Neal Davenport
Coco und die Druiden
BUCH PABEL VERLAG KG-
RASTATT/BADEN
DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint
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Neal Davenport
Coco und die Druiden
BUCH PABEL VERLAG KG-
RASTATT/BADEN
DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint
vierwöchentlich
im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550
Rastatt
Copyright © 1979 by Neal Davenport
Titelillustration Nikolai Lutohin
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in
Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum
gewerbsmäßigen Umtausch verwendet
werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
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Telefon (0 40) 3 01 96 29, Telex 02.161.024
Printed in Germany
Juni 1979
2
Asmodi rannte wütend im großen Prunksaal auf und ab, und unverständliche Laute kamen über seine Lippen. „Coco Zamis muß sterben!“ knurrte er immer wieder. Nie zuvor hatte die Gräfin Anastasia von Lethian den Herrn der Schwarzen Familie in so einer Stimmung erlebt. Sie wagte kaum zu atmen. Neben dem offenen Kamin blieb der Herr der Finsternis stehen und starrte in die schwach glimmende Glut, die unter seinem Blick aufflammte. Langsam drehte sich Asmodi um. Seine hochgewachsene Gestalt war durch einen schwarzen Umhang verhüllt. Die Hände hatte er tief in den Taschen vergraben. Nur sein konturenloses Gesicht war zu sehen, das vom Feuer beschienen wurde. Der Feuerschein betonte noch das Rot seiner großen Augen, die von innen her zu glühen schienen. „Was hat dir Coco angetan?“ fragte Anastasia leise. „Ich wollte die Zamis-Sippe endgültig in die Knie zwingen“, antwortete Asmodi überraschend ruhig. Er schien sich wieder gefangen zu haben. „Der Plan war gut, sogar ausgezeichnet. Aber wieder einmal wählte ich mir einen falschen Helfer: Gorshat. Du kennst diesen verfluchten Dämon, Anastasia?“ „Ja, ich kenne ihn“, flüsterte die Gräfin unbehaglich. Früher hatte sie oft Gorshat 3
besucht, doch dann davon Abstand genommen, da ihr der Dämon mit seinen grauenvollen Experimenten immer unheimlicher geworden war. „Gorshat ist tot“, sprach Asmodi weiter. „Er soll für alle Zeiten verflucht und verdammt sein, dieser Dummkopf, der meinen Plan vereitelt hat.“ „Was hat er getan?“ Asmodi ignorierte ihre Frage. „Ich hatte alles mit Zakum genau besprochen. Nichts hätte unseren Plan vereiteln dürfen, aber es kam ganz anders…“ Die Gräfin wagte keine Frage mehr zu stellen. Irgendwann würde ihr Asmodi alles erzählen, denn sie war eine der wenigen Dämoninnen, der er vertraute. Sie hatte eine entscheidende Rolle gespielt, als er seinen Vorgänger in der Schwarzen Familie besiegt und sich selbst zum Herrn der Finsternis ernannt hatte. Sie war immer eine seiner treuesten Dienerinnen gewesen, und er hatte ihr die Ehre erwiesen, mit ihr neun Kinder zu zeugen, die von normalen Frauen ausgetragen worden waren. „Gorshat sollte alles zu einem Sabbat vorbereiten“, sagte Asmodi nach ein paar Minuten. „Bei diesen Festlichkeiten sollte Georg Zamis sich mit Gedda Rauthir, einem von Zakums gräßlichen Geschöpfen, vermählen. Doch es kam nicht dazu. Irgend jemand tötete Gedda. Vermutlich war es Georg, aber es konnte nicht bewiesen werden. 4
Das war der erste Fehlschlag.“ Anastasia bewegte sich leicht. Das tief ausgeschnittene dunkelrote Kleid betonte ihre aufreizenden Formen, an denen sich Asmodi schon unzählige Male erfreut hatte. „Mit Coco hatte ich etwas ganz Besonderes vor“, knurrte Asmodi. „Ich wollte ihr Herz als Pfand. Sie sollte ein anderes Herz aus Zakums Archiv erhalten. Diese magische Transplantation sollte Gorshat durchführen, doch dieser verfluchte Narr versagte. Irgendwie gelang es Coco, daß Gorshat nicht ihr das neue Herz einsetzte, sondern es einer seiner Chimären einpflanzte, die sich dann gegen ihn wandte und ihn tötete.“ Diese Zamis-Sippe, dachte Anastasia, wird immer lästiger. Sie hatte Asmodi schon lange vor diesem Clan gewarnt, doch er hatte nicht auf sie hören wollen. „Ich bin nur von Versagern umgeben“, brummte Asmodi. „Die Dämonen werden immer schwächer und überheblicher. Sie haben sich zu sehr den Menschen angepaßt. Es gibt Sippen, deren Blut schon so verwa schen ist, daß man sie kaum noch als Dämonen bezeichnen kann. Die Fähigkeiten verkümmern, und auf die alten Sitten und Gebräuche legt kaum noch jemand Wert. Das muß sich ändern. Und ich werde dafür sorgen, daß es sich ändert. Ich werde hart durchgreifen. Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich habe lange gezögert, aber nun steht mein Entschluß fest. Wir werden…“ 5
Asmodi trat einen Schritt zur Seite, als die Luft leicht zu flirren begann. „Das ist Zakum“, sagte Asmodi und ging auf die Gräfin zu. Er setzte sich neben sie in einen kunstvoll verzierten Stuhl. Mit einem lauten Knall materialisierte Zakum im Saal. Respektvoll verbeugte er sich vor Asmodi. Die Gräfin beachtete er überhaupt nicht. Die Gräfin fühlte sich in Zakums Gegenwart immer unbehaglich. Am liebsten hätte sie den Saal verlassen. Zakum war ein mächtiger Dämon. Seine Herkunft war unbekannt. So wie der undurchsichtige Dämon Olivaro war er plötzlich aufgetaucht. Unzählige Gerüchte gab es über diese beiden Dämonen innerhalb der Schwarzen Familie. Gerüchte, die niemand beweisen konnte. Zakum hatte im Lauf der Jahrhunderte ein gigantisches Archiv aufgebaut, das er immer dem jeweils herrschenden Herrn der Schwarzen Familie zur Verfügung gestellt hatte. „Was hast du mir zu berichten, Zakum?“ fragte Asmodi. Zakum starrte die Gräfin überheblich an. „Darf ich vor ihr sprechen?“ „Ja, du darfst“, zischte Asmodi. Zakum grinste verschlagen. Sein Äußeres war nur wenig einnehmend. Die Arme und Beine waren unendlich dünn, und seine Haut war gelblich und verrunzelt. Der Dämon verschränkte die Arme vor der Brust und seine Spinnenfinger bewegten sich unruhig. 6
„Du bist verärgert, Asmodi“, stellte Zakum zynisch fest. „Das ist die Untertreibung des Jahres“, sagte Asmodi mit lauter Stimme. „Ich hoffe, daß sich deine schlechte Laune in wenigen Minuten bessern wird“, meinte Zakum. „Setz dich, Zakum“, sagte Asmodi, und seine Stimme klang um eine Spur freundlicher. Zakum wählte sich einen bequemen Stuhl aus und setzte sich langsam nieder. „Beim Sabbat tauchte ein seltsamer Gnom auf“, begann Zakum seinen Bericht. „Er war mit einem Harlekinkostüm bekleidet. Er hatte ein Nußknackergesicht und eine pockennarbige Haut. Er nannte sich Manannan mac Lir, später ließ er sich von Coco aber Oirbsen rufen. Sagen dir diese Namen etwas, Asmodi?“ „Nein.“ „Manannan mac Lir wird immer wieder in allen möglichen Sagen erwähnt. Er gilt als ein mächtiger Druide. Einige behaupten, er sei der Nachfolger Merlins gewesen.“ „Jetzt wird es interessant“, sagte Asmodi und beugte sich vor. Nur zu deutlich erinnerte sich Asmodi an die Schmach, die er vor ein paar Wochen erlitten hatte, als es Coco Zamis gelungen war, Merlin zu beschwören, der dann Atma getötet hatte. „Das finde ich auch“, sagte Zakum zufrieden. „Um es kurz zu machen: dieser Oirbsen scheint ein Bote Merlins zu sein.“ 7
„Was wollte er von Coco?“ „Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ich vermute, daß sich Merlin in Gefahr befindet. Er will Cocos Hilfe.“ „Worauf begründest du diese Vermutung?“ Zakum bewegte die rechte Hand, und aus einer seiner Rocktaschen glitt eine magische Kugel, die rasch größer wurde. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte sie die Größe eines Medizinballes erreicht. „Ich habe ein Gespräch zwischen Coco Zamis und Oirbsen belauscht und es aufgezeichnet. Hör es dir an, Asmodi.“ Die pulsierende Kugel strahlte giftgrün, dann wurde sie durchscheinend, und zwei schemenhafte Gestalten waren zu sehen. Langsam wurde das Bild schärfer und die Stimmen waren nun tadellos zu verstehen. Coco Zamis’ Gesicht war in Großaufnahme zu sehen. Es war ungewöhnlich anziehend, ja, man konnte es ruhig als schön bezeichnen. Dichtes, pechschwarzes Haar rahmte das ein wenig orientalisch wirkende Gesichtsoval ein. Die Backenknochen waren hoch angesetzt, der volle Mund war halb geöffnet, und die leicht schräg gestellten Augen schimmerten dunkelgrün wie Bergseen. „Sie ist sehr hübsch“, sagte die Gräfin. Asmodi beachtete Anastasia nicht. Gebannt starrte er in die Kugel. „Ich werde dir helfen“, sagte Coco. „Aber ich brauche irgendeinen Anhaltspunkt, Oirbsen.“ „Den werde ich dir später geben, Coco“, 8
meinte Oirbsen, der nun auch in der Kugel zu sehen war. Der Gnom war mit einem Frack bekleidet, und auf den Quadratschädel hatte er einen Zylinder gestülpt. Sein Nußknackergesicht war zu einem Grinsen verzogen. „Wann?“ fragte Coco. Der kaum einen Meter große Gnom zuckte mit den Schultern. „Hast du den Signatstern?“ Coco legte einen Kristallklumpen wortlos vor ihm auf den Tisch. Oirbsen starrte ihn fasziniert an und liebkoste die rauhe, kristalline Oberfläche mit seinen derben Fingern. „Wie schön er ist“, schwärmte er. „Es ist ein Juwel, wertvoll und mit starken magischen Kräften noch dazu. Eine perfekte Synthese zwischen Schönheit und Macht.“ „Nimm ihn“, sagte Coco einfach.
Der Gnom hob abwehrend die Hände.
„Nein. Er gehört dir. Du bist nun seine
rechtmäßige Besitzerin“, erklärte er. „Aber ich kann damit nichts anfangen“, meinte Coco. „Ich werde dich in die Geheimnisse des Signatsterns einweihen und dir verraten, wie er zu handhaben ist“, erklärte Oirbsen. „Du hast die erste Hürde auf dem Weg zu Merlin genommen, Coco. Und die erste Prüfung ist immer die schwerste. Nun brauchst du nur noch sechs der insgesamt Sieben Siegel zu brechen.“ „Du sprichst, als sei alles Weitere nur noch 9
ein Kinderspiel“, sagte Coco spöttisch. „Dann hast du mich mißverstanden“, sagte Oirbsen. „Ich will dir nicht verhehlen, daß vor dir noch eine Reihe schwieriger Aufgaben liegen, die nicht leicht zu meistern sein werden. Und durch die Geschehnisse auf Gorshats Burg hast du dir nicht gerade neue Freunde geschaffen. Aber immerhin – du hast mich.“ „Ich habe ja dich“, spottete Coco. „Ich habe Asmodi und sein Dämonenheer gegen mich, aber ich habe einen Gnom als Verbündeten.“ „Willst du etwa resignieren, Coco?“ „Nein, daran denke ich keineswegs. Ich bin mehr denn je entschlossen, die Sache bis zum Ende durchzustehen.“ „Dann ist es gut“, sagte der Gnom zufrieden. „Wohin fährst du nun, Coco?“ Die junge Hexe hob die Schultern. „Wahrscheinlich zu Rebecca. Sie wohnt in London.“ „Das trifft sich gut“, sagte Oirbsen und nickte eifrig. „Ich werde mich dort mit dir in ein paar Tagen in Verbindung setzen. Was weißt du über die Zeitschächte?“ „Nur sehr wenig“, antwortete Coco vorsichtig. „Niemand weiß, wer sie angelegt hat und wohin sie führen.“ „Wenn man den richtigen Schlüssel hat, dann kann man diese Schächte betreten und sich ihrer bedienen.“ „Du meinst, daß man mit Hilfe der Zeitschächte durch die Zeit reisen kann?“ 10
„Sie stellen Verbindungen durch alle Zeiträume und auch zum Zentrum der Erde dar. Mehr will ich dir im Augenblick nicht verraten. Du wirst alles noch rechtzeitig erfahren.“ „Immer nur Andeutungen“, sagte Coco verärgert. „Ich will endlich wissen, was gespielt wird.“ „Ich kann deine Ungeduld verstehen, Coco, aber im Augenblick darf ich dir nicht mehr sagen. Nun zum Signatstern.“ Der Stern war riesengroß in der magischen Kugel zu sehen. Er war ungeschliffen, sein Inneres war geädert, und er wies verschiedene Unreinheiten auf. Von einer ganz bestimmten Position aus betrachtet, zeigte seine Oberfläche ein glänzendes Gebilde, das die Form eines Sterns hatte. „Ich habe dir ja schon einiges über den Signatstern erzählt“, fuhr Oirbsen fort und holte eine uralte Kupferkette aus der Tasche. „Ich befestige den Stern nun an der Kette.“ „Weißt du, welche metaphysischen Kräfte im Signatstern schlummern?“ fragte Coco neugierig. „Nein, das weiß niemand. Dieser Signatstern ist uralt. Wie ich dir schon gesagt habe, wird er auch ‘gestirnter König’, ‘Stern der Weisen’ und ‘stella antimoni’ genannt, weil Antimon in ihm vorherrscht. Dieser Kristall ist einer der Schlüssel zu Merlins Freiheit. Trage ihn immer bei dir, Coco.“ Er reichte der jungen Hexe die Kette. Coco 11
starrte den Stein kurz an, dann hängte sie sich die Kette um den Hals und schob den Signatstern in die Bluse. „Nach und nach wirst du die Kräfte kennenlernen, die im Signatstern verborgen sind. Es wird aber einige Zeit dauern, bis du dich dieser Kräfte bedienen kannst. Jetzt muß ich gehen. Wir werden uns in London wie dersehen.“ Das Bild in der Kugel flimmerte, wurde undeutlich und verschwand schließlich ganz. „Dieses Gespräch war doch ganz aufschlußreich, nicht wahr?“ meinte Zakum. „Ja, es war recht interessant. Woher hat Coco diesen Signatstern bekommen?“ „Aus meinem Archiv!“ „Wie war das möglich?“ fragte Asmodi ungehalten. „Diese junge Hexe ist viel gefährlicher, als wir bisher angenommen haben. Ihr gelang es, den Signatstern unbemerkt von mir an sich zu nehmen. Ein wertloses Duplikat ließ sie bei mir zurück.“ „Coco verfügt so wie die anderen Zamis’ über die Fähigkeit, den Zeitablauf zu lenken.“ „Ich weiß es“, sagte Zakum. „Die Spezialität der Zamis-Sippe ist mir bekannt. Mit dieser Fähigkeit ist ihr auch der Austausch der Signatsterne gelungen. Was hast du nun mit ihr vor?“ „Sie muß sterben“, sagte Asmodi grimmig. „Aber es soll kein Verdacht auf dich fallen, richtig?“ 12
„Du sagst es, Zakum.“ „Hm, das habe ich mir gedacht. Ich habe einen Plan ausgearbeitet, der dir sicherlich gefallen wird, Asmodi.“ „Laß ihn hören.“ „Coco und Oirbsen haben sich kurz über die Zeitschächte unterhalten. Und auf so einem Zeitschacht baue ich nun den Plan auf.“ „Das Wissen über die Zeitschächte ist verloren gegangen“, stellte Asmodi sachlich fest. Zakum nickte. „Sogar in meinem gewaltigen Archiv fand ich keinerlei konkrete Hinweise über diese Zeitschächte. Niemand wagt sie zu betreten. Einige dieser Schächte sind bekannt. Jeder Dämon macht einen großen Bogen um sie. In Irland gibt es eine alte, verlassene Burg, in der ein bösartiger Poltergeist herrscht. Er bewacht einen Zeitschacht. Ich will nun Coco auf diese Burg locken.“ „Das hört sich recht gut an, Zakum. Der Poltergeist soll Coco in den Zeitschacht stoßen, und wir sind diese mißratene Hexe für alle Zeiten los.“ „So ist es, Asmodi.“ „Und wie willst du sie nach Irland locken?“ „Ganz einfach. Ich habe einen unbedeutenden Dämon zur Hand, der mir treu ergeben ist. Dieser Dämon kann jede beliebige Gestalt annehmen. Er wird sich in Oirbsen verwandeln. Es sollte ihm leichtfallen, Coco zu täuschen.“ Asmodi überlegte einen Augenblick. 13
„Ich bin mit deinem Plan einverstanden“, sagte er. „Bereite alles vor, Zakum.“ Ich war mit der Bahn bis Ostende gefahren. Und das war keine besonders gute Idee gewesen. Obzwar ich in einem Schlafwagen übernachtet hatte, war ich kaum zum Schlafen gekommen. Zuviel war in meinem Hirn herumgespukt. In Ostende betrat ich die Fähre nach Dover. Es war ein kleines Schiff, vollgestopft mit englischen Teenagern, die fast alle Radios bei sich hatten, mit denen sie die Piratensender empfingen. An Deck herrschte ein unbeschreiblicher Krach. Eine halbe Stunde, nachdem das Schiff abgelegt hatte, war die Hälfte der Teenager sinnlos betrunken und der Zollfreiladen ausverkauft. Ich hatte einen Liegestuhl ergattert, lag auf dem Hinterdeck und wandte den Kopf der Sonne zu. Meine Laune besserte sich von Minute zu Minute. Nicht einmal einige Burschen, die mich anpöbelten und ziemlich unverschämte Bemerkungen von sich gaben, was sie so alles mit mir zu treiben gedachten, konnten meine Laune trüben. Ich freute mich auf das Wiedersehen mit Rebecca, der einzigen Dämonin innerhalb der Schwarzen Familie, mit der ich mich gut verstand und die ich als echte Freundin betrachtete. Mein Bruder Georg war nach Wien zurückgekehrt. Er wollte unserem Vater einen 14
Bericht von den Ereignissen auf Gorshats Burg erstatten. Schaudernd dachte ich an meine unheimlichen Erlebnisse zurück. Ich wußte, daß ich mich in großer Gefahr befand. Asmodi würde die neuerliche Schmach, die er durch unsere Familie erlitten hatte, keinesfalls hinnehmen. Wir mußten mit dem Schlimmsten rechnen. Langsam setzte ich mich auf und rauchte eine Zigarette. Dabei blickte ich mich aufmerksam um. Doch ich konnte keine der so charakteristischen Dämonenaus-Strahlungen spüren. Hier an Bord des Schiffes war ich vorerst sicher. Nach einiger Zeit fühlte ich Hunger und stand auf. Ich ging unter Deck und betrat einen der Speisesäle. Alle Tische waren besetzt. Ich nahm an einem der Tische Platz, an dem ein junges Pärchen saß. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die ich nicht verstand. Vermutlich war es Polnisch. Unsere Familie stammt zwar aus Rußland, aber ich kann mich mit den slawischen Sprachen nicht anfreunden. In meinen Ohren klingen sie grauenhaft unmelodiös. Ich hatte mich standhaft geweigert, mich mit ihnen zu beschäftigen. Bei einem der schwitzenden Kellner bestellte ich ein Menü und eine Flasche Bier. Das Essen war scheußlich, und das Bier war warm. 15
Nach ein paar Bissen kapitulierte ich und schob den Teller angewidert von mir. Ich blickte den mir gegenübersitzenden Mann kurz an, der sich angeregt mit seiner hübschen Begleiterin in der schauderhaften Sprache unterhielt. „In einer Stunde landen wir in Dover“, hörte ich plötzlich das Mädchen sagen. „Hoffentlich holt uns Henryk ab“, meinte der junge Mann. Verwundert kniff ich die Augen zusammen. Irgend etwas stimmte nicht, denn ich konnte plötzlich die beiden verstehen, obzwar sie weiterhin Polnisch sprachen. „Sicher wird er uns abholen“, sagte das blonde Mädchen. „Henryk ist immer pünktlich, Janusz.“ Ich lehnte mich zurück. Wie war es möglich, daß ich plötzlich eine Sprache verstand, mit der ich mich nie zuvor beschäftigt hatte? Unwillkürlich griff ich zum Signatstern, der zwischen meinen Brüsten lag. Hatte dieser seltsame Kristall etwas damit zu tun? Oirbsen hatte davon gesprochen, daß unerklärliche Kräfte im Signatstern schlummerten. Welche es waren, das hatte er selbst nicht gewußt. Einige Minuten hörte ich den beiden Polen zu. Ihre Unterhaltung war äußerst banal. Schließlich stand ich auf und ging an Deck. Die frische Meerluft tat mir gut. Ich atmete tief durch und schlenderte die Reling entlang in Richtung Achterdeck. 16
Der seltsame Vorfall im Speisesaal ging mir nicht aus dem Sinn. Das mußte ich näher untersuchen. Kurz bevor ich das Deck erreichte, kam ich an einer Gruppe Japaner vorbei, die sich angeregt unterhielten. Unwillkürlich blieb ich stehen und lehnte mich an die Reling. Das Geschnatter der Japaner war für mich völlig unverständlich. Angeregt blickte ich über die ruhige See und sah einigen Möwen zu, die laut kreischend um die Fähre herumflogen. Und plötzlich, nach etwa fünf Minuten, verstand ich die Japaner. „Ich freue mich schon auf London“, sagte der Japaner, der neben mir stand. Langsam wandte ich den Kopf. „Paris war auch nicht so übel“, sagte ein anderer, und alle begannen zu kichern. Ich hatte genug gehört. Kopfschüttelnd betrat ich das Achterdeck und fand zu meiner größten Überraschung einen freien Liegestuhl. Der Signatstern schien eine Art Übersetzer zu sein. Mit seiner Hilfe konnte ich anscheinend nach kurzer Zeit alle Sprachen verstehen. Sollte das tatsächlich zutreffen, dann war der Kristall eine unglaubliche Hilfe für mich. Als die weißen Kreidefelsen von Dover zu sehen waren, stand ich langsam auf und stellte mich an die Reling. Diesmal empfing mich London mit Sonnenschein. Es war ein wunderschöner Tag. 17
Ein strahlend blauer Himmel spannte sich über der Stadt, die Luft war warm, und es wehte ein leichter Wind. Mit einem Taxi fuhr ich von der Victoria Station zu Rebeccas Haus in der Park Lane. Rebecca wird über meinen Besuch sehr überrascht sein, dachte ich lächelnd, denn ich hatte mein Kommen nicht angekündigt. Meine Freundin ist eine ungewöhnliche Vampirin. Ihre Familie hat sich sehr den Menschen angepaßt, doch sie kann nicht gegen ihre Begierden ankämpfen. Alle paar Monate benötigt sie Menschenblut. Sie könnte sich nun ihre Opfer wahllos unter den Menschen holen, doch das tut sie nicht. Sie sucht sich ihre Opfer ganz gezielt aus. Es sind Männer, die irgend etwas Grauenhaftes getan haben, so zum Beispiel Kinderschänder, Mörder und andere Verbrecher. Ihre Opfer verwandeln sich, nachdem sie ihnen das Blut ausgesaugt hat. In Riesenfledermäuse. Wie das möglich ist, kann ich mir nicht befriedigend erklären, aber, es stimmt. Rebecca will über dieses Thema nicht sprechen, und ich habe es akzeptiert. Die Riesenfledermäuse haben ihr Gedächtnis verloren und erkennen Rebecca als ihre Herrin an. Das Taxi hatte Marble Arch erreicht, fuhr an Speaker’s Corner vorbei und bog in die Park Lane ein. Vor dem zweistöckigen Haus, das von einer hohen Mauer vor neugierigen Blicken geschützt war, hielt der Wagen an. 18
Vor dem hohen Eisentor blieb ich stehen und bewegte rasch die rechte Hand. Das Tor öffnete sich und glitt langsam zurück, so als würde es von Geisterhänden bewegt. Ich trat in den kleinen Garten, und das Tor fiel hinter mir ins Schloß. Hier war es ruhig. Es war, als hinge eine schalldämpfende Wand um das Haus. Die Haustür schwang geräuschlos auf. Die Diele war ganz in Rot gehalten. Wie üblich stand auf dem kleinen Tischchen neben der Kleiderablage eine Vase, in der einige Teufelszungen steckten, die Rebeccas Lieblingsblumen sind. Eine riesige Fledermaus schwebte krächzend auf mich zu. Sie war kohlrabenschwarz und hatte eine Flügelspannweite von über eineinhalb Meter. Das Maul war geöffnet und entblößte ein furchterregendes Vampirgebiß. Für mich sehen diese Biester alle ziemlich gleich aus, nur eines der Geschöpfe unterscheidet sich von ihnen, denn es hat gelbe Augen. „Eric!“ rief ich, als ich das Fledermausgeschöpf erkannte. Das Monster flog einmal um mich herum, dabei stieß es kehlige Laute aus, die wohl eine Art Willkommensgruß darstellten. Es landete auf meiner rechten Schulter. Die Krallen packten zu, aber so sanft, daß ich sie kaum spürte. Dann rieb das unheimliche Geschöpf seinen Kopf an meiner Wange und schnurrte wie eine Katze. 19
Ich konnte mich mit den Fledermausgeschöpfen nicht verständigen. Das heißt, ich konnte ihnen Befehle erteilen, die sie kapierten, aber ihre Laute waren für mich unverständlich. Eric hat einen Narren an mir gefressen. Er ist ein zweifacher Mörder, der kaltblütig seine Frau und seinen Schwager vergiftet hat. Doch er kann sich nicht mehr an seine Untaten erinnern. Das Monster schnurrte wieder. „Coco ist da!“ verstand ich ihn plötzlich. „Was hast du gesagt?“ fragte ich überrascht. „Coco ist da!“ kreischte er, diesmal lauter. Ich hatte mich nicht geirrt: Ich konnte das Krächzen dieses Geschöpfes verstehen. Eine der rotgestrichenen Türen wurde geöffnet, und Eric begann laut zu kreischen. Meine Schwester Lydia trat in die Diele. „Woher kommst denn du?“ fragte sie. „Das ist genau die Begrüßung, die ich mir vorgestellt habe“, sagte ich mißmutig. Wir musterten uns böse. Ich kann nicht behaupten, daß wir uns gut leiden können. Schon als Kind habe ich mich mit Lydia überhaupt nicht verstanden. Sie ist so ganz anders, als ich es bin. Auf ihre Art sieht sie recht gut aus. Das schöne Gesicht ist wie aus Wachs geformt. Das weiße Haar fällt glatt auf die schmalen Schultern. Wie üblich steckte ihr kurviger Körper in einem eng anliegenden Kleid, das offenherzig ausgeschnitten war und mehr als nur die Ansätze ihrer großen Brüste 20
zeigte. Sie ist sexbesessen, und es ist ihr egal, ob sie es mit Dämonen oder mit Sterblichen treibt. „Miststück!“ kreischte Eric meine Schwester an. „Verschwinde, du ekliges Biest“, sagte meine Schwester verächtlich. „Das könnte dir so passen“, kreischte Eric weiter, für meine Schwester natürlich unverständlich. „Wo ist Rebecca?“ fragte ich. „Keine Ahnung“, antwortete Lydia gleichgültig. „Sie wird aber bald zurückkommen.“ „Wohnst du hier?“ „Ja, aber ich werde ausziehen. Für uns beide ist hier zu wenig Platz.“ „Richtig“, sagte ich scharf. Und wieder starrten wir uns böse an. Eric beschimpfte meine Schwester, und unwillkürlich mußte ich grinsen. „Was grinst du so dämlich?“ fuhr mich Lydia an. „Du solltest mal hören, mit welchen Namen dich Eric belegt.“ „Du kannst verstehen, was das Biest sagt?“ „Ja. Eben hat er dich eine mannstolle Schlampe genannt.“ „Du lügst“, zischte sie wütend und rauschte aus der Diele. Ich schickte ihr ein spöttisches Lachen nach. „Kannst du mich tatsächlich verstehen?“ krächzte Eric. 21
„Ja, ich verstehe dich. Nimm meine Koffer und bringe sie auf mein Zimmer.“ Die Riesenfledermaus gehorchte. Mit ihren scharfen Krallen ergriff sie die Koffer und schwebte durch die Diele auf die breite Treppe zu, die zu den Zimmern im ersten Stockwerk führte. Ich trat in eines der Wohnzimmer im Erdgeschoß, dessen Wände rot waren. Die Möbel und Vorhänge waren schwarz. Rot und schwarz sind Rebeccas Lieblingsfarben. Ich zog die Vorhänge zurück und öffnete ein Fenster. Aus dem in die große Bar eingebauten Kühlschrank nahm ich ein Tonic, trank einen Schluck und setzte mich nieder. Langsam holte ich den Signatstern aus der Bluse und betrachtete ihn genau. Ich konnte keinerlei Veränderung an ihm feststellen. Er fühlte sich noch immer hart an. Doch dann bemerkte ich doch eine Veränderung: er war körperwarm. Kopfschüttelnd schob ich ihn zurück in die Bluse. Eine halbe Stunde später stürmte Rebecca ins Zimmer. Ich stand auf, und wir fielen uns in die Arme. Rebecca ist in meinem Alter und sieht mir sogar ein wenig ähnlich. Ihr Haar ist pechschwarz, doch sie trägt es in der Mitte gescheitelt. Das schmale Gesicht ist un gewöhnlich bleich, und die dunklen Augen scheinen zu glühen. Wie üblich trug sie einen extrem kurzen Minirock und einen hautengen Pulli, der ihren vollen Busen betonte. 22
Sie bestürmte mich mit unzähligen Fragen, und ich erzählte ihr einiges von den Abenteuern, die ich in den vergangenen Wochen erlebt hatte. Es war ziemlich spät, als wir endlich schlafen gingen. Oirbsen meldete sich viel früher, als ich es erwartet hatte. Ich war gerade mit dem Frühstück fertig, als ich die Türglocke hörte. Überrascht stand ich auf, als Rebecca den Gnom ins Zimmer führte. Oirbsen verbeugte sich leicht. „Hallo, Coco“, sagte er und kletterte auf einen Stuhl. Sein häßliches Nußknackergesicht war zu einem breiten Grinsen verzogen. Er war mit einem Frack bekleidet, und auf dem Kopf saß ein Zylinder. „So bald hatte ich nicht mit deinem Besuch gerechnet, Oirbsen“, sagte ich und setzte mich ihm gegenüber. Rebecca blickte mich fragend an. „Du kannst ruhig bei uns bleiben, Rebecca“, sagte ich. „Du hast Rebecca eingeweiht?“ erkundigte sich der Zwerg. „Ich habe ihr einiges erzählt“, sagte ich ausweichend. Oirbsen zuckte mit den Schultern. „Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren, Coco. Merlin ist in großer Gefahr. Jeder Tag ist kostbar. Du mußt unverzüglich nach Irland. Dort wirst du das zweite Siegel erhalten.“ „Nach Irland?“ fragte ich verwundert. 23
Oirbsen holte aus seiner Rocktasche eine Karte hervor, die er mir reichte. Ich strich die Karte glatt. Ein Ort war rot angezeichnet: New ROSS. Und darüber hatte jemand geschrieben: Dunbrody Castle. Ich warf die Karte auf den Tisch und musterte Oirbsen. „Ich erwarte dich morgen auf Dunbrody Castle“, sagte der Gnom. „Es ist ein altes Schloß. Ziemlich verfallen und unbewohnt. Dort wirst du dich einquartieren.“ Sein befehlender Ton gefiel mir überhaupt nicht. „Hör mir mal gut zu, Oirbsen“, sagte ich scharf. „Ich habe mich freiwillig bereit erklärt, Merlin zu helfen. Aber ich habe keine Lust, Befehle entgegen zu nehmen.“ „Entschuldige“, sagte Oirbsen und blickte mich zerknirscht an. „Und was soll ich auf dem Schloß tun?“ fragte ich besänftigt. „Das darf ich dir im Augenblick nicht sagen, Coco. Auf Dunbrody Castle wirst du alles ganz genau erfahren. Du kommst doch hin?“ Ich nickte langsam. „Ja, ich komme hin.“ Oirbsen sprang vom Stuhl herunter. „Ich muß gehen, denn ich habe noch viele Vorbereitungen zu treffen. Bis morgen, Coco.“ „Bis morgen“, sagte ich und blickte ihm verwundert nach. Rebecca begleitete ihn hinaus. „Dieser Oirbsen ist ein seltsamer Kerl“, sagte Rebecca, als sie ins Zimmer zurückkehrte. „Ist 24
er immer so?“ „Ich kenne ihn viel zu wenig“, meinte ich. „Aber ein eigenartiger Kauz ist er schon, aus dem ich nicht recht klug werde. Wie komme ich am besten nach New ROSS, Rebecca?“ „Du kannst mit dem Flugzeug nach Dublin fliegen“, sagte die Vampirin, „und von dort aus kannst du mit dem Autobus weiterfahren. Oder ich…“ „Was?“ fragte ich. Rebecca zögerte. „Ich könnte dich mit dem Wagen hinbringen. Wir fahren nach Holyhead. Von dort aus mit der Fähre nach Dublin.“ Dieser Vorschlag kam mir nicht ungelegen. Vielleicht konnte mir Rebecca behilflich sein. Außerdem war mir ihre Gesellschaft sehr angenehm. „Es kann aber gefährlich werden“, meinte ich. „Das macht nichts“, entgegnete Rebecca lächelnd. „Hier in London komme ich vor Langeweile noch um.“ „Gut, dann fahren wir zusammen. Wann soll es losgehen?“ „Ich brauche nur einen Koffer zu packen, dann können wir sofort losfahren.“ „Fein, dann beginn mit dem Einpacken.“ Bevor Rebecca noch das Zimmer verlassen hatte, trat meine liebe Schwester Lydia ein. Sie ignorierte mich einfach. „Ich ziehe aus, Rebecca“, sagte Lydia. „Weshalb?“ „Meine Schwester und ich vertragen uns 25
nicht besonders“, sagte Lydia und tat noch immer so, als würde sie mich nicht bemerken. „Es gibt sicher früher oder später Streit, wenn wir zusammen unter einem Dach sind.“ Ausnahmsweise mußte ich ihr einmal recht geben. „Wahr gesprochen, Schwester“, sagte ich und stand auf. Lydia reagierte nicht auf diese Bemerkung. „Aber du kannst ruhig bleiben, Lydia“, sagte Rebecca eifrig. „Coco und ich fahren in einer Stunde fort. Und wir bleiben sicherlich ein paar Tage aus.“ „Das ändert nichts an meinem Entschluß. Allein fühle ich mich immer unbehaglich in deinem Haus. Deine Fledermausgeschöpfe machen mich nervös. Ich danke dir aber für deine Gastfreundschaft. Auf Wiedersehen.“ Und fort war sie. Hohheitsvoll stolzierte sie aus dem Zimmer. Rebecca folgte ihr. Es war schon dunkel, als wir Dublin erreichten. Das Fährschiff hatte in Dun Laoghaire angelegt, und von dort aus waren wir die sieben Meilen bis Dublin mit Rebeccas Porsche gefahren. Die Vampirin hatte von London aus Zimmer im „Royal Hiberian“ bestellt. Die breiten Straßen und die mächtigen georgianischen Bauwerke beeindruckten mich ziemlich stark. Rebecca fuhr die Nassau Street entlang, vorbei an der National Art Gallery und der National Library und bog dann in die Dawson 26
Street ein, wo das Hotel lag. Das Zimmer war recht hübsch. Ich duschte mich rasch und zog mich um. Ich wartete einige Minuten in der Rezeption, bis Rebecca kam. Auch sie hatte sich umgezogen. Wir beiden erregten einige Aufmerksamkeit. Ich war sicher, daß uns alle in der Halle anstarrten. „Wir essen gleich im Hotelrestaurant“, sagte Rebecca. Ich folgte ihr. „Für Ausländer ist das Essen in Irland ein Problem“, erklärte mir Rebecca, als wir das hübsch eingerichtete Restaurant betraten. „In den unzähligen Pubs, die hier meist Bar heißen, bekommt man kaum etwas zu essen.“ Ein Kellner führte uns zu einem Tisch. Wir setzten uns, und ein anderer Kellner reichte uns die umfangreiche Speisekarte. Rebecca warf nur einen kurzen Blick hinein. „Worauf hast du Appetit, Coco?“ fragte sie mich. „Ich weiß nicht recht“, antwortete ich und blätterte unschlüssig die Speisekarte durch. „Fischgerichte sind hier besonders gut“, meinte sie nach einiger Zeit, als ich mich noch immer nicht entschieden hatte. „Ich esse das, was du ißt“, sagte ich und klappte die Karte zu. Rebecca bestellte Austern, Steingarnelen und gebratenen Lachs. „Ich lebte einige Zeit in Irland“, erzählte 27
Rebecca. „Ich komme immer wieder gern zurück. Ich liebe das Land und die meist sehr einfachen Leute.“ Ich lächelte. Für ein Mitglied der Schwarzen Familie war ihre Bemerkung höchst ungewöhnlich, denn die Dämonen interessierten sich normalerweise überhaupt nicht für einfache Leute. „Besonders nett finde ich es auf den alten Bauernhöfen“, sprach sie weiter. „Dort ist alles ziemlich primitiv. Auch das Essen. Meist gibt es das Lieblingsessen der Iren: gekochten Schweinespeck mit Kohl, zu dem man ungeheure Mengen Kartoffeln ißt.“ „Das hört sich aber nicht besonders schmackhaft an“, meinte ich. „Ist es aber. Du solltest es einmal probieren. Vielleicht haben wir die Gelegenheit dazu.“ Die Austern wurden serviert. Ich kann nicht behaupten, daß ich ein Austern-Fan bin, aber diese schmeckten mir. Ich versuchte einiges über Rebecca zu erfahren, doch sie wich meinen Fragen aus. Besonders viel weiß ich nicht über sie. Ihre Sippe ist irgendwann einmal bei einem ClanKampf fast völlig ausgerottet worden. Wahrscheinlich ist sie die letzte ihrer Sippe. Die Steingarnelen waren nicht mein Fall, aber der Lachs zerging fast auf der Zunge. Dazu gab es ein köstlich schmeckendes braunes Brot. Nach dem Essen gingen wir ins Drake Inn, eine Bar, die mich sehr an die alten englischen 28
Pubs erinnerte. Ein vollbärtiger junger Bursche trug uralte irische Balladen vor, deren Sinn und Bedeutung mir leider in den meisten Fällen verschlossen blieb, da ich zu wenig über die Ursprünge wußte. Der Sänger begleitete sich mit einer Ziehharmonika, und die Art seines Vertrages war für mich ungewöhnlich. Seine Stimme steigerte sich immer mehr, dann wieder flüsterte er nur vor sich hin, Sekunden später sang er mit dramatischer Stimme. Wir tranken Guiness und hörten dem Sänger zu. Doch nach einiger Zeit hing ich meinen Gedanken nach. Die Welt um mich herum versank. Plötzlich schreckte ich hoch. Der Sänger hatte einen Namen erwähnt, der mir bekannt war: Manannan mac Lir. So hatte sich Oirbsen bei unserer ersten Begegnung genannt. „Manannan mac Lir“, sang der rotbärtige Bursche, „der Sohn des Ozeans, der berühmte Seefahrer, war ein Sohn des Alloit, ein Druide der Tuatha De Danann. Seine Frau war die schöne Fann, eine Side, die er über alles liebte.“ „Was ist eine Side?“ fragte ich Rebecca. „Ein elfenartiges Wesen, das meist in einem Hügel lebt“, flüsterte mir Rebecca zu. „Vor langer Zeit“, sprach-sang der Rothaarige weiter, „lebte der kühne König Conn Hundertkampf. Machtvoll herrschte er über alle fünf Gaue Erinns.“ 29
„Erinn ist der alte Name für Irland“, sagte Rebecca leise. „König Conn hatte zwei Söhne. Art war hübsch und wohlgestaltet, während Condla einen Buckel hatte. Eines Tages ritt der König mit Condla und dem Druiden Soran nach Archommin. Nebel hing über der Landschaft. Condla zügelte plötzlich sein Pferd, als ihm eine Frauengestalt entgegenkam, die nur für ihn sichtbar war. Das schöne Weib lächelte ihm zu, sagte, daß sie eine Side sei, die aus dem Land des Friedens komme. Die schöne Fee sang von der Insel der Glückseligkeit, zu der sie Condla bringen wollte, und ihr Gesang verzauberte den Königssohn. Doch der Druide Coran merkte, daß etwas mit Condla nicht stimmte, sprang vom Pferd und verscheuchte die Side, indem er wilde Verwünschungen ausstieß. Condla war danach sehr traurig. Er dachte nur an die schöne Fee. Die Sehnsucht nach ihr brannte in seinem Herzen. Er hörte ihr geheimes Locken, und eines Tages ging er in der Dämmerung zum Meer. Sehnsüchtig blickte er über die sanften Wogen, und dann sah er das gläserne Schiff des Elfenkönigs. Auf dem Schiff befand sich die schöne Side, die ihm lockend die Arme entgegenstreckte. Sie sang ein betörendes Lied, das den Buckligen fast um den Verstand brachte. Voller Verlangen lief er auf das in der Morgensonne glitzernde Schiff zu. Sobald er es betreten hatte, legte es ab und verschwand in der See. Niemand hat Condla seither mehr gesehen.“ 30
Das war die Kurzfassung der alten Sage. „Die Frau in dem gläsernen Schiff“, raunte mir Rebecca zu. „Der Sänger hat kurz Manannan mac Lir erwähnt. Was weißt du über ihn?“ Rebecca blickte mich interessiert an. „Jetzt geht mir ein Licht auf“, sagte sie. „Wie meinst du das?“ „Dieser kleine Gnom, der dich heute besucht hat, nennt sich doch Oirbsen?“ „Richtig.“ „Manannan mac Lir kommt in allen möglichen irischen Sagen vor. In einigen dieser Sagen wird behauptet, daß Manannan auch den Namen Oirbsen geführt habe. Mal wird Manannan als großer, gutaussehender Mann geschildert, mal tritt er in der Gestalt eines Zwerges auf. Angeblich soll Merlin sein Lehrer gewesen sein.“ „Das könnte passen“, sagte ich nachdenklich. „Vielleicht ist unser Oirbsen der Manannan mac Lir aus den Sagen?“ „Das kommt mir doch zu unwahrscheinlich vor“, sagte Rebecca. „Ich werde Oirbsen morgen fragen“, sagte ich. „Ich bezweifle, daß er dir diese Frage beantworten wird.“ Am frühen Nachmittag hatten wir New ROSS erreicht. Es ist ein kleines Städtchen mit kaum fünftausend Einwohnern, das an beiden Seiten des Flusses Barrow liegt. Im Norden stehen die Blackstairs Mountains, die für mich 31
ziemlich armselig aussehen. Mit den Alpen kann man diese „Hügelchen“ nur schwer vergleichen. Während der Fahrt hatte mir Rebecca alle irischen Sagen erzählt, die sie kannte. Eine neue, faszinierende Welt hatte sich für mich aufgetan, die voll mit kühnen Helden, schönen Frauen, bösen Zauberern, Hexen, Feen und Gnomen war. „Legen wir hier eine Rast ein?“ fragte Rebecca. „Nein, sehen wir uns zuerst einmal Dunbrody Castle an.“ Wir ließen das mittelalterliche Städtchen hinter uns und fuhren auf die Berge zu. Die Straße war in einem jämmerlichen Zustand, man konnte sie wohl eher als einen Feldweg bezeichnen. Wir kamen an einigen strohgedeckten Häusern vorbei, die uralt sein mußten. Und immer wieder waren verfallene Gebäude zu sehen, die keine Dächer hatten. So sehr wir auch suchten, wir fanden kein Hinweisschild auf die Burg. Nachdem wir ein paarmal im Kreis gefahren waren, blieb Rebecca vor einem der strohgedeckten Häuser stehen, und ich stieg aus. „Soll ich mitkommen?“ fragte Rebecca. „Ist nicht notwendig“, sagte ich und ging auf das Haus zu. Die Holztür stand sperrangelweit offen. Ich klopfte kurz an, dann trat ich ein. Vor mir lag eine Art Küche. In der Mitte des 32
Raumes stand ein Kamin, in dem Torf brannte. Neben dem Kamin hing ein Kreuz, und darunter lag ein Rosenkranz und ein Fläschchen Weihwasser. Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Die Ausstrahlung, die von diesen Gegenständen ausging, war nur für Dämonen spürbar, und sie war grauenvoll. Am liebsten hätte ich mich sofort aus dem Haus gestürzt. Eine etwa fünfzigjährige Frau drehte sich langsam um. Sie blinzelte mich kurzsichtig an. Um ihren Hals hing ein silbernes Kreuz. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. „Guten – Tag“, sagte ich stammelnd. Die Frau lächelte mich freundlich an und kam zwei Schritte auf mich zu. „Ja, was kann ich für Sie tun?“ fragte sie fröhlich. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn und flehte, daß sie nicht näher kommen würde. „Ich – ich suche Dunbrody Castle“, stotterte ich los. Ihr Gesicht verdüsterte sich. „Was wollen Sie dort?“ fragte sie mit dumpfer Stimme. „Ich will mir die Ruine ansehen“, sagte ich und versuchte meine Stimme möglichst unbefangen klingen zu lassen. „Sie sind Ausländerin?“ Ich nickte. „Ja, ich komme aus Österreich.“ „Gehen Sie nicht zur Ruine“, sagte sie fast unhörbar. „Die Burg ist verflucht. Dort haust 33
ein Boccanach, das ist ein Luftdämon, ein unheimlicher Poltergeist. Seltsame Dinge gehen auf der verdammten Ruine vor. In ihrer Umgebung haben die Leute oft die seltsamsten Visionen gesehen. Altertümliche Krieger, die sich bekämpften. Schlachtenlärm war zu hören. Kehren Sie um, bevor es zu spät ist.“ Die letzten Worte hatte sie fast beschwörend gesprochen, und dabei war sie mir noch näher gekommen. Ich kniff die Augen zusammen und spürte, wie mir der kalte Schweiß über die Stirn rann. Die Ausstrahlung des Kreuzes und vor allem des Weihwassers wurde immer unerträglicher für mich. Dazu kam noch, daß diese Frau sicherlich eine strenggläubige Katholikin war, die an die Kraft des Kreuzes glaubte, und das machte die Ausstrahlung hundertmal so stark. „Ich bin Reporterin“, log ich. „Ich soll eine Reportage über Ruinen in Irland schreiben. Deshalb muß ich unbedingt hin.“ „Lassen Sie es bleiben“, sagte sie scharf. „Ich sage Ihnen nicht, wie Sie hinkommen, denn…“ Eine kleine Tür wurde geöffnet, und ein hübsches junges Mädchen trat ein. Ihr rotblondes Haar fiel über die schmalen Schultern. „Die Geniti Glinni sind unterwegs“, flüsterte das Mädchen. „Geh zurück in dein Zimmer, Ellen“, sagte die Frau. 34
„Nein, ich muß hinaus. Ich muß Billy suchen.“ Ellen hatte mich noch nicht bemerkt. Von ihr ging eine noch grauenvollere Ausstrahlung aus, als von ihrer Mutter. Ellen mußte geistesgestört sein, und diese Ausstrahlung war für Mitglieder der Schwarzen Familie unerträglich. „Ich will die Side suchen, die Billy geraubt hat.“ Die Frau packte ihre Tochter und schob sie durch die Tür in den Nebenraum. „Ellen glaubt, daß ihr Sohn Billy von einer Side geraubt wurde. Er versank vor drei Jahren im Moor, und seither ist Ellen nicht mehr ganz richtig im Kopf.“ „Ich verstehe“, sagte ich. „Danke für die Warnung. Ich werde aber trotzdem…“ Wieder wurde die Tür geöffnet. Ellen wich ihrer Mutter geschickt aus, sprang einen Schritt zur Seite und lief auf mich zu. Jetzt erst nahm sie mich wahr. Überrascht blieb sie stehen. Ihr Gesicht verzerrte sich haßerfüllt. „Das ist sie!“ kreischte sie los. „Das ist die Side, die meinen Sohn geraubt hat.“ Sie sprang auf mich zu. Die Ausstrahlung des Wahnsinns machte mich hilflos. Ich konnte mich nicht bewegen. Rote Kreise drehten sich vor meinen Augen, und ich begann zu keuchen. Ellens Hände vergruben sich schmerzhaft in meinen Schultern. „Bring das Weihwasser, Mutter!“ brüllte das 35
Mädchen. „Wir nehmen diese verdammte Hexe gefangen!“ Ich konnte mich noch immer nicht bewegen. Alles um mich herum lief wie in Zeitlupe ab. Das Mädchen riß mich weiter in den Raum hinein. Ihr Gesicht sah für mich wie eine Teufelsfratze aus. „Laß sie los, Ellen!“ schrie die Mutter. „Laß sie sofort los!“ Ich hörte alles nur noch ganz leise, als hätte mir jemand Watte in die Ohren gestopft. Ich fiel auf die Knie, und das Mädchen heulte begeistert auf. Ich sah wie durch einen Schleier hindurch, daß sie nach dem Fläschchen mit Weihwasser griff und es entkorkte. Verzweifelt versuchte ich meine Fähigkeiten einzusetzen, doch es gelang mir nicht. „Was geht hier vor?“ hörte ich eine Männerstimme. „Ellen glaubt, daß dieses Mädchen die Side ist, die Billy geraubt hat.“ „Geh sofort in dein Zimmer, Ellen!“ Schwere Schritte kamen näher. Ich nahm alle Kraft zusammen und stand schwankend auf. Ein rotgesichtiger Mann ging an mir vorbei, nahm Ellen das Fläschchen aus der Hand und stieß die wild schreiende und sich heftig wehrende Wahnsinnige ins Nebenzimmer. Augenblicklich drehte ich mich um und rannte ins Freie, als wären Millionen Teufel hinter mir her. 36
Ich stürzte auf den Wagen zu, riß die Tür auf und ließ mich hineinfallen. „Los, fahr sofort los!“ keuchte ich, dann brach ich ohnmächtig zusammen. Lange konnte ich nicht bewußtlos gewesen sein. Mein Kopf dröhnte, als würden in ihm gleichzeitig ein Dutzend Glocken geläutet. „Du siehst aus, als wärst du dem Leibhaftigen begegnet“, meinte Rebecca. „Was ist geschehen?“ Ich atmete ein paarmal kräftig durch, dann blickte ich mich um. Wir standen mitten auf einem Feldweg, unweit einer Ruine. „Vor dem Leibhaftigen hätte ich keine Angst gehabt“, meinte ich, „aber vor dem wahnsinnigen Mädchen im Haus fürchtete ich mich wirklich. Dazu kamen noch Weihwasser, Kreuze und ein Rosenkranz.“ „Das muß tatsächlich fürchterlich gewesen sein“, sagte Rebecca mitfühlend. „Es war es“, keuchte ich. „Wäre nicht der Mann gekommen… Hm, das war knapp. Ich muß in Zukunft vorsichtiger sein. Hier haben wir es mit gläubigen Menschen zu tun, und ihr Glaube kann Berge versetzen und uns umbringen.“ „Ich hätte dich warnen sollen“, sagte Rebecca zerknirscht. „Ist schon gut“, murmelte ich. „Ich habe einiges über das Schloß erfahren. Es soll verflucht sein. Ein Poltergeist – oder wie ihn die Frau genannt hat, ein Boccanach – soll dort sein Unwesen treiben. Sie wollte mir nicht 37
sagen, wo sich die Ruine befindet. Wir müssen weitersuchen.“ „Geht es dir schon besser, Coco?“ fragte Rebecca besorgt. „Ja, jetzt geht es mir besser. Fahr los.“ Unsere Suche nach Dunbrody Castle dauerte mehr als eine Stunde. Wir waren ein paarmal im Kreis herumgefahren, und dann hatte Rebecca zufällig den richtigen Weg entdeckt. Irgendwann einmal mochte die Burg eindrucksvoll gewesen sein, jetzt war sie es nicht mehr. Eine Ruine, noch dazu eine scheußliche, das war Dunbrody Castle. Sie stand auf einem kleinen Hügel, der ohne jede Vegetation war. „Das sieht ja wenig einladend aus“, meinte Rebecca. „Da sollen wir wohnen?“ Ich schwieg und beugte mich weiter vor. Früher mußte die Burg ein mächtiges Gebäude gewesen sein, jetzt war es nur eine Ansammlung von grauschwarzen Steinen. Unweit der Burg erhob sich ein Turm, der we sentlich älter als die Burg sein mußte. Rebecca stieg plötzlich auf die Bremse, und ich prallte fast mit der Stirn gegen die Windschutzscheibe. „Was ist denn?“ fragte ich und wandte den Kopf. Nun sah ich es. Einige Meter vor uns kämpften zwei vollbärtige Krieger, die altertümlich gekleidet waren. Deutlich war das Aufeinanderklirren der großen Schwerter zu hören. Dieses Bild war wenige Sekunden zu 38
sehen gewesen. Jetzt lag nur der schmale Weg vor uns, der zur Ruine führte. „Hast du auch die beiden Krieger gesehen, Coco?“ erkundigte sich Rebecca verblüfft. Sie blickte mich forschend an. „Ja, ich habe sie auch gesehen“, sagte ich. „Die Frau hatte von den kämpfenden Kriegern erzählt. Ich steige aus und sehe mir ein wenig die Gegend an. Du fährst in der Zwischenzeit zur Burg. Betritt sie aber nicht.“ Rebecca nickte. Ich stieg aus dem Wagen und sah mich um. Rebecca fuhr langsam auf die Burg zu. Nach ein paar Schritten hatte ich die Stelle erreicht, wo sich die Kämpfenden befunden hatten. Den Boden suchte ich ganz genau ab, konnte aber keine Spuren entdecken, doch damit hatte ich auch nicht gerechnet. Langsam ging ich auf den etwa zehn Meter hohen runden Turm zu. Schon nach wenigen Schritten spürte ich eine Ausstrahlung, die mir nur zu bekannt war. Im Turm befand sich ein Zeitschacht! Sofort fiel mir das Gespräch mit Oirbsen ein, der mir vor ein paar Tagen einige Fragen über die Zeitschächte gestellt hatte. Vor wenigen Wochen hatte ich das erstemal in meinem Leben einen Zeitschacht gesehen. Das war in der geheimnisvollen Maya-Stadt im Dschungel Guatemalas gewesen. Diese typische Ausstrahlung wurde mit jedem Schritt stärker. Ich vermied es, in die Nähe des Turmes zu gelangen, sondern 39
machte einen kleinen Umweg. Rebecca hatte den Porsche vor dem Burgtor abgestellt. Ich blieb stehen und musterte die Ruine. Aus der Nähe sah sie noch scheußlicher aus. Das Burgtor und die wenigen erhaltenen Fenster sahen wie dunkle Augenhöhlen aus. Von der Burg ging ein penetranter Geruch aus. „Sehen wir uns mal die Burg an“, sagte ich, als ich den Wagen erreicht hatte. „Irgend etwas stimmt mit dieser Ruine nicht“, meinte Rebecca. Ich blickte sie fragend an. „Während ich auf dich wartete, fiel mir etwas auf: Hier werden alle Geräusche verschluckt“. „Wie meinst du das?“ fragte ich. „Paß auf, Coco“, sagte Rebecca, bückte sich und hob einen Stein auf. Sie warf ihn an die Ruine, und der Stein prallte ab und fiel zu Boden. Tatsächlich, es war kein Geräusch zu hören gewesen. Dann ging sie ein paar Schritte. Steine bewegten sich unter ihren Füßen, doch auch hier war kein Geräusch zu vernehmen. „Das ist allerdings seltsam“, sagte ich und ging auf das Burgtor zu. Der faulige Geruch wurde stärker. Ich mußte über einige große Steine klettern, dann hatte ich den großen Burghof erreicht. Der Bergfried war eingestürzt, die Trümmer lagen über den ganzen Hof verstreut. Das Dach der Kemenate war eingebrochen, das Mushaus und die anderen Wirtschaftsgebäude 40
waren Trümmerhaufen, doch der langgestreckte Palas schien nur wenig beschädigt zu sein. „Es ist kalt“, stellte Rebecca sachlich fest. Tatsächlich, sie hatte recht. Hier war es um einige Grade kälter als außerhalb der Burg. Wir betraten den Palas. Modergeruch hing in der Luft. Der Steinboden war mit einer dicken Schicht Staub bedeckt. Deutlich waren einige Fußspuren zu sehen, die alle in das Innere des Gebäudes führten. Doch keine der Spuren führte zurück zum Eingang. „Sieh dir die Spuren im Staub an, Rebecca.“ „Die Spuren sprechen eine deutliche Sprache, nicht wahr?“ Ich nickte langsam. Aus meiner Handtasche holte ich eine Taschenlampe und knipste sie an. Die meisten Fußspuren führten auf eine hohe Holztür zu, die kunstvoll verziert war. Ich leuchtete die kahlen Wände ab. „In solchen alten, verlassenen Gebäuden findet man normalerweise unzählige Spinnennetze“, sagte ich. „Hier sind keine zu sehen.“ „Und eigentlich sollte man das Klappern unserer Schuhe auf dem Steinboden hören“, sagte Rebecca. „Doch irgend etwas verschluckt die Geräusche.“ Diese Burg war ziemlich geheimnisvoll, doch das erweckte meine Neugierde. Ich öffnete die Holztür, blickte in den dahinterliegenden Raum und leuchtete ihn aus. Der Schein der Taschenlampe fiel auf 41
eine geschwärzte Wand, an der einige altertümliche Waffen hingen. Dann glitt der Lichtstrahl zu einem riesigen Eichentisch hin, auf dem Teller und Gläser standen. Ich trat ein und meine Augen weiteten sich. Auf einem schweren Holzstuhl saß ein Skelett. Die Kleider der Toten waren gut erhalten. Der Totenschädel schien mich anzugrinsen. Die Knochenhände lagen auf der Tischplatte. „Das ist alles ziemlich unheimlich“, flüsterte Rebecca. Ich schritt langsam auf den Tisch zu, um den ein halbes Dutzend Stühle stand, in denen Skelette saßen. Es waren drei Männer und drei Frauen, alle mit Kleidern bekleidet, die nur wenige Jahre alt sein konnten. „Was hältst du davon, Rebecca?“ fragte ich. „Laß uns umkehren“, sagte Rebecca drängend. Ich lachte. „Irgend jemand will uns Angst einjagen“, sagte ich. „Aber vor Skeletten habe ich mich noch nie gefürchtet.“ Ich drehte mich um, legte einen Arm um Rebecca und ging mit ihr aus dem makabren Zimmer. „Ich bin gespannt, was uns hier noch für Überraschungen erwarten“, sagte ich, als wir den Gang weiter ins Innere des Palas gingen. „Ich bin nicht so neugierig“, meinte Rebecca verängstigt. Ich leuchtete die Wände an. Immer wieder 42
kamen wir an Türen vorbei, die aber alle abgesperrt waren. Dann lag ein breiter Treppenaufgang vor uns. Wir blieben stehen, und ich sah mir den Boden an. Hier waren keine Fußspuren zu sehen. Wir blickten uns im ersten Stockwerk um. Einige der Räume waren völlig leer, doch es gab drei, die komplett eingerichtet waren. Es handelte sich um Schlafzimmer, in denen Schränke und Himmelbetten standen. In das zweite Stockwerk konnten wir nicht gelangen, da der Stufenaufgang eingestürzt war. „Wir werden es uns in einem der Schlafzimmer bequem machen“, sagte ich. „Du willst hierbleiben?“ fragte Rebecca entsetzt. „Natürlich“, antwortete ich. „Wir werden hier auf Oirbsen warten. Außerdem hast du Eric befohlen, daß er diese Nacht hierherfliegen soll.“ „Das ist nicht so wichtig“, meinte Rebecca. „Eric findet mich auch, wenn ich mich irgendwo hier in der Umgebung einquartiere.“ „Du brauchst nicht hierzubleiben, Rebecca“, sagte ich sanft. „Fahr nach New ROSS und such dir dort eine Unterkunft für die Nacht.“ „Ich will dich nicht allein lassen, Coco.“ „Du kannst mir hier nicht helfen, Rebecca.“ Rebecca zögerte. „Nein, ich bleibe bei dir.“ „Überlege es dir gut, Rebecca“, sagte ich. „Ich habe es mir schon überlegt. Ich bleibe bei dir.“ „Nun gut“, sagte ich. „Wir benötigen aber 43
einige Gegenstände und vor allem etwas zu essen. Du fährst in die Stadt und besorgst alles, während ich mich in der Burg umsehe.“ Ich hatte Rebecca zum Wagen gebracht und mit ihr vereinbart, daß ich sie in zwei Stunden vor der Burg erwarten würde. Ich wartete, bis sie losgefahren war, dann trat ich wieder in den Burghof. Zuerst untersuchte ich die eingestürzten Gebäude, doch ich fand nichts Interessantes. Danach betrat ich wieder den Palas. Der Reihe nach konzentrierte ich mich auf die versperrten Zimmer, und mit meinen magischen Fähigkeiten gelang es mir, die verschlossenen Türen zu öffnen. Doch auch hier machte ich keine aufschlußreiche Entdeckung. Die Räume, die ich betrat, waren meistens leer, nur in einigen wenigen hatte ich Truhen und Schränke entdeckt, in denen ich aber nur unwichtige Gebrauchsgegenstände fand. Schließlich öffnete ich aber eine Tür, hinter der sich eine steile Wendeltreppe befand. Faulige Luft schlug mir entgegen. Die Stufen waren feucht und glitschig. Einen Augenblick zögerte ich, doch dann stieg ich kurzentschlossen die Treppe hinunter. Mit jedem Schritt wurde die Luft stickiger. Dann war die Treppe zu Ende, und ein gewaltiges Gewölbe lag vor mir, das angefüllt mit Skeletten war. Ich blieb nur wenige Minuten und sah mich flüchtig um. Ich durchsuchte weiter den Palas, entdeckte 44
aber nichts Außergewöhnliches. Im ersten Stockwerk inspizierte ich nochmals die drei eingerichteten Zimmer und entschied mich für eines, in dem wir uns häuslich niederlassen wollten. Es war das erste Zimmer neben dem Treppenaufgang. Das Fenster führte in den Hof. Die Scheiben waren zer brochen. Der Tür gegenüber stand das Himmelbett, in dem bequem fünf Leute schlafen konnten. Am Fußende des Bettes war ein runder Tisch mit zwei Sesseln, und neben dem Fenster stand ein bunt bemalter Holz schrank. Die Wände waren rissig und grau. Ein wenig anheimelndes Zimmer, aber für ein paar Stunden würden wir es hier schon aushalten können. Rebecca hatte die Dinge besorgt, die wir benötigten. Als es dunkel wurde, steckte ich eine der Sturmleuchten an. Meine Freundin kochte auf einem Spirituskocher Wasser und braute einen starken Tee, den wir dringend benötigten, da es immer kälter im Zimmer wurde. „Dieser Oirbsen hat sich einen ziemlich seltsamen Ort für eure Verabredung ausgesucht“, brummte Rebecca und reichte mir eine Tasse Tee. „Vermutlich befindet sich eines der Siegel, die ich suchen muß, ganz in der Nähe“, sagte ich und trank einen Schluck. Rebecca setzte sich mir gegenüber. Im fahlen Licht der Sturmleuchte sah sie überirdisch schön aus. 45
„Du hast mir gesagt, daß sich Merlin in Gefahr befindet, Coco. Was ist das für eine Gefahr?“ „Darüber habe ich schon oft nachgedacht, doch ich weiß es nicht. Auf Gorshats Schloß wollte ich Merlin um Hilfe bitten. Ich rief ihn an, und er meldete sich auch. Doch er konnte mir nicht helfen. Merlin sagte mir, daß er sich selbst in arger Bedrängnis befinde. Er brauche Hilfe. Irgend etwas Furchtbares sei gesche hen, und er könne sich nicht selbst aus seiner mißlichen Lage befreien. Dann verschwamm das Bild, ich sah ihn einige Zeit nicht, doch dann sprach er weiter. Er bat mich, ihm zu helfen. Seine letzten Worte, die ich verstehen konnte, waren: ,Ich spüre… mich Schwäche überkommt… bald aus… aber wisse, daß ein Bote zu dir unterwegs ist, der… alles Weitere mitteilen… Du wirst ihn erkennen an…’ Danach war die Verbindung endgültig unterbrochen.“ „Er hat dir also nicht sagen können, wie du seinen Boten erkennen kannst?“ fragte Rebecca eifrig. „Nein, ich weiß nicht, wie ich den Boten erkennen kann. Aber der Bote ist Oirbsen.“ „Bist du da ganz sicher?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Alles weist darauf hin, daß er der Bote ist. Eine absolute Sicherheit habe ich natürlich nicht. Oirbsen behauptet, daß er Merlins Bote sei. Bisher hatte ich keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln.“ „Was hat er dir sonst noch erzählt?“ 46
„Oirbsen behauptet, daß Merlin im centro terrae gefangen gehalten wird. Angeblich ist Oirbsen schon seit vielen hundert Jahren ein treuer Diener Merlins, der schon seit einer kleinen Ewigkeit in der Hölle gefangen ist. Aber seit kurzer Zeit konnte auch Oirbsen keinen Kontakt mehr mit Merlin herstellen. Er bat mich um Hilfe. Ich soll Merlin retten.“ „Und wie soll das möglich sein?“ „Ich muß die Sieben Siegel finden“, antwortete ich. „Dabei handelt es sich um sieben magische Gegenstände, jeder für sich ein Machtpotential, die zusammen den Schlüssel zu Merlins Gefängnis darstellen. Einer davon ist der Signatstern, den ich dir bereits gezeigt habe.“ Unwillkürlich griff ich an die Brust und spürte den geheimnisvollen Kristall, dessen Kräfte ich nicht einmal ahnen konnte. „Hier auf Dunbrody Castle sollst du nun das zweite Siegel finden?“ „Das hoffe ich.“ Rebecca sprang plötzlich auf und ging zum Fenster. „Eric kommt“, sagte sie lächelnd. Die Vampirin ist auf unerklärliche Weise mit ihren Geschöpfen verbunden. Jeder der Fledermausmenschen kann sie immer und überall finden. Es dauerte nur wenig Minuten, und Eric landete auf dem Fensterbrett. Das abstoßend häßliche Geschöpf führte sich wie ein Hund auf, der seine Herrin eine Ewigkeit nicht 47
gesehen hat. Nach der stürmischen Be grüßung flog das Scheusal auf mich zu, umkreiste mich einmal und zeigte auch mir seine Ergebenheit. Dann flog er auf den Schrank, faltete die großen Flügel zusammen und ließ Rebecca nicht aus den Augen. „Eric soll die Ruine beobachten“, sagte ich. „Sobald er bemerkt, daß sich jemand ihr nähert, soll er dich sofort verständigen.“ „Das ist eine gute Idee“, freute sich Rebecca. Sofort erteilte sie Eric die notwendigen Befehle. Das Fledermausgeschöpf flog aus dem Fenster, und Rebecca setzte sich wieder nieder. Ihre Laune hatte sich mit Erics Eintreffen spürbar gebessert. Nun fühlte sich die Vampirin sicher. Aus einer Tragtasche holte sie ein paar Sandwiches hervor, die sie auf den Tisch stellte. Die Sandwiches waren trocken, trotzdem würgte ich drei hinunter. Rebecca schenkte Tee nach. Sie stellte die Kanne ab und blickte zum Fenster. Ihre Stirn runzelte sich. „Was ist los, Rebecca?“ „Irgend etwas Seltsames geht mit Eric vor“, sagte sie erregt, stürzte zum Fenster und beugte sich hinaus. Ich stand auf und blieb neben ihr stehen. Der Himmel war bedeckt. Der Burghof war in undurchdringliche Dunkelheit gehüllt. „Ich kann keinen Kontakt zu Eric bekommen“, flüsterte Rebecca entsetzt. „Ist dir das schon früher passiert?“ 48
„Noch nie“, sagte sie aufgeregt. „Ich spüre, daß sich Eric in Gefahr befindet. Wir müssen ihm zu Hilfe kommen.“ „Nur mit der Ruhe“, sagte ich scharf, als sie aus dem Zimmer stürzen wollte, und ergriff ihren rechten Arm. „Laß mich los, Coco. Ich muß Eric…“ „Wo willst du ihn denn suchen?“ Sie starrte mich einen Augenblick böse an, dann nickte sie langsam und preßte die Lippen zusammen. „Du hast recht“, flüsterte sie. „Konzentriere dich lieber, Rebecca. Vielleicht gelingt es dir, doch mit ihm Kontakt zu bekommen.“ Wieder ging sie zum Fenster und starrte angestrengt in die Dunkelheit. Nach ein paar Minuten begann sie unnatürlich laut zu stöhnen, ihre Hände verkrallten sich im Fensterrahmen. Dann sackte sie halb zusammen, ließ das Fenster los und fiel rücklings auf den Boden. Sie wand sich hin und her, so als wäre sie von einem bösen Geist besessen. Entsetzt starrte ich meine Freundin an. Ihre Augen schienen aus den Höhlen quellen zu wollen. Ich kniete neben ihr nieder. Der Anfall war so rasch vorbei, wie er gekommen war. Wimmernd setzte sich Rebecca auf, und ich legte ihr tröstend einen Arm um die Schultern. „Eric ist gefangen“, schluchzte Rebecca. „Hast du Kontakt mit ihm bekommen?“ 49
„Nein“, stöhnte sie. „Es ist ganz anders. Ich kann es dir kaum erklären.“ „Dann versuche es wenigstens“, sagte ich sanft. Ich half ihr beim Aufstehen und führte sie zum Bett. Sie setzte sich und schloß die Augen. „Weißt du, was der Ausdruck Reperkussion bedeutet?“ „Ja. Das ist ein Begriff aus dem Mediumismus. Es bedeutet, daß dem Ektoplasma zugefügte Schmerzen auf das Medium zurückschlagen.“ „So etwas Ähnliches geschieht mit mir“, erklärte Rebecca. „Früher glaubten die Menschen, daß man eine Hexe verletzen und sogar töten könne, wenn man ihrer Begleiterin, der schwarzen Katze, Wunden zufügt. Und so ist es bei mir. Wenn eines meiner Geschöpfe gequält wird, dann spüre ich die Schmerzen. Deshalb weiß ich, daß Eric gefangen wurde. Und im Augenblick quält ihn jemand.“ Rebecca riß die Arme hoch. Auf ihrer Stirn war plötzlich ein Schnitt zu sehen, der stark zu bluten begann. Dann floß Blut aus Wunden auf ihren Wangen, dem Kinn und den Ohrläppchen. „Diese Bestie martert Eric.“ Rebecca heulte gequält auf. „Wir müssen ihn finden, denn sonst bin ich verloren.“ Die Situation war viel ernster, als ich es befürchtet hatte. Eric mußte sich in der Nähe 50
befinden, aber wo wurde er gefangen gehalten? Rebecca wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Die Wunden begannen sich rasch zu schließen. „Die Verletzungen stören mich nicht sehr“, meinte Rebecca und stand auf. „Sie verheilen innerhalb einer Stunde. Aber der Blutverlust kann mein Tod sein.“ „Unser Gegner foltert im Augenblick Eric nicht“, sagte ich. „Nimm die Sturmlaterne, Rebecca.“ Ich holte eine zweite hervor und zündete sie an. Dann traten wir auf den Gang hinaus. Ich lief die Treppe hinunter, und Rebecca folgte mir. Als ich die letzte Stufe erreicht hatte, blieb ich entsetzt stehen. Die sechs Skelette, die wir vor wenigen Stunden noch im großen Saal um den Tisch sitzen gesehen hatten, waren zu unmenschlichem Leben erwacht! „Bleib stehen, Rebecca!“ rief ich. Ich stieg zwei Stufen hoch. Die Skelette streckten mir die Knochenhände entgegen, betraten aber nicht die Treppe. Es war ein schauriger Anblick, als die Untoten sich langsam bewegten. Die Kiefer öffneten und schlossen sich unentwegt. Und in diesem Augenblick begann Rebecca wieder zu stöhnen. Ich warf ihr einen raschen Blick zu. Sie blutete wieder aus einer Stirnwunde. 51
Die Gerippe versperrten mir den Weg. Ich war sicher, daß sie auf mich losgehen würden, sollte ich versuchen, die Treppe zu verlassen. Ich mußte die Untoten ausschalten, und da gab es nur eine Möglichkeit, die mir blieb. Schädel und Knochengerüste durften keine Einheit mehr bilden. Eine andere Möglichkeit wäre das Feuer gewesen. Ich hätte sie auch verbrennen können, aber das schied in diesem Fall aus. Rebecca wimmerte weiter. Ich mußte mich in den rascheren Zeitablauf versetzen, was ich auch sofort tat. Das war eine der ungewöhnlichsten Fähigkeiten, über die unsere Sippe verfügte. Ich tauchte in die andere Dimension ein. Für meine Umwelt war ich im Augenblick nicht sichtbar. Ich bewegte mich in einem rasenden Tempo. Zwei der Skelette stieß ich zur Seite, dann rannte ich in den großen Saal, stürzte auf die Wand zu und ergriff eine Waffe. Hinter den Untoten verfiel ich in den normalen Zeitablauf. Die Sturmlaterne stellte ich auf den Boden, und dann begann ich meine schaurige Arbeit. Mit zwei Hieben fielen zwei der Skelette, in sich zusammen. Die anderen wirbelten herum, und wieder ging es in die andere Dimension. Auch diesmal tauchte ich hinter ihnen auf, und ich schlug zu. Wieder brachen zwei zusammen. Das fünfte Skelett traf ich nicht so gut. 52
Eine Knochenhand verkrallte sich in meinem Haar, und wieder schlug ich zu. Natürlich hätte ich mich wieder in die andere Zeitdimension versetzen können, doch das tat ich nicht gern. Denn jedesmal, wenn ich in die andere Zeitebene glitt, schwächte dies meinen Körper. Ich sprang einen Schritt zurück und schlug von unten nach oben zu. Mit Erfolg. Nun kam mir die Ausbildung zu statten, die ich auf der Burg meines Patenonkels Cyrano von Behemoth erhalten hatte. Fünf endlos lange Jahre war ich von ihm geschunden worden. Er hatte darauf bestanden, daß ich Fechten lernte, denn er hatte eine Vorliebe für mittelalterliche Waffen gehabt. Bogenschießen, Speerwerfen und Fechten – das alles hatte ich täglich zu üben gehabt. Außerdem hatte er mir reiten und schwimmen beigebracht, während Sandra Thorton, seine Hexengefährtin, mir die Grundbegriffe der Magie beibrachte. Ich wartete ruhig, bis das sechste Skelett auf mich losging, duckte mich, wirbelte herum und vollendete mit einem Hieb mein Werk. „Wie hast du das geschafft?“ fragte Rebecca schaudernd, als sie über die Skelette stieg. Ich ignorierte ihre Frage. „Hast du endlich Kontakt mit Eric bekommen?“ „Nein“, sagte sie kläglich. Im Augenblick sah sie alles andere als hübsch aus. Ihr Gesicht war blutverkrustet. Ich hob die Sturmlaterne auf und hielt sie in 53
der linken Hand. Mit der rechten umklammerte ich die Waffe. Vielleicht konnte ich sie noch brauchen. Wo sollte ich mit der Suche beginnen? „Eric muß ganz in der Nähe sein“, sagte Rebecca erregt. „Ich habe kurz Kontakt mit ihm bekommen.“ „Versuche es weiter, Rebecca.“ Wir gingen den Gang entlang, und ich blickte in die Zimmer, die ich schon am Nachmittag untersucht hatte. Sie waren leer. Vielleicht wurde Eric im Gewölbe festgehalten, in dem sich die Knochen befanden? Wir stiegen die Treppe hinunter. „Ja, wir sind auf dem richtigen Weg“, flüsterte Rebecca. Dann stöhnte sie wieder auf. Blut tropfte aus ihrer linken Handfläche. Als ich das mit den Skeletten angefüllte Gewölbe betrat, spürte ich eine schwache dämonische Ausstrahlung, die von rechts kam. Ich leuchtete die Wand ab, die aus grobbehauenen Steinblöcken bestand. Die Ausstrahlung wurde stärker, doch plötzlich verschwand sie. „Eric ist ganz nahe“, sagte Rebecca. „Er befindet sich hinter dieser Wand!“ Ich reichte Rebecca meine Lampe und begann mit der Waffe die Wand abzuklopfen. Aber auch hier wurden die Geräusche verschluckt. Wütend strich ich nun mit der linken Handfläche über die rauhe Wand. Ir 54
gendwo mußte es einen Mechanismus geben, der den Geheimeingang freigab. Und plötzlich bewegte sich die Wand. Geräuschlos schwang ein Teil der Wand zurück und gab den Blick in eine mittelalterliche Folterkammer frei. Rasch nahm ich die Sturmlaterne an mich und trat in die Folterkammer. Rebecca folgte mir. Wir kamen an einem Streckbrett vorbei. An der dahinterliegenden Wand erblickte ich einige Halseisen, Folterbirnen und schwere Eisenketten. Rebecca rannte an mir vorbei, und ich folgte ihr. Sie stieß einen schrillen Schrei aus, als sie Eric erblickte, der zusammengesackt in einem Stuhl saß. Das Fledermausgeschöpf blutete und war bewußtlos. Rebecca löste die Fesseln, dann trug sie Eric zu einem Tisch, auf den sie ihn legte. „Wer hat das getan?“ fragte sie mit zittriger Stimme. Das war eine gute Frage, auf die ich leider keine Antwort wußte. Ich sah mir die Folterkammer an. Nirgends war eine Tür zu sehen, aber möglicherweise gab es noch andere Geheimgänge. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß sich die Wand wieder schloß. Bevor ich mich noch in den ra scheren Zeitablauf versetzen konnte, griff eine unsichtbare Hand nach meinem Nacken und riß an meinem Haar. Sofort wirbelte ich herum, konnte aber nichts 55
sehen, doch ich spürte die dämonische Ausstrahlung, die ich schon vorhin bemerkt hatte. Der Griff um meinen Nacken verstärkte sich. Ich versuchte die unsichtbare Hand abzuschütteln, doch es gelang mir nicht. Der unsichtbare Gegner versuchte nun meine Kehle zusammenzupressen. Blitzschnell glitt ich in die andere Zeitdimension. Nun konnte ich die unsichtbare Hand abschütteln. Hastig trat ich zwei Schritte zurück. Ich sah ein bläuliches, schemenhaftes Gebilde, das auf einem der Streckbretter saß. Von ihm gingen unzählige tentakelförmige Arme aus, die nach mir griffen. Ich hatte es mit einem Gasdämon zu tun, einem Geschöpf, das mir bisher noch nie begegnet war. Ich hatte gehört, daß es solche Monster geben sollte, die sich hauptsächlich in verlassenen Gebäuden aufhielten. Sie konnten sich unsichtbar machen. Rasch rief ich mir ins Gedächtnis zurück, was ich über die Gasdämonen wußte. Ich sah deutlich meine Lehrerin Sandra Thornton vor mir. Sie war mindestens zweihundert Jahre alt, trotzdem sah sie nicht älter als dreißig aus. Ihr Gesicht war bleich und rund wie der Vollmond. Das rotbraune Haar fiel in unzähligen Locken über den schmalen Rücken. „Heute beschäftigen wir uns mit den Dämonen der Luft“, sagte sie und musterte mich. „Was weißt du über sie, Coco?“ 56
„Sie sind den Mitgliedern der Schwarzen Familie gut gesinnt“, antwortete ich. „Kennt man die notwendigen Evokationsformeln, dann kann man sie leicht beherrschen.“ „Richtig“, sagte Sandra. „Einige Hexer haben Macht über die Luftdämonen. Sie können sie jederzeit rufen. Die magischen Kräfte der Luftdämonen sind nicht besonders stark ausgeprägt. Da sie sich aber unsichtbar machen können, werden sie auch gelegentlich uns gefährlich. Ihre Ausstrahlung ist der unseren sehr ähnlich. Hat man es einmal mit einem Luftgeist zu tun gehabt, erkennt man seine Nähe sofort, auch wenn er sich unsichtbar gemacht hat. Wie kann man nun so einen Luftgeist beherrschen?“ Ich zuckte die Schultern. „Man muß den Gasdämon in den Evokationskreis der vier Elemente bannen. Noch besser ist es, wenn man ihn in eine magische Kugel einschließt, daraus kann er sich aus eigener Kraft nicht befreien.“ Ich kehrte wieder in die Gegenwart zurück. Nun würde es sich ja innerhalb weniger Minuten erweisen, ob Sandras Lehren richtig gewesen waren. Augenblicklich zog ich mit einer magischen Kreide den Evokationskreis der vier Elemente auf den Boden. Den Kreis teilte ich in Viertel auf und malte in jedes der Viertel ein Pentagramm. Nun malte ich in das Viertel, das für das Element der Luft gedacht war, einige Namen der Wesen für die Luft: Itumo, Tapeth, 57
Oriman und Aphitaph. Mit dem rechten Fuß stellte ich mich nun in das Viertel für das Element Feuer, den linken setzte ich das Viertel für das Element Wasser. Die linke Hand legte ich flach in das Viertel für das Element Erde. Mit der rechten Hand holte ich eine kaum erbsengroße magische Kugel aus meiner Handtasche und ließ sie in das Viertel für das Element Luft fallen. Dann versetzte ich mich in die normale Zeitebene. Der Luftdämon war sofort in rotes Licht getaucht. Deutlich war seine unmenschliche Gestalt zu sehen. Die langen tentakelartigen Arme zogen sich zurück. Panikartig wollte das seltsame Geschöpf fliehen. Nun sprach ich die Formel, die mich Sandra gelehrt hatte: „Spiritus dei ferbatur super aquas, et inspiravit in faciem hominis spiraculum!“ Der Luftgeist krümmte sich zusammen. Er schrumpfte innerhalb weniger Sekunden und war nun kaum mehr fußballgroß. „Sit Michael dux meus“, sprach ich weiter, „et Sabtabiel servus meus, in luce et per lucem.“ Mit der rechten Hand packte ich nun die winzige magische Kugel und warf sie in die Luft. Ich schrie nur ein Wort: „Aphitaph!“ Und die Wirkung war verblüffend. Der Luftdämon raste auf die magische Kugel zu und verschwand darin. Langsam schwebte 58
die Kugel zu Boden und blieb im Viertel für das Element Luft liegen. Der Gasdämon war für alle Zeit ausgeschaltet. Rebecca hatte mir fassungslos zugesehen. „Langsam bekomme ich Angst vor dir“, sagte sie leise. „Es ist einfach unglaublich, über welche Fähigkeiten du verfügst.“ Ich lächelte schwach. „Ich hatte eine gute Lehrerin“, sagte ich leise. „Danke, Sandra“, flüsterte ich fast unhörbar. Eric war noch immer bewußtlos. Diesmal hatte ich keine Schwierigkeiten, den Geheimeingang zu finden. Rebecca trug Eric. Ich war müde und fühlte mich völlig ausgelaugt, als wir unser Zimmer erreichten. Rebecca legte den schwerverletzten Eric auf das Bett und behandelte seine Wunden. Ich setzte mich nieder und schloß die Augen. Am liebsten hätte ich ein paar Stunden geschlafen, um zu neuen Kräften zu gelangen, doch das durfte ich nicht tun. Ich mußte auf Oirbsen warten. Nach ein paar Minuten hob ich den Kopf und stand auf und trat auf den Gang hinaus. Die Sturmleuchte hatte ich mitgenommen. Oirbsen stapfte die Stufen hoch. Wie üblich war er mit Frack und Zylinder bekleidet. „Na, endlich kommst du“, sagte ich ungehalten. „Entschuldige“, sagte der Gnom und hob die 59
Hände. In der rechten Hand hielt er eine uralte Kupferschüssel. „Ich hatte noch einiges zu erledigen.“ Vor mir blieb er stehen und blickte mich prüfend an. „Du siehst müde aus, Coco“, stellte er sachlich fest. „Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?“ „Ich bin auch müde“, sagte ich. „Du hast uns da an einen feinen Ort gelockt, Oirbsen.“ „Wie meinst du das?“ fragte er mißtrauisch. „Hier auf dieser Ruine hauste ein Luftdämon. Hast du das gewußt?“ „Ja, das wußte ich. Aber er ist gegenüber Mitgliedern der Schwarzen Familie völlig harmlos. Hast du Schwierigkeiten mit ihm gehabt?“ „Das kann man wohl sagen“, knurrte ich. „Es gab einigen Ärger mit dem Luftgeist, aber ich konnte ihn besiegen.“ Oirbsen schüttelte verwundert den Kopf. „Was willst du mit dieser alten Kupferschüssel, Oirbsen?“ „Sie ist für unser Vorhaben äußerst wichtig“, flüsterte er geheimnisvoll. „Was soll ich tun?“ „Die Aufgabe ist ganz leicht“, sagte Oirbsen. „Du betrittst den Zeitschacht, der sich im Turm neben der Burg befindet. Dann wirst du…“ „Du bist wohl übergeschnappt“, sagte ich scharf. „Ich betrete unter keinen Umständen den Zeitschacht!“ „Aber du mußt! Nur so kannst du Merlin 60
helfen“, sagte er beschwörend. „Nein, das kommt nicht in Frage.“ „Du brauchst keine Angst zu haben, Coco. Ich gehe mit dir. Wir betreten gemeinsam den Schacht. Wir kehren in die Vergangenheit zurück. Dazu brauchen wir die Kupferschüssel. Sie wird uns ins richtige Jahr bringen. Du brauchst nur einen Gegenstand an dich zu nehmen: das zweite Siegel. Danach kommen wir sofort zurück. Das alles dauert keine zehn Minuten.“ „Und warum kannst du nicht allein in die Vergangenheit reisen, Oirbsen?“ „Du mußt das Siegel holen“, sagte er bestimmt. „Ich darf dir nur dabei helfen.“ Die Vorstellung, in die Vergangenheit zu gelangen, hatte etwas Faszinierendes an sich. „Komm, Coco“, drängte er, „wir haben keine Zeit zu verlieren. Komm schon!“ „Ich gebe nur Rebecca Bescheid“, sagte ich. Meine Freundin pflegte noch immer Erics Wunden. Ihr Gesicht sah wieder halbwegs normal aus. „Oirbsen ist gekommen“, sagte ich. „Ich gehe mit ihm. Es wird nicht lange dauern. In einer Stunde bin ich wieder zurück. Kann ich noch etwas für dich tun?“ Rebecca schüttelte den Kopf. „Sei vorsichtig“, sagte sie leise, „ich traue diesem Oirbsen nicht.“ „Ich werde schon auf mich aufpassen“, sagte ich lächelnd. Der Gnom betrat einen der Ecktürme. Nach 61
kurzem Suchen hatte er einen Geheimgang gefunden. „Von hier aus gibt es eine direkte Verbindung zum Zeitschachtturm“, sagte er. Es ging ein paar Stufen hinunter, dann erreichten wir den niedrigen Gang. Nach etwa zweihundert Metern ging es Stufen hoch. Nun spürte ich die charakteristische Ausstrahlung des Zeitschachtes. Unwillkürlich ging ich langsamer. „So komm schon, Coco“, drängte Oirbsen wieder. „Jede Minute ist kostbar. Wir müssen den Zeitschacht zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt betreten. Und wir haben nur noch knapp fünf Minuten Zeit dazu.“ Wir liefen in den Turm. Überdeutlich spürte ich die eisige Kälte, die von der kreisrunden Schachtöffnung ausging. „Nimm die Schlüssel an dich, Coco“, sagte Oirbsen und reichte sie mir. Ein paar Meter vor dem Zeitschacht blieben wir stehen. Nun bekam ich es doch mit der Angst zu tun. „Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte Oirbsen sanft, der meine Gedanken zu erraten schien. „Gib mir deine rechte Hand.“ Ich gab sie ihm, mußte mich dabei aber etwas bücken. Er umklammerte meine Finger. Langsam gingen wir auf den Schacht zu. Eine unerklärliche Kraft ging von der Öffnung aus. Ein unheimlicher Sog griff nach mir. Plötzlich ließ Oirbsen meine Hand los und sprang hinter mich. Er versetzte mir einen 62
Stoß in den Rücken, und ich taumelte einen Schritt vorwärts. Verzweifelt kämpfte ich gegen den immer stärker werdenden Sog an. Ich versuchte, in die andere Zeitdimension zu gleiten, aber es gelang mir nicht. Langsam wandte ich den Kopf. Oirbsen stand breitbeinig etwa zehn Meter von mir entfernt und lachte durchdringend. „Verdammte Närrin“, kicherte er. „Du bist rettungslos verloren.“ Immer rascher ging es auf die pechschwarze Öffnung zu. Ich ruderte mit den Armen umher und stemmte mich dem Sog entgegen, doch seine Kraft war stärker als die meine. Ich flog auf die Öffnung zu und verschwand in der undurchdringlichen Schwärze. Mein Körper wurde schwerelos. Ein seltsames Ziehen war in meinen Gliedern. Es war, als würde sich mein Körper in verschiedene Teile spalten. Das Ziehen in meinem Körper wurde stärker, schmerzhafter. Kein Laut war zu hören. Unheimliche Kräfte preßten sich gegen meine Stirn. Irgend etwas schlich sich in mein Gehirn. Dieser verfluchte Oirbsen, dachte ich, er war ein Verräter, er hat mich in eine Falle gelockt. Das waren meine letzten Gedanken, dann wurde ich bewußtlos… Ich öffnete die Augen und blickte in einen strahlendblauen Himmel. Es war angenehm warm. Ich lag auf dem Rücken und setzte mich langsam auf. 63
Einige Meter von mir entfernt erhob sich der Turm, in den mich Oirbsen gelockt hatte. Die Ruine war verschwunden. Im Hintergrund waren die bewaldeten Berge zu sehen. Die Blätter leuchteten rot und gelb. Ich stand auf, und jetzt wurde mir bewußt, daß ich völlig nackt war. In der rechten Hand hielt ich noch immer die Kupferschüssel umklammert, die mir Oirbsen gegeben hatte. Die Schüssel hatte sich verändert; sie sah nun so aus, als wäre sie eben erst gefertigt worden. Erleichtert atmete ich auf, als ich den Signatstern spürte. Er hatte sich nicht verändert, doch die Kupferkette sah ebenfalls wie neu aus. Ich war in der Vergangenheit gelandet, das stand für mich fest. Und es war Herbst. Die Luft war unglaublich würzig. Ich atmete tief durch und fühlte mich wie betrunken. „Verdammter Oirbsen“, knurrte ich vor mich hin. Mein Blick wanderte wieder zum Turm. Auch in dieser Zeit war er schon uralt. Die Steine waren verwittert, und das Dach war eingefallen. Der Zeitschacht hatte mich in die Vergangenheit gebracht. Konnte er mich auch zurück in meine Zeit bringen? Einen Augenblick spielte ich mit den Gedanken, in den Turm zurückzukehren und den Zeitschacht zu betreten. Aber das war sinnlos. Möglicherweise würde mich der Zeitschacht 64
noch weiter in die Vergangenheit tragen. Das konnte ich später noch immer tun. Ich blieb ein paar Minuten stehen und blickte über die mit Steinen übersäte Ebene. Überall wuchs saftiges Gras, und unzählige Ginstersträucher mit den unglaublich gelben Blüten waren zu sehen. Nirgends war ein Haus oder die Spuren von Menschen zu sehen. Wo sollte ich hingehen? Aber das war vorerst nicht so wichtig. Wesentlicher war, ob ich hier meine magischen Fähigkeiten einsetzen konnte. Sofort probierte ich in die andere Zeitdimension zu gleiten, aber das gelang mir nicht. Ich versuchte einige schwächere magische Beschwörungen, doch auch damit hatte ich keinen Erfolg. Meine Magie schien hier völlig wirkungslos zu sein. Ich konnte nur hoffen, daß es vorübergehend war und daß es mir nach einiger Zeit gelingen würde, meine Kräfte wieder einzusetzen. Ich griff nach dem Signatstern, der sich seltsam kühl anfühlte. Nach ein paar Sekunden begann er zu pulsieren und ein fremdartiger Schimmer ging von ihm aus, der aber bald erlosch. Nun fühlte sich der Kristall wieder körperwarm an. Schließlich ging ich langsam los. Ich hielt mich in Richtung der Berge. Alle paar hundert Meter blieb ich stehen und blickte mich aufmerksam um. 65
Die Sonne stand hoch am Himmel, nur gelegentlich sah ich in der Ferne einen Raubvogel, vermutlich ein Falke, der zu Boden stieß und wieder aufstieg. Als ich mich wieder einmal umblickte, erstarrte ich. Zwei Reiter näherten sich mir. Noch waren sie winzig klein, aber sie wurden rasch größer. Sie mußten mich erblickt haben, denn sie hielten genau auf mich zu. Nach und nach konnte ich Einzelheiten erkennen. Es waren zwei bärtige Männer, hinter denen das lange Haar flatterte. Die Pferde waren plump, klein und ähnelten Ackergäulen. Die Männer waren mit grobgewebten Wollumhängen bekleidet, die nicht gefärbt waren. Ihre Füße und Waden steckten in Riemensandalen. Als sie sich bis auf etwa hundert Meter genähert hatten, zügelten sie ihre Pferde und kamen im Schritt näher. Ich blickte ihnen furchtlos entgegen. Aber ich war nicht so furchtlos, wie ich mir den Anschein gab. Mein Herz schlug schneller. Die Männer sahen sich ziemlich ähnlich, vermutlich waren es Brüder. Ihr Haar war dunkelblond, die Barte waren fuchsfarben. Beide waren breitschultrig und sahen recht kräftig aus. „Wer bist du?“ fragte mich derjenige, der auf dem Aschschimmel saß. Erleichtert atmete ich auf. Wenigstens der Signatstern funktionierte. Ich konnte die hier 66
gesprochene Sprache verstehen. „Ich bin Coco Zamis“, sagte ich. Für mich klang es so, als hätte ich deutsch gesprochen, doch für die Männer war es verständlich gewesen. „Von welchem Clan bist du?“ fragte der zweite, der auf der dunkelbraunen Stute saß. „Vom Clan der Zamis“, sagte ich. „Von diesem Clan haben wir nie etwas gehört“, brummte der Mann auf dem Schimmel und ritt langsam näher. „Vermutlich ist sie eine entsprungene Sklavin“, sagte der andere und kam auch näher. „Das glaube ich nicht. Sieh dir ihr langes Haar an. Ich glaube eher, daß sie eine Hexe ist.“ „Du kannst recht haben, Bruder. Ihre Augen, sieh dir ihre Augen an.“ „Ich bin keine Sklavin“, sagte ich fest, „und auch keine Hexe. Ich komme aus einem fernen Land.“ „Das wird sich alles weisen.“ Der Mann auf dem Schimmel rammte die Fersen in die Flanken des Tieres, das auf mich zuraste. Der Mann beugte sich vor und wollte nach mir greifen, doch ich sprang geschickt zwei Schritte zur Seite. Nun preschte der andere heran. Er hatte sein breites Schwert gezogen und wollte mir mit der Breitseite über den Kopf schlagen, doch ich duckte mich und wich dem Hieb aus. Da war schon wieder der Schimmel heran. 67
Der Mann sprang geschickt herunter und landete zwei Schritte vor mir. Er ging etwas in die Knie, und ich handelte sofort. Wieder einmal mußte ich meinem Patenonkel dankbar sein. Er hatte mir mehr als nur die Grundbegriffe des Judos beigebracht. Der Mann fiel ohne einen Laut von sich zu geben kampfunfähig zu Boden. Es war keine Zeit zu verlieren, denn der zweite Mann stieß einen Wutschrei aus und ritt wild auf mich zu. In der rechten Hand schwang er sein Schwert. Ich riß das Schwert des Bewußtlosen aus der Scheide und richtete mich auf. Keine Sekunde zu früh. Schon war die Stute heran, und das Schwert zuckte auf mich zu. Ich hielt das Schwert mit beiden Händen gepackt. Es mußte mehr als zehn Kilogramm wiegen. Klinge prallte auf Klinge, daß die Funken stoben. Ich erwartete den neuerlichen Angriff. Der bärtige Bursche zog sein Pferd herum, und wieder stieß er einen Wutschrei aus, dann trieb er die schnaubende Stute auf mich zu. Er wollte mich einfach über den Haufen reiten. Überrascht starrte ich das Schwert an, das ich nun in der rechten Hand hielt: Es wurde immer leichter! Innerhalb von wenigen Sekunden war es so schwer wie ein Sportdegen. Das konnte nur der Signatstern ausgelöst haben. Aber ich hatte keine Zeit, mir darüber den Kopf zu zerbrechen, denn die Stute war nur 68
noch wenige Meter von mir entfernt. Ich lief drei Schritte zur Seite, doch der Mann dirigierte das Pferd auf mich zu. Ich blieb stehen und wartete, bis das Pferd sich bis auf fünf Meter genähert hatte. Ich sprang zwei Schritte zurück, duckte mich, und als das Pferd an mir vorbeischoß, sprang ich hoch. Ich landete auf der Kruppe, ließ das Schwert einfach fallen und klammerte mich an dem Mann fest. Er geriet aus dem Gleichgewicht. Er zügelte das Pferd, das nun in Schritt verfiel. Meine linke Hand verkrallte sich im dichten Haar des Mannes, und mit einem Ruck riß ich ihn aus dem Sattel. Wir fielen beide zu Boden, doch ich war rascher auf den Beinen. Bevor er sich halb aufgerichtet hatte, schlug ich ihn. Bewußtlos blieb er liegen. Schwer atmend blieb ich stehen. Die Pferde kümmerten sich nicht um mich. Sie begannen ungeniert zu grasen. Ich nahm die zwei Schwerter der Bewußtlosen an mich und rammte sie vor mir in den Boden. Meine Hände zitterten leicht. Jetzt hätte ich gern eine Zigarette gehabt. Die beiden Männer erwachten fast gleichzeitig. Beide schüttelten den Kopf und stießen grimmige Laute aus. Dann setzten sie sich auf und starrten mich böse an. „Bleibt sitzen“, sagte ich und zog eines der Schwerter aus dem Boden. „Sie ist eine Hexe“, knurrte der Bursche, 69
dem ich die Nase zerschlagen hatte. „Eine verdammte Hexe!“ „Wie heißt du?“ fragte ich ihn. „Borbcass“, antwortete er mißmutig. „Und das ist mein Bruder Baeth.“ „Ich hätte euch beinahe getötet“, sagte ich. Es schien mir gut zu sein, die beiden darauf hinzuweisen, daß ich sie besiegt hatte. „Tu es doch“, brummte Baeth. „Ich werde es nie verwinden können, daß ich von einem waffenlosen Weib besiegt wurde.“ „Sie ist eine verfluchte Hexe, Bruder“, sagte Borbcass. „Vergiß das nicht. Sie hat uns mit ihren Zauberkräften besiegt.“ Baeth knurrte etwas Unverständliches. „Welchem Clan gehört ihr an?“ „Dem Ditorba-Clan“, antwortete Baeth, der sich das Blut aus dem Gesicht wischte und seine schmerzende Nase betastete. „Und wer herrscht über das Land?“ „Du scheinst tatsächlich fremd zu sein“, meinte Baeth und wollte aufstehen. „Sitzenbleiben!“ sagte ich scharf und hob das Schwert. Er ließ sich zurücksinken und funkelte mich wütend an. „Beantworte meine Frage!“ „Finn, der Sohn des Cumal, herrscht über Almhuin.“ In einer der Sagen, die mir Rebecca erzählt hatte, war ein Finn vorgekommen. Angeblich war Oisin sein bekanntester Sohn gewesen. Ich wollte wissen, ob es sich um den Finn 70
handelte, den ich aus der Sage kannte. „Hat er einen Sohn namens Oisin?“ fragte ich. „Ja, das ist sein Sohn.“ Ich versuchte mir Einzelheiten der Sage ins Gedächtnis zu rufen, in der die beiden vorgekommen waren, doch es gelang mir nicht. Diese Sagen vermischten sich alle. „Ist es weit nach Almhuin?“ „Du mußt zwei Tage reiten“, antwortete Baeth. Ich überlegte kurz. Die Sagen schienen teilweise zu stimmen. Aber das half mir auch nicht viel weiter. Ich wußte nicht, in welchem Jahr ich gelandet war. Es mußte etwa um Christi Geburt sein. Vermutlich aber ein paar Jahre früher. „Kennt ihr Merlin?“ „Merlin? Nie gehört.“ „Schon mal was von den Römern gehört?“ „Wer sollen diese Römer sein?“ Ich seufzte. Die Römer hatten Irland vor ihrer Kolonisation verschont, aber ich war sicher, daß die Iren von ihrer Existenz gehört hatten. „Habt ihr Kontakt mit Albion und Gymru?“ fragte ich. Das waren die alten Namen für England und Wales. „Ja, den haben wir. Wir bekämpfen sie.“ „Kennt ihr Manannan mac Lir?“ Baeth nickte. „Er ist ein mächtiger Druide“, sagte er leise. „Er wohnt auf Inis Manann.“ Das war die Insel Man. Wieder dachte ich 71
nach. „Manannan mac Lir wird auch Oirbsen genannt“, meinte ich. „Davon weiß ich nichts“, brummte Baeth. „Wie komme ich zu Manannan mac Lir?“ „Das weiß ich nicht. Die Insel liegt irgendwo im Meer zwischen Erinn und Albion. Du mußt mit dem Schiff fahren, aber vielleicht kannst du mit deinen Hexenfähigkeiten auch über das Wasser gehen.“ Der Bursche hatte einen zynischen Humor, der mir gefiel. Ich unterdrückte ein Lächeln. „Zieh deinen Umhang aus, Baeth“, sagte ich. „Nein, das werde ich nicht tun“, knurrte er ergrimmt. „Aber ich schenke dir einen, der sich in meiner Satteltasche befindet.“ Langsam schritt ich auf die Pferde zu und ließ die beiden nicht aus den Augen. Neben dem Schimmel blieb ich stehen, der nur kurz den Kopf hob und mich anschaute, dann graste er weiter. Ich griff in die Satteltaschen und zog einen zusammengefalteten Umhang hervor. Ich stieß das Schwert in den Boden und schlüpfte in den Umhang. Das Gewebe war rauh. Das Gewand bedeckte meine halben Knie. Die beiden Männer sahen mir schweigend zu, als ich mich in den Sattel des Schimmels schwang. Langsam standen sie auf. „Ich nehme die Stute auch mit mir“, rief ich ihnen zu. „Ihr braucht nur den Hufspuren zu folgen. Ich werde die Pferde freilassen. Verfolgt mich nicht, denn das wäre euer Tod!“ 72
Ich griff nach den Zügel der Stute. Der Schimmel reagierte willig auf jeden Schenkeldruck. Ich ritt los. Einmal drehte ich mich um und sah, daß die Männer ihre Schwerter einsteckten. Nach wenigen Minuten hatte ich die nahen Berge erreicht. Ich sprang vom Pferd, tätschelte kurz den Hals des Tieres und betrat den Wald. Nach ein paar Schritten begann der Signatstern wieder zu pulsieren. Ich holte ihn unter dem hemdartigen Gewand hervor. Irgend etwas schlug vom Kristall auf mich über. Ohne zu denken, ging ich weiter. Der Signatstern schien mich zu leiten. Ich wandte mich nach rechts, kam an einigen Büschen und Eichen vorbei und verschwand dann im dichten Unterholz. Ich riß mir Hände, Waden und Füße blutig, doch etwas Geheimnisvolles trieb mich vorwärts. Irgendwann erreichte ich eine Lichtung, die ich überquerte. Dann verschwand ich wieder im Wald. Hier standen die Bäume nicht so dicht beisammen. Der Boden war mit weichem Moos bedeckt. Irgendwo sangen Vögel. Dann betrat ich wieder eine Lichtung und blieb überrascht stehen. In der Mitte stand eine kleine Holzhütte. Aus einem Rauchfang stieg ein dünner Rauchfaden in den dunkelblauen Himmel. Zögernd ging ich weiter. Ein paar Schritte vor der runden Hütte blieb ich stehen. Ein 73
Eingang war keiner zu sehen. Ich wandte mich nach links. Nun erblickte ich den Eingang, der mit einem Hirschfell verdeckt war. Als ich mich dem Eingang bis auf fünfzehn Schritte genähert hatte, wurde das Fell zur Seite geschlagen und ein alter Mann trat ins Freie. Sein Schädel war völlig kahl. Zum Ausgleich trug er einen wildwuchernden schneeweißen Vollbart, der fast bis auf den Boden reichte. Bekleidet war der schmächtige Alte mit einem weißen bodenlangen Gewand. Seine faltigen Hände zitterten leicht, und seine trüben Augen blinzelten mich an. „Willkommen“, sagte er mit überraschend kräftiger Stimme. „Du kommst spät, mein Kind, ich habe dich schon früher erwartet!“ Ich mußte wohl ziemlich verwirrt dreingeblickt haben, denn der Alte begann dröhnend zu lachen. „Da muß ein Irrtum vorliegen“, sagte ich, als ich mich von meiner Überraschung erholt hatte. „Ich werde von keinem Menschen erwartet.“ „Komm näher, mein Kind, das du aus der Zukunft bist“, forderte er mich auf. Verwirrt blickte ich ihn an. „Dieser Kristall, den du um den Hals trägst, ist das Zeichen“, sagte er. „Merlins Zeichen. Du bist gekommen, um ihm zu helfen.“ Wieder blieb mir die Sprache fort. Neben dem Alten blieb ich stehen. Seine Haut war runzelig, und die Lippen wirkten 74
seltsam blutleer. „Wer bist du?“ „Catbath, ein alter Druide, der nun endlich diese Welt verlassen darf, da du gekommen bist.“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Setz dich nieder, mein Kind. Du wirst müde und hungrig sein. Ruhe dich ein wenig aus.“ „Das hat alles Zeit“, sagte ich rasch. „Ich will wissen, was für eine Aufgabe du hast.“ „Beruhige dich. Ich habe drei lange Jahre auf deine Ankunft gewartet, da kommt es auf eine Nacht auch nicht mehr an.“ Er berührte mich kurz mit der rechten Hand, und eine unwahrscheinliche Müdigkeit überkam mich. Ich ließ mich einfach zu Boden fallen. Ich nahm alles wie durch einen dichten Schleier hindurch wahr. Er bestrich meine Arme und Beine mit einer Salbe, und fast augenblicklich verschwanden meine Wunden. Er reichte mir einen Becher Wasser, den ich auf einen Zug austrank. Dann kniete er neben mir nieder. Er fütterte mich mit Brot und einer kräftig schmeckenden Suppe. Und da fiel es mir ein. Ich hatte die Kupferschale vergessen mitzunehmen. Aber vermutlich war sie unwichtig. Catbath stellte die leere Suppenschüssel auf den Boden, dann drückte er seine linke Hand an meine Stirn, und ich schlief augenblicklich ein. Lautes Vogelgezwitscher weckte mich. Ich 75
lag auf einigen Fellen in der Holzhütte. In der Mitte stand ein Kamin, in dem einige Holzscheite glosten. Ein süßlicher Geruch hing in der Luft. Ich stand auf und streckte mich. Selten zuvor hatte ich mich so frisch gefühlt. Das Fell vor dem Eingang wurde zurückgeschlagen, und das Tageslicht fiel in die Hütte. Catbath blieb in der Tür stehen. „Du hast lange geschlafen, mein Kind. Fast zwei Tage lang. Bist du hungrig?“ Ich schüttelte den Kopf und ging auf den Alten zu, der zur Seite trat. Wieder stellte ich fest, wie herrlich frisch die Luft in dieser Zeit war. So etwas gab es nicht mehr im 20. Jahrhundert. Vor der Hütte standen nun zwei niedrige Schemel und ein kleines Tischchen. „Setz dich, mein Kind“, sagte der Alte. Ich gehorchte seiner Aufforderung. Er verschwand in der Hütte und kam kurze Zeit danach mit einem Krug und zwei Bechern zurück. Er schenkte die Becher voll, stellte sie auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber. „Trink“, sagte er. Ich griff nach dem Becher und nippte an der süßlich schmeckenden Flüssigkeit. „Das ist Metwein“, erklärte er mir. Ich trank den Becher halb leer. Das Getränk war sehr erfrischend. „Ich kann mir denken, daß du unzählige Fragen an mich richten willst“, sagte er 76
lächelnd. „Was weißt du über mich?“ Sein Gesicht wurde ernst. „Nicht viel“, antwortete er. „Ich weiß, daß du aus der Zukunft kommst. Du kommst, um Merlin zu helfen, der sich in großer Gefahr befindet. Mehr weiß ich nicht.“ „Kennst du meinen Namen?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich heiße Coco Zamis“, sagte ich. „Ein fremdartiger Name“, meinte er. „Ich werde dich Caillech nennen.“ „Caillech?“ „Das ist der Name einer schönen Side, einer Hexe, die ich vor langer Zeit kannte. Du siehst ihr sehr ähnlich – ja, du könntest ihre Tochter sein. Sie hatte rabenschwarzes Haar und geheimnisvolle Augen, die nicht von dieser Welt waren.“ „Was ist mit ihr geschehen?“ „Ich weiß es nicht“, flüsterte der Alte. „Sie war eine Tuatha De Danann, eine Edle aus dem Volk der Göttermutter Danu. Sie ging und kam, gerade wie es ihr paßte.“ „Erzähl mir mehr über sie.“ „Später, Caillech. Sprechen wir über dich. Du bist eine Hexe in deiner Zeit?“ „Ja und nein“, sagte ich. „Wie soll ich das verstehen, Caillech?“ Mein neuer Name gefiel mir. Er klang sehr melodisch, zumindest sprach ihn der Alte so aus. „Das kann ich dir alles sehr schwer erklären, 77
Catbath“, sagte ich langsam. „Meine Welt ist so ganz anders als diese. Du würdest es nicht verstehen.“ „Wie du glaubst“, sagte er einfach. „Vermutlich kannst du deine Magie im Augenblick noch nicht anwenden, stimmt das?“ Ich nickte. „Keine Angst, deine Kräfte werden zurückkommen. Das geht allen Wanderern zwischen den Zeiten so.“ „Du hast gesagt, daß du mich seit drei Jahren erwartet hast“, sagte ich. „Woher wußtest du davon?“ „Manannan mac Lir hat es mir gesagt.“ „Oirbsen, dieser verfluchte…“ „Weshalb fluchst du über Oirbsen?“ „Er hat mich in die Falle gelockt“, stieß ich hervor. „Er war es, der mich in den Zeitschacht gestoßen hat. Oirbsen hat mich getäuscht, denn er sagte, er werde mit mir gehen, und hier werde ich das zweite Siegel finden, mit dem ich Merlin helfen kann.“ „Das stimmt auch“, sagte der Druide. „Du wirst hier das zweite Siegel finden.“ „Und wo kann ich es finden?“ „Du mußt zu Manannan mac Lir gelangen.“ „Wo kann ich ihn finden?“ „Das ist schwer zu sagen. Er kommt jedes Jahr ein paarmal auf seine Burg auf die Insel Manann. Du mußt nach Inis Manann fahren.“ „Das dürfte aber nicht so einfach sein.“ Er nickte zustimmend. „Am besten wird es 78
sein, wenn du nach Almhuin gehst. Finn, der Sohn Cumals, ist ein Freund Manannans. Er wird dich willkommen heißen. Von dort aus reitest du nach Dubh Linn, von dort aus kannst du mit einem Schiff nach Inis Manann fahren.“ „Dazu brauche ich aber Informationen über Land und Leute“, sagte ich. „Deshalb habe ich ja hier auf dich gewartet“, stellte der Druide fest. „Ich werde dir alles Notwendige erzählen und dich einiges lehren, was dir helfen wird.“ „In welchem Auftrag handelst du, Catbath?“ „Das hat dich nicht zu interessieren, Caillech.“ Ich blickte ihn forschend an. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Um es ehrlich zu sagen, ich verstand verschiedenes überhaupt nicht. Da wartete der Alte nun schon drei Jahre lang auf mein Erscheinen. Demnach mußte Merlin gewußt haben, daß ich einmal hier auftauchen würde. Aber wie paßte da dieser Oirbsen in das Bild? Er hatte mich in eine Falle gelockt und mich unschädlich machen wollen. Aber vielleicht hatte Merlin mit seinen unerklärlichen Fähigkeiten davon gewußt und diese Situation ausgenützt. „Kann ich zurück in meine Zeit gelangen, Catbath?“ „Dazu mußt du das zweite Siegel finden, Caillech. Es ist der Schlüssel für die Türme der Zeit. Mit ihm kannst du die Zeit beherrschen. Du kannst dann in dein Jahrhundert zurückkehren.“ 79
„Und wo finde ich dieses Siegel?“ „Du stellst mir Fragen, die ich Unwissender nicht beantworten kann“, brummte er. „Und ich will es auch nicht wissen, denn dieses Wissen könnte gefährlich werden.“ Der Alte stand auf. „Genug der Schwätzerei“, sagte er. Aus seinem Umhang zog er eine Haselnußgerte, die bei den Kelten als Zauberstab diente. Mit der Gerte berührte er seinen Becher, der sich einfach in Luft auflöste. „Kannst du das auch tun?“ fragte er und starrte mich an. Ich schüttelte den Kopf. Er stieß einen Seufzer aus. „Dann ist dein Zauber sehr schwach, mein Kind. Das kann bei uns jede Hexe.“ Er bewegte die linke Hand, ballte sie zur Faust und öffnete sie in meine Richtung. Eine unsichtbare Macht ergriff mich und riß mich hoch. Ich schwebte plötzlich fünf Meter über dem Boden und sank langsam wieder nieder. „Das beherrscht du aber?“ „Tut mir leid, aber das kann ich nicht.“ „Dann wird es schwierig, denn wenn du nicht einmal die Grundlagen der Magie beherrschst, kann ich dir nichts beibringen.“ „Nicht so hastig“, meinte ich. „In meiner Zeit beherrsche ich einige Fähigkeiten, die dir sicherlich unbekannt sind. Ich werde probieren, ob ich einen Teil meiner Kräfte bereits einsetzen kann.“ 80
Ich stand auf und konzentrierte mich. In den anderen Zeitablauf konnte ich mich noch immer nicht versetzen. Aber vielleicht würde mir ein einfacher Zauber gelingen. Ich betrat die Hütte und holte aus dem Kamin ein verkohltes Stück Holz hervor. Ich legte es auf den Tisch, und dann bewegte ich meine rechte Hand und konzentrierte mich ganz auf die magische Formel. Erleichtert lächelte ich, als sich das verkohlte Holzstück veränderte. Innerhalb von wenigen Augenblicken lag ein Aststück auf dem Tisch. „Nicht übel“, lobte Catbath. Er zog einen Kreis mit dem Haselnußstock in der Luft. Eine vertrocknete Rose fiel auf den Tisch, die sofort in Flammen aufging. Sekunden später lag nur Asche auf der Tischplatte. „Verwandle die Asche in eine blühende Rose“, befahl er mir. Palingenesie war nie meine besondere Stärke gewesen. Diese Rematerialisation eines verbrannten organischen Objekts war für einige Dämonen eine einfache Sache, doch ich hatte mich schon immer schwer damit getan. Ich versuchte es dreimal ohne Erfolg. Beim viertenmal nahm ich all meine Kraft zusammen und konzentrierte mich ganz auf die Aufgabe. Und ich hatte Erfolg. Aus der Asche wuchs eine voll aufgeblühte Rose. „Tadellos gemacht“, sagte der Druide erfreut. „Ich sehe, daß du doch über einige 81
Fähigkeiten verfügst. Du mußt dich nur der Hilfe des Kristalls bedienen, dann geht alles viel leichter.“ „Aber ich weiß nicht, wie ich die Kräfte wecken kann“, sagte ich unglücklich. „Das verstehe ich nicht“, meinte er. „Du kannst doch durch den Kristall meine Sprache verstehen und auch in meiner Sprache sprechen.“ „Dazu habe ich nichts beigetragen. Das besorgte der Kristall von sich aus.“ „Es ist doch so einfach, Caillech. Du mußt deine magischen Kräfte über den Kristall leiten. Das wird deinen Zauber vielfach verstärken. Du mußt aber vorsichtig umgehen, denn die Kräfte, die im Kristall wohnen, sind gewaltig. Nimm den Kristall in beide Hände und leite deine Kräfte durch ihn hindurch. Es wird einige Zeit dauern, bis dir das gelingt. Laß deinen Trinkbecher verschwinden.“ Ich tat, wie er es mir gesagt hatte. Der Signatstern begann heftig zu pulsieren, als ich ihn fest in meine Hände nahm und mich auf ihn konzentrierte. Ich dachte ganz fest, daß der Becher verschwinden sollte – und plötzlich verschwand er auch! „Sehr gut, sehr gut“, murmelte der Alte breit grinsend. „Es hat tadellos geklappt.“ Erschöpft sank ich auf den Schemel. Der Alte bewegte die Haselnußgerte, und meine Augen weiteten sich vor Erstaunen. Der Tisch war plötzlich voll mit Tellern und 82
Schüsseln, auf denen und in denen allerlei Köstlichkeiten lagen. „Du hast eine Stärkung nötig, Caillech.“ Er lächelte und setzte sich ebenfalls nieder. Heißhungrig aß ich etwas gebratenes Fleisch und dazu Unmengen Brot. „Gibt es viele Druiden wie dich in Erinn?“ fragte ich, als ich meinen Hunger gestillt hatte. „Früher gab es Tausende“, meinte er kummervoll. „Doch die alten Künste werden nur noch von wenigen beherrscht. Das Wissen gerät immer mehr in Vergessenheit. Die Jungen interessieren sich nicht sonderlich dafür, da man viele Jahre, ja Jahrzehnte lernen muß. Noch dazu muß man asketisch leben und den Freuden des Lebens entsagen. Als echter Druide darf man niemals die Freundschaft der Lenden einer Frau genossen haben.“ Das hörte sich allerdings wenig erfreulich für einen jungen Mann an. „Freundschaft der Lenden“, damit meinte er wohl den intimen Verkehr mit einer Frau – ein Ausdruck, der mir sehr gefiel, wenn ich da so an die Vulgärausdrücke dachte, die in meiner Zeit üblich sind… „Willst du damit sagen, daß du nie mit einer Frau…“ Fast hätte ich einen dieser Ausdrücke hinzugesetzt. Er blickte mich unbefangen an. „Ich habe nie die Köstlichkeiten genossen, die der Leib eines Weibes bietet. Das durfte ich nicht, denn 83
sonst hätte ich den Großteil meiner Fähigkeiten verloren. Ist das in deiner Zeit anders? Bist du denn keine Jungfrau mehr?“ Fast wäre ich rot geworden. Ich schluckte. „Nein, ich bin keine Jungfrau mehr.“ „Das ist ja wunderbar“, sagte er zufrieden. Ich blickte ihn mißtrauisch an. Der Alte würde doch nicht auf seine alten Tage unternehmerisch werden und ausprobieren, wie die Freuden des Fleisches schmeckten. Er lachte. „Keine Angst, ich will nicht das Lager mit dir teilen, dazu bin ich zu alt, obzwar ich sagen muß, daß dein Anblick mein Herz erwärmt – und wäre ich um zweihundert Jahre jünger, dann…“ „Aber weshalb freust du dich so sehr, daß ich keine Jungfrau mehr bin?“ „Da hast du es leichter“, meinte er. „Ich weiß nicht, wie es in deiner Zeit ist, aber hier sind die Männer äußerst scharf darauf, eine Frau zu beschlafen. Sie gieren danach, die Freundschaft vieler Lenden zu genießen. Mit der ehelichen Treue nehmen sie es nicht so genau.“ „Da hat sich im Lauf der Jahrtausende nicht viel geändert“, sagte ich kichernd. „Wie ist hier die Stellung der Frau? Muß sie sich dem Mann unterwerfen?“ „Das ist von Clan zu Clan verschieden. In einigen dominieren die Frauen, in den anderen sind die Männer die Herrschenden. Aber man kann sagen, daß die Frauen den Männern gleichberechtigt gegenüberstehen.“ 84
„Immerhin etwas“, brummte ich, „denn das kann man von meiner Zeit ganz und gar nicht behaupten. Aber es gibt Sklaven?“ „Ja. Das finde ich sehr bedauerlich, aber es ist wohl nicht zu ändern. Gibt es in deiner Zeit keine Sklaven mehr?“ Was sollte ich darauf antworten? Sklaven in dem Sinn, wie er es meinte, gab es nicht mehr. Aber Sklaverei bedeutete vieles. Sklave war ein Leibeigner hier, aber es bedeutete auch unfreier, entrechteter Mensch, wenn ich mich richtig an den Duden erinnerte. Und unfrei und entrechtet waren Millionen in meiner Zeit. Sklaven des Fortschritts, der Diktaturen und auch der sogenannten freien Welt. Auch ich war eine Sklavin, gefangen in den Gesetzen meiner Sippe, unterworfen den unmenschlichen Sitten der Schwarzen Familie. „Leibeigene gibt es keine mehr“, sagte ich und war mit dieser Antwort höchst unzufrieden, aber was sollte ich dem Alten einen Vortrag über die seltsamen Gebräuche, Wünsche, Vorstellungen und Veränderungen meiner Zeit erzählen. „Dann müßt ihr glücklich sein“, sagte er leise. „Das Höchste im Leben eines Menschen ist die Freiheit, die es hier nicht immer gibt. Schade, daß ich so eine Welt nicht mehr erleben werde, in der es keine Sklaven mehr gibt.“ Sei froh, Catbath, dachte ich, sei froh, daß du nie meine Zeit erleben wirst. Aber ist denn das 20. Jahrhundert wirklich so schlecht? 85
meldete sich eine Stimme aus meinem Unterbewußtsein. Zum Teufel mit diesen Ge danken. Schieb sie weit fort, sie berühren dich nicht. Berühren dich nicht? fragte das andere Ich. O ja, sie berühren mich, dachte ich, aber ich kann es nicht ändern. „Worüber denkst du nach, Caillech?“ riß mich der Alte aus meinem Zwiegespräch mit meinem nun wieder schlummernden Unterbewußtsein. „Über Freiheit und Unfreiheit“, antwortete ich. „Darüber wurden aber schon Tausende von Büchern geschrieben. Ein Thema, das unerschöpflich ist.“ „Bücher? Was sind Bücher?“ „Kennt ihr keine Schrift?“ Er schüttelte den Kopf. „Das Runenalphabet, die Ogamzeichen existieren noch nicht?“ „Davon habe ich nie etwas gehört.“ Hm, dann mußte ich mich weit vor Christi Geburt befinden, denn die Ogamzeichen wurden erst in der römischen Zeit erfunden. Wie sollte ich ihm erklären, was ein Buch ist, wenn er nicht einmal eine Schrift kannte. „Ein Buch sind schriftliche Aufzeichnungen“, sagte ich. „Sie werden niedergeschrieben und dann gedruckt.“ Der Druide starrte mich verständnislos an. „Ihr gebt euer Wissen mündlich weiter“, erklärte ich ihm. „Aber es gibt eine Möglichkeit, dieses Wissen auf eine andere Weise weiterzugeben.“ 86
„Auf magische Art, nicht wahr?“ „Ja“, sagte ich, damit ich mir weitere verwirrende Erklärungen ersparte. „Da wird irgendwie die Stimme gespeichert, und man kann es sich dann anhören, wenn man die notwendigen Beschwörungen kennt.“ Ich lachte los. „Genauso ist es“, sagte ich. Der Bursche hatte eben die Schallplatte erfunden, ohne es zu wissen. Sofort wurde ich wieder ernst. „Du machst dich über mein Unwissen lustig“, sagte er vorwurfsvoll. „Das habe ich wirklich nicht gewollt, Catbath“, sagte ich reumütig. „Entschuldige.“ „Ist schon gut, Caillech“, sagte er versöhnlich. „Genug der Rederei. Üben wir weiter.“ Der Alte nahm mich ordentlich her. Seine Fähigkeiten verblüfften mich immer wieder. Als es zu dämmern begann, reichte er mir seine Haselnußgerte. „Nun werde ich mich selbst verbrennen“, sagte er. „Sobald ich zu Asche zerfallen bin, berührst du den Aschenhaufen mit der Gerte.“ Die Selbstverbrennung war etwas, von dem ich bisher nur gehört hatte. Niemand wagte diesen Zauber anzuwenden. Er war einfach zu gefährlich. Ich hielt den Atem an, als sein Gewand plötzlich in Flammen stand. Sein Bart fing Feuer, und dann war seine ganze Gestalt von einer Flammenhölle eingehüllt. Sein Körper schrumpfte ein, wurde immer kleiner. Das 87
Prasseln der Flammen wurde immer lauter. Er fiel in sich zusammen, kippte zur Seite und brannte weiter. Dann erloschen langsam die Flammen, und im Licht der schwindenden Sonne sah ich einen Aschenhaufen auf dem Boden liegen. Ein paarmal atmete ich tief durch, dann trat ich vor und berührte mit dem Stab den Aschenhaufen. Sofort richtete sich Catbath auf, verbeugte sich tief und kicherte. „Das ist sehr eindrucksvoll, nicht wahr?“ Ich nickte tief beeindruckt. „Es ist aber auch sehr gefährlich“, sagte er ernst, „denn hättest du den Aschenhaufen zertreten, der von mir übrig geblieben war, dann wäre ich nicht mehr zum Leben erwacht.“ Er legte einen Arm um meine Schulter und führte mich zum Tisch. Wir setzten uns nieder, und ich fühlte fast körperlich die Welle der Zuneigung, die von Catbath auf mich überströmte. Ein geheimnisvolles karminrotes Licht lag über der Lichtung und dem Wald, der nur aus Schatten zu bestehen schien. Schweigend aßen wir. Dazu tranken wir einen blutroten Wein, der schwer und ölig war und merkwürdig bitter schmeckte. Die Nacht war hereingebrochen. Der Mond war noch nicht aufgegangen, doch die Sterne funkelten, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Wir schwiegen und starrten den 88
nachtschwarzen Himmel an. Worte waren nicht notwendig. Ich entspannte mich und fühlte mich so glücklich und zufrieden wie nie zuvor in meinem Leben. Zwei Wochen lang war Catbath mein Lehrmeister gewesen. Er hatte mich alles gelehrt, was ich möglicherweise brauchen konnte. Mein Kopf schwirrte noch immer von all den Daten, die er mir eingebleut hatte. Meine magischen Fähigkeiten hatte ich zum Großteil zurückerhalten – und ich hatte einiges dazugelernt, um das mich die meisten Dämonen der Schwarzen Familie glühend beneidet hätten. Ich schlüpfte in die Kleider, die Catbath für mich vorbereitet hatte. Es war ein gelbes hemdartiges Kleid, das an den Schultern von goldenen Spangen gehalten wurde und wie eine zweite Haut an meinem Körper lag. Ein breiter, kunstvoll bestickter Ledergürtel schnürte meine Taille zusammen. Über dem Kleid trug ich einen purpurfarbenen Mantel, der mit einer Goldbrosche über meiner Brust befestigt war. An meinem Arm funkelten goldene Armreifen. Um den Hals trug ich einen Torques, einen Halsring. Mein langes Haar wurde im Nacken von einer Spange zusammengepreßt, floß aber sonst ungehindert über meine Schultern. Meine Füße steckten in weichen Ledersandalen. Langsam trat ich aus der kleinen Hütte und wandte mich Catbath zu, der mich bereits erwartete. 89
„Du bist wunderschön, Caillech“, sagte er sanft und kam auf mich zu. „Danke“, sagte ich und lächelte etwas gezwungen. Mein Herz krampfte sich zusammen. Es hieß Abschied nehmen, Abschied von vierzehn Tagen, die ich um nichts in der Welt hätte missen wollen. Der Alte ergriff meine Hände, und wieder spürte ich dieses wunderbare Gefühl der Zuneigung, wie es mir nie zuvor entgegengebracht worden war. „Ich lasse dich nur ungern ziehen, mein Kind“, sagte er sehr leise. „Du gelangst in eine rauhe, in eine wilde Welt. Ich hoffe, dir alles beigebracht zu haben, was du brauchst. Mein Herz ist schwer, und ich danke dir für die Freude, die ich allein durch deine Gegenwart empfangen habe.“ Meine Brust war zugeschnürt. Liebend gern hätte ich geweint, doch das konnte ich nicht. Hexen können nicht weinen. Ich räusperte mich. „Werden wir uns wiedersehen, Catbath?“ fragte ich erstickt. „Irgendwann sehen wir uns sicher wieder, mein Kind“, sagte er lächelnd. „Geh jetzt. Du wirst ein Pferd finden, der Kristall wird dich leiten. Das Pferd hört auf den Namen Epona.“ „Epona?“ fragte ich verwundert. „Aber das ist doch der Name der Göttin der Pferdezucht.“ „Vielleicht ist es die Göttin“, sagte er geheimnisvoll. „Viel Glück, mein Kind.“ Ich umarmte ihn, spürte seinen hageren, 90
schmächtigen Körper, spürte seine Liebe zu mir, spürte die unendliche Zuneigung, die er mir entgegenbrachte, klammerte mich an ihm fest, so als könnte ich ihn für ewig halten, könnte diesen Moment des Abschieds für alle Ewigkeiten hinauszögern. „Geh, mein Kind“, hauchte er. „Geh.“ Er löste sich sanft aus meiner Umarmung, und es schien mir, als würden seine Augen glänzen. Ich nickte, nickte wieder und drehte mich um und ging auf den Wald zu. Als ich die ersten Bäume erreichte, blieb ich stehen und wandte mich dem Haus zu. Ich hob die rechte Hand und winkte ihm zu. Das Haus begann zu flimmern und verschwand. Catbath winkte mir zurück. Seine Gestalt wurde durchscheinend. Dann änderte sie sich. Ein schmächtiger Mann war zu sehen. Sein Haar war schneeweiß, und auch sein Bart, der ihm bis zu den Hüften reichte. Bekleidet war er mit einer einfachen Kutte und Riemensandalen. „Merlin!“ schrie ich und lief auf die schemenhafte Gestalt zu. „Merlin!“ Doch kurz bevor ich ihn erreicht hatte, löste er sich auf, und meine Hände griffen in die Luft. Ein paar Minuten blieb ich wie betäubt stehen. Catbath war Merlin gewesen, da gab es keinen Zweifel mehr. Aber warum war er in 91
der Maske aufgetreten? Warum hatte er mir nicht gesagt, wonach ich suchen mußte? Gedankenverloren wanderte ich durch den Wald und nahm meine Umgebung kaum wahr. Als ich die Bäume hinter mir gelassen hatte, wachte ich aus meinem tranceartigen Zustand auf. Eine Rappstute lief auf mich zu. Ihr Zaumzeug und der Sattel waren aus weichstem Leder und kunstvoll verziert. Die Nüstern der Stute waren blutrot. Sie war wundervoll gewachsen, ein prachtvolleres Pferd hatte ich nie zuvor gesehen. Irgendwie erinnerte sie mich sehr stark an eine Vollblutstute, eine Rasse, die es zu dieser Zeit noch nicht gegeben hatte. Zu meiner Zeit hatte man bei manchen Pferden von einem Adlerblick gesprochen. Diese Stute hatte den Blick eines Menschen! Sie blieb einen Meter vor mir stehen, und ihre Nüstern blähten sich. Dann streckte sie mir den Kopf mit gespitzten Ohren entgegen und schnaubte mich an. „Epona“, sagte ich. Die Stute warf den edlen Kopf hoch und stieß ein lautes Wiehern aus. Dann beäugte sie mich wieder interessiert. Ich tätschelte ihr den Hals, sie rieb ihren Kopf an meinem Körper, und ich sog den scharfen Geruch ihrer Ausdünstung ein. Der Geruch von Pferden hat immer etwas Erregendes für mich. Schließlich untersuchte ich die Satteltaschen. 92
Ich fand getrocknetes Fleisch, frisches Brot und Käse, einen schmalen Dolch und ein goldüberzogenes Trinkhorn. Hinter dem Sattel waren zwei Decken festgeschnallt, und am Sattel war ein langes Schwert befestigt, das in einer prachtvollen Scheide steckte. Die Scheide war aus Blattbronze und mit einem komplizierten Spiralmuster geschmückt. Ich zog das mehr als einen halben Meter lange Schwert heraus. Es lag wunderbar in der Hand und war fast gewichtslos. Es war scharf wie ein Rasiermesser und mit einer Spitze versehen, was bei den Keltenschwertern eine Seltenheit war. Ich schob das Schwert zurück in die Scheide und schwang mich in den Sattel. Epona drehte mir den Kopf zu. Ich stieß ihr sanft die Fersen in die Flanken, und sie trabte los. Nach wenigen Schritten begann sie zu galoppieren. Sie raste zwischen zwei Hügeln hindurch, und dann lag eine unendlich scheinende Ebene vor uns. Ich dachte an Catbath und fragte mich, ob ich mich getäuscht hatte, als ich Merlin zu sehen glaubte. Ich wurde unsicher. Vielleicht hatten mir nur meine überreizten Nerven einen Streich gespielt. Wahrscheinlich würde ich nie die Wahrheit erfahren. Meine Gedanken kreisten um Merlin. Ich hatte alle in meiner Zeit verfügbaren Daten über ihn gesammelt, das waren viele, aber die meisten stammten aus alten Sagen und Märchen. Nach allen Informationen, die ich 93
hatte, lebte Merlin um 480 n. Chr. im westlichen Wales. Außerdem spielte er im Sagenkreis um König Artus eine große Rolle und wurde von den Dichtern des Mittelalters in die Ritterromane aufgenommen. Gelegentlich wird er auch als der illegitime Vater des Königs Artus bezeichnet. Aber in der Zeit, in der ich mich gerade aufhielt – ich schätzte nach allem, was ich von Catbath erfahren hatte, daß es etwa 200 v. Chr. war –, gab es keinerlei Hinweise auf Merlin. Catbath hatte mir erzählt, daß seine Vorfahren vor etwa sechshundert Jahren nach Irland gelangt waren. Sie selbst nannten sich Galen und werden heute als Kelten bezeichnet. Die Galen unterwarfen die einhei mische Bevölkerung, kleine, dunkelhaarige, bronzehäutige Menschen. Im Lauf der Jahrhunderte verschmolzen die beiden Rassen mehr oder minder. Doch die Kelten hielten an den alten Gebräuchen und Sitten fest, die sie schon auf dem Festland gehabt hatten. Alle gehörten irgendeinem Clan an, von denen es viele Tausende in Irland gab. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl hatten sie nicht, sie fühlten sich nur ihrem Clan-Führer verantwortlich, und es kam zwischen den Sippen oft aus den unwichtigsten Vorfällen zu grausamen Kriegen, die sich über viele Jahre erstreckten. Jeder Stamm hatte seinen eigenen König, aber es gab auch sogenannte Oberkönige, das waren einzelne Stammeskönige, die so stark waren, daß sie 94
sich als Oberlehensherren über die schwächeren Stämme aufschwangen. Darüberhinaus gab es noch vier „Könige über den Königen“, das waren die Herrscher der vier Provinzen Ulaid, Lagin, Connachta und Mumu. Eine kurze Zeit lang gab es auch eine fünfte Provinz: Mide, die aber nicht lange bestand, da sie von den Nachbarprovinzen geschluckt wurde. Das Zusammenspiel der verschiedenen Könige war äußerst kompliziert, und ihre Macht war eher gering, da sie keine Gesetze erlassen durften. Auch die Bestrafung von Verbrechern fiel nicht in ihren Bereich. Dafür und für viele andere Dinge waren die Druiden zuständig, die man als die eigentlichen Machthaber bezeichnen konnte. All diese komplizierten Sitten, Gebräuche und Gesetze hatte mir Catbath erklärt, vieles hatte ich mir gemerkt, doch nicht alles. Es war einfach zu viel gewesen. Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch, als wir an einem einsamen Bauerngehöft vorbeikamen. Die Gebäude waren rund und strohgedeckt. Rinder und Schweine waren zu sehen, und dann erblickte ich auch einige Frauen und Männer, die neugierig zu mir hersahen. Die Männer waren mit bunt karierten langen Hosen bekleidet, die Frauen trugen lange Glockenröcke und hemdartige Umhänge. Diese langen Hosen waren von den Kelten erfunden worden, und sie waren etwas so 95
Neues, daß sie bei den Römern und Griechen als ein typisches Kennzeichen der Kelten galten. Die Landschaft blieb weiterhin monoton. Nur gelegentlich waren kleine Hügel und Bauernhöfe zu sehen. Nach ein paar Stunden legte ich eine kurze Rast ein. Dann ritt ich weiter. Langsam änderte sich die Landschaft. Nun tauchten weit im Hintergrund einige bewaldete Berge auf. Immer mehr Bauernhöfe und kleinere Ansiedlungen bemerkte ich. Als es zu dämmern begann, suchte ich mir einen geeigneten Platz zum Übernachten. Im Morgengrauen ritt ich weiter. Ich wollte möglichst rasch nach Almhuin gelangen. Finn, der Herrscher über diesen Gau, war ein Blutsbruder von Manannan mac Lir. Von Finn konnte ich erfahren, wo sich Manannan im Augenblick herumtrieb. Wieder waren Bauernhöfe zu sehen und große Viehherden, die von Hirten bewacht wurden, die mir neugierig nachblickten. Ich zügelte die Stute, als ich eine Gruppe von vier Reitern erblickte, die mich auch gesehen haben mußten, da sie die Richtung änderten und auf mich zuhielten. Catbath hatte mich zur Vorsicht gemahnt. Seit einiger Zeit schon kam es immer wieder zwischen Finn und Elcmar, dem Bösmächtigen aus dem Stamme der Fir Böig, zu blutigen Auseinandersetzungen. Die Männer, die sich 96
mir nun näherten, konnten zu Finn oder zu Elcmar gehören, oder auch Fremde sein, was aber eher unwahrscheinlich war. Die Pferde der Männer waren klein und gedrungen und erinnerten mich ein wenig an Ponies. Drei der Männer trugen Vollbärte, der vierte hatte einen gewaltigen Schnauzbart. Die vier waren mit bunten Hosen und Umhängen bekleidet, und alle waren mit Speeren, Schwertern und Wurfeisen bewaffnet. An ihren Sätteln hingen große, mit Leder bespannte Schilder. Der Bursche mit dem senffarbenen Schnauzbart und den gletscherfarbenen Augen ritt auf mich zu, während die anderen ihre Pferde zügelten. „Wer bist du?“ fragte er mich und brachte sein Pferd zum Stehen. Ich antwortete nicht, sondern starrte ihn hochmütig an. Er drehte sein Pferd etwas zur Seite, und nun konnte ich das Hinterteil seines Sattels sehen, auf dem ein abgeschlagener Kopf hing, dessen Halsstumpf noch blutete. Die Kruppe seines Pferdes war blutverschmiert. Diese Sitte des Kopfabschlagens war unter den alten Iren weitverbreitet. „Antworte, schwarzhaariges Weib!“ herrschte er mich an. „Oder bist du lebensmüde?“ Das waren rauhe Töne, die zu einem rauhen Volk paßten. „Wer bist du, der so verwegen spricht?“ „Ich glaube, dein Kopf wird bald meinen 97
Sattel schmücken“, sagte er wütend und griff nach seinem Schwert. Seine Gefährten kamen langsam näher. „Ich bin Caillech“, sagte ich versöhnlich, da ich es nicht zu einem Kampf kommen lassen wollte. „Caillech?“ brummte er fragend. „Dieser Name kommt mir bekannt vor. Welchem Stamm gehörst du an?“ Nun wurde es kritisch. Ich sollte mich als eine aus dem Clan Lir der Göttermutter Danu ausgeben, hatte mir Catbath gesagt, doch ich wußte nicht, ob diese vier Männer nicht zu Elemars Stamm gehörten. „Nenn mir deinen Namen, Hellauge“, sagte ich bestimmt. „Ich bin Ardan“, sagte er und sein Pferd kam zwei Schritte näher. Noch immer umspannte seine rechte Hand den Schwertknauf. Ardan, das war einer von Elemars Heerführern. „Du kommst mit uns mit, Caillech“, sagte Ardan. „Gib mir dein Schwert.“ Ich konnte seine Handlungsweise verstehen. Er kannte mich nicht, und er mußte befürchten, daß ich Finn von unserer Begegnung erzählen würde, und das wollte er auf jeden Fall verhindern. Doch ich hatte kei nerlei Lust, mich von ihm gefangennehmen zu lassen. Seine Männer hatten sich in der Zwischenzeit so postiert, daß ich nur schwer fliehen konnte. Catbath hatte mich davor gewarnt, meine 98
Magie oft anzuwenden. Ich sollte möglichst wenig von meinen Fähigkeiten verraten. Aber ein wenig Hypnose konnte nicht schaden. Ich blickte Ardan in die Augen und versuchte ihm meinen Willen aufzuzwingen, doch sein Blick wurde noch härter. „Du bist eine Hexe“, knurrte er. „Eine Tuatha De Danann. Aber dein böser Blick kann mir nichts anhaben.“ Mit einem Ruck riß er sein breites Schwert aus der Scheide und trieb seinem Pferd die Fersen in die Flanken. Ich konzentrierte mich auf sein Pferd und bewegte leicht die linke Hand. Das Pferd geriet ins Stolpern, und Ardan konnte sich nur mit Mühe im Sattel halten. Rasch schlug ich Epona auf die Kruppe, und die Stute raste los. „Laßt sie nicht entkommen!“ brüllte Ardan. Ich hörte das Gedröhn der Hufe auf dem harten Boden. Ich saß eng geduckt auf der Stute und errichtete um mich einen Abwehrschirm, der mich gegen Wurfgeschosse unverwundbar machte. Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als äußerst nützlich, denn ich spürte das Aufprallen einiger der scharfen Wurfeisen, die mich aber nicht verletzen konnten. Epona schoß wie ein Pfeil dahin. Einmal drehte ich mich um. Die Gruppe der Verfolger war unendlich klein zu sehen. Die Stute raste ohne zu ermüden weiter. Als ich mich wieder umwandte, waren die 99
Verfolger nicht mehr zu sehen. Ich zügelte Epona, und die Stute fiel in Trab. Den magischen Schutzschirm ließ ich in sich zusammenfallen, da er mich nur unnötig Kraft kostete. Ein paar Minuten später hatte ich einen Mischwald erreicht, durch den sich ein schmaler Pfad schlängelte. Er mußte ziemlich häufig benutzt werden, denn ich sah Huf- und Wagenspuren. Ich kam an einem Menhir vorbei, der mit unheimlichen Fratzen verziert war. Nun wußte ich, daß ich mich auf dem richtigen Weg befand. In etwa einer Stunde sollte ich Almhuin erreicht haben. Epona, die die Ohren gespitzt nach vorn gerichtet hatte, stieß plötzlich ein Schnauben aus, und ihre Ohren begannen zu spielen, sie bewegte sie wie ein Windrad. Das Verhalten der Stute rettete mir das Leben, denn ich betrachtete nun aufmerksam das dichte Unterholz und sah den Speer, der auf mich zuflog und duckte mich. Der Speer blieb hinter mir in einem Baum stecken. Drei Krieger sprangen hinter Büschen hervor und verstellten mir den Weg. Alle drei hatten ihre Schwerter gezogen. Zeit für Fragen hatte ich keine. Die drei muskulösen Krieger wollten mich töten, und dagegen hatte ich einiges. Sie waren noch etwa fünfzig Schritte von mir entfernt. Auf einen Kampf mit dem Schwert wollte ich mich nicht einlassen. Meine Magie 100
mußte mir helfen. Gegen drei Männer konnte ich es aufnehmen, auf drei konnte ich mich gleichzeitig konzentrieren, noch dazu, wo die Kerle sich Schulter an Schulter auf mich zubewegten. Meine Kraft floß durch den Signatstern zwischen meinen Brüsten. Ich spürte, wie der Kristall heiß wurde. Die Schwerter der Krieger waren plötzlich glutrot, dann wurden sie weißglühend. Das Eisen schmolz und spritzte ihnen ins Gesicht. Sie ließen laut brüllend die Schwerter fallen und griffen nach den geblendeten Augen. „Los, Epona!“ Die Stute rannte die drei einfach über den Haufen. Ich atmete erleichtert auf, als der Wald hinter mir lag. Eine weite Ebene öffnete sich vor mir. Nun hatte ich genügend Zeit zum Nachdenken. Ich ärgerte mich über meinen Leichtsinn. Catbath hatte mich gewarnt und mir gesagt, daß ich vorsichtig sein müsse, doch ich war es nicht gewesen. Überall drohte Gefahr. Die Auseinandersetzung zwischen Finn und Elcmar schien dem Höhepunkt zuzustreben. Da hatte ich mir gerade den richtigen Zeitpunkt für mein Auftauchen ausgesucht. Dann lag Almhuin vor mir. Ich hatte mir eine mächtige Burg vorgestellt und war von dem Anblick ziemlich enttäuscht, der sich mir bot. 101
Ein etwa drei Meter hoher Erdwall schloß den Hügel ein, auf dem sich die sogenannte Burg erstreckte, die aus verschieden großen Gebäuden bestand. Einige waren einfache Rundhütten, ein paar waren aus Stein erbaut, alles in allem wirkte das Ganze sehr ärmlich und primitiv. Langsam ritt ich auf eines der Flügeltore zu. Ein Flügel stand halb offen. Auf dem Wall standen ein paar Krieger, die mit Pfeil und Bogen bewaffnet waren. Ein halbes Dutzend Bogen wurde gespannt. Irgend jemand schrie etwas, und drei schwer bewaffnete Krieger traten durch das Tor. Der Krieger in der Mitte überragte die anderen um Haupteslänge. Er war ungewöhnlich breitschultrig und schmalhüftig. Bekleidet war er mit einem dunkelblauen Hemd und einem purpurfarbenen Mantel. Das aschblonde lange Haar wurde im Nacken von einer Silberspange zusammengehalten. An seinen Händen funkelten kostbare Ringe, und an seinem breiten Ledergürtel hing ein Langschwert in einer ungewöhnlich schön gearbeiteten Scheide. „Ich bin Oisin, der Sohn des Finn!“ rief mir der Blonde zu. „Wer bist du?“ „Caillech vom Stamm der Lir!“ brüllte ich zurück. „Ich suche Manannan mac Lir!“ Der blonde Hüne musterte mich aufmerksam. „Komm her“, schrie er, „wir haben dich erwartet.“ 102
Ich ritt langsam näher. Ein paar Schritte vor Oisin zügelte ich das Pferd. „Manannan hat uns dein Eintreffen angekündigt, Caillech“, sagte er. „Beweise mir, daß du die richtige bist!“ Ich verstand wieder einmal gar nichts. Woher wußte Manannan, daß ich nach hier unterwegs war? Das konnte er doch nur von Merlin erfahren haben. Vermutlich hatte er den Signatstern erwähnt. Er sollte beweisen, daß ich die richtige Caillech war. Langsam griff ich an meine Brust. Mein hemdartiges Kleid war so eng, daß ich den Signatstern nicht hervorziehen konnte. Mir blieb keine andere Möglichkeit, als eine der Schulterspangen zu lösen. Dann holte ich den Signatstern hervor und beugte mich zu Oisin hinunter. Dabei ließ es sich natürlich nicht vermeiden, daß ich ziemlich viel von meinem Busen entblößte. Oisin trat zwei Schritte vorwärts und starrte den Kristall an. Dann wanderte sein Blick über meine Brüste. „Du bist Caillech“, sagte er. „Herzlich willkommen auf Almhuin.“ Ich schob den Signatstern zurück und befestigte wieder die Spange, dann sprang ich vom Pferd. Obzwar ich nicht gerade klein bin, reichte ich Oisin nicht einmal bis ans Kinn. Einen kräftiger gebauten Mann hatte ich nie zuvor gesehen. Normalerweise bin ich nicht ein Fan von solchen Muskelprotzen, doch der junge 103
Krieger gefiel mir ausnehmend gut. Sein Gesicht war offen, Nase und Kinn waren kräftig. In den strahlend blauen Augen schienen gelbe Pünktchen zu tanzen. Seine Lippen waren voll, und der buschige Ober lippenbart war gepflegt. Die beiden Krieger in seiner Begleitung wirkten direkt mickrig neben diesem Hünen. „Das sind meine treuen Gefährten Diarmait“, sagte Oisin und sah einen braungelockten jungen Mann an, der mich verträumt anstarrte, „und Goll.“ Golls Haar und Vollbart waren brandrot, und seine Nase war eingedrückt und blau verfärbt. Er nickte mir zu, und ein spöttisches Grinsen lag um seine breiten Lippen. Wir betraten das Innere der Burg, denn ich wollte bei dieser hier üblichen Bezeichnung bleiben. Zwei kahlgeschorene Männer, die nur mit Lendenschurzen bekleidet waren, kümmerten sich um Epona. Bevor sie die Stute aber fortführten, holte ich das Schwert aus dem Sattel und befestigte die Scheide an meinem Gürtel. „Ich muß dich warnen, Oisin, Sohn des Finn“, sagte ich. „Ich wurde von vier Kriegern angehalten. Einer von ihnen war Ardan. Er trug an seinem Sattel den Kopf eines frisch Enthaupteten. Ich konnte ihnen entkommen. Später wurde ich in einem Wäldchen von drei anderen Kriegern überfallen, die ich aber besiegen konnte.“ „Danke für deine Warnung, schöne Caillech“, 104
sagte er. „Ich bin froh, daß du gekommen bist und uns in unserem Kampf gegen Elcmar helfen wirst.“ Ich preßte die Lippen zusammen. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich sollte mich an einem Kampf beteiligen, der für mich völlig unwichtig war. „Ist Manannan hier?“ fragte ich.
Er schüttelte kummervoll den Kopf.
„Nein, aber wir erwarten ihn schon sehnsüchtig, denn ohne seine Hilfe sind wir im Kampf gegen Elcmar unterlegen, da sich der Bösmächtige mit Druiden umgeben hat, gegen deren Zauberkraft wir hilflos sind.“ Das hörte sich alles wenig erfreulich an. Aber mir blieb wohl keine andere Wahl, als zähneknirschend dieses Spiel mitzumachen, so wenig es mir auch gefiel. Ein paar Krieger kamen uns entgegen, die sich gegenseitig anstießen und in laute Jubelrufe ausbrachen, als sie mich erblickten. „Die mächtige Caillech ist gekommen!“ hörte ich sie flüstern. „Nun werden wir den räudigen Bösmächtigen zerschmettern!“ „Der Sieg ist unser!“ Ich war froh, als wir durch die Reihen der ziemlich wild aussehenden Krieger hindurch waren und eines der langgestreckten Steingebäude betraten. Dieses Gebäude hatte mir Catbath beschrieben. Es mußte die sogenannte Methalle sein. Wir durchquerten die Vorhalle 105
und betraten die eigentliche Banketthalle, die rechtwinklig und gut fünfzig Meter lang war. Zu beiden Seiten des Mittelganges waren je zwei Herde zu sehen, an denen Sklavinnen und freie Frauen mit dem Kochen und Braten beschäftigt waren. Es roch nach Bier und gebratenem Schweinefleisch. Links und rechts befanden sich Sitze, besser gesagt Liegestätten, die aus Fellen gebildet waren. Die langen Tische waren niedrig, und überall waren Teller und Trinkbecher aufgestellt. Ungefähr in der Mitte des gewaltigen Raumes, etwas abgeschirmt von den anderen Tischen, lag ein Paar. Es war der König und seine Frau, da gab es für mich keinen Zweifel, denn Catbath hatte mir die beiden ganz genau beschrieben. Finn, der Sohn des Cumal, war ein stattlicher Mann um die fünfzig. Sein Haar war grau, nur an den Schläfen schimmerte es silbern. Das Gesicht war wild zerfurchtet, die Augen waren von einem unwahrscheinlichen Blau, das mich an den Himmel der südlichen Länder erinnerte. Maghnis, die Tochter des Garach Glundub, Finns Gemahlin und Oisins Mutter, war eine Frau, deren Alter man nicht schätzen konnte. Vermutlich war sie nicht viel jünger als der König, doch die Jahre schienen spurlos an ihr vorübergegangen zu sein. Das blaue einfache Kleid spannte sich um schwere Brüste und un terstrich die Länge ihrer schlanken Beine. Eine bedrückende Sinnlichkeit strahlte sie aus, der 106
sicherlich schon viele Männer erlegen waren. Das rotblonde Haar hatte sie kunstvoll aufgesteckt, die Fingernägel waren bemalt und die Wangen mit Ruan-Kraut gerötet. Die Wimpern und Lider hatte sie mit Beerensaft nachgezogen. Die beiden begrüßten mich herzlich, und mir wurde der Ehrenplatz an der Seite des Königs angeboten. Ich ließ mich auf ein Fell nieder. Das Schwert war mir dabei ziemlich im Weg. Oisin setzte sich neben mir nieder, während seine Gefährten an der Seite Maghnis Platz nahmen. In der Halle war es dunkel, da es keine Fenster gab. Der gewaltige Raum wurde von trübe brennenden Binsenfackeln erhellt, in die sich der glutrote Schein der Herdfeuer mischte. Einige Aufwärter umtänzelten uns, die aus großen Krügen Bier in unsere Becher schütteten. Ich mußte meine Begegnung mit Ardan ganz genau erzählen. Finn unterbrach mich immer wieder und stellte mir Fragen, die mir völlig unwichtig erschienen. „Elcmar wird uns angreifen“, sagte Finn nachdenklich. „Ihm bleibt keine andere Wahl. Er weiß, daß Manannan noch nicht bei uns ist. Diese Gelegenheit wird der Erzschurke nützen.“ „Einige seiner Männer sollen Werwölfe sein“, sagte Diarmait. „Das sind nur Gerüchte“, brummte Finn 107
mißmutig. „Die Werwölfe wurden schon vor langer Zeit vom Stamm der Lir ausgerottet.“ „Es sollen aber einige dieser Nachtgeschöpfe aus Alba gekommen sein“, warf Goll ein. „Dummes Geschwätz.“ Finn winkte verächtlich ab. Er griff nach seinem Becher und erhob sich schwerfällig, dann trank er auf mich, wünschte mir ein ewiges Leben und die Köpfe all meiner Feinde. Nun war die Reihe an mir. Auch ich sprang hoch und trank darauf, daß sich sein Ruhm mehren möge und sich die entseelten Leiber seiner Feinde von hier bis nach Tara erstrecken mögen. Dann durften wir endlich trinken. Ich setzte mich wieder und trank einen Schluck des bitter schmeckenden Bieres. Catbath hatte mich vor diesem Getränk gewarnt, da es ziemlich alkoholhaltig war, einen gewaltigen Rausch, der mit einem grauenvollen Kater verbunden war. Und ich wußte, daß ich im Laufe des Tages noch unzählige Becher trinken würde. Ich setzte meine Magie ein und brachte den halben Inhalt des Bechers zum Verschwinden. Das Methaus füllte sich langsam. Oisin stellte mir immer wieder einige Krieger vor, und ich hatte Mühe, mir all diese verwirrenden Namen zu merken. Dann begann das Essen, das sich über etwa drei Stunden erstreckte. Barden schlugen die Leier und Minstrelsänger sangen von unglücklicher Liebe und von kühnen Kriegern, 108
die als Helden gestorben waren. Von Catbath wußte ich, daß solche Gelage oft mehrere Tage dauerten. Hatte man genug, dann sagte man ganz einfach ein Nickerchen an, und sobald man erwacht war, fraß man weiter, denn anders konnte ich es einfach nicht bezeichnen. Die Eßkultur der alten Iren war einfach schauderhaft. Wild schmatzend und rülpsend stopften sie sich Unmengen Schweine-, Rind- und Ochsenfleisch, Fisch, Käse, Wild und Honig in die fettigen Münder. Dazu tranken sie abwechselnd Met, Bier und Wein. Und alle schienen sich dabei äußerst behaglich zu fühlen. Oisins Gesicht war vom vielen Wein, den er krügeweise in sich hineingeschüttet hatte, leicht gerötet, und seine Augen glänzten. Ein Mann aus dem 20. Jahrhundert wäre schon sinnlos betrunken gewesen, doch seine Bewegungen waren noch immer sicher. Mein Schwert hatte sich schon lange abgelegt, und auch aus dem Mantel war ich geschlüpft, da es immer wärmer in der Halle wurde. Der Hüne an meiner Seite warf mir feurige Blicke zu, die mir nicht unangenehm waren. Ich reagierte nicht auf seine Blicke, aber ich schob ihn auch nicht zur Seite, als er immer näher rückte und seinen mächtigen Körper gegen den meinen drückte. Jeden Augenblick erwartete ich, daß er handgreiflich werden würde. Auch in dieser Beziehung hatte mich Catbath gewarnt. Als 109
Angehörige des Stammes der Lir erwartete man von mir nicht, daß ich noch Jungfrau sei. Die Hexen der Danu waren dafür bekannt, daß sie die Freuden, die ihre Lenden boten, ziemlich großzügig an kühne Helden verschenkten, die dadurch im Ansehen ihrer Freunde stiegen. Für einen Krieger war es eine besondere Ehre, das Lager einer Tuatha De Danann zu teilen. Oisin rutschte noch näher, und seine rechte Hand lag nun auf meinen Schenkeln, die er überraschend sanft zu streicheln begann. „Deine Schenkel sind weich wie die Federn einer brütenden Eiderente“, flüsterte er mir ins Ohr. Beinahe hätte ich über diesen Vergleich laut aufgelacht. Ich preßte die Lippen zusammen und blickte ihn kurz an. „Dein Liebreiz hat mich verzaubert“, flüsterte er weiter. „Gewähre mir die Gunst deiner Lenden, schöne Caillech.“ Da hatte ich schon den Antrag, den ich lieber nicht gehört hätte. Eine Ablehnung wäre eine arge Beleidigung gewesen. „Gern würde ich dein Lager teilen, kühner Oisin“, sagte ich leise und strich über sein Haar, „aber ich habe einen Schwur getan, den ich nicht brechen darf.“ Mißmutig blickte er mich an. „Ich habe geschworen“, sagte ich und versuchte möglichst unglücklich dreinzublicken, „daß ich die Gunst meiner Lenden erst verschenke, wenn Elcmars Kopf 110
an Almhuins Burgtor baumelt.“ Das ernüchterte ihn. „Ich achte deinen Schwur, liebreizende Caillech“, sagte er. „Aber du versprichst mir, daß ich der erste sein werde, der nach Elcmars Tod die Freundschaft deiner Lenden genießen darf.“ „Ich verspreche es dir, starker Oisin“, sagte ich erleichtert. „Dagda, der gute Gott, soll mein Zeuge sein.“ Nun war Oisin zufrieden. Ich war es weniger, denn ich hatte nichts davon erwähnt, daß mein Körper tabu war. Ich war froh, als König Finn die Tafel aufhob und die Halle sich langsam leerte. Mit glühenden Wangen trat ich ins Freie. Finn und Oisin führten mich in der Burganlage umher. Sie zeigten mir die Waffen, Pferde und Kampfwagen. Insgesamt verfügten sie über weniger als fünfhundert Krieger, während Elcmar mehr als tausend kräftige Männer um sich versammelt hatte. Von mir erwarteten sie wahre Wunderdinge. Ich sollte den Kampf gegen Elcmars Druiden aufnehmen. Und nach Oisins Worten sollte es mir leichtfallen, die Zauberer zu besiegen. Ich konnte nur hoffen, daß Manannan mac Lir bald eintreffen würde, denn ich war nicht so sehr von meinen Fähigkeiten überzeugt. Einige Kundschafter trafen ein, die berichteten, daß Elcmar sein Heer in der Nähe von Tara sammelte. Diese Strecke konnte man mit einem raschen Pferd in weniger als 111
drei Stunden zurücklegen. Als es dunkel wurde, loderten rund um die Burganlage Feuer hoch in den Himmel. Wieder versammelten sich die Krieger in der Methalle. Und wieder begann ein üppiges Mahl. Diese Kelten schienen nur Freude am Essen, Trinken, Kämpfen und am Sex zu haben. Plötzlich waren laute Schreie zu hören, die rasch näher kamen. Alle sprangen auf. Ein Krieger betrat die Halle. Alle blickten ihn erwartungsvoll an. „Manannan mac Lir ist eingetroffen!“ brüllte er. Alle brachen in Jubel aus. Da trat der Angekündigte auch schon ein. Langsam wurde es ruhig. Der Hexer schritt gemächlich durch den Mittelgang, und es war so still, daß man das Geräusch seiner Schritte hören konnte. Die Kraft und Selbstsicherheit, die von dem mächtigen Hexer ausging, war körperlich zu spüren. Er war hochgewachsen, schlank und doch kräftig. Sein kastanienfarbenes Haar schimmerte im Licht der Fackeln und lag wie eine Kappe an seinem gutgeformten Schädel. Sein bronzefarbenes Gesicht mit der hohen Stirn, der kleinen, kerzengeraden Nase, den sinnlichen Lippen und dem kräftigen Kinn war ungemein anziehend. Die schiefergrauen Augen waren leicht schräggestellt und blickten amüsiert. Ich konnte mich nicht erinnern, ein derart faszinierendes Männergesicht gesehen 112
zu haben. Zum Unterschied von allen Männern, die ich in dieser Zeit bisher gesehen hatte, war sein Gesicht völlig glatt rasiert. Seine langen Beine steckten in einer weißen Hose und in Stiefeln, die bis zu den Knien reichten. Ein eng anliegendes hemdartiges Gewand unterstrich seinen muskulösen Oberkörper. Um den Hals trug er eine Silberkette, an der ein handgroßes Medaillon baumelte, das nur aus glitzernden Edelsteinen zu bestehen schien, die mit jedem Schritt die Farbe änderten. Er begrüßte das Königspaar und Oisin, dann wandte er sich mir zu. „Sei mir gegrüßt, Caillech, Edelste unseres Stammes, die ich wie meine Schwester liebe“, sagte er und nahm mich in seine Arme. Seine Nähe überwältigte mich. Ich war ihm vom ersten Augenblick an verfallen. Er küßte mich auf die Stirn, dann ließ er mich los. Völlig verwirrt ließ ich mich an seiner Seite nieder und konnte den Blick nicht von ihm wenden. Seine Stimme war sanft und melodiös und einschmeichelnd wie das Rauschen eines Baches. „Elcmar wird im Morgengrauen angreifen, König Finn“, sagte er. „Deine Krieger sollen schlafen gehen.“ Finn stand auf und ließ seine Hauptleute zu sich rufen. Innerhalb von fünf Minuten war die Methalle leer. Nur das Königspaar, Oisin, Manannan mac Lir und ich waren noch 113
anwesend. „Wie sind die Zeichen, Lir?“ fragte Finn. „Sie sind für Elcmar günstig, aber auch für uns. Viel Blut wird fließen, und der Ausgang des Kampfes ist ungewiß“, sagte der mächtige Druide. Finn blickte Manannan mac Lir ein paar Minuten schweigend an. „Deine Sehergabe war schon besser, Blutsbruder“, brummte Finn etwas verärgert. Manannan mac Lir lächelte. „Du vergißt, daß Elcmar mächtige Druiden um sich gesammelt hat, mein Bruder. Sie werden ihn mit der Magie des Elfenvolkes schützen. Alles hängt von Caillech ab.“ Nun starrten mich alle an. „Von mir hängt alles ab?“ fragte ich überrascht. Der Hexer nickte langsam. „Du verfügst über eine Fähigkeit, gegen die Elcmars Druiden machtlos sind, wenn du sie anwenden kannst.“ Ich wußte, worauf er anspielte. Es war die Fähigkeit, die Zeit zu beherrschen. „Wir müssen Elcmar töten und seine Druiden ausschalten“, sprach der Lir weiter, „dann bricht der Kampfeswille von Elcmars Kriegern zusammen.“ „Da magst du schon recht haben, Bruder“, seufzte Finn, „aber wie willst du ihn töten, wenn ihn seine Zauberer schützen?“ „Das wird Caillech tun“, sagte Manannan und erhob sich. „Weckt mich eine Stunde vor 114
Sonnenaufgang. Komm mit, Caillech.“ Wir verließen die Halle. „Ich weiß, daß dir deine Zunge vor Fragen brennt“, sagte er auf deutsch. „Ich bin müde, ich brauche ein paar Stunden Schlaf, Coco.“ „Wer bist du?“ fragte ich mit zittriger Stimme. „Merlin?“ „Du mußt auch schlafen“, sagte er und berührte mich mit seiner rechten Hand. Plötzlich war ich wie gelähmt. Alles drehte sich vor meinen Augen, und ich schlief ein. Irgend etwas berührte meine Stirn, und ich erwachte. Ich setzte mich auf und blinzelte. Auf einem Tisch stand eine Talgkerze. Manannan mac Lir saß neben mir auf dem einfachen Bett. „Wie fühlst du dich?“ „Gut“, sagte ich. „Aber ich möchte doch zu gern wissen, wie ich das…“ Er legte mir den rechten Zeigefinger auf die Lippen. „Still“, sagte er leise. „Für Fragen haben wir nach der Schlacht noch genügend Zeit – wenn wir sie überleben…“ Mit beiden Händen strich ich mir das Haar aus dem Gesicht und ließ ihn dabei nicht aus den Augen. „Hör mir gut zu, Coco“, sagte er rasch. „Wir bleiben dicht beisammen. Ein Teil der Krieger wird das Nordtor angreifen, während das Gros der Angreifer sich das Südtor vornehmen wird. Sobald der Angriff auf das Nordtor erfolgt und die ersten Krieger in die Burg eindringen, stürmen wir hinaus. Du versetzt dich in die 115
andere Zeitdimension und nimmst mich dabei mit. Glaubst du, daß du das schaffen kannst?“ Ich nickte. „Dann ist es gut“, sagte er erleichtert. „Gegen diesen Zauber haben Elcmars Druiden kein Gegenmittel, da sie von dieser Fähigkeit nie etwas gehört haben. Ich will unnötiges Blutvergießen vermeiden, deshalb muß ich Elcmar töten, mit dem ich noch eine alte Rechnung zu begleichen habe.“ „Und was ist mit den Druiden?“ „Ich kann sie nur für einige Zeit lähmen. Sie bedienen sich einiger neuer Zauberformeln, die sie in den letzten Monaten erprobt haben. Es würde zu lange dauern, bis ich die Gegenformeln gefunden habe. Sie sind sehr mächtig geworden, zu mächtig. Ohne deine Hilfe könnte ich mich ihnen nicht einmal nähern, obzwar mein Zauber sehr stark ist. Du siehst also, alles hängt von dir ab. Noch etwas, Coco. Einer der Druiden – sein Name ist Idan – ist besonders mächtig. Er versucht, Merlins Höhle zu finden, was ihm aber noch nicht gelungen ist, doch viele seiner Anhänger treiben sich in Wales herum und verhindern, daß ich die Höhle erreichen kann. Und es ist für dich besonders wichtig, Merlins Höhle zu finden, denn dort befindet sich das zweite Siegel. Versuche, an Idan heranzukommen und ihm ein paar Haare auszureißen.“ „Ich werde es versuchen“, sagte ich. „Was wäre geschehen, wenn ich nicht gekommen wäre?“ 116
Er blickte mich ernst an. „Wir hätten keinerlei Chancen gegen Elcmar gehabt. Seine Druiden hätten mit ihren magischen Kräften alle Gebäude in Brand gesteckt und Finns Krieger gelähmt, die dann von Elcmars Männern abgeschlachtet worden wären.“ „Und was wäre mit dir geschehen?“ „Mich hätten sie gefangen genommen und gevierteilt und mir den Kopf genommen und ihn vergoldet. Er würde Elcmar als Trinkefäß dienen.“ „Und was ist, wenn ich versage?“ „Dann zieren zwei Köpfe Elcmars Tafel“, sagte er unbewegt. Mir lief es kalt den Rücken herunter, als ich mir vorstellte, daß mein ausgehöhlter Kopf Elcmar als Trinkbecher dienen sollte. „Und wenn wir gewinnen, was geschieht dann?“ „Wir fahren nach Wales und versuchen das zweite Siegel zu bekommen. Aber darüber sprechen wir besser erst, wenn der Sieg unser ist.“ Neben dem Südtor blieben Manannan und ich stehen. Wir hatten unsere Kleider abgelegt, denn wir kämpften nach der uralten Art der Kelten: nackt. Ich trug nur den Gürtel, an dem die Scheide hing, in der sich ein spitzer Dolch befand. Mein Haar hatte ich zu einem dichten Zopf geflochten, damit es mich nicht behinderte. Ich hatte auch die Armreifen und den Torques abgelegt. 117
Manannan hatte sogar auf einen Dolch verzichtet. Er hatte allen Schmuck abgelegt, auch sein Amulett, das ihm in diesem Kampf nicht helfen konnte. Rings um uns standen die Krieger. Alle waren so wie wir nackt. Die meisten waren mit Schwertern und Speeren bewaffnet, der Großteil trug Schilder. Der Mut, die Stärke und Kaltblütigkeit der Kelten war bekannt. Üblicherweise wurde ihr Kampf mit lauten Schreien begleitet, in die sich das wilde Geheul von Trompeten und anderen Instrumenten mischte. Aber in dieser Auseinandersetzung wurde von diesen Mitteln kein Gebrauch gemacht. Es war kühl. Nebelfetzen zogen durch den Burghof. Ich griff nach dem Signatstern und spürte, wie seine Kräfte auf mich überflossen. Manannans Nähe gab mir Mut, denn einen Augenblick hatte ich mich ziemlich einsam und verlassen in dieser fremden Zeit gefühlt. Der Hexer schien völlig ruhig zu sein. „Jetzt werden sie jeden Augenblick angreifen“, flüsterte er mir zu. Ich wandte den Kopf dem nördlichen Burgtor zu, und in diesem Augenblick ging das Tor in Flammen auf. Im fahlen Licht des herandämmernden Morgens sah alles noch gespenstischer aus. Die Rauchschwaden verbanden sich mit dem Nebel, dann war das Geklirr der Waffen zu hören. 118
Ich griff nach Manannans Hand. Sie lag weich und warm in der meinen. Nun waren die ersten Schreie zu hören, unmenschlich, schauerlich. Ich hatte Angst. Zitternd drückte ich mich an den Druiden, der mir aufmunternd zulächelte. Das Klirren der Waffen wurde stärker, klang wie das Brechen von Glas. Sie werden es wohl nie lernen, diese Geschöpfe, die sich Menschen nennen, dachte ich traurig. Jeder Zoll des Bodens dieser Welt schien mit Blut getränkt zu sein. Aber dann hatte ich keine Zeit mehr für solche bedrückenden Gedanken. Jetzt mußte ich wie eine der Heldinnen aus einem Sword & Sorcery-Roman handeln: kühn und furchtlos. Das Tor vor uns fing Feuer, krümmte sich zusammen und zersprang. „Los, Coco!“ schrie der Lir. Ich glitt in den rascheren Zeitablauf und riß Manannan mit. Die Flammen standen still. Ein Krieger versperrte uns den Weg, und ich stieß ihn zur Seite. Dann sprangen wir durch die Flammen und rannten auf die Ebene hinaus. Hunderte von Kriegern versperrten uns den Weg. „Du mußt dich links halten, Coco.“ Ich folgte seinem Ratschlag. Nach etwa hundert Meter konnten wir einen Bogen um die Angreifer schlagen, die alle wie Statuen dastanden, gefangen durch meine Fähigkeit. Meine Kräfte wurden schwächer. Es war schon schwierig genug, in der anderen 119
Zeitdimension zu bleiben, zu zweit war der Kräfteverschleiß fast doppelt so groß. Weit vor uns sah ich vier weißgekleidete Gestalten, die einen finster blickenden Sterblichen umringten, der schwer bewaffnet war. Unweit von Elcmar stand ein Kessel, der an einem Dreibein befestigt war. Aus dem Kessel drang ein dunkelblauer Dampf, der sich aber im Augenblick natürlich nicht weiter ausbreitete. Nun konnte ich mehr Einzelheiten erkennen. Die Druiden hielten Haselnußgerten in der rechten Hand, die vorn gegabelt waren. Elcmar sah furchterregend aus. Sein Gesicht war von unzähligen Narben verunstaltet, die nicht einmal der wild wuchernde Vollbart ganz verdecken konnte. Irgendwann einmal hatte er seine Nase verloren, zwei Löcher waren zu sehen. „Der Druide mit dem roten Bart ist Idan“, sagte Manannan. Ich haste auf die Gruppe zu. Als wir den ersten Druiden erreicht hatten, blieb ich stehen. Der Lir zerbrach die Gerte und berührte die Stirn des Magiers mit der rechten Hand, dann kam der nächste Druide an die Reihe. Idan war der letzte. Als auch seine Rute zerbrochen war, riß ich ihm ein paar Kopf- und Barthaare aus, die ich in die Scheide meines Dolches stopfte. „Die Druiden sind für einige Zeit ausgeschaltet“, sagte Manannan mac Lir. „Ich muß nun einen Kreis ziehen.“ 120
Er klammerte sich noch immer an mir fest, bückte sich und zog mit seinem Finger einen Kreis in den harten Boden. „Nun versetz uns in die normale Zeit, Coco.“ Ich tat es. Die Druiden standen wie Steinfiguren da. Das Brüllen von Elcmars Kriegern war zu hören, die sich kampfwütig auf die Burg zubewegten. Manannan klatschte in die Hände, und um uns bildete sich eine flimmernde magische Glocke, die nur er durchbrechen konnte. Elcmar sprang einen Schritt zurück und riß sein Schwert heraus. „Deine Druiden können dir nicht helfen, Bösmächtiger vom verdammten Stamm der Fir Böig“, sagte Manannan spöttisch. Wortlos ging Elcmar auf seinen verhaßten Gegner los. Doch der Magier wich dem Hieb geschickt aus. „Zwischen uns besteht noch eine alte Rechnung, Elcmar“, sagte Manannan. „Dein Kopf wird meinen Tisch zieren, verfluchter Lir“, zischte Elcmar und schlug wieder zu, doch sein Schwert riß eine tiefe Furche in den Boden, denn der Druide tauchte plötzlich hinter ihm auf und stieß ein höhnisches Lachen aus. Elcmar wirbelte herum und ging sofort auf seinen Feind los. Manannan mac Lir wich zwei Schritte zurück und hob eine der abgebrochenen Haselnußgerten auf, die sich in seinen Fingern 121
zu einem armdicken rasiermesserscharfen Krummschwert verwandelte, das in dieser Zeit völlig unbekannt war. „Dein Kopf gehört mir, scheußliches Ungetüm“, brummte der Lir. „Ich werde deinen Schädel eigenhändig an das Burgtor nageln, und alle von Finns Kriegern werden ihn bespucken.“ Nun begannen sich die beiden zu umkreisen. Mit Hilfe seiner Magie hätte Manannan leicht den Krieger töten können, doch das wollte er nicht. Er wollte ihn im ehrlichen Kampf besiegen. Ich wich ein paar Schritte zurück, bis ich nicht mehr weiterkonnte, da mich die magische Sperre daran hinderte. Elcmar deutete einen Hieb an, doch der Druide reagierte nicht. Wieder sprang Elcmar einen Schritt vorwärts und diesmal schlug er zu. Der Hexer wehrte den Hieb spielerisch ab. „Genug der Spielerei“, zischte Manannan, als er fünf weitere Angriffe des ungestümen Elcmar abgewehrt hatte. „Jetzt hole ich mir deinen Kopf, Scheusal!“ Aber das war nicht so einfach, denn Elcmar war ein ausgezeichneter Kämpfer. Verbissen wehrte er die heftigen Angriffe ab. Dieser Kult, den die Kelten mit Menschenköpfen trieben, war mir unheimlich, und ich fand ihn grauenvoll. Catbath hatte mir die Gründe zu erklären versucht, die einen Kelten dazu trieben, den Kopf des toten Feindes an sich zu nehmen. Der 122
Menschenkopf war das Symbol ihrer religiösen Auffassungen. Ein Symbol, wie es bei den Christen das Kreuz ist. Nach ihrem Glauben befand sich im Kopf der Sitz des Lebens und aus ihm entsprangen die magischen Kräfte. Manannan mac Lir machte nun ernst. Er drang verbissen auf Elcmar ein, sprang wie ein Leopard hin und her, und dann überraschte er den Krieger. Ich schloß die Augen, als die Klinge des Zauberers Elcmars Kopf vom Rumpf trennte. „Wir können zurück in die Burg gehen“, sagte Manannan. In der Rechten hielt er Elcmars Kopf. Der Anblick war für mich so grauenvoll, daß ich spürte, wie mein Magen zu rebellieren begann. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich mich einigermaßen gefangen hatte. Wir rannten zur Burg zurück, in der in der Zwischenzeit der Kampf eingesetzt hatte. Überall waren kämpfende Männer zu sehen, aber es gab auch genügend Frauen, die sich aktiv am Kampf beteiligten. Wir stiegen über ein paar Verwundete hinweg und kletterten den Erdwall hoch. „Seht her, ihr Krieger Elcmars!“ schrie Manannan mac Lir, als wir uns in der normalen Zeit befanden. „Elcmar ist tot und seine Druiden sind gelähmt!“ Schaudernd wandte ich mich ab, als er den bluttriefenden Kopf seines Gegners triumphierend hochriß. Für eine Hexe hatte ich 123
einen verflucht schlechten Magen, stellte ich wieder einmal fest. Jubelschreie und Wutschreie vermischten sich zu einem scheußlich klingenden Geheul. Einige Zeitlang wehrten sich Elcmars Krieger noch. Ein paar Sekunden sah ich dem Gemetzel zu, dann reichte es mir. Sie gehörten der gleichen Rasse an, doch gingen sie mit einer Wut und einem Haß aufeinander los, wie es nur Menschen tun konnten. Und Dämonen, setzte ich rasch hinzu. Mir reichte das alles. Ich floh in die andere Zeitdimension und verschwand in der Methalle. Von dort aus betrat ich das Gebäude, in dem sich meine Kleider befanden. Der Kampflärm wurde immer leiser. Und als ich mich fertig angekleidet hatte, waren nur noch laute Jubelschreie zu hören. Manannan mac Lir trat ein. Sein Gesicht war müde und sein Blick trübe. „Es ist vorbei“, sagte er ohne jeglichen Triumpf in der Stimme. „Wir haben gesiegt.“ Er griff nach seinen Kleidern. „Du bist nicht froh darüber?“ Er blickte mich nicht an. „Ich hasse das alles“, sagte er grimmig. „Mir ist dieses Töten zuwider.“ Ich schwieg. Was hätte ich schon viel sagen können. Diese Entschuldigung hörte man immer wieder. Es war so einfach zu sagen: man kann oder man konnte nicht anders. Das Gebrüll wurde immer lauter. 124
„Caillech! Manannan mac Lir!“ „Wir müssen hinausgehen, Coco.“ Ich warf ihm den Dolch hin. „In der Scheide befinden sich Idans Haare.“ „Danke“, sagte er und schnallte sich den Dolch um. Wir traten in den Hof, und das Gebrüll wurde zu einem heulenden Orkan. Der Anblick, der sich mir bot, war schauerlich, barbarisch. Hunderte von Kriegern tanzten herum. Ihre Leiber waren blutbeschmiert, und viele von ihnen hielten triumphierend die Köpfe ihrer Feinde in den Händen. „Es ist scheußlich, Coco“, sagte er. „Schau nicht hin.“ „Ich habe schon viel Schlimmeres gesehen“, entgegnete ich. Wenn ich da so an die Auseinandersetzungen innerhalb der Schwarzen Familie dachte… Da ging es oft recht grausam zu. Auch der Alptraum der herumtanzenden Krieger ging vorüber. Wir gingen in die Methalle, die sich rasch füllte. Als mein Blick auf Oisin fiel, erschauderte ich. „Was hast du?“ fragte der Druide. „Oisin wurde mir gegenüber zudringlich“, erklärte ich ihm. „Ich belog ihn und sagte, daß ich einen Schwur getan habe, wonach ich die Gunst meiner Lenden erst verschenken dürfe, wenn Elcmars Kopf am Burgtor festgenagelt ist. Und nun ist es soweit. Ich muß mein 125
Versprechen einhalten, aber ich habe keine Lust dazu.“ „Versprechen muß man halten“, sagte Manannan mac Lir ernst. „Kannst du mir denn nicht helfen?“ Er blickte mich durchdringend an. „Ich könnte dir helfen, Coco, aber ich werde es nicht tun. Für mich ist es etwas Selbstverständliches, Versprechen zu halten.“ „Ich wollte ihn nicht beleidigen“, erklärte ich, „deshalb hielt ich ihn hin. Verstehst du?“ „Nein, ich verstehe dich nicht. Ich hätte an deiner Stelle anders gehandelt. Du mußt dein Versprechen einlösen, und es wird dir eine Lehre sein.“ „Du ver…“ Ich brach ab und biß mir auf die Lippen. Manannan mac Lir hatte recht. So kam es, daß ich in dieser Nacht das Lager Oisins teilte. Ein geheimnisvolles graues Licht lag über der Landschaft und ließ alles trostlos erscheinen. Neben mir galoppierte Manannan mac Lir, der auf einem hochrahmigen Fuchshengst saß, der viel Weiß an den Beinen und eine große Blesse hatte. Der Druide hatte ihn Siona getauft, nach dem Fluß, an dem das Pferd geboren worden war. Während unsere Pferde so nebeneinander herliefen, schnaubten sie sich immer wieder ihre gegenseitige Verachtung ins Gesicht. In der Burg hatte sich Siona meiner Stute wie ein schüchterner junger Mann genähert und sie beschnuppert, und sie hatte wie ein un 126
schuldiges Mädchen reagiert und seine Zärtlichkeitsbeweise wild schnaubend von sich gewiesen. Das Schiff des Lir lag in der Bucht von Luan. Wir hatten einen stundenlangen Ritt vor uns. „Nun haben wir genügend Zeit für eine Unterhaltung“, sagte ich und blickte ihn an. Er warf mir einen kurzen Blick zu, dann lächelte er jungenhaft. „Beginne mit deinen Fragen, Coco.“ „Wer bist du?“ „Ich bin Manannan mac Lir“, antwortete er. „Gelegentlich werde ich auch Oirbsen genannt.“ „Und du bist nicht auch zufällig Merlin?“ fragte ich spöttisch. Er zuckte mit den Schultern. „Bist du der Oirbsen, der mir in meiner Zeit begegnete?“ Wieder ein Schulterzucken. „So kommen wir nicht weiter“, sagte ich wütend! „Du beantwortest keine meiner Fragen.“ „Du stellst mir Fragen, auf die ich dir keine Antwort geben darf. Du wirst alles zum richtigen Zeitpunkt erfahren.“ Wütend ballte ich die Hände zu Fäusten. „Ich wurde von einem gnomartigen Wesen, das sich Oirbsen nannte und sich als Bote Merlins ausgab, in eine Falle gelockt“, sagte ich, nachdem sich mein Zorn etwas gelegt hatte. „Er stürzte mich in den Zeitschacht, und ich erwachte in dieser Zeit. Der 127
Signatstern führte mich zu einem alten Druiden, der sich Catbath nannte und mir sagte, daß er schon seit drei Jahren auf mein Erscheinen wartete. Kennst du diesen Druiden?“ „Ja, ich kenne ihn flüchtig. Er ist ein Vertrauter Merlins. Vielleicht ist es aber Merlin selbst. Ich kann es dir nicht sagen, da ich es nicht weiß. Merlin tritt oft in den seltsamsten Gestalten auf.“ „Erzähle mir mehr über Merlin“, bat ich. „Merlin stammt aus einer Welt, die schon lange versunken ist. Vielleicht kam er von Ys, von Kalliste, von Rungholt oder von Atlantis. Niemand weiß es. Er ist der ewige Wanderer zwischen den Zeiten, ein Magier, der in unzähligen Gestalten auftritt. Ich verdanke ihm alles. Er hat mich schon als Knabe mit den Geheimnissen der Magie vertraut gemacht, ich bin sein Freund und Diener. Aber er weiht mich nicht in seine Pläne ein. Er ist ein Mann, der seine Entschlüsse allein trifft. Ich vermute, daß er es war, der vor vielen Jahren die Zeitschächte baute, die sich überall auf der Erde finden. Er ist ein geheimnisvoller Mann, der oft in die Geschicke der Menschheit entscheidend eingreift.“ „Wann tritt er als Merlin auf?“ „Unter diesem Namen wird er erst in etwa sechshundert Jahren bekannt werden. Und zu diesem Zeitpunkt ist etwas mit ihm geschehen, das ich nur ahnen kann. Ich vermute, daß er von einem noch mächtigeren 128
Magier gefangen genommen wurde. Mit seiner starken Seherkraft muß er es gewußt haben, und er hat verschiedene Vorbereitungen getroffen, die ihm helfen sollen.“ „Woher hast du gewußt, daß ich zu Finn kommen werde?“ „Vor drei Jahren besuchte mich Merlin auf Inis Manannan und erzählte mir von dir. Vor drei Tagen bekam ich von Merlin eine Botschaft. Ich solle sofort nach Almhuin fahren, dort werde ich dich treffen. Er warnte mich vor Idan, den er als seinen alten Feind bezeichnete. Merlin gab mir Ratschläge, wie wir Elcmar besiegen können, und wie immer waren sie richtig.“ „Wer ist dieser Idan?“ „Ich vermute, daß er so wie Merlin aus einem der längst versunkenen Länder stammt, aber aus welchem, kann ich dir leider nicht sagen.“ „Hm“, brummte ich, „und was hast du nun für einen Auftrag, Lir?“ „Ich soll dich nach Dyfed bringen. Du mußt nach Merlins Höhle suchen. In ihr wirst du das zweite Siegel finden.“ „Weißt du, wo sich diese Höhle befindet?“ „Nein, das weiß nur Merlin. Angeblich soll sie sich im Berg Bryn Myrddin befinden, doch das ist nur ein Gerücht, das aber nicht aus dieser Zeit stammt.“ „Und wie soll ich dann diese Höhle finden?“ „Merlin wird dir sicherlich einen Hinweis geben.“ 129
„Nun gut“, brummte ich. „Und sollte es mir tatsächlich gelingen, dieses Siegel zu bekommen, was geschieht dann?“ „Du kehrst dann in deine Zeit zurück.“ „Wo befinden sich die anderen Siegel, die ich suchen soll?“ „Sie sind an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten versteckt.“ „Das ist alles so unverständlich und geheimnisvoll.“ Ich seufzte verbittert. „Merlin mußte verschiedene Vorsichtsmaßnahmen treffen, das muß dir doch klar sein, Coco. Er kann ja nicht ausschließen, daß im Lauf der Jahrhunderte einige dieser Siegel von Unwürdigen entdeckt werden. Denk nur daran, wie du den Signatstern erhalten hast.“ „Was weißt du darüber?“ fragte ich erstaunt. „Du stahlst ihn Zakum, nicht wahr?“ „Kennst du Zakum?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe von ihm gehört.“ „Gibt es schon die Schwarze Familie in dieser Zeit?“ „Nein, es gibt verschiedene Dämonen und Nachtgeschöpfe, die sich aber nur selten unter die Menschen mischen.“ „Einige von Finns Kriegern sprachen von Werwölfen.“ „Sie waren einmal die Herrscher über Erinn, doch sie wurden besiegt und gnadenlos getötet. Sicherlich gibt es aber noch immer einige, die sich in unwegsame Gebiete 130
zurückgezogen haben.“ Eine halbe Stunde ritten wir schweigend weiter, dann legten wir eine Rast an einem kleinen Bach ein. Unsere Satteltaschen waren schwer mit Proviant bepackt, den uns Finn mitgegeben hatte. Wir setzten uns nieder, und ich sah den Pferden zu. Ich mußte grinsen, als sich der Hengst vorsichtig der Stute näherte, die ihn einfach ignorierte und ruhig weitergraste. Als sich Siona bis auf zwei Schritte Epona genähert hatte, hob die Stute den edlen Kopf und schnappte nach Sionas Hals. Der Hengst wich geschickt aus und stieß ein verärgertes Schnauben aus. Dann begann auch er zu grasen. „In meiner Zeit kommst du in vielen irischen Sagen vor, Manannan mac Lir“, sagte ich. „Ich weiß es.“ Er lächelte. „Ich werde als mächtiger Druide und berühmter Seefahrer hingestellt, und ich komme in Sagen vor, die ich selbst nur gehört habe.“ „Du sollst ein ziemlicher Frauenheld sein“, sagte ich und musterte ihn aufmerksam. „Ich habe die Gunst vieler Frauenlenden genossen“, sagte er. Dann hob er die Schultern. „Aber das ist in dieser Zeit durchaus üblich.“ „Catbath hat mir erzählt, daß ein echter Druide nicht die Freuden genießen darf, die ein Weib bietet, denn sonst würde er seine Fähigkeiten verlieren.“ 131
„Das trifft auf viele Druiden zu, aber nicht auf die Angehörigen des Stammes der Lir.“ Ich schob mir ein Stück Fleisch in den Mund und trank einen Schluck Wein dazu. „Stimmt es, daß du mit einer Side namens Fann verheiratet bist?“ fragte ich neugierig, als ich mit der Mahlzeit fertig war. „Noch bin ich dieser Fann nicht begegnet“, sagte er lachend und stand auf. Wir bestiegen die Pferde und ritten weiter. Die Landschaft wurde immer düsterer, je näher wir der Küste kamen. Dann begann es leicht zu regnen und ein scharfer Wind kam auf, der vom Meer her wehte. „Dieser Wind ist nicht natürlich“, sagte der Lir einige Zeit später. „Dahinter steckt Schwarze Magie. Irgend jemand will verhindern, daß wir noch heute Erinn ver lassen.“ Der Wind wurde immer stärker. Er peitschte uns den Regen ins Gesicht und hüllte die Landschaft mit Wasserschleiern ein. „Rascher!“ schrie Manannan mac Lir plötzlich. „Wir müssen rascher reiten, denn ich spüre, daß etwas mit meinem Schiff geschieht.“ Wir trieben die Pferde zur höchsten Eile an, doch der immer stärker werdende Wind, der zum heulenden Sturm wurde, verlangsamte den Schritt der Tiere. „Wir kommen zu spät“, keuchte der Lir wütend. Als wir die Bucht von Luan erreichten, hörte 132
der Regen und der Sturm plötzlich auf. Von einer hohen Klippe aus hatten wir einen guten Überblick über die Bucht. Ein breites, rundliches Segelschiff ankerte in der Bucht, das von drei großen Booten umringt wurde. An Bord des Segelschiffes lagen ein Dutzend toter Männer. Wild aussehende Krieger schleppten Ballen und Krüge auf die Boote. „Das sind die Männer von Trencossach“, knurrte der Lir. „Seeräuber.“ Der letzte der Männer verließ das einmastige Segelschiff. Die Boote legten ab. Als sich die Boote etwa fünfzig Meter vom Segelschiff entfernt hatten, standen einige der Krieger auf, die mit Brandpfeilen auf das Schiff schossen. Das Segel ging in Flammen auf, dann fing das Heck Feuer. Ein starker Wind kam auf, der die Flammen hoch in den Himmel riß. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Innerhalb von wenigen Sekunden brannte das ganze Schiff lichterloh. Es war rettungslos verloren. „Dafür wirst du büßen, Trencossach“, sagte der Lir, und seine Stimme klang hart wie Stahl. Ich sah ihn an. Sein Gesicht war eine Maske, nur die schiefergrauen Augen schienen Flammen zu versprühen. Die Boote strebten auf das offene Meer hinaus. Bald waren sie nicht mehr zu sehen. Sie verschmolzen mit dem Grau des Meeres 133
und dem Grau des Himmels. Es dauerte keine fünf Minuten, dann war das brennende Schiff im Wasser verschwunden. „Diese Bestie“, sagte der Lir wütend. „Er hat alle meine Männer getötet. Aber er soll sich nicht lange dieses Sieges freuen. Er und seine Männer sind rettungslos verloren. Das Meer wird sie morgen verschlingen.“ Manannan ritt die Klippe entlang, und ich folgte ihm. Nach ein paar Minuten erreichten wir den Strand, der mit Brandungsgeröll übersät war. Weit vor uns erblickte ich eine kleine Fischerhütte, neben der einige Netze zum Trocknen hingen. Unweit von der Hütte entfernt lag ein Boot. Vor der Hütte sprangen wir von den Pferden. „Die Fischer werden vor den Piraten geflohen sein“, sagte Manannan. „Vermutlich werden sie erst morgen zurückkommen.“ Wir betraten die ärmlich eingerichtete Hütte, in der es – wie konnte es anders sein – nach Fisch stank. Das Feuer im Herd war erloschen. Der Lir blickte eine Kerze an und sofort begann der Docht zu brennen, dann stapfte er auf den Kamin zu, und die Holzscheite begannen unter seinem Blick zu glühen. Sekunden später brannte das Feuer. „Ich versorge die Pferde“, sagte Manannan und verließ die Hütte. In der kleinen Hütte wurde es rasch warm. Ich schlüpfte aus meinem Umhang, drückte ihn aus und hängte ihn neben dem Kamin auf 134
einen Haken. Mit einem Tuch trocknete ich mein feuchtes Haar ab und ließ mich vor dem Kamin auf ein Fell nieder. Mein Kleid war ebenfalls klitschnaß, und ich fühlte mich äußerst unbehaglich in ihm. Kurz entschlossen löste ich meinen Gürtel von den Hüften und zog das Kleid aus. „Dumme Gans“, sagte ich ein paar Sekunden später und stand auf. Hier konnte ich ja meine Fähigkeiten einsetzen. Ich brauchte nicht als normaler Mensch aufzutreten. Sekunden später war mein Haar und mein Körper trocken. Das Kleid und den Umhang hätte ich auch innerhalb weniger Augenblicke trocknen können, doch ich wollte es nicht, zumindest nicht sofort. Als ich Manannans Schritte hörte, drehte ich mich langsam um und blickte ihm entgegen. Er warf die Sättel auf den Boden und legte die Satteltaschen auf den Tisch. Ich atmete rascher, als er den Kopf hob und mich anblickte. Der Ausdruck seiner Augen änderte sich nicht, als er mich eingehend musterte. „Du bist schön, Caillech“, sagte er schließlich. „Jeder Mann muß sich glücklich schätzen, dem du die Gunst deiner Hüften schenkst.“ Er las die Einladung in meinen Augen, doch er reagierte nicht darauf. „Zieh dich an“, sagte er und hob die rechte Hand. Mein Kleid bewegte sich und schwebte auf 135
mich zu. Verärgert kleidete ich mich an. Er ließ sich vor dem Tisch nieder und versank in ein dumpfes Brüten. Ich setzte mich vor dem Kamin nieder und warf ihm immer wieder einen Blick zu. Es war dumm von mir gewesen, daß ich ihn zu verführen versucht hatte. Er hatte seine Männer verloren, die ihm sicherlich sehr nahe gestanden waren, und sein Schiff war verbrannt, und da hatte ich geglaubt, daß ihm der Sinn nach fleischlichen Genüssen stände. Wieder einmal mußte ich betrübt feststellen, daß ich noch sehr viel zu lernen hatte. „Wie kommen wir nun nach Wales?“ fragte ich ihn. „Das ist kein Problem“, sagte er und blickte mich an. „Wir fahren mit einem Fischerboot hinüber. Da müssen wir aber die Pferde hier lassen, und das möchte ich vermeiden.“ „Gibt es keine anderen großen Schiffe, die nach Wales fahren?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, denn es gibt kaum Handel zwischen Erinn und Dyf ed.“ Langsam stand er auf und ging zur Tür. „Wohin gehst du?“ „Die kühle Nachtluft wird mir gut tun“, sagte er. „Ich gehe mir ein wenig die Beine vertreten.“ Während er spazieren ging, richtete ich das Abendbrot und unser Lager für die Nacht her. Ich legte ein paar Holzscheite nach und setzte mich wieder nieder. Ich starrte in die Flammen und wurde müde. 136
Meine Augen schlossen sich, und ich döste vor mich hin. Plötzlich schreckte ich hoch. Ich riß die Augen auf und starrte ins Feuer. In den Flammen sah ich ein Bild, das immer deutlicher wurde. Eine Brandungsplatte war zu sehen, hinter der sich steile Felswände erhoben. Dann sah ich drei Klippen, die wie Menhire waren. Genau hinter den Klippen befand sich eine Brandungshohlkehle, in der sich ein kreisrundes pechschwarzes Loch befand, das leicht flimmerte. Für einen Augenblick sah ich in diesem Loch Merlin erscheinen, der mir lächelnd zuwinkte und mich zum Näherkommen einlud. Dann verblaßte seine Gestalt und auch die Bilder verschwanden. Erregt sprang ich auf und lief zur Tür, die in diesem Augenblick geöffnet wurde. Manannan blickte mich verwundert an. „Ich habe eben eine Vision gehabt“, sagte ich hastig. „Merlin ist mir erschienen.“ „Beruhige dich, Caillech“, sagte er und zog mich zum Tisch hin. „Erzähle.“ „Kennst du hier in der Nähe eine Küste, wo sich drei menhirartige Klippen befinden?“ „Ja, das ist ganz in der Nähe.“ „Diese Klippen sah ich in meiner Vision, und dann war ein schwarzes Loch zu sehen, das flimmerte, und darin sah ich Merlin, der mir zulächelte und mich zu sich herwinkte.“ „Das ist Merlins Hilfe“, freute sich der Lir. „Er hat dir einen Weg gezeigt, wie wir nach Wales 137
gelangen können.“ Ich kniff die Augen zusammen. „In meiner Zeit gibt es an einigen Stellen der Erde sogenannte ,Tore der Dämonen’. Betritt man so ein Tor, dann gelangt man durch es zu einem anderen Punkt auf der Erde. Es ist eine Art Materietransmitter, wie sie zu meiner Zeit oft in utopischen Romanen beschrieben werden.“ „Ich kenne die magischen Tore“, sagte er. „Merlin hat mir eines auf Inis Manann gezeigt. Durch dieses Tor gelange ich nach Europa. Damit hat sich das Problem gelöst, wie wir nach Wales kommen.“ Es war ein traumhaft schöner Herbsttag. Der Himmel war wolkenlos und von einem verwaschenen Blau, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Eine sanfte Brise wehte vom Meer auf uns zu und brachte unser Haar in Unordnung. Als wir die Bucht von Luan erreichten, sprang der Lir vom Pferd, und ich folgte seinem Beispiel. Das Meer war ruhig. Sanft schlugen die Wellen an den Strand. Alles war friedlich, nur ein paar Möwen stiegen laut kreischend in den Himmel. „Worauf warten wir, Manannan?“ fragte ich nach ein paar Minuten. Der Druide stand wie eine Statue da und blickte angestrengt über das Meer. „Vor langer Zeit begehrte ich Tuadh, die Tochter des Königs Conaire Mor von Tara“, 138
erzählte Manannan mac Lir. „Sie war ein unglaublich schönes Mädchen. Ich wollte mit ihr das Lager teilen, und sie war auch einverstanden damit, doch der König hatte einiges dagegen, da er seine Tochter Ruad, dem Sohn Rigdonns, versprochen hatte. Ich entführte sie und lebte mit ihr einige Wochen glücklich zusammen. Aber Ruad sann auf Rache. Eines Tages, als ich auf der Jagd war, schlich er zu Tuadh und raubte sie. Tuadh verfluchte den Seefahrer und stürzte sich ins Meer, denn sie wollte lieber tot sein, als an seiner Seite leben. Doch Tethra, der Herrscher der Geschöpfe des Meeres, rettete sie und verwandelte sie in eine Meerfrau. Seither lebt die schöne Tuadh, die jetzt den Namen Albhine führt, mit anderen Meerfrauen im Palast von Tethra, der meinem Stamm angehört.“ „Eine phantastische Geschichte“, sagte ich skeptisch. „Du glaubst mir nicht, schöne Caillech, doch ich spreche die Wahrheit. Albhine sann auf Rache. Sie verfolgte Ruans Schiff, und als er fast die Küste seiner Heimat erreicht hatte, schlug sie mit ihren neuerworbenden Zauberkräften zu. Eine ungeheure Flutwelle hob das Schiff hoch und schleuderte es gegen die Klippen, wo es zerschellte. Ruad und all seine Männer kamen ums Leben.“ Ich runzelte die Stirn. Dann seufzte ich. Ich glaubte nicht ein Wort dieser seltsamen Story. „Seither habe ich Albhine ein paarmal 139
gesehen“, sprach der Druide weiter. „In ihrem neuen Reich gefällt es ihr so gut, daß sie es nicht mehr verlassen will, doch sie ist mir noch immer freundschaftlich verbunden. Ich habe sie gestern während meines Spaziergan ges gerufen, und sie hat mir einen Boten gesandt. Sie wird Trencossach und seine Männer bestrafen. Sieh selbst, Caillech!“ Ich sah die drei Piratenboote über das Meer flitzen. Die Männer legten sich kräftig in die Ruder. Hinter den Booten schien das Wasser zu kochen. „Albhines Geschöpfe treiben die Boote auf die Bucht zu“, sagte Manannan und trat einen Schritt vorwärts. Eines der Boote geriet in einen Strudel und wurde in die Tiefe gerissen, das zweite Boot wurde hochgeschleudert, und die Männer purzelten ins Wasser. Ihr Brüllen war bis zu uns zu hören. Irgendwelche Geschöpfe, die ich nicht sehen konnte, zerrten sie unter die Wasseroberfläche. Deutlich waren nun die vor Grauen verzerrten Gesichter der Piraten zu sehen. Sie ruderten mit aller Kraft. Meine Augen weiteten sich, und ich stieß einen Schrei aus, als ich wenige Meter hinter dem Boot ein alptraumhaftes Wesen erblickte, das mich ein wenig an eine Schlange erinnerte. Es mußte riesengroß sein. Der schuppige Körper war tief schwarz, der abstoßend häßliche Kopf wurde von einem gekrümmten Hörn gekrönt. Die starren, 140
wagenradgroßen Augen standen dicht beisammen. Das Biest riß das Maul auf und entblößte gewaltige Zahnreihen. Es stieß einen röhrenden Laut aus, der mich entfernt an eine Schiffssirene erinnerte. Die Seeschlange, oder wie immer man dieses Un geheuer nennen sollte, biß das Boot in der Mitte auseinander und zermalmte einige Männer zwischen den Zähnen. Innerhalb von wenigen Sekunden waren alle Piraten verschwunden, nur eine große Blutlache war auf der glatten Meeresoberfläche zu sehen. „Ich muß geträumt haben“, flüsterte ich. „Danke, Albhine!“ brüllte Manannan über das Meer. Für einen Augenblick glaubte ich den Kopf einer rotblonden Frau gesehen zu haben und einen schlanken Arm, der Manannan mac Lir zuwinkte. Doch sicherlich hatte ich mich getäuscht. Mißtrauisch beäugte ich den Druiden, als ich Epona bestieg. Hatte ich tatsächlich gesehen, wie die drei Piratenboote vernichtet worden waren, oder hatte er mir mittels seiner Fähigkeiten diese Geschehnisse nur vor gegaukelt? Wieder einmal eine Frage, auf die ich keine Antwort bekommen würde. Eine Stunde später hatten wir den Strand mit den drei menhirartigen Klippen erreicht. Die Brandung rollte sanft heran. Wir sprangen von den Pferden und suchten die Brandungshohlkehle, die wir auch bald gefunden hatten. Doch wo sich eigentlich die schwarze Öffnung befinden sollte, war nur 141
rauher Fels zu erblicken. „Das ist aber die Stelle, die ich in der Vision gesehen habe“, sagte ich enttäuscht. „Wir müssen Geduld haben, Caillech“, sagte der Lir und setzte sich vor den Klippen nieder. „Dieses magische Tor ist jeden Tag nur für wenige Minuten sichtbar.“ Ich nahm mißmutig neben ihm Platz. Stunde um Stunde verging, doch das magische Tor wollte und wollte nicht erscheinen. „Vielleicht habe ich mich doch geirrt“, sagte ich und stand auf. In diesem Augenblick begann die Felswand zu schimmern, dann flimmerte die Luft und langsam bildete sich die schwarze Öffnung. Eigentlich hatte ich erwartet, daß von der Öffnung irgendeine Ausstrahlung ausgehen würde, doch das war nicht der Fall. Ich ergriff Eponas Zügel und trat auf die Felswand zu. Epona weigerte sich weiterzugehen. Ich sprach ihr beruhigend zu und ging langsam weiter. Die Stute folgte mir mit zurückgelegten Ohren. Schaum tropfte aus ihrem Maul. Sie hatte ganz offensichtlich Angst. „Verbinde ihr die Augen, Caillech“, rief mir der Lir zu. Ich schlüpfte aus meinem Mantel und warf ihn der Stute über den Kopf. Nun folgte sie mir völlig verwirrt. Einen Augenblick zögerte ich, dann trat ich entschlossen auf die schwarze, leicht flimmernde Öffnung zu und verschwand darin. 142
Ich spürte überhaupt nichts. Es war, als wäre ich durch das Tor eines Hauses getreten, nur kam ich in einem dichten Laubwald heraus. Der Zügel war straff gespannt in meiner Hand. Rasch drehte ich mich um und staunte. Eponas Kopf ragte zur Hälfte aus der Öffnung hervor. Ich zog am Zügel und nun war der ganze Kopf zu sehen. Das war einfach unglaublich. Ihr Kopf befand sich im Laubwald, während der Hals und der ganze Leib sich noch auf dem Strand in Irland befanden. Sofort riß ich den Umhang von Eponas Kopf, die sich erstaunt umblickte. Als ich nun am Zügel zerrte, ging sie willig weiter. Kopfschüttelnd sah ich zu, wie sich ihr ganzer Leib durch die schwarze Öffnung drängte. Ich ging ein paar Schritte weiter, und dann tauchten schon Manannan mac Lir und sein Hengst auf. „Das ist alles so unwahrscheinlich, so phantastisch und unglaublich“, flüsterte ich. Die schwarze Öffnung flimmerte stärker, dann fiel sie in sich zusammen und verschwand, und nur der Boden war noch zu sehen, in dem sich deutlich unsere Fußspuren und Huf abdrücke der Pferde abzeichneten, die aus dem Nichts zu kommen schienen. „Wir müssen diese Stelle markieren“, sagte der Druide und ritzte einige Zeichen in die in der Nähe stehenden Bäume. „Hast du eine Vermutung, wo wir 143
herausgekommen sind?“ fragte ich ihn, als wir durch den dunklen Wald gingen. Der Druide schüttelte den Kopf. Alle fünfzig Meter brachte er weitere Markierungen an den Bäumen an. Endlich lag der Wald hinter uns. Wir befanden uns in einem kleinen Tal. Zu beiden Seiten erhoben sich düstere Berge. Aufmerksam blickte sich der Lir um. „Ich glaube, daß wir uns im verfluchten Wald von Glynn Cuch befinden“, sagte er. „Verfluchter Wald? Das hört sich aber gar nicht gut an.“ Der Druide lächelte. „Vor vielen Jahren fand hier in dieser Gegend eine Schlacht zwischen den Kelten und den Pikten statt, bei der die Kelten fast völlig aufgerieben wurden. Deshalb wird dieser Wald von den Kelten gemieden und als verflucht betrachtet.“ „Wer herrscht über dieses Land?“ „Pwyll ist der augenblickliche Herr über Dyfed. Er ist mit der schönen Rhiannon verheiratet und sein Hauptsitz ist in der Nähe von Arberth.“ „Kennst du die beiden?“ Manannan nickte. „Wir sind durch die Bande der Freundschaft miteinander verbunden. Ich habe ihn aber schon mindestens drei Jahre nicht mehr gesehen.“ Der Wald wich zurück und machte einer unheimlichen Moorlandschaft Platz. Der Boden war weich und trügerisch. Unter den Hufen der Pferde quoll Schlamm hervor. Das Quaken 144
von Millionen von Fröschen war zu hören. „Es wird bald dunkel werden“, sagte Manannan besorgt. „Dieses Moor ist trügerisch. Wir müssen uns beeilen.“ Nebelfetzen zogen auf uns zu. Gelegentlich kamen wir an ein paar kahlen Bäumen vorüber, die aus anderen Zeiten zu stammen schienen. Erleichtert atmete ich auf, als das Moor hinter uns lag. Eine fruchtbare Ebene breitete sich vor uns aus. Weit in der Ferne waren ein paar Häuser zu sehen, auf die Manannan zuhielt. Der Nebel wurde dichter und bildete seltsam bizarre Muster, in die sich Irrlichter mischten, die hin und her huschten. Unsere Pferde scheuten immer wieder, und wir mußten ihnen gut zusprechen, damit sie weitergingen. Ich roch nun scharfen Rauchgeruch, ein Zeichen, daß die Häuser nahe sein mußten. „Manannan?“ fragte ich, als ich den Druiden nicht mehr erblickte. Der Nebel hatte ihn verschluckt. „Manannan?“ Ich sprang vom Pferd und griff nach den Zügeln. Langsam ging ich weiter. In der Zwischenzeit war die Nacht hereingebrochen, und ich konnte überhaupt nichts mehr erkennen. Ein Irrlicht raste auf mich zu, schoß an mir vorbei, und Epona bäumte sich laut wiehernd auf. Ich wandte nun einen Zauber an, den mir Catbath beigebracht hatte. Vom Signatstern 145
ging eine Strahlung aus, die den Nebel förmlich auffraß und die Umgebung in ein geheimnisvolles gelbes Licht hüllte, das sich kreisförmig um mich ausbreitete und in etwa fünfzig Meter Entfernung zum Stillstand kam. Nun kam ich rasch vorwärts, doch nach ein paar Schritten blieb ich stehen. Meine Nackenhaare stellten sich auf, als ich das Heulen hörte und seine Bedeutung verstand: Es waren Wölfe, die sich ganz in der Nähe be finden mußten. Und dann trabte Siona auf mich zu. Sein Sattel war leer und er blutete aus einer Wunde, die ganz eindeutig von einem Biß herrührte. Ich riß das Schwert aus der Scheide und rannte los. „Manannan!“ brüllte ich so laut ich konnte, doch ich bekam keine Antwort. Das Wolfsgeheul wurde lauter. Mir stockte fast das Blut in den Adern, als ich Manannan erblickte. Er lag bewußtlos auf dem Boden und war von einem Rudel Wölfe umringt. Sofort verschwand ich in der anderen Zeitdimension und rannte auf den Bewußtlosen zu. Ich handelte, ohne viel zu denken. Das Schwert in meiner Hand schien sich selbständig zu machen. Mit fünf gewaltigen Hieben hatte ich die Wölfe enthauptet. Der Reihe nach versetzte ich den Schädeln gewaltige Fußtritte. Dann packte ich das Schwert und glitt zurück in die normale 146
Zeit. Es war ein gespenstischer Anblick, als die fünf Leiber der enthaupteten Wölfe zu Boden fielen. Und noch grauenvoller war es zu sehen, wie sich diese Wolfsleiber nach und nach in stark behaarte Menschenkörper verwandelten, und die Köpfe änderten auch leicht die Form, wurden aber nicht menschlich. Siona und Epona kamen schnaubend näher, blieben dann aber stehen und wieherten ängstlich. Manannan war noch immer bewußtlos. Seine Wunden bluteten stark. Ich schob das Schwert in die Scheide, packte den Bewußtlosen an den Schultern und zerrte ihn von den toten Wölfen fort in Richtung der Pferde. Nun faßte der Hengst Mut. Er kam vorsichtig näher und beschnupperte seinen bewußtlosen Herrn. Ich hob den Druiden hoch und bediente mich dabei der Hilfe des Signatsterns. Der schwere Körper des Hexers wurde fast gewichtslos. Ich legte ihn über den Sättel, ergriff den Zügel und winkte Epona heran, deren Zügel ich auch ergriff. Rasch schritt ich auf die nahegelegenen Hütten zu. Als ich die erste erreicht hatte, ließ ich die Zügel los und trat in die Hütte ein. Neben dem Eingang lag ein alter Mann auf dem Rücken. Seine Kehle war durchgebissen, und sein Kopf lag im Blut. Ich kippte den Toten zur Seite und untersuchte die Hütte. 147
Einen weiteren Toten fand ich nicht, doch ich war sicher, daß die Werwölfe die Bewohner der anderen Hütten alle getötet hatten. Darum wollte ich mich später kümmern. Ich schob einige Truhen zur Seite und stieß einen Tisch um. Dann holte ich die Pferde in die Hütte. Möglicherweise schlichen noch irgendwo da draußen in der Nacht ein paar Werwölfe herum. Neben dem Herd, in dem noch einige Scheite glosten, breitete ich einige Felle aus, auf die ich Manannan bettete. Ich sah mir seine Wunden an, die noch immer stark bluteten, aber nicht lebensgefährlich waren. Ich strich mit der Handfläche über die Wunden und brachte die Blutung zum Stillstand. Der Magier atmete schwer, und sein Gesicht war verzerrt. Er schlug die Augen auf und starrte mich verständnislos an. „Was ist geschehen?“ fragte er verwundert und setzte sich stöhnend auf. „Ich fand dich umringt von fünf Wölfen“, sagte ich. „Drei hatten sich eben in deine Gliedmaßen verbissen, und zwei waren gerade dabei, deine Kehle zu durchbeißen.“ Manannan starrte sein halb durchbissenes Handgelenk an, dann warf er einen Blick auf die Wunden an seinen Beinen. „Ich bekam plötzlich einen Schlag auf den Kopf und fiel bewußtlos vom Pferd“, sagte er. „An mehr kann ich mich nicht erinnern. Jedenfalls verdanke ich dir mein Leben. 148
Danke.“ Mühsam stand er auf und ging schwankend zu Siona, der ihn schnaubend begrüßte. Er strich ihm zärtlich über die Nüstern und sah sich dann die Verletzung des Hengstes an. Aus einer der Satteltaschen holte er einen Tiegel. Er strich eine bräunliche Salbe auf die Wunde seines Pferdes, dann behandelte er seine Verletzungen. Als er damit fertig war, kniete er neben dem Toten nieder und untersuchte ihn kurz. „Es wird Zeit, daß ich etwas gegen Idan unternehme“, sagte er grimmig. „Du vermutest, daß uns Idan die Wölfe auf den Hals gehetzt hat?“ „Richtig“, knurrte er. „Idan war es auch, der die Piraten ausgeschickt hat. Er will verhindern, daß du Merlins Höhle findest. Und ich bin auch sicher, daß der Schlag, der zweifellos durch Magie bewirkt wurde, von ihm stammt. Warte nur, Idan!“ Er griff nach einer Kerze, die er kurz in beiden Händen hielt, dann kniete er auf den Boden nieder, begann die Kerze zu kneten und formte daraus eine primitiv wirkende Gestalt, doch deutlich waren der Kopf, der Rumpf und die Beine und Arme zu erkennen. „Wohin gehst du?“ fragte ich, als er die Hütte verlassen wollte. „Ich muß mir ein paar Haare und Blut von den Werwölfen besorgen“, sagte er. „Ich komme mit.“ Er hatte nichts dagegen. Er riß allen fünf 149
Werwölfen Haare aus, die er in Blut tauchte. In der Hütte nahm er sich wieder die unförmige Figur vor. Mit dem Dolch schlitzte er den Bauch der Figur auf und legte die blutverschmierten Werwolfhaare hinein. Danach drückte er die Haupt- und Barthaare in den Kopf der Figur, die ich Idan ausgezupft hatte. Ein paar Haare behielt er aber zurück, die er vorsichtig in einen Lederbeutel legte. Interessiert sah ich zu, wie er mit seinem Dolch einen Kreis um die Statue zog. Dann ritzte er einige seltsame Zeichen in den Boden ein, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte. „In Idans Haut möchte ich nun nicht stecken“, knurrte er. „Im Augenblick wird er sich alles andere als wohl fühlen. Schade, daß ich ihm nicht mehr tun kann. Aber ich bin sicher, daß er mindestens einen Tag lang be wußtlos sein wird.“ Die Figur im Kreis krümmte sich zusammen und leises Winseln war zu hören. Dann tanzte die Figur wild hin und her, stieß gegen den magischen Kreis und versuchte zu entkommen. Das Winseln wurde immer lauter und durchdringender. Manannan bewegte leicht die Hände, und der magische Kreis zog sich zusammen. Eine halb durchsichtige Kuppel bildete sich über der Figur, die nun zu Boden gefallen war und sich hin und her wälzte. Die käseglockenartige Kuppel schrumpfte langsam zusammen. Der Magier schlug die Hände zusammen, und die Figur wurde mit einem Schlag 150
zusammengedrückt und sah nun wie ein Pfannkuchen aus. Dann ging alles in Flammen auf. Ein grauenvoller Schrei war noch zu hören, bevor die Flammen erloschen. „Das wird ihn einige Zeit außer Gefecht setzen“, sagte er zufrieden und beruhigte die Pferde, die unruhig aufstampften und furchtsam schnaubten. „Sehen wir uns die anderen Hütten an, Manannan“, sagte ich. „Bleib lieber hier. Ich kann mir gut vorstellen, welch ein Anblick sich mir bieten wird.“ Doch ich ging mit. Insgesamt entdeckten wir acht Leichen, darunter auch zwei Kinder, die alle ermordet worden waren. „Irgendwann einmal wird der Tag kommen, an dem der Tod dieser unschuldigen Menschen gerächt wird“, sagte er leise. „Warte nur, Idan, deine Tage sind gezählt.“ Wir begruben die Toten, dann kehrten wir mit Heu und Wasser zu den Pferden zurück. Ich schlief nur wenige Stunden. Immer wieder schreckte ich hoch, verfolgt von Alpträumen, die immer schrecklicher wurden. Als ich im Morgengrauen erwachte, wußte ich, daß ich zwischen diesen Alpträumen wieder eine Vision gehabt hatte, doch ich konnte mich nicht mehr an den Inhalt erinnern, so sehr ich mich auch bemühte. Schweigend ritten wir los. Die Landschaft kam mir seltsam vertraut vor, so als wäre ich 151
hier schon einmal gewesen. Ich runzelte die Stirn, als wir einen Fluß erreichten. „Das ist der Tywy“, sagte Manannan mac Lir. Ich wandte mich nach links, und er folgte mir, ohne mir Fragen zu stellen. Ein schmaler Pfad schlängelte sich den Fluß entlang. Dann änderte er plötzlich die Richtung und lief auf einen Hang zu. Überall war Dornengestrüpp und Eichengehölz zu sehen. Der Weg wurde mir immer vertrauter. Die ersten Kiefern tauchten auf. Der Boden wurde härter, graues Gestein war zu sehen. Ich sprang vom Pferd. „Warte hier auf mich, Manannan“, sagte ich. „Viel Glück, Caillech“, sagte er leise. Ich nickte ihm zu, dann stieg ich höher den Hang hoch. Das Geplätscher von Wasser war zu hören. Rasch ging ich an einer Felsnase vorbei und schob zwei Büsche auseinander. Dann kletterte ich eine grasbewachsene Anhöhe empor und blieb neben einer Felswand stehen, die von unten nicht zu sehen gewesen war. Nach ein paar Schritten entdeckte ich die Höhle. Es war eine regelmäßig geformte Öffnung, die mich an einen Torbogen erinnerte. Rechts neben dem Eingang lag eine Felskuppe, um die herum Ebereschen und Ei chen wuchsen. Dort sprudelte auch die Quelle aus der Felswand hervor. Mein Herz schlug schneller. Ich hatte Merlins 152
Höhle gefunden. Vorsichtig trat ich ein und mußte mich nach ein paar Schritten bücken, denn sonst hätte ich mir den Kopf an der niedrigen Decke angeschlagen. Nach wenigen Schritten verbreitete sich der Gang, und ich betrat ein gewaltiges Gewölbe. Hier herrschte ein diffuses Licht, das von den Wänden auszugehen schien. Der Boden war glattpoliert und schimmerte türkis. Vor einer Wand blieb ich stehen. An ihr hing eine große Metallplatte, die geheimnisvoll glänzte und mein Bild zurückwarf. Langsam ging ich weiter. Nur das Geräusch meiner Schritte war zu hören. Truhen standen an den Wänden, die ich später untersuchen wollte. An das Gewölbe schloß sich eine weitere Höhle an. Bei meinem Eintritt flammte ein grelles Licht auf, und geblendet schloß ich die Augen. Ich stand inmitten eines kugelförmigen Raumes, dessen Wände aus Millionen von Kristallen bestanden und alle paar Sekunden die Farbe änderten. Weiß und rot und golden waren die häufigsten Farben, die ich sah. Das gleißende Licht schmerzte meine Augen. Geheimnisvolle Stimmen raunten mir alles mögliche zu, das ich aber nicht verstand. Wieder schloß ich die Augen und setzte mich auf den harten Boden, der aber überraschend warm war. Sogar durch die geschlossenen Lider sah ich das wechselnde Licht der Farben, die von den 153
Kristallen ausgingen – Strahlenbündel, einem Regenbogen gleich, eine funkelnde Lichterflut, die mich betäubte. „Ich danke dir, meine Tochter, daß du gekommen bist“, vernahm ich plötzlich Merlins Stimme. Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch kein Laut kam über meine Lippen. „Nimm den Armreifen an dich, der vor dir auf dem Boden liegt“, sprach Merlin weiter. „Streck deine rechte Hand aus.“ Ich tat es und spürte einen Armreifen, den ich über mein linkes Handgelenk schob. „Dieser Reif ist der Schlüssel zu den Zeitschächten, meine Tochter. Es wird ein paar Tage dauern, bis du ihn benützen kannst. Ich danke dir nochmals für deine Hilfe, meine Tochter. Steh jetzt auf und geh.“ Gehorsam stand ich auf. Wie in Trance verließ ich die Kristallhöhle, durchquerte das Gewölbe und trat ins Freie. Langsam wandte ich den Kopf. Der Höhleneingang war nicht mehr zu sehen. Die Höhle war wieder für unliebsame Besucher verschlossen. Nachdenklich hob ich den linken Arm und betrachtete den Goldreifen, der so dick wie mein Daumen war. Das Schmuckstück wies keinerlei Verzierungen auf, es war völlig glatt. Ein paar Minuten blieb ich bewegungslos stehen, blickte über den Fluß und hörte dem Gezwitscher der Vögel zu. Manannan mac Lir blickte mir neugierig 154
entgegen, und er lächelte zufrieden, als ich den linken Arm hob und er den Armreifen sah. „Du hast das zweite Siegel gefunden, Caillech“, sagte er. „Du kannst nun in deine Zeit zurückkehren.“ „Nicht so hastig“, sagte ich glücklich. „Ich muß noch ein paar Tage warten, bis ich den Armreifen kontrollieren kann. Erst dann kann ich zurückkehren.“ „Wohin reiten wir nun, Caillech?“ „Ist es weit zu Pwylls Hauptsitz?“ fragte ich und war selbst über diese Frage überrascht. „Nein, in ein paar Stunden könnten wir dort sein. Weshalb willst du zu Pwyll?“ Ich zuckte mit den Schultern. „Ein paar Tage der Erholung würden uns ganz gut tun“, meinte ich. „Wie steht es mit deinen Wunden, Manannan?“ „Sie sind schon schön verheilt“, sagte der Magier. „Nur mein linkes Handgelenk schmerzt ein wenig, aber auch das wird bald vergehen.“ Ich setzte mich nieder. „So hat die Magie auch gelegentlich ihre gute Seite. Ein normaler Mensch hätte wahrscheinlich die Hand verloren.“ Manannan nickte bedächtig und ließ sich mir gegenüber nieder. „Erzähle mir etwas über die Zeitschächte“, bat ich. „Über ihre Entstehung weiß ich nichts“, sagte der Hexer langsam, „aber darüber haben wir uns ja bereits unterhalten. Die Funktionsweise 155
ist ebenfalls unbekannt. Betritt irgend jemand einen Zeitschacht, der die Zeitströme nicht beherrschen kann, dann wird er entweder in die Zukunft oder in die Vergangenheit geris sen. Er kann es sich nicht aussuchen, in welcher Zeit er landen wird.“ „Aber mit Hilfe des Armreifens kann ich dann die Zeitströme beherrschen?“ Manannan nickte. „Es geht ganz einfach. Du betrittst einen Schacht und denkst an die Zeit, in der du herauskommen willst. Alles andere erledigt der Armreifen für dich. Du kannst auch Gegenstände aus der Vergangenheit mitnehmen. Auf unerklärliche Art werden sie konserviert.“ „Das bedeutet, daß die Kleider, die ich jetzt anhabe, genauso aussehen, wenn ich in meine Zeit zurückkehre.“ „Richtig. Wenn du aber in die Vergangenheit zurückkehrst, dann kannst du keine Gegenstände aus deiner Zeit mitnehmen; sie zerfallen, da sie ja in der Vergangenheit noch nicht existiert haben.“ „Kann ich auch in die Zukunft reisen?“ „Hm, das ist eine schwierige Frage. Merlin kann es. Vermutlich könntest du es auch, aber ich rate dir davon ab, Caillech. Es ist zu gefährlich für dich, in die Zukunft zu reisen. Laß lieber die Finger davon.“ „Ja, du hast recht. Aber eines interessiert mich ganz besonders: Wie rasch altere ich?“ „Du alterst hier ganz normal. Aber, und das ist das Wesentliche, sobald du in deine Zeit 156
zurückkehrst, bist du genauso alt, wie du deine Zeit verlassen hast.“ „Wie war das?“ fragte ich verblüfft. „Ich werde es dir genau erklären, Caillech. Du warst etwa zwanzig Jahre alt, als du deine Zeit verlassen hast. Nehmen wir nun an, du würdest dich dreißig Jahre in dieser Zeit aufhalten, dann wärst du eine fünfzigjährige Frau. Kehrst du aber in deine Zeit zurück, dann bist du wieder zwanzig Jahre alt!“. Es dauerte einige Sekunden, bis ich das verarbeitet hatte. „Aber – das ist ja phantastisch“, flüsterte ich tief beeindruckt. Die Möglichkeiten, die sich da boten, waren einfach umwerfend. „Nehmen wir nun aber einen anderen Fall an“, sprach er weiter. „Du bleibst zehn Jahre auf dieser Welt, dann kehrst du zurück in deine Zeit und bist wieder zwanzig. Nach einem Jahr willst du wieder hierher zurückkehren, dann bist du hier wieder dreißig Jahre alt. Verstehst du das?“ „Ja“, sagte ich. „Das bedeutet aber, daß ich nie zweimal zur gleichen Zeit an einem Ort sein kann.“ Manannan nickte zustimmend. „Und wie ist es mit dir, Manannan?“ fragte ich lauernd. „Warst du schon einmal in meiner Zeit?“ „Darauf darf ich dir keine Antwort geben“, sagte er breit grinsend. „Wo hast du deutsch gelernt?“ „Hier in dieser Zeit“, antwortete er. „Merlin 157
brachte mir diese Sprache bei.“ Drei Stunden waren wir nun schon unterwegs. Die Menschen, denen wir unterwegs begegnet waren, hatten auf mich einen durchaus zufriedenen Eindruck ge macht. Sie waren alle überraschend freundlich zu uns gewesen. Hier gab es auch kleine Dörfer, die meist in der Nähe eines Flusses lagen. Die meisten der Häuser waren aus Stein gebaut; die für Irland typischen Holz rundhütten waren kaum mehr zu sehen. Die Landschaft war viel abwechslungsreicher als in Irland. Hier gab es wild zerklüftete Berge, die teilweise völlig kahl waren. Viele Wälder, dazwischen Wiesen und Felder, die von Hecken und Baumreihen umgeben waren. Das Land war rauh, gefiel mir aber fast besser als Irland. „Sieh, Caillech!“ riß mich Manannan aus meinen Gedanken. „Vor uns liegt der Hof von Arberth!“ Ich hob den Kopf. Auf einem kahlen Hügel erhob sich ein mächtiges Steingebäude, das teilweise sogar zweistöckig war. Ein wenig erinnerte es mich an eine Burg. Das Gebäude war von einer gut drei Meter hohen Steinmauer umgeben. Ein schmaler Pfad zog sich in Schlangenlinien zu einem Tor hin, das in die Mauer eingelassen war. „Für diese Zeit ist der Hof von Arberth eine gewaltige Leistung“, meinte Manannan. „Es dauerte fast zehn Jahre, bis die Burg stand. Pwylls Vater hat mit dem Bau begonnen, und 158
der Sohn hat ihn dann vollendet.“ Wir ritten den Hügel hoch. Der Klang eines Flügelhorns war zu hören. Das Burgtor stand weit offen. Ein paar Krieger verbeugten sich ehrfurchtsvoll vor Manannan mac Lir. Als wir von den Pferden stiegen, trat ein mittelgroßer Mann aus der Burg und kam breit lächelnd auf uns zu. Das schulterlange dunkle Haar wurde von einem breiten Stirnband gehalten. Sein scharfgeschnittenes Falkengesicht war bleich, und die Augen waren dunkel wie zwei Kohlenstücke. Bekleidet war er mit einem weißen Hemd, einem grünen Samtwams und eng an liegenden Stoffhosen, die in kniehohen weichen Stiefeln steckten. „Welch eine Überraschung!“ rief Pwyll. „Ich bin glücklich, dich wiederzusehen, alter Freund.“ „Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, sagte Manannan. Die beiden umarmten sich heftig, dann klopften sie sich begeistert auf die Schultern. „Dein Weib, Manannan?“ fragte Pwyll. „Nein“, sagte der Druide gedehnt. „Es ist Caillech, eine Edle meines Stammes.“ Der Herr von Dyfed kam auf mich zu und verbeugte sich tief. „Sei mir herzlich willkommen, Caillech, die du eine der Schönsten deines Stammes bist.“ „Sei bedankt für deinen freundlichen Gruß, edler Pwyll“, sagte ich lächelnd. Er nahm mich kurz in seine Arme. 159
„Ihr seht müde und zerzaust aus“, stellte Pwyll sachlich fest. Müde war ich nicht, aber ich war schmutzig, und mein Kleid und der Umhang waren an vielen Stellen zerrissen und voller Schmutz. Mein Haar war strähnig und sah sehr ungepflegt aus. Ich konnte nicht behaupten, daß ich im Augenblick sehr hübsch aussah. „Wir hatten gefährliche Abenteuer zu bestehen“, meinte Manannan, „aber die werde ich dir später erzählen, Pwyll. Wie geht es deinem Weib?“ Pwylls Gesicht begann förmlich zu strahlen. „Ihr geht es gut. In wenigen Tagen – oder vielleicht sind es nur Stunden – wird sie mir den lang ersehnten Erben schenken.“ „Das ist Ja prächtig, alter Freund“, freute sich Manannan. Die beiden Männer nahmen mich in die Mitte. Die Krieger schlossen sich uns an. Zwei Diener öffneten das Tor, und wir gelangten in einen großen Raum, dessen Wände mit Fellen und Tierköpfen geschmückt waren. Dahinter erstreckte sich ein riesiger Saal, der den Mittelpunkt der Burg bildete. Hier spielte sich das ganze Leben ab. Zwei gewaltige Kamine spendeten die Wärme. Im Hintergrund sah ich Frauen, die an Webstühlen hantierten. Ein paar wuchtige Tische waren im Saal verteilt, vor denen kunstvoll geschnitzte Sessel standen. Auch hier waren die Wände geschmückt. 160
Auf einer Liegestatt lag eine junge Frau, die mit einem blauen Kleid bekleidet war, das sich um ihren geschwollenen Bauch spannte. Ihr langes rotblondes Haar war zu unzähligen Löckchen gedreht, die auf die volle Brust und den Rücken fielen, Ihr hübsches Gesicht war gerötet und leicht aufgedunsen, ihre hell blauen Augen schimmerten feucht. „Rhiannon!“ rief Manannan und eilte auf die Frau zu, die ihm lächelnd die Arme entgegenstreckte. Der Druide kniete neben der Liegestatt nieder und küßte Pwylls Frau sanft auf die Wangen. „Es tut gut, dich wieder einmal zu sehen, Manannan“, sagte Rhiannon mit einschmeichelnder Stimme. Ich kam langsam näher. Manannan stellte mich vor, und ich begrüßte die Schwangere. Pwyll schrie den Dienern Befehle zu, dann ergriff er einen Sessel, und ich setzte mich nieder. Ein Diener reichte mir einen Becher, der mit Rotwein gefüllt war. Ich trank auf das Wohl des noch nicht geborenen Erben und kostete den Wein, der ein wenig bitter schmeckte. Die Hitze im Saal machte mich schläfrig. „Ich habe euch ein Bad bereiten lassen“, sagte Pwyll, „und frische Kleider liegen für euch bereit.“ Zwei junge Mädchen führten mich in einen kleinen fensterlosen Raum, in dem es unerträglich warm und stickig war. Auf einem 161
Herd standen große Töpfe, in denen Wasser kochte. In der Mitte stand eine Art Sitz badewanne. Die Mädchen nahmen mir meine Kleider ab und schütteten das dampfende Wasser in die Wanne, dann kam kaltes Wasser dazu. Eines der Mädchen prüfte die Wassertemperatur und forderte mich dann auf, in die Wanne zu steigen. Das warme Wasser war köstlich. Ich schloß die Augen, zog die Beine an und steckte nun bis zum Hals im Wasser. Sie wollten mir die Kette mit dem Signatstern abnehmen, doch das ließ ich nicht zu. Die Mädchen wuschen mein Haar, seiften meinen Körper ein und schwemmten dann die Seife mit warmen Wasser fort. Mit großen Tüchern trockneten sie mich ab und geleiteten mich dann in den Nebenraum. Auch hier stand ein gewaltiger Kamin. Geschickt bürstete eines der Mädchen mein Haar, das überraschend schnell trocknete. Ein weißes Kleid lag für mich bereit und ein blutroter Mantel. Ich fühlte mich wie neugeboren, als ich in die frischen Kleider schlüpfte. Als ich den großen Saal betrat, wandten sich alle Blicke mir zu. Für einen Augenblick war es unwirklich still. Ich achtete nicht auf die begehrlichen Blicke der Männer. Ruhig ging ich auf Manannan zu, der auch gebadet hatte und neu eingekleidet war. Ich nahm an seiner Seite Platz. Die ins Stocken geratene 162
Unterhaltung wurde fortgesetzt. Diener stellten Silberbecher und Zinngeschirr auf die Tische. Dann trugen sie riesige Silberplatten herbei, auf denen allerlei Bratenstücke lagen, die noch dampften. Andere Diener gingen mit Schalen und Krügen herum, schütteten das Wasser über die Hände der Gäste und reichten ihnen Tücher. Dieser Stamm der Kelten hatte schon eine höhere Kultur erreicht als ihre Brüder in Erinn. Auch das Essen war abwechslungsreicher. Eiermus, Hirse, verschiedene Gemüse, Hammelfleisch mit Zwiebel, Huhn, das mit Zwetschgen gefüllt war. Dazu wurden Unmengen Brot gegessen. Und wieder staunte ich, welche Mengen Wein diese Menschen vertrugen. Ich ließ den Großteil des Weines auf magische Art verschwinden, denn sonst wäre ich schon nach einer halben Stunde sinnlos betrunken gewesen. Ich kostete nur ein wenig von den Speisen, aber das war hier so üblich. Die Speisereste waren für das gemeine Volk bestimmt. Immer neue Speisen wurden aufgetragen, die meisten schmeckten scheußlich, da sie viel zu stark gewürzt waren. Gewürze waren ein Zeichen des Reichtums, quasi ein Statussymbol und wurden ziemlich wahllos verwendet. Pfeffer und Zimt, Safran und Zwiebel, Nelken und Salz, das alles wurde bei einigen Gerichten gleichzeitig und in üppigen Mengen mitgekocht. Und genauso schmeckten 163
dann auch die Speisen. Am besten schmeckten mir noch die Bratenstücke, die weniger stark gewürzt waren. Die Unterhaltung war nun schon ziemlich laut geworden. Die meisten prahlten mit Heldentaten, die vermutlich großteils erfunden waren. Einer versuchte den anderen zu überschreien. Rhiannon hatte nach einer Stunde das Festbankett verlassen, und ich beneidete sie darum, daß sie sich zurückziehen durfte. Die Hitze im Saal, der Lärm und der vielfältige Geruch der Speisen und Getränke, das alles wurde für mich von Minute zu Minute unerträglicher. Und wie es aussah, würde diese Freß- und Sauforgie noch Stunden dauern. Ich kapselte mich ein paar Minuten von meiner Umwelt ab und entspannte mich. Danach fühlte ich mich wesentlich besser. Pwyll und Manannan unterhielten sich flüsternd miteinander. Ich beugte den Kopf vor und konnte die Unterhaltung recht gut verstehen. „Wir sind im verfluchten Wald von Glynn Cuch auf Werwölfe gestoßen“, sagte Manannan. „Tatsächlich“, wunderte sich Pwyll. „Das finde ich höchst seltsam, denn seit vielen Generationen wurden keine mehr in der Gegend gesehen. In Powys und Gwynedd soll es noch vereinzelt welche geben.“ „Hast du Schwierigkeiten mit deinen 164
Nachbarstämmen, Pwyll?“ „Nein, seit einem Jahr ist alles friedlich, zu friedlich für meinen Geschmack, denn ich hätte nichts gegen einen ordentlichen Kampf einzuwenden.“ „Du wirkst aber trotzdem irgendwie besorgt, alter Freund“, bohrte der Druide weiter. Pwylls Lippen verkrampften sich. Er schluckte ein paarmal. „Vor dir kann man nichts verbergen, Manannan. Ja, ich mache mir Sorgen.“ „Sprich, alter Freund.“ „Seit ein paar Monaten macht ein fremder Druide die Gegend unsicher. Er wiegelt meine Krieger auf und stiftet Unruhe unter ihnen. Er erzählte ihnen, daß Rhiannon mir keinen Erben schenken werde, und einige meiner Edelleute glaubten es ihm. Sie kamen zu mir und waren erst beruhigt, als sie den geschwollenen Leib meines Weibes sahen. Dieser Druide stellt düstere Prophezeiungen, die viele Leute glauben.“ „Kennst du den Namen des Druiden?“
„Er nennt sich Sgathan. Hast du schon von
ihm gehört?“ Manannan nickte langsam. „Er ist ein Schüler Idans, der einer der Ratgeber Elcmars war, von dessen Tod ich dir bereits berichtet habe. Ich fürchte, daß sich Idan in deinem Reich aufhält. Er plant sicherlich Böses.“ „Das ist schlimm, was du mir da berichtest, alter Freund. Gegen die Magie dieser Zauberer 165
bin ich machtlos, denn die Druiden meines Volkes haben die alten Fähigkeiten verloren, und es werden immer weniger.“ „Dahinter stecken Idan und seine Schüler“, sagte Manannan grimmig. „Ihr Absichten sind ja ziemlich klar. Je weniger mächtige Druiden es gibt, um so größer wird ihre Macht. Das ist eine Entwicklung, die man kaum mehr aufhalten kann. In einigen wenigen hundert Jahren wird es keine Druiden mehr geben, und die Magie unseres Volkes wird für immer vergessen sein.“ „Kannst du mir helfen, Manannan?“ „Ich werde es versuchen, Pwyll.“ Irgendein Krieger stand auf und brach in eine Lobeshymne auf Manannan mac Lir aus, andere folgten seinem Beispiel. Nun sprach auch ich stärker dem Wein zu und spürte, wie sich meine Wangen röteten. Auch Manannan ließ sich gehen. Ich sah, wie er rasch drei Becher Wein leerte. Es schien mir, als wolle er im Wein Vergessen suchen. Er wandte sich mir zu, legte einen Arm um meine Hüfte und zog mich enger an sich. Seine Nähe erregte mich. Ein Großteil der Krieger war nun völlig betrunken, einige lagen auf dem Boden und schliefen ihren Rausch aus. Die Fackeln und Kerzen waren heruntergebrannt, und es wurde immer düsterer in der Halle. Nur noch einzelne Gruppen unterhielten sich lautstark. Irgendwann sank auch Pwyll in sich zusammen und begann laut zu schnarchen. 166
Ich schmiegte mich an Manannan, legte meinen Kopf an seine Schulter, schloß die Augen und genoß seine aufregende Nähe. Er hob mich hoch und trug mich aus dem Saal. Mein Herz schlug überlaut, und das Blut schien in meinen Adern zu rauschen, als er mich einen dunklen Korridor entlangtrug und eine Tür auf stieß, die in eine kleine Kammer führte, die nur vom Schein einiger Holzscheite erhellt wurden. Sanft legte er mich auf ein Bett, legte seinen Gürtel ab, und öffnete die Schleifen meines Kleides. Zitternd vor Erregung kam ich ihm entgegen. In dieser Nacht lernte er erstmals die Freundschaft meiner Lenden kennen. Die nächsten Tage vergingen wie im Flug. Es waren angenehme Tage, die wir hier auf der Burg Pwylls verbrachten. Tagsüber gingen wir auf die Jagd, die Abende verbrachten wir mit Feiern und Gesprächen, und in den Nächten schliefen wir voller Freude, Lust und Ver gnügen miteinander. Ich konnte mich nicht erinnern, je zuvor in meinem Leben glücklicher gewesen zu sein. An meine Zeit dachte ich kaum. Ich schob alle unerfreulichen Gedanken zurück, aber ich fürchtete den Tag, an dem es Abschied von all dem nehmen hieß. Das Wetter war unfreundlicher geworden. Oft regnete es viele Stunden lang, und es wurde immer kälter. Rhiannon blieb meist in ihrer Kammer, denn 167
ihre Niederkunft stand kurz bevor. Manannan und ich verließen nur selten die Burg. Ich wunderte mich, daß er mich nie fragte, wann ich nun in meine Zeit zurückkehren wolle. Eines Tages kam es dann zu einem Zwischenfall, der alles abrupt änderte… Wie üblich saßen wir im großen Saal. Die Diener trugen das Essen auf, und alle waren wir guter Dinge. Doch plötzlich war es still. Ein großer Rabe war irgendwie in den Saal gekommen. Krächzend umkreiste er die Tische, flog gegen eine Fackel, stieg wieder hoch, flatterte wild mit den Flügeln und fiel dann vor Pwyll und Manannan auf den Tisch, und blieb tot liegen. Pwyll war bleich geworden. Manannan zog seinen Dolch und schnitt den Bauch des Vogels auf. Geschickt holte er den Magen heraus, den er einmal durchschnitt. Aufmerksam studierte er den Magen. Es war gespenstisch still in der Halle. Nur das Knistern der Holzscheite und Fackeln war zu hören. Manannan griff nach dem toten Raben, stand auf und warf den Vogel in eines der Feuer. Lange starrte er in die hochlodernden Flammen, dann drehte er sich langsam um und blieb breitbeinig in der Mitte des Saales stehen. „Hört mir gut zu, Männer und Frauen von Dyfed“, sagte er mit dröhnender Stimme. „Der Rabe überbrachte mir eine Botschaft.“ 168
Stimmengemurmel war nun zu hören, das sofort aufhörte, als Manannan die Hände hob. „Der Druide Sgathan, der seit einigen Wochen das Land unsicher macht, will Pwyll und Rhiannon ins Verderben stürzen. Heute nacht wird Rhiannon einem Knaben das Leben schenken, der wenige Stunden nach der Geburt geraubt werden soll.“ Manannan blickte sich nun im Kreis um, und sein Blick fiel auf jeden Krieger. „Unter euch ist einer, der sich mit Sgathan verbündet hat!“ Nun brüllten alle durcheinander. Die Krieger beteuerten lautstark ihre Ergebenheit Pwylls gegenüber und wiesen entrüstet den Verdacht zurück, Verräter zu sein. „Schweigt!“ überbrüllte Manannan den Lärm. Langsam wurde es still, und die erregten Edelmänner setzten sich wieder. „Mit gegenseitigen Beschuldigungen und Beteuerungen kommen wir nicht weiter“, sagte Manannan. „Was schlägst du vor, Manannan mac Lir?“ fragte Pwyll. „Es muß uns gelingen, den Verräter zu entlarven, dann können wir Sgathan in eine Falle locken.“ „Und wie willst du das bewerkstelligen, Manannan mac Lir?“ fragte der fette Iddig, der Sohn des Anarawd. Manannan winkte mich zu sich. Ich stand auf und blieb neben ihm stehen. „Du mußt mir helfen, Coco“, sagte er auf deutsch. 169
„Hast du tatsächlich diese Warnung aus dem Magen des Raben gelesen?“ „Ja, und noch mehr. Auch dein und mein Leben ist in Gefahr. Sgathans Verbündeter sollte nach der Geburt des Kindes ein magisches Schlafmittel in den Wein tun, denn es wäre zu einer Feier gekommen, die mehrere Tage lang gedauert hätte. Nach einer Geburt ist es üblich, daß alle, auch die Diener und Sklaven auf das Wohl des Neugeborenen trinken. Wir wären alle in einem magischen Schlummer versunken und Sgathan hätte leichtes Spiel gehabt. Aber nun sind wir ge warnt.“ Was man so alles aus dem Magen eines Vogels lesen konnte, wunderte ich mich. „Wer hat dir die Warnung übermittelt, Manannan?“ „Ein Freund“, sagte er ausweichend. „Und wie soll ich dir helfen?“ „Der Signatstern wird den Verräter entlarven. Du brauchst dich nur auf den Kristall zu konzentrieren. Er wird dir anzeigen, wer die Wahrheit spricht und wer lügt.“ „Bist du sicher, daß es funktionieren wird?“ Er nickte, dann wandte er sich an Pwyll. „Deine Krieger sollen ihren Treueschwur dir gegenüber erneuern, edler Pwyll, und sie sollen versichern, daß sie nichts mit Sgathan zu tun haben.“ „So soll es geschehen“, sagte Pwyll. Der Herr von Dyfed blickte Hevedd an, der langsam aufstand, sein Haupt neigte und dann 170
seinen König anblickte. „Ich schwöre bei allen Göttern“, begann er zu sprechen, „daß ich dir, edler Pwyll, treu ergeben bin. Ich bin bereit, mein Leben für dich zu opfern, so wie ich weiß, daß du bereit bist das deine für mich zu opfern, sollte es notwendig sein. Ich schwöre, daß ich nichts mit Sgathan zu tun habe und daß ich seine Absichten mißbillige.“ Hevedd setzte sich nieder. Ich hatte mich auf den Signatstern konzentriert, aber keinerlei Reaktion gespürt. Nun war Casswallawn an der Reihe. Er drückte sich ähnlich wie Hevedd aus. Dann erneuerten Heyin, Foill und Eogan den Treueschwur, und so ging es weiter. Mehr als dreißig Krieger hatten ihre Ergebenheit bereits ausgedrückt und der Signatstern hatte mir noch immer kein Zeichen gegeben. Doch plötzlich spürte ich einen Schlag gegen die Brust und der Kristall begann immer stärker zu pulsieren. Ich hatte den Verräter entlarvt. Ruhig hörte ich mir die anderen Edelleute an. Als alle ihren Treueeid erneuert hatten, blickte mich Manannan fragend an. Ich nickte langsam. „Hast du den Verräter entlarvt, Manannan mac Lir?“ erkundigte sich Pwyll gespannt. „Ja“, sagte der Druide. Und wieder war es unheimlich still in der Halle. 171
„Laß mich handeln“, sagte ich leise. Ich glitt in die andere Zeitdimension und lief auf einen Tisch an der Stirnseite der Halle zu und blieb hinter Lywd stehen. Er war der Verräter. Mit einem Ruck riß ich ihm den Dolch und das Schwert aus dem Gürtel, lief zu Manannan zurück und stieß Schwert und Dolch vor ihm in den Boden, dann berührte ich meinen Bettgenossen leicht und zog ihn zu mir in die andere Dimension. „Lywd ist der Verräter“, sagte ich rasch. „Sein Schwert und sein Dolch stecken vor dir im Boden.“ „Danke, Coco. Versetz uns zurück in die normale Zeit.“ Ich kehrte auf meinen Platz zurück, dann ließ ich die Zeit normal ablaufen. Keiner der Anwesenden hatte etwas von meiner Manipulation gemerkt. Überraschungsschreie waren zu hören. Für alle Anwesenden mußte es so aussehen, als würden das Schwert und der Dolch aus dem Nichts kommen. „Wem gehört dieses Schwert?“ fragte Manannan lauernd. „Und wer ist der Eigentümer dieses Dolches?“ „Das ist Lywds Schwert!“ schrie Heyin. „Lywd ist der Verräter!“ sagte Manannan. Nun brüllten wieder einmal alle wild durcheinander. Hände griffen nach Lywd und rissen ihn hoch. Das Gesicht des jungen Kriegers war weiß wie frisch gefallener Schnee. Sie zerrten ihn zu Pwylls Tisch. 172
„Gestehe dein Vergehen, Lywd, Sohn des Kil Coed“, sagte der Druide. Schweißperlen perlten über Lywds Stirn. „Der Druide zwang mich zum mittun“, stieß Lywd hervor. „Er verzauberte mein Weib und meinen Sohn und er drohte mir, daß er die beiden töten würde, sollte ich ihm nicht helfen. Mir blieb keine andere Wahl, edler Pwyll. Zu mir sagte Sgathan, daß er dir nichts Böses tun wolle, sein Interesse gelte ausschließlich Manannan und Caillech. Diese beiden wollte er töten.“ „Sie sind meine Gäste“, zischte Pwyll. „Ein Anschlag gegen sie gilt auch mir.“ Lywd preßte die Lippen zusammen. „Er muß sterben!“ schrie ein Edelmann, und die anderen stimmten in den Schrei ein. „Wartet!“ brüllte Manannan mac Lir. Langsam wurde es wieder ruhig. „Ihr solltet Lywd eine Chance geben. Sein Tod bringt uns allen nichts ein. Lebend kann er uns vielleicht helfen.“ „Wie meinst du das?“ „Mit seiner Hilfe können wir Sgathan in eine Falle locken.“ Pwyll blickte den Verräter prüfend an. „Bist du bereit Manannan mac Lir zu helfen, Lywd?“ fragte Pwyll. Der junge Krieger zögerte. „Entscheide dich rasch, Lywd. Entweder du hilfst uns, oder du stirbst augenblicklich.“ Pwyll zog sein Schwert und trat auf Lywd zu. „Ich helfe dir, edler Pwyll.“ 173
Langsam schob der König das Schwert zurück in die Scheide. Seine Entschuldigung wurde schweigend von seinen Kriegern akzeptiert. „Erzähle uns, was du tun solltest, Lywd“, sagte Manannan befehlend. Lywd schluckte, dann wischte er sich den Schweiß von der Stirn. „Nach der Geburt des Kindes“, sagte er leise, „sollte ich dieses Schlafmittel in das Weinfaß schütten.“ Er zog einen Lederbeutel hervor, den er auf den Tisch warf. „Sobald alle eingeschlafen wären, sollte ich das Burgtor öffnen und eine Fackel entzünden und sie mir vors Gesicht halten. Dann sollte ich zurück in die Burg gehen und auf Sgathan warten.“ „Wir werden den Druiden täuschen“, sagte Manannan, „und in eine Falle locken, aus der er nicht entkommen kann.“ Zustimmende Rufe wurden laut. Ich hörte mir eine Zeitlang die Vorschläge an, wie man den Druiden unschädlich machen konnte, doch sie waren alle unbrauchbar. Keiner der Krieger schien eine Ahnung zu haben, über welchen Zauber ein Druide verfügte. Ich verließ die Halle und betrat Rhiannons Kammer, die schwer atmend in ihrem Bett lag, um das vier Frauen standen, die sie nicht aus den Augen ließen. Warmes Wasser und frische Tücher war für die Geburt hergerichtet. Finda und Deitchim traten zur Seite, und ich setzte mich auf das Bett. „Wie fühlst du dich, Rhiannon?“ erkundigte 174
ich mich sanft. Die junge Frau nickte mit schmerzverzerrtem Gesicht. „Den Umständen nach geht es mir gut“, sagte sie fast unhörbar. „Die Wehen haben bereits eingesetzt. Bald ist es so weit.“ Mit einem Tuch wischte ich ihr den Schweiß von der Stirn und ergriff dann ihre rechte Hand. Sofort ging ihr Atem regelmäßiger und ihr Gesicht entspannte sich. Wir waren Freundinnen geworden, und ich wollte ihre Schmerzen lindern, was mir auch durch meine Magie gelang. Ein paar Minuten später schenkte sie einem gesunden Knaben das Leben. Sein Haar war dunkel, und seine Augen hatten das Blau seiner Mutter. Seine Haut war runzelig und sein Gesicht sah wie eine eingetrocknete Pampelmuse aus. Wenige Sekunden, nachdem er das Licht der Welt erblickt hatte, begann er laut zu greinen. Ich eilte in die Halle, wo die Krieger noch immer beratschlagten. Pwyll blickte mich gespannt an. „Ich habe dir eine freudige Mitteilung zu machen, edler Pwyll“, sagte ich laut. „Rhiannon hat dir einen Erben geschenkt!“ Nun war die Hölle los. Jubelschreie wurden ausgestoßen. Pwylls Gesicht war vor Freude und Aufregung feuerrot geworden. Er eilte an mir vorbei, und seine Krieger schlossen sich ihm an. Ich blieb mit Manannan allein in der Halle 175
zurück. „Hast du bereits einen Plan gefaßt, wie du Sgathan gefangennehmen kannst?“ Er nickte und griff nach einem Becher und trank einen Schluck. „Die Männer werden sich schlafend stellen“, sagte er. „Lywd wird genauso handeln, wie es ihm Sgathan befohlen hat. Du und ich werden auf ihn in der Vorhalle warten und ihn überwältigen.“ „Das wird aber alles andere als einfach sein.“ „Der Überraschungsmoment wird uns helfen. Komm mit, wir haben einige Vorbereitungen zu treffen.“ Wir gingen in unsere Kammer und Manannan erklärte mir seinen Plan und ich machte einige Änderungsvorschläge, die er sofort akzeptierte. Die Bediensteten und die meisten Frauen hatten sich in ihre Kammern zurückgezogen. Die Krieger in der Halle waren ruhig. Manannan und ich hatten unsere Vorbereitungen abgeschlossen. Lywd verließ die Burg, überquerte den Hof und öffnete das Burgtor. Dann hob er die hochlodernde Fackel und hielt sie sich etwa eine Minute vor das Gesicht. Danach kam er zurück und ließ das Tor offen. Er blieb mitten im Eingang zur großen Halle stehen. Manannan und ich versteckten uns, während die Krieger sich teilweise auf den Boden legten, oder über den Tischen zu sammengesunken waren und so taten, als 176
würden sie schlafen. Ich ließ Lywd nicht aus den Augen. Sobald Sgathan die Vorhalle betrat, würde er den Kopf leicht neigen und beide Arme heben. Wir mußten nicht lange warten, da gab uns Lywd das vereinbarte Zeichen. Sofort versetzte ich mich in die andere Zeitdimension und zog Manannan mit. Der Druide stand bewegungslos in der Vorhalle. Er sah ziemlich düster aus mit seinem schwarzen Vollbart und den pechschwarzen Augen. Bekleidet war er mit einem pelzverzierten Mantel, unter dem er einen weißen Umhang trug. Wie bei Idan riß ich dem Druiden Kopf- und Barthaare aus, die Manannan in ein Ledersäckchen steckte, in das er bereits ein seltsam riechendes Pulver getan hatte. Rasch ergriff ich die rechte Hand des Zauberers und stach mit meinem Dolch in seinen Daumen. Manannan hielt das Säckchen unter den Daumen und ich quetschte ein paar Blutstropfen hervor, die in den Beutel fielen. Dann drehten wir dem Zauberer die Arme auf den Rücken und Manannan band sie mit einer magischen Schnur zusammen. Danach warf er Sgathan ein spinnennetzartiges Geflecht über den Kopf und zog es zusammen. Abschließend wurden noch die Beine des Druiden gefesselt. Wir eilten zurück in die Halle und Manannan warf das Ledersäckchen in einen vorbereiteten magischen Kreis, dann glitten wir zurück in 177
die normale Zeitebene. Ein Schrei klang aus der Vorhalle. „Der Druide ist gefangen!“ rief Manannan triumphierend aus. Sofort sprangen die Krieger hoch. Ein paar begleiteten uns in die Vorhalle, in der Sgathan vergeblich sich aus den magischen Fesseln zu lösen versuchte. Seine Magie konnte er nicht anwenden, denn das Spinnennetz verwirrte seinen Geist. Einige Krieger traten in den Hof und schlossen das Burgtor, während Manannan und ich den Druiden in die Halle schleppten. „Wir bringen dir Sgathan, der sich ins Unglück stürzen wollte“, sagte ich und stieß den Druiden in Richtung Pwyll. Sgathans Gesicht war verzerrt. Er stöhnte leise und rollte mit den Augen. Der Zauber, mit dem ihm Manannan belegt hatte, war schrecklich. Das Spinnennetz um seinen Kopf war auf magische Weise mit dem Kreis verbunden, in dem sich der Lederbeutel befand. Das Spinnennetz sog alle Erinnerungen aus dem Hirn des Magiers und leitete sie in den magischen Kreis weiter. Von Sekunde zu Sekunde wurde das Gesicht Sgathans stupider. Der Blick seiner Augen wurde trübe. „Ich raube dem Druiden das Gedächtnis“, erklärte Manannan. Schweigend umringten die Krieger den gefangenen Magier, der wieder aufstöhnte. Ein paar Augenblicke später flammte das 178
Spinnennetz auf und verschwand. „Die Seele ist aus Sgathans Körper geflohen“, sagte Manannan. „Der Druide wird keinem Menschen mehr gefährlich werden.“ Rasch bückte sich Manannan und strich mit der Hand über den magischen Kreis. Der Lederbeutel fing Feuer und eine Stichflamme schoß fast bis zur Decke, fiel dann in sich zusammen und erlosch. Sgathan fiel zu Boden. Nun ging alles unglaublich rasch. Sein Körper schrumpfte zusammen, war nur mehr so groß wie ein fünfjähriges Kind und wurde noch kleiner. Dann verschwand er ganz. Nur die Kleider des Magiers lagen auf dem Boden. „Du bist ein mächtiger Zauberer, Manannan mac Lir“, flüsterte Pwyll erschüttert. „Wir können froh sein, daß du auf unserer Seite kämpfst und nicht unser Gegner bist.“ Manannan durchbrach den magischen Kreis mit dem rechten Fuß. Die geheimnisvollen Zauberzeichen, die er rings um ihn gemalt hatte, verblaßten und waren dann nicht mehr zu sehen. Lange Zeit wollte keine Stimmung aufkommen. Immer wieder trafen ehrfurchtsvolle, aber auch ängstliche Blicke Manannan, der sich aber darum nicht küm merte. Nach und nach, je höher der Alkoholpegel der Krieger stieg, wurde es lauter und die Geburt des Erben wurde gefeiert. „Ich werde meinen Sohn Pryderi nennen“, 179
sagte Pwyll eine Stunde später. Seine Zunge war schon schwer und sein Gesicht vom vielen Wein aufgedunsen. „Ich trinke auf Pryderi, dem Sohn des Pwyll. Er soll ein kühner Krieger werden.“ Alle hoben die Becher und jubelten dem König zu. Und es kam so, wie ich es vermutet hatte, die Feier dauerte drei Tage und drei Nächte lang. „Sie sind wie kleine Kinder“, sagte Manannan, als wir uns in unsere Kammer zurückgezogen hatten. „Aber die Gefahr ist nicht beseitigt, noch lebt Idan, und ich bin sicher, daß er den Tod Sgathans rächen wird. Wir müssen vorsichtig sein, Caillech.“ Ich nickte, dann nahm er mich in seine Arme und küßte mich sanft. „Bald heißt es Abschied nehmen“, sagte er leise und ich blickte ihn erschreckt an. „Du mußt in deine Zeit zurückkehren, Caillech. Merlin braucht deine Hilfe.“ An Merlin hatte sich schon seit Tagen nicht mehr gedacht, und die Vorstellung, daß ich Manannan verlassen sollte, gefiel mir überhaupt nicht. Ein paar Tage später waren wir unterwegs zum verfluchten Wald von Glynn Cuch. Wir ritten durch eine Märchenlandschaft. Es hatte geschneit, und die Ebene war ein riesiger weißer Teppich, die schneebedeckten Bäume sahen wie verzauberte Menschen aus. Ohne Zwischenfälle erreichten wir das 180
magische Tor, betraten es und gelangten zum einsamen Strand mit den drei menhirartigen Klippen. Einen Tag und eine Nacht blieben wir auf Finns Burg. Oisin war mit einigen Kriegern unterwegs. Elcmars Krieger hatten sich ergeben und nun herrschte König Finn auch über Brughna-Boinne, das früher von Elcmar regiert worden war. Wir ritten weiter. Einmal noch übernachteten wir. Es war ein alter Bauernhof und die Bewohner hatten uns herzlich willkommen geheißen. Das war die letzte Nacht, die ich mit Manannan verbringen durfte. Wir beide wollten den Augenblick des Abschieds hinauszögern. Wir trabten gemächlich dahin. Noch einmal erzählte mir Manannan alles was er über die Zeitschächte und die Funktionsweise meines Armreifens wußte. Aber er konnte mir nichts Neues berichten. Der Armreifen schien mit meinem Handgelenk verwachsen zu sein. Ich hatte ein paarmal versucht ihn abzustreifen, doch es war mir nicht gelungen. „Werde ich dich wiedersehen, Manannan?“ fragte ich, als der Zeitschachtturm zu sehen war. „Ich weiß es nicht, Caillech“, antwortete er und sein Gesicht sah traurig aus. „Ich werde dich sehr vermissen“, flüsterte ich. 181
Er schwieg, doch ich sah, wie es in seinem Gesicht arbeitete. Unweit des Turmes zügelten wir die Pferde und stiegen ab. Ich klopfte Epona auf den Hals und streichelte ihre Nüstern und ihr warmer Atem wärmte meine Hände. „Wie komme ich in den Turm hinein?“ fragte ich, da ich keinen Eingang sah. „Ich führe dich zum Geheimgang, Caillech.“ Er schlang einen Arm um meine Hüfte, drückte mich eng an sich und führte mich zum gut getarnten Eingang. Das war auch etwas, was ich nicht verstand, denn ich war nicht im Turm erwacht, als ich auf diese Welt gelangt war, sondern ich hatte mich im Freien wieder gefunden. Mein Herz war schwer, als er mich in seine Arme nahm. Ich klammerte mich an ihm fest und spürte noch einmal seine Lippen. „Du mußt nun gehen, Caillech“, flüsterte er mir zu. „Viel Glück bei deiner Suche nach Merlin.“ Ich löste mich aus seinen Armen, blickte ihn lange an, dann sah ich noch einmal zu Epona und Siona hin, die sich in der Zwischenzeit angefreundet hatten. Dann verschwand ich im Gang. Ich betrat den Turm und blieb nach ein paar Schritten stehen. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das düstere Licht. Deutlich konnte ich die runde Öffnung des Schachtes sehen. Mir tat es leid, diese Zeit voller unheimlicher 182
Wesen, mächtiger Zauberer und kühner Krieger zu verlassen. Ich war sicher, daß ich irgendwann zurück in diese Epoche kommen würde. Ich war neugierig, ob mich der magische Armreifen tatsächlich in meine Zeit zurückbringen würde. Noch einmal rief ich mir alles ins Gedächtnis zurück, was mir Manannan mac Lir über die Zeitschächte und die Funktionsweise des Armreifens erzählt hatte. Langsam schritt ich auf die dunkle Öffnung zu. Mit jedem Schritt spürte ich die unerklärliche Kraft, die vom Schacht ausging und auf mich überschlug. Nun war auch der Sog zu spüren, der mich näher an die Öffnung heranzerrte. Ich stemmte mich nicht dagegen, sondern ließ mich einfach treiben. Der Armreifen leuchtete plötzlich auf, und eine wohltuende Wärme schlug von ihm auf meinen Körper über. Das Leuchten breitete sich nun über meinen ganzen Körper aus und erfaßte auch mein Schwert und die Kleidung und Schmuckstücke, die ich trug. Kurz entschlossen sprang ich in die dunkle Öffnung. Die bekannte undurchdringliche Schwärze war um mich herum, doch ich konnte deutlich meinen strahlenden Körper sehen. Schwerelos schwebte ich im Schacht. Ich erwartete das geheimnisvolle Ziehen in meinen Gliedern zu spüren, doch es blieb aus. Aber das war ganz natürlich, da die starken Kräfte des Schachtes die Schutzschicht nicht 183
angreifen konnten, die der goldene Armreifen um mich gebildet hatte. Nun mußte ich mir nur vorstellen, in welche Zeit ich gelangen wollte. Das andere würde der Armreifen in Verbindung mit den Zeitströmen besorgen. Ich stellte mir vor, daß ich wenige Sekunden, nachdem mich Oirbsen in den Schacht gestoßen hatte, auftauchen wollte. Kaum hatte ich das gedacht, als ich schon Oirbsen sah, der etwa zehn Meter von der Schachtöffnung entfernt stand. Eine der Sturmlaternen stand hinter ihm und tauchte das Turminnere in ein mattes Licht. Der Gnom sprang von einem Fuß auf den anderen und lachte dröhnend. Das Lachen erstarb, als ich aus der Schachtöffnung trat. Ihm fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er mich erblickte. Sein häßliches Gesicht verzerrte sich und er riß den Mund weit auf. Für ihn mußte ich ein unheimlicher Anblick sein, denn mein Körper war noch immer in das geheimnisvolle gelbe Licht getaucht. Mit drei Sprüngen hatte ich ihn fast erreicht. Bevor er sich noch bewegen konnte, riß ich das Schwert aus der Scheide und trat einen Schritt vor. „Du widerlicher Zwerg“, zischte ich wütend, „du hast dich zu früh gefreut.“ „Aber wie…“, stammelte er. „Wie ist… Ich verstehe nicht… Ich habe doch…“ „Raus mit der Sprache“, sagte ich und 184
fuchtelte mit dem Schwert vor seinem Gesicht hin und her. „In wessen Auftrag hast du gehandelt?“ Er wich einen Schritt zurück, und ich folgte ihm. „Du bleibst stehen“, sagte ich scharf. „Wenn du auch nur die geringste Bewegung machst, dann spieße ich dich auf. Verstanden?“ „Ja“, sagte er ängstlich. Mein Körper glühte nun nicht mehr so stark. Ein paar Sekunden später war das Leuchten erloschen. „Ich warte noch immer auf eine Antwort, Oirbsen“, sagte ich heftig. „Wer ist dein Auftraggeber?“ „Ich darf nicht sprechen“, sagte der Kleine flehend. Schritte kamen die Treppe hoch, dann trat eine gnomenhafte Gestalt in den Turm, die mit Zylinder und Frack bekleidet war. Nun war ich an der Reihe überrascht zu sein. „Wer ist dieser Kerl?“ fragte der eben eingetroffene Oirbsen und schritt auf sein Ebenbild zu. „Wer von euch beiden ist nun der richtige Oirbsen?“ fragte ich. „Ich“, sagte der zweite Gnom und riß eine Gerte aus seiner Brusttasche. Bevor ich noch etwas sagen konnte, sprang er vor und berührte sein Ebenbild mit der Gerte und murmelte etwas. Der Oirbsen, der mich in den Zeitschacht gestoßen hatte, verwandelte sich. Sein 185
Gesicht wurde einen Augenblick durchscheinend, und sein Körper schrumpfte ein. Vor mir stand ein winziger Dämon, der mir flehend die dünnen Arme entgegenstreckte. Sein graublaues Gesicht war mit Tätowierungen übersät. „Wer bist du?“ fragte ich den Kleinen. „Lintas“, flüsterte er. „Gnade, hab Gnade mit mir.“ „Ich lasse dich am Leben, wenn du mir deinen Auftraggeber verrätst.“ „Wenn ich dir sage, in wessen Auftrag ich handelte, dann muß ich sterben. Er wird mich überall auf dieser Welt finden.“ „Du sollst deine Chance erhalten, Lintas“, sagte ich. „Nenn mir deinen Auftraggeber, und ich sende dich durch den Zeitschacht in die Vergangenheit, wo dich dein Auftraggeber sicherlich nicht finden wird.“ Der Kleine warf einen ängstlichen Blick auf den Zeitschacht. „Hm, das ist noch immer besser als der sichere Tod“, brummte er nach ein paar Sekunden. „Raus mit der Sprache, du Halunke“, brummte Oirbsen. „Nur mit der Ruhe“, maulte der Kleine. „Ich habe dein Wort, Zamis-Hexe, daß du mich nicht töten wirst?“ „Ja, du hast mein Wort.“ „Gut“, sagte er und nickte eifrig. „Dieses Jahrhundert gefällt mir ohnedies nicht 186
besonders.“ „Wer ist dein Auftraggeber?“ „Zakum“, sagte er. „Das habe ich mir gedacht“, meinte ich. „Handelt er in Asmodis Auftrag.“ „Da bin ich überfragt. Er hat mir die Aufzeichnung eines Gespräches zwischen dir und Oirbsen vorgespielt. Ich kann jede beliebige Gestalt und Stimme annehmen. Ich schlüpfte in Oirbsens Gestalt und es gelang mir dich zu täuschen. Ich lockte dich hierher und hoffte, daß dich der Luftdämon besiegen würde, doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Aber ich konnte dich in den Turm locken. Den Rest kennst du ja.“ „Hm, demnach weiß Zakum und natürlich auch Asmodi, daß wir Merlin suchen“, stellte Oirbsen fest. „Richtig“, sagte ich. „Meine Herrschaften“, sagte Lintas, „ich darf mich nun verabschieden. Wahrscheinlich werden wir uns nie mehr sehen. Ich bin neugierig in welcher Zeit ich mich wiederfinden werde.“ Zielstrebig stapfte der Zwerg auf die Schachtöffnung zu. Der Sog erfaßte ihn, wirbelte ihn einmal um die eigene Achse, und dann verschwand er in der dunklen Öffnung. „Was ist nun wirklich geschehen?“ erkundigte sich Oirbsen gespannt. „Du warst in der Vergangenheit, nicht wahr?“ „Dein Doppelgänger stieß mich in den Zeitschacht. Ich kam im alten Irland heraus. 187
Und es gelang mir das zweite Siegel zu finden. Nun kann ich die Zeitschächte beherrschen.“ „Das ist ja ganz prächtig“, freute sich Oirbsen. „Kommen wir nun zu dir, Oirbsen. Wer bist du wirklich?“ „Wie soll ich diese Frage verstehen?“ fragte er mißtrauisch zurück. „So wie ich sie gestellt habe. Antworte!“ „Ich bin Oirbsen.“ „Als wir uns das erstemal sahen, stelltest du dich als Manannan mac Lir vor, dann sagtest du aber, daß ich dich wahrscheinlich unter dem Namen Oirbsen eher kennen würde.“ „Hm, ich verstehe“, sagte er keineswegs verlegen. „In der Vergangenheit bist du Manannan mac Lir begegnet. Ist es so?“ „Genauso ist es“, sagte ich heftig. „Bist du nun der Manannan, den ich im alten Irland kennen gelernt habe?“ Der nußknackergesichtige Gnom seufzte unglücklich. „Ich weiß, daß du mir nicht glauben wirst, Coco, aber ich spreche die Wahrheit. Ich kann mich an nichts erinnern.“ Ich sah ihn aufmerksam an, und ich glaubte ihm. „Schade“, flüsterte ich, „zu gern hätte ich die Wahrheit erfahren.“ „Die Wahrheit kannst du nur von Merlin erfahren, Coco.“ „Woher hast du gewußt, daß ich hier bin, Oirbsen?“ „Ich habe von Merlin eine Botschaft erhalten, 188
daß ich sofort hierherkommen soll.“ „Was hat er dir noch gesagt?“ „Das war alles.“ „Wo kann ich nun das dritte Siegel finden?“ „Du sollst nach London zurückfahren, dort wirst du weitere Informationen erhalten.“ „Und was ist mit dir? Kommst du mit?“ Der Gnom schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe noch hier in der Gegend etwas zu erledigen. Auf Wiedersehen, Coco.“ Und fort war er. Bedächtig verließ ich den Turm durch den Geheimgang; und ein paar Minuten später trat ich zu Rebecca ins Zimmer. „Wie siehst denn du aus?“ fragte sie verblüfft. „Ich komme aus einer anderen Zeit“, sagte ich lächelnd und setzte mich nieder. „Aus einer Zeit, in der es mächtige Druiden gibt, furchtbare Bösewichte und kühne Krieger.“ „Warst du tatsächlich in der Vergangenheit?“ fragte sie erregt. „Ja, ich war im alten Irland. Ich habe dir viel zu erzählen. Wie geht es Eric?“ „Er wird es überleben. Komm schon, Coco, erzähle mir alles.“ „Es wird eine lange Geschichte werden“, sagte ich. Dann griff ich nach den Zigaretten, steckte mir eine an und drückte sie hustend nach zwei Zügen wieder aus. „Ich bin das Rauchen nicht mehr gewöhnt“, meinte ich, „ich habe seit Wochen nicht mehr 189
geraucht.“ „Seit Wochen?“ wunderte sich meine Freundin. Ich lehnte mich zurück und begann zu erzählen – von Catbath, von Finn und Oisin, von Elcmar und Idan, von Pwyll und von Manannan mac Lir, den ich sehr vermißte…
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