-Gott ERICH PABEL VERLAG KG-RASTATT/BADEN DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint vierwöchentlich...
14 downloads
899 Views
494KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Neal Davenport Coco und der Maya-Gott ERICH PABEL VERLAG KG-RASTATT/BADEN DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Copyright © 1979 by Neal Davenport Titelillustration Nikolai Lutohin Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300 A-5081 Anif Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich NACHDRUCKDIENST: Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1, Telefon (040) 3 01 96 29, Telex 02 161 024 Printed in Germany März 1979
2
Vergeblich kämpfte Isabel Najera gegen das unheimliche Verlangen an, das ihr Inneres erfüllte. Ihre Gier wuchs von Minute zu Minute. Das Fenster stand weit offen. Deutlich waren die armdicken Eisenstäbe zu sehen, die es für Isabel unmöglich machten, ins Freie zu gelangen. Mit beiden Händen krallte sie sich an den Stäben fest und starrte in den wolkenlosen Himmel. Der Mond war voll und hing wie eine gelbrote Käseglocke über ihr. Vom Mond gingen die geheimnisvollen Kräfte aus, die ihren Körper zum Beben brachten und ihn veränderten. Ihre Hände zitterten stärker, als sich die Metamorphose weiter ausbreitete. Isabels Finger waren nun halb durchsichtig geworden. Ihr hagerer Körper schien von innen her zu leuchten. Das bleiche Gesicht mit den rot glühenden Augen war unmenschlich verzerrt. Ihr weißes Haar schien ein eigenes Leben zu führen. Die Haare wirbelten durcheinander, als wären es Tausende von kleinen Schlangen. Wütend rüttelte sie an den Stäben und entwickelte dabei schier übermenschliche Kräfte, die aber trotzdem nicht ausreichten, um die Eisenstäbe zu verbiegen. Fauchend trat sie einen Schritt zurück. Das Zimmer war völlig leer. Die hohe Eisentür war abgesperrt. Sie war eine Gefangene – eine Gefangene im Haus ihres Vaters. 3
Sie verfluchte ihren Vater, der angeordnet hatte, daß sie bei Vollmond in diesem Zimmer gefangen gehalten werden sollte. Isabel war die einzige Vampirin in ihrer Sippe. Eine der Frauen ihres Vaters war eine Vampirin gewesen. Und aus dieser Verbindung war sie entsprungen, ein unheimliches Geschöpf, das bedauerlicherweise nicht die Fähigkeiten ihrer Mutter geerbt hatte. Sie konnte sich nicht in eine Fledermaus verwandeln; doch die Gier nach Blut beherrschte in Vollmondnächten ihren Körper und schaltete jedes logische Denken bei ihr aus. Bis vor drei Monaten hatte sie noch ihrer Gier hemmungslos frönen dürfen. Voller Lust erinnerte sie sich daran, wie sie durch die nächtlichen Straßen geschlichen war und auf Opfer gelauert hatte. Aber in ihrem Verlangen war sie zu weit gegangen. Sie hatte sich nicht damit begnügt, ihren Opfern ein wenig Blut auszusaugen, sondern sie hatte sie getötet. Fünf in einer einzigen Nacht. Sie drehte den Kopf zur Seite und fletschte die blutleeren Lippen. Deutlich waren die scharfen Vampirzähne zu sehen. Als sie ein Geräusch an der Tür hörte, wirbelte sie herum und lief auf sie zu. Die kleine Fensteröffnung in der Tür wurde zurückgezogen. „Wie geht es dir, Isabel?“ fragte ihr Bruder Ramon. Isabel stieß ein wildes Fauchen aus und 4
schlug mit den Fäusten an die Tür. „Geh sofort zurück zum Fenster!“ sagte Ramon scharf. „Ich habe ein Opfer für dich.“ Knurrend zog sich die Vampirin zurück. Geduckt blieb sie vor dem Fenster stehen. Ihre Augen glühten stärker. Sie hörte das Zurückziehen des Riegels, dann das Drehen des Schlüssels im Schloß. Geräuschlos wurde die Tür geöffnet. Gierig fletschte Isabel das Raubtiergebiß, und ein heiseres Seufzen kam über ihre schmalen Lippen. Ramon stieß einen alten Indianer ins Zimmer, der so schwach war, daß er zu Boden stürzte. Einen Augenblick war Isabel wie gelähmt. Dieser Alte, dieses menschliche Wrack, sollte ihr Opfer sein? Nein, das durfte, das konnte nicht wahr sein! „Viel Spaß, Schwesterchen“, sagte Ramon. Bevor er noch die Tür zugezogen hatte, war Isabel bei ihm. Sie war über den Alten gesprungen und warf sich mit aller Kraft gegen die Tür. Der Anprall war so gewaltig, daß Ramon ein paar Schritte zurücktaumelte. Die Vampirin war rasend vor Wut. Ohne zu denken, ballte sie die rechte Hand zur Faust und schlug sie ihrem Bruder ans Kinn, der bewußtlos zusammenbrach. Einen kurzen Moment blieb sie überlegend stehen, dann huschte sie geräuschlos den Gang entlang und schlich die Stufen hinunter, die in die Eingangshalle führten. 5
Im Haus war es ruhig. Sie wußte, daß sich außer Ramon im Augenblick nur noch ihr Bruder Ubaldo in der Villa befand, der vermutlich in seinem Zimmer war. Niemand hielt sie auf. Sie betrat den Garten und blickte sich forschend um. Geschmeidig wie eine Raubkatze schlich sie auf das Gartentor zu und hielt sich dabei instinktiv im Schatten der Jacarandabäume. Wie erwartet, war das Gartentor abgesperrt. Ohne zu zögern kletterte die Vampirin die Stäbe hoch und schwang sich auf das Mauerdach und blieb ein paar Sekunden hocken. Das Haus lag in einer ruhigen Villengegend. Es mußte schon weit nach Mitternacht sein. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Isabel sprang auf die Straße. Nach ein paar Schritten begann sie zu laufen. Das unmenschliche Verlangen nach Blut peinigte sie. Ihr Körper schien zu brennen. Die Gier schlug in nicht endenden Wogen über ihr zusammen. Zu einem klaren Gedanken war sie nicht mehr fähig. Die uralten Vampirinstinkte ihrer Abstammung hatten die Herrschaft über ihren Geist und Körper ergriffen. Sie verschwand in einer kleinen Nebengasse. Links und rechts lagen die Villen der reichen Leute von Guatemala-City. In einigen Fenstern brannte noch Licht. Als sie Stimmen hörte, blieb sie stehen. Ihre Nasenflügel bebten. Ein pochendes Prickeln 6
durchlief ihr Nervensystem. Sie knurrte leise. Ein junges Paar verabschiedete sich eben von einem älteren Mann, der dann zurück in das Haus ging. Das Paar ging auf einen cremefarbenen Cadillac zu. Die Frau sagte etwas, und der Mann lachte leise. Vor dem Wagen blieb er stehen und holte den Wagenschlüssel aus seiner Rocktasche. Die Vampirin stürzte los. Der junge Mann hörte die Schritte und drehte sich um. Seine Augen weiteten sich, als er das grauenvolle Geschöpf sah, das auf ihn zulief. Vor Entsetzen fielen ihm die Autoschlüssel aus der Hand. Das Mädchen in seiner Begleitung stieß einen gellenden Schrei aus. Isabel Najera sprang den jungen Mann an, der den Angriff abzuwehren versuchte. Er stolperte und fiel auf den Rücken. Die Vampirin schnappte gierig nach seiner Kehle. Ihre Zähne bissen zu. Nach ein paar Sekunden wurde ihr das Schreien des Mädchens bewußt. Sie ließ von ihrem Opfer ab und wandte sich dem Mädchen zu, das die Flucht ergriff. Doch nach ein paar Schritten hatte Isabel die Flüchtende erreicht. Sie verkrallte ihre rechte Hand in der Schulter des Mädchens und riß sie herum. „Nicht!“ schrie das Mädchen. Ein heiseres Knurren kam über Isabels Lippen, die nun etwas Farbe bekommen 7
hatten. Das Mädchen wurde vor Grauen ohnmächtig. Die Vampirin biß erneut zu. Sie war so beschäftigt, daß sie nicht den Streifenwagen bemerkte, der mit heulenden Sirenen heranraste und stehenblieb. Zwei Polizisten sprangen heraus, zogen ihre Pistolen und rannten auf Isabel zu. Erst jetzt hob sie den Blick. Sie sah entsetzlich aus. Das Gesicht und die Hände waren blutrot. Die Vampirin sprang hoch und ging augenblicklich auf die beiden Uniformierten los. Beide schossen gleichzeitig. Und beide hatten sie getroffen. Doch die Kugeln zeigten keinerlei Wirkung. Da war sie auch schon heran. Mit zwei gewaltigen Fausthieben schlug sie die Polizisten zusammen. Instinktiv ergriff sie die Flucht. Sie rannte kreuz und quer durch die kleinen Gäßchen und blieb dann keuchend stehen. Sie hatte alle Verfolger abgeschüttelt. Mit dem Blusenärmel wischte sie sich das Blut aus dem Gesicht. Die erste Gier war gestillt, und sie konnte wieder halbwegs normal denken. Plötzlich hatte sie Angst. Ihr Vater würde sie schrecklich bestrafen, das war sicher. Sie durfte auf keinen Fall nach Hause gehen. Sie mußte sich irgendwo verstecken, aber wo? Vor einer alten Villa, die in einem verwahrlost aussehenden Garten stand, blieb 8
sie stehen. Das Haus machte einen unbewohnten Eindruck. Sie kletterte über die Mauer und schlich um das Haus herum. Die Fenster waren schmutzig. Das Haustor war unversperrt. Zögernd drückte sie die Klinke nieder und trat ein. Nach ein paar Schritten stolperte sie und fiel der Länge nach hin. Sie wollte aufstehen, doch es gelang ihr nicht. Sie glaubte vom Boden verschlungen zu werden. Nach ein paar Sekunden bewegte sie sich nicht mehr. Sie wußte, daß sie in eine magische Falle geraten war, aus der sie sich aus eigener Kraft nicht befreien konnte. Jede Bewegung würde ihre Situation nur verschlimmern.
Ubaldo Najera wartete in der Abfertigungshalle des Flughafens La Aurora. Wie üblich hatte die Maschine aus Caracas eine halbe Stunde Verspätung. Einige der Wartenden warfen ihm verstohlene Blicke zu. Für einen Guatemalteken war er überraschend groß und schlank. Obwohl in seinen Adern Maya-Blut floß, war sein Gesicht europäisch. Das pechschwarze Haar fiel glatt bis zu den breiten Schultern, die Nase war leicht gekrümmt, und die dunkelbraunen Augen standen weit auseinander. Bekleidet war er mit einem 9
weißen Leinenanzug, der die Muskeln seines mächtigen Körpers noch betonte. Er achtete nicht auf die neugierigen Blicke. Mißmutig holte er sich eine Cola und steckte eine dünne Zigarre an. Sein Vater hatte ihn beauftragt, Coco Zamis vom Flughafen abzuholen. Ein Auftrag, den er nur sehr ungern ausführte. Aber ihm war keine andere Wahl geblieben, als zu gehorchen. Vor drei Tagen war seine Halbschwester Isabel verschwunden. Die Suche nach ihr war vergeblich gewesen. Sein Vater hatte getobt, als er aus Nicaragua zurückgekommen war. Isabel war Ubaldo höchst gleichgültig. Er hatte sich mit seiner Halbschwester nie verstanden. Sie war ihm immer unheimlich gewesen, und eigentlich war er über ihr Verschwinden nicht traurig. Aber das durfte er seinem Vater gegenüber nicht einmal andeuten. Zum Teufel mit Isabel, dachte er. Ubaldo versuchte sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was er über den befreundeten Zamis-Clan wußte. Coco Zamis war von ihrem Vater auf eine Weltreise geschickt worden. Sie sollte in verschiedenen Ländern Station machen und dabei andere Clans der Schwarzen Familie kennenlernen. Besonders viel wußte Ubaldo nicht über die Zamis-Sippe. Angeblich stammten sie aus Rußland, und Rasputin sollte einer der größten dieser Familie gewesen sein. Vor etwa fünfzig Jahren hatte sich ein Zweig der Familie in 10
Österreich niedergelassen und bald danach die Herrschaft über die österreichischen Sippen der Schwarzen Familie übernommen. Vor etwa einem Jahr sollte es zu einer blutigen Auseinandersetzung mit dem Forcas-WinklerClan gekommen sein, bei der die Zamis-Sippe als Sieger hervorgegangen war. Ubaldo warf den Becher in einen Abfallkorb, dann drückte er die Zigarre aus. Er versuchte sich vorzustellen, wie wohl diese Coco Zamis aussehen würde. Vermutlich war sie klein und häßlich und dick. Ein Typ, wie er den meisten Dämonen gefiel, aber Ubaldo war da anders. Er hatte nur noch sehr wenig Dämonisches an sich. Seine Familie war verweichlicht und schwächlich. Die Informationen über Coco Zamis waren nur sehr dürftig. Sie sollte feige, unfähig und schwach sein. Da würde sie gut zu uns passen, dachte Ubaldo und grinste spöttisch. Innerhalb der Schwarzen Familie galt sie als Totalversagerin. Das macht sie eigentlich sympathisch, sinnierte Ubaldo. Gerüchteweise hatte er gehört, daß sie sich aber Asmodi, dem Herrn der Schwarzen Familie, bei ihrer Hexenweihe verweigert hatte. Daraufhin sollte die Zamis-Sippe bei Asmodi in Ungnade gefallen sein. Wenn das tatsächlich stimmte, dann war Coco in Ubaldos Augen außerordentlich tapfer, denn aus seinem Clan hätte keiner es gewagt, Asmodi einen Wunsch abzuschlagen. Vor ein paar Tagen hatte sein Vater eine brandneue Nachricht erhalten: Die 11
Zamis-Sippe hatte einen Anschlag auf Asmodi verhindert und war nun wieder besser innerhalb der Schwarzen Familie angesehen. Jedenfalls mußte er freundlich zu Coco Zamis sein. Auf Befehl seines Vaters sollte er ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen. Seufzend stand Ubaldo auf. Endlich war die Ankündigung gekommen, daß die Maschine aus Caracas landen sollte, in der sich Coco Zamis befand. Der junge Dämon blickte mit zusammengebissenen Zähnen über die Landefläche. Die Düsenmaschine setzte auf und rollte langsam aus. Die Passagiere stiegen aus und schritten auf das Flughafengebäude zu. Voller Grauen erinnerte sich Ubaldo an den Besuch einer französischen Hexe, die er vor zwei Jahren zu betreuen gehabt hatte. Diese Dämonin hatte ihn verhext und zu ihrem willenlosen Sklaven gemacht. Schaudernd verdrängte er diese unliebsame Erinnerung. Aufmerksam musterte er nun die Frauen und Mädchen, die aber noch zu weit entfernt waren, als daß er die charakteristische Dämonenausstrahlung hätte spüren können. Langsam schlenderte er zur Zollabfertigung. Nach ein paar Schritten nahm er die Ausstrahlung wahr. Rasch blickte er nach rechts – und seine Augen wurden vor Überraschung groß. Seine Vermutung über Cocos Aussehen war total falsch gewesen. Das Mädchen, das da 12
auf ihn zukam, war ungewöhnlich hübsch. Damit hatte er wirklich nicht gerechnet. Coco war etwa achtzehn Jahre alt und so gebaut, daß sie den Blutdruck der meisten Männer hochschnellen ließ. Und in dieser Beziehung unterschied sich die Hälfte der Dämonen nur wenig von den normalen Sterblichen. Die junge Hexe war ein Meter siebzig groß. Das schwarze Haar rahmte ein ungewöhnlich anziehendes Gesicht ein. Die Backenknochen waren hoch angesetzt, was ihr ein leicht orientalisches Aussehen gab. Die schräg gestellten, großen Augen waren dunkelgrün manchmal schimmerten sie fast schwarz. Ihr voller Mund war leicht geöffnet. Das zitronengelbe Kleid spannte sich aufreizend über ihre festen Brüsten, die fast zu üppig für ihren Körper waren. Der kurze Rock ließ ziemlich viel von ihren gut gewachsenen, langen Beinen sehen. Coco reichte einem Zollbeamten ihren Paß, der einen Stempel hineindrückte. Dann bekam sie ihr Gepäck ausgehändigt. Mit federnden Schritten verließ sie die Sperre und kam direkt auf Ubaldo zu, der sie noch immer fassungslos anstarrte. Coco stellte ihre Koffer ab und blickte Ubaldo lächelnd an. „Herzlich willkommen in Guatemala, Coco“, sagte Ubaldo und lächelte gewinnend. Er hatte englisch gesprochen. „Du mußt Ubaldo sein“, sagte Coco auf spanisch. „Nett, daß du mich abholst.“ 13
„Du sprichst Spanisch?“ wunderte sich Ubaldo. „Das hörst du ja“, sagte Coco mit rauchiger Stimme. „Wollen wir hier Wurzeln schlagen?“ Ziemlich verwirrt ergriff Ubaldo die beiden Koffer. Er hatte nicht erwartet, daß Coco so selbstsicher auftreten würde. „Ich gehe voraus“, sagte Ubaldo rasch. Coco nickte ihm gnädig zu. Schweigend verließen sie das Gebäude. Ubaldo verstaute die Koffer in einem schneeweißen Mercedes. „Hast du einen guten Flug gehabt?“ erkundigte sich Ubaldo, als er losfuhr. „Ja, war ganz angenehm“, meinte Coco und blickte angeregt aus dem Fenster. Diese Coco scheint ja ziemlich hochnäsig zu sein, dachte Ubaldo etwas verärgert. Sie fuhren durch ein modernes Viertel, das genausogut in jeder anderen Großstadt hätte stehen können. Beim Erdbeben von 1917 war ein Großteil der Altstadt zerstört und neu aufgebaut worden. „Du hast dir leider einen ungünstigen Zeitpunkt für deinen Besuch ausgesucht, Coco“, sprach Ubaldo ein paar Minuten später weiter. „Und weshalb?“ „Wir haben einige Schwierigkeiten“, sagte Ubaldo ausweichend. „Und die sind?“ fragte Coco ziemlich uninteressiert. „Meine Schwester Isabel ist vor drei Tagen 14
verschwunden. Unsere Suche nach ihr war bis jetzt ergebnislos.“ „Vielleicht hat sie sich einen hübschen Mann angelacht“, meinte Coco lächelnd. Ubaldos Gesicht verfinsterte sich einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf. „Das wage ich zu bezweifeln. Sie ist eine Vampirin. Ein seltsames Zwittergeschöpf, das Tageslicht nur sehr schlecht verträgt.“ „Eine Vampirin?“ wunderte sich Coco. „Aber ich dachte, daß eure Sippe Wer-Jaguare…“ „Das stimmt schon“, unterbrach sie Ubaldo rasch. „Aber unsere Abstammung bricht nur noch sehr selten durch. Ich will ganz offen zu dir sein. Unsere Familie ist ziemlich dekadent. Wir sind keine richtigen Dämonen mehr. Unsere Ahnen ließen sich zu oft mit normalen Menschen ein. Unsere magischen Fähigkeiten sind verkümmert.“ „Hm, ich verstehe“, sagte Coco, und ihre Stimme klang sanft. „Und was ist mit dieser Isabel?“ „Tja“, sagte Ubaldo zögernd, „das ist nicht so einfach zu erklären. Mein Vater wollte das Blut unserer Sippe beleben. Deshalb ging er eine Verbindung mit einer Vampirin ein. Das Ergebnis ist Isabel. Und um es ganz hart zu sagen: es war ein mißglücktes Experiment. In meinen Augen ist Isabel ein Monster, ein schreckliches Ungeheuer. Ich habe immer Angst vor ihr gehabt, doch mein Vater hängt an ihr. Man darf nichts Böses über Isabel in seiner Gegenwart sagen.“ 15
„Erzähle mir mehr über Isabel“, bat Coco. „Später“, sagte Ubaldo. „Ich werde dir dann zu Hause alles über sie erzählen. Einverstanden?“ „Einverstanden.“ Ubaldo wies Coco immer wieder auf Sehenswürdigkeiten hin. Sie fuhren am Parque Aurora vorbei, dem größten Stadtpark Zentralamerikas. Dann erreichten sie die Sexta Avenida, die den Park Central durchquert. Nach Meinung vieler Guatemalteken ist diese Prachtstraße ein kleines Abbild der Fifth Avenue in New York. Ein Vergleich, der nicht ganz zutrifft. Kurz nachdem sie am Falacio Nacional vorbeigefahren waren, bog Ubaldo nach links in eine schmale Straße ein. Vor einer hohen Mauer blieb er stehen. Ein schweres Eisentor wurde geöffnet, und für einen Augenblick war ein junger Indio zu sehen. Langsam fuhr Ubaldo in den Garten. Zu beiden Seiten des schmalen Weges standen Jacarandabäume mit ihren seltsamen lila Blüten. Vor einer düsteren Villa, die mindestens zweihundert Jahre alt sein mußte, hielt Ubaldo. „Ich zeige dir dein Zimmer, und du kannst dich erfrischen“, meinte Ubaldo, als sie das Haus betraten. „In einer Stunde stelle ich dir dann unsere Familie vor.“
16
Das Zimmer war groß und ganz in Blau und Weiß gehalten. Einen der Koffer stellte ich auf den Boden, den anderen legte ich auf den Tisch und ließ die Schlösser aufschnappen. Schon beim Eintreten hatte ich gemerkt, daß mich jemand mittels einer magischen Kugel beobachtete. Und derjenige verstand nicht viel von seinem Handwerk, denn normalerweise merkte man so eine Beobachtung nicht. Es mußte ein rechter Stümper sein – vermutlich ein Familienmitglied der Najeras. Ich öffnete eine kleine Schatulle und entnahm ihr eine erbsengroße farblose Kugel, die ich leicht mit dem linken Zeigefinger rieb, bis sie meine Körperwärme angenommen hatte. Danach konzentrierte ich mich auf die magische Ausstrahlung der Kugel und schloß ruckartig beide Augen. Vergnügt lächelnd legte ich die Kugel zurück in die Schatulle. Derjenige, der mich beobachtet hatte, mußte nun vor einer dunklen Kugel sitzen und konnte mich nicht sehen und nicht hören. Ich steckte mir eine Zigarette an und sah mir das Zimmer genauer an. Die Tapeten waren dunkel und mit seltsamen Zeichen bedeckt, dir mir völlig unverständlich waren. Zwei Fenster führten in den Garten, die weit offen standen. Das Zimmer war recht ansprechend eingerichtet. Ein großes Bett, in dem bequem drei Personen schlafen konnten. 17
In einem Schrank befand sich eine eingebaute Bar, eine hypermoderne Stereoanlage, Radio und Fernseher. Eine schmale Tür führte in ein dunkelrot gekacheltes Badezimmer. Rasch schlüpfte ich aus meinen Kleidern und der Wäsche und stellte mich ein paar Minuten unter die Dusche. Eine der prächtigsten Ideen, die mein Vater je gehabt hatte, war die Weltreise, auf der ich mich gerade befand. Ich sollte verschiedene Dämonensippen besuchen und dadurch meinen Horizont und mein Wissen erweitern. Mir war diese Reise sehr recht, denn so konnte ich der drückenden Enge meines Elternhauses entkommen. Das Leben in Wien war mir äußerst eintönig und langweilig gewesen. Innerhalb der Schwarzen Familie galt ich als Schwächling. Das war mir willkommen, da mich alle unterschätzten. Ubaldo Najera schien einer der wenigen netten Dämonen zu sein, die es gab. Er sah gut aus und war freundlich. Unwillkürlich mußte ich lachen, als ich daran dachte, wie verblüfft und staunend er mich angesehen hatte, als ich auf ihn zugegangen war. Vermutlich hatte er erwartet, daß ich Warzen auf der Nase und vorstehende Zähne hatte. Die Sippe, der er angehörte, war ziemlich unbedeutend. Die Najeras herrschten über Guatemala, El Salvador und Teile Mexikos. Mit ihren magischen Fähigkeiten war es nicht weit 18
her, aber das hatte mir ja Ubaldo bereits bestätigt. Das Verschwinden seiner unheimlichen Schwester interessierte mich etwas. Nicht besonders viel, da ich nicht die Absicht hatte, mich in die Angelegenheiten dieser Familie einzumischen. Ich stellte die Dusche ab und trocknete mich ab. Ubaldo hatte von Schwierigkeiten gesprochen, und da war ich ziemlich sicher, daß es sich nicht nur um das Verschwinden seiner Schwester handelte. „Das geht mich alles nichts an“, sagte ich laut und blieb vor dem Spiegel stehen. Langsam bürstete ich mein Haar und studierte mein Spiegelbild. Dann rümpfte ich die Nase. „Heuchlerin“, sagte ich leise. Ich belog mich selbst. Mich interessierte das Verschwinden der Vampirin und die Schwierigkeiten, in denen die Najeras steckten. Eigentlich wollte ich nur ein paar Tage in Guatemala bleiben. Ich wollte die alte MayaStadt Tikal besuchen und mir den berühmten Atitlan-See ansehen. In Guatemala-City selbst gab es nur wenige Dinge, die mich interessierten. Aus dem Kühlschrank holte ich eine Flasche Tonic, trank einen Schluck und begann mit dem Auspacken meiner Koffer. 19
Ramon Najera starrte verwundert die magische Kugel an, die vor ihm auf dem Tisch stand. Er hatte die Kugel auf das Zimmer gerichtet, in dem sich Coco Zamis befand. Für einen Augenblick hatte er sie ganz deutlich gesehen, doch dann war das Bild erloschen und so sehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, die magische Kugel zu reaktivieren. Mit zusammengepreßten Lippen drückte Ramon nun beide Hände auf die kühle Oberfläche der magischen Kugel und konzentrierte sich mit aller Kraft, doch nichts geschah. Die Verbindung zur Kugel war abgerissen – sie war tot. „Das verstehe ich nicht“, flüsterte der junge Dämon und blickte zur Tür, durch die Ubaldo ins Zimmer trat. „Was verstehst du nicht?“ erkundigte sich Ubaldo und musterte seinen jüngeren Bruder. „Diese verdammte Kugel scheint kaputt zu sein“, sagte Ramon und warf ihr einen bösen Blick zu. „Ich habe Coco Zamis beobachtet, übrigens ein tolles Mädchen, aber nach wenigen Sekunden riß der Kontakt ab.“ „Weshalb willst du sie beobachten?“ Ramon zuckte die Schultern. „So eben“, meinte er. „Sie ist doch ein hübsches Mädchen… Ich beobachte eben gern Leute.“ „Du bist ein verfluchter Lüstling“, sagte Ubaldo grinsend und schlug Ramon gutmütig auf die Schulter. „Wo ist Vater?“ 20
„Er wird jeden Moment kommen.“ „Gibt es irgendwelche Schwierigkeiten?“ Ramon schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts gehört. Aber Vater scheint sich große Sorgen zu machen. Das Verschwinden Isabels scheint ihm doch ziemlich nahe gegangen zu sein. Dabei muß ich sagen, daß…“ „Kein Wort mehr“, sagte Ubaldo scharf. „Es gibt einige Probleme, aber darüber wird Vater sprechen.“ Ubaldo setzte sich auf einen Stuhl, der neben dem offenen Kamin stand. „Komm, mach es nicht so spannend. Was ist los?“ „Du wirst es noch rechtzeitig erfahren“, sagte Ubaldo ausweichend und steckte sich eine Zigarre an. Das Zimmer war riesig groß und düster. Die Wände, der Boden und alle Möbel waren schwarz. Der Eindruck der Düsternis wurde noch durch die schweren Vorhänge unterstrichen, die halb zugezogen waren. Ein Zimmer, in dem sich ein normaler Mensch kaum wohlfühlen konnte. Ubaldo sprang auf, als sein Vater das Zimmer betrat und deutete eine kurze Verbeugung an. Victor Najera erwiderte das Kopfnicken und schlurfte langsam heran. Er war klein und uralt. Kein Dämon wußte, wie alt er wirklich war. Sein Gesicht war runzelig wie ein getrockneter Apfel, das schlohweiße Haar fiel glatt bis auf die knochigen Schultern. 21
„Hier ist es zu hell“, flüsterte Victor und kniff die Augen zusammen. Sofort eilte Ramon zum Fenster und zog rasch die Vorhänge zu. Nun war es so dunkel, daß man kaum den Alten erkennen konnte, der entspannt in einem hohen Lehnstuhl saß. „Setzt euch“, sagte er mit überraschend fester Stimme. Ubaldo und Ramon nahmen ihm gegenüber Platz. „Du hast Coco Zamis hergebracht, Ubaldo?“ fragte Victor. „Ja, sie ist im Gästezimmer, das wir für sie vorbereitet haben.“ „Gut, was hast du für einen Eindruck von ihr?“ „Das ist schwer zu sagen“, meinte Ubaldo überlegend. Er zog an der Zigarre. „Sie ist eine ausgesprochene Schönheit. Und verdammt selbstsicher, was mich ziemlich überrascht, wenn ich an den Ruf denke, den sie innerhalb der Familie hat.“ „Ich habe eine Information erhalten, die mir zu denken gibt. Angeblich soll Coco über starke magische Fähigkeiten verfügen. Es wird geflüstert, daß sie eine der begabtesten Hexen des letzten Jahrhunderts sein soll. Für diese Information spricht auch, daß Asmodi mit ihr einen Dämon zeugen wollte. Doch diese angeblich so schwache Hexe hat sich dem Herrn der Finsternis verweigert. Es ist allgemein bekannt, daß Asmodi nur mit äußerst begabten Hexen Dämonen zeugt.“ 22
„Das kann uns allen aber gleichgültig sein“, stellte Ubaldo fest. „Coco gehört einem befreundeten Clan an und ist demnach auf unserer Seite. Wir haben nichts von ihr zu befürchten.“ „Richtig“, stimmte sein Vater zu. „Du wirst dich um sie kümmern, Ubaldo.“ Der junge Dämon nickte zustimmend. „Ich will mich mit den Zamis’ gut stellen“, brummte Victor Najera. „Man kann nie genug Freunde haben. Verstanden?“ „Verstanden.“ „Es wird Zeit, daß ich alle Mitglieder unserer Sippe verständige“, sprach Victor stockend weiter. „Irgend etwas Bösartiges braut sich zusammen. Die Gerüchte, die vom Auftauchen des Quetzal-Maya berichten, werden immer häufiger. Ganze Indianerdörfer werden von einem Tag auf den anderen verlassen. Rätselhafte Morde und Entführungen geschehen im ganzen Land. Wir müssen herausfinden, wer dahintersteckt.“ Ramon blickte seinen Vater überrascht an. Für ihn waren das brandneue Nachrichten, denn er war bis jetzt nicht in die unheimlichen Vorfälle der vergangenen Wochen eingeweiht worden. Es gab uralte Maya-Sagen, in denen berichtet wurde, daß irgendwann einmal ein Maya-Gott erscheinen werde, der sich in den heiligen Vogel Quetzal verwandeln könne. Und dieser Maya-Gott würde das Reich der Maya neu errichten und alle Weißen und Ladinos vertreiben. Solche Sagen gab es viele, – kein 23
normaler Mensch nahm sie ernst. Aber wenn nun Victor Najera darüber sprach, dann mußte etwas an den Gerüchten dran sein. „Hat das etwas mit Isabels Verschwinden zu tun?“ fragte Ramon aufgeregt. „Das müssen wir eben herausfinden. Ich glaube nicht an diesen Quetzal-Maya. Dieses Gerücht hat irgend jemand ausgestreut, um die leichtgläubigen Indios zu beeindrucken. Ramon, du verständigst alle Mitglieder unserer Sippe. Alle sollen morgen herkommen. Ich werde ihnen dann…“ Ein durchdringender Schrei war zu hören, der gurgelnd abbrach. Dann war ein schwerer Fall zu hören. „Was war das?“ fragte Victor verwundert. Blitzschnell sprang der Alte auf und rannte zur Tür. Seine Söhne schlossen sich ihm an.
Ich ging zum Fenster, als ich Motorengeräusch hörte. Ein silberfarbener Jaguar blieb vor dem Haus stehen, und ein fetter Mann mit einem gewaltigen Schnauzbart stieg aus. Trotz der Entfernung nahm ich die dämonische Ausstrahlung wahr, die von ihm ausging. Der Dämon betrat das Haus, und ich ging langsam im Zimmer auf und ab. Vor der Stereoanlage blieb ich stehen und kniete nieder. Ich sah mir die Langspielplatten an, fand aber nichts darunter, was meinem 24
Geschmack entsprach. Als ich einen lauten Schrei hörte, trat ich in den Gang und ging zur Treppe, die in die große Eingangshalle führte. Ich blieb stehen und blickte die Stufen hinunter. Unweit des Aufgangs erblickte ich drei Dämonen, darunter auch Ubaldo, die um einen Mann herumstanden, der auf dem Bauch lag –, und aus dessen Rücken der Griff eines Messers ragte. Langsam stieg ich die Treppe hinunter. Die drei Dämonen beachteten mich nicht. Der Tote war zweifelsohne der dicke Dämon, dessen Ankunft ich gesehen hatte. Ein paar Schritte vom Toten entfernt blieb ich stehen. Nun sah ich, daß am Messergriff ein Stück Karton befestigt war, auf dem für mich unverständliche Zeichen gemalt waren. Ubaldo blickte mich an, und sein hübsches Gesicht verdüsterte sich. Er flüsterte etwas dem weißhaarigen Dämon zu, der sich langsam umdrehte und mich musterte. Sein Blick schien durch mich hindurch zu gehen. „Ich bedauere es, daß wir uns unter solchen Umständen kennenlernen“, sagte der Alte und kam auf mich zu. „Ich bin Victor Najera.“ Der Alte streckte seine rechte Hand aus, und ich preßte meine linke Handfläche kurz dagegen und neigte leicht den Kopf. „Ich bin Coco Zamis. Ich überbringe dir die Grüße meines Vaters, der dich als Bruder betrachtet.“ „Ich danke für die Grüße deines Vaters, den 25
auch ich als meinen Bruder betrachte.“ Nun war klargestellt, daß er und ich keinerlei bösartige Absichten verfolgten. Ich zog meine Hand zurück, und dann trat der junge Dämon mit dem schmalen Oberlippenbart auf mich zu, der sich als Ramon vorstellte und mich freundlich begrüßte. Ich musterte den Toten kurz. Die Augen waren weit aufgerissen, und das aufgedunsene Gesicht war verzerrt. „Wer ist der Tore?“ fragte ich. „Esteban Cores“, antwortete Ubaldo, der neben mir stehen geblieben war. „Er war mit Elena, einer unserer Schwestern verheiratet.“ „Wer hat ihn ermordet?“ „Das wissen wir nicht“, sagte Victor. „Der Mörder muß im Haus auf ihn gelauert haben.“ Ich wunderte mich über das Verhalten Victors. Mein Vater hätte ganz anders reagiert. Aber ich durfte keine Kritik üben. Es war eine Angelegenheit, die nur die NajeraSippe betraf. Etwas anderes wäre es natürlich gewesen, wenn sie mich um Hilfe gebeten hätten, aber das würden sie vermutlich niemals tun. Ich wollte schon meine Hilfe anbieten, unterließ es aber lieber, da sie ziemlich sicher abgelehnt worden wäre. Dazu war später noch Zeit, wenn ich mehr Informationen hatte. Ich vermutete, daß es sich um den Auftakt einer blutigen Auseinandersetzung zwischen zwei Clans handelte. Und sollte diese Vermutung 26
zutreffen, dann wollte ich nichts damit zu tun haben. Innerhalb meiner Familie hatte ich einmal so einen Kampf miterlebt, und das mußte ich nicht noch einmal erleben. Diese Kriege innerhalb der Schwarzen Familie wurden mit einer Brutalität geführt, die fast unvorstellbar war. „Verständige die Polizei, Ramon“, sagte Victor. Ich biß mir auf die Unterlippe. Das konnte doch nicht wahr sein! Victor rief die Polizei zu Hilfe. Das war einfach unfaßbar für mich. Ramon verließ die Halle, und ich ging zu einer Ledergarnitur und ließ mich hineinsinken. Für mich war das Verhalten der Najeras völlig unverständlich. Nur zu deutlich konnte ich mich daran erinnern, als mein Bruder Demian ermordet worden war. Da hatte niemand aus unserer Sippe daran gedacht, die Polizei zu verständigen. Das war eine Angelegenheit, bei der normale Sterbliche nichts zu suchen hatten. Aber hier in Guatemala war das anscheinend alles ganz anders. „Ich habe Ricardo verständigt“, sagte Ramon, als er die Halle betrat. Die Untätigkeit der drei Dämonen machte mich nervös. Nur mit Mühe hielt ich mich zurück. Am liebsten hätte ich ihnen lautstark mitgeteilt, welche Meinung ich von ihnen gewonnen hatte. Aber das hätte nur böses Blut verursacht. 27
Ubaldo verließ das Haus. Niemand hatte Lust zu einer Unterhaltung. Victor und Ramon standen noch immer vor dem toten Esteban und starrten ihn an. Ihre Gesichter waren unbewegt wie Masken. Ich konnte nicht einmal ahnen, welche Gedanken in ihnen vorgingen. Ein paar Minuten später betraten zwei uniformierte Polizisten die Halle. Sie blickten sich scheu um. Victor flüsterte ihnen etwas zu, das ich nicht verstand. Die beiden nickten eifrig und gingen zur Eingangstür, wo sie sich postierten. Nach und nach trafen einige Beamte in Zivil ein. Die meisten starrten mich ziemlich neugierig an. Der Tote wurde fotografiert und von einem Arzt untersucht. Victor beantwortete die Fragen einiger Beamter, doch um mich kümmerte sich kein Mensch. Ich hob den Kopf und blickte zur Tür, als ich eine ungewöhnlich starke dämonische Ausstrahlung bemerkte. Ein hünenhafter Dämon betrat die Halle. Er trug einen beigen Anzug, der aussah, als hätte er darin geschlafen. Das grobflächige Gesicht war aufgedunsen, und die kleinen Schweinsäuglein lagen tief in den Höhlen. Das schwarze Haar war ziemlich lang und glänzte ölig. Der Hüne winkte Victor zu, dann drehte er sich langsam in meine Richtung. Sein Blick war durchdringend und fast körperlich zu spüren. Er starrte mich unverhohlen lüstern an. An solche Blicke war ich ja gewöhnt, aber diesmal 28
war es etwas anders. Es war, als würde er mich mit seinen Blicken entkleiden, und es schien mir sogar, als würde ich seine klobigen Hände an meinem Körper spüren. Ruckartig wandte er sich ab und stapfte auf Victor zu. Er unterhielt sich kurz mit ihm. Minuten später kam er schnaubend auf mich zu und baute sich vor mir auf. „Ricardo Najera“, stellte er sich vor. „Ich bin Victors Bruder und Polizeipräsident von Guatemala City.“ Das erklärte nun einiges. Victor hatte seinen Bruder zu Hilfe gerufen, der sicherlich von der Aufklärung eines Mordes mehr als er selbst verstand. Schwerfällig ließ sich Ricardo mir gegenüber auf einem Stuhl nieder, der unter seinem Gewicht ächzte. „Du bist Coco Zamis und kommst aus Wien“, stellte er schnaubend fest und blickte mich wieder verlangend an. Unter seinem Blick fühlte ich mich zunehmend unbehaglicher. Am liebsten hätte ich diesen widerlichen Kerl hypnotisiert. „Richtig“, sagte ich. „Ich habe deinen Vater während des Krieges in Paris getroffen“, sprach er weiter. „Dein Vater besitzt gewaltige magische Fähigkeiten. Hast du etwas von seinen Fähigkeiten geerbt?“ Ich blickte ihn überrascht an. Diese Frage war eine Frechheit. Man erkundigte sich nicht nach den Fähigkeiten einer Hexe. 29
Er lächelte zynisch, als ich nicht antwortete, und sah so noch widerlicher aus. Na, warte nur, dachte ich, diese Beleidigung werde ich dir noch heimzahlen. „Die Schönheit hast du von deiner Mutter geerbt“, stellte er grinsend fest, und sein Blick glitt über meine hohen Brüste, die sich unter meinem dünnen Kleid überdeutlich abzeichneten. Ich legte die linke Hand auf meinen Schoß, so daß er sie nicht sehen konnte und konzentrierte mich einen Augenblick. Dann kreuzte ich den Zeige- und Mittelfinger und bewegte sie ruckartig. Der Stuhl, auf dem der ekelhafte Dämon hockte, brach zusammen. Ricardo stieß einen überraschten Schrei aus, dann krachte er schwer zu Boden. Alle blickten zu uns herüber. Zwei Beamte eilten herbei und halfen ihrem Chef beim Aufstehen. Fluchend rappelte sich Ricardo hoch und verscheuchte die Beamten. Ich grinste den Polizeichef spöttisch an. Stirnrunzelnd und breitbeinig blieb er vor mir stehen. Ich las das Mißtrauen in seinen Augen. Er vermutete sicherlich, daß ich den Stuhl hatte zusammenbrechen lassen, doch er konnte es nicht beweisen. Dieser kleine Denkzettel war mir aber ein Herzensbedürfnis gewesen. Üblicherweise hielt ich von solchen kindischen Scherzen nicht viel, aber diesmal hatte es richtig Spaß gemacht. Liebend gern hätte ich dem Widerling einige Bösartigkeiten 30
angetan, aber dazu würde ich sicherlich noch Gelegenheit haben. „Ich habe ein paar Fragen“, sagte er knapp. „Fragen Sie nur“, sagte ich und lächelte stärker. „Das „Sie“ war eine Beleidigung, aber dagegen konnte er sich nicht wehren. „Wo warst du, als der Mord geschah?“ „Auf meinem Zimmer“, antwortete ich. „Ich hörte Motorengeräusch, ging zum Fenster und sah Esteban. Er stieg aus einem Jaguar und betrat das Haus. Etwa zwei Minuten später hörte ich einen Schrei und verließ mein Zimmer.“ „Hast du außer Esteban noch jemanden im Garten gesehen?“ „Nein.“ „Dir ist also nichts Verdächtiges aufgefallen?“ „Nichts.“ Er wandte sich ab, betrat einen kostbaren Perserteppich und ging in Richtung des Toten, der eben auf eine Bahre gehoben wurde. Weit kam Ricardo aber nicht, denn er stolperte und fiel der Länge nach hin. Wüst schimpfend stand er auf. Voller Wut blickte er mich an. Ich lachte ihn aus. Einen Augenblick glaubte ich, daß er die Beherrschung verlieren würde. Er ballte die Hände und schrie seine Männer an. Das ist vielleicht eine schwache Sippe, dachte ich. Ihre magischen Fähigkeiten waren völlig verkümmert. Jeder Feind mußte ein leichtes Spiel mit ihnen haben. Unwillkürlich wanderte mein Blick zu Ubaldo. 31
Der junge Dämon gefiel mir recht gut. Sein Onkel Ricardo war das genaue Gegenteil von ihm. Irgend jemand hatte den Dolch aus dem Körper des Toten gezogen. Ricardo betrachtete ihn nun ganz genau, dann studierte er das Kärtchen mit den seltsamen Zeichen. Ubaldo kam auf mich zu. Ich stand langsam auf. „Gehen wir in den Garten“, sagte Ubaldo und ergriff meinen rechten Arm. Willig folgte ich ihm. „Ich muß mich für Onkel Ricardos Verhalten entschuldigen“, sagte Ubaldo. „Er ist ein richtiges Ekel. Ich hätte dich vor ihm warnen sollen.“ „Ich kann mich selbst meiner Haut wehren“, meinte ich und blieb nach ein paar Schritten stehen. „Was hat die Polizei herausgefunden?“ „Nur sehr wenig“, antwortete er. „Der Mörder muß irgendwo im Haus auf Esteban gewartet haben. Niemand hat den Täter gesehen. Vermutlich ist er über die Mauer geklettert. Sie suchen jetzt mit Hunden nach Spuren.“ „Was steht auf dem Kärtchen? Kann jemand diese Zeichen lesen?“ „Mein Vater kann sie lesen. Es ist die alte Maya-Schrift. Auf dem Kärtchen steht: TOD DEN LADINOS!“ „Hm“, sagte ich nachdenklich. „Ladinos sind Mestizen, nicht wahr?“ 32
„Ja und nein“, sagte Ubaldo. „Das Wort kommt aus dem alten Spanisch. Es bedeutet ,die neue Sprache’. Man versteht aber darunter einen kultursozialen Begriff. Ein Mischling zwischen Weißen und Roten, normalerweise Mestize genannt, ist Ladino, aber auch der reinblütige Indianer, der die alten Gebräuche aufgibt und sich aus der indianischen Gemeinschaft löst, wird als Ladino bezeichnet.“ „Ich verstehe. Ihr habt auch Indianerblut in den Adern, und deshalb seid ihr auch Ladinos.“ „Richtig“, stimmte Ubaldo zu. „Unsere Familie hat sich mit indianischen DämonenSippen und auch normalen Menschen vermischt.“ „Wer könnte hinter dem Mord an Esteban stecken?“ „Das wissen wir nicht“, sagte Ubaldo. Ich blickte ihn forschend an. Vermutlich wußte er mehr, als er mir gegenüber zugeben wollte. Wahrscheinlich hatte ihm sein Vater verboten, mit mir über diese Angelegenheit ausführlicher zu sprechen. Ein paar Polizisten suchten mit hechelnden Schäferhunden den Garten ab, und wir kehrten ins Haus zurück. Die Halle war leer. „Ich gehe auf mein Zimmer“, sagte ich und stieg die Treppe hoch. Vor einem Fenster blieb ich stehen und blickte in den Garten. Ich sah den Polizisten zu, die den Garten durchsuchten. Doch nach 33
ein paar Minuten wurde mir das Zusehen langweilig. Nachdenklich blieb ich vor dem Kasten stehen, in den ich meine magischen Utensilien gelegt hatte. Es war nicht richtig, was ich vorhatte zu tun. Aber meine Neugierde siegte. Einen Augenblick zögerte ich noch, doch dann holte ich aus einer Tasche eine faustgroße magische Kugel, die ich aktivierte. Sie begann dunkelblau zu glühen. Ich legte die Kugel auf den Tisch und setzte mich nieder. Nun schloß ich die Augen und legte beide Hände auf die Kugel und konzentrierte mich auf Ubaldo Najera. Als ich etwa eine halbe Minute später die Augen öffnete, sah ich Ubaldos Gesicht in der Kugel. Dann war seine ganze Gestalt zu sehen, und schließlich erblickte ich das Zimmer, in dem er sich in diesem Augenblick aufhielt. Der Raum war groß und düster. Dann erblickte ich auch Victor und Ricardo. „Ich traue dieser kleinen Hexe nicht“, sagte Ricardo mit dröhnender Stimme, „Ich bin sicher, daß sie den Stuhl zusammenbrechen ließ.“ „Dafür hast du keinen Beweis“, sagte Victor scharf. „Und wenn sie es tatsächlich gewesen ist, wird sie einen Grund dafür gehabt haben. Wir kennen dich nur zu gut, Ricardo.“ Ricardo schnaubte, und ich grinste vergnügt. „Ich werde es der verdammten Hexe schon noch heimzahlen“, knurrte der 34
Polizeipräsident. „Nichts wirst du tun, Ricardo. Sie ist unser Gast. Du läßt sie hübsch in Ruhe. Haben wir uns verstanden?“ Widerwillig nickte Ricardo. „Kommen wir zum Wesentlichen“, sprach Victor weiter. „Esteban wurde in meinem Haus ermordet. Das ist ungeheuerlich. Dieser Mord muß gerächt werden!“ „Na fein“, sagte Ricardo spöttisch. „Du willst den Mord also rächen. Das ist eine durchaus löbliche Absicht. Aber da müssen wir vorerst einmal wissen, wer der Mörder ist!“ „Das herauszufinden ist deine Aufgabe, Bruder.“ „Ich habe keinerlei Spuren gefunden, Victor. Wir können nur vermuten, wer hinter dem Mord steckt. Vermutlich ist es eine der anderen mittelamerikanischen Sippen.“ „Sie hätten uns eine Kampfansage übermittelt“, schaltete sich Ubaldo ein. Ricardo winkte verächtlich ab. „Die Perez’ oder die Olmos werden sich Schwer hüten, eine offizielle Kampfansage zu deponieren.“ „Wir sind mit beiden seit vielen Jahren befreundet“, meinte Victor. „Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß sie einen Kampf wollen. Weshalb sollten sie uns bekriegen?“ Alle schwiegen nachdenklich. Ich wußte, daß der Perez-Clan einige Länder Mittelamerikas beherrschte. Die Olmos regierten in Honduras und Nicaragua. Einige 35
Mitglieder dieser Familien waren zu den höchsten Regierungsämtern gelangt und beuteten diese armen Länder erbarmungslos aus. „Nein“, sagte schließlich Victor entschieden, „ich glaube nicht, daß die Perez’ oder Olmos den Mord begangen haben. Meiner Meinung nach steckt dahinter ein uns unbekannter Dämon, der die Macht an sich reißen will.“ „Hm, es könnte aber durchaus ein uns bekannter Dämon sein“, sagte Ubaldo. „Du denkst wohl an Enrique Castillo?“ fragte Ricardo. „Möglich wäre es doch“, sagte Ubaldo. „Castillo liebt die Einsamkeit. Er umgibt sich nur mit seinen Freunden’, wie er die Raubvögel bezeichnet, die ihm gehorchen.“ „Castillo lebt in der Sierra Madre“, sagte Victor brummend. „Ihn interessiert unsere Familie überhaupt nicht. Wenn er die Herrschaft über unser Gebiet antreten wollte, dann könnte er es auch in einem offenen Kampf leicht schaffen. Castillo ist ein Freund Olivaros. Mit Olivaros Hilfe könnte er unsere gesamte Sippe in einer Viertelstunde zu willenlosen Sklaven verwandeln. Dämonen wie Castillo kommen meiner Meinung nach für den Mord an Esteban nicht in Frage.“ Ich stimmte mit Victors Meinung überein. Ich hatte zwar Olivaro noch nie persönlich kennengelernt, aber schon einiges über ihn gehört. Er war ein enger Vertrauter Asmodis, der aber Olivaro gegenüber eher mißtrauisch 36
war. Olivaro sollte ein uralter Dämon sein, über dessen Herkunft nur wenig bekannt war. Aber was ich von Olivaro wußte, bestärkte mich in meiner Ansicht, daß kaum ein mächtiger Einzeldämon hinter der Entführung Isabels und dem Mord an Esteban stecken konnte. Diese mächtigen Einzelgänger verfügten über gewaltige magische Fähigkeiten, die sie auch ohne Skrupel anwandten. „Vielleicht ist ein uns unbekannter Dämon aufgetaucht“, sagte Ubaldo. „Du spielst auf die verlassenen Indianerdörfer an“, murmelte Ricardo. „Genau, und auf die vielen rätselhaften Morde und Entführungen der letzten Monate und Jahre, für die wir keine Erklärung gefunden haben.“ Nun beugte ich mich neugierig vor. Das hörte sich ja sehr interessant an. „Gestern wurde in der Nähe von China ja die Leiche einer jungen Frau angeschwemmt“, sagte Ricardo. „Ihr fehlte das Herz. Es wurde herausgerissen.“ „Eine Opferung nach Art der alten Mayas“, flüsterte Ubaldo. „Richtig. Das ist nun schon die achte Mädchenleiche, die wir in den vergangenen zwei Wochen gefunden haben. Die Mädchen wurden alle vor vier Wochen aus einem Internat in der Nähe von Corban entführt.“ „Das spricht doch alles dafür, daß wir es mit einem unbekannten Dämon zu tun haben. 37
Denkt an die Gerüchte, die vom Auftauchen des Quetzal-Maya berichten.“ „Vater, du vermutest, daß irgendein Dämon diese Gerüchte in die Welt gesetzt hat, um die leichtgläubigen Indianer zu beeinflussen?“ „Das ist meine Vermutung. Und wahrscheinlich verfügt er über starke Hypnosefähigkeiten, mit denen er seine Opfer beeinflußt.“ „Wir müssen diesen Dämon finden“, sagte Ubaldo. Ricardo lachte spöttisch. „Das ist nicht so einfach, Ubaldo. Sollte dieser Dämon tatsächlich existieren, dann hält er sich irgendwo im Dschungel versteckt. Und dort ist er kaum zu finden.“ „Ich habe für morgen eine Versammlung aller Familienmitglieder einberufen“, sagte Victor. „Da werden wir alles ganz genau besprechen.“ „Da wird nicht viel dabei herauskommen“, knurrte Ricardo verächtlich. „Unsere Sippe besteht ja aus lauter Nieten.“ „Das will ich nicht gehört haben“, zischte Victor. „Aber es ist doch wahr, Bruder“, entrüstete sich der Polizeichef. „Unsere magischen Fähigkeiten sind verkümmert. Wenn ich da an andere Sippen denke… Nehmen wir nur den Zamis-Clan. Bei denen gibt es noch echte Magier. Wir sollten uns an Asmodi um Hilfe wenden.“ „Das wäre ein Zeichen von Schwäche.“ 38
„Asmodi weiß doch ganz genau, was er von uns zu halten hat“, sagte Ricardo verächtlich. „Wir könnten Hilfe gebrauchen.“ „Darüber sprechen wir morgen“, sagte Victor heftig. „Laßt mich jetzt allein.“ Ich brachte das Bild in der magischen Kugel zum Erlöschen und legte die Kugel in die Tasche zurück. Die Unterhaltung, die ich da belauscht hatte, war recht aufschlußreich gewesen. Das alles begann mich immer mehr zu interessieren. Ich witterte ein aufregendes Abenteuer.
Das Abendessen fand in einem kleinen Speisezimmer statt. Die Wände waren holzgetäfelt, und überall befanden sich Kunstgegenstände, die von den alten Mayas stammten. Ich saß neben Victor, uns gegenüber hatten Ubaldo und Ramon Platz genommen. Und zwischen den beiden jungen Dämonen saß Elena, die Frau des toten Esteban. Elena schien nicht besonders traurig über den Tod ihres Mannes zu sein. Sie trug ein scharlachrotes, offenherzig ausgeschnittenes Kleid, das ihre üppigen Formen gut zur Geltung brachte. Das pechschwarze Haar hatte sie aufgesteckt. Ihr Gesicht war rund und nicht unhübsch. Die Stimmung war alles andere als gut. Gesprochen wurde nicht viel. 39
Das Essen wurde von zwei jungen Indianermädchen serviert, die unter Einfluß einer mir unbekannten Droge standen. Sie bewegten sich eckig wie Marionetten. Das Mahl wurde mit einer Gazpacho, einer kalten Gemüsesuppe, begonnen. Danach wurde eine Paella aufgetragen. Ich aß nur wenige Bissen, das Essen entsprach nicht unbedingt meinem Geschmack. Das Chanfaina, ein Leberragout mit Kartoffelbrei, das anschließend serviert wurde, entsprach schon eher meinen Vorstellungen von einem guten Essen. Nach dem vierten Gang – es waren Albondiguillas, eine Art Fleischbällchen in Tomatensauce – war ich restlos satt. Die Nachspeise rührte ich nicht an. Ich trank zwei Gläser Rotwein und danach zwei Tassen Kaffee, der mir ausgezeichnet schmeckte. Nach dem Essen übersiedelten wir in die Bibliothek. Victor taute nun ein wenig auf. Er fragte mich nach meinem Vater, den er vor vielen Jahren bei einem Hexensabbat in London kennengelernt hatte. Bei seinen Erzählungen wurde mir wieder einmal bewußt, wie wenig ich eigentlich über meinen Vater wußte. Er war ein Fremder für mich. Vor meinem Vater hatte ich schon als kleines Kind eine panische Angst gehabt. Meine Mutter hatte mich mehr oder minder ignoriert. 40
An den Grausamkeiten, die meine Geschwister begingen, hatte ich nie Spaß gehabt. Innerhalb unserer Familie war ich eine Außenseiterin seit meiner frühesten Kindheit gewesen. Meine Brüder und Schwestern hatten sich über mich lustig gemacht, und die normalen Kinder hatten sich von mir abgewandt. Nie hatte ich eine Freundin gehabt oder auch nur einen Dämon oder Menschen, mit dem ich offen sprechen konnte. Und danach die fünf endlos langen Lehrjahre im Schloß meines Patenonkels. Der Graf Cyrano von Behemoth und die Hexe Sandra Thorton, Pietro Salvatori und meine Schwester Vera, das waren die einzigen gewesen, die ich zwischen meinem 12. und 17. Lebensjahr zu Gesicht bekommen hatte. Vera war nun schon über ein Jahr lang tot, und Pietro Salvatori hatte ich vor ein paar Wochen in England getroffen. Er haßte mich noch immer, und ich wußte, daß ich eines Tages diesen heimtückischen Vampir töten würde. Das hatte ich mir fest vorgenommen… Wie erwartet mußte ich den Najeras über den Anschlag Atmas auf Asmodi erzählen, bei dem ich ja eine ziemlich wichtige Rolle gespielt hatte. (Dämonenkiller-TB-Nr. 31 – COCO UND DER MAGIER). Aber natürlich strich ich mehr die Fähigkeiten meines Bruders Georg heraus, das hatte ich mit meinem Vater so vereinbart. Es konnte nichts schaden, wenn andere Sippen von unseren Heldentaten erfuhren. Das stärkte die Position 41
unseres Clans, obzwar mir das persönlich völlig unwichtig war. Elena langweilte sich bei meiner Erzählung sichtlich, während mir die anderen gespannt zuhörten. Die Zeit verging im Flug. Ich mußte Hunderte von Fragen beantworten. Mein Hals tat mir vom vielen Sprechen schon weh. Ich war froh, als sich Victor und Elena zurückzogen. Ein paar Minuten später ging dann auch Ramon. Ubaldo musterte mich aufmerksam. Er begehrte mich, und ich genoß seine verlangenden Blicke. „Was hältst du davon, wenn wir irgendwohin tanzen gehen?“ fragte er. Ich überlegte einen Augenblick. Estebans Tod schien die Sippe nicht sehr getroffen zu haben, sonst hätte er wohl kaum diesen Vorschlag gemacht. Ich war noch nicht müde, und außerdem hatte ich nichts gegen eine Abwechslung einzuwenden. Zu lange war ich wie eine Gefangene gehalten worden. „Gern“, sagte ich lächelnd.
Das Nachtleben in Ciudad de Guatemala war alles andere als aufregend, wie mir Ubaldo berichtete. Aus eher unerfindlichen Gründen wird die Stadt auch La Petite Ville Lumiere genannt, was so viel wie „Die Kleine Lichtstadt“ bedeutet. 42
Der Maracas Club war eines der aufwendigsten und teuersten Nachtlokale der Stadt. Er war verschwenderisch und geschmackvoll eingerichtet. Wir nahmen in einer verschwiegenen Nische Platz, von der wir einen guten Blick auf die Tanzfläche und die Band hatten. Im Augenblick spielte eine bekannte MarimbaBand. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich mich an die Musik gewöhnt hatte, dann gefiel sie mir gar nicht so übel. Ubaldo bestellte eine Flasche Bourbon bei einem der Indio-Kellner. „Guatemala wird oft als das Land des Quetzal bezeichnet“, sagte er, „aber man könnte es auch das Land der Marimba nennen.“ „Die Marimba ist das komische Instrument, auf das die Burschen wie verrückt einschlagen.“ „Stimmt genau.“ Ich lehnte mich bequem zurück und sah der Band zu. Die Musik war recht aufreizend und gefiel mir von Minute zu Minute besser. Ubaldo schien ein feines Gespür für Stimmungen zu haben, denn er sagte kein Wort, aber ich merkte, daß sein Blick immer wieder zu mir wanderte. Sein Interesse an mir tat mir wohl, aber ich kämpfte die lang unterdrückten Wünsche und Begierden nieder. Meine intimen Erfahrungen mit Männern und Dämonen waren alles andere als erfreulich gewesen. Rupert Schwinger war meine erste 43
große Liebe gewesen, und er hatte für meine Zuneigung bitter gebüßt. Ben Elkin war meine zweite Liebe gewesen, doch er hatte mich enttäuscht. Dann hatte es auch andere gegeben, die mir gefallen hatten, doch ich hatte meine Gefühle unterdrückt. Ich hatte Angst davor, mich rückhaltlos zu verlieren, da ich genau wußte, wie verhängnisvoll sich das auf die Entfaltung meiner Fähigkeiten auswirkte. Der Kellner servierte den Whiskey, und Ubaldo schenkte ein. Wir stießen an, und ich trank einen kleinen Schluck. „Du hast mir über deine Familie und vor allem über deine Schwester Isabel erzählen wollen, Ubaldo“, sagte ich, um mich abzulenken. Seine Nähe wurde mir immer deutlicher bewußt. „Nicht jetzt“, sagte er leise und griff nach meiner rechten Hand. Ich wußte, was nun kommen würde, aber ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. In mancher Beziehung war ich noch naiv und unerfahren wie ein kleines Mädchen. Er rutschte näher und legte seinen linken Arm um meine Schulter. Seine Hand strich über mein Haar, und er drehte meinen Kopf in seine Richtung. Als er seinen Kopf vorbeugte und mich küssen wollte, hypnotisierte ich ihn. Sein Blick wurde glasig, und er saß wie eine Statue da. „Das ist auch keine Lösung“, flüsterte ich. 44
Ich hätte ihn jetzt fragen können, wie er zu mir stand, was seine Gefühle mir gegenüber waren, aber das hätte alles zerstört, was noch zwischen uns beiden entstehen konnte. Ich löste die Hypnose. Er hatte nichts davon gemerkt. Seine Lippen kamen näher. Dann lagen sie auf den meinen, fest und fordernd. Ich erwiderte den Kuß und drehte den Keof zur Seite und legte ihn an seine Schulter. „Du bist wunderschön“, flüsterte er und küßte mich auf die Stirn. „Wunderschön. So wie dich habe ich noch nie eine Dämonin begehrt. Ich sträubte mich etwas, als er mich wieder küßte, doch dann klammerte ich mich an ihn an und spürte seine verlangenden Hände an meinem Körper. Wohlige Schauer durchrieselten meinen Leib, und ich merkte, daß ich die Herrschaft über meinen Körper verlor. Ruckartig löste ich mich aus seiner Umarmung. Er blickte mich verwirrt an. Nicht so hastig, Ubaldo“, sagte ich schwer atmend. „Ich bin der Typ der verweichlichten Hexe, die nicht gleich mit jedem Dämon, der ihr gefällt, ins Bett geht.“ Er lächelte, und sein Lächeln machte mich schwach. Ich war sicher, daß er genau wußte, welche Wirkung dieses Lächeln auf Frauen ausübte. Zu meiner größten Überraschung machte er aber keinen weiteren Annäherungsversuch. 45
Ich hatte schlecht geschlafen. Immer wieder war ich hochgeschreckt und hatte Ubaldos Gesicht vor mir gesehen. „Na fein“, sagte ich brummend, als ich aus dem Bett kroch. „Da bin ich dumme Gans wieder einmal auf dem Weg, mich zu verlieben.“ Kopfschüttelnd ging ich ins Badezimmer und versuchte, nicht an Ubaldo zu denken. Eigentlich hatte ich mich ja gestern mit Ubaldo über das rätselhafte Verschwinden seiner Schwester unterhalten wollen. Außerdem wollte ich nähere Informationen über die Morde und Entführungen erhalten, von denen Ricardo Najera gesprochen hatte. Ich blieb ein paar Minuten lang unter der Dusche stehen und genoß das kalte Wasser auf meiner Haut. In Guatemala gärte es wie in so vielen anderen mittelamerikanischen Staaten. Für Politik interessierte ich mich ja nicht besonders, aber ich wußte, daß vor wenigen Wochen der Erzbischof Mario Casariego entführt worden war. Politische Attentate waren hier an der Tagesordnung. Die Regierung machte dafür castro-freundliche Gruppen, aber auch rechtsextreme Gruppen verantwortlich. Möglicherweise konnte aber auch eine Dämonengruppe diese Unruhen inszeniert haben. 46
Ich trocknete mich ab und schlüpfte in enganliegende Jeans und eine einfache weiße Bluse. Um den Hals hängte ich mir eine magische Kette, die mir Schutz vor der Ausstrahlung von Kreuzen und Kirchen bieten sollte. Ich war nicht so anfällig gegen diese Ausstrahlung wie die meisten anderen Mitglieder der Schwarzen Familie, aber in einem katholischen Land wie Guatemala, wo sich an jeder Ecke eine Kirche oder Kapelle befand, wollte ich kein Risiko eingehen. Im Haus war es ruhig. Ich stieg die Treppe hinunter. Ubaldo erwartete mich bereits in der Halle. Breit lächelnd kam er auf mich zu. Ich spürte, wie mein Herz schneller schlug. „Gut geschlafen?“ erkundigte er sich und drückte mir einen sanften Kuß auf die Lippen. „Nicht so besonders“, sagte ich und versuchte möglichst kühl und unnahbar zu wirken. Er führte mich ins Speisezimmer und rief einem der Indianermädchen etwas zu. „Gibt es irgendwelche Neuigkeiten?“ fragte ich, als ich Platz genommen hatte. Er setzte sich mir gegenüber und schüttelte den Kopf. „Isabel ist noch immer verschwunden“, sagte er, „und Ricardo hat noch immer keinerlei Anhaltspunkte, wer Estebans Mörder sein könnte.“ Er sah mich schmachtend an, doch ich 47
reagierte nicht auf seinen Blick. Seine Nähe machte mich unsicher. „Du hast mir einiges über deine Schwester erzählen wollen“, sagte ich rasch, bevor er noch mit Liebesgeflüster beginnen konnte. Nur zu deutlich merkte ich, daß ihm dieses Thema alles andere als angenehm war. „Tja, sie ist eine Vampirin, aber das habe ich dir ja schon erzählt. Sie ist achtzehn Jahre alt und verbrachte fast ihr ganzes Leben hier im Haus. Tageslicht schätzt sie nicht. Und mit ihrem abstoßenden Äußeren konnte sie sich auch kaum unter normale Menschen wagen. In Vollmondnächten schlug dann das Vampirblut durch. Ihr wuchsen Vampirzähne, und sie war verrückt nach Blut. In diesen Nächten begleitete sie ein Mitglied unserer Familie. Sie suchte sich ihre Opfer selbst aus, sprang sie an und saugte ihnen ein wenig Blut aus. Doch plötzlich, vor ein paar Monaten, drehte sie durch. Ramon paßte auf sie auf, doch sie lief ihm davon und tötete fünf Menschen. Seit damals sperren wir sie in Vollmondnächten ein.“ „Wie hat sie dann entführt werden können?“ Bevor er noch antworten konnte, betrat das IndioMädchen das Zimmer. Sie stellte ein gewaltiges Tablett auf den Tisch. Ubaldo wartete, bis sie die vielen Teller und Tassen abgestellt und das Zimmer verlassen hatte. Ich schenkte eine Tasse Kaffee ein und bestrich ein Brötchen dick mit Butter. „Isabel wurde auch in der vergangenen 48
Vollmondnacht eingesperrt“, sprach Ubaldo weiter. „Ramon brachte ihr ein Opfer. Aber dieses Opfer schien ihr nicht zu gefallen, denn sie schlug Ramon nieder und rannte aus dem Haus. Ramon verständigte mich, und wir suchten nach Isabel. Aber wir fanden sie nicht. Sie hat ein junges Ehepaar angesprungen und den beiden etwas Blut ausgesaugt. Ein Streifenwagen der Polizei hatte Isabel entdeckt, und die Polizisten hatten sie festnehmen wollen, doch sie hatte sie niedergeschlagen und war entkommen.“ „Hm“, sagte ich nachdenklich und trank einen Schluck Kaffee. „Vielleicht hat sie Angst bekommen und sich irgendwo versteckt?“ „Daran haben wir auch gedacht und die ganze Umgebung abgesucht, aber wir fanden keine Spur von ihr. Vielleicht ist sie entführt worden.“ „Entführungen scheinen ja in Guatemala an der Tagesordnung zu sein“, bemerkte ich. „Das stimmt“, sagte er brummend. „Werden da irgendwelche Lösegeldforderungen gestellt?“ „In den seltensten Fällen“, sagte er und blickte mich an. „Das ist ja das Seltsame. Meistens sind es völlig bedeutungslose Menschen, die entführt werden. Und nach ein paar Tagen, aber auch Wochen, werden sie dann gefunden. Sie sind tot. Ihnen wurde das Herz herausgerissen.“ „Eine Opferung nach Art der alten May äs“, sagte ich, so als würde ich davon einiges 49
verstehen. „So sieht es aus. Es sind völlig sinnlose Morde.“ „Und es gibt keinerlei Hinweis, wer dahinterstecken könnte?“ „Nur Gerüchte.“ „Und die sind?“ „Angeblich soll der Quetzal-Maya aufgetaucht sein. Aber das ist dummes IndioGerede.“ „Wer ist der Quetzal-Maya?“ „Der Quetzal ist der heilige Vogel der Mayas“, erklärte Ubaldo. „In alten Sagen wird davon berichtet, daß irgendwann einmal ein Maya-Gott erstehen soll, der sich in den heiligen Vogel verwandeln kann. Einige Indios behaupten nun, daß dieser Quetzal-Maya erschienen sei. Er werde das Reich der Mayas neu gründen. Die Indianer würden wieder herrschen und alle Ladinos und Weißen vertreiben oder töten.“ „Und ihr vermutet nun, daß sich irgendein Dämon dieser alten Sagen bedient und sich als Quetzal-Maya ausgibt?“ „Das wäre eine Möglichkeit, die einiges für sich hat. Dafür würde auch sprechen, daß in den vergangenen Monaten ganze Indio-Dörfer verlassen wurden. Die Bewohner verschwanden spurlos über Nacht.“ „Ich möchte mir gern so ein verlassenes Dorf ansehen“, sagte ich rasch. „Ist das möglich?“ „Möglich ist es schon“, meinte er, „aber warum willst du dir eines ansehen?“ 50
„Vielleicht kann ich euch helfen“, sagte ich. Verwundert beugte er sich vor. „Aber ich glaube nicht, daß mein Vater…“ „Dein Vater braucht nichts davon zu wissen“, unterbrach ich ihn. „Etwas anderes. Ihr seid alle nicht sehr traurig über Esteban Gores Tod.“ „Die Idee mit der Hochzeit zwischen Esteban und Elena hatte mein Vater. Mein Vater versteht sich nicht so besonders mit Elena. Er wollte sie aus dem Haus haben. Und als Esteban sein Interesse an Elena zeigte, stimmte er sofort einer Hochzeit zu. Wir alle verstanden uns nicht so besonders mit ihm. Und Elena ist glücklich, daß sie ihn los ist.“ Das waren ja feine Familienverhältnisse, aber durchaus üblich innerhalb der Schwarzen Familie. Die Kinder hatten dem Vater zu gehorchen – taten sie es nicht, dann konnten sie aus der Sippe ausgestoßen werden und galten als geächtet.
Kurz nach elf Uhr verließen wir die Stadt. Für mich war Guatemala City nur wenig reizvoll. Mich störte vor allem die offensichtlich arme Bevölkerung. Wir waren durch einige Viertel gefahren, die einfach menschenunwürdig waren. Ubaldo fuhr in Richtung Südwesten die Straße nach Antigua entlang. Deutlich war der kegelförmige Vulkan Agua vor uns zu sehen. 51
Landschaftlich war die Hochebene überaus reizvoll. Nur wenige Autos kamen uns entgegen. Gelegentlich fuhren wir aber an uralten, klapprigen Autobussen vorbei, die völlig überladen waren. Und immer wieder waren primitive Hütten zu sehen. „Die Bevölkerung scheint unendlich arm zu sein“, sagte ich schließlich. Ubaldo nickte zustimmend. „Mir fällt diese unglaubliche Armut gar nicht mehr auf. Aber sie ist vorhanden und wird sogar noch schlimmer. Die meisten Leute sind unvorstellbar arm. Sie haben kaum mehr als eine einfache Hütte aus Stroh und Lehm, einen Lehmherd und Hängematten. Die meisten Familien haben zwischen fünf und fünfzehn Kinder. Manche besitzen nur ein Hemd, eine Hose und selbstgebastelte Sandalen aus alten Autoreifen, einen Strohhut und die unvermeidliche Machete, die als Universalwerkzeug dient. Sie trinken alle Aguardiente, den billigen Zuckerrohrschnaps, den man als Volksseuche bezeichnen kann. Die meisten sind Analphabeten, unterernährt, und die Sterblichkeitsziffern sind ungewöhnlich hoch. Wohlhabendere besitzen einen Radioapparat, einen uralten Kühlschrank und eine Nähmaschine, aber zu so einem Reichtum bringen es nur wenige.“ „Weshalb wird dagegen nichts unternommen?“ fragte ich scharf. „Da bin ich überfragt, Coco“, sagte Ubaldo. 52
„Die Regierung bemüht sich, das zu ändern, aber überall gibt es Korruption. Das Land befindet sich in den Händen einiger unendlich reichen Familien.“ „Deine gehört doch auch dazu?“ „Ja, das stimmt. Ich habe mich öfters mit meinem Vater darüber unterhalten. Er kann nichts gegen diese Zustände unternehmen, denn das würde nicht zu einem Mitglied der Schwarzen Familie passen. Die anderen Sippen würden sich sofort gegen uns stellen. Aber er startete einen Versuch. Er zahlte höhere Löhne, doch das Ergebnis war niederschmetternd. Die Arbeiter kauften sich nur noch mehr Schnaps, waren jeden Tag betrunken und kamen selten zur Arbeit. Er gab ihnen mehr Lebensmittel, doch die Arbeiter versuchten sie zu verkaufen. Eine Änderung könnte nur bei den Kindern eintreten, aber da ist wieder die Schwierigkeit, daß die Eltern nicht einsehen wollen, weshalb ihre Kinder zur Schule gehen sollen. Das alles ist ein Teufelskreis, aus dem man nur sehr schwer ausbrechen kann.“ Etwas verwundert blickte ich Ubaldo an. Seine Familie mußte tatsächlich verweichlicht sein, daß sie sich um das Schicksal der Ärmsten kümmerte. Das war völlig untypisch für eine Sippe der Schwarzen Familie, machte sie mir aber sympathischer. Wir fuhren eben durch einen kleinen Ort, als Ubaldo plötzlich abbremste und stehenblieb. „Was ist los?“ fragte ich. 53
Eine Gruppe ärmlichst gekleideter Männer und Frauen überquerte die Staubstraße. Als erster ging ein traurig blickender Indio, der eine kleine Holzkiste in den Händen trug. „Ein Kinderbegräbnis“, sagte Ubaldo leise. Die Gruppe stapfte auf einen kleinen Hügel zu, auf dem weiße Holzkreuze standen. „Entsetzlich“, flüsterte ich. Mir taten die Menschen in diesem Land leid. Und da merkte ich wieder einmal, wie wenig ich noch ein Mitglied der Schwarzen Familie war. Ich gehörte zwar dazu, aber ich war eine totale Außenseiterin. Schweigend fuhr Ubaldo weiter. Irgendwann bog er dann nach rechts in eine schmale Straße ein, die unendlich schlecht war. Zu beiden Seiten lagen dichte Nadelwälder. Nach ein paar Minuten bremste Ubaldo ab und ließ den Wagen langsam ausrollen. „Wir müssen zu Fuß weiter“, sagte er und stieg aus. Es war unwirklich still. Nur das Geräusch unserer Schritte war zu hören. Wir gingen einen schmalen Weg entlang, der ziemlich steil anstieg. Nach wenigen Minuten blieb Ubaldo stehen. „Siehst du das Indio-Dorf?“ fragte er. Ich sah es. Es waren etwa zwanzig kleine Hütten, die sich an einen Abhang schmiegten. „Diese Häuser sind schon uralt“, erklärte Ubaldo. „So bauten auch die May äs vor tausend Jahren.“ 54
Interessiert starrte ich die Häuser an. „Es sind sogenannte Zutuhil-Häuser“, sprach Ubaldo weiter. „Das Mauerwerk ist aus nicht gebundenem Lavageröll gefertigt. Das Grasdach ist mit umgekehrter Tonschale gekrönt.“ Kein Mensch ließ sich blicken. Wir erreichten die ersten Häuser und sahen uns um. „Seit wann ist dieses Dorf verlassen?“ fragte ich. „Seit etwa einem halben Jahr“, sagte Ubaldo und schritt auf eines der kleinen Häuser zu. Neugierig folgte ich ihm. Doch ich war enttäuscht, als ich das Haus betrat. Es war völlig leer. Die Bewohner hatten alle ihre Habseligkeiten mitgenommen. „Wohin sind die Indios verschwunden?“ fragte ich, als wir ins Freie traten. „Das wissen wir nicht“, brummte Ubaldo. „Willst du noch ein paar Hütten besichtigen?“ „Nein, mein Bedarf ist gedeckt“, sagte ich. „Gibt es in der Nähe vielleicht ein anderes Dorf?“ „Ja, es ist ziemlich in der Nähe.“ „Ich möchte in dieses Dorf.“ „Und weshalb?“ „Ich will mich mit ein paar Indios unterhalten. Vielleicht wissen sie etwas über das Verschwinden der Dorfbewohner.“ Ubaldo lächelte. „Das ist sinnlos. Du wirst keine Antwort auf deine Fragen bekommen. Das haben wir auch schon versucht. Doch sie schweigen. Sie haben nichts gehört und nichts 55
gesehen. Vergebliche Liebesmühe, Coco. Laß uns lieber umkehren. Fahren wir zum AtitlanSee. Er wird dir gefallen.“ „Das hat Zeit“, winkte ich ab. „Ich will mit den Indios aus dem Nachbardorf sprechen.“ Resignierend zuckte er die Schultern. „Nun gut, wenn du unbedingt darauf bestehst. Aber wir werden eine halbe Stunde gehen.“ „Das spielt keine Rolle“, sagte ich lächelnd. „Ein wenig Bewegung wird uns ganz gut tun.“
Das Dorf unterschied sich nicht von dem, das wir vor einer halben Stunde gesehen hatten. Die Indios taten, als würden sie uns nicht sehen. In der Nähe des Dorfes lagen Maisund Bohnenfelder. Nur wenige Männer waren im Dorf. Es waren reinblütige Maya. Das Haar war glatt und pechschwarz. Die Augen dunkelbraun, die Nase gekrümmt. Das Gesicht breit, mit vorstehenden Backenknochen und einer deformierten Stirn. „Glaubst du, Ubaldo, daß irgend jemand hier Spanisch spricht?“ „Möglich ist es schon“, meinte er, „aber ich fürchte, sie werden uns überhaupt nicht anhören.“ „Frag diesen Mann da“, sagte ich und zeigte auf einen kräftig gebauten Indio, dessen Haar mit weißen Strähnen durchzogen war. Ubaldo blieb vor dem Indio stehen, der vor 56
einer Hütte saß und uns ignorierte. Der Maya-Dialekt, den Ubaldo jetzt sprach, klang musikalisch und recht wohllautend. Dazwischen gab es aber auch Knacklaute, die mich an das Krächzen eines Papageis erinnerten. Der Alte hob nicht einmal den Kopf. „Es ist hoffnungslos“, sagte Ubaldo und blickte mich bedauernd an. Ich seufzte leise auf. Eigentlich hatte ich nicht meine Fähigkeiten einsetzen wollen, denn je weniger Ubaldo darüber Bescheid wußte, um so besser war es. Aber mir blieb keine andere Wahl. Langsam kniff ich die Augen zusammen und starrte den alten Indio an. Hm, wenn ich mich in den rascheren Zeitablauf versetzen würde, dann konnte ich unbemerkt von Ubaldo den Alten hypnotisieren. Und das tat ich dann auch. Die Fähigkeit, die Zeit zu beherrschen, war eine Spezialität unserer Familie. Nur wenige Mitglieder der Schwarzen Familie wußten von dieser ungewöhnlichen Gabe. Ich konnte quasi die Zeit stehen lassen. Für alle Menschen blieb die Zeit stehen, doch ich konnte mich bewegen. Ubaldo stand unbeweglich wie eine Statue da. Rasch trat ich auf den Alten zu und riß ihn in meine Zeitebene. Verwundert blickte er mich an. Er setzte mir keinerlei Widerstand entgegen, als ich ihn hypnotisierte. Danach 57
versetzte ich mich wieder in den normalen Zeitablauf. Der Alte bewegte sich und hob den Kopf und blickte mich aus kurzsichtigen Augen fragend an. „Sprechen Sie Spanisch?“ fragte ich. „Ja“, sagte der Alte krächzend. Ubaldo blickte mich verblüfft an. „Ich habe einige Fragen“, sprach ich weiter. „Fragen Sie nur“, sagte der Alte freundlich. Ubaldo schüttelte verwirrt den Kopf. „Ich möchte etwas über das Verschwinden der Bewohner des Nachbardorfes wissen“, sprach ich weiter. „Können Sie mir darüber etwas berichten?“ Der Alte nickte bedächtig. „Sie waren auch bei uns.“ „Wer war bei Ihnen?“ „Das junge Paar. Er nannte sich Calli und sie hieß Xochi. Beide sagten, daß sie reinblütige Maya seien und Abgesandte vom QuetzalMaya. Sie wollten, daß wir ihnen folgen sollten. Sie sprachen davon, daß das Reich der Mayas wiedererstehen würde. Irgendwo im Dschungel solle sich eine Stadt befinden, in der der Quetzal-Maya herrschen soll.“ „Haben die beiden gesagt, wo sich die Stadt befindet?“ „Im Dschungel. Mehr haben sie nicht gesagt.“ „Und weshalb haben Sie sich den beiden nicht angeschlossen?“ „Uns gefällt es hier gut“, antwortete der Alte. 58
„Wir wollen nicht im Dschungel leben. Das Hochland liegt uns vielmehr.“ „Dieser Calli und diese Xochi sind dann ins Nachbardorf gegangen?“ „Ja, und dort muß es ihnen gelungen sein, die Bewohner zum Mitkommen zu überreden.“ „Haben Sie seit damals irgendwelche Bewohner des Nachbardorfes wiedergesehen?“ „Nein, niemand.“ „War irgend etwas Auffälliges an den beiden zu bemerken?“ „Sie sprachen einen ziemlich unverständlichen Dialekt. Beide waren etwa zwanzig Jahre alt. Mehr kann ich nicht sagen.“ Ich stellte noch ein paar Fragen, doch der Alte konnte mir keine weiteren Informationen geben. Wir verabschiedeten uns von ihm und verließen das Dorf. Immer wieder warf mir Ubaldo einen prüfenden Blick zu. Ich ahnte seine Gedanken. Er konnte sich das plötzliche Umschwenken des alten Indios nicht erklären. Vermutlich rätselte jetzt Ubaldo, was ich getan hatte, um den Alten zum Sprechen zu bringen. „Was hältst du von dem Bericht des Alten, Ubaldo?“ „Er bestätigt unsere Vermutung, daß hinter dem Quetzal-Maya ein uns unbekannter Dämon steckt.“ „Und was ist mit der Stadt im Dschungel?“ „Immer wieder werden alte Maya-Städte 59
entdeckt. Es ist durchaus möglich, daß der Dämon sich in so einer längst vergessenen Stadt versteckt.“ „Und die Indios braucht er vielleicht zum Aufbau dieser Stadt?“ „Das ist wahrscheinlich“, antwortete Ubaldo nachdenklich. Ich blickte ihn an. Er war mit seinen Gedanken ganz weit fort. „Hast du die Namen Calli und Xochi früher schon einmal gehört, Ubaldo?“ „Nein. Sie werden heute nicht mehr als Namen verwendet. Calli heißt Haus, und Xochi ist die Koseform von Xochitl, was soviel wie Blume bedeutet. Ich kenne niemand, der so heißt.“ „Das hilft uns also auch nicht weiter. Vielleicht kann uns aber dein Onkel Ricardo helfen.“ Ubaldo lachte. „Onkel Ricardo ist völlig unfähig. Ein würdiger Polizeipräsident. Er kann uns sicherlich nicht weiterhelfen.“ „Das glaube ich nicht. Ich hätte gern eine Aufstellung aller verschwundenen Personen, wo und wann sie entführt wurden. Und wann und wo sie wieder aufgetaucht sind. Außerdem möchte ich eine Liste von allen Indianerdörfern, die verlassen wurden. Das sollte uns doch dein Onkel besorgen können.“ „Ja, so weit werden seine Fähigkeiten wohl noch ausreichen. Was unternehmen wir jetzt? Fahren wir zum Atitlan-See?“ „Nein, wir fahren zurück in die Stadt, und du 60
gehst sofort zu Ricardo.“ Nur zu deutlich war ihm anzusehen, wie wenig ihm mein Vorschlag gefiel.
Ich saß in der Bibliothek im Haus der Na jeras und blätterte in einigen Büchern über die Mayas. Mein Wissen über diese alte Indianerkultur war äußerst gering. Schon nach wenigen Minuten hatte ich mich festgelesen, und meine Faszination stieg von Minute zu Minute. Eine Frage, die in allen Büchern aufgeworfen wurde, interessierte mich besonders. Weshalb hatten die Mayas plötzlich von einem Tag auf den anderen ihre Städte verlassen? Dafür gab es einfach keine vernünftige Erklärung. Ich legte das Buch zur Seite und steckte mir eine Zigarette an. Was hatte das Maya-Volk bewegen, damals vor über tausend Jahren die prachtvollen Städte ihres Reiches für immer zu verlassen? Das war völlig unverständlich. Genauso unverständlich wäre es für mich gewesen, hätten vor zweitausend Jahren die Römer plötzlich ihre Stadt verlassen und sich in Afrika neu angesiedelt. Und kaum in Afrika angekommen, hätten sie Rom nachgebaut. Zuerst hatten einige Wissenschaftler vermutet, daß fremde Eindringlinge die Mayas aus ihren Städten vertrieben hatten. Aber um welche Eindringlinge konnte es sich da 61
handeln? Sie hatten keine Feinde zur damaligen Zeit zu fürchten, da ihr Reich auf dem Höhepunkt stand. Und außerdem war die Theorie mit den Eindringlingen nicht zu halten, da in den Städten keinerlei Spuren einer Eroberertätigkeit gefunden worden waren. War es eine Naturkatastrophe, die sie zur Flucht veranlaßte? Oder eine Seuche? Oder ein plötzlicher Klimawechsel? Alles Vermutungen, für die es keinen Beweis gab. : Ich las weiter und schreckte erst hoch, als die Tür geöffnet wurde und Ubaldo eintrat. „Hast du die gewünschten Informationen erhalten?“ fragte ich und stand auf. „Teilweise“, sagte er und reichte mir eine große Landkarte von Mittelamerika, die auf ein Holzbrett aufgezogen war. „Ricardos Aufzeichnungen sind nur sehr unvollständig. Er hat aber ein paar Beamte beauftragt, die fehlenden Daten zusammenzustellen. Hier hast du die Listen, die er mir gegeben hat.“ Die erste Liste enthielt an die dreißig Indianer-Dörfer, die in den vergangenen fünf Jahren plötzlich verlassen wurden. In der zweiten waren etwa hundert Personen verzeichnet, die verschwunden waren, und deren Leichen man gefunden hatte. „Das sollte uns schon etwas weiterhelfen“, sagte ich zufrieden. „Wo können wir die Landkarte aufhängen?“ Ubaldo nahm ein Bild von der Wand und hängte die Landkarte hin. 62
„Sehr gut“, sagte ich. „Hast du auch die Stecknadeln mitgebracht.“ Ubaldo nickte und zog aus seiner Rocktasche eine Schachtel hervor, die er auf den Tisch legte. Ich setzte mich an den Tisch und öffnete die Schachtel. Stecknadeln mit zehn verschiedenfarbigen Köpfen lagen darin. „Du gehst zur Landkarte, Ubaldo“, sagte ich und holte Stecknadeln mit roten Köpfen aus der Schachtel. „Ich sage dir die Orte und Städte an, in deren Nähe die verlassenen Indianerdörfer liegen. Und du steckst eine Stecknadel in die Karte. Verstanden?“ „Verstanden“, sagte er und nahm die Nadeln an sich. „Poptun“, sagte ich. Ubaldo suchte den Ort und steckte eine Nadel hinein. „Chinaja“, las ich weiter von der Liste vor. „Itzpone, La Libertad und Muxaja.“ Die vier Ortschaften lagen in einem Umkreis von etwa fünfzig Kilometer im Dschungelgebiet. Ich sagte Ubaldo die anderen Namen an. Genau zweiundzwanzig Dörfer befanden sich im Urwaldgebiet und nur sechs außerhalb. Und diese sechs waren im vergangenen Halbjahr verlassen worden. Mit den verschwundenen Personen verhielt es sich ähnlich. In den ersten Jahren waren sie fast ausschließlich aus dem Dschungelgebiet entführt worden, erst seit 63
etwa einem Jahr gab es auch Entführungen in der Hauptstadt. Und die Leichen wurden fast ausschließlich im Dschungelgebiet gefunden. „Nun, was sagst du dazu?“ fragte ich. Ubaldo studierte die Karte aufmerksam. „Vermutlich steckt der unbekannte Dämon tatsächlich im Dschungel“, meinte Ubaldo. „Alles weist daraufhin.“ „Das ist auch meine Vermutung“, sagte ich. Vor der Karte blieb ich stehen. Mit einem Kugelschreiber zog ich Linien von einem verlassenen Dorf zum anderen. Die meisten Linien kreuzten sich in der Nähe von Sayaxche. „Was hältst du von einem Ausflug in den Dschungel?“ fragte ich lächelnd. „Nur sehr wenig“, brummte Ubaldo. „Du willst doch nicht tatsächlich in den Dschungel gehen und nach dem unbekannten Dämon suchen?“ „Genau das will ich“, sagte ich fröhlich. „Du bist verrückt“, meinte Ubaldo und schüttelte den Kopf. „Nein, das bin ich nicht. Ich werde mit deinem Vater darüber sprechen.“ „Er wird es niemals zulassen, daß du dich auf die Suche nach dem Dämon machst. Du bist unser Gast und…“ „Ich spreche mit ihm“, unterbrach ich Ubaldo. „Dann werden wir weitersehen.“ „In einer halben Stunde beginnt unser Familientreffen“, meinte Ubaldo. „Vater hat keine Zeit für dich.“ 64
„Das spielt keine Rolle. Ich habe Zeit. Ich werde mit ihm morgen sprechen.“ „Aus dir werde ich nicht klug, Coco“, sagte Ubaldo leise. „Weshalb interessiert dich das alles?“ „Neugierde“, sagte ich lächelnd. „Es muß mehr sein“, sagte er und kam auf mich zu. „Vergiß lieber den unbekannten Dämon. Wir könnten auf ein paar Tage nach Huitzitzil an die Küste fahren. Dort haben wir ein Haus. Es ist wunderschön dort.“ „Mich reizt der Dschungel mehr“, sagte ich, drehte mich um und ging auf mein Zimmer.
Ubaldo starrte Coco nach, dann schüttelte er mißgelaunt den Kopf. Sie war die tollste Hexe, die er bis jetzt kennengelernt hatte. Ganz anders als alle anderen, die er kannte. Die meisten waren hinterhältig, böse und genußsüchtig. Wieder erinnerte er sich an die französische Hexe, die er vor zwei Jahren zu betreuen gehabt hatte. Sie gehörte der mächtigen D’Arcy-Sippe an. Ihr Name war Pascale gewesen. Sie war klein und zierlich gewesen, und er hatte ihren magischen Kräften nichts entgegenzusetzen gehabt. Innerhalb von wenigen Minuten hatte sie ihn zu ihrem Sklaven gemacht. Schaudernd erinnerte er sich an ihre perversen Wünsche. 65
Aber Pascale war eine der typischen Hexen der Schwarzen Familie. Egoistisch und hemmungslos. Ein Menschenleben zählte für sie nicht. Und Coco war das genaue Gegenteil. Sie schien sanft und freundlich zu sein, doch Ubaldo war sicher, daß sie über einige magische Fähigkeiten verfügte, die sie aber geschickt versteckte. Nur zu deutlich erinnerte er sich daran, wie der alte Indio plötzlich zu sprechen begonnen hatte. Aber es störte ihn, daß sie vergangene Nacht so abweisend gewesen war, denn nie zuvor hatte er eine Frau mehr als sie begehrt. Ramon trat in die Bibliothek. „Du sollst dich um die Gäste kümmern, Ubaldo“, sagte er. „Vater erwartet uns in einer Stunde im Beschwörungsraum im Keller.“ „Hat Vater vielleicht die Absicht eine Beschwörung vorzunehmen?“ erkundigte sich Ubaldo verwundert. Ramon zuckte die Schulter. „Ich weiß es nicht. Er hat nichts darüber gesagt.“ „Na ja, wir werden ja sehen. Sind schon Familienmitglieder eingetroffen?“ „Ja“, sagte Ramon. „Luis mit seiner Familie. Ich habe sie ins große Speisezimmer geführt.“ „Gut, ich gehe sie begrüßen.“ Ubaldo trat in die Halle und ging langsam auf das Speisezimmer zu. Diese Familienzusammenkünfte fanden nur sehr selten statt, und das war auch gut so, denn die meisten Sippenmitglieder waren sich 66
nicht gerade freundlich gesinnt. Sie gingen sich so gut es nur ging aus dem Weg. Luis war einer von Victors Brüdern, und er war Ubaldo schon immer unheimlich gewesen. Vor Ubaldos Geburt hatte sich Luis in Setzi niedergelassen, wo er seinen unheimlichen Experimenten nachging. Er hatte sich mit einer Dämonin zusammengetan, die der Sippe der Monthinos angehörte. Und das war gerade keine Empfehlung für sie, denn ihr Clan gehörte den Ghoulen an, jenen grauenvollen Geschöpfen, die Leichen fraßen. Und mit ihr, die sich Teresa nannte, hatte er Zwillinge gezeugt, die nach ihrer Mutter gerieten. Ubaldo zögerte, den Speisesaal zu betreten, doch dann gab er sich innerlich einen Ruck und öffnete die Tür. Am liebsten wäre er davongerannt. Ein fauliger, ekelerregender Geruch strömte auf ihn zu. Die charakteristische Ausdünstung der Ghoule. Die Vorhänge waren vor die Fenster gezogen, der große Raum wurde nur von ein paar Kerzen erhellt. Luis und seine Gefährtin blickten ihn an. Juan und Clara hatten die Augen geschlossen. „Herzlich willkommen“, sagte Ubaldo gepreßt und kämpfte gegen die Übelkeit an, die seinen Magen rebellieren ließ. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde der bestialische Gestank immer stärker. Ein paar Schritte vor dem Tisch blieb er stehen und deutete eine Verbeugung an. 67
Luis sah wie der wandelnde Tod aus. Sein Schädel war völlig haarlos und die Haut schien vertrocknet zu sein. Die Lippen waren farblos, und die kreisrunden Augen lagen tief in den Höhlen. Seine Gefährtin Teresa sah noch schauerlicher aus. Ihre Haut war grau und wies unzählige Löcher auf, aus denen ständig eine gelbliche Flüssigkeit tropfte, die grauenvoll stank. Ihre winzigen Augen starrten bösartig auf Ubaldo. Sie schimmerten rotgelb. Langsam verzerrte sie ihre Lippen und entblößte spitze, gebogene Zähne. Eine übelriechende Wolke kam aus ihrem Mund. Der Gestank wurde unerträglich. Ubaldo begann zu husten. „Komm, mein Süßer“, sagte Teresa, „gib mir einen Kuß.“ Unwillkürlich wich Ubaldo ein paar Schritte zurück. Luis und Teresa begannen hohl zu lachen. Sie waren sich ihrer grauenvollen Wirkung auf normale Menschen und Dämonen nur zu bewußt. Juan und Clara blinzelten Ubaldo kurz an, dann schlossen sie wieder gelangweilt die Augen. Sie waren das genaue Ebenbild ihrer Mutter. „Was soll diese blödsinnige Zusammenkunft?“ fragte Luis mit zischender Stimme. „Darüber wird euch mein Vater berichten.“ „Ich will sofort Bescheid wissen“, zischte 68
Luis. „Tut mir leid, ich darf keine Auskunft geben. Darf ich euch etwas anbieten?“ „In diesem Haus gibt es nichts, was uns schmecken würde“, knurrte Teresa. „Verschwinde, bevor du noch ohnmächtig wirst.“ Ubaldo verließ fluchtartig den Saal. „Deine Familie besteht aus lauter Schwächlingen“, hörte er noch Teresa sagen, dann stand er in der Halle. Ubaldo wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann atmete er tief durch. Die Versammlung kann ja heiter werden, dachte er. Seine düstere Miene hellte sich auf, als er seinen Bruder Carlos erblickte, der seit zehn Jahren in Coban wohnte. „Hallo, Bruder“, sagte Ubaldo herzlich und klopfte Carlos auf die Schulter. „Du siehst prächtig aus.“ „Du auch“, grinste Carlos, der Ubaldo sehr ähnlich sah. Sie hatten auch die gleiche Mutter gehabt, die aber vor vier Jahren Victor verlassen hatte. „Laß uns in den Garten gehen“, meinte Ubaldo. „Ich war gerade bei Luis und seiner Familie.“ „Luis ist auch da?“ fragte Carlos entsetzt. Ubaldo nickte kummervoll. „Das wird ja ein grauenvoller Abend werden“, stöhnte Carlos. „Ich werde mir die Nase mit Wachs verstopfen.“ 69
„Das ist eine gute Idee“, sagte Ubaldo. „Hat unsere Zusammenkunft etwas mit Isabels Verschwinden zu tun, Ubaldo?“ „Ja, damit auch. Esteban Gores wurde gestern hier im Haus erstochen.“ Carlos blieb überrascht stehen. „Esteban?“ fragte er verwundert. „Aber wer kann ein Interesse an seinem Tod haben?“ „Das fragen wir uns auch. Vielleicht erhalten wir bei der heutigen Zusammenkunft eine Antwort darauf.“ „Was vermutet Vater?“ „Ich will darüber nicht sprechen, Carlos. Er wird darüber bei der Versammlung sprechen.“ Ein Jeep fuhr in den Garten, und Jorge Najera stieg aus. Er war ein winziger Dämon, der seit mehr als vierzig Jahren in Zabal in einem kleinen Haus wohnte, wo er alte Bücher studierte. Niemand wußte, wie alt er war. Sein Vollbart war pechschwarz und fiel bis zum Bauch. Das Haupthaar hatte er zu einem dicken Zopf geflochten. „Ich habe die Sterne befragt“, sagte Jorge nach der herzlichen Begrüßung. „Der Tag der Zusammenkunft ist nicht günstig. Irgend etwas Bösartiges wird geschehen. Ein drohendes Unheil schwebt über unserer Sippe. Aber wir bekommen Hilfe, die wir nicht erwarten.“ „Interessant, was du alles aus den Sternenkonstellationen erfährst“, sagte Carlos ein wenig spöttisch. „Du bist ein Ungläubiger, Carlos.“ 70
„Du hast dich oft genug mit deinen Weissagungen geirrt, Jorge“, stellte Carlos fest. „Das ist schon lange her“, brummte Jorge verärgert. Er hatte es nicht gern, wenn man ihn an seine Fehlprognosen erinnerte. Carlos und Ubaldo grinsten, als Jorge im Haus verschwand. „Er wird immer sonderlicher“, meinte Carlos. „Ich habe ihn vor einem halben Jahr besucht. Er lebte nur noch für die Sterne. Sein Haus solltest du mal sehen. Er hat sich ein Observatorium eingerichtet.“ Carlos blickte das Haus an und runzelte die Stirn. „Habt ihr Besuch?“ erkundigte er sich. „Ja“, antwortete Ubaldo. „Coco Zamis. Ihr Vater hat sie auf eine Weltreise geschickt.“ „Von der Zamis-Sippe wird ja jetzt überall gesprochen. Wie ist diese Coco?“ „Eine ungewöhnliche Hexe. Aber du wirst sie sicherlich noch kennenlernen. Jetzt fehlen nur noch Ricardo und Pedro.“ Ricardo traf als nächster ein. Er schien ziemlich mißgelaunt zu sein, denn er nickte Ubaldo und Carlos nur flüchtig zu und betrat das Haus. „Ricardo scheint sich nicht geändert zu haben“, stellte Carlos fest. „Er wird sich nie ändern“, stimmte Ubaldo zu. „Ihn interessieren nur junge Mädchen. Aber das ist ja nichts Neues bei ihm.“ Ein schwarzer Mercedes raste auf das Haus 71
zu und blieb mit kreischenden Pneus stehen. Ubaldo hielt den Atem an, als Pedro ausstieg. Der Anblick des Dämons war immer wieder ein Schock für Ubaldo. Pedro war Ubaldos ältester Bruder, den sein Vater vor achtzig Jahren mit einer Dämonin der DanetSippe gezeugt hatte. Vor dreißig Jahren hatte Pedro einen Zusammenstoß mit einem Hexer aus der Jong-Sippe gehabt, und die Spuren dieses Kampfes sah man noch immer. Pedro sah wie ein Freak aus. Ein Auge befand sich auf der Stirn, das zweite auf der rechten Wange. Die Nase befand sich in der linken Wange, und dort, wo eigentlich die Nase sein sollte, klaffte ein daumengroßes Loch. Mit diesem entstellten Gesicht konnte sich Pedro natürlich nicht unter den Menschen blicken lassen. Deshalb hatte er sich in die Einöde von Metapan zurückgezogen, wo er darüber nachsann, wie er sich an dem Dämon rächen konnte, der sein Gesicht verunstaltet hatte. Aber bis zum heutigen Tag hatte er kein wirksames Mittel gefunden. „Starrt mich nicht so an“, zischte Pedro. „Wir starren dich nicht an, Bruder“, sagte Ubaldo sanft. „Du lügst. Ich weiß, was ihr über mich denkt. Aber es ist mir gleichgültig. Ich habe mich von euch allen zurückgezogen, und ich bin nur gekommen, weil es Vater befohlen hat.“ „Ist schon gut, Pedro“, sagte Carlos besänftigend. „Reg dich nicht künstlich auf.“ „Krago möge euch verschlingen“, knurrte 72
Pedro und stapfte hoheitsvoll auf das Haus zu. „Wir sind schon eine eigenartige Sippe“, flüsterte Ubaldo, als ihn Pedro nicht mehr hören konnte. „Das kannst du wohl sagen“, stimmte Carlos zu. „Ich glaube kaum, daß es innerhalb der Familie einen ähnlich schwachen Clan wie den unseren gibt.“ „Sag das aber nicht, wenn Vater in der Nähe ist.“ „Ich werde mich schwer hüten“, grinste Carlos. „In einer halben Stunde beginnt das Treffen. Wo findet es statt?“ „Im Zeremonienraum im Keller.“ „Auch das noch“, seufzte Carlos. „Da müssen wir uns alle nackt ausziehen und mit diesen eklig stinkenden Erdfarben beschmieren. Es bleibt mir auch nichts erspart.“ Ubaldo lachte. Er fühlte genauso wie sein Bruder. „Komm, laß uns ins Haus gehen“, sagte Ubaldo und schlug Carlos leicht auf die Schulter. Die Halle war leer. Aus dem großen Speisesaal waren erregte Stimmen zu hören. Ricardo und Luis brüllten sich an. „Du bist wohl total übergeschnappt, Luis!“ schrie Ricardo. „Wer hat dir erlaubt, deine stinkende Gefährtin und deine Mißgeburten von Kindern mitzubringen?“ „Sie gehören zur Familie!“ kreischte Luis empört. „Sie haben bei einer Familienversammlung 73
nichts verloren. Hinaus mit ihnen!“ „Sie bleiben hier! An der Versammlung werden sie natürlich nicht teilnehmen.“ „Dann öffnet ein Fenster“, brüllte Ricardo. „Der Geruch dieser Scheusale ist ja unerträglich!“ Das Geräusch eines umstürzenden Stuhles war zu hören, dann ein lauter Schrei. „Die gehen aufeinander los“, sagte Ubaldo. „Von mir aus können sie sich gegenseitig umbringen“, flüsterte Carlos, der keinerlei Sympathie für seinen Onkel empfand. „Scheusal!“ kreischte Teresa. „Er hat mich und meine Kinder als Scheusale bezeichnet. Das muß gerächt werden. So unternimm doch etwas, Luis!“ „Ruhe!“ schaltete sich nun Jorge ein. „Geht sofort auseinander.“ „Das sollten wir uns ansehen“, grinste Carlos. In diesem Augenblick bebte die Erde. Ein Bild fiel von der Wand, dann war ein betäubender Knall zu hören, dem ein durchdringendes Heulen folgte. Die Luft begann zu flimmern und ein beißender Geruch durchzog die Halle. Ein Wirbelwind schien durch das Haus zu rasen. Ubaldo und Carlos wurden zu Boden geschleudert und blieben benommen liegen. Noch ein Knall, dann war es ein paar Sekunden still. Erregte Schreie kamen aus dem Speisesaal. Ubaldo und Carlos standen auf und blickten 74
verwundert einen schwarzen Sarg an, der in der Mitte der Halle stand.
Ich hatte vom Fenster aus die Ankunft der Najera-Sippenmitglieder verfolgt. Einige kamen mir reichlich seltsam vor, aber das hatte nicht viel zu besagen, denn wenn ich da an meine eigene Familie dachte… Boris Zamis, dieser Ostdämon, war ja auch nicht gerade eine Zierde für unsere Familie gewesen. Ich war froh, daß dieser widerliche Kerl nicht mehr lebte. Und mein Bruder Adalmar war auch nicht nach jedermanns Geschmack. So hatte fast jede Sippe ihre eigenbrötlerischen Mitglieder, die sie am liebsten losgeworden wäre. Mich wunderte, daß die Najeras keinerlei Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatten. Aber vermutlich reichten ihre Fähigkeiten dazu nicht aus. Zumindest ein paar magische Kristalle hätten sie anbringen können, um eine magische Glocke zu errichten. Sollte der unbekannte Gegner der Najeras tatsächlich ein mächtiger Dämon sein, dann könnte er mit einem Schlag die gesamte Sippe vernichten. Dieser Leichtsinn war mir unbegreiflich. Als ich mich auf das Bett legte, spürte ich eine unglaubliche starke magische Kraft, die nach dem Haus griff. Die Wände schoben sich wie bei einem Erdbeben hin und her. Ein lauter Knall ließ meine Ohren dröhnen. 75
Rasch sprang ich vom Bett und lief auf die Tür zu. Da packten mich unsichtbare Hände und schleuderten mich zu Boden. Ich wälzte mich auf den Rücken und versuchte meine Fähigkeit des rascheren Zeitablaufs einzusetzen, doch es gelang mir nicht. Die fremdartige Kraft überlappte meine Anstrengungen und vereitelte sie. Wieder war ein Knall zu hören. Und augenblicklich konnte ich mich wieder bewegen. Von der unheimlichen magischen Kraft, die mir völlig fremdartig erschienen war, konnte ich nichts mehr bemerken. Nachdenklich trat ich in den Gang. Aus der Halle drangen laute Schreie zu mir herauf. Auf der Treppe blieb ich stehen. Niemand sah mich. Die Najeras standen rund um einen schwarzen Sarg und sprachen erregt aufeinander ein. Angewidert verzog ich den Mund, als ich die Ghoul-Frau erblickte, die neben einem hageren Dämon stand, der mich ein wenig an Skarabäus Toth erinnerte, mit dem mich keine guten Erinnerungen verbanden. Und Ghoule waren für mich ein Alptraum. Oft hatte ich mit meinem Bruder Georg über diese abscheulichen Leichenfresser gesprochen. Georg war sehr dafür, daß die Ghoule aus der Gemeinschaft der Schwarzen Familie ausgestoßen werden sollten, aber Asmodi war dagegen. Er hatte viele Freunde und Anhänger 76
unter diesen widerlichen Geschöpfen, die treu zu ihm hielten. Nun erschien auch Victor Najera. Er war mit einem schwarzen Umhang bekleidet, der seine Schuhe bedeckte. „Was ist geschehen?“ fragte das Oberhaupt der Sippe. „Wir wissen es nicht“, sagte Ubaldo. „Ein magischer Wirbelwind verwüstete die Halle und schleuderte Carlos und mich zu Boden. Als wir aufstanden, sahen wir den Sarg.“ „Öffnet den Sarg“, befahl Victor. Ich beschloß, mich weiterhin im Hintergrund zu halten. Ich trat zwei Schritte zur Seite und konnte nun von unten aus kaum gesehen werden. Der unheimliche Dämon mit dem entstellten Gesicht versuchte den Sargdeckel abzuheben, doch es gelang ihm nicht. Er schrie nach einem Schraubenzieher, der ihm schließlich auch gebracht wurde. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte die Schrauben nicht öffnen. Ich schloß die Augen und konzentrierte mich auf den Sarg. Ganz schwach spürte ich eine magische Ausstrahlung, die über ihm hing. Es war einfach erschütternd, daß keiner der Dämonen diese Ausstrahlung wahrnahm. Ich bewegte die rechte Hand in Schlangenlinien und drückte dann zweimal den Zeigefinger an den Daumen. Die magische Strahlung war verschwunden. Und nun gelang es auch Pedro, die Schrauben 77
zu lockern. Sekunden später hob er den Sargdeckel ab. Elena schrie entsetzt auf. Die anderen traten näher. Ich beugte mich kurz vor. Von meinem Standplatz konnte ich deutlich in den Sarg sehen. Und was ich da erblickte, war kein Anblick für schwache Nerven. Ein totes Vampirmädchen lag darin, dem man das Herz aus dem Leib gerissen hatte. Die Augen waren weit aufgerissen und starr, der blutleere Mund verzerrt. Genau waren die scharfen Vampirzähne zu sehen. „Isabel“, sagte Ramon mit versagender Stimme. „Das ist Isabel!“ Das hatte ich auch vermutet. Ich trat wieder einen Schritt zurück. Der Anblick der toten Vampirin schlug sich auf meinen Magen. Mich wunderte, daß der Körper der Toten so gut erhalten war. Üblicherweise zerfielen Vampire zu Staub, wenn man ihnen einen Holzpfahl durchs Herz trieb oder ihnen das Herz herausschnitt. „Da ist eine Karte“, sagte Ricardo. „Sie ist mit Maya-Zeichen bedeckt. Nimm sie, Victor!“ Victor griff nach der Karte und studierte sie. Seine Stirnfalten bewegten sich auf und ab. „Dieses Ungeheuer gab ihr Leben für Chac“, übersetzte Victor, „der alle Ladinos und Najeras vernichten wird!“ Wie ich es erwartet hatte, brüllten nun alle durcheinander. Das wäre im Haus meines Vaters völlig undenkbar gewesen. 78
„Seht euch Isabel an!“ rief plötzlich Carlos. „Ihr Körper zerfällt zu Staub!“ Ich blieb auf meinem Platz. Den Anblick der zu Staub zerfallenden Vampirin wollte ich mir ersparen. Den Najeras wurde noch immer nicht bewußt, in welcher Gefahr sie sich befanden. Der Mörder der Vampirin hatte von ihr sicherlich alle Informationen über ihre Sippe erhalten. Und wenn er wollte, dann konnte er jetzt die gesamte Sippe mit einem Schlag vernichten. Und da konnte ich auch ums Leben kommen, schoß es mir durch den Kopf. Sofort raste ich in mein Zimmer und versetzte mich in die andere Zeitdimension. Aus einem kleinen Ledersäckchen entnahm ich ein paar unscheinbare Kristalle, die ich an verschiedenen Stellen im Haus versteckte. Als ich damit fertig war, ließ ich die Zeit wieder normal ablaufen und aktivierte innerhalb weniger Augenblicke die magischen Kristalle, die ihre Kräfte verbanden und eine ziemlich starke magische Glocke um das Haus legten. Erleichtert atmete ich auf. Nun waren wir vor Angriffen des unbekannten Dämons sicher. Die Najeras merkten nichts von der Glocke, die über ihnen hing, aber das wunderte mich nicht, denn keiner der Anwesenden verfügte über irgendwelche ausgeprägte Zauberkräfte. Ich holte eine magische Kugel hervor und aktivierte sie. 79
Vielleicht war es ganz interessant, Familienberatungen zu beobachten…
die
Für die meisten Dämonen war Nacktheit etwas ganz Natürliches. Sie waren daran seit frühester Jugend gewöhnt, denn die meisten Zeremonien wurden unbekleidet vorgenommen. Diese Zeremonien waren in den meisten Fällen uralt. Die Bedeutung von verschiedenen Riten war im Lauf der Jahrhunderte, ja manchmal sogar Jahrtausende, vergessen worden. Trotzdem hielt man sich an die altüberlieferten Riten, die von Sippe zu Sippe variierten. Ubaldo legte schweigend seine Kleider ab. Er haßte diese Zeremonien. Er hatte sie schon immer gehaßt, doch er war gezwungen, daran teilzunehmen. Dabei kann ich noch glücklich sein, daß Riten meiner Familie eher harmlos sind, dachte er. Ubaldo wußte von anderen Riten, die unglaublich brutal und pervers waren. In letzter Zeit war der uralte Wicca-Kult wieder stärker in Erscheinung getreten. Doch dieser Kult hatte mit den Dämonen der Schwarzen Familie nichts zu tun. Scharlatane wie Gardner und Crowley zogen leichtgläubige Menschen an, denen sie allerlei Hokuspokus vormachten und sie an sich banden. Ubaldo nahm die rituelle Waschung vor. Mit einem Schwamm rieb er eine aufdringlich 80
riechende Flüssigkeit in seine Haut, die nach wenigen Sekunden ein angenehmes Prickeln hervorrief. Als er damit fertig war, betrat er den Vorraum, der zum eigentlichen Zeremonienraum führte. In der Mitte des kleinen Raumes, der ganz in Rot gehalten war, stand ein kunstvoll verziertes Dreibein, aus dem grüne Rauchschwaden quollen, die sich betäubend auf die Lunge legten. Ubaldo verweilte ein paar Sekunden im Vorraum, dann betrat er den Zeremonienraum, der mit schwarzem Samt ausgeschlagen war. An der gegenüberliegenden Wand leuchtete ihm das Siegel seiner Sippe entgegen. An den anderen Wänden befanden sich die Symbole und Zeichen ihres Schutzgeistes. Auf einem Altar standen ein paar Kerzenleuchter mit brennenden Kerzen. Langsam drehte sich Ubaldo im Kreis und verbeugte sich in die Himmelsrichtungen. Dann blieb er neben dem Altar stehen. Elena kam auf ihn zu. Sie hielt ihm eine faustgroße Schale hin, und er entnahm ihr etwas Farbe, die er sich auf die Stirn, das Kinn und die Herzgegend rieb. Nach und nach gesellten sich die anderen Familienmitglieder dazu, und als alle versammelt waren, schloß Victor die Tür. Aus verborgenen Lautsprechern klang nun eine schaurige Musik, die immer lauter und 81
schriller wurde. Victor begann zu sprechen. Er begrüßte die Anwesenden und gab dann einen kurzen Bericht über die Ereignisse der letzten Monate. „Ich habe euch zusammenkommen lassen, um unsere Kräfte zu vereinen und ihn anzurufen, der Schutzgeist unserer Sippe ist!“ Ubaldo wurde bleich. Seine Vermutung war richtig gewesen. Sein Vater wollte Marchosias anrufen, dessen Namen man nicht aussprechen durfte. „Das ist Wahnsinn“, flüsterte Jorge. „Unsere Kräfte sind zu schwach“, sagte Ricardo. „Das Risiko ist zu groß.“ „Schweigt!“ schrie Victor ungehalten. Endlich war es ruhig. „Mit der Hilfe des Schutzgeistes werden wir erfahren, wer unser Gegner ist. Und vielleicht kann er uns raten, wie wir ihn besiegen können.“
„Dieser Narr“, flüsterte ich und schüttelte den Kopf. Es war gewagt, den Schutzgeist anzurufen. Die meisten Sippen hatten einen. Auch die unsere, den mein Vater vor wenigen Wochen angerufen hatte. Aber unsere Sippe konnte den Geist beherrschen, was ich von der Najera-Sippe nicht glaubte. Sollte es ihnen tatsächlich gelingen, den Schutzgeist zu beschwören, dann wäre es vermutlich ihr 82
Ende gewesen, denn er hätte sofort erkannt, mit welch schwachen Kreaturen er es zu tun hatte. Die Beschwörung konnte nicht klappen – das wußte ich ganz genau. Die magische Glocke, die nun über dem Haus hing, würde jede Verbindung zum Schutzgeist verhindern. Ich steckte mir eine Zigarette an und rauchte sie langsam, während ich angestrengt nachdachte und dabei die magische Kugel nicht aus den Augen ließ. Victor und die seinen trafen alle Vorbereitungen zur Beschwörung. Sie zogen den magischen Kreis und schrieben die Formeln hin. Ich änderte den Gesichtswinkel der magischen Kugel und sah mir die Zeichen an den Wänden genauer an. Die meisten Siegel und Wappen der Schutzgeister kannte ich. Und das Siegel, das ich erblickte, erkannte ich sofort. Es gehörte Marchosias, der als ziemlich armseliger Schutzgeist galt. Er selbst erschien meist in der Gestalt eines geflügelten Wolfes, aus dessen Rachen Feuer schlug. Ein schwacher Schutzgeist, wie er zu einer schwachen Familie eben gehörte. Die Najeras stimmten in die ersten Anrufungsformeln ein, und ich war noch immer zu keinem Entschluß gekommen. Der Plan, der langsam in meinem Hirn Gestalt annahm, war nicht einfach durchzuführen. Ich wollte den Najeras vorspielen, daß sie ihren Schutzdämon 83
tatsächlich gerufen hatten – und ich wollte die Rolle des Geistes übernehmen. Der Plan war gut, aber die Ausführung alles andere als einfach. Ich stand auf und sah mir meine magischen Utensilien an. „Wir rufen dich, Marchosias!“ hörte ich Victor schreien. „Erhöre unser Rufen, der du der Schutzgeist unserer Sippe bist!“ Die anderen stimmten in sein Brüllen ein. Während einer Beschwörung durfte der Name des Schutzgeistes genannt werden, sonst war das verboten. Ich knabberte an meiner Unterlippe herum. Mein Plan war durchzuführen, aber sollte ich es tatsächlich tun? „Ich wage es“, sagte ich laut. Ich ging in die Halle und trat in die andere Zeitdimension. Dann stürmte ich in den Zeremonienraum. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, dann hatte ich meine Vorbereitungen getroffen. Kichernd kehrte ich in mein Zimmer zurück. Die Najeras würden bald einige Überraschungen erleben. Ich hatte noch mehr als eine Viertelstunde Zeit. Vor allem mußte ich mich entspannen. Ich mixte mir einen Drink und trank ihn auf einen Zug aus. Dann legte ich mich auf das Bett und fiel zehn Minuten lang in Trance. Frisch gestärkt machte ich mich ans Werk… 84
Ubaldo kam sich unsagbar dämlich vor, wie er so im Kreis herumhopste und immer wieder schrie: „Wir rufen dich, Marchosias!“ Im Zeremonienraum stank es erbärmlich. Die Farben, die sich alle ins Gesicht und auf den Körper geschmiert hatten, begannen zu verdunsten und entwickelten dabei einen ekelerregenden Duft. Bei einigen Familienmitgliedern merkte er deutlich Erschöpfungserscheinungen. Der dicke Ricardo hielt sich nur noch mit letzter Kraft aufrecht. Jorge war nahe vor dem Zusammenbruch, und Luis konnte kaum mehr sprechen. Plötzlich begann eines der Siegel an der Wand zu glühen, dann auch die anderen. Und dann war das höhnische Kichern zu hören, das immer lauter wurde. „Wer wagt es meine Ruhe zu stören?“ war eine verzerrt klingende Stimme zu hören. Alle ließen sich auf den Boden fallen. Ubaldo atmete heftiger. Niemals hätte er es für möglich gehalten, daß es ihnen gelingen würde, den Schutzdämon zu rufen. „Wir danken dir, edler Marchosias, daß du auf unser Rufen geantwortet hast“, sagte Victor mit bebender Stimme. „Wir danken dir, edler Marchosias.“ „Genug der Schwätzerei!“ heulte der Schutzgeist auf. „Was wollt ihr von mir?“ „Hilfe, wir wollen deine Hilfe, edler Geist.“ 85
„Meine Hilfe wollt ihr“, fauchte der Schutzgeist ergrimmt. Seine Stimme war kaum zu verstehen. „Am liebsten würde ich euch alle augenblicklich zerschmettern. Eure Schwachheit stößt mich ab. Wahrlich, ich hätte gute Lust und würde euch alle töten.“ „Gnade, edler Marchosias!“ flehte Victor. „Gnade!“ Der Schutzgeist lachte höhnisch. „Ihr habt Angst“, stellte der Geist fest. „Zwei Mitglieder eurer Sippe wurden getötet. Und ihr werdet alle sterben. Ihr habt es mit einem mächtigen Gegner zu tun, dem ihr nichts entgegenzusetzen habt. Aber ich spürte eine starke Kraft ganz in eurer Nähe, eine Kraft, die euch vielleicht helfen kann.“ „Wo ist diese Kraft?“ „Ihr habt einen Gast im Haus. Von ihm geht diese Kraft aus.“ „Coco Zamis“, flüsterte Victor. „Ja, so wird sie genannt. Wendet euch an sie um Hilfe. Vielleicht kann sie euch helfen.“ Das Glühen der Siegel an der Wand wurde schwächer, dann war es ganz verschwunden. „Edler Geist, kannst du mich hören?“ fragte Victor. Doch er bekam keine Antwort.
Es war alles viel einfacher gegangen, als ich es erwartet hatte. Irgendwann mußte ich die magische Kugel 86
aus dem Zeremonienraum holen, die ich unter dem Altar versteckt hatte, und durch die ich zu ihnen gesprochen hatte. Aber das hatte Zeit. Ich war sicher, daß keiner nach einer Kugel suchen würde. Und wieder waren die Najeras hilflos. Sie standen im magischen Kreis herum und wunderten sich, daß ihr Schutzgeist tatsächlich zu ihnen gesprochen hatte. Nun hatte Ubaldo die Initiative an sich gerissen. Er berichtete von meinem Interesse an den Vorfällen und erzählte, daß wir eines der verlassenen Dörfer besucht hatten. Er berichtete auch von meinem Wunsch, den Dämon im Dschungel zu suchen. Ich unterbrach die Verbindung und legte die magische Kugel zu den anderen magischen Utensilien. Zehn Minuten später wurde an der Tür geklopft. „Herein“, rief ich und blickte zur Tür. Ubaldo trat verlegen lächelnd ein. „Ist eure Beratung schon vorüber?“ fragte ich spöttischer, als ich es eigentlich gewollt hatte. „Noch nicht ganz. Mein Vater würde gern mit dir sprechen. Hast du Zeit?“ „Natürlich habe ich Zeit“, sagte ich und stand auf. Victor empfing mich in der Bibliothek. Er war allein. Ich setzte mich ihm gegenüber nieder. „Du willst mit mir sprechen, Victor“, sagte ich. 87
Er nickte eifrig. „Was habt ihr beschlossen?“ erkundigte ich mich. Victor seufzte. Es war ihm deutlich anzusehen, wie unangenehm es ihm war, mich um Hilfe zu bitten. „Wir haben unseren Schutzgeist angerufen“, sagte er und blinzelte mich an. „Hat er sich gemeldet?“ „Ja, das hat er. Wir baten ihn um Hilfe, doch er sagte uns, daß wir uns an dich wenden sollen. Du kannst uns vielleicht helfen.“ Verlegen senkte ich den Kopf. Nur zu gut konnte ich mir vorstellen, wie schwer ihm dieses Eingeständnis der Unfähigkeit gefallen sein mußte. „Ich werde euch helfen“, sagte ich sanft. „Aber für einen Erfolg kann ich natürlich nicht garantieren.“ „Danke“, flüsterte er. „Unser Gegner scheint ein ziemlich starker Magier zu sein“, sagte ich. „Das beweist schon der Sarg, der durch magische Kräfte ins Haus gebracht wurde.“ „Du weißt von dem Sarg?“ fragte er verwundert. „Ja. Deine Tochter Isabel ist zu Staub zerfallen.“ Victor preßte die Lippen zusammen. „Ich habe das Haus gegen einen Angriff des Unbekannten abgesichert“, sprach ich weiter. „Hier im Haus sind die Mitglieder deiner Sippe sicher. Ich würde vorschlagen, daß sie in den 88
nächsten Tagen das Haus nicht verlassen.“ „Wie hast du das Haus gesichert?“ erkundigte er sich neugierig. Ich lächelte. „Darauf gebe ich dir lieber keine Antwort, Victor.“ „Ich verstehe. Entschuldige meine Frage.“ „Was können wir nun tun?“ fragte ich mehr mich selbst. Er zuckte die Schultern. „Ich vermute, daß sich unser Feind im Dschungel versteckt. Darüber hat Ubaldo bereits mit dir gesprochen, nicht wahr?“ „Ja, er hat uns deine Überlegungen mitgeteilt. Wahrscheinlich stimmt deine Vermutung.“ „Wir müssen sichergehen, daß nicht eine der anderen mittelamerikanischen Familien dahintersteckt. Du mußt heute noch je ein Mitglied der Olmo- und der Perez-Sippen einladen. Sie sollen dir ihre Freundschaft versichern. Sobald das getan ist, wissen wir, daß sie nichts mit den Anschlägen auf deine Familie zu tun haben.“ „Aber sie werden sich sicherlich nicht verraten, wenn sie uns den Kampf…“ „Ich verfüge über Fähigkeiten, mit denen ich leicht herausbekomme, ob sie lügen. Sie sollen morgen eintreffen. Kannst du das veranlassen?“ „Ja, ich werde mich sofort mit ihnen in Verbindung setzen.“ „Gut, und dann besorgst du mir eine Ausrüstung für die geplante Expedition in das 89
Dschungelgebiet.“ „Du willst tatsächlich in den Dschungel?“ wunderte er sich. Ich nickte. „Kannst du einen Hubschrauber beschaffen?“ „Wir haben einen Hubschrauber. Ubaldo kann ihn fliegen.“ „Das erleichtert natürlich alles. Noch etwas. Hast du die Karte bei dir, die im Sarg lag?“ Victor zog die Karte aus einer Tasche seines Umhangs hervor und reichte sie mir. Neugierig starrte ich die Hieroglyphenzeichen an, die ich natürlich nicht verstand. „Das Papier greift sich seltsam an“, stellte ich fest. „Das ist mir auch schon aufgefallen“, sagte Victor. „Es ist die Art von Papier, die die alten Maya verwendet haben. Der Rohstoff für das Papier ist eine Bastfaser, die geklopft wird. Danach wird sie mit einer dünnen Kalkschicht überzogen.“ „Wo bekommt man diese Art von Papier?“ „Zu kaufen bekommt man solches Papier nirgends. Man muß es selbst herstellen.“ „Das ist aber ziemlich kompliziert“, sagte ich geistesabwesend. „Wer würde sich die Mühe machen, Papier selbst herzustellen, wo man es in jedem Laden kaufen kann?“ Victor stand auf und öffnete eine Lade. Dann reichte er mir das Kärtchen, das am Dolchgriff befestigt gewesen war mit dem Esteban Gores ermordet worden war. Das Material war gleich. 90
„Ich nehme die beiden Kärtchen an mich“, sagte ich und stand langsam auf. In der Halle sah ich mir den Sarg näher an. Irgend jemand hatte den Deckel daraufgelegt. Ich ging um den Sarg herum, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Es war ein einfacher Holzsarg, wie er vermutlich in Guatemala üblich war. Auf meinem Zimmer sah ich mir die beiden Kärtchen genauer an. Ich bedauerte, daß ich nicht über die Fähigkeiten meines Bruders Adalmar verfügte. Ihm wäre es sicherlich gelungen, mit Hilfe einer speziellen Kristallkugel ein Bild des Schreibers zu bekommen. Ich spielte mit dem Gedanken, mich mit Merlin in Verbindung zu setzen. Er konnte mir sicher helfen, doch ich wußte nicht, wie er auf meine Bitte reagieren würde. Für ihn war mein Problem unwichtig. Und ich wollte den alten Magier nicht verärgern, denn möglicherweise benötigte ich wieder einmal seine Hilfe in einer Angelegenheit, die für mich wichtiger war. Nachdenklich griff ich wieder nach den Kärtchen. Ich zog die Vorhänge vor die Fenster und sperrte die Tür ab. In die Mitte des Tisches stellte ich eine Kristallkugel und legte die beiden Kärtchen darauf. Ich löschte das Licht und schrieb mit einer leuchtenden Magiekreide Zeichen und Formeln auf die Tischplatte. Für einen kurzen Moment leuchtete in der 91
Kugel ein giftgrünes Licht auf, das aber sofort wieder erlosch. Vor dem Tisch kniete ich nieder und ergriff die Kugel mit beiden Händen. Dann konzentrierte ich mich mit aller Kraft auf die Kärtchen. Für ein paar Sekunden sah ich nun ein Bild. Es zeigte einen Maya-Tempel, und ich sah Indios, die die breite Treppe hinaufstiegen. Aber ich konnte das Bild nicht halten. Es erlosch. Immer wieder versuchte ich es, aber der Erfolg blieb aus. Mißmutig wischte ich die Zeichen von der Tischplatte und knipste das Licht an. „Schade, daß es nicht geklappt hat“, sagte ich bedauernd und verließ das Zimmer. Als ich auf die Treppe zuging, blieb ich nach ein paar Schritten stehen. Ganz schwach spürte, ich eine magische Kraft, die die Glocke zu durchbrechen versuchte, die ich um das Haus gelegt hatte. Aber die Glocke hielt, und nach einer halben Minute zog sich die fremdartige Macht zurück. Unser unbekannter Gegner hatte Helfer, das stand fest. Die Glocke schützte vor magischen Angriffen, aber sie konnte nicht normale Menschen abhalten. Victor Najera befand sich noch immer in der Bibliothek. Bei meinem Eintritt stand er auf. „Ich habe die Olmos und Perez’ verständigt“, sagte er. „Sie senden je einen Bevollmächtigten.“ 92
„Gut“, sagte ich, „aber im Augenblick gibt es etwas Wichtigeres. Vor wenigen Augenblicken versuchte eine fremde Macht den Schutzschirm zu durchbrechen, den ich um das Haus gelegt habe.“ „Das ist böse“, meinte Victor. „Aber der Schutzschirm hielt. Dann ist ja alles in Ordnung.“ „Das ist es ganz und gar nicht“, sagte ich heftig. Langsam aber sicher verlor ich die Nerven. Keiner dieser Sippe dachte einmal mit. „Ich verstehe dich nicht, Coco“, sagte Victor verwirrt. „Du hast doch selbst gesagt, daß der Schutzschirm hält. Also haben wir nichts zu befürchten.“ Ich seufzte tief. „Der Schutzschirm hält einen magischen Angriff ab. Wenn unser Feind nun aber einige bewaffnete Sterbliche schickt, was dann?“ „Hm, ich verstehe“, sagte Victor und nickte eifrig mit dem Kopf. „Das wäre schlimm.“ „Habt ihr denn keinerlei Schutzeinrichtungen oder Warnsysteme angebracht?“ „Nein, das schien uns nicht notwendig zu sein.“ „Dann könnte ein Angriff erfolgen, und wir würden es erst merken, wenn es zu spät ist“, stellte ich mißmutig fest. Victor blickte mich unglücklich an. „Erwartest du so einen Angriff, Coco?“ „Ich bin keine Hellseherin“, brummte ich wütend. „Aber möglich wäre es.“ 93
„Was sollen wir tun?“ So viel Hilflosigkeit war fast abstoßend. Er kam nicht einmal auf den nächstliegenden Gedanken. „Ich würde mal mit Ricardo sprechen“, sagte ich spöttisch. „Er ist doch Polizeipräsident. Er soll ein paar Polizisten um das Haus postieren!“ „Das ist eine hervorragende Idee“, freute sich Victor. „Ich werde gleich mit ihm sprechen.“ Aufgeregt stürzte er aus der Bibliothek, und ich blickte ihm kopfschüttelnd nach. Das war nun auch erledigt, und ich fühlte mich etwas erleichtert. Ubaldo kam mir entgegen. Er lächelte mich scheu an. „Vater hat uns erzählt, daß du uns helfen wirst“, sagte er. „Die Mitglieder unserer Sippe sind schon sehr neugierig auf dich. Ich möchte sie dir gern vorstellen.“ „Ist die Ghoulin auch dabei?“ erkundigte ich mich mißtrauisch. „Nein.“ Er lächelte beruhigend. „Sie und ihre Kinder haben wir in einem Zimmer im Keller untergebracht.“ „Dann ist es gut.“ Mit Ausnahme von Victor und Ricardo waren alle im Speisesaal versammelt. Luis war mir nicht geheuer. Ein Dämon, der sich mit einem Ghoul einläßt und mit ihm noch Kinder zeugt das war einfach zuviel. Carlos sah Ubaldo sehr ähnlich. Pedro 94
murmelte etwas Unverständliches und vertiefte sich sofort wieder in das Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag. Jorge zupfte an seinem gewaltigen Bart und ließ mich nicht aus den Augen. Nun erst wurde mir bewußt, welch gigantischen Hunger ich hatte. Ein paar Minuten später kamen Victor und Ricardo. „Ich habe ein paar Polizisten angefordert“, sagte Ricardo. „Sie werden in wenigen Minuten eintreffen und das Haus und den Garten bewachen.“ Während des Essens wurde kaum etwas gesprochen. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ich war froh, als ich wieder in meinem Zimmer war. Aus der Bibliothek hatte ich mir ein paar Bücher über die Maya mitgenommen, die ich nun las. Aber meine Gedanken irrten immer wieder ab. Ich dachte über die Ereignisse des heutigen Tages nach. Nach Mitternacht kroch ich ins Bett. Als ich an Ubaldo dachte, mußte ich lächeln. Er hatte sich vermutlich den Tag ganz anders vorgestellt gehabt. Sekunden später war ich eingeschlafen.
Ricardo Najeras Laune hatte sich nicht gebessert. Ihn störte die Entwicklung der 95
letzten Stunden. „Wie kann diese junge Hexe uns helfen?“ fragte Ricardo wütend. „Sie gilt doch als eine Versagerin.“ „Unser Schutzgeist hat uns an sie gewiesen“, stellte Victor sachlich fest. Ricardo verzog angewidert sein feistes Gesicht. Vor allem ärgerte es ihn, daß er im Haus bleiben mußte. Und außerdem glaubte er nicht, daß ihnen eine unmittelbare Gefahr von dem unbekannten Dämon drohte. „Diese Zamis-Hexe wird nicht viel ausrichten können“, brummte Ricardo. „Sie will den Dämon im Dschungel suchen, das erinnert mich an die bekannte Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.“ „Sie will mit dem Hubschrauber die Gegend absuchen.“ Ricardo lachte spöttisch. „Da braucht sie Monate. Ich halte nichts von ihrer Hilfe. Hätte ich etwas zu sagen, dann würden wir uns an Asmodi wenden.“ „Darüber haben wir schon gestern gesprochen“, sagte Victor. „Ich will davon nichts mehr hören. Haben wir uns verstanden, Ricardo?“ „Ja, wir haben uns verstanden“, sagte Ricardo zähneknirschend. „Aber du wirst sehen, letztendlich wird uns keine andere Wahl bleiben.“ „Warten wir es ab“, sagte Victor und stand auf. „Ich gehe schlafen. Gute Nacht.“ „Gute Nacht“, brummte Ricardo. 96
Als sein Bruder das Zimmer verlassen hatte, steckte er sich eine Zigarre an und trank einen Schluck Champagner. Diese Coco Zamis ist ja ungewöhnlich sexy, dachte er und stellte sich genüßlich vor, wie es wohl mit ihr im Bett sein mußte. Ein paar Minuten lang gab er sich seinen Träumereien hin, dann stand er entschlossen auf. Er wollte die Posten kontrollieren. Im Haus war es ruhig. In der Halle brannten ein paar Lampen, die den großen Raum aber nicht ausleuchteten. Hier herrschte ein angenehmes Dämmerlicht. Der Polizeipräsident trat ins Freie und blickte sich um. Es war eine sternenklare Nacht und angenehm warm. Neben der Eingangstür stand ein Polizist, der salutierte, als er Ricardo erblickte. Ricardo nickte dem Beamten zu und ging den Weg entlang, der zum Gartentor führte. Dort hatte er zwei Beamten postiert, die alle paar Minuten die Gartenmauer entlang gingen. „Alles in Ordnung?“ fragte Ricardo und zog an der Zigarre. „Nichts Verdächtiges zu bemerken, Senor“, sagte einer der Polizisten. Ricardo schnaubte durchdringend und öffnete das Gartentor. Er trat auf die Straße. Unweit des Gartentores parkte ein Streifenwagen, in dem zwei Polizisten saßen. Langsam schlenderte Ricardo die Straße entlang. Kein Mensch kam ihm entgegen. 97
Einen Augenblick zögerte er, dann bog er in eine kleine Nebengasse ein. Auch hier war es ruhig. Wie schön wäre es jetzt bei mir zu Hause, dachte Ricardo, als er langsam weiterging. Heute hätte er sich mit der vollbusigen Alicia treffen sollen, auf die er schon lange scharf war. „Verdammter Mist“, knurrte er wütend und ballte die rechte Hand zur Faust. Die Zigarre schleuderte er auf die Straße. Irgend etwas Eisiges berührte seinen Nacken. Bevor er sich noch umdrehen konnte, bekam er einen Schlag auf den Hinterkopf und brach bewußtlos zusammen.
Stöhnend bewegte sich Ricardo. Er schlug die Augen auf, doch er konnte nichts sehen. Eine schwarze Binde lag vor seinen Augen. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt. Er lag auf dem Bauch und hörte Motorengeräusch. Keuchend wälzte er sich auf die Seite. „Ist da jemand?“ fragte er. Doch er bekam keine Antwort. Vermutlich befinde ich mich auf einer LKWLadefläche, dachte er und legte sich auf den Rücken. Der Wagen ging ziemlich scharf um eine Kurve, und er kollerte zur Seite und schlug sich das Gesicht an. 98
Wild schimpfend ließ er sich wieder auf den Rücken fallen und stemmte sich hoch. In diesem Augenblick bremste der Wagen ab, und er fiel wieder zu Boden. Schritte waren zu hören, und dann wurde eine Tür geöffnet. „Steig aus“, hörte er eine tiefe Stimme, die in einem Maya-Dialekt gesprochen hatte. Ricardo rappelte sich hoch und kroch die Ladefläche entlang. Grobe Hände griffen nach ihm und rissen ihn ins Freie. Die Hände stießen ihn vorwärts. Kies knirschte unter seinen Füßen, dann ging es ein paar Stufen hoch. Er hörte das Geräusch einer Tür. „Stehenbleiben!“ sagte die Stimme von vorhin. Gehorsam blieb Ricardo stehen. Sein Körper war schweißgebadet. Er hatte entsetzliche Angst, eine Angst, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. Die Binde wurde von seinen Augen gerissen. Es dauerte einige Sekunden, bis er seine Umgebung wahrnehmen konnte. Er stand in der Mitte eines niedrigen Zimmers, das fensterlos war und einen unbewohnten Eindruck machte. Der Bretterboden war mit einer dicken Staubschicht bedeckt, in der die Abdrücke von Schuhen zu sehen waren. Zwei Schritte vor ihm stand ein kleines Tischchen, auf dem sich ein seltsames Gestell befand, das von innen zu leuchten schien und die einzige Lichtquelle war. 99
Ricardo drehte sich verwundert um. Er war allein im Zimmer. Rasch ging er auf die Tür zu, blieb stehen und drehte sich um. Er ergriff die Türklinke und drückte sie nieder, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Langsam ging er im Zimmer auf und ab. Bis auf den Tisch und das merkwürdige Gestell war es völlig leer. Das Gestell änderte plötzlich die Farbe. Es leuchtete jetzt ziegelrot. Neugierig trat er näher, doch er konnte keine Einzelheiten erkennen. Das Gebilde schien sich ständig zu verändern. Mal war es einen Meter hoch, dann schrumpfte es zusammen und war kaum mehr zu sehen. Ricardo kniff die Augen zusammen. Das Gebilde hatte im Augenblick die Form und Größe eines Fußballs und leuchtete grellweiß. Es begann sich rasend schnell um die eigene Achse zu drehen. Er wollte die Augen schließen, doch es gelang ihm nicht mehr. Fremdartige, unheimliche Gedanken strömten auf ihn ein. Er konnte die Augen nicht von der Kugel abwenden. Irgend etwas preßte sich in sein Gehirn und er konnte sich nicht mehr bewegen. Die Kugel löste sich auf, und es war dunkel im Zimmer. Die Zeit schien stehenzubleiben. Ricardo hörte Schritte. Er wollte den Kopf zur Seite drehen, doch es gelang ihm nicht. Plötzlich flammte eine Kerze auf. 100
Der Schein der Kerze fiel auf einen hochgewachsenen Indianer, der einen roten Umhang trug, der seine Gestalt verhüllte. Die dunklen Augen des Maya starrten Ricardo durchdringend an und zwangen ihm ihren Willen auf. Vergeblich kämpfte Ricardo gegen die Macht der Augen an. Sekunden später war er hypnotisiert und völlig willenlos. „Ich bin Calli“, sagte der Indianer. „Ich bin der Vertreter des Quetzal-Maya! Du bist mein Sklave und wirst allen meinen Befehlen gehorchen.“ „Ich werde gehorchen“, sagte Ricardo tonlos. „Wie ist dein Name?“ „Ricardo Najera.“ „Du gehörst der gleichen Sippe an wie dieses abscheuliche bluttrinkende Monster, das wir gestern getötet haben?“ „Du sprichst von Isabel Najera?“ fragte Ricardo. „Ja, von ihr.“ „Ich gehöre der gleichen Sippe an.“ „Dann ist es gut“, sagte Calli zufrieden. „Wir haben von Isabel einige interessante Dinge erfahren. Ihr gehört einer Organisation an, die sich die Schwarze Familie nennt. Ist das richtig?“ „Ja, das ist richtig.“ „Euer Oberhaupt soll ein Dämon namens Asmodi sein. Wo kann man diesen Asmodi finden?“ „Das weiß niemand.“ 101
„Hm, dieser Asmodi interessiert mich im Augenblick nicht. Viel mehr interessiert mich eure Sippe. Eure magischen Fähigkeiten sind nur sehr schwach ausgeprägt. Sie sind praktisch nicht vorhanden. Aber plötzlich lag eine magische Glocke über eurem Haus, die ich nicht durchbrechen konnte. Wer hat diese Glocke errichtet?“ „Coco Zamis“, antwortete Ricardo. „Wer ist Coco Zamis?“ „Sie ist eine junge Hexe“, erklärte Ricardo. „Sie gehört einer europäischen Sippe an und ist zu Besuch bei uns.“ „Hat diese Coco Zamis besondere Fähigkeiten?“ „Das wissen wir nicht. Aber es ist anzunehmen.“ „Und sie hilft euch?“ „Ja, sie hilft uns.“ „Erzähle mir alles, was du über Coco Zamis weißt. Außerdem will ich wissen, was deine Sippe für Pläne hat.“ Der willenlose Ricardo erzählte alles, was er wußte. Calli hörte ihm aufmerksam zu und stellte gelegentlich eine Frage. Als Ricardo seine Erzählung beendet hatte, erteilte ihm Calli einige Befehle.
Es war immer der gleiche Alptraum, der mich verfolgte und nicht losließ. Es war, als würde 102
ein kurzer Filmausschnitt immer und immer wieder vorgespielt. Ich wollte aufwachen, wollte diesem entsetzlichen Traum entfliehen, doch es gelang mir nicht. Und wieder kam der Traum. Er war so plastisch und alles schien so grauenvoll real zu sein… Die vier Ungeheuer kamen auf mich zu. Es waren kräftige Indios, die Monstermasken trugen, die in verschiedenen Farben gehalten waren: grün, weiß, schwarz und gelb. Jeder trug in seiner rechten Hand eine Axt, die mit einem Schlangenkopf verziert war. Ich konnte mich nicht bewegen. Mein Körper war gelähmt und mir war kalt. Ich war völlig nackt und lag auf einem harten Steinboden. Die vier Maskierten hoben mich hoch. Langsam wurde es hell. Deutlich konnte ich die hohe Steinpyramide erblicken. Sie trugen mich die steilen Stufen hinauf. Gelegentlich konnte ich einen Blick auf die Menge werfen, die sich schweigend um die Pyramide versammelte. Auf der Plattform legten sie mich auf den Boden und kümmerten sich nicht mehr um mich. Ich lag so, daß ich den Tempeleingang sehen konnte. Als die Sonne strahlend aufging, trat der Hohepriester aus dem Tempel und kam auf mich zu. Sein muskulöser Körper war mit Farben beschmiert. 103
Neben ihm gingen zwei junge Priester, die rauchende Kopalräuchergef äße in den Händen hielten. Der Hohepriester hob beide Hände, und die vier Maskierten hoben mich hoch und legten mich auf den Opferstein. Langsam beugte sich der Hohepriester über mich. Sein Gesicht war völlig unbewegt. In der rechten Hand hielt er ein Feuersteinmesser. Wieder versuchte ich die Lähmung abzuschütteln und meine magischen Kräfte einzusetzen. Und wieder hatte ich mit meinen Bemühungen keinen Erfolg. Der Hohepriester murmelte etwas in der Maya-Sprache, das ich nicht verstand. Dann stieß er mir das lange Messer unterhalb der linken Rippen in den Brustkorb… Das war der Traum, und er wiederholte sich. Zehnmal, hundertmal, tausendmal. Ich glaubte verrückt zu werden. Plötzlich wachte ich auf. Mein Körper war schweißgebadet. Im Zimmer war es hell. Ich hob die linke Hand. Sie zitterte. Ich blickte auf die Uhr. Es war sieben. Ich stieg aus dem Bett und blieb zitternd stehen. Alles drehte sich vor meinen Augen. Mir war übel. Wie eine Betrunkene wankte ich ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn an und trank ein paar Schlucke Wasser. Doch mein Mund fühlte sich noch immer ausgetrocknet 104
an. Nach ein paar Minuten kehrte ich ins Zimmer zurück und warf mich erschöpft auf das Bett. Dieser Alptraum war durch die fremde Macht ausgelöst worden. Unser Gegner steckte dahinter. Aber ich konnte es nicht verstehen, daß es ihm gelungen war, mir diese Alpträume zu schicken, denn er konnte keinesfalls die magische Glocke durchbrechen. Oder war es ihm gelungen? Ich setzte mich auf und konzentrierte mich kurz. Nein, die magische Glocke war noch intakt. Müde legte ich mich nieder. Nie zuvor hatte ich mich so erschöpft und zerschlagen gefühlt. Ich versuchte nochmals einzuschlafen, doch es gelang mir nicht. Ruhelos wälzte ich mich hin und her. Eine halbe Stunde später stand ich auf, trat ans Fenster und zog den Vorgang zurück. Vor dem Haus stand ein Polizist, und ein weiterer ging im Garten auf und ab. Ich duschte ziemlich lange, doch auch nachher fühlte ich mich kaum besser. Mein Gesicht sah erschreckend aus. Dunkle Ringe zeichneten sich unter meinen Augen ab, und meine Haut schien runzelig geworden zu sein. Auch mit meinen Make-up-Künsten kam ich nicht weiter. Ich sah wie eine alte Frau aus. Alle schliefen noch. Nur eines der IndioMädchen war auf. Ich bestellte bei ihr ein ausgiebiges Frühstück, das ich mit wenig Appetit aß. 105
Der Alptraum ging mir nicht aus dem Sinn. Zweifellos wollte mir unser Feind zeigen, was mich erwartete. Der Kerl mußte seiner Sache ziemlich sicher sein. Und wieder rätselte ich, wie es ihm gelungen war, mit diesen Traum einzusuggerieren. So sehr ich auch darüber nachdachte, ich fand keine Lösung. Nach dem Frühstück ging ich in den Garten. Die Polizisten begrüßten mich freundlich. Ich ging zum Tor, unterhielt mich kurz mit den dort postierten Polizisten. Nichts war während der Nacht geschehen. Meine Unruhe wuchs aber von Minute zu Minute. Irgend etwas Ungewöhnliches würde geschehen.
Nach elf Uhr kam Ubaldo in mein Zimmer. Er sah in seinem eleganten Anzug sehr hübsch aus. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen und gleichzeitig abgestoßen. Dämonen, die sich sehr selbstsicher und überheblich gaben, waren mir ein Greuel, aber so sanfte und harmlose wie Ubaldo waren auch nicht ganz mein Geschmack. „Du hast nicht gut geschlafen“, stellte er fest, als er mich musterte. „Ich habe grauenvoll geschlafen“, sagte ich leise. „Ein Alptraum verfolgte mich die ganze Nacht.“ „Wovon hast du geträumt?“ erkundigte er sich. 106
„Ich war gefangen und konnte mich nicht bewegen“, sagte ich stockend. „Ein MayaPriester stieß mir ein Messer in die Brust. Das war der Alptraum, der sich immer wiederholte.“ „Hm, ich kann mir gut vorstellen, wie scheußlich dieser Traum für dich gewesen sein muß.“ „Sind die Vertreter der beiden Sippen bereits eingetroffen?“ fragte ich, da ich sein Mitleid nicht wollte. „Ja, deshalb bin ich gekommen. Vater hat mit ihnen gesprochen und ihnen die Situation klargelegt. Beide beteuern, daß sie mit den Anschlägen auf unseren Clan nichts zu tun haben.“ „Ich möchte die beiden sehen“, sagte ich und stand auf. „Wo sind sie?“ „In der Bibliothek.“ In der Halle kam uns Ricardo entgegen, der uns flüchtig begrüßte. Irgend etwas stimmte mit Ricardo nicht. Seine Ausstrahlung war anders, wirkte gestört. „He, Ricardo“, sagte ich. Verärgert drehte er sich um. Ich versuchte ihn zu hypnotisieren, aber mein Hypnoseblick war wirkungslos. „Was ist?“ brummte er. „Haben die Polizisten etwas Ungewöhnliches während der Nacht erlebt?“ „Nein“, knurrte er. „Alles war ruhig.“ Nochmals versuchte ich ihn zu hypnotisieren. 107
Wieder erfolglos. Nachdenklich sah ich ihm nach, als er im Garten verschwand. Mein Verdacht stimmte. Mit Ricardo stimmte einiges nicht. Normalerweise hätte ich ihn augenblicklich hypnotisieren können, doch es war mir nicht gelungen. Das bedeutete, daß er schon von irgendeinem anderen hypnotisiert worden war. Und das war vermutlich unser unbekannter Gegner gewesen. „Ich komme sofort nach, Ubaldo“, sagte ich. Ich wollte mit einem der Polizisten sprechen. Rasch trat ich vors Haus. Ricardo war nicht zu sehen. „Hatten Sie während der Nacht Dienst?“ fragte ich den Polizisten vor dem Haus. „Ja“, antwortete er und nickte eifrig. „Ist irgendwann während der Nacht der Polizeipräsident aus dem Haus gekommen?“ „Ja, das war so gegen ein Uhr. Er ging zum Tor und auf die Straße.“ „Blieb er lange aus?“ „Hm, ich habe nicht auf die Uhr geblickt, aber es war sicherlich eine Stunde vergangen, als er zurückkam.“ „Danke“, sagte ich. Nur mühsam beherrschte ich mich. Dieser verdammte, dicke Trottel, dachte ich. Er war unserem Gegner in die Hände gefallen, und dieser hatte ihn beeinflußt. Vermutlich wußte der unbekannte Dämon genau über unsere Pläne Bescheid. In Ricardo hatte er einen treuen Diener. 108
Ich durfte Ricardo nicht aus den Augen lassen. Sicherlich würde er sich irgendwann mit dem Feind in Verbindung setzen. Ich versuchte möglichst gelassen und heiter zu wirken, als ich die Bibliothek betrat. Außer Victor und Ubaldo befanden sich noch zwei Dämonen in der Bibliothek, die mich neugierig anstarrten. „Das ist Coco Zamis“, stellte mich Victor vor. „Ihre Sippe ist mit der unseren befreundet.“ „Rüben Olmo“, sagte der kleinere der Dämonen und deutete eine Verbeugung an. Ich wußte, daß seine Sippe aus Vampiren bestand, doch kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, daß Rüben Olmo ein Blutsauger war. Er trug einen grauen Maßanzug. Sein Durchschnittsgesicht war ein wenig bleich und wirkte ungesund. Aber auf den ersten Blick hätte man ihn für einen Vertreter halten können. „Ich bin Javier Perez“, stellte sich der zweite vor. Er verzichtete auf eine Verbeugung. Mir war nicht bekannt, welche Fähigkeiten oder Abnormitäten zu seinem Clan gehörten, und ich wollte es auch gar nicht wissen. Er war groß und schlank. Als ich mich setzte, hatte ich die beiden schon unbemerkt von Victor und Ubaldo hypnotisiert. Ihre magischen Abwehrkräfte waren äußerst schwach, denn normalerweise ist es alles andere als einfach, einen Dämon zu hypnotisieren. „Es freut mich, eure Bekanntschaft zu 109
machen“, sagte ich lächelnd. „Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, sagte Javier Perez. „Ich bin höchst erfreut, die Bekanntschaft einer Hexe aus der Zamis-Sippe zu machen“, meinte Rüben Olmo, aber nach seinem Gesichtsausdruck zu schließen, hielt sich die Freude in Grenzen. „Victor hat euch über die Vorfälle der vergangenen Tage informiert?“ fragte ich. „Ja, das hat er“, sagte Olmo eifrig. „Aber ich kann nur wiederholen: Unser Clan hat mit diesen Vorfällen nicht das geringste zu tun.“ Ich blickte Perez fragend an. „Ich bin empört über diese Vorkommnisse“, sagte der Dämon mit dumpfer Stimme. „Unsere Sippe steht ganz auf der Seite der Najeras. Wir sind ihre Freunde und können nur nochmals unsere Freundschaft bekräftigen.“ Die beiden sprachen die Wahrheit. Aber ich hatte nicht geglaubt, daß diese beiden Sippen etwas mit den Anschlägen zu tun hatten. Doch es war gut zu wissen, daß man sie als Feinde ausscheiden konnte. Danach wurden noch eine halbe Stunde Belanglosigkeiten ausgetauscht. Ich verabschiedete mich von den beiden, die mir zum Abschied die Ergebenheit ihrer Sippen verkündeten. Ubaldo schloß sich mir an. „Ich will morgen losfliegen“, sagte ich. „Hat dein Vater mit dir darüber gesprochen?“ 110
„Ja, ich soll dich mit dem Hubschrauber hinbringen.“ „Und wirst du es auch tun?“ Er nickte. „Ich muß meinem Vater gehorchen“, sagte er leise. „Aber freiwillig würdest du wohl nicht mitkommen, was?“ Ein leichtes Lächeln lag um seine Lippen. „Du schätzt mich falsch ein, Coco. Ich bin nicht feige. Aber ich bin mir deutlich der Grenzen meiner Fähigkeiten bewußt. Mit normalen Menschen nehme ich es jederzeit auf, aber gegen einen mächtigen Dämon habe ich keine Chance.“ „Und wir haben es mit einem mächtigen Dämon zu tun“, sagte ich. „Trotzdem wirst du mich begleiten?“ „Ja, das werde ich. Anfangs hielt ich deinen Plan für recht unsinnig, aber jetzt denke ich anders.“ „Und was hat diesen Meinungsumschwung ausgelöst?“ „Wir können uns nicht immer hier im Haus verschanzen. Irgendwann einmal müssen wir hinaus. Wir sind zu schwach, um uns gegen einen Angriff wirkungsvoll zu wehren. Unser Gegner will uns aber vernichten, daher finde ich es besser, wenn wir etwas dagegen unternehmen. Deshalb komme ich gern mit dir mit.“ „Das freut mich zu hören“, sagte ich. „Ich habe keine Ahnung, welche Ausrüstung wir für den Dschungel benötigen. Kannst du alles 111
Notwendige auch telefonisch bestellen?“ „Das ist bereits geschehen“, sagte er.
Meine schlechte Meinung über Ubaldo hatte ich geändert. Ich sah ihn nun mit anderen Augen. Leider machte ich noch immer den Fehler, daß ich die Dämonen an meinen Fähigkeiten und Ansichten maß. Aber das durfte ich nicht tun, denn schon oft hatte ich mich überschätzt. Ubaldo sah sich selbst sicherlich viel objektiver, als ich das von mir behaupten konnte. Den ganzen Tag über ließ ich Ricardo nicht aus den Augen. Ich hielt mich in seiner Nähe auf, oder ich beobachtete ihn mit der magischen Kugel von meinem Zimmer aus. Doch er benahm sich nicht auffällig. Einige Beamte kamen aus dem Polizeipräsidium zu ihm, mit denen er verschiedene Dinge besprach, die mich nicht interessierten. Er telefonierte mit einigen Frauen und entschuldigte sich bei ihnen, daß er für sie keine Zeit hatte. Nach dem Abendessen zog er sich auf sein Zimmer zurück, drehte den Fernseher an und sah eine Stunde lang zu. Ein paar Minuten nach zehn Uhr schlüpfte er in seine Jacke, trat aus dem Zimmer und verließ das Haus. Er unterhielt sich kurz mit einigen Polizisten, dann trat er auf die Straße. Ich hatte keinerlei Mühe, ihm zu folgen. 112
Deutlich war er in der Kugel zu sehen. Nach zehn Minuten blieb er vor einem verwahrlosten Garten stehen. Das Bild in der Kugel wurde schwächer, als ich den Gesichtswinkel veränderte und einen Blick auf das Haus werfen wollte. Da waren magische Kräfte mit im Spiel. Ricardo betrat den Garten, und nach ein paar Schritten konnte ich ihn nicht mehr sehen. Das wollte ich mir doch näher ansehen. Sofort versetzte ich mich in die andere Zeitdimension und lief zu dem Garten, den Ricardo betreten hatte. Kurz bevor ich den Garten erreichte, glitt ich wieder in den normalen Zeitablauf. Vor dem Gartentor blieb ich einen Augenblick stehen. Überdeutlich war die fremdartige Magie zu spüren, die vom Haus ausging, das einen ziemlich verwahrlosten Eindruck auf mich machte. Zögernd ging ich ein paar Schritte, drehte mich um und lief zurück. Sollte ich Ricardo folgen?
Ricardo war völlig willenlos. Er war zu Callis Sklaven geworden und hatte den Auftrag durchgeführt, den er erhalten hatte. Als er in der Nacht in die Villa der Najeras zurückgekommen war, hatte er sich in den ersten Stock geschlichen und eine 113
erbsengroße farblose Kugel vor Cocos Tür gelegt. Dann war er schlafen gegangen. Kurz vor sieben Uhr war er aufgewacht und zu Cocos Zimmer gegangen und hatte die Kugel an sich genommen, die er in die Toilette warf. Welchen Zweck diese Kugel erfüllt hatte, das wußte er nicht und wollte es auch nicht wissen. Der Auftrag Callis war klar gewesen. Er sollte sich den ganzen Tag über so verhalten, als wäre nichts geschehen. Ricardo sollte nur Informationen sammeln. Das Haus schien leer zu stehen. Keines der Fenster war erhellt. Ricardo blieb in der Diele stehen. Eine Tür glitt langsam auf und ein breiter Lichtstrahl fiel ins Vorzimmer. „Komm herein, Najera“, sagte Calli. Ricardo gehorchte. In der Mitte des Zimmers blieb er stehen. Es war der gleiche Raum, in dem er auch vergangene Nacht gewesen war. „Berichte!“ befahl der junge Indianer. „Die Kugel, die du mir gegeben hast, legte ich vor Cocos Zimmer. Ich ließ sie ein paar Stunden dort liegen, holte sie dann und warf sie in die Toilette.“ „Gut“, sagte Calli zufrieden. „Die Hexe wird eine unruhige Nacht verbracht haben. Was hat sich sonst noch ereignet?“ „Die Abgesandten der Perez und Olmos waren bei uns. Sie bleiben die Nacht über im ,Maya Excelsior’. Sie fliegen erst morgen nach 114
Hause.“ „Was ist mit Coco?“ „Sie fliegt morgen mit Ubaldo nach Sayaxche. Sie werden…“ „Sei still!“ unterbrach ihn Calli scharf. Der Indianer sprang auf das seltsame Gebilde zu, das die Form und Farbe geändert hatte. Mit beiden Händen umklammerte er das Gestell, das nun wie ein Vogelkäfig aussah. „Komm zu mir, Najera“, sagte Calli. Ricardo blieb neben dem Indianer stehen. Innerhalb des käfigartigen Gestells war nun ein gestochen scharfes Bild zu sehen. „Kennst du dieses Mädchen?“ fragte Calli. „Ja, das ist Coco Zamis.“ Nun war das Gesicht Cocos zu sehen. „Sie ist dir gefolgt“, sagte Calli. „Du bist für mich nun völlig nutzlos geworden.“ Der Indianer bewegte seine Hände rasend schnell. Coco griff sich mit beiden Händen an den Hals. Sie ging in die Knie und kämpfte gegen den unsichtbaren Gegner. Callis Hände bewegten sich nun so rasch, daß Ricardo sie nicht mehr sehen konnte. Coco wand sich auf dem Boden hin und her, dann bewegte sie sich nicht mehr.
Als ich aus der Bewußtlosigkeit erwachte, sprang ich sofort hoch. Ich wunderte mich, daß ich noch am Leben 115
war, denn die unsichtbaren Hände, die mich ergriffen hatten, hätten mir den Kopf vom Rumpf reißen können, so stark waren sie gewesen. Wie schon so oft in meinem Leben hatte ich den Gegner unterschätzt und mich überraschen lassen. Ich massierte meinen Hals und starrte das dunkle Haus an. Die magische Ausstrahlung, die ich vorhin noch bemerkt hatte, war verschwunden. Zehn Minuten lang war ich bewußtlos gewesen. Mein Gegner hatte das Haus verlassen. Aber weshalb hatte er mich am Leben gelassen? Kopfschüttelnd ging ich auf das Haus zu. Die Tür stand einladend offen. Ich holte eine Taschenlampe aus der Handtasche und knipste sie an. Vorsichtig zog ich die Tür auf und leuchtete ins Innere. Eine leere Diele lag vor mir. Auf dem staubbedeckten Boden waren Fußspuren zu sehen, die auf eine weit geöffnete Tür zuliefen. Zögernd trat ich über die Türschwelle und lauschte. Kein Geräusch war zu hören und auch keinerlei magische Ausstrahlung zu fühlen. Mutig geworden ging ich weiter. Ich trat durch die einladend geöffnete Tür und leuchtete den Raum aus. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück, als ich neben der Tür eine liegende Gestalt 116
erblickte, die sich nicht bewegte. Ich leuchtete die Gestalt an. Dann preßte ich die Lippen zusammen. Es war Ricardo Najera, der hier lag. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten. Sein Kopf lag in einer großen Blutlache. Aus der Mitte des Raumes erklang ein knirschendes Geräusch, dem ein spöttisches Lachen folgte. Aus dem vogelkäfigartigen Gerät, das in der Mitte des Zimmers auf einem kleinen Tischchen stand, schoß ein greller Blitz hervor, der auf mich raste. Ich hob abwehrend die Hände, reagierte aber um eine Sekunde zu spät. Der Blitz blendete mich und hüllte mich ein. Ein sanftes Prickeln durchzog meinen Körper. Ich wankte auf das Gebilde zu, ging in die Knie und schloß die Augen. Etwas Ähnliches hatte ich nie zuvor erlebt. Zwischen dem seltsamen Gerät und mir flossen Ströme einer unerklärlichen Macht hin und her. Ich sah Bilder, obzwar ich die Augen geschlossen hatte. Ich vernahm Stimmen, ja ich spürte sogar die Gedanken mir völlig fremder Personen. Coco Zamis, spürte ich einen Gedanken in meinem Kopf. Sieh zu. Höre zu. Denke mit. Du wirst später alles besser verstehen. Du sollst einiges erfahren. Du wirst dein Wissen nicht weitergeben können, denn du wirst von meiner Hand sterben. Komme nur, Coco 117
Zamis. Ich erwarte dich. Ich schlug die Augen auf. Im Käfig sah ich Bilder, die sich rasend schnell bewegten. Ich kannte die Namen der Menschen, die ich nie zuvor gesehen hatte. Fasziniert sah ich zu, nahm an den Gesprächen, Hoffnungen und Wünschen teil…
Tepal betrat die Hütte des Chilan-Priesters. Ehrfürchtig verbeugten sich die wartenden Priester. Unweit des Bettes, auf dem Zacot lag, blieb Tepal stehen. Zacot war ein Chilan. Das war eine besondere Art von Priester, denn er verfügte über die Fähigkeit, im Trancezustand mit verschiedenen Göttern in Verbindüng zu treten. Durch ihn erhielten sie die Botschaften der Götter. Tepal kniete nieder. Ein Priester warf eine Handvoll Kräuter in das schwach glimmende Feuer. In der kleinen Hütte breitete sich eine dunkelblaue Rauchwolke aus. Ein betäubender Duft hing in der Luft, der das Atmen fast unmöglich machte. Stöhnend wälzte sich Zacot auf dem schmalen Bett hin und her. Auf seinem nackten, schweißbedeckten Körper waren verschiedene Figuren zu sehen, die er sich mit Erdfarben aufgezeichnet hatte. Sie sollten ihm 118
die Vereinigung mit den Göttern erleichtern. Langsam schloß Tepal die Augen. Er war erst seit einem Jahr der Hohepriester von Itzal. Dieses Amt hatte er von seinem Vater geerbt. Tepal war noch jung, kaum dreißig Sonnen alt. Die unheilvollen Nachrichten, die er von einem Boten erhalten hatte, der aus Tikal gekommen war, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Vor ein paar Wochen war es den Priestern der größten Stadt des Maya-Reiches gelungen, eine unheimliche Dämonenbeschwörung durchzuführen. Ein gasartiger Dämon war erschienen, dem sie Tiere und Pflanzen geopfert hatten. Die Tiere hatte der Dämon verschlungen, doch die Pflanzen hatten ihn nicht interessiert. Der Appetit des Monsters war immer gewaltiger geworden. In seiner unendlichen Gier hatte das Ungeheuer auch Menschen aufgesogen. Immer mehr und immer häufiger. Die Priester hatten den Dämon zu besänftigen versucht, doch es war vergeblich gewesen. Die dämonische Wolke war immer größer und gieriger geworden. Ganze Maya-Städte wurden entvölkert. Und nun sollte dieser Dämon in Richtung Itzal unterwegs sein. Tepal blickte wieder Zacot an. Sein Stöhnen war lauter geworden. Speichel tropfte über seine Lippen. „Chac!“ schrie Zacot und setzte sich auf. Plötzlich war ein faustgroßer Totenschädel zu sehen, der von innen giftgrün leuchtete. Der 119
Schädel wurde langsam größer und tanzte wie verrückt in der Hütte auf und ab. Die Priester senkten die Köpfe und starrten den Fußboden an. Zacot keuchte stärker. „Vernehmt meine Botschaft!“ schrie der Chilan-Priester mit überschnappender Stimme. „Bereitet alles zur Zeremonie vor. Sie muß zur Morgendämmerung beginnen. Opfert ein Paar, das demnächst heiraten will.“ Der leuchtende Totenschädel löste sich auf. Zacot stieß einen schrillen Schrei aus. Sein Körper wurde durchgeschüttelt, und er fiel zu Boden und wand sich hin und her. Schaum stand vor seinem Mund und beide Hände preßte er auf seinen Bauch. Dann brach er bewußtlos zusammen. „Wir danken dir, großer Gott“, sagte Tepal mit fester Stimme. „Wir danken dir für deinen Rat und werden ihn beherzigen.“ Der Hohepriester stand auf, verneigte sich und verließ die Hütte.
Das Bild im Käfig wurde verschwommen, dann waren verschiedenfarbige Kreise zu sehen, die ineinander verschmolzen und sich wieder teilten. Das Gesicht des Hohepriesters hatte ich schon vergangene Nacht gesehen. Er war es in meinem Alptraum gewesen, der mir das Messer in die Brust gestoßen hatte. 120
Wieder erschienen Bilder im Käfig, und ich nahm am Schicksal von Menschen teil, die vor etwa tausend Jahren gelebt hatten oder noch immer lebten?
Calli achtete nicht auf die gutmütigen Spöttereien seiner Freunde, deren Ziel er war. Er war glücklich, denn morgen würde er Xochitl heiraten. Er lächelte zufrieden, als er sich an ihre erste Begegnung erinnerte. Zusammen mit seinen Freunden aus dem Männerhaus waren sie zum Baden zum Fluß hinuntergegangen. Da war ihnen eine Gruppe von jungen Mädchen entgegengekommen, die Wasser vom Fluß geholt hatten. Nach MayaArt hatte sie ihm den Rücken zugewandt, doch einen kurzen Augenblick hatte er ihr Gesicht mit den großen, ausdrucksvollen Augen gesehen. Und von diesem Augenblick an hatte er jede Nacht von ihr geträumt. Täglich war er zum Fluß gegangen und hatte auf sie gewartet. Mit ihr sprechen durfte er nicht. Aber er war zufrieden, wenn er sie aus der Ferne sah. Er wollte sie heiraten, doch das war nicht so einfach. Calli hatte mit seinem Vater darüber gesprochen, der sich ‘mit dem Heiratsvermittler von Itzal in Verbindung gesetzt hatte, der bei Xochitls Eltern vorsprechen sollte. Viele Tage lang dauerte das Feilschen, bis 121
endlich Xochitls Eltern die Zustimmung zur Heirat gaben. Dann wurde ein Priester konsultiert. Dieser stellte die Berechnungen an, ob die Vorzeichen für eine Heirat günstig waren. Und sie waren günstig, nachdem er vom Heiratsvermittler eine Last Mais erhalten hatte. Verwandte und Freunde des Paares bauten dann die Hütte, in der es wohnen sollte. Gestern hatte ein Priester die Hütte geweiht. In den Ecken war Kopal verbrannt worden, und Tortillas und Truthahnfleisch wurde geopfert. Nun war alles zum Einzug bereit. Calli träumte weiter vor sich hin. Er achtete nicht auf die Gespräche seiner Freunde. Plötzlich wurde es ruhig in der Hütte. Ein Priester betrat das Männerhaus und blickte sich um. Langsam ging er auf Calli zu. „Steh auf, Calli“, sagte der Priester. Verwirrt stand Calli auf. Er kannte den Priester. Es war Xaxol, der gestern die Hütte geweiht hatte, in der er ab morgen mit Xochitl wohnen würde. „Ich bringe dich zum Ah Kin Mai“, sagte Xaxol. Ah Kin Mai war der Titel des Hohepriesters. Calli starrte Xaxol verständnislos an. Weshalb sollte er zum Hohepriester kommen? Er wollte Xaxol fragen, doch er wußte, daß er keine Antwort erhalten würde. Deshalb fragte er den jungen Priester nicht. 122
Sie verließen das Männerhaus und gingen zwischen den mit Stroh gedeckten Hütten hindurch auf die eigentliche Stadt zu, deren gewaltige Häuser meist leer standen. Nur vor einer Zeremonie wurden sie für wenige Stunden bewohnt. Sie betraten den Dammweg und gingen langsam auf den Tempel zu. Die Straßen waren menschenleer. Links erhob sich eine der Riesenpyramiden. Calli fühlte sich immer unbehaglicher. Er wußte, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war, denn der Hohepriester kümmerte sich üblicherweise nicht um einen so unbedeutenden Jungen wie er einer war. Nun lag der riesige Zermonienhof vor ihnen. Auf der großen Plattform im Norden erhoben sich vier kleine Pyramiden. Xaxol stieg die Stufen hoch, die zur Gipfelplattform der östlichen Riesenpyramide führte. Vor dem breiten Eingang blieb der Priester einen Augenblick stehen und blickte Calli traurig an. „Geh hinein, Calli“, sagte der Priester. Calli schluckte. Seine Brust war wie zugeschnürt. Zögernd trat er durch die Tür und blieb nach ein paar Schritten stehen. Er verneigte sich ehrfurchtsvoll, als er den Hohepriester erblickte, der ein Regengottkostüm trug. „Komm näher, Calli“, sagte Tepal. Furchtsam gehorchte Calli. Tepal entsprach genau dem Schönheitsideal 123
der Maya. Sein schwarzes Haar war glatt, die Augen waren dunkelbraun. Die Adlernase war fleischig und stark gebogen, die Unterlippe hing etwas herunter. „Xochitl und du werden morgen dem großen Gott Chac übergeben werden“, sagte der Hohepriester mit dumpfer Stimme. Calli zitterte am ganzen Leib. Er wußte, was dies bedeutete. Aus irgendeinem Grund sollten Xochitl und er geopfert werden. Der Hohepriester würde ihm ein Feuersteinmesser in die Brust stoßen und ihm das Herz herausreißen und es der Sonne zuwenden. Es war eine große Ehre für den Gott Chac zu sterben, aber auf diese Ehre hätte Calli verzichten können. Der Junge wußte ganz genau, daß es keine Rettung für ihn gab. Er mußte sich mit seinem Schicksal abfinden. Er wehrte sich nicht, als zwei Priester ihn ergriffen und durch einen schmalen Gang in einen fensterlosen Raum führten. Calli setzte sich auf den Boden. Ein Priester brachte einen Krug balche – ein Met-Getränk – und einen Becher. Mühsam unterdrückte Calli die Tränen, die ihm hochstiegen. Er trank einen Schluck des stark berauschenden Getränkes und legte sich dann auf den Boden. Er dachte an Xochitl und den unerklärlichen Ratschluß der Götter, die sie als Opfer bestimmt hatten.
124
Wieder verschwand das Bild und die bunten Kreise erschienen. Calli und Xochitl! Das waren doch die Namen des Paares, das vor einem halben Jahr in das Indianerdorf gekommen war und die Bewohner zum Mitkommen aufgefordert hatten. Ungeduldig wartete ich darauf, daß die Bilder im Käfig erschienen. Endlich war es wieder soweit…
Es war noch dunkel, als Tepal die Treppe herunterstieg. Er war ganz in Rot gekleidet, nur sein Kopfschmuck, der die Maske des Regengottes Chac teilweise verdeckte, war grün und mit Federn des Riesenvogels Quetzal bedeckt. In der linken Hand trug er einen zickzackförmigen Stab, der den Blitz darstellte. Im Hof vor dem Tempel brannte ein gewaltiges Feuer. Im Augenblick waren Tempeldiener damit beschäftigt, die glühende Asche zu verteilen. Vor der eigentlichen Opferzeremonie fand die Zeremonie des Schreitens durch Feuer statt. Vor der glühenden Asche blieb Tepal stehen. Drei Priester, die verschiedenfarbige Masken trugen, schlossen sich ihm an. Nach ein paar Schritten blieb Tepal stehen. Ein Novize kniete vor ihm nieder und zog 125
ihm die Sandalen aus. Ein anderer reichte ihm eine Schale, in der sich brennender Kopalweihrauch befand. Ohne zu zögern betrat Tepal die glühende Asche und schritt darüber hinweg. Er drehte sich langsam um und kehrte zurück. Danach schritten die anderen Priester durch das Feuer. Als sie damit fertig waren, tauchten Novizen auf, die Masken trugen, die unheimliche Monster darstellten. Es dämmerte, als sich die unheimliche Prozession in Richtung des Chactempels bewegte. Die Bewohner der umliegenden Dörfer hatten sich bereits versammelt. Die Priester stiegen langsam die große Treppe hoch, die zum Tempel führte. Tepal legte sein Kostüm und die Maske ab und betrat den Tempel des großen Gottes, um zu beten.
Das Bild wurde schwächer. Farben wogten durcheinander. Aber es dauerte nur wenige Sekunden, dann war wieder alles deutlich zu sehen. Mir kam es unwirklich vor, daß ich Zeuge von Ereignissen war, die vor über tausend Jahren stattgefunden hatten…
126
Calli hatte die ganze Nacht über kein Auge zugemacht. Ruhelos war er im fensterlosen Raum auf und ab gegangen, und langsam hatte er sich mit seinem Schicksal abgefunden. Tempeldiener führten ihn kurz vor Morgengrauen auf die Plattform vor dem großen Tempel. Unweit des Opfersteines blieben sie stehen. Dann sah er Xochitl, die zu ihm geführt wurde. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er die Angst in ihren Augen las. Er wandte den Kopf und blickte über die Menschenmenge, die sich in der Stadt versammelt hatte und schweigend auf die Opferung wartete. Calli wußte, daß sich seine Eltern und Geschwister unter den Versammelten befanden, doch er konnte sie nicht sehen. Langsam blickte Calli nach rechts, als er ein knarrendes Geräusch hörte. Ein halbes Dutzend Priester schoben eine schwere Steinplatte zur Seite, die einen Schacht bedeckte. Eine runde Öffnung wurde sichtbar. Ein eisiger Hauch schien dem Schacht zu entströmen. Die Priester traten schnell ein paar Schritte zurück und warfen furchtsame Blicke auf die Öffnung. Nun wußte Calli, daß Xochi und er nicht auf die übliche Art geopfert werden sollten. Der Hohepriester würde ihnen nicht das Herz herausschneiden, sondern sie in den Schacht ohne Wiederkehr werfen, der in die 127
Unendlichkeit führen sollte. Als die Sonne strahlend aufging, trat der Hohepriester aus dem Tempel. Er ging um die Schachtöffnung herum und blieb vor Calli und Xochitl stehen. Ein lauter Aufschrei der Menge ließ Tepal herumwirbeln. Seine Augen weiteten sich. Ein riesiges, durchscheinendes Gebilde stürzte auf die Stadt zu, glitt über die wartende Menge und verschlang sie. Die Menschen versuchten zu fliehen, doch die dämonische Wolke war rascher. Es dauerte nur wenige Augenblicke, und das pulsierende Gebilde hatte fast die gesamte Bevölkerung der Stadt verschlungen. Die riesige Wolke schien sich einen Augenblick zusammenzukrümmen, dann schoß sie blitzschnell die Treppe hoch und erfaßte einige Priester. Tepal erwachte aus seiner Erstarrung. Er sprang auf Calli und Xochitl zu, die beide wie gelähmt dastanden. Er stieß sie in Richtung Schacht. Calli stieß einen Schrei aus. Er fiel gegen Xochitl und umklammerte sie. Dabei stolperte er und taumelte auf die dunkle Öffnung zu. Eine unerklärliche Kraft erfaßte die beiden und zog sie in die Tiefe. Bevor die Dämonenwolke den Hohepriester erreichte, handelte er. Tepal sprang in den Schacht, und die Dämonenwolke folgte ihm. Ein merkwürdiges Ziehen war in seinen Gliedern. Sein Körper 128
wurde schwerelos. Wie ein Blatt im Wind schwebte er hin und her. Irgendwann einmal hob Tepal den Kopf und sah die Dämonenwolke, die vom unerklärlichen Sog des Schachtes mitgerissen wurde. Dann war nur noch Dunkelheit um den Hohepriester. Er hörte wispernde Stimmen, und irgend etwas preßte sich gegen seine Stirn. Er verlor jeden Zeitbegriff, und irgendwann wurde er bewußtlos. Als Tepal erwachte, war es dunkel. Verwundert stand er auf. Im silbernen Schein des Mondes erblickte er Calli und Xochitl, die unweit von ihm bewußtlos am Fußende der Treppe lagen. Aber die Treppe war mit Farnkräutern und Rebgewächsen bewachsen. Einige Stufen waren zerborsten. Tepal trat ein paar Schritte zur Seite und schüttelte immer wieder verwundert den Kopf. Er befand sich in Itzal, da gab es keinen Zweifel, denn er erkannte die Gebäude und Tempel wieder, die aber großteils eingestürzt und alle mit Pflanzen bewachsen waren. Itzal war eine verlassene Stadt. Calli und Xochi bewegten sich, und Tepal blieb vor ihnen stehen. „Wir leben“, sagte Calli verwundert. Xochitl brachte keinen Laut hervor. Ihr kam es noch immer wie ein Wunder vor, daß sie lebten. 129
„Was ist geschehen, Ah Kin Mai?“ wandte sich Calli fragend an den Hohepriester. Tepal ignorierte die Frage. Er wollte vor den beiden nicht zugeben, daß er keine Ahnung hatte, was geschehen war. „Kommt mit“, sagte Tepal mit spröder Stimme. Der Hohepriester kletterte die Treppe hoch. Calli und Xochi folgten ihm. Der Aufstieg war alles andere als einfach. Überall waren die dornigen Stämme der Pitahaya-Rebe zu sehen und zu spüren. Nach wenigen Minuten bluteten ihre Füße und Beine aus unzähligen Wunden. Doch unbeirrt davon stieg Tepal immer höher. Auf der Plattform blieb er stehen und blickte sich um. Ganz Itzal war vom Dschungel überwuchert. Einige der Gebäude waren eingestürzt. Tepal runzelte die Stirn. Die meisten der Bäume, die auf der Plattform wuchsen, waren dick und riesig groß. Er wußte, daß es viele Jahre dauerte, bis Bäume so eine gewaltige Größe erreichten. Sein Verstand weigerte sich, die schreckliche Wahrheit zu akzeptieren. Sie befanden sich in der Zukunft! „Wo sind wir, Ah Kin Mai?“ fragte Calli ängstlich. „In Itzal“, antwortete Tepal knapp. „Aber das – das ist doch unmöglich“, stammelte Calli. „Es ist aber so“, sagte Tepal scharf. 130
Calli preßte die Lippen zusammen, und Xochitl schmiegte sich voller Angst an ihn. Tepals scharfer Verstand arbeitete fieberhaft. Er dachte an die Prophezeiungen der Priester, die vom Untergang des Maya-Reiches berichtet hatten. Er mußte herausfinden, wie viele Jahre vergangen waren und was mit seinem Volk geschehen war. Er drehte sich um und suchte den Boden ab. Deutlich war die Öffnung des Schachtes zu sehen, in den sie gestürzt waren. Eine unerklärliche Kraft hatte sie in die Zukunft gerissen. Tepal wagte nicht, in die Nähe des Schachtes zu gehen. „Folgt mir“, sagte Tepal und stieg die Treppe hinunter.
Bilder wirbelten durcheinander, doch ich konnte keine Einzelheiten mehr erkennen. Coco Zamis, spürte ich wieder die Gedanken von vorhin. Du weißt nun einiges über mich. Aber dieses Wissen wird dir nichts nützen. Ich werde dich töten. Die Gedanken zogen sich aus meinem Hirn zurück, und der Druck gegen meine Schläfen wurde schwächer. Das vogelkäfigartige Gestell krümmte und verformte sich. Dann war es einen Augenblick in türkisfarbenes Licht getaucht. Es fiel in sich zusammen und verschwand einfach. 131
Ein paar Sekunden lang bewegte ich mich nicht. Im Zimmer war es dunkel. Endlich knipste ich die Taschenlampe an und kehrte in die Wirklichkeit zurück. Ricardo Najera war tot. Um seinen Kopf schwirrten einige Fliegen. Schaudernd wandte ich mich ab. Ich stürzte ins Freie und blieb schwer atmend stehen. Ich wußte nun, daß Tepal der unbekannte Gegner war. Aber dieses Wissen half mir nicht weiter. Er war durch einen Schacht ohne Wiederkehr, wie ihn Calli bezeichnet hatte, in die Zukunft gerissen worden. Ich wußte, daß es solche Schächte an einigen Punkten der Erde gibt. Innerhalb der Schwarzen Familie werden sie als Zeitschächte bezeichnet. Das Wissen, wie man diese Zeitschächte ausnutzen kann, ist verschollen. Alle Dämonen machen einen großen Bogen um diese Schächte. Tepal verfügte über das magische Wissen einer Zivilisation, von der nur sehr wenig bekannt war. In keinem der Bücher, die ich gestern über die Maya gelesen hatte, war etwas über ihre Vorstellungen von Zauberei gestanden. Aber aus allem, was ich nun erfahren hatte, wußte ich, daß Tepal über ungewöhnliche Zauberkräfte verfügte, die von einer Art waren, die ich nicht begreifen konnte. Der Hohepriester war ein noch gefährlicherer Gegner, als ich es befürchtet hatte. 132
Bis jetzt hatte sich niemand gegen ihn wehren können, er war nur auf Gegner gestoßen, die ihm weit unterlegen waren. Sicherlich hatte er von der Schwarzen Familie keine hohe Meinung, da er es ja bis jetzt nur mit den Mitgliedern der Najera-Sippe zu tun gehabt hatte. Ich war sicher, daß er von Ricardo alle für ihn wichtigen Informationen erhalten hatte. Tepal mußte wissen, daß Ubaldo und ich morgen mit der Suche nach ihm beginnen wollten. Er hätte mich leicht töten können, doch er hatte es nicht getan. Tepal war von seinen Fähigkeiten so überzeugt, daß er mit mir spielen wollte. Vermutlich amüsierte ich ihn. Eines stand für mich fest: Tepal unterschätzte mich. Und das konnte nur ein Vorteil sein. Ich verließ den Garten und spazierte durch die nächtlichen Straßen der Stadt. Eigentlich hätte ich Asmodi eine Meldung machen müssen, denn er hatte angeordnet, daß er zu verständigen sei, sobald ein unbekannter Dämon auftauchte. Aber ich wollte ihn nicht verständigen.
Ich kehrte unbemerkt von den Polizisten in das Haus der Najeras zurück. Sollte ich Victor vom Tod Ricardos Meldung machen? Nein, das wollte ich nicht, denn 133
damit hätte ich zugegeben, daß ich das Haus verlassen hatte. Sein Verschwinden sollte für die anderen Familienmitglieder eine Warnung sein. Victor und der bärtige Jorge unterhielten sich in der Bibliothek. „Nimm doch Platz“, sagte Victor. Ich setzte mich und steckte mir eine Zigarette an. Jorge reichte mir ein Glas Bourbon. „Du fliegst also morgen los?“ fragte Jorge. Ich nickte und zog an der Zigarette. „Vielleicht können wir dir helfen?“ fragte Victor. „Die meisten Sippen haben alte handschriftliche Aufzeichnungen“, sagte ich. „Darin sind magische Beschwörungen verzeichnet und ähnliche Dinge. Habt ihr solche Manuskripte?“ Jorge und Victor wechselten einen raschen Blick. Victor nickte leicht. „Ja, wir haben solche Manuskripte“, meinte Jorge. „Einige sind schon uralt. Niemand kann sie mehr lesen, und niemand kennt den Schlüssel, um die Schrift zum Erscheinen zu bringen.“ „Dürfte ich diese Manuskripte einmal sehen?“ „Natürlich“, sagte Victor. „Aber ich fürchte, du wirst damit nichts anfangen können.“ „Suchst du etwas Bestimmtes?“ erkundigte sich Jorge. „Ich suche nach Informationen über die Maya-Magie“, sagte ich und drückte die 134
Zigarette aus. Jorge zupfte breit grinsend an seinem Bart herum. „Da kann ich dir sicherlich helfen, Coco. Mit diesem Gebiet beschäftige ich mich schon seit vielen Jahren. Aber weshalb interessierst du dich für diese längst vergessene Magie?“ „Ich vermute, daß sich unser Gegner dieser Magie bedient“, sagte ich. „Das habe ich mir auch gedacht“, meinte Jorge. „Ich habe mich darüber mit Victor eben unterhalten.“ „Ich muß mir Informationen über die Grundbegriffe der Maya-Magie verschaffen, um unseren Gegner ausschalten zu können.“ „Richtig“, sagte er. „Wenn deine Vermutung stimmt, daß sich unser Feind dieser lange vergessenen Kunst bedient, dann kannst du ihn nur mit seinen eigenen Waffen schlagen. Du hast Köpfchen, junge Hexe.“ Ich grinste ihn an. Und er grinste spitzbübisch zurück. „Ich lasse euch besser allein“, sagte Victor. „Die Maya waren ein außergewöhnliches Volk“, begann Jorge zu sprechen, als Victor die Bibliothek verlassen hatte. „Ich habe einige Aufzeichnungen gefunden, um die mich jeder Forscher beneiden würde. Aber kommen wir zum Wesentlichen. Für die Maya war die Zeit das Wichtigste. Alle Altäre und Stelen wurden nur errichtet, um den Zeitablauf zu markieren. Und bei ihnen waren die Tage göttlich.“ 135
„Wie ist das zu verstehen?“ „Bei den Kulturen der Alten Welt standen einzelne Tage unter dem Einfluß der Planeten oder Götter. Der Sonntag ist der Tag der Sonne, der Freitag der Tag der Göttin Freia, und der Montag der Tag des Mondes.“ „Und wie war das bei den Maya?“ „Bei ihnen wird der Tag nicht von einem Gott beeinflußt – der Tag ist der Gott! Besser gesagt ist der Tag ein Götterpaar. Der Tag ist ein lebendiger Gott für sie. Und auf dieser Vorstellung basiert ihre Magie.“ „Das ist hochinteressant“, sagte ich fasziniert. „Das ist es auch, denn sonst würde ich mich nicht schon seit vierzig Jahren damit beschäftigen. Jedes Götterpaar, das einen Tag beherrscht wird aus einer Zahl und einem Namen gebildet, 1 Ik. Oder 13 Ahau. 5 Imix. Hast du das verstanden?“ „Ja“, sagte ich und trank einen Schluck. „Ich könnte dir jetzt einen umfangreichen Vortrag über die Philosophie der Zeit halten, aber das hilft dir nicht weiter. Du benötigst etwas, das dir Schutz vor dem Angriff der Maya-Magie bietet.“ „Richtig“, stimmte ich zu. „Hm“, brummte er. „Ich müßte dein Geburtsdatum wissen, aber das wirst du mir sicherlich nicht verraten.“ Ich blickte ihn forschend an. „Und weshalb benötigst du es?“ „Ich könnte feststellen, welche Maya-Götter 136
deinen Geburtstag beherrschen.“ „Und das würde etwas nützen?“ „Ja, sehr viel sogar“, sagte er eifrig. „Wenn es gute Götter sind, dann kannst du dich ihrer Kräfte bedienen. Und das wäre eine Überraschung für den Feind, denn er nimmt sicher nicht an, daß du mit der Maya-Magie vertraut bist.“ Ich zögerte noch immer. Jorges Vorschlag war verlockend, doch es war Wahnsinn ihm mein Geburtsdatum zu verraten. Er konnte so Macht über mich bekommen. „Du hast Angst, daß ich es ausnützen könnte, wenn ich dein Geburtsdatum weiß, nicht wahr?“ „So ist es“, sagte ich. „Dieses Risiko mußt du eingehen“, meinte er. „Hm“, sagte ich nachdenklich. „Ich spreche nicht gern über meine Fähigkeiten, Jorge. Aber ich verrate dir eine meiner Fähigkeiten. Ich kann dich jederzeit hypnotisieren.“ „Das überrascht mich nicht“, meinte er grinsend. „Dann ist ja alles klar. Du sagst mir dein Geburtsdatum, und ich sage dir alles, was du wissen mußt. Danach löschst du diese Erinnerung aus meinem Gedächtnis.“ „Dazu bist du bereit?“ fragte ich überrascht. „Sehen wir den Dingen doch offen entgegen“, kicherte er. „Du könntest mich jederzeit beeinflussen und mich zwingen, dir alle gewünschten Informationen zu geben. Da kann ich es doch gleich freiwillig tun.“ 137
Nun lachte ich auch. Dieser alte Bursche schien recht aufgeweckt zu sein. „Ich hole mir nur meine Unterlagen“, sagte er. „Dann kann ich die Berechnungen anstellen.“ Fünf Minuten später schleppte er einen riesigen Koffer in die Bibliothek. Schnaufend hob er ihn auf einen Tisch und öffnete ihn. Neugierig blickte ich in den Koffer. Er war mit Manuskripten, seltsam geformten Geräten und Amuletten angefüllt. „Weshalb bedienst du dich nicht der MayaMagie, wenn du so viel darüber weißt, Jorge?“ „Das ist zu gefährlich. Ich experimentierte ein wenig, aber mir wurde das alles zu undurchschaubar. Ich halte mich lieber an theoretische Aufgaben.“ Er zog ein umfangreiches Manuskript hervor und blinzelte mich an. „Dein Geburtsdatum, Coco.“ Ich sagte es ihm. Er setzte sich nieder und blätterte in seinen Aufzeichnungen. Ich schenkte uns die Gläser voll, reichte ihm seines und er trank gedankenverloren und konzentriert auf sein Manuskript einen Schluck. „Ich habe es“, sagte er und strahlte mich an. „Dein Geburtstag fällt an einen 7 Etz’nab.“ „Hm, das hört sich toll an.“ Ich lachte. „Was bedeutet es?“ „Dieser Tag wird vom Jaguargott und vom Opfergott beherrscht“, erklärte er mir. 138
„Ist das günstig?“ „Sagen wir mal so: es ist nicht ungünstig. Der Jaguargott ist für dich wichtiger. Er gilt als Gott des Erdinneren.“ Er blätterte weiter in seinen Aufzeichnungen. „Im Augenblick befinden wir uns im Monat Yax, das ist der Monat des Planeten Venus“, sprach Jorge weiter. „In drei Tagen haben wir den Tag 4 Ahau. Hm, da wurden früher dem Venus-Gott Menschen geopfert.“ „Ich hatte vergangene Nacht einen immer wiederkehrenden Alptraum“, sagte ich rasch. „Erzähle“, bat Jorge. Ich erzählte ihm alles ganz genau. Jorge blickte mich besorgt an. „Das ist eine eindeutige Warnung“, sagte er. „Du sollst in drei Tagen sterben!“ „So etwas Ähnliches habe ich vermutet“, meinte ich. Er blickte mich forschend an. „Du weißt mehr, als du mir bisher verraten hast, Coco. Willst du mir nicht alles erzählen?“ Ich hatte befürchtet, daß Tepal eine Hypnosesperre errichtet hatte und ich nicht über meine Erlebnisse sprechen konnte. Aber diese Befürchtung war falsch gewesen. Ich konnte Jorge alles ganz genau erzählen. Er hörte mir fasziniert zu. „Das ist einfach phantastisch“, flüsterte er, als ich mit meinem Bericht fertig war. „Glaubst du, daß du mir helfen kannst?“ „Ja, ich kann dir helfen. Dieser Tepal wird einige unangenehme Überraschungen mit dir 139
erleben. Aber es wird nicht einfach für dich werden, Coco. Du wirst einiges mitmachen, denn du darfst dich nicht vorzeitig verraten. Du darfst dein Wissen erst zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt einsetzen, und da kann es fast zu spät sein.“ „Ich bin bereit“, sagte ich fest. „Es wird einige Stunden dauern, bis ich meine Berechnungen abgeschlossen habe“, sagte Jorge. „Ich würde dir raten, einstweilen schlafen zu gehen.“ Der Vorschlag war gut, aber ich wußte nicht, ob ich Jorge tatsächlich trauen durfte. Ich durfte kein Risiko eingehen, deshalb hypnotisierte ich ihn. Ich schob alle Gedanken zurück, konzentrierte mich und war nach wenigen Sekunden eingeschlafen. Um vier Uhr weckte er mich auf. Über eine Stunde lang instruierte er mich. Dann ließ er sich von mir alles wiederholen. Ich hatte mir alles ganz genau gemerkt. „Nun bist du gut für den Kampf mit Tepal gewappnet“, sagte Jorge zufrieden. Ich legte mich nochmals nieder und schlief wieder sofort ein.
Um acht Uhr weckte mich lautes Klopfen. „Herein“, rief ich und sprang aus dem Bett. „Die Tür ist abgeschlossen“, hörte ich Ubaldos Stimme. 140
Ich drehte den Schlüssel im Schloß um und zog die Tür auf. Ubaldo trat ins Zimmer, über dem Arm trug er einige Kleidungsstücke und in der rechten Hand hielt er ein Paar Stiefel. Er blickte mich verwundert an, und erst jetzt wurde mir bewußt, daß ich völlig nackt war. In seine Augen war ein begehrendes Glimmern getreten. „Du bist wunderschön“, sagte er leise und kam auf mich zu. Er ließ die Stiefel einfach fallen und warf die Kleidungsstücke auf einen Stuhl. Er legte seine Hände auf meine Hüften und zog mich an sich. Seine Lippen lagen auf den meinen und seine Hände strichen über meinen nackten Rücken. Nach ein paar Sekunden löste ich mich aus seiner Umarmung und schüttelte lächelnd den Kopf. „Das ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort“, sagte ich und hob abwehrend die Hände, als er wieder nach mir greifen wollte. Er preßte die Lippen zusammen und nickte. Aber er ließ mich nicht aus den Augen, und ich muß sagen, daß ich seine bewundernden Blicke genoß. Aber wie gesagt, es war nicht der richtige Zeitpunkt, und ich war nicht in der richtigen Stimmung, deshalb schlüpfte ich in einen Morgenrock. „Ich habe dir die passende Kleidung für unsere Expedition gebracht“, sagte er und zeigte auf die Kleidungsstücke. 141
Die Bluse und die Hose waren aus einem leichten, aber sehr festen Material gefertigt. Die Stiefel waren hoch und aus weichem Leder. „Hoffentlich paßt es dir“, sagte er. „Die restlichen Ausrüstungsgegenstände können wir uns in Sayaxche besorgen.“ Ich griff nach den Kleidungsstücken und ging ins Badezimmer. Ubaldo wollte mir folgen, aber ich schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Ich grinste, als ich sein mißmutiges Brummen hörte. Die Hose und die Bluse saßen ein wenig knapp, aber ich gefiel mir recht gut in diesem Aufzug. „Wie gefalle ich dir?“ fragte ich, als ich ins Zimmer zurückkam. „Paßt wie angegossen“, sagte er. „Du siehst traumhaft aus.“ „Halte deine Hände im Zaum“, sagte ich scharf, als er wieder handgreiflich werden wollte. „Reib dir deine Beine mit diesem Pulver ein“, sagte er und reichte mir einen Tiegel. „Was ist das?“ fragte ich mißtrauisch. „Schwefelpulver“, sagte er. „Es ist gut gegen die Chiggers.“ „Was sind Chiggers?“ fragte ich. „Nette Milben, die die unangenehme Eigenschaft haben, sich ins Fleisch zu bohren. Von den Bissen dieser niedlichen Geschöpfe bekommt man faustgroße Beulen, die tagelang grauenvoll jucken.“ 142
„Das hört sich ja wenig erfreulich an“, meinte ich und setzte mich und rieb meine Beine mit dem gelben Pulver ein. „Warst du schon mal im Dschungel?“ fragte Ubaldo und steckte sich eine dünne Zigarre an. „Nein, noch nie.“ „Dann kannst du dich auf einiges gefaßt machen“, sagte er breit grinsend. „Warst du schon im Dschungel?“ „Schon oft“, meinte er. „Eine Zeitlang wollte ich der größte Forscher aller Zeiten werden. Jedes Jahr verbrachte ich ein paar Wochen im Dschungel. Das ist nun auch schon lange her. Mich reizt der Regenwald nur mehr sehr wenig.“ „Nun, dann mach mir unseren Ausflug mal so richtig schmackhaft“, sagte ich mißmutig und griff nach den hohen Stiefeln. „Zuerst ist da die große Luftfeuchtigkeit“, erklärte er mir ungerührt. „Innerhalb von wenigen Minuten trieft die Kleidung und das Gesicht beginnt wie ein Geysir zu dampfen. Es ist wie in einer Sauna. Nur bist du in einer Sauna nackt, und im Dschungel kommst du dir vor, als wärst du wie ein Eskimo bekleidet.“ „Das hört sich gar nicht gut an“, sagte ich. „Da wird ja meine Schönheit darunter leiden.“ Er lachte. „Du darfst dich nirgends hinsetzen. Überall Dornen, die so spitz wie Stecknadeln sind. Einige Bäume haben Giftstacheln und Nesseln, die eitrige Ausschläge verursachen 143
können. Spinnen und Zecken sind auch nicht das angenehmste, sie kommen zu Tausenden vor. Und dann…“ „Genug davon“, sagte ich, „sonst lasse ich dich allein nach dem Dämon suchen.“ „Ich wollte dich nur schonend vorbereiten, daß wir es nicht mit einem Ausflug in den Stadtpark zu tun haben.“ „Dafür danke ich dir herzlich“, sagte ich spöttisch und stand auf. Die Stiefel paßten wie angegossen. „Wann fahren wir los?“ „Sobald du willst. Der Hubschrauber ist bereit. Ich harre deiner Befehle.“ „Dann gehen wir frühstücken und genießen noch einmal die Annehmlichkeiten der Zivilisation, bevor wir uns in das Abenteuer Dschungel stürzen.“ In der Halle waren die Familienmitglieder versammelt. Sie rannten wie aufgeschreckte Hühner hin und her. „Was ist denn nun schon wieder los?“ fragte ich. „Ricardo ist verschwunden“, sagte Victor. „Die Polizisten haben mir gesagt, daß er gestern das Haus verlassen hat.“ „Ich habe euch alle gewarnt“, sagte ich scharf, „das Haus keinesfalls zu verlassen.“ „Das ist noch nicht alles“, winselte Victor kläglich wie ein Hündchen und verdrehte die Augen. „Was ist sonst noch geschehen?“ „Vor zehn Minuten wurde der Wagen 144
überfallen, mit dem Javier Perez und Rüben Olmo zum Flughafen unterwegs waren. Sie wurden entführt.“ „Das ist allerdings unangenehm“, meinte ich. „Diese Sippen werden ziemlich böse reagieren.“ „Was sollen wir nur tun?“ „Beruhigt die Sippen“, sagte ich knapp. Ich hatte genug von Victor und seinen Sorgen. Meine Laune hatte sich aber zusehends verschlechtert. Mißmutig schlang ich das Frühstück hinunter. Dann ging ich auf mein Zimmer und steckte einige Amulette und andere magische Gegenstände ein. Victor verfolgte mich wehklagend, als ich wieder die Halle betrat, doch ich verscheuchte ihn. Ubaldo wartete bereits auf mich. „Beim Satan, bin ich froh, daß ich das Haus deiner Ahnen verlassen kann“, sagte ich, als ich in den Wagen stieg. Ubaldo lachte.
Der Helikopter war aufgetankt. Wir konnten sofort losfliegen. Es war ein viersitziger Fairchild Hiller FH 1100, wie mir Ubaldo erklärte. Aber für mich sah ein Hubschrauber wie der andere aus. Ich schnallte mich an, und der Rotor begann 145
sich zu drehen. Langsam erhob sich der Hubschrauber in die Luft. Ubaldo zog einen Kreis um den Flughafen, dann stieg er höher und beschleunigte stärker. Das Motorengeräusch war so laut, daß wir uns schreiend unterhalten mußten. „Wir werden in etwa einer Stunde in Sayaxche sein“, brüllte Ubaldo. Wir flogen über das kiefernbewachsene Hochland Guatemalas, und mir begann der Flug richtig Spaß zu machen. Dann lag das Dschungelgebiet El Peten unter uns. Der Dschungel sah tatsächlich wie ein unendlicher grüner Teppich aus. Nur gelegentlich war ein silbern blitzender Fluß zu sehen. Vom Motorengeräusch aufgeschreckt stiegen unzählige Reiher auf. „Ich bin neugierig, wie dir Sayaxche gefallen wird“, sagte Ubaldo laut und blickte mich an. Ich hatte keinerlei Vorstellungen, wie dieser Ort aussah, und das war auch gut so, denn hätte ich gewußt, was uns dort erwarten würde, hätte ich vermutlich auf die Suche nach dem Dämon verzichtet. „Unter uns ist der Rio de la Pasion“, erklärte mir Ubaldo. „In wenigen Minuten haben wir Sayaxche erreicht.“ Einige Boote waren zu sehen. Die Leute winkten uns freundlich zu. Und dann lag Sayaxche unter uns. Und ich konnte nicht behaupten, daß mir das gefiel, was ich da zu sehen bekam. 146
Eine armseligere Anhäufung von windschiefen Häusern hatte ich nie zuvor gesehen. Ubaldo ging außerhalb der Stadt nieder. Ein paar Indios liefen auf uns zu, als sich der Rotor nur noch langsam drehte. Ubaldo schrie ihnen etwas in einem Indianerdialekt zu, und zwei kräftig gebaute Burschen ergriffen unser Gepäck. Nach ein paar Minuten hatten wir die ersten Häuser erreicht. Und ich war schon in Schweiß gebadet. Meine Bluse lag wie eine zweite Haut an meinem Körper, und ich japste nach Luft. „Hier ist es noch harmlos“, sagte Ubaldo, „warte, bis wir den Dschungel betreten.“ Ich war froh, daß ich kein Make-up verwendet hatte, Wimperntusche und Lippenstift waren hier nicht geeignet. Keuchend wie eine Dampflokomotive ging ich weiter. „In einer Stunde hast du dich an die hohe Luftfeuchtigkeit gewöhnt“, beruhigte mich Ubaldo. Die Häuser waren alle aus Holz, die wenigsten hatten Fenster. Bei jedem Schritt stieg Staub hoch. „Was wohnen da für Leute?“ fragte ich. „Früher fand man hier nur Chiclegummisammler und Holzfäller. Jetzt sieht es ein wenig anders aus. Ganz in der Nähe wurden große Gebiete gerodet. Hier wird Getreide angebaut, und auch Vieh gezüchtet. Außerdem werden Probebohrungen nach Öl 147
durchgeführt. Und Sayaxche ist der einzige größere Ort in der Gegend. Zum Wochenende geht es hier wild zu.“ Überall waren verhungert aussehende Hunde zu sehen, die nach Abfällen suchten. Und natürlich rannten auch Dutzende nackter Kinder herum, die uns anbettelten. „Gib ihnen nichts“, sagte Ubaldo, „sonst werden wir sie niemals mehr los.“ Wir gingen nun den Fluß entlang. „Siehst du das zweistöckige Gebäude vor uns, Coco?“ Ich sah es und nickte. „Das ist unser Hotel.“ Er grinste. „Das Sayaxche Excelsior. Das einzige Hotel im Ort.“ „Sieht ja reichlich verdreckt aus“, sagte ich. „Es sieht nicht nur so aus“, sagte Ubaldo fröhlich, „es ist auch so.“ Unwillkürlich mußte ich lachen. Ein zahnloser Portier, der mit einem verdreckten Unterhemdchen bekleidet war, begrüßte uns herzlich. Er schien Ubaldo zu kennen. „Unser Zimmer liegt im ersten Stockwerk“, sagte Ubaldo. „Was heißt hier unser Zimmer?“ fragte ich mißtrauisch. Ubaldo lächelte entschuldigend. „Ich habe nur noch ein Doppelbettzimmer bekommen.“ Ich war sicher, daß dies nicht zutraf, aber es störte mich nicht. Das Zimmer war noch mieser, als ich befürchtet hatte. Ein winziges Fenster führte zum Fluß. Die 148
Scheiben waren so schmutzig, daß man nicht hindurchsehen konnte. Das Bett mußte aus der Zeit stammen, als Kolumbus Amerika entdeckt hatte. Als ich den Schrank öffnete, flog mir die Tür entgegen. „Hierher möchte ich gern meine Hochzeitsreise machen“, brummte ich. „Das ist alles so romantisch und anheimelnd.“ „Ich habe dich gewarnt, Coco.“ Ich setzte mich auf das Bett und erwartete, daß es zusammenbrechen würde, was es aber nicht tat. Dann steckte ich mir eine Zigarette an, die feucht war. Nach zwei Zügen drückte ich sie angewidert aus. „Ich gehe jetzt ein Boot besorgen“, sagte Ubaldo. „Verlaß das Zimmer nicht.“ „Und weshalb, wenn ich fragen darf?“ „Ich fürchte, daß du einige unliebsame Überraschungen erleben würdest, wenn du auf die Straße gehst.“ „Kannst du mir das etwas näher erklären?“ „In der Stadt gibt es etwa zwanzig Prostituierte, die alle alt und häßlich wie Perchten sind. Ich bin sicher, daß du innerhalb von fünf Minuten von ein paar Männern umringt bist, die dich in ein Haus zerren und…“ „Ich verstehe“, sagte ich. Ubaldo öffnete einen Koffer und holte eine Pistole hervor. „Kannst du damit umgehen?“ „Ja“, sagte ich. 149
„Dann steck sie ein. Ich bin bald wieder zurück.“ Ich schob die Pistole in den Gürtel und riß das Fenster auf. Tausende von Mücken und anderen niedlichen Insekten flogen ins Zimmer. Ich versuchte die Biester zu ignorieren, was mir aber nicht gelang. An den Wänden des Zimmers hingen ziemlich obszöne Bilder. Einige waren eindeutig pornographisch. In die Tischplatte und den Schrank waren ordinäre Sprüche eingekratzt. Ich sperrte die Zimmertür ab und schlüpfte aus den Kleidern. Badezimmer gab es natürlich keines. Auf einem kleinen Tischchen stand eine zerbeulte Waschschüssel und daneben ein alter Keramikkrug, der keinen Henkel hatte, aber mit Wasser gefüllt war. Ich wusch mich zweimal ganz ab, doch es half nichts. Nach wenigen Minuten schwitzte ich wieder. Zwei Stunden später wurde an der Tür geklopft. „Ich bin es, Ubaldo.“ Ich war nur mit einem Höschen bekleidet, hatte aber keinerlei Lust, mich anzuziehen. Aber damit Ubaldo nicht gleich wieder seine Gedanken in eine bestimmte Richtung lenkte, schlüpfte ich in die Bluse. „Ich habe ein Boot gemietet“, sagte er. Wir vermuteten, daß die Maya-Stadt in der Nähe des Flusses lag. Aber ich hatte keinerlei 150
Ahnung, in welcher Richtung. Außerdem konnten die Schlüsse, die ich gezogen hatte, völlig falsch sein. „Vielleicht sollten wir doch lieber mit dem Hubschrauber den Dschungel absuchen?“ „Davon verspreche ich mir nicht viel“, meinte Ubaldo. „Der Dämon hat sein Versteck sicherlich gut getarnt. Von der Luft aus werden wir es wohl kaum entdecken.“ „Nun gut“, sagte ich, „dann fahren wir den Fluß abwärts in Richtung Altar de los Sacrificios. Wir werden uns bei der Hinfahrt auf das rechte Ufer konzentrieren und bei der Rückfahrt auf das andere.“ Ich schlüpfte in meine Kleider. Ubaldo sperrte das Zimmer ab. In der Halle standen ein halbes Dutzend Männer herum. Keinem davon wäre ich gern allein begegnet. Sie umringten eine Musikbox. Einer der Männer erblickte mich. Er riß die Augen und den Mund auf und glotzte mich an, als wäre ich eines der Weltwunder. Dann schrie er etwas, und die anderen stierten mich an. Ricardos Blicke waren schon unangenehm gewesen, aber die Blicke dieser Männer waren einfach schauerlich. Sie brüllen durcheinander, und ich war froh, daß ich nicht verstand, was sie sagten. Aber denken konnte ich es mir. Ubaldo schrie sie an, und sie schrien zurück. Zwei kamen auf uns zu, und Ubaldo zog seine Pistole. Sein Gesicht drückte eine 151
Entschlossenheit aus, die ich nicht erwartet hatte. Seine Stimme war scharf wie ein Schwert. Die Männer zogen sich zurück. „Gehen wir“, sagte er. Der Bootsbesitzer hieß Manuel. Bei meinem Anblick drehte er auch ein wenig durch. Er rollte mit den Augen, und seine strahlend weißen Zähne blitzten mich an. Das Boot war ein motorbetriebener Einbaum. Wir stiegen ein, und Manuel startete den Außenbordmotor. Dann legten wir ab. Nach ein paar Minuten begann eine sanfte Brise zu wehen, und mir wurde etwas kühler. Manuel hielt sich dicht am Ufer. Der träge dahinfließende Fluß wurde breiter. Gelegentlich war ein strohgedecktes Haus zu sehen. Ich konzentrierte mich, doch ich spürte keine magische Ausstrahlung. Nach zwei Stunden legten wir am Ufer an. Ubaldo hatte ein paar Konserven mitgenommen, die wir nun aßen. Dann fuhren wir zurück. Ubaldo zeigte mir ein paar Sumpfschildkröten und Seidenreiher, und einmal sahen wir auch einen Grünen Leguan, ein wahrhaft abstoßend häßliches Tier. Aber unsere Suche nach Tepal war vergebens gewesen. Nirgends hatte ich eine magische Ausstrahlung wahrgenommen. Wir nahmen in einer Ecke der Hotelveranda Platz, tranken ron y Coca mit viel Eis und 152
sahen den vorbeigleitenden Booten und herumstreunenden Hunden zu. Ich war zu faul für eine Unterhaltung, und Ubaldo schien es auch nicht anders zu gehen. Mit der Abenddämmerung kam eine kühle Brise auf, die mich angenehm erfrischte. Als es dunkel geworden war, stellte der zahnlose Portier eine Windlampe auf unseren Tisch und unterhielt sich mit Ubaldo. Die letzten Sonnenstrahlen fielen auf das gegenüberliegende Ufer, und für ein paar Minuten waren die Bäume in ein glutrotes Licht getaucht, das sich im Wasser des Flusses spiegelte. „Morgen übernachten wir im Dschungel“, sagte Ubaldo. „Wir fahren so weit wir kommen.“ Die Vorstellung, im Dschungel zu übernachten, war alles andere als reizvoll, aber es gab wohl keine andere Möglichkeit. Immer wieder betraten Männer die Hotelveranda und starrten zu uns herüber, aber ich beachtete sie nicht. Zum Abendessen gab es fade schmeckende Tortillas, die ich mit zwei Flaschen Bier hinunterspülte. Wir blieben noch nach dem Essen eine halbe Stunde sitzen. Aus dem Hotel erklang laute Musik, Gelächter und Geschrei. Der Weg durch die Halle glich einem Spießrutenlaufen. Einige der Männer versuchten mich zu betasten, doch ich hielt sie mir geschickt vom Leib. 153
Erleichtert ließ ich mich aufs Bett fallen. Licht gab es keines im Zimmer. Nur der tief stehende Mond tauchte den Raum in einen geheimnisvollen Schimmer. Doch nach ein paar Minuten hatte ich mich an das düstere Licht gewöhnt. Während Ubaldo frisches Wasser holte, schlüpfte ich aus meinen Kleidern. Ich wußte, was geschehen würde, sobald wir zu Bett gegangen waren, aber ich hatte nichts dagegen. Ganz im Gegenteil, ich freute mich sogar darauf. Ich wusch mich gründlich ab, dann schlüpfte ich in das altersschwache Bett und rauchte eine Zigarette. Als ich die Zigarette ausgedrückt hatte, legte sich Ubaldo aufs Bett, und ich drehte mich auf die Seite. Er streckte die rechte Hand aus und strich sanft über mein Haar, das Gesicht und meine Schultern. Ich seufzte leise auf, als er mich an sich zog und ich seinen kräftigen Körper spürte. Seine Lippen waren überraschend kühl und fest, und seine Hände weckten die lange zurückgehaltenen Begierden. Als sich unsere Körper vereinten, klammerte ich mich keuchend an ihm fest und paßte mich seinen Bewegungen an…
Wir waren im Morgengrauen aufgestanden, 154
und eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang fuhren wir los. Ich konnte nicht behaupten, daß ich lange geschlafen hatte. Wohlige Schauer rannen mir über den Rücken, sobald ich an die Nacht zurückdachte. Ubaldo saß vor mir. Gelegentlich wandte er den Kopf und lächelte mich liebevoll an. Ich vermied es, ihn anzusehen, denn seine Nähe lenkte mich ab. So wie gestern konzentrierte ich mich auf das Ufer. Aber diesmal nahm ich mir gleichzeitig beide Ufer vor. Die ersten paar Stunden war es angenehm warm, doch um die Mittagszeit wurde es drückend heiß. Wir legten am Ufer an und kauerten uns im Schatten eines Baumes nieder. Wir aßen eine Kleinigkeit, dann dösten wir nebeneinander auf einer Decke. Eine Stunde später waren wir wieder unterwegs. Die Schäfchenwolken und die mit Kletterpflanzen bewachsenen Bäume spiegelten sich auf der ruhigen Oberfläche des Flusses. Alles sah so friedlich und ruhig aus. Doch ich wußte, daß sich irgendwo im Dschungel Tepal versteckte. Sehr selten war eine der strohgedeckten Hütten zu sehen, und nur wenige Boote kamen uns entgegen. Immer wieder schloß ich die Augen und hoffte, eine magische Ausstrahlung zu spüren. 155
„In zwei Stunden ist es dunkel“, sagte Ubaldo. „Wir fahren noch eine halbe Stunde weiter, dann suchen wir uns einen geeigneten Platz für unser Lager.“ Zehn Minuten später glaubte ich eine schwache Ausstrahlung zu spüren, die vom rechten Ufer kam. „Sag Manuel, er soll näher ans rechte Ufer fahren“, sagte ich. Ubaldo rief dem Mischling etwas zu, und gehorsam steuerte er das rechte Ufer an. Ich hatte mich nicht getäuscht. Da war tatsächlich eine magische Ausstrahlung, die immer stärker wurde, je näher wir dem Ufer kamen. „Da ist etwas“, sagte ich aufgeregt. Ubaldo starrte das Ufer an, doch er spürte nichts. Manuel fuhr nun dicht am Ufer den Fluß aufwärts, und die Ausstrahlung wurde immer stärker, um dann wieder schwächer zu werden. „Manuel soll umkehren“, sagte ich. Und wieder gehorchte Manuel. Als die Ausstrahlung am stärksten zu spüren war, legten wir am Ufer an und stiegen aus. Manuel ging voraus. Mit seiner scharfen Machete schlug er uns einen Weg durch das Dickicht. „Sieh mal, Ubaldo“, sagte ich und blieb stehen. Rechts standen zwei der typischen MayaStelen. Sie waren etwa drei Meter hoch und 156
ziemlich verwittert. Doch deutlich waren noch die seltsamen Zeichen der Maya-Schrift zu erkennen. „Wir sind auf dem richtigen Weg“, meinte Ubaldo. Nach ein paar Minuten hatten wir einen kleinen Hügel erreicht. Ermattet blieb ich stehen. Ubaldo und Manuel unterhielten sich. Der Mischling nickte eifrig, dann ging er zum Boot zurück. „Wir werden hier unser Nachtlager aufschlagen“, sagte Ubaldo. Manuel und Ubaldo stellten das große Tropenzelt auf. Angeblich sollte es Schutz vor allen lästigen Insekten und ähnlichen Tierchen bieten. Es besaß einen Innenraum, der aus Moskitonetzen bestand, die Tür war regenundurchlässig, und ein spezielles Netz sollte die Spinnen abhalten. Die beiden brauchten fast eine halbe Stunde, bis das dunkelblaue Zelt endlich stand. Danach baute Manuel sein Zelt auf, das innerhalb von wenigen Minuten stand. Es war ziemlich klein, aber daran schien er gewöhnt zu sein. Manuel entfachte ein Feuer und wärmte einige Konserven, während Ubaldo und ich vor dem großen Zelt saßen und den Geräuschen des Dschungels lauschten. Nach dem Essen krochen wir in das Zelt. Mücken umschwirrten summend das Zelt, doch die Netze waren tatsächlich gut und 157
hielten die kleinen Biester zurück. Wir liebten uns, als würde es kein Morgen geben… Ich lauschte dann später den regelmäßigen Atemzügen Ubaldos und den seltsamen Geräuschen, die rings um uns waren. Irgendwo kreischten Vögel, und ich hörte den Schrei einer Eule. Ich hatte nicht gewagt, Ubaldo mein Wissen weiterzugeben. Sollten wir von Tepal gefangen genommen werden, dann war es besser, wenn Ubaldo wenig wußte. Keinesfalls durfte ich ihn in meinen Plan einweihen. Lange lag ich noch wach. Ich überdachte alle Möglichkeiten, die uns morgen erwarten konnten. Zum Frühstück gab es Tortillas und Kaffee. Manuel war sichtlich gut aufgelegt, denn er pfiff vergnügt vor sich hin. Der Mischling sollte bei den Zelten bleiben. Wir wollten allein in den Dschungel gehen. Ubaldo und ich schnallten uns Wasserflaschen an die Gürtel, und ich bekam eine Machete. Dann verabschiedeten wir uns von Manuel und gingen los. Wir hatten uns mit Insektenschutzmittel eingeschmiert, die aber auch nicht viel nützten. Anfangs kamen wir rasch vorwärts, doch dann wurde der Dschungel immer dichter. Ubaldo schlug mit der Machete Palmwedel und Lianen ab. 158
Das Wasser rann in Strömen über mein Gesicht, und mein aufgestecktes Haar war klitschnaß. Hose und Bluse waren schon nach wenigen Schritten durchgeschwitzt gewesen. Die hohe Luftfeuchtigkeit, die mit jedem Schritt stärker wurde, machte mir ziemlich zu schaffen. Die magische Ausstrahlung war deutlich zu spüren. Sie wurde langsam stärker. Mein Unbehagen wuchs, je weiter wir in den Dschungel eindrangen. Es wurde immer düsterer. Die hohen Baumwipfel hielten das Sonnenlicht ab. Der Boden war oft fast zwanzig Zentimeter hoch mit faulenden Blättern bedeckt. Von den Bäumen und Blättern und Lianen tropfte das Wasser. Auf den Bäumen wuchsen traumhaft schöne Blumen, deren Namen ich nicht kannte. Und in der Luft hing ein faszinierender Duft, der sich alle paar Meter änderte. Außer Vögeln, Faltern und Mücken bekamen wir keine Tiere zu Gesicht. Nach etwa einer halben Stunde konnten wir wieder rascher gehen, jetzt standen die Bäume nicht mehr so dicht beisammen. „Gehen wir in die richtige Richtung?“ fragte Ubaldo. „Genau richtig“, sagte ich. „Die Ausstrahlung ist jetzt viel stärker geworden.“ Nach ein paar Minuten blieb Ubaldo stehen. „Da brennt ein Feuer ganz in der Nähe“, sagte er. 159
Nun merkte ich auch den beißenden Geruch. Vorsichtig gingen wir weiter. „Bleib stehen“, sagte Ubaldo leise. Ich gehorchte und trat neben ihn. Deutlich war vor uns ein Brandrodungsfeld zu sehen. Einige Baumstrünke glosten noch. Rauchschwaden zogen zum Dschungel hin. „Da gibt es ganz sicher ein Indianerdorf in der Nähe“, flüsterte Ubaldo. „Wir müssen vorsichtig sein.“ Langsam gingen wir um das Brandrodungsfeld herum, hielten uns aber immer im Schutz einiger Bäume. Dann erblickten wir fünf strohgedeckte Hütten und sahen ein paar Maya-Frauen und Kinder. Ich wußte, daß sich rings um die eigentliche Stadt der Maya kleine Dörfer und Bauernhäuser befanden. Dazwischen lagen die Felder. In den Dörfern spielte sich das eigentliche Leben ab, denn die Stadt wurde nur zu Zeremonien besucht oder wenn der Markt stattfand. Und so war es sicherlich auch hier. Wir schritten an den Häusern und Feldern vorbei, auf denen wir einige Indios erblickten. Und dann sahen wir die vier großen Pyramiden von Itzal. Beeindruckt blieben wir stehen. „Das ist doch nicht möglich“, sagte Ubaldo überrascht. „Die Pyramiden scheinen ja neu erbaut zu sein!“ „Ich nehme an, daß der unbekannte Dämon 160
diese verlassene Stadt entdeckt hat“, sagte ich, „und nach und nach die Indianer hergeholt und im Lauf einiger Jahre die Stadt völlig renoviert hat.“ „So könnte es sein“, sagte Ubaldo geistesabwesend. „Aber ich verstehe nicht, daß man das nicht alles von der Luft aus sehen kann.“ „Der Dämon verfügt über eine starke Magie“, meinte ich. „Was sollen wir jetzt tun?“ fragte Ubaldo. „Wir kommen doch niemals an den Dämon heran. Er hält sich sicherlich irgendwo in der Stadt versteckt.“ „Wir werden ihn suchen“, sagte ich. „Wir suchen uns jetzt ein Versteck, wo wir den Tag verbringen werden, und sobald es dunkel ist, gehen wir in die Stadt.“ „Das scheint mir doch sehr gewagt zu sein“, sagte Ubaldo. „Es dürfte schon sehr schwierig sein, sich unbemerkt der Stadt zu nähern. Siehst du das Dorf vor uns?“ „Ja, ich sehe es. Rechts neben dem Dorf steht eine Gruppe von Dornbäumen, und dort verläuft ein schmaler Pfad, der zur Stadt führt. Diesen Pfad müssen wir erreichen.“ Ubaldo zögerte noch immer, doch als ich entschlossen losging, folgte er mir. Geduckt schlichen wir am Dorf vorbei, dann hatten wir den Pfad erreicht. Der Blick, der sich von dieser Stelle aus bot, war atemberaubend. Ein paar Minuten lang starrte ich die Tempelanlagen von Itzal an, die 161
wie aus weißem Marmor gefertigt schienen. Rund um den großen Hof waren die Gebäude errichtet. Im Osten und Westen war der Hof von zwei Riesenpyramiden begrenzt, auf denen Tempel zu sehen waren. An der Nordseite lag eine erhöhte Plattform, auf der vier kleine Tempel standen, dahinter erhoben sich die beiden anderen Stufenpyramiden. Die Wände waren mit Bildern und bizarr geformten Göttergesichtern bedeckt. Und rings um diese riesigen Plattformen und Pyramiden lagen kleinere Tempel und Paläste. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Die Stadt schien verlassen zu sein. „Gehen wir weiter“, sagte ich. Der Pfad verlief in sanften Windungen auf die Stadt zu. Immer wieder versteckten wir uns hinter einigen Bäumen, um dann weiterzulaufen. Die magische Ausstrahlung war nun schon fast überwältigend. Sogar Ubaldo bemerkte sie nun. Ich wagte es nicht, die Stadt zu betreten. Nach kurzem Suchen fanden wir ein geeignetes Versteck. Es war eine halbverfallene Hütte, in die wir uns zurückzogen. Von hier aus hatten wir einen guten Überblick über die Stadt. Mein Unbehagen wuchs von Minute zu Minute. Ich fühlte mich beobachtet. Es war, als würden mich unsichtbare Augen verfolgen. Ich befürchtete, daß uns Tepal bereits entdeckt hatte, sagte aber nichts von meinem 162
Verdacht zu Ubaldo. „Laß uns lieber umkehren, Coco“, sagte Ubaldo eine Stunde später. „Wir können sicherlich nichts gegen den Dämon ausrichten. Wir sollten Hilfe holen.“ „Wer soll uns denn helfen?“ fragte ich. Er zuckte die Schultern. Ich trank einen Schluck Wasser und rauchte eine Zigarette. Alle paar Minuten blickte ich zur Stadt hinüber, die noch immer völlig verlassen wirkte. Kein Mensch ließ sich blicken. Die Zeit schien stillzustehen. Es kam mir endlos lange vor, bis es endlich dämmerte. „Sobald es dunkel geworden ist, gehe ich los“, sagte ich. „Du wartest hier auf mich.“ „Nein, ich komme mit dir mit“, sagte Ubaldo. „So nimm doch Vernunft an, Ubaldo“, sagte ich scharf, „du kannst mir nicht helfen. Ich komme schon zurecht.“ „Ich laß dich nicht allein in die Stadt gehen“, sagte er stur. Ein sanftes Raunen lag nun in der Luft. So als würde der Wind durch Millionen von Blättern streichen. Das Raunen wurde lauter, dann waren flüsternde Stimmen zu hören, die immer näher kamen. Ich blickte aus dem Fenster. Der Himmel war mit düsteren Wolken bedeckt. Nur undeutlich konnte ich die Umrisse der Tempelanlagen erkennen. Blaue Elmsfeuer schossen nun über den großen Platz und verschwanden in den 163
Tempel. „Das ist alles ziemlich unheimlich“, flüsterte Ubaldo. „Ich gehe jetzt los“, sagte ich leise. „Und du bleibst hier. Verstanden?“ „Ich will…“ „Du bleibst hier“, sagte ich nochmals und trat aus der verfallenen Hütte. Ein heftiger Wind war aufgekommen. Schwere Regentropfen fielen zu Boden. Ich versetzte mich in die andere Zeitdimension und raste los. Rasch überquerte ich den großen Platz und drückte mich an eine Wand. Dann glitt ich zurück in die normale Zeitebene. Tepal mußte sich ganz in der Nähe befinden. Seine Ausstrahlung war überdeutlich zu spüren. Vorsichtig schlich ich weiter. Der Regen wurde stärker. Nach ein paar Schritten blieb ich stehen. Ich konnte nichts mehr sehen, die Dunkelheit und der Regen waren undurchdringlich. Tepal mußte mich schon längst entdeckt haben. Ich wunderte mich, daß er mich nicht gefangen nahm. Denn auf dieser Gefangennahme basierte mein Plan, den ich zusammen mit Jorge Najera ausgearbeitet hatte. Zögernd schlich ich weiter. Ich hielt mich dicht an die Mauer und blieb immer wieder nach ein paar Schritten stehen. Nur das prasselnde Geräusch des Regens war zu 164
hören. Nach etwa fünfzig Schritten hatte ich ein Tempeltor erreicht. Ich drückte dagegen, und die Torflügel schwangen langsam auf. Im Inneren des Tempels war es stockfinster. Ich trat ein und versuchte die Dunkelheit zu durchdringen. Aus der rechten Brusttasche holte ich die dünne Taschenlampe und knipste sie an. Der Strahl der Lampe verlor sich in der Tiefe des Raumes, der riesengroß sein mußte. Ich leuchtete auf den Boden. Überall waren die für mich unverständlichen Maya-Schriftzeichen zu sehen. Mir war kalt. Meine nasse Kleidung klebte unangenehm am Körper. Ich kam an einigen seltsam geformten Stelen vorbei, die ich interessiert ansah. Die Ausstrahlung war noch stärker geworden. Sie war eindeutig magisch, aber ganz anders, als sie Mitglieder der Schwarzen Familie ausstrahlten. Der Hohepriester mußte sich in meiner unmittelbaren Nähe befinden. Ein warmer Lufthauch traf mich, und dann zupften unsichtbare Finger an mir herum. Sie zerrten an meinem Haar und zwickten mich in die Schenkel. Ich wich einen Schritt zurück, doch die unsichtbaren Hände verfolgten mich. Einige ergriffen nun meine Arme und zerrten mich tiefer in den Tempel hinein. Ich hätte den Händen leicht entfliehen 165
können, in dem ich mich in die andere Zeitdimension versetzte, doch das wollte ich nicht. Tepal sollte mich gefangen nehmen. Nun schlug ich wild um mich und stöhnte und keuchte, so als hätte ich entsetzliche Angst. Ich ließ die Taschenlampe fallen und hörte, wie das Glas zerbrach. Weit vor mir war nun ein matter Lichtschimmer zu sehen, der rasch näherkam und größer wurde. Ein hochgewachsener Mann kam auf mich zu. Er war mit einem Jaguarumhang bekleidet, der mit Quetzal-Federn verziert war. Über dem Kopf hatte er eine grausam anzusehende Vogelmaske gestülpt. In der rechten Hand trug er einen gekrümmten Stab, der mit einem Schlangenkopf verziert war. Der Maskierte war Tepal, da gab es für mich keinen Zweifel. Von ihm ging eine unwahrscheinliche Kraft aus, gegen die ich gar nicht ankämpfte. Nach wenigen Sekunden hüllte mich diese Kraft so stark ein, daß ich mich nicht mehr bewegen konnte. Etwa fünf Schritte vor mir blieb der Hohepriester stehen. „Ich wußte, daß wir uns bald sehen würden, Coco Zamis“, sagte er mit tiefer Stimme. Sein Spanisch war perfekt. „Wer bist du?“ fragte ich mit zitternder Stimme. „Tepal“, sagte der Hohepriester und nahm die Maske ab. 166
Ich versuchte, möglichst entsetzt und furchtsam zu blicken, was mir nicht schwerfiel. Er verzog die fleischigen Lippen verächtlich. Seine dunklen Augen schienen zu glühen. Er versuchte mich zu hypnotisieren. Ich setzte einen Teil meiner Abwehrkräfte ein. Jetzt wurde es schwierig. Ich mußte ihn zu täuschen versuchen, denn er sollte glauben, daß es ihm gelungen war, mich in seinen Bann zu bringen. Der Kampf wogte hin und her. Ich sah, daß sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten. Schließlich gab ich nach. Ich spürte einen Augenblick seine Gedanken, dann wurden meine Augen starr. Die Gedanken zogen sich zurück. Ein triumphierendes Lächeln spielte um die Lippen des Maya-Hohepriesters. „Morgen wirst du sterben, Coco Zamis. Ich werde dir das Herz aus dem Leib reißen und es Chac opfern. Aber vorerst will ich einige Informationen von dir.“ Er bewegte leicht die Hände, und die Kraft, die von ihm ausging, ließ meinen Körper schwerelos werden. Ich schwebte nun einen halben Meter über dem Boden. Er wandte mir den Rücken zu und ging gemächlich vorwärts, dabei bewegte er ständig die rechte Hand. Ich schwebte hinter ihm her. Es war ein seltsames Gefühl so schwerelos zu sein. Tepal stieg Stufen hinunter, und ich schwebte weiterhin hinter ihm her. 167
Wir erreichten nun einen ungewöhnlichen Raum, wie ich nie zuvor einen gesehen hatte. Er war groß und überwölbt. Überall waren Stalaktiten und Stalagmiten, zu sehen, die das jahrhundertlang von der Decke tropfende Wasser gebildet hatte. An den Wänden befanden sich Stuckreliefs, die die Götter der Unterwelt darstellten. An einer Wand hing eine riesige Maske, die aus Hunderten von Jadestücken bestand. Der Hohepriester nahm auf einem kunstvoll verzierten thronähnlichen Stuhl Platz und starrte mich ein paar Minuten gedankenverloren an. „Ich habe Itzal neu errichtet“, sagte er schließlich. „Es ist schöner, als es je gewesen ist. Aber das ist nur ein Beginn. Ich habe Großes vor. Ich werde über die Welt herrschen. Die Weißen und Ladinos werden unsere Sklaven sein und für uns arbeiten. Ich werde das Maya-Reich neu erstehen lassen und die Welt erobern. Niemand kann sich mir entgegensetzen, denn ich bin der letzte, der die geheimen Kräfte meines Volkes kennt. Und dieses Wissen werde ich anwenden.“ Der Bursche war übergeschnappt. Ich konnte nur hoffen, daß es mir tatsächlich gelingen würde, ihn unschädlich zu machen. Er war eine Gefahr für die ganze Menschheit. „Die Menschen sind schwach“, sprach er weiter. „Die magischen Kräfte sind nicht mehr vorhanden, die einst uns so mächtig gemacht hatten. Nur innerhalb der Schwarzen Familie 168
soll es magisch begabte Dämonen geben. Ich will mehr über diese Familie und ihre Mitglieder wissen. Du wirst mir darüber alles erzählen. Seit wann gibt es die Schwarze Familie?“ „Darauf kann ich dir keine Antwort geben“, sagte ich, „denn das weiß niemand mehr. Aber sie ist schon sehr alt. In Ägypten gab es schon vor vielen tausend Jahren Dämonen, die sich zusammenschlossen und die man als die Vorläufer der Schwarzen Familie bezeichnen kann.“ „Wie viele Dämonen gibt es?“ „Tausende“, antwortete ich. „Tausende? Das ist doch nicht möglich.“ „Es ist aber so. Sie sind über die ganze Welt verstreut. Die meisten treten in Gestalt von Menschen auf und verbergen so ihr wahres Gesicht.“ „Sind sie stärker und mächtiger, als es du und die Mitglieder der Najera-Sippe sind?“ „Die Najeras sind ganz schwache Dämonen“, sagte ich und unterdrückte ein Grinsen. „Unsere Sippe ist auch nicht besonders stark, aber es gibt andere Familien, die über außerordentliche Fähigkeiten verfügen.“ „So wie dieser Asmodi?“ „Er ist der Herr der Finsternis, das Oberhaupt der Schwarzen Familie. Er ist einer der größten Magier. Seiner Kraft kann sich niemand widersetzen.“ „Auch ich nicht?“ „Das kann ich nicht beurteilen, da ich deine 169
Fähigkeiten zu wenig kenne.“ „Gib mir einige Beispiele von Asmodis Fähigkeiten.“ „Er kann jede beliebige Gestalt annehmen“, sagte ich, obzwar ich nicht sicher war, daß diese Behauptung auch tatsächlich zutraf. „Er kann von einer Sekunde zur anderen an jedem beliebigen Punkt der Erde sein. Mit einer Handbewegung kann er Tausende von Menschen töten.“ Das beeindruckte ihn offensichtlich. Damit hatte er sicher nicht gerechnet. „Gibt es auch andere Dämonen, die über diese Fähigkeiten verfügen?“ „Ja, es gibt noch viele andere, die fast so mächtig wie er sind.“ „Ich unterhalte mich später mit dir“, sagte er und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich schwebte langsam zu Boden und fiel sanft der Länge nach hin. Die unsichtbaren Hände hielten mich aber noch immer umklammert. Ich dachte an Ubaldo, und die Angst um ihn wuchs.
Ubaldo wartete eine halbe Stunde, dann verließ er die Hütte. Der Wind peitschte ihm den Regen ins Gesicht. Weit vor sich erblickte er schemenhaft Coco; dann war sie plötzlich verschwunden. 170
„Das ist doch nicht möglich“, flüsterte Ubaldo. „Sie hat sich in Luft aufgelöst.“ Er lief los, doch er konnte sie nicht mehr sehen. Aus dem Regen tauchten plötzlich drei Gestalten auf, die auf ihn zukamen. Ubaldo zog seine Pistole und duckte sich. Irgend etwas schlug kraftvoll gegen sein Handgelenk, und die Pistole fiel zu Boden. Bevor er sich noch bücken konnte, um sie aufzuheben, erhielt er von einer unsichtbaren Hand einen heftigen Stoß gegen die Brust, der ihn taumeln ließ. Dann konnte er sich nicht mehr bewegen. Er war von den Schultern abwärts gelähmt. Zwei der Gestalten – es waren muskulöse Maya-Krieger, die nur mit Hüfttüchern bekleidet waren – ergriffen ihn und hoben ihn hoch. Schweigend trugen sie ihn zu einem niedrigen Gebäude und warfen ihn einfach zu Boden. Ubaldo konnte den Kopf bewegen. Er befand sich in einem kleinen fensterlosen Raum, dessen Wände unbehauen waren. Von der Decke tropften große Wassertropfen auf ihn herunter. Außer ihm waren noch zwei Männer im Raum, die ihn aus großen Augen ansahen. Es waren Rüben Olmo und Jarvier Perez. „Kannst du sprechen, Ubaldo?“ fragte Rüben Olmo, der kleine Vampir-Dämon. „Ja, ich kann sprechen“, antwortete Ubaldo. „Aber mein Körper ist gelähmt.“ 171
„Da geht es dir wie uns“, meinte Jarvier Perez. „Wir wurden auf der Fahrt zum Flughafen angehalten, aus dem Wagen gezerrt und hypnotisiert. Als wir erwachten, fanden wir uns hier im Raum wieder. Der QuetzalMaya, ein finsterer Bursche, der eigentlich Tepal heißt, und sein Schüler, der sich Calli nennt, haben uns stundenlang über die Schwarze Familie ausgefragt.“ „Und die beiden wußten, daß du und Coco auf den Weg hierher seid.“ „Dann ist Coco sicherlich auch gefangen genommen worden“, sagte Ubaldo mit dumpfer Stimme. „Das ist anzunehmen“, sagte Rüben Olmo. „Wir alle sollen morgen bei einer Zeremonie bei Sonnenaufgang geopfert werden.“ „Das sind ja wenig erfreuliche Aussichten“, sagte Ubaldo. Ein junger Maya betrat den Raum. Er war mit einem roten Umhang bekleidet, auf dem seltsame Zeichen eingestickt waren. Vor Ubaldo blieb er stehen. „Ich bin Calli“, sagte der Maya. Ubaldo versuchte dem stechenden Hypnoseblick des Indianers zu entkommen, doch es gelang ihm nicht. Nach wenigen Augenblicken war er hypnotisiert. Calli fragte ihn über Coco Zamis und ihre Pläne aus. Bereitwillig beantwortete Ubaldo alle ihm gestellten Fragen. Dann mußte er alles erzählen, was er über die Schwarze Familie wußte. Aber das war nicht besonders 172
viel. „Ihr braucht euch keine Hoffnung auf Hilfe zu machen“, sagte Calli. „Findet euch mit eurem Schicksal ab. Ihr werdet morgen eure kümmerlichen Leben für den großen Gott Chac geben.“ „Was ist mit Coco?“ fragte Ubaldo. „Der Quetzal-Maya hat sie gefangen genommen“, sagte Calli und verließ den Raum. „Nun sind wir tatsächlich verloren“, flüsterte Rüben Olmo. Ubaldo schloß die Augen. Er verfluchte sich, daß er Coco nicht davon hatte abbringen können, sich auf die Suche nach dem Dämon zu machen. Sie hätte irgendwohin fliehen sollen, wo sie der Dämon nicht hätte erwischen können. „Hast du etwas Neues von Ubaldo Najera erfahren, Calli?“ fragte Tepal. „Nein, Ah Kin Mai“, antwortete Calli. „Auch er konnte mir nicht viel über die Schwarze Familie erzählen.“ „Ich habe mich lange mit Coco Zamis unterhalten“, sagte der Hohepriester und ging langsam auf und ab. „Es scheint tatsächlich innerhalb dieser Schwarzen Familie Dämonen zu geben, die über starke magische Fähigkeiten verfügen.“ „Das behaupten ja die anderen Sippenmitglieder auch“, stellte Calli fest, „aber bis jetzt sind wir auf keinen dieser Dämonen gestoßen.“ 173
„Diese Coco verfügt über einige Fähigkeiten, die uns aber nicht schaden können, da unsere Magie ganz anders geartet ist. Bevor wir unsere Pläne weiter verfolgen, müssen wir einen dieser mächtigen Dämonen zum Kampf stellen, um die Grenzen ihrer Macht zu ergründen.“ „Das ist eine gute Idee, Ah Kin Mai.“ „Du wirst morgen nach der Zeremonie nach Guatemala-City zurückkehren und die restlichen Mitglieder der Najera-Sippe töten.“ „Das wird sehr einfach sein.“ Tepal nickte. „Und was soll ich dann tun?“ „Darüber will ich mich mit dir jetzt unterhalten. Von Coco Zamis habe ich die Namen einiger mächtiger Sippen der Schwarzen Familie erhalten. In Chile soll es einen Clan geben, der wegen seiner magischen Fähigkeiten berühmt ist. Es ist die Sippe der Munante. Du wirst nach Chile fliegen und dich über diese Familie genau erkundigen. Sobald du alle notwendigen Informationen erhalten hast, komme ich dann nach. Wir werden die Sippe der Munante zum Kampf stellen und alle töten.“ Calli nickte. „Danach werden wir die Regierung von Guatemala stürzen und unsere Pläne verwirklichen. Wir werden die verdammten Weißen aus dem Land jagen und das MayaReich neu gründen!“ Begeistert hörte Calli zu. Das alles hatte er 174
schon unzählige Male gehört, doch er konnte es nicht oft genug hören. „Wir werden die fähigsten Männer um uns scharen und schließlich die ganze Welt erobern.“ „Ja, so wird es sein, großer Ah Kin Mai.“ „Geh nun, Calli.“ Calli war zufrieden. Alles hatte sich viel besser entwickelt, als er es geglaubt hatte. Nur zu gut konnte er sich noch an die ersten Tage nach ihrem Sturz durch die Zeit erinnern. Sie hatten ein Indianerdorf gefunden und dort die schreckliche Wahrheit erfahren. Sie waren in der Zukunft gelandet. Und nach und nach hatten sie alles über das Schicksal ihres Volkes erfahren, und ihr Haß gegen die Weißen war von Tag zu Tag größer geworden. Tepal hatte die alten Bücher seines Volkes studiert und sich das geheime Wissen der Größten seiner Vorfahren angeeignet. Und dann war er daran gegangen seine ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen. Sie hatten reinblütige Indianer nach Itzal geholt und mit dem Wiederaufbau der Tempelanlagen begonnen. Immer mehr Maya waren zu ihnen gestoßen, und nun war die Stadt renoviert. Sie hatten den Göttern geopfert, und Tepal hatte seine Fähigkeiten weiter erprobt. Calli wußte nur wenige der geheimen magischen Formeln, nur soviel, wie ihm Tepal verraten hatte. 175
Xochi schlief schon, als er ihr Zimmer betrat. Er war glücklich mit ihr, so wie er es erhofft hatte.
Tepal war noch einmal zurückgekommen. Er hatte mir unendlich viele Fragen gestellt, auf die ich ihm in den meisten Fällen wahrheitsgetreu geantwortet hatte. Ich hoffte, daß er diese Informationen nie verwerten konnte. Ich wartete noch eine halbe Stunde, dann bewegte ich mich leicht. Der Hohepriester hatte mir befohlen zu schlafen und versucht meinen Körper zu lähmen. Ich hatte ihn getäuscht. Vorsichtig setzte ich mich auf. Bis jetzt war alles so verlaufen, wie ich es erwartet und erhofft hatte. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, um alle notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Aber ich mußte es schaffen. Ich zog ein kleines Säckchen aus der Hosentasche und legte es auf den Boden. Dann schlüpfte ich rasch aus meinen Kleidern. Ich wollte eine Beschwörung durchführen, die äußerst schwierig war und die ich höchst selten angewandt hatte. Aber mir blieb keine andere Wahl. Ich schloß die Augen und murmelte die entsprechenden Zauberformeln, die ich vor etwa zwei Jahren in einem alten Manuskript 176
entdeckt hatte. Um meine Kräfte nicht unnötig zu schwächen, nahm ich ein Stück magischer Kreide zu Hilfe. Ich malte einige Formeln auf den Boden und konzentrierte mich dann darauf. Das Ergebnis war nicht sehr erfreulich. Ich hatte ein Ebenbild von mir schaffen wollen, ein sogenanntes Pseudowesen, aber eine mißgestaltete Figur war entstanden. Rasch brachte ich das Monster zum Verschwinden. Wieder malte ich die Formeln hin, diesmal konzentrierte ich mich stärker. Diesmal mußte es klappen, denn die Zeit schien unglaublich rasch zu vergehen. Und diesmal hatte ich Glück. Es gelang mir ein Ebenbild von mir zu schaffen. Ich löschte die Formeln und stand auf. Vor dem Pseudowesen blieb ich stehen. Ich strich über das Haar, das sich ganz natürlich anfühlte und über den Körper, der warm war. Das Pseudowesen war mein genaues Ebenbild, es konnte sich aber nicht bewegen und nicht sprechen, doch das war unwesentlich. Die Priester konnte ich mit diesem Pseudowesen sicher täuschen, ob es auch bei Tepal gelingen würde, das stand auf einem anderen Blatt. Ich zog meinem Ebenbild die Kleider an, was gar nicht so einfach war. Doch auch das schaffte ich. Nun kam der zweite Teil meiner Vorbereitungen. Ich blickte auf die Uhr. Ich hatte nur mehr weniger als eine Stunde Zeit. 177
Das war verdammt knapp. Rasch öffnete ich das Säckchen und holte einige Gegenstände heraus, die mir Jorge Najera mitgegeben hatte. Tepal würde einige Überraschungen erleben, das stand fest. Und ich konnte nur hoffen, daß sie auch so wirksam waren, um ihn zu vernichten. Zu meiner größten Freude hatte ich diese Vorbereitungen schon nach einer halben Stunde abgeschlossen. Ich blieb neben meinem Ebenbild hocken, bis ich Schritte hörte. Nun war es soweit. Augenblicklich versetzte ich mich in die andere Zeitdimension und rannte an drei Priestern vorbei hinaus auf den großen Platz, auf dem sich schon eine ansehnliche Menge versammelt hatte. Es war noch dunkel, als ich auf eine der Riesenpyramiden zurannte und die Stufen hochlief. Ich erreichte den Tempel und versteckte mich hinter einer Stele, dann glitt ich in die normale Zeit. Mein Herz schlug schneller. Hoffentlich würde alles so verlaufen, wie ich es erhoffte…
Ubaldo hatte nicht eine Minute geschlafen. Seine Augen brannten. Seine Angst um Coco hatte ihn fast verrückt gemacht. Er hatte sich mit völlig nutzlosen 178
Selbstvorwürfen gequält. Rüben und Javier hatten ebenfalls nicht schlafen können. Sie hatten sich die ganze Nacht über leise unterhalten. Sechs Priester betraten den Raum, die alle seltsame Masken trugen, die irgendwelche Fantasieungeheuer darstellten. Zwei Priester blieben vor ihm stehen. Einer hob ihn hoch, und der andere öffnete seine Bluse und zog sie aus, dann rissen sie ihm die Stiefel herunter und Sekunden später war er völlig nackt. Sie besprengten ihn mit einer durchdringend riechenden Flüssigkeit und zwangen ihn ein paar Schlucke aus einem Krug zu trinken. Einer der Priester stellte sich zwischen seine Beine und umspannte mit seinen Händen die Knöchel, der andere ergriff seine Handgelenke. Sie hoben ihn hoch und trugen ihn auf den großen Platz hinaus. Ubaldo blickte sich um. Der Platz war mit Menschen übersät, die ihn schweigend anstarrten. Die Priester schleppten ihn eine steil aufragende Treppe hoch. Immer wieder drehte Ubaldo den Kopf hin und her, doch er konnte nicht viel erkennen, denn es war noch immer dunkel. Auf der Plattform der Pyramide warfen ihn die Priester zu Boden. Zu seiner rechten Seite lagen Rüben Olmo und Javier Perez, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatten. Ubaldos Augen wurden groß, als er ein paar 179
der maskierten Priester erblickte, die Coco hochtrugen. Ihm blieb fast das Herz stehen. „Coco!“ rief er, doch die junge Hexe reagierte nicht. „Coco!“ Einer der Priester sprang vor und schlug ihm die Faust ins Gesicht. „Halte den Mund!“ zischte er. Ubaldo preßte die aufgesprungenen Lippen zusammen. Die Priester ließen Coco neben ihm fallen. Sie schien vollkommen gelähmt zu sein, denn sie bewegte nicht einmal den Kopf. Ubaldo schluchzte. Er wandte den Kopf ab. Er konnte den Anblick der hilflosen Coco nicht mehr ertragen. Es begann zu dämmern. Ein Priester ging zwischen den Opfern hin und her und besprengte sie mit balche.
Ich kauerte noch immer hinter der Stele. Vor ein paar Minuten hatten Tepal, Calli und Xochi den Venustempel betreten. Die drei schienen zu beten, doch ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Bis jetzt hatte alles tadellos geklappt. Sollte mich aber Tepal hier im Tempel entdecken, dann war alles vergebens gewesen. Nach Sonnenaufgang konnte er mir nicht mehr viel anhaben, denn ich hatte die Götter auf meiner Seite, die meinen Geburtstag regierten. Langsam wurde es hell im Tempel. Ich wagte 180
es nicht mich zu bewegen, ja ich wagte kaum zu atmen. Nun betete Tepal allein. Seine Stimme wurde immer lauter und schriller. Ein Sonnenstrahl fiel in den Tempel, und ich atmete erleichtert auf. Die Gebete waren nun vollendet. Ich hörte Schritte und dann war es still. Rasch sprang ich auf und blickte auf die Plattform hinaus. Priester mit rauchenden Kopalgefäßen gingen auf der Plattform auf und ab. Ich erblickte den Zeitschacht, der offen war. Alle vermieden es in seine Nähe zu kommen.
Ubaldo starrte den Hohepriester an, der langsam auf die Opfer zuschritt. Zwei Priester nahmen ihm die Maske und den Umhang ab. Nun gesellten sich zwei maskierte Priester zu Tepal, die Kopalräuchergef äße in den Händen trugen. Tepal blieb neben dem Opferstein stehen und hob beide Hände der Sonne entgegen. Er war nur mit einem Lendenschurz bekleidet, und sein Oberkörper war mit Erdfarben beschmiert. Vier Priester hoben Coco hoch und legten sie auf den Opferstein. Ubaldo wollte den Blick abwenden, doch es gelang ihm nicht. Wie hypnotisiert starrte er Coco an. Er erinnerte sich an den Alptraum, 181
den ihm Coco erzählt hatte. Alles war so, wie sie es in diesem Traum gesehen hatte. Einer der Priester reichte Tepal ein langes Feuersteinmesser. Ubaldo wollte schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen. Der Hohepriester beugte sich über Coco. In der rechten Hand umklammerte er das Messer. Dann stieß er Coco das Messer unterhalb der linken Rippen in den Brustkorb. Doch kein Tropfen Blut kam aus der Wunde. Verwundert zog Tepal das Messer heraus und stieß nochmals zu. Cocos Gestalt wurde durchscheinend, dann löste sie sich einfach auf! Von unten her war das Brüllen der Menge zu hören. Tepal wirbelte herum, und das Schreien wurde lauter. Ubaldos Augen weiteten sich, als er Coco erblickte, die auf Tepal zuschritt. Das ist doch nicht möglich, dachte Ubaldo, das ist ganz und gar unmöglich. Coco hatte ihr langes Haar zu zwei Zöpfen geflochten, die sie zwischen ihren hohen Brüsten zusammengebunden hatte. Ihr Gesicht war mit roter Farbe bestrichen, nur auf der Stirn war ein kreisrunder Fleck zu sehen, in dem sich ein seltsames Zeichen befand. Ihre Hände waren ebenfalls rot gefärbt. Unter ihrer linken Brust befanden sich zwei Zeichen. Eines ähnelte einem Totenkopf, 182
während das andere einen Jaguar darstellte. Tepals Körper krampfte sich zusammen. Das Messer fiel klirrend auf die Plattform. Die Priester wichen entsetzt zurück.
Tepal hatte meinen Pseudokörper für den richtigen gehalten. Als er meinem Ebenbild das Messer in den Leib stieß, betrat ich die Plattform. Tepal stieß nochmals zu, und da bemerkte mich die sensationslüsterne Menge. Sie tobten und schrien. Der Hohepriester blickte mich an, und die magischen Zeichen auf meinem Körper taten ihre Wirkung. Es war so, wie es Jorge Najera vermutet hatte. „Ah Cuchab!“ schrie ich so laut ich konnte. „Akkinob datua Hetz’mek!“ Tepals Hände krampften sich zusammen. Sein Gesicht wurde bleich. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. „Copa ixtli eta Tenamitl“, sprach ich weiter die Zauberformeln, die mir Jorge beigebracht hatte. Ein tierisches Brüllen kam über Tepals Lippen. Ich merkte deutlich wie er seine Kräfte zu sammeln versuchte, doch mit jedem Spruch, den ich sagte, wurde seine Kraft schwächer. „Imix-Ceiba, Zuhyha eta Uo!“ Er wankte auf mich zu. Rasch trat ich ein 183
paar Schritte zurück und näherte mich dem Zeitschacht. Jorge hatte vermutet, daß all die Formeln, die er mir beibrachte nicht stark genug waren, um Tepal zu töten, und das schien zu stimmen. Doch sie waren stark genug, um ihn an der Entfaltung seiner Magie zu hindern. Mein Plan war klar. Ich wollte ihn zum Zeitschacht locken. „Pechni!“ schrie ich und wich wieder einen Schritt zurück. „Metate neno Hix!“ Tepals Hände versuchten nach mir zu greifen, doch er konnte seine Bewegungen nicht mehr koordinieren. Er wankte einmal im Kreis herum, um dann wieder auf mich loszugehen. Ich warf den Priestern einen Blick zu. Sie bewegten sich nicht. Auch Calli und Xochitl waren wie gelähmt. Der Zauber, den ich anwandte, schien auch auf sie zu wirken. Ich spürte den eisigen Hauch, der aus dem Zeitschacht strömte. Näher durfte ich keineswegs mehr kommen, denn sonst würde mich der Sog erfassen und in die Tiefe reißen. „Sascab, tetato Chacmol!“ Tepal stand der Schaum vor dem Mund. Seine Augen waren blutunterlaufen, und sein pechschwarzes Haar schimmerte feucht in der Sonne. Ich drückte meinen rechten Zeigefinger auf die Jaguarabbildung unter meiner linken Brust. „Chacmol sapodilla Itzal Uayeb!“ 184
Das war einer der wenigen Sprüche, dessen Bedeutung ich verstand. Es bedeutete soviel wie: „Der Jaguar, den die Fremde an ihrem Körper trägt wird dein Unglück einleiten.“ Blut strömte aus Tepals Nase. Aber er bewegte sich nicht. Er kam auch nicht näher. Er konnte noch halbwegs klar denken, aber seine Fähigkeiten konnte er nicht mehr einsetzen. So kam ich nicht weiter. Das wurde mir klar, als ich noch ein paar Sprüche gemurmelt hatte. Tepals Gesicht war zu einer unmenschlichen Fratze verzogen, Blut rann aus Mund, Nase und Ohren, doch er kam nicht näher. Ich tat es nicht gern, doch mir blieb keine andere Wahl. Ich glitt in die andere Zeitdimension, trat hinter Tepal und stieß mit aller Kraft zu. Sofort rutschte ich in die normale Zeit. Tepal ruderte mit den Händen in der Luft. Er kämpfte gegen den unheimlichen Sog an, der aus dem Zeitschacht drang, doch er verlor den Kampf. Sein Körper fiel auf den Schacht zu und verschwand darin. Und mit Tepals Verschwinden war plötzlich die Hölle los! Die magische Tarnung, die über der Stadt hing und verhinderte, daß die Stadt von der Luft aus gesehen werden konnte, brach zusammen. Der Himmel verfinsterte sich. Es war, als 185
hätte die Sonne Risse bekommen. Einen Augenblick war es ruhig, dann schoß eine Glutwelle auf die Tempelanlagen zu. Ich rannte auf Ubaldo zu, der sich nach Tepals Verschwinden, wieder bewegen konnte. „Rasch, in den Tempel, Ubaldo!“ schrie ich und zerrte ihn hoch. Blitze rasten auf die Tempelanlagen zu. Ubaldo klammerte sich an mir fest. Wir rannten auf den Tempel zu. Die Hitze wurde unerträglich. Zwei Meter von uns entfernt schlug ein Blitz in die Plattform ein, und Steinbrocken wurden durch die Luft geschleudert. Endlich hatten wir den Tempel erreicht. Ich stieß Ubaldo hinein und blickte mich um. Ein Feuerball fiel auf die Plattform und explodierte. Geblendet schloß ich die Augen. Die Druckwelle war so stark, daß ich weit in das Tempelinnere geschleudert wurde und benommen liegen blieb. Die Welt schien unterzugehen. Das ohrenbetäubende Gekrache der magischen Blitze wollte nicht enden. Die Pyramide bebte. Steinbrocken fielen aus den Wänden. Ich rappelte mich mühsam hoch. Einige der Priester hatten Feuer gefangen. Sie stürzten sich brennend in die Tiefe. Ein Teil der Plattform hatte sich verschoben, und ein paar Priester verschwanden im Zeitschacht. Der Tempel bot uns keine Sicherheit. Jeden Augenblick konnte die Plattform 186
zusammenstürzen und uns in das Zeittor drängen. „Steh auf, Ubaldo!“ schrie ich. Doch der junge Dämon bewegte sich nicht. Ich kniete neben ihm nieder. Ein Stein hatte ihn an der Schläfe getroffen. Blut rann über seine Wange. Er war nicht tot, wie ich erleichtert feststellte, nur bewußtlos. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, hob ihn hoch und warf ihn mir über die Schulter. Wieder einmal betrat ich die andere Zeitdimension und taumelte auf die Plattform hinaus und die Treppe hinunter. Doch nach wenigen Stufen wurde mir Ubaldo zu schwer. Ich mußte in die normale Zeit zurückkehren. Ich fiel zu Boden und riß Ubaldo mit. Wir kollerten die Stufen hinunter. Irgendwann schlug ich mit dem Kopf gegen eine Stufenkante und wurde augenblicklich bewußtlos.
Irgend jemand rüttelte an meiner Schulter. „Coco, wach auf!“ hörte ich Ubaldos Stimme. „Aufwachen!“ Ich schlug die Augen auf und schloß sie sofort wieder. Das grelle Sonnenlicht schmerzte. Langsam setzte ich mich auf und blinzelte Ubaldo an. Dann hatten sich meine Augen an das Licht gewöhnt, und ich stand auf. Rings um uns war alles verwüstet. Die 187
Pyramiden waren teilweise eingestürzt, die Tempel und anderen Gebäude waren wie Kartenhäuser zusammengefallen. Überall lagen Tote und Verletzte herum. „Hier sieht es ja grauenvoll aus“, sagte ich und klammerte mich an Ubaldo fest. „Ich kann es noch immer nicht glauben, daß du am Leben bist“, sagte er und küßte mich. Es kam mir selbst wie ein Wunder vor. Ohne Jorge Najeras Ratschläge hätte ich keine Chance im Kampf gegen Tepal gehabt. Aber ich hatte es geschafft, und jetzt fühlte ich mich so müde, daß ich am liebsten sofort geschlafen hätte. „Wie hast du das alles geschafft, Coco?“ fragte Ubaldo. „Das erzähle ich dir alles später“, sagte ich. „Laß uns von hier fortgehen.“ Nach ein paar Schritten begann sich alles vor meinen Augen zu drehen. Ubaldo fing mich auf. „Ich werde dich tragen“, sagte er. Ich ließ es gleichgültig mit mir geschehen. Nach ein paar Minuten fühlte ich mich etwas besser. „Laß mich herunter, Ubaldo.“ Er stellte mich auf den Boden, und ich blickte zurück über die verwüsteten Tempelanlagen. Tepal war ausgeschaltet, doch ich wußte nicht, ob Calli und Xochi überlebt hatten, aber das war nicht wichtig. Calli stellte keine Bedrohung dar. Mit seinen Fähigkeiten konnte er nicht viel anfangen. 188
„Hast du Rüben und Javier gesehen?“ fragte ich. Ubaldo schüttelte den Kopf. Einige Indianer rannten verstört hin und her, doch sie beachteten uns nicht. Als wir einen kleinen Bach erreichten, ließ ich mich einfach in das kühle Wasser fallen und trank gierig. Dann wusch ich mir die Farbe von Gesicht und Körper. Eine halbe Stunde später gingen wir weiter. In einem verlassenen Indianerdorf fanden wir Kleidung und Schuhe. Ubaldo entdeckte eine Machete, die er an sich nahm. Der Marsch durch den Dschungel zum Boot war ein nicht enden wollender Alptraum. Manuel begrüßte uns überschwänglich, doch ich bekam nicht viel davon mit. Erschöpft sank ich zu Boden. Ubaldo trug mich zum Boot, und während der Fahrt nach Sayaxche schlief ich. Ich nahm alles nur ganz undeutlich wahr. Wir legten in Sayaxche an, und zwei Indios trugen mich zum Hubschrauber. Ich wurde erst wieder wach, als Ubaldo zur Landung auf dem Flughafen La Aurora ansetzte. Zwei Tage lang schlief ich, ohne auch nur einmal aufzuwachen. Nach einem ausgiebigen Frühstück berichtete ich der versammelten Sippe der Najeras von unseren Erlebnissen, verschwieg ihnen aber einiges, was mich und meine Fähigkeiten betraf. 189
Eine Stunde später war ich mit Ubaldo nach Huitzitzil unterwegs, wo seine Familie ein hübsches Sommerhaus hatte. Während der Fahrt dachte ich an Tepal und fragte mich, wo der Hohepriester, der gern ein Gott hatte sein wollen, wohl gelandet war. Aber diese Frage würde ich wohl nie beantwortet bekommen…
Ein durchdringendes Ziehen war in Tepals Gliedern. Sein Körper wurde hin und her gerissen. Lange Zeit war der Hohepriester zu keinem klaren Gedanken fähig. Dann erinnerte er sich, und eine grenzenlose Wut schlug über ihm zusammen. Er hatte diese junge Hexe unterschätzt. Sie hatte ihm eine Falle gestellt, in die er blindlings getaumelt war. Die undurchdringliche Dunkelheit hüllte ihn ein und lähmte ihn. Tepal landete in einer Alptraumwelt. Der Zeitschacht hatte ihn in die Vergangenheit gerissen, in eine Zeit, die später als Kreidezeit bekannt wurde. Er stand auf einer Ebene, die mit bizarren Bäumen bewachsen war. Weit im Hintergrund erblickte er rauchspeiende Vulkankegel. Ein langbeiniger Straußensaurier rannte an ihm vorbei, und hoch in der Luft flogen zwei Flugsaurier. 190
Ein betäubender Gestank legte sich schwer auf seine Brust. Zögernd tat er ein paar Schritte. Die Erde bebte hinter ihm. Er wirbelte herum und war vor Entsetzen gelähmt. Ein Monster, so groß wie ein dreistöckiges Haus, lief auf ihn zu. Die lederartige Haut des Ungeheuers war blaugrau. Der echsenartige Kopf mit dem fast zwei Meter langen Kiefer bewegte sich hin und her, und die wagenradgroßen, dunkelrot glühenden Augen funkelten ihn bösartig an. Bevor sich Tepal von seinem Schrecken erholt hatte, schnappte der Tyrannosaurus Rex zu und zermalmte ihn zwischen seinen mächtigen Zahnreihen…
191