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Paul Wolf Coco und der Rattenfänger ERICH PABEL VERLAG KG-RASTATT/BADEN DÄMONEN-KILLER-Buch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt Copyright © 1979 by Paul Wolf Titelillustration Nikolai Lutohin Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt. Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden; der Wiederverkauf ist verboten. Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich: Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300 A-5081 Anif Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich NACHDRUCKDIENST: Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg 1, Telefon (0 40) 33 96 16 29, Telex 02.161.024 Printed in Germany Februar 1979
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Coco, du bist eine Hexe von schwarzem Geblüt – eine Zamis! Es wird Zeit, daß du dich deiner adeligen Abstammung entsinnst. Ich bin nicht länger gewillt, untätig deinen Kapriolen mit den Sterblichen zuzusehen, mit denen du den Ruf und die Ehre unserer Familie aufs Spiel setzt. Entweder nimmst du alsbald Vernunft an, oder du wirst aus der Schwarzen Familie verstoßen und endest als Freak. Ich werde deiner Entwicklung zum Bösen nachhelfen, indem ich dich in die Dienste eines erfahrenen und mächtigen Dämons schicke. Bei Makemake auf Trinidad sollst du lernen, was dir zu einer Hexe fehlt, die würdig ist, den Namen Zamis zu tragen. Du wirst sofort abreisen. Dein Bruder Georg hat ein Flugzeug für dich gechartert. Und hier war ich nun. Trinidad. Der kleine Flugplatz vor den Caroni-Sümpfen lag im roten Schein der Abendsonne. Die Maschine war kaum ausgerollt, da drangen bereits gedämpfte Calypso-Klänge an mein Ohr. Durch die Luke sah ich eine Steelband über das Rollfeld kommen. Sie hatten die ausgedienten Ölfässer mit den zu Pauken gehämmerten Böden auf fahrbaren Wagen untergebracht, die mit Girlanden und Lampions geschmückt waren. Der große Karneval. Karneval auf Trinidad. Ich wiegte mich unwillkürlich im Rhythmus der Calypso-Klänge. Aber dann erinnerte ich mich der Worte meines Vaters und des Grundes 3
meines Hierseins, und mein Körper versteifte sich sofort. Die Karnevalszeit auf Trinidad würde für mich eher trostlos verlaufen. Eine Stewardeß kam und fragte mich nach meinen Wünschen. Bei ihrem Anblick mußte ich unwillkürlich grinsen. An ihr war weiter nichts Ungewöhnliches, aber ich erinnerte mich, daß dieses Flugzeug ursprünglich mit Stockholm als Zielflughafen gestartet war. Und ich malte mir bereits aus, welche Gesichter die Passagiere und die Crew machen würden, wenn ihnen bewußt wurde, wo sie gelandet waren. Im Augenblick standen sie noch im Bann meines Bruders Georg, der diese Maschine für mich „gechartert“ hatte, wie es mein Vater ausdrückte. Georg besaß überragende magische Fähigkeiten, und es hatte ihn zweifellos nur wenig Mühe gekostet, die Crew dahingehend zu beeinflussen, statt den Norden Europas die Karibik anzufliegen. Ich war als einziger Passagier auf dieses Ziel vorbereitet und trug nur ein T-Shirt und Jeans. Die anderen waren vermummt wie bei einer Nordpol-Expedition. Die Stewardeß erwiderte mein Grinsen irritiert und gab mir den Weg frei. Die anderen Passagiere blieben stocksteif sitzen. Bevor ich den Ausstieg erreichte, drehte ich mich ein letztes Mal um und nahm durch ein Fingerschnippen den Bann von den Flugzeuginsassen. 4
Augenblicklich brach ein Tumult los, und überall wurden erboste Stimmen laut. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, nahm mein Handgepäck auf – eine Reisetasche mit dem Allernötigsten – und betrat die Gangway. Aber das Lächeln gefror mir auf den Lippen, als ich mir wieder in Erinnerung rief, warum ich nach Trinidad gekommen war. Makemake! Über diesen uralten Dämon hatte ich schon viele schaurige Dinge in der Schwarzen Familie gehört. Er herrschte über die beiden Inseln Trinidad und Tobago. Aus dem Untergrund führte er ein strenges Regime. Trinidad war nicht wie Haiti, wo die Dämonensippschaft mit großem Spektakel die Voodoo-Trommeln rühren ließ, eine Insel der Geheimkulte und heidnischen Riten. Auf Trinidad blühte das Böse im Verborgenen. Ich erreichte das Ende der Gangway und war sofort von einer Schar Dunkelhäutiger umringt. Sie tanzten mit geschmeidigen Bewegungen zu den synkopischen Rhythmen der Steelband, die sich hinter ihnen zu einem Kreis formiert hatte. „Willkommen zum Karneval, Miß“, sagte eine heisere Stimme. Eine Hand griff nach meiner Reisetasche. Ich sah einen etwa vierzehnjährigen Jungen mit verschwitztem Gesicht, den ich gewähren ließ. Mit meiner Tasche in der einen und einer Rassel in der anderen Hand verschwand er hüftwiegend. 5
Ich machte gute Miene zu diesem Spiel. Makemake konnte warten. Ich war jung und temperamentvoll und ließ mich gern von der ursprünglichen Ausgelassenheit der CalypsoTänzer mitreißen. Ein Neger mit nacktem Oberkörper verrenkte sich provozierend vor mir im Rhythmus der hämmernden Instrumente. Ich paßte mich seinen Bewegungen an. Da merkte ich, daß er mir auf den Busen starrte und dabei einen seltsamen Ausdruck bekam. Ich trug keinen BH, und deshalb war mein erster Gedanke, daß sein Interesse der ungezügelten Bewegung meiner Brüste galt. Doch dann merkte ich, daß er nur Augen für das Amulett hatte, das ich an einem Lederriemen um den Hals trug. Es bestand aus einem dreieckigen Tierknochen, in den ein Kolibri geschnitzt war: Das Erkennungszeichen für Makemake. Vater hatte mir aufgetragen, dieses Amulett sichtbar zu tragen, damit die Diener des Dämons mich erkennen konnten. „Gefällt dir mein Halsschmuck?“ fragte ich den Tänzer auf Englisch. Er gab einen krächzenden Laut von sich. Das Lächeln um seinen Mund war erstarrt. Kleine Schweißtröpfchen bildeten sich über seinen aufgeworfenen Lippen. Seine Augen hatten sich geweitet, waren fiebrigen Blicks. Ich kannte diesen Ausdruck, er war das Symptom beginnender Trance. Seine Bewegungen wurden immer ekstatischer, und das 6
metallische Hämmern der Steelband peitschte ihn immer mehr auf. Die Musik wurde noch lauter, schwoll zu einer infernalischen Kakophonie an. Ich wollte mich der Musik entziehen, den Kreis der Tänzer verlassen. Aber das gelang mir nicht. Plötzlich merkte ich, daß ich nicht mehr Herr über mich war. Ein umheimlicher Bewegungsdrang hatte mich erfaßt und ließ mich nicht los. Ich stand im Bann dieser unheimlichen Musik. Ich schrie und hielt mir die Ohren zu. Aber das Hämmern der Steelband übertönte meinen Schrei und drang mir förmlich durch Mark und Bein. Und die Tänzer bildeten eine undurchdringliche Menschenmauer um mich. Sie bewegten sich so rasch, daß ich sie nur als verschwommene Schemen wahrnehmen konnte. Und ich mußte mich ihrem Bewegungsablauf anpassen, ob ich wollte oder nicht. Was war das für ein teuflisches Spiel! Sollte ich mich hier zu Tode tanzen? Wollte mich Makemake auf die Probe stellen? Sollte dies nur ein Test meiner magischen Fähigkeiten sein, oder ein diabolischer Scherz? Plötzlich erkannte ich, daß es bitterer Ernst war. Die Tänzer trugen nun alle Handschuhe, die mit Hühnerfedern geschmückt waren, und die Finger endeten in langen, gebogenen Krallen. Damit durchteilten sie beim Tanzen die Luft, daß es nur so pfiff. Und wie zufällig 7
schlugen sie mit ihren mörderischen Krallen immer knapper an mir vorbei. Einige Male entging ich nur deshalb einem Hieb mit den Krallen, weil ich auswich und mich abduckte. Doch ich wußte, daß ich den wie spielerisch vorgetragenen Attacken auf die Dauer nicht entgehen konnte. Deshalb wollte ich mich kurzerhand in einen schnelleren Zeitablauf versetzen, um dieser Horde tanzender Amokläufer zu entgehen. Doch ich konnte diese meine Fähigkeit nicht einsetzen. Ich stand in einem magischen Bann, in einem Circulus vitiosus, der mich zwang, mich nach dem Rhythmus dieser hämmernden Musik zu bewegen und immerfort zu tanzen. In den Tod zu tanzen… Etwas traf mich in den Rücken, und dann hörte ich das Zerreißen von Stoff. Ich merkte, wie etwas Eiskaltes seine Bahn quer über meinen Rücken zog, und dann wurde mir heiß, und es brannte wie das Fegefeuer. Ich wirbelte herum, sah einen halbnackten Mann, wie er erneut mit seiner Krallenhand ausholte. Gleichzeitig wurde ich an verschiedenen Stellen gleichzeitig gepackt und weiter um meine Achse gedreht. Um mich drehte sich alles. Ich konnte nicht einhalten, wurde immerfort um meine Achse gewirbelt. Dies war der Moment, da ich mit dem Leben abschloß. Doch auf einmal hörte das Hämmern der Steelband auf. Ein Geschrei erhob sich. Aus 8
der rasenden Drehung heraus sah ich schemenhafte Schatten flüchten, und ein Gezirpe wie von einem Vogelschwarm erhob sich. Um mich war ein Flattern und Rennen, ein Gekreische und Gefluche, aber ich konnte keine Einzelheiten erkennen, denn ich drehte mich noch immer. Da wurde ich gestoppt – es war, als renne ich gegen eine massive Wand. „Kommen Sie, Miß, schnell!“ sagte jemand gehetzt und in akzentreichem Englisch. „Wir müssen weg, bevor die magische Steelband sich wieder sammelt.“ Ich war wie benommen. Noch immer drehte sich alles um mich. Ich merkte nur, daß mir das T-Shirt in Fetzen vom Körper hing, es war blutbesudelt, und ich bedeckte meine Blöße notdürftig. Eine Hand schloß sich mit festem Griff um meinen Oberarm und führte mich. Ich war immer noch schwindelig und taumelte mehr als ich ging. Meine Umgebung sah ich verschwommen, dunkle, unergründliche Schatten schienen mit Lichterketten einen eigentümlichen Reigen zu tanzen. „Hier sind wir vorerst in Sicherheit, Miß“, sagte die angenehm tiefe Stimme von vorhin. „Ruhen Sie sich erst einmal aus.“ „Wo sind wir?“ fragte ich. „Im Sumpf. Hierher werden uns die Tänzer des Roten Hahnes nicht folgen. Der Flugplatz liegt hinter uns. Der Sumpf ist Makemakes Hoheitsgebiet.“ 9
Ich verstand überhaupt nichts mehr. Aber ich war schon dankbar, daß ich mich wenigstens ausruhen und von dem Schrecken erholen konnte.
Es war bereits finstere Nacht. Wir waren von übermannshohem Schilf und von knorrigen Bäumen umgeben. Einige Baumstämme waren geknickt, die Wurzeln ragten wie die Klauen dämonischer Bestien in die Luft. Aus dem Sumpf waren die Geräusche der Nachtgeschöpfe zu hören, die sich in einem hektischen Wettstreit zu übertreffen versuchten. Kleine Irrlichter umtanzten uns und hüllten uns in ihren grünlichen, überirdischen Schein. Wir befanden uns auf einer kleinen Insel, die vom Schilf geschützt war. Durch eine Lücke erblickte ich einen brackigen Tümpel. Dessen Oberfläche war mit Inseln grünlichen Mooses bedeckt. Zwischendurch bildeten sich Gärgasblasen und zerbarsten mit leisem Knall. Ich lehnte seitlich gegen einen Baumstumpf, darauf bedacht, nicht mit der schmerzenden Rückenwunde anzustoßen. Als ich in dem Tümpel eine unheimliche Bewegung gewahrte, fuhr ich alarmiert hoch. „Kein Grund zur Aufregung, Miß“, sagte mein Retter. „Im Sumpf sind wir sicher. Hier gibt es Krokodile und sogar Giftschlangen. Aber wer Makemakes Zeichen trägt, den lassen die 10
Sumpfbewohner in Ruhe.“ Ich beruhigte mich wieder. Als ich zu der Stelle des Sumpfes blickte, wo ich die Bewegung wahrgenommen hatte, da sah ich die träge blickenden Glubschaugen und die Schnauze einer Echse. Sie war riesig. Ich wandte mich ab und betrachtete meinen Retter eingehender. Er war betagt, hatte graumelierte Schläfen, und auch sein Haupthaar, das er in der Mitte gescheitelt hatte und eng an den Kopf gebürstet trug, war von Silberfäden durchzogen. Er war zwischen sechzig und siebzig Jahren, wirkte aber unglaublich rüstig. Und er war Inder, das erkannte ich sofort. Ich fragte mich, welcher Konfession er angehören mochte. Aber bestimmt war er weder Muslim noch Hindu, denn wenn er Makemakes Diener war, dann hatte er sich dem Bösen verschworen. Auf der Stirn hatte er ein kleines rotes Mal, wie es verheiratete Inderinnen trugen. Bei genauerem Hinsehen erkannte man jedoch, daß es sich dabei in Wirklichkeit um eine Tätowierung handelte, die einen Kolibri darstellte: Das Zeichen Makemakes. „Ich heiße Sady“, stellte sich der Inder vor, als er meinen prüfenden Blick bemerkte. „Und ich bin Makemakes Vertrauter. Wenn Sie etwas von ihm wollen, dann wenden Sie sich nur an mich.“ „Wenn es nach mir ginge, könnte mir 11
Makemake gestohlen bleiben“, sagte ich wütend. Sady zuckte bei meinen Worten leicht zusammen. Er wirkte gekränkt. Er zog sich die weiße, kragenlose Jacke enger, zog im Sitzen die Beine an den Körper und drehte sich demonstrativ ab. „Makemake hat Sie nicht zu sich gebeten“, erklärte er dabei eingeschnappt. „Es war die Idee Ihrer Familie, daß mein Herr und Meister Sie in die Lehre nehmen soll. Mir wäre es nur recht, wenn Sie die nächste Maschine nähmen und Trinidad wieder verließen. Das würde uns nur Scherereien ersparen. Wir haben so schon Sorgen genug.“ „Bevor ich die Maschine verließ, wäre ich am liebsten umgekehrt“, sagte ich. „Aber jetzt habe ich es mir anders überlegt. Ich möchte diesen Burschen heimzahlen, was sie mir angetan haben. Ich werde sie finden und jeden einzelnen von ihnen einen Veitstanz aufführen lassen, bis er umfällt.“ Bei der Erinnerung an die Demütigung überkam mich unsägliche Wut. Und als ich durch eine heftige Bewegung mit dem Rücken gegen den Baumstamm stieß, durchzuckte mich furchtbarer Schmerz. Das zeigte mir, daß meine Rückenwunde wahrscheinlich doch schlimmer war, als ich ursprünglich angenommen hatte, und meine Wut verstärkte sich. „Lassen Sie mal sehen“, bot sich Sady an und drehte mich herum. An seinem schneller werdenden Atem merkte ich, daß ihn meine 12
Wunde beeindruckte. „Legen Sie sich auf den Bauch, Miß, ich werde Sie sofort behandeln.“ Ich gehorchte ihm, legte mich bäuchlings ins Gras und spürte gleich darauf eine leichte Berührung auf dem Rücken. Er begann die Wunde mit kreisenden Bewegungen sanft zu massieren, daß mich ein wohliger Schauer überrieselte. Die Massage tat mir wohl, der Schmerz verflüchtigte sich. „Was streichst du mir auf den Rücken?“ wollte ich wissen; ich interessierte mich sehr für alle magischen Heilpraktiken und die Salben und Tinkturen, die dabei eingesetzt wurden. „Ein Gemisch aus Vogelkot und Sumpfkräutern“, antwortete Sady und drückte mich zu Boden, als ich angewidert hochfahren wollte. „In wenigen Minuten wird Ihre Wunde verheilt sein, ohne eine Narbe zu hinterlassen, Miß.“ Ich entspannte mich wieder. „Mach weiter so, Sady“, sagte ich. „Es tut wohl. Und nenn mich nicht dauernd ,Miß’. Ich heiße Coco.“ Er antwortete nichts, sondern massierte mich wortlos weiter. Ich war so müde, daß ich auf der Stelle hätte einschlafen können. Und ich hatte sofort Vertrauen zu dem Inder, in seiner Nähe fühlte ich mich sicher und geborgen. Um mich wach zu halten, begann ich ein Gespräch. „Was waren das für Kerle, die mich am Flugplatz überfielen?“ fragte ich. „Kennst du 13
sie, Sady?“ „Legen Sie sich besser nicht mit ihnen an, Miß – äh, Coco“, antwortete er. „Es sind die Diener des Roten Hahnes.“ „Das sagt mir überhaupt nichts“, meinte ich leichthin. „Wer ist dieser Rote Hahn, daß du so von ihm beeindruckt bist? Ein Dämon der Schwarzen Familie? Oder gar ein Dämonenjäger?“ „Wir wissen nicht, wer sich hinter diesem Decknamen verbirgt“, antwortete Sady. „Aber es muß wohl ein Mitglied der Schwarzen Familie sein. Ein Sterblicher würde die schwarzmagischen Praktiken nicht so gut beherrschen wie er. Der Rote Hahn hat meinem Herrn und Meister den Kampf angesagt und als Höhepunkt des Karnevals eine Eskalation des Bösen prophezeit. Und wenn ihm nicht das Handwerk gelegt wird, dann wird er seine Drohung wahr machen. Die Omen sind deutlich genug.“ „Was redest du da!“ entfuhr es mir. „Ich dachte, Makemake sei unumschränkter Herrscher von Trinidad und Tobago.“ „Ist er auch“, sagte Sady würdevoll. „Und er wird den Roten Hahn in die Schranken weisen, wer immer sich feige hinter diesem Decknamen verbirgt.“ „Hah, ich verstehe“, sagte ich. „Dieser unbekannte Dämon hat Makemake den Fehdehandschuh hingeworfen und stellt Machtansprüche. Wie lange geht das schon so?“ 14
„Einige Monate“, erzählte Sady. „Zuerst hat es nur einige kleinere Zwischenfälle gegeben. Aber der Rote Hahn ist immer dreister geworden. Und zuletzt hat er eine offene Herausforderung an meinen Herrn und Meister gerichtet. Aber da er ein feiger und hinterhältiger Dämon ist, hat er die direkte Konfrontation gescheut. Er kämpft nur aus dem Hinterhalt und hat seine Machtansprüche nicht einmal dem Schiedsgericht der Schwarzen Familie gemeldet. Offenbar glaubt er, Makemake auf diese Weise zermürben zu können. Und der Rote Hahn wird schon wissen, warum er sich versteckt hält. Die Anonymität ist der beste Schutz vor Makemakes Zorn. Aber mein Herr und Meister wird diesen memmenhaften Emporkömmling auch so vernichten.“ Wo war ich denn da nur wieder hineingeraten! Obwohl ich mich bei dem karibischen Dämon auf eine harte Schule gefaßt gemacht hatte, hatte ich mir trotzdem einiges von meinem Aufenthalt auf Trinidad versprochen. Ich hatte mir von meiner Schwester Lydia sagen lassen, daß der Karneval von Trinidad alles in den Schatten stellte, was die europäischen Dämonen an Schwarzen Messen und orgiastischen Satansfesten zu bieten hatten. Und wenn meine Interessen auch anders gelagert waren als die meiner nymphomanischen Schwester, so hatte ich mich auf den Karneval doch gefreut. 15
Und nun das! Ein Kampf zwischen rivalisierenden Dämonen um die Macht auf dieser paradiesischen Insel. Und ich war sofort darin verwickelt worden, kaum daß ich den Fuß in dieses Land gesetzt hatte. Das konnte noch heiter werden. „So“, sagte Sady und ließ von mir ab. „Die Wunde ist so gut wie verheilt, Coco. Ziehen Sie das hier an.“ Er überreichte mir seine Jacke, und ich schlüpfte hinein. Sein Oberkörper war nun nackt, und ich stellte fest, daß er muskulös und jugendlich war. Hatte ihm Makemake ewige Jugend und ein langes Leben gewährt, als er sich ihm mit ganzer Seele verschrieb? „Wir sollten uns auf den Weg machen“, schlug der Inder vor. „Es wäre zu gefährlich, die Caroni-Sümpfe zu verlassen. Und da wir zu Fuß unterwegs sind, werden wir die ganze Nacht brauchen, um zu unserem Ziel zu gelangen.“ „Warum müssen wir uns vor den Leuten des Roten Hahnes verstecken?“ wunderte ich mich. „Warum erteilt ihnen Makemake nicht einfach einen Denkzettel? Ich bin eine Zamis, und es verletzt meinen Stolz, daß ich mich vor irgendeinem dahergelaufenen Dämon verkriechen soll.“ „Eben weil Sie eine Zamis sind, Coco, müssen Sie besonders vorsichtig sein“, erklärte Sady. „Der Rote Hahn muß von Ihrem Kommen unterrichtet gewesen sein, sonst hätte er Ihnen nicht diesen mörderischen 16
Empfang bieten können. Offenbar wollte er Sie töten, um Ihre Familie gegen Makemake aufzubringen. Sie sind nun besonders gefährdet, denn bestimmt spinnt der Unbekannte weitere Intrigen. Ich traue ihm jede Teufelei zu.“ „Der wird sich noch wundern!“ sagte ich gepreßt. Aber meine Gefühle waren durchaus zwiespältig. Ich traute dem Inder nicht recht. Nach allem, was ich über Makemake erfahren hatte, traute ich ihm jede Teufelei zu. Und es hätte mich nicht gewundert, wenn er diesen geheimnisvollen Dämon, der angeblich gegen ihn kämpfte, einfach erfunden hatte, um mich auf die Probe zu stellen. Vielleicht hatte sogar mein Vater diesen Plan mit ihm ausgeheckt. Ich sah meinen alten Herrn förmlich vor mir, wie er sagte: „Coco ist ein mißratenes Stück, der weiße Rabe in unserer Schwarzen Familie. Mir ist jedes Mittel recht, um sie auf den Weg des Bösen zurückzuführen. Aus diesem Grund…“ Na wartet, dachte ich bei mir, während ich Sady durch den Sumpf folgte. Ihr werdet noch eure blauen Wunder erleben, wenn ihr glaubt, mir das Gruseln beibringen zu können!
Makemake ist ein uralter Dämon, der früher über Ozeanien herrschte. Er lebte in einem Vulkan von Hawaii, und Luft und Feuer waren seine Elemente. Auf der sogenannten 17
Osterinsel wurde er als Vogelmann verehrt. Makemake verließ sein Reich und überließ es Te-Ivi-O-Atea, der ein Bruder von ihm ist. Das Feuer ist immer noch sein Element, und mit seinen Stürmen beherrscht er die ganze Karibik, die Vögel von Trinidad sind seine Boten. Nicht umsonst ist sein Zeichen der Kolibri, denn dieser so lieblich und harmlos scheinende Vogel wird durch Makemakes Magie ein tödliches Instrument. An diese Worte meines Vaters mußte ich denken, als wir das Ende des Sumpflandes erreichten. Am Horizont war die Meeresbucht mit der Hauptstadt von Trinidad, Port of Spain, zu sehen. Sie war etwa fünf Kilometer entfernt. Als Sady mich von den Todestänzern des Roten Hahnes erlöst hatte, war mir gewesen, als hörte ich das Gekreische von Vögeln. Ich fragte den Inder nicht, auf welche Art er mich befreit hatte, sondern nahm an, daß Makemake ihm seine Kolibris zur Verstärkung geschickt hatte. Ich versuchte mir diese kleinen, flinken Vögel als mörderische Bestien vorzustellen, aber es gelang mir nicht. Sady blieb plötzlich stehen und starrte wie gebannt auf das Land vor uns. Rechts von uns zogen sich die Caroni-Sümpfe scheinbar endlos dahin. Links von uns lag das Meer. Und vor uns begann die Savanne. Geknickte Bäume und morsches, verfaulendes Treibgut, das angeschwemmt worden war, versperrte 18
uns teilweise die Sicht. Alles war mit einem teerigen schwarzen Film überzogen, der, wo die ersten Sonnenstrahlen der aufgehenden Sonne ihn trafen, fluoreszierend leuchtete. Das ganze Land vor uns, mindestens drei Acre groß, war in dieser ölig-teerigen Masse versunken. „Was ist, Sady?“ fragte ich den Inder. „Das ist das Werk des Roten Hahnes“, sagte er und deutete mit einer müden Bewegung vor sich. „Handelt es sich um eine magische Falle?“ erkundigte ich mich. „In diesem Fall sollten wir besser einen Umweg machen. Ich habe keine Lust, geteert und gefedert zu werden.“ „Es besteht keine Gefahr mehr“, sagte Sady kopfschüttelnd. „Die Schlacht ist vorbei. Der Kote Hahn hat den Vogelschwarm vernichtet, den Makemake zu unserem Schutz geschickt hat.“ Ich ging näher und starrte in den schwarzen, fluoreszierenden Schlamm, mit dem das ganze Land vor uns überdeckt war. Und da entdeckte ich die Kadaver der Vögel, die von dem tödlichen Film überzogen waren. Es handelte sich um Kolibris, Papageien und Aasgeier. Keiner der Vögel bewegte sich mehr. Sie boten ein Bild des Grauens. Sie waren in ihrem verzweifelten Todeskampf erstarrt, lagen mit gebrochenen Schwingen, aufgeplatzten Körpern und gereckten Schnäbeln umher. Ich wandte mich angewidert ab und folgte Sady zum Strand, 19
um einen Bogen um diesen Landstreifen der Trostlosigkeit und des Todes zu machen. „Wie konnte das geschehen?“ fragte ich den Inder, während wir durch knöcheltiefes Wasser wateten. Er gab keine Antwort. Er hatte den Kopf gesenkt und schien in tiefer Trauer zu meditieren. Ich wollte nicht weiter in ihn dringen. Aber ich war geneigt, meine Meinung zu revidieren. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Makemake dieses Schauspiel selbst inszeniert hatte, nur um mich zu erschrecken. Es mußte mehr dahinterstecken. Doch war ich viel zu müde, um mir darüber Gedanken zu machen. Ich wollte mich erst einmal ausruhen und dann mit Makemake sprechen, um mir eine Meinung über diesen Dämon bilden zu können. Wenn er tatsächlich seine Tiere ins Verderben geschickt hatte, um mich zu beeindrucken, dann war er viel grausamer, als ich gedacht hatte. Das Meer umspülte meine wunden Füße. Das laue Naß tat ihnen gut, aber es reichte nicht, meine Sinne zu beleben. Und ich hatte keine Lust, mich künstlich wachzuhalten, indem ich mich magisch auflud. Diese Art der Aufputschung war mir ohnehin zuwider, und ich wollte sie nur in Notfällen anwenden. Ich kam nicht einmal auf die Idee, Sady zu beeinflussen zu versuchen. Abgesehen davon, daß ich im Augenblick meine Ruhe haben 20
wollte, versprach ich mir davon auch gar nichts. Denn wenn er in Makemakes Bann stand, würde ich an ihm meine Hexenfähigkeiten nur vergeuden. Nachdem wir den Landstrich mit der Ölpest umrundet hatten, wandten wir uns wieder landeinwärts. Ich bekam den Eindruck einer paradiesisch schönen Landschaft, doch konnte ich sie nicht genießen. „Gleich ist es geschafft“, sagte Sady und deutete unbestimmt vor sich. Aber anstatt die Richtung beizubehalten, schlug er einen Haken und wandte sich wieder dem Meer zu. Ich fragte nicht nach dem Grund, sondern nahm eben an, daß er diesen Umweg machte, um den Feind zu verwirren – oder auch mich. Es könnte ja sein, daß ich den Weg zu Makemakes Unterschlupf nicht von selbst finden sollte. Endlich erreichten wir das Ende der Savanne und kamen in einen exotischen Park. Es war eigentlich mehr ein Urwald, der ungepflegt wucherte und den Eindruck von unberührter Wildnis vermittelte. Aber das war wohl Absicht. Zwischen den dichten Pflanzen waren seltsame Götzenstatuen zu sehen. Es waren fremdartige, drohend wirkende Figuren, moosbewachsen und von Schlingpflanzen überwuchert, so daß keine Einzelheiten zu erkennen waren. Man erahnte sie mehr, als daß man sie sah, und ich machte mir nicht die Mühe, sie einer genaueren Betrachtung zu 21
unterziehen. Das alles hatte Zeit für später. „Ist das hier Makemakes Domizil?“ erkundigte ich mich bei Sady. „Dies ist das Anwesen von Sir Winslow Bendix“, antwortete der Inder. „Sie werden sein Gast sein, bis Makemake sich bei Ihnen meldet.“ Das dichte Unterholz lichtete sich. Vor uns tauchte ein altes, verfallendes Herrschaftshaus auf. Keine Menschenseele war zu sehen, es herrschte eine eigenartige Stille. Sady führte mich durch einen Hintereingang ins Haus. Drinnen war es kühl, fast kalt, und ich bekam eine Gänsehaut. Die Läden vor den Fenstern waren geschlossen, und es herrschte ein Zwielicht, in dem nicht viel zu erkennen war. Die Ruhe und die düstere Atmosphäre machten mich noch müder. Ich folgte dem indischen Diener über eine geschwungene Treppe ins Obergeschoß und durch einen Korridor zu einer Tür. Er öffnete sie und ließ mich eintreten. Das Zimmer war stilvoll eingerichtet. Vorhänge mit indischen Motiven waren vor die beiden hohen Fenster gezogen. Vor einem Marmorkamin saß ein steinerner Gepard. Über dem Kamin spannten sich zwei Stoßzähne von Elefanten zu einem Spitzbogen. Die Möbel bestanden aus Bambusrohr. Sady erklärte mir, daß die eine Tür ins Bad und die andere in die Garderobe führte. Dabei 22
wurde mir bewußt, daß ich kein Gepäck besaß. Der Negerjunge auf dem Flugplatz hatte mir die Reisetasche abgenommen und war damit auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Es war mir auch egal, denn in der Tasche hatte sich nichts befunden, was unentbehrlich für mich war. Irgendwie war ich sogar froh, die Sachen losgeworden zu sein. An manche davon waren Erinnerungen geknüpft, die ich besser vergessen wollte. Ich überreichte Sady seine Jacke und ließ mich auf das breite Bambusbett fallen. Ich hörte noch wie aus weiter Ferne die Tür zufallen, dann mußte ich sofort eingeschlafen sein.
Irgend etwas weckte mich. Ich fuhr im Bett hoch und zog mir die dünne Decke bis zum Hals herauf, als könnte sie mich gegen die unbekannte Bedrohung schützen. Obwohl es im Zimmer stockdunkel war und ich nichts sehen konnte, spürte ich die Anwesenheit von etwas Fremdem. Ich lauschte, aber es war nichts zu hören. Aber da war etwas. Ich spannte mich an, bereit, sofort in den schnelleren Zeitablauf zu verfallen und aus dem Raum zu fliehen. Draußen mußte es inzwischen Nacht 23
geworden sein, denn durch die Schlitze der Jalousien fiel kein Licht-Schimmer. Darum war es so finster im Zimmer. Meine Hand tastete sich vorsichtig nach dem Schalter der Nachttischlampe. Nicht daß ich mich im Dunkeln fürchtete, aber elektrisches Licht konnte mancherlei Spukerscheinungen abwehren. Die Schatten der Toten zum Beispiel reagierten auf elektrisches Licht sehr empfindlich. Und wer wußte schon, welcherlei Gespenster in diesem alten Gemäuer hausten. Gerade als ich den Lichtschalter erreichte, machte ich eine Wahrnehmung, die mich zögern ließ. Keine drei Schritte von mir entfernt bildete sich eine magische Aura, die phosphoreszierend leuchtete. Die Aura dehnte sich rasch aus und bekam die Umrisse einer menschlichen Gestalt. „Kein Licht!“ donnerte plötzlich eine herrische Stimme aus Richtung der Astralerscheinung. „Finger weg vom Schalter, kleine Coco.“ Ich zuckte überrascht zusammen, faßte mich aber schnell wieder. „Ich bin Makemake“, sagte die Stimme, und die phosphoreszierende Gestalt ließ sich auf den Rand meines Bettes sinken. Ich zog unwillkürlich die Knie an. „Habe ich deine süßen Träume gestört, kleine Coco? Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.“ „Mich bringt nichts so leicht aus dem Gleichgewicht“, erwiderte ich. „Schon gar 24
nicht, wenn mir einer seinen Astralkörper schickt. Warum kommst du nicht selbst, Makemake? Bist du so häßlich, daß du dich vor mir verstecken mußt?“ „Ich bin sehr beschäftigt“, erwiderte die Spukerscheinung, „deshalb konnte ich nicht selbst kommen. Aber ich wollte es mir nicht nehmen lassen, dich zu besuchen. Dein Vater hat mich in alles eingeweiht. Wir sind alte Freunde, darum verschwieg er mir nicht, daß er mit dir seine liebe Not hat. Aber sei gewiß, daß ich eine richtige Hexe aus dir machen werde.“ Ich hatte die richtige Antwort parat, überlegte es mir dann aber doch anders. Es war wohl besser, erst einmal abzuwarten und mich mit diesem mächtigen Dämon nicht sofort anzulegen. Auch wenn er mir in seinem Astralkörper nicht viel anhaben konnte, mußte ich versuchen, mich mit ihm einigermaßen gut zu stellen. Schließlich sollte ich einige Zeit mit ihm zusammenleben. „Ich bin gekommen, um von dir zu lernen, Makemake“, sagte ich deshalb. „Und ich hoffe, daß du mich auf den rechten Weg zurückbringen wirst. Ich möchte, daß aus mir eine richtige Hexe wird.“ „Du scheinst eigentlich recht einsichtig zu sein“, sagte die Spukerscheinung. „Dein Verhalten paßt so gar nicht zu dem, was Michael Zamis mir über dich erzählt hat. Aber ich werde schon noch herausfinden, woran es dir fehlt. Stimmt es, daß du es sogar gewagt 25
hast, Asmodi, dem Fürst der Finsternis, die Stirn zu bieten? Und daß du damit deiner Familie einige Schwierigkeiten eingehandelt hast?“ „Vater übertreibt in dieser Beziehung maßlos“, erwiderte ich. „Ich habe immer versucht, mein Bestes zu geben, und bin das Opfer von Mißverständnissen geworden. Es scheint mein Fluch zu sein, daß man meine ehrlichen Bemühungen immer falsch versteht.“ „Dann stimmt es wohl auch nicht, daß du gelegentlich mit normalen Sterblichen Umgang pflegst?“ „Das ist üble Nachrede“, erwiderte ich und war froh darüber, daß Makemake sich nur in seinem Astralkörper hier befand, denn andernfalls hätte er diese Lüge wohl leicht durchschaut. „Ich hoffe, du sprichst die Wahrheit“, sagte er. „Im Grunde genommen ist es mir egal, was du früher getrieben hast. Aber in meinem Hoheitsgebiet hast du dich anständig aufzuführen. Sady wird mir über jede deiner Entgleisungen sofort berichten. Mir wird nichts verborgen bleiben, und ich werde dich für alles, was du tust, zur Rechenschaft ziehen. Aber genug davon. Erzähle mir, wie die Sache mit Atma war. Stimmt es, daß dieser Dämon Asmodi arg zugesetzt hat und beinahe seinen Sturz erreichte?“ Ich erzählte ihm die ganze leidige Geschichte, die sich vor kurzem in London 26
zugetragen hatte. Es war dabei um einen eher unbedeutenden Dämon gegangen, der sich einen Teils des Wissens von Merlin angeeignet hatte, um es gegen Asmodi einzusetzen und sich selbst zum Fürsten der Finsternis zu erheben. Um seine Forderungen zu untermauern, hatte er Mitglieder verschiedener Dämonenfamilien gefangengenommen und die ganze Sippschaft der Schwarzen Familie zu erpressen versucht. Aber der Dämon Atma, der in Wirklichkeit Kilian Elkin hieß, hatte sich übernommen. Als er die Magie des sagenhaften walisischen Magiers Merlin anwandte, da hatte er Kräfte heraufbeschworen, die sich wie ein Bumerang gegen ihn selbst wandten. Und er hatte damit Merlin selbst auf den Plan gerufen, der Atma schließlich vernichtete. „Atma war Asmodi nicht gewachsen“, endete ich. „Aber Asmodi ging nicht als strahlender Sieger aus dieser Auseinandersetzung hervor. Der wahre Sieger ist Merlin. Er hätte auch Asmodi vernichten können, denn er besitzt viel größere Macht als der Fürst der Finsternis.“ „Solche Reden möchte ich nicht hören“, rief Makemake erregt. „Wage es nicht noch einmal, Asmodis Allmacht in meiner Gegenwart anzuzweifeln, denn dann müßte ich dich züchtigen. Hüte deine Zunge, kleine Hexe!“ Ich gab mich zerknirscht und beteuerte kleinlaut, daß Asmodi auch mein Fürst sei. 27
„Welche Rolle hast du bei diesem Kräftemessen gespielt?“ erkundigte sich Makemake. „Ich war nur eines der vielen Opfer dieses größenwahnsinnigen Atma“, sagte ich. In Wirklichkeit hatte ich eine bedeutendere Rolle gespielt. Aber da ich kein Interesse hatte, meine wahren Fähigkeiten in die große Kristallkugel zu hängen, sorgte ich dafür, daß dies ein Familiengeheimnis der Zamis’ blieb. Es war auch nicht anzunehmen, daß mein Vater ausgerechnet Makemake eingeweiht hatte. Also verschwieg ich meine eigenen Verdienste und bewahrte mir so das Image einer unfähigen, hilflosen Hexe, die des Schutzes ihrer Familie bedurfte. „Auf Trinidad brauchst du dich vor nichts zu fürchten“, erklärte Makemake. „Hier stehst du unter meinem Schutz. Wenn du vor etwas Angst haben sollst, dann höchstens vor mir. Aber auch nur dann, wenn du glaubst, widerspenstig und ungehorsam sein zu müssen. Sady wird mir alles berichten.“ „Ich werde mich bemühen“, versprach ich. „Wann wirst du damit beginnen, mich in die Geheimnisse deiner Magie einzuweihen, Makemake?“ „Bald, schon sehr bald!“ rief die Astralerscheinung mit erhobener Stimme. „Zuerst muß ich mich nur noch dieses lästigen Widersachers entledigen, der als Roter Hahn auftritt und mir die Macht auf Trinidad streitig macht. Aber das ist nur eine Kleinigkeit, die 28
sich fast von selbst erledigen wird. Dann widme ich mich dir.“ Die Erscheinung löste sich auf. Danach herrschte wieder Dunkelheit im Zimmer. Ich schaltete die Nachttischlampe ein und dachte über diese erste Begegnung mit diesem gefürchteten Dämon nach. Da ich ihm nicht persönlich gegenübergestanden war, konnte ich mir keine abschließende Meinung über ihn bilden und war weiterhin auf das angewiesen, was ich vom Hörensagen über Makemake wußte. Aber das genügte immerhin, um mich zur Vorsicht zu gemahnen. Obwohl es in letzter Zeit um diesen großen Dämon relativ still geworden war, durfte man ihn nicht unterschätzen. Die Tatsache, daß er seit Jahrhunderten nach Belieben auf Trinidad schaltete und waltete, sprach für sich. Und der Dämon, der ihm seine Rechte streitig machen wollte, war bestimmt kein Problem. Ich hoffte nur, daß Makemake sich eine Weile mit ihm herumschlagen mußte und nicht so schnell Zeit fand, sich um mich zu kümmern. Seufzend schlug ich die Bettdecke zurück und ging ins Bad, um mich zu duschen. Danach suchte ich die Garderobe auf. Die Schränke waren mit Frauenkleidern aus allen Epochen der letzten hundert Jahre voll. Aber es fand sich nichts darunter, was meinem Geschmack entsprochen hätte. Ich wollte es schon aufgeben, als ich im hintersten Winkel 29
eines Schrankes einen Reisekoffer mit Wäsche fand, die dem Geschmack unserer Zeit eher entsprach. Darin fand sich ein reichliches Sortiment von Strandensembles über Unterwäsche bis zum Abendkleid. Und es war sogar annähernd meine Größe. Dennoch scheute ich mich zuerst, etwas davon anzuziehen, weil ich mir vorstellen konnte, daß die Kleider einem von Makemakes vielen Opfern gehörten. Aber dann sagte ich mir, daß solche Sentimentalitäten selbst für eine ehrbare Hexe wie mich zu übertrieben waren und wählte einen knappen Bikini und ein seidenes Strandkleid aus. Danach machte ich mich auf den Weg, das Anwesen des Dämonendieners Sir Winslow Bendix zu erkunden.
Das Haus machte den Eindruck auf mich, als sei hier die Zeit um die Jahrhundertwende stehengeblieben. Es gab nichts in diesem Haus, was aus späterer Zeit stammte. Und das elektrische Licht, das der einzige Anhaltspunkt zur Gegenwart war, wirkte in diesen antiquierten Hallen wie ein Anachronismus. Es gab Dämonen, die an der Tradition hingen und die moderne Technik der Menschen ablehnten. Ich gehörte aber nicht dazu, ich war eine modern denkende Hexe. 30
Kerzenschein und offenes Feuer brauchte ich nur, wenn ich einem Sterblichen, der sich in mich vergafft hatte, tief in die Augen sehen wollte. Aber das konnte ich unter Makemakes strenger Aufsicht vergessen; auf Trinidad würde ich bestimmt nicht in diese Situation kommen. Das Erdgeschoß war wie ausgestorben. Ich begegnete weder dem Hausherrn selbst noch jemandem aus der Dienerschaft, und Sady suchte ich vergeblich. Auf mein Rufen erhielt ich nicht einmal eine Antwort. Also verließ ich das Haus und begab mich ins Freie. Die Nacht war lau. Aus Richtung der Hauptstadt war das Knallen von Feuerwerkskörpern zu hören, und ihr Widerschein zuckte wie Wetterleuchten über den nächtlichen Himmel. Um wievieles wäre ich dort lieber gewesen als in der moderigen Atmosphäre dieses morbiden Herrschaftssitzes! Ich kam mir vor wie in einer großen Gruft, und selbst der verwilderte Park mit seinen häßlichen Götzenstandbildern gehörte dazu. Selbst unter freiem Himmel haftete der Luft der Geruch nach Moder und Verwesung an. So stank es zumeist an Orten, die Treffpunkte für Ghoule waren, jene chimärenhaften Aasfresser, denen selbst die Dämonen der Schwarzen Familie aus dem Weg gingen. Aber es war doch nicht anzunehmen, daß Makemake ein Ghoul war, denn sonst hätte er 31
es unter den Dämonen nicht zu solchem Ansehen gebracht. Und bestimmt wäre er dann kein Freund unserer Familie. Ich betrat den Urwald mit seinen jahrhundertealten Bäumen, die wahrscheinlich so alt waren wie Makemakes Herrschaft auf Trinidad. Sofort stürzte sich ein Schwarm von Irrlichtern auf mich und umschwirrte meinen Kopf, um mir den Weg zu leuchten. Ich verscheuchte sie mit einer geknurrten Beschwörungsformel. Die Leuchttierchen und die Irrwische, so nützliche Geister sie manchmal waren, konnten auch überaus lästig werden, wenn man für sich allein sein wollte. Ich war meiner Mutter Thekla dankbar, daß sie mir die Formel für diese Quälgeister schon in jungen Jahren beigebracht hatte. Als ich tiefer in den Urwald eingedrungen war, vorbei an übermannshohen Statuen, die unbekannte Dämonen und Mischwesen darstellten, hörte ich auf einmal ein mehrstimmiges Gemurmel. Es hörte sich an wie die Litanei einer Teufelsbeschwörung. Ich verlangsamte den Schritt und näherte mich dem Ursprung der Stimmen vorsichtig. Plötzlich sah ich durch die Büsche flackernde Lichter, und als ich das Blattwerk teilte, sah ich mich einem Dutzend Männern und Frauen gegenüber. Sie standen im Halbkreis vor einer Statue mit einem gewaltigen Vogelkopf, der gut drei Meter hoch war. Der dazugehörige Körper, 32
ebenso groß und menschenähnlich, wirkte dagegen verkümmert. Mir schoß es sofort durch den Kopf, daß dies nur die Götzenstatue für den „Vogeldämon“ Makemake sein konnte. Die Männer und Frauen waren bis auf ein etwa zwanzigjähriges Mädchen dunkelhäutig. Jeder hielt eine schwarze Kerze in der einen und einen Napf mit Opfergaben in der anderen Hand. Auch das hellhäutige Mädchen, das aber zumindest ein Mischling zu sein schien. Jetzt konnte ich heraushören, daß bei dem in seltsamem Kauderwelsch vorgetragenen Gesang immer wieder Makemakes Name genannt wurde. Die Männer und Frauen sangen und entlehrten vor dem Götzenbild mit dem Vogelkopf abschließend ihre Opferschalen. Ihre Opfer waren bescheiden: Getreidekörner, Zahnstummel, abgeschnittene Fingernägel, Haarbüschel und seltsam geformte Steine und Muscheln. Nachdem sie alle, bis auf das hellhäutige Mädchen, ihre Gaben hinterlassen hatten, zogen sie sich nacheinander zurück. Ich wollte mich ebenfalls entfernen. Als ich jedoch sah, daß das Mädchen sich nicht vom Fleck rührte, blieb ich ebenfalls. Nachdem die anderen gegangen waren, stellte das Mädchen seine schwarze Kerze auf den Boden, kniete nieder und begann nacheinander einige seltsame Gegenstände aus der Opferschale zu holen. Zuerst einen Zigarettenstummel. Dazu sagte es: „Das hier hat er mit den Lippen berührt.“ 33
Dann ein Ding, das ich erst nach einer Weile als Membrane eines Telefonhörers identifizieren konnte. „Das war an seinem Ohr“, sagte das Mädchen. Es holte ein Vergrößerungsglas hervor und erklärte dazu: „Dies war vor seinem Auge.“ Danach kramte sie einen speckigen Fingerling aus Leder und ein Paßfoto hervor. „Damit hat er eine Wunde geschützt, und das ist sein Bild.“ Und zuletzt entnahm sie der Schale ein geringeltes Haar und zwirbelte es zwischen den Fingerspitzen, bevor sie es auf die anderen Pretiosen fallen ließ. „Und dies ist ein Haar, das ihm direkt über dem Herzen wuchs, großer Makemake“, sagte das Mädchen. „Dies alles sind Dinge von ihm – vom Mann, den ich liebe. Erhöre mich, Makemake, und erwirke, daß er meine Liebe erwidert. Ich, Mimine, werde für immer deine ergebene Sklavin sein und das Kind, das ich von dem geliebten Mann erwarte, in deinem Namen taufen lassen, wenn dein Liebeszauber wirksam wird und er zu mir zurückfindet.“ Das Mädchen verharrte noch einige Minuten stumm, dann ergriff es die Kerze und drückte die Flamme auf den Opfergaben aus. „Erhöre deine Sklavin Mimine, Makemake“, rief sie noch einmal verhalten, aber flehentlich, bevor sie rückwärtsgehend zwischen den Sträuchern verschwand. Ich wartete, bis ihre Schritte verhallt waren, 34
dann trat ich auf die Lichtung und sammelte ihre Opfergaben ein. Ich steckte sie vorerst einmal unbesehen in die Tasche und wollte sie mir erst später vornehmen. Das arme Ding setzte zuviel Vertrauen in Makemake. In ihrer Verzweiflung, von irgendeinem Schürzenjäger geschwängert und sitzengelassen, wandte sie sich ausgerechnet an einen Dämon, der wohl kaum daran interessiert war, ihr durch einen Liebeszauber zu ihrem Glück zu verhelfen. Aber vielleicht konnte ich etwas für sie tun. Ich hatte Mitleid mit dem Mädchen. Ich verließ Makemakes Opferstätte und kehrte in einem Bogen in Richtung des Herrschaftshauses zurück. Dabei kam ich bei einem monumentalen Mausoleum vorbei. Es war ein Kuppelbau, der an der Basis einen Durchmesser von zehn Metern hatte. Eine ringförmige Freitreppe von sieben Stufen führte zu dreizehn Säulen hinauf, die das Kuppeldach trugen. Dahinter gab es einen schmalen Rundgang. Ich ging um das Mausoleum herum, ohne einen Eingang entdecken zu können. Als ich näher kam, prallte ich gegen eine unsichtbare Barriere. Es gab kein Durchkommen für mich, was ich auch versuchte, das magische Feld stieß mich ab. So blieb mir nichts anderes übrig, als das Mausoleum aus der Ferne zu betrachten. Welchen Schatz barg es, daß Makemake alle 35
ungebetenen Gäste durch einen aufwendigen Schutzschirm fernhielt? Ich betrachtete die Säulen, die unzählige Reliefs aufwiesen. Sie zeigten alle Szenen aus der Geschichte der Schwarzen Familie. Ich entdeckte viele bekannte Gestalten, unter anderem auch Asmodi und meinen Vater, Michael Zamis, nebst einer Ahnengalerie unserer Sippe. Da es mir nicht möglich war, das Mausoleum näher zu untersuchen, ging ich weiter. Unweit der eigenartigen Ruhestätte begegnete ich einem Mann. Es war ein Mulatte mit einem wallenden Backenbart. Auf der Stirn hatte er den kleinen roten Punkt, der in Wirklichkeit einen Kolibri darstellte: das Stigma Makemakes. Der Mulatte machte einen abwesenden Eindruck. Er ging an mir vorbei, ohne mich wahrzunehmen. Er war kaum verschwunden, als eine dicke, alte Negerin aus der gleichen Richtung kam. Auch sie hatte den Stirnpunkt mit dem Kolibri und befand sich in dem gleichen tranceähnlichen Zustand. Ich stellte sie auf die Probe, indem ich ihr in den Weg trat. Aber sie wich mir aus, ohne mich bewußt anzusehen. Die Sache begann mich zu interessieren, und ich ging in die Richtung, aus der die beiden gekommen waren. Nach wenigen Minuten kam ich zu einem langgestreckten Nebengebäude. Hinter einigen Fenstern brannte Licht. Ich sah hinter 36
einem der erleuchteten Fenster einige Gestalten und erkannte unter ihnen schon von weitem Sady, Makemakes indischen Diener. Er saß hinter einem Tisch und machte den Eindruck eines Beamten. Er wirkte sehr geschäftig. Vor ihm stand ein alter Mann, einen Schlapphut nervös zwischen den gichtigen Fingern drehend. Sady entließ den Mann durch eine Tür im Hintergrund. Daraufhin kam ein halbwüchsiges Mädchen zur Tür herein, nahm vor Sady Platz und sprach auf ihn ein, der ihr geduldig zuhörte. Durch ein anderes Fenster blickte ich in einen Nebenraum, wo ein halbes Dutzend Männer und Frauen auf Holzbänken warteten. Sie machten den Eindruck von Bittstellern. Geräusche, die von links kamen, lenkten mich ab. Dort tauchte ein großer, dunkelhäutiger Mann auf. Er kam aus Richtung des langgestreckten Gebäudes und marschierte geradewegs auf mich zu. Ich rührte mich nicht von der Stelle, jedoch bereit, ihm sofort auszuweichen, bevor er mich niederrennen konnte. Aber zwei Schritte vor mir wich er aus, machte einen Bogen um mich und setzte dann seinen Weg fort, als wäre nichts passiert. Ich mußte gut eine Viertelstunde warten, bevor der Mann mit dem Schlapphut auftauchte, den Sady vor fast einer halben Stunde entlassen und in einen Nebenraum geschickt hatte. Der Mann mit dem Schlapphut unterschied sich in seinem 37
Gebaren durch nichts von den anderen, denen ich begegnet war. Auch er bewegte sich wie ein Schlafwandler, schien sich in tiefer Trance zu befinden. Zweifellos wäre auch er an mir vorbeigegangen, ohne mich zu beachten. Doch diesmal wollte ich einen Test machen. Ich entledigte mich des Amuletts mit dem stilisierten Kolibri und warf es fort. Zehn Schritte vor mir ging mit dem Mann plötzlich eine Veränderung vor sich. In seinem Gesicht begann es zu zucken, er blähte die Nasenflügel auf, als wittere er. Und auf einmal stieß er einen gurgelnden Laut aus, warf die Arme in die Luft und stürzte sich auf mich. Ich ließ ihn erst gar nicht herankommen, sondern versetzte mich in einen schnelleren Zeitablauf, brachte mich wieder in den Besitz von Makemakes Amulett und paßte mich der normalen Zeit an. Der Mann mit dem Schlapphut stand an der Stelle, wo ich mich zuvor befunden hatte. Er drehte sich lauernd im Kreis, als er jedoch in meine Richtung blickte, entspannte er sich wieder. Er wurde apathisch, sein Gesicht war nun wieder bar jeglichen Ausdrucks. Er drehte sich um und ging von dannen. Damit hatte er mir deutlich demonstriert, daß er sich in Makemakes Bann befand. Mit den anderen verhielt es sich ebenso. Wahrscheinlich hatten sie den posthypnotischen Befehl bekommen, sich gegen ungebetene Eindringlinge zu stellen. Das 38
Kolibri-Amulett schützte mich vor ihren Aggressionen. Noch bevor ich mich weiter um diese Angelegenheit kümmern konnte, ertönte eine schrille Stimme, die klang wie die eines Eunuchen. „Was tun Sie hier, mein Fräulein? Wenn Sie Hilfe suchen, dann müßten Sie den Weg kennen. Und wenn nicht…“ Die Stimme brach ab. Hinter einem Strauch tauchte eine große schlanke, gebeugt gehende Gestalt auf. Es war ein betagter Mann mit schlohweißer Mähne und einem Spitzbart. Seine wässerigen Augen blinzelten mich durch einen rahmenlosen Kneifer an. Auf seinem Kopf und seinen schmalen Schultern saßen Kolibris, und einer der ihn umschwirrenden Winzlinge landete gerade auf seinem Nasenhöcker. Er verscheuchte ihn mit einem Pfeiflaut, und dabei bot er einen so komischen Anblick, daß ich am liebsten laut aufgelacht hätte. Es wäre ein befreiendes Lachen gewesen, denn ich war froh, anstelle der furchteinflößenden Gestalt Makemakes diesen seltsamen Kauz zu erblicken. „Sie müssen Sir Bendix sein“, sagte ich aufatmend. „Mein Name ist Coco Zamis…“ „Ja, ja, ich weiß Bescheid“, erklärte er und winkte ungeduldig ab, so daß er die Kolibris durch diese abrupte Geste aufscheuchte und sie ihn allesamt kreischend flohen. „Sagen Sie nichts, ich werde von selbst daraufkommen. 39
Wissen Sie, ich bin schon ein wenig verkalkt und mein Gedächtnis läßt nach. Aber so zerstreut, daß ich nicht wüßte, welche Gäste ich in meinem Haus habe, bin ich noch nicht. Coco Zamis – ja, ja, ich erinnere mich wieder. Sady hat mir gesagt, daß Sie heute morgen angekommen sind. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen nicht sofort meine Aufwartung gemacht habe, aber die Vögel haben mich völlig beansprucht. Langsam wachsen sie mir über den Kopf… Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl, und es mangelt Ihnen an nichts, Fräulein Zamis… Was ist das für ein Name? Nein, sagen Sie nichts! Europäisch, jawohl. Zamis ist nicht asiatischen Ursprungs, nein, nein. Vielleicht osteuropäisch… Balkan? Transsylvanien?“ „Zamis ist russischen Ursprungs“, half ich ihm. „Meine Vorfahren sind vom zaristischen Rußland nach Österreich ausgewandert, damals noch österreichischungarische Monarchie, und hat sich in Wien niedergelassen.“ „Ich wäre auch von selbst drauf gekommen“, sagte Winslow Bendix leicht gekränkt. „Es freut mich, daß Sie mein Gast sind. Ich kenne Ihre Familie zwar nicht persönlich, aber ein guter Freund von mir hat Sie mir wärmstens empfohlen.“ „Derselbe Freund, für den Sie die Kolibris hüten?“ fragte ich. „Wie meinen?“ fragte Bendix augenzwinkernd zurück. „Das sind meine 40
Vögel! Sie sind sehr zutraulich. Haben Sie schon mal gesehen, daß Kolibris jemandem aus der Hand fressen? Das erleben Sie nicht einmal im Variete. Meine Kolibris tun es – sie fressen mir aus der Hand. Das ist kein Dressurakt, ich dressiere die Vögel nicht, sondern ich spreche mit ihnen. Ich bin Ornithologe.“ „Verstehe“, sagte ich und dachte, daß der schrullige Alte offenbar nicht einmal wußte, daß er nur ein Werkzeug des schrecklichen Makemake war. „Gar nichts verstehen Sie!“ keifte der Alte mich angriffslustig an. Im nächsten Augenblick entschuldigte er sich und sagte versöhnlicher: „Es tut mir leid, wenn ich Sie angeschnauzt habe. Aber ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn irgendwelche Leute, die keine Ahnung von Vogelkunde haben, Verständnis für meine Arbeit heucheln. Das kann ich nicht leiden! Aber mit Ihnen scheint das anders zu sein, Coco. Sie tragen das Amulett. Ihnen vertraue ich. Ich würde mich Ihnen gern mehr widmen, aber leider – meine Arbeit, Sie verstehen? Die Vögel rufen nach mir. Hören Sie es? Haben Sie noch irgendwelche Fragen? Dann wenden Sie sich am besten an Sady…“ „Würde ich gern, aber auch er scheint sehr beschäftigt zu sein“, sagte ich bedauernd. „So?“ wunderte sich der Alte und blickte zum Gebäude, wo eben die Lichter ausgingen. „Aber nein, mein Diener hat das Büro gerade 41
geschlossen. Recht so! Schließlich kann er nicht alle Bittsteller erhören.“ „Weswegen kommen die Leute?“ erkundigte ich mich. „Sie brauchen Geld für den Karneval“, sagte Winslow Bendix. „Sie schuften das ganze Jahr über, um ihre Kostüme für den Karneval zu finanzieren. Aber bei den meisten reicht es nicht. Dann kommen sie zu mir um Kredit. Sady prüft ihre Kreditwürdigkeit und hilft, so gut es geht. Die meisten können das Geld nie zurückzahlen, dann drücke ich eben beide Augen zu. Sie arbeiten die Schuld bei mir ab, tun mir diesen oder jenen Gefallen, verrichten Botengänge für mich, fangen wildlebende Vögel für mich ein und ähnliches. Sie verstehen?“ Ich nickte. Ich verstand sehr gut, nur dieser weltfremde Alte schien nicht zu wissen, was auf seinem eigenen Grund und Boden vor sich ging. Er schien wirklich und wahrhaftig keine Ahnung davon zu haben, daß sich die Bittsteller durch die von ihm gewährte finanzielle Unterstützung eigentlich dem Dämon Makemake auslieferten. Ich hatte keine Ahnung, was er genau mit ihnen anstellte, damit sie seine willenlosen Sklaven wurden. Und die kleinen Gefälligkeiten, die sie scheinbar für Sir Bendix machten, waren wahrscheinlich verbrecherische Handlangerdienste für Makemake. Ich kannte die Spielregeln, nach denen sich die Dämonen der Schwarzen Familie die Menschen gefügig 42
machten. Aber ich erwähnte dem Alten gegenüber davon nichts. Er war mir auf Anhieb sympathisch, und ich wollte ihm seine Illusionen nicht rauben. Vielleicht hätte es ihn umgebracht, wenn er erfahren hätte, daß „seine“ Kolibris in Wirklichkeit dämonische Kreaturen des Makemake waren. „Sehen wir uns morgen beim Lunch?“ fragte Bendix. „Oder, besser noch, beim Fünf-UhrTee. Abgemacht?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, eilte er davon. Ich wandte mich dem langgestreckten Gebäude zu. Aber hinter allen Fenstern war es nun finster. Während ich noch unschlüssig dastand, spürte ich plötzlich, wie sich meiner ein fremder Zwang bemächtigte. Er war nicht so stark, daß ich mich ihm nicht hätte widersetzen können. Aber ich gab ihm nach, weil ich erfahren wollte, wer mich auf diese Weise zu beeinflussen versuchte. Ich folgte den schwachen Impulsen, die in regelmäßigen Intervallen auf mich eindrangen, und mußte auf diese Weise den urwaldähnlichen Park durchqueren. Und dort, am Rand der Savanne von Port of Spain traf ich auf den Urheber der magischen Impulse. Ich erkannte in ihm sofort den Jungen vom Flugplatz, der mir meine Reisetasche abgenommen hatte. 3. 43
Makemake hatte zuerst seinen Sitz auf Tobago, und er war schon hier, als Kolumbus am 31. Juli 1498 diese Insel entdeckte. Im weiteren Verlauf spielte der Dämon die Briten, Spanier, Franzosen und Holländer geschickt gegeneinander aus und ließ sie sich über zwei Jahrhunderte hinweg bekriegen, ohne daß sie es merken, daß magische Kräfte sie dazu trieben. Makemake ist ein Meister der Intrige, was er auch durch Ereignisse in der jüngsten Geschichte der beiden Inseln bewies. Wenn es nicht anders ging, dann griff er auch hart durch und bestrafte seine Feinde auf drakonische Weise. Die unzähligen Todesarten, die er ihnen zudachte, zeigen auch diesbezüglich seinen Einfallsreichtum.
Ich beobachtete den Jungen aus einiger Entfernung. Er hatte vor sich eine Art. Vogelscheuche errichtet und schlug mit einem Bambusrohr darauf. Dabei murmelte er irgendwelche Beschwörungen vor sich hin. Und jedesmal, wenn er mit dem Bambusrohr die Vogelscheuche traf, empfing ich einen schwachen Befehlsimpuls. Warum das so war, fand ich schnell heraus. Der Junge hatte der Strohpuppe einige meiner Kleidungsstücke angezogen, die er offenbar meiner Reisetasche entnommen hatte. Ich erkannte einen geblümten Bikini, einen Wickelrock und ein Stirnband, das angeblich 44
früher einmal einem nordamerikanischen Medizinmann gehört hatte. Als der Junge wiederum mit dem Bambusrohr ausholte, griff ich ein. Ich sprang mit einem Aufschrei aus meinem Versteck. Als er erschrocken innehielt und in meine Richtung sah, bannte ich ihn mit meinem Blick. Er erstarrte mitten in der Bewegung und konnte sich nicht mehr rühren. Ich ging zu ihm, nahm ihm das Bambusrohr aus der klammen Hand und zerstörte dann die Strohpuppe. Während ich das tat, war der Junge bewegungsunfähig. Aber irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Sein Gesicht begann dunkel anzulaufen, das heißt, sein Teint wurde bläulich, was trotz seiner dunklen Hautfarbe zu erkennen war. Er bekam einen ganz dicken Hals, und die Zunge quoll ihm aus dem Mund, als habe er mit Atemnot zu kämpfen. Ich nahm schnell den Bann von ihm, und da brach er mit einem Röcheln zusammen und verlor das Bewußtsein. Mir war sofort klar, daß er sich im Bann der Magie eines anderen befand, so daß es durch meine Beeinflussung zu einem Widerstreit der Kräfte kam, was sich gegen die Physis des Jungen entladen hatte. Wenn ich den Bann nicht von ihm genommen hätte, wäre das unweigerlich sein Tod gewesen. Ich machte einige unverfängliche Wiederbelebungsversuche und hauchte ihm etwas von meinem Atem ein, bis er die Augen 45
aufschlug. Als der Junge mich sah, wurden seine Augen schreckensweit, und er wollte fliehen. Aber ich hielt ihn am Boden fest. „Ich sehe, du erkennst mich wieder, mein Junge“, sagte ich. „Wie heißt du? Und wer schickt dich?“ „Joscoe… Frank“, stammelte er mit bebenden Lippen. „Frank Joscoe heißt du, oder hat dich ein Auftraggeber dieses Namens geschickt?“ wollte ich wissen. Der Junge beleckte sich die spröden Lippen, und er machte dabei so große Augen, daß man befürchten mußte, sie könnten ihm aus den Höhlen fallen. „Joscoe heiße ich“, sagte er. „Frank hat mich geschickt.“ „Was wolltest du denn mit diesem Hokuspokus erreichen?“ fragte ich. Joscoe wand sich unter meinem Griff, und ich ließ ihn los. „Du brauchst dich vor mir nicht zu fürchten“, redete ich beruhigend auf ihn ein. „Aber versuche nicht, vor mir davonzulaufen. Ich erwische dich doch wieder, und dann gnade dir… Schon gut, beruhige dich wieder.“ Der Junge richtete sich auf und rieb sich die Stelle, wo ich ihn festgehalten hatte. „Ich habe nichts getan“, sagte er dann fast trotzig. „Ich wollte nichts Böses. Frank hat mich angestiftet.“ „Wer ist Frank?“ fragte ich. 46
„Frank Jenkins. Er sagte, geh zum Flugplatz und klaue der Miß den Koffer. Bring ihn mir, sagte er. Und als ich das getan hatte, verlangte er, daß ich hier eine Strohpuppe aufstellen soll und diese ankleiden und schlagen müsse. Verrückt. Zu dumm für mich, aber er gab mir ‘nen Dollar dafür. Da mach ich auch solchen Unsinn.“ Frank Jenkins! Ich wiederholte in Gedanken diesen Namen immer wieder, ohne irgend etwas damit assoziieren zu können. Dieser Mann, wer immer es auch war, mußte gewisse Kenntnisse über magische Praktiken haben. Aber ich konnte mir nicht vorstellen, daß er zur Schwarzen Familie gehörte, denn sonst hätte er nicht diesen unerfahrenen Jungen für seine Zwecke eingespannt. Dennoch begann mich dieser Mann zu interessieren. Immerhin mußte er von meinem Eintreffen gewußt haben, ebenso wie ihm meine Herkunft nicht ganz unbekannt gewesen sein konnte. Andernfalls hätte er sich nicht dieserart um mich bemüht. „Und warum solltest du das alles für Jenkins tun?“ fragte ich den Jungen. „Weiß ich nicht“, sagte Joscoe achselzuckend. „Frank nannte keinen Grund. Er zahlte dafür, das war mir genug.“ „Hast du für Jenkins schon öfter ähnliche Dienstleistungen vollbracht?“ „Nie solche verrückten. Er wohnt im Haus meines Bruders Carmichael, und ich putze ihm die Schuhe, hole ihm Whisky und Zigaretten 47
und die Zeitung. Ma räumt das Haus für ihn auf.“ „Wer ist Jenkins und was macht er?“ „Manager!“ sagte Joscoe überzeugt und berichtigte sich gleich darauf im gleichen Brustton der Überzeugung. „Oder Forscher! Oder Reporter! Er kann für einen Ölkonzern arbeiten oder für eine große amerikanische Illustrierte. Er trifft sich ständig mit den bedeutendsten Leuten aus der Hauptstadt. Er muß selbst ein großes Tier sein.“ Das hörte sich alles recht interessant an, aber ich wurde nicht klug daraus. Deshalb beschloß ich, mir diesen Frank Jenkins persönlich vorzunehmen. Es wäre leicht gewesen, den Jungen dazu zu bringen, mich zu ihm zu führen, aber da er magisch beeinflußt war, wollte ich mich besser nicht darauf einlassen. Deshalb beschloß ich, ihm einfach zu seinem Auftraggeber zu folgen. Ich berührte Joscoe kurz am Oberarm und kerbte ihm mit dem Fingernagel ein unscheinbares magisches Zeichen ein. Er spürte es nicht einmal. „Du kannst gehen, Joscoe“, sagte ich gleichmütig. „Los, lauf zu Jenkins zurück und berichte ihm.“ Der Junge sah mich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Mißtrauen an. Plötzlich sprang er unvermittelt auf die Beine und rannte davon. Ich hatte keine Eile, ihm zu folgen. In den nächsten zwei Stunden würde ich ihn durch 48
das magische Zeichen jederzeit aufstöbern können.
An der Schnellstraße, die die Verbindung zwischen der Hauptstraße und dem Flugplatz herstellte, stoppte ich ein Auto und ließ mich nach Port of Spain mitnehmen. Der Fahrer war ein schmuckbehangener Chinese, der an jedem Finger einen protzigen Ring hatte. Da ich mich auf Joscoe konzentrierte, hatte ich nicht viel für Konversation übrig und hörte dem Monolog des gesprächigen Autofahrers nur mit halbem Ohr zu. Er bezeichnete sich als Mitglied einer finanziell starken Interessengruppe, die Trinidad zu wirtschaftlichem Aufstieg verhelfen wolle. Er deutete aus dem Seitenfenster, wo entlang der Straße im Streulicht der Autoscheinwerfer windschiefe Hütten zu sehen waren und sich Müllhalde an Müllhalde reihte und wo Makemakes Aasgeier in den Ästen abgestorbener Bäume hockten, und sagte: „Das alles ist potentielles Industrieland. In wenigen Jahren werden hier alle großen Konzerne ihre Niederlassungen errichtet haben. Dann kommt der Reichtum für Trinidad, und die Insel ist nicht mehr allein auf die Erträge von Öl und Zuckerrohr angewiesen.“ Mit solchen Reden langweilte er mich bis hinein nach Port of Spain, und ich hatte gute Lust, ihn einfach durch einen magischen 49
Spruch zum Schweigen zu bringen. Aber dann sagte er etwas, was mich hellhörig machte: „Zuerst müssen wir aber den Aberglauben von der Insel vertreiben. Man sollte nicht glauben, was für Blüten der Aberglaube im verborgenen treibt. Wir haben jedoch den richtigen Mann gefunden, der mit diesem Spuk aufräumt.“ Ich hätte gern noch mehr darüber erfahren, doch dann spürte ich unvermittelt Joscoes Nähe und befahl dem Fahrer: „Halten Sie hier an. Sofort!“ Er blickte mich verwundert an, und als er meinem zwingenden Blick begegnete, trat er sofort auf die Bremse. Ich sprang aus dem ausrollenden Wagen und schlug die Tür hinter mir zu. Im Weglaufen spürte ich förmlich die Blicke des Chinesen in meinem Rücken. Aber darum kümmerte ich mich nicht. Ich befand mich auf einer ziemlich belebten Straße. Autos bahnten sich hupend einen Weg durch die Reihen der Kostümierten, wichen den Alkoholleichen aus, die überall herumlagen. Eine Steelband weckte unselige Erinnerungen in mir, und ich machte, daß ich in einer Seitenstraße untertauchte. Joscoes Ausstrahlung wurde immer stärker. Ich kam an einer Gruppe Betrunkener vorbei, ohne mich um die Pfiffe und die Rufe zu kümmern, die sie mir nachschickten. Vor mir verstellte eine Gruppe Maskierter die Straße. Sie trugen jeder ein rotes Federkleid und hatten Hahnenmasken aufgesetzt. Das erinnerte mich unwillkürlich an den Dämon, 50
der sich Roter Hahn nannte, und ich wich in eine dunkle, schmale Gasse aus. Ich wollte gar nicht erforschen, ob die Maskierten etwas mit diesem Dämon zu tun hatten, sondern wollte einer Konfrontation unbedingt aus dem Weg gehen. Einmal stolperte ich in der schmalen Gasse über einen Betrunkenen, dann wieder über ein Liebespaar. Der Mann schickte mir eine Reihe von unverständlichen Flüchen nach. Aber auch das ließ mich kalt. Endlich stand ich vor dem Haus, aus dem Joscoes Ausstrahlung kam. Es war ein recht schmuckes Holzhaus, grün gestrichen, und stand auf Betonpfeilern. Eine breite Treppe führte zu einer überdachten Veranda hinauf, die durch eine Kette buntbemalter Glühlampen beleuchtet war. Durch die Fenster links und rechts des Einganges fiel gedämpftes Licht. Es mußte inzwischen längst nach Mitternacht sein, aber die Stadt war noch nicht zur Ruhe gekommen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß es zu irgendeiner anderen Tages- oder Nachtzeit lauter als jetzt zuging. Auf der anderen Straßenseite wurde unter Grölen ein Bengalisches Feuer entzündet – ich hastete schnell die Treppe hinauf, bevor ich zum Mitfeiern eingeladen werden konnte. Auf der Veranda war niemand. Gerade als ich mich der Tür zuwandte, ging diese auf. Joscoe erschien darin. Als er mich sah, stieß er einen überraschten Laut aus, schlüpfte 51
gewandt an mir vorbei und verschwand über die Treppe. In der Tür tauchte ein Mann auf. „Nanu!“ war alles, was er hervorbrachte. Er sah gut aus, verdammt gut. Er war groß und schlank, hatte ein kantiges Gesicht mit gerader Nase und großen dunklen Augen, die ständig irgendwie belustigt blickten. Das taten sie auch jetzt, während er mich mit unverhohlener Neugierde betrachtete. Wenn er von meinem Anblick überrascht wurde, dann verbarg er es geschickt. Er hob die Arme in einer Geste, die Hilflosigkeit andeuten sollte, und sagte: „Das hätte ich nicht erwartet.“ „Sie sind Frank Jenkins, nicht wahr“, stellte ich fest. „Sie sehen mir nicht wie ein Mann aus, der Kontaktschwierigkeiten hat. Warum haben Sie dann den Jungen vorgeschoben, um meine Bekanntschaft zu machen? Und dazu noch auf eine so miese Art!“ Damit verblüffte ich ihn. Er schluckte und machte dabei ein ziemlich belämmertes Gesicht. Aber er sah immer noch gut aus. Er war genau der Typ, auf den ich ansprach. Nicht, daß ich ausgerechnet auf hübsche Männer flog, eher das Gegenteil war der Fall. Aber er hatte etwas Jungenhaftes und irgendwie Kindlich-Unschuldiges an sich, das mich faszinierte. „Ich hätte nicht gedacht, daß ein erwachsener Mann wie Sie so abergläubisch und kindisch ist, um auf primitive 52
Beschwörungsformeln zu setzen“, fuhr ich fort. „Glauben Sie nur ja nicht, Joscoes infantiler Hokupokus hätte mich hierhergeführt.“ „Ich bin, was Zauberei und Aberglauben betrifft, leider vorbelastet“, sagte er mit entschuldigendem Lächeln. „Aber bitte, wollen Sie nicht hereinkommen, Fräulein Zamis? Sie heißen doch Coco Zamis – wenn das Ihr richtiger Name ist. Oder ist das nur Ihr Hexenpseudonym?“ Jetzt hatte er mich verblüfft. Sofort versuchte ich die Dämonenprobe an ihm, aber ich konnte keinerlei magische Ausstrahlung an ihm feststellen. Er war ein normaler Mann, ein Durchschnittsmensch reinsten Wassers – nur eben verdammt gutaussehend! „Sie können mich ruhigen Gewissens Coco nennen – Frank“, sagte ich und trat an ihm vorbei ins Haus. Er schloß hinter mir die Tür, deutete auf eine nicht gerade luxuriöse, aber bequeme Sitzgruppe und nahm mir gegenüber Platz, nachdem ich mich gesetzt hatte. „Einen Drink?“ fragte er, erhob sich, ohne eine Antwort abzuwarten, ging zur Bar und mixte zwei Cocktails. Ich registrierte die Anzeichen seiner Nervosität und ließ ihm Zeit, sich zu sammeln. Als er mit den Drinks zurückkam und mir das eine Glas reichte, zitterte seine Hand so stark, daß das Eis im Glas verräterisch klirrte. Er wurde tatsächlich rot, als er mein maliziöses Lächeln bemerkte, das ich daraufhin nur 53
verstärkte. Das machte ihn noch verlegener. Ich nahm mir vor, das alte Spiel der Circe weiterzuführen, ohne jedoch den ernsten Hintergrund zu vergessen. Immerhin schien dieser Mann irgendwie in die dämonische Auseinandersetzung verstrickt, ohne jedoch selbst schwarzmagisch belastet zu sein. „Welchem Umstand verdankte ich Ihr Interesse, Frank?“ fragte ich. „Leugnen Sie nicht erst! Joscoe hat mir gestanden, daß Sie ihn dazu verleitet haben, mich zu bestehlen und mit meinen Sachen einen Liebeszauber zu versuchen.“ „Sie ziehen völlig falsche Schlüsse!“ rief er lachend und hob abwehrend die Hände. „Von einem Liebeszauber kann keine Rede sein. Ich wollte nur eben Ihre Hexenfähigkeiten testen und sehen, ob Sie auf eine Beschwörung reagieren. Aber meine Liebesbekanntschaften pflege ich nicht auf diese Art zu machen.“ „Gefalle ich Ihnen denn nicht?“ Er wurde ernst. „Welchem Hexenkult gehören Sie an? Wicca? Oder welcher obskuren Sekte sonst?“ „Wie kommen Sie überhaupt darauf, daß ich eine Hexe sein soll?“ fragte ich zurück. „Ich habe so meine Quellen“, antwortete er ausweichend. „Schließlich ist es meine Aufgabe, die seltsamen Vorgänge auf Trinidad zu untersuchen und mit den herrschenden Unsitten aufzuräumen. Wenn es um Menschenopfer geht – um Mord! – dann hört 54
jeglicher Spaß auf.“ „Sind Sie Polizist?“ fragte ich unbekümmert. „Nein“, erwiderte er. „Ich bin der Assistent eines berühmten Dämonenaustreibers, und das wissen Sie vermutlich. Wenn es so ist, wie ich vermute, nämlich, daß man Sie zur Verstärkung im Kampf gegen das Gute gerufen hat, dann werden Sie darüber informiert sein, daß ich mit jenem Exorzisten zusammenarbeite, der als Rattenfänger bekannt wurde.“ „Noch nie davon gehört“, sagte ich wahrheitsgetreu. „Ich fürchte, so kommen wir nicht weiter, Frank.“ „Das fürchte ich auch“, sagte er. „Ich werde…“ „Nein, ich werde!“ unterbrach ich ihn. „Und zwar, Sie hypnotisieren, Frank. Sehen Sie mir tief in die Augen!“ Es ist eine Spezialität von mir, mit jedem Auge in eine andere Richtung blicken zu können. Damit verblüffte ich meine Kontrahenten jedesmal aufs neue. Und Frank Jenkins erging es nicht anders. Obwohl ich ihn vorgewarnt hatte und er versuchte, meinen Augen auszuweichen, wurde er doch in ihren Bann geschlagen. Es genügte, daß er meinen Blick kurz kreuzte, und er kam nicht mehr davon los. Er war ein leicht zu beeinflussendes Medium, und ich hätte in diesem Augenblick alles mit ihm tun können. Aber ich war nur an seinem Wissen interessiert. 55
„Woher wußten Sie von meinem Kommen, Frank?“ fragte ich. „Vom Rattenfänger“, antwortete er gehorsam. „Er sagte mir bei unserer letzten Zusammenkunft, daß die Mächte des Bösen, gegen die wir kämpfen, eine Hexe zur Verstärkung angefordert hätten. Er gab mir Ihre Beschreibung und bat mich, mich um Sie zu kümmern. Ich setzte Joscoe auf Sie an, weil ich einen vierzehnjährigen Jungen für unverdächtig hielt. Ich hoffte, daß Sie ihm folgen und so zu mir kommen würden. Aber als das nicht klappte, versuchte ich es auf andere Weise. Ich habe mich eingehend mit Magie und Hexenkult beschäftigt, deshalb traute ich mir zu, auch für Sie die richtige Beschwörungsformel zu finden.“ „Armer, naiver Frank“, murmelte ich. „Sie haben sich der Gebrauchsanweisungen von Scharlatanen bedient, ohne zu wissen, was sich wirklich zwischen Erde und Hölle tut. Sie haben keine Ahnung, in welche Gefahr Sie sich auf diese Weise hätten begeben können, da Sie durch Zufall auf ein Mitglied der Schwarzen Familie gestoßen sind.“ Ich dachte daran, was mit diesem unwissenden, unbekümmerten Jungen passiert wäre, wenn er statt an mich an meine Schwester Lydia geraten wäre. Er sah in mir zwar eine „Hexe“, doch hatte er von einer solchen überaus romantische Vorstellungen und keinen blassen Schimmer davon, daß Hexen im Sinne des Wortes existierten. 56
„Wer ist der Rattenfänger?“ fragte ich. „Ein Dämonenaustreiber“, antwortete er. „Welche Aufgabe hat er?“ „Er soll jenen Unbekannten zur Strecke bringen, der unter dem Decknamen Makemake Angst und Schrecken auf dieser Insel verbreitet.“ „Das ist Selbstmord!“ entfuhr es mir. „Sie haben keine Ahnung, auf was Sie sich da einlassen, Frank…“ Ich brach ab, weil ich einsah, daß es keinen Zweck hatte, an seine Vernunft zu appellieren, während er unter Hypnose stand. Aber ich hatte gute Lust, ihm zu befehlen, seine Koffer zu packen und Trinidad auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Wenn Makemake erst auf ihn aufmerksam wurde, dann hatte er sein Leben verwirkt. „Arbeiten Sie schon lange mit dem Rattenfänger zusammen?“ fragte ich. „Nein, zum erstenmal“, antwortete Frank Jenkins. „Er ist durch meine Doktorarbeit über die Magie der Primitiven und die Praktiken der modernen Hexen auf mich aufmerksam geworden und hat mich um Mithilfe gebeten.“ „Warum hat der Rattenfänger es sich ausgerechnet in den Kopf gesetzt, Makemake zu bekämpfen?“ „Man ist an ihn mit der Bitte herangetreten, Trinidad von allen Sektierern zu säubern.“ „Wer ist an ihn herangetreten?“ „Ich kenne die Leute nicht. Aber es soll sich um eine Finanzgruppe handeln, hinter der die 57
mächtigsten Konzerne der USA stehen. Man will zuerst mit den verbrecherischen Elementen aufräumen, die die Insel unter dem Deckmantel der Magie terrorisieren. Erst danach soll in die Wirtschaft Trinidads investiert werden.“ „Und hatte der Rattenfänger schon Erfolge zu verzeichnen?“ „Wir haben mit unserer Arbeit erst begonnen. Der Rattenfänger hat mich auf Sie angesetzt und sich davon einiges versprochen. Er ist sicher, daß Sie eine Vertraute von Makemake sind.“ „Und weiß er auch, wer sich hinter dem Decknamen Makemake verbirgt?“ „Das werden wir schon herausfinden.“ „Ich kann es Ihnen sagen, Frank. Makemake ist ein mächtiger Dämon, der es mit allen Exorzisten dieser Welt aufnehmen kann.“ „Ich fürchte weder Tod noch Teufel“, sagte der Hypnotisierte stereotyp. Ich entließ Frank Jenkins aus der Hypnose, ohne ihm die Erinnerung an unser Gespräch zu nehmen. Er würde nur nicht wissen, daß ich ihn beeinflußt hatte, sondern zwangsläufig annehmen, daß er von sich aus Zutrauen zu mir gefaßt hatte. „Ich will nur das Beste für Sie, Frank“, sagte ich. „Das müssen Sie mir glauben. Auch wenn ich in Ihren Augen eine Hexe bin, so möchte ich mit den Grausamkeiten und Abscheulichkeiten eines Makemake nichts zu tun haben.“ 58
„Aber Sie haben mit ihm zu tun, Coco“, beharrte Jenkins, der, einmal aus der Hypnose entlassen, nun viel energischer wurde. „Sie sind seinem Ruf nach Trinidad gefolgt, das ist Beweis genug, daß Sie für ihn arbeiten.“ „Die Sache liegt etwas anders“, meinte ich, ohne näher darauf einzugehen. „Wenn Sie gegen Makemake sind, dann helfen Sie mir, ihn zu finden!“ verlangte Jenkins. „Das würde nicht nur Ihnen nichts nützen, sondern es wäre vermutlich auch mein Tod“, erwiderte ich. „Ich habe keinen besseren Rat für Sie, Frank, als die Hände von dieser Sache zu lassen. Sie tun sich nichts Gutes, wenn Sie sich mit diesem grausamen Dämon anlegen.“ „Ich werde kämpfen!“ sagte Jenkins unerschütterlich. Ich lächelte vor mich hin. Jenkins war ein mutiger Mann, das gefiel mir an ihm. Aber er wußte nicht, auf was er sich da eingelassen hatte. Mut allein genügte nicht, um gegen Makemake bestehen zu können. Jenkins würde einen guten Schutzengel brauchen, um mit heiler Haut davonzukommen. Und wer anders als ich konnte dieser Schutzengel sein? Ich seufzte. „Frank…“ Ich sagte es um eine Spur zu zärtlich, und sicher war es von mir auch zu voreilig, daß ich die Hand nach der seinen ausstreckte und die Berührung mit ihm suchte. Aber dazu kam es gar nicht. 59
Ich hielt mitten in der Bewegung inne und sog die Luft witternd durch die Nase ein. Brand- und Schwefelgeruch! Ich hatte diese Wahrnehmung kaum gemacht, als plötzlich aus allen brennbaren Gegenständen im Raum magische Flammen züngelten. Im Nu hatten sich die Flammen ausgebreitet, griffen auf die Wände und den Fußboden über, bis der ganze Raum lichterloh brannte. Es war ein kaltes, alles versengendes Feuer, das uns umloderte. Die Flammen zuckten blaugrün bis violett um uns auf und bildeten eine lückenlose, undurchdingliche Barriere. Wir waren vom magischen Feuer eingeschlossen.
Feuer ist das Element Makemakes. Er brennt damit seine Botschaften in Stein und Eisen, er unterschreibt seine Bündnisse damit – und er läßt seine Feinde darin schmoren. Aber Makemake hält nicht nur mit dem magischen Feuer furchtbares Gericht über seine Feinde. Manchen schickt er seine harmlos aussehenden Kolibris, die zu Hunderten über ihre Opfer herfallen und sie förmlich zerfleischen; was von ihnen übrigbleibt, ist der Lohn der Geduld für die Aasgeier. Aber die Straße von Makemakes Weg zur Macht säumen auch unzählige Gehenkte, Geköpfte, Gevierteilte und Gefolterte. Makemake kennt 60
alle Arten des qualvollen Todes – und er gebraucht sie skrupellos und unbedenklich, wann immer er es für nötig hält. Doch das Feuer ist und bleibt sein Element. Das waren die Worte meines Vaters, die mir durch den Kopf schossen, als Frank Jenkins und ich in dessen Haus von einer magischen Flammenwand eingeschlossen waren. Die Wände schmolzen förmlich in dieser höllischen Glut, aber mich fror. Diese eiskalten Flammen würden mich nicht verbrennen, sondern ich würde durch sie erfrieren! „Wir müssen den Boden durchbrechen und durch das Loch ins Freie springen!“ schrie Jenkins durch das Prasseln der Flammen. Er schwang plötzlich ein Beil über dem Kopf, das als Wandschmuck über der Sitzgruppe gehangen hatte. Aber noch bevor er den ersten Schlag damit anbringen konnte, schmolz ihm das Beil förmlich unter den Händen weg. Mit einem Schmerzensschrei ließ er den verkohlten, unförmigen Klumpen fallen, der von dem Beil übriggeblieben war. „Dann müssen wir eben durch das Flammenmeer hindurch!“ verkündete er unerschrocken und ergriff meine Hand. Das war der Augenblick für mich, meine Fähigkeit einzusetzen, die eine besondere Spezialität der Familie Zamis war. Fast alle Mitglieder unserer Sippe beherrschten die Zeit, konnten sie drosseln oder beschleunigen 61
und sie fast zum Stillstand bringen. Aber ich hatte es in dieser Disziplin fast zur Perfektion gebracht. Als Jenkins meine Hand ergriff, versetzte ich uns beide in einen schnelleren Zeitablauf. Die züngelnden Flammen schienen zu erstarren, das knatternde Prasseln senkte sich zu einem tiefen, für das menschliche Ohr kaum hörbaren Summton. Alles schien zur Bewegungslosigkeit erstarrt, doch in Wirklichkeit war es so, daß ich mich mit Jenkins um ein Vielfaches schneller bewegte. „Das ist unsere Chance!“ rief Jenkins, der keine Ahnung hatte, daß ich das scheinbare Verharren des Feuers durch einen magischen Trick erreicht hatte. Das kostete viel Kraft, und ich spürte förmlich, wie das Zeitrafferfeld mir Substanz entzog. „Wir müssen fort, schnell!“ drängte ich. Jenkins blickte sich suchend um. Dann fand er eine Stelle, wo die Flammenwand nicht so dicht war. Er zog mich mit sich in diese Richtung. Aber als er mit den magischen Flammen in Berührung kam, zuckte er unwillkürlich zurück. „Das Feuer ist hart wie Glas!“ rief er überrascht aus. Aber dann teilte er die Flammen mit einer energischen Fußbewegung. Er watete durch die sich gummiartig biegenden Flammenzungen wie durch Wasser. Jenkins erreichte mit mir ein Fenster. Das Glas war längst geschmolzen und lag in formlosen Klumpen zu unseren Füßen. Ich trat 62
in eine Pfütze aus geschmolzenem Stein und blieb mit dem Absatz einer Sandale darin kleben. Ohne lange zu zögern, streifte ich die Sandale ab. „Springen Sie endlich!“ schrie ich verzweifelt. Lange würde ich das Zeitrafferfeld nicht mehr aufrecht erhalten können. Ich spürte bereits, wie mich die Kräfte verließen. Ohne meine Hand loszulassen, schnellte sich Jenkins vom Boden ab und sprang mit einem mächtigen Satz durch das Fenster. Er zog mich an der Hand mit sich. Wir flogen, uns überschlagend, durch die Luft. Im Fallen sah ich, daß sich auf der Straße eine Menge Schaulustiger versammelt hatte, die ebenfalls zu Statuen erstarrt waren. Jenkins schien das jedoch nicht aufzufallen. Er dachte nur ans Überleben, und das war gut so. Er sollte sich später nicht daran erinnern können, wie alles abgelaufen war. Ich landete federnd auf dem Boden. Jenkins ließ mich endlich los und sich selbst über den Boden abrollen. „Alles in Ordnung?“ fragte er mit verzerrtem Gesicht, als er wieder auf die Beine gekommen war. Ich nickte nur. Ich konnte nicht sprechen, sondern biß die Zähne zusammen und konzentrierte mich auf den rascheren Zeitablauf. Als ich aus den Augenwinkeln erkannte, wie sich die Schaulustigen nun wie in Zeitlupe zu bewegen begannen, wußte ich, daß ich mit den Kräften am Ende war. 63
Mir wurde schwarz vor Augen, und ich brach zusammen. Ich merkte noch, wie Jenkins nach mir griff und daß ich weich in seinen Armen landete. „Fort von hier“, murmelte ich kraftlos. „Nur fort von hier…“ Ich hatte das Bewußtsein nicht ganz verloren, deshalb erkannte ich vage, daß Jenkins mich hochhob und trug. Er war stark, und es kostete ihn kaum Mühe, trotz der Last, die ich für ihn darstellte, zu laufen. Irgendwann legte er eine Rast ein und ließ mich auf den Boden sinken. Inzwischen war ich wieder einigermaßen zu Kräften gekommen, die Benommenheit war von mir gewichen. „Ich komme schon aus eigener Kraft vorwärts“, sagte ich und raffte mich auf. Da sah ich den knorrigen Baum, der kein Grün auf seinen dunklen, fauligen Ästen hatte. Es war ein Galgenbaum. Drei leblose Körper hingen an magisch verknoteten Seilen von den unteren Ästen. Ich erkannte sie auf Anhieb wieder: Der Mulatte mit dem Backenbart, die dicke Negerin und der Mann mit dem Schlapphut, die ich auf Sir Bendix’ Grundstück getroffen hatte und die wie in Trance gewirkt hatten. Ihre Stirnen wiesen das blutige Zeichen des Kolibris auf. „Das war Makemakes Werk“, stellte Jenkins fest und wandte sich angewidert ab. „Ebenso wie der Anschlag auf unser Leben.“ 64
Ich stimmte ihm in Gedanken zu und machte, daß ich mit ihm von hier wegkam. Das war selbst für mich, die ich durch mein Leben mit den Dämonen an allerhand gewöhnt war, ein zu schrecklicher Anblick. „Sind Sie immer noch auf der Seite des Satans?“ fragte Jenkins mit rauher Stimme. Ich gab ihm keine Antwort. Was hätte ich darauf auch sagen sollen? Ich mußte mich erst sammeln. Wir erreichten den Meeresstrand. Jenkins entdeckte eine versteckte Badehütte, die auf Pfählen gebaut war. Er stieß die Tür auf, und wir gingen hinein. Ich ließ mich erschöpft auf ein Bett sinken und merkte, daß er sich zu mir setzte. Bei der Berührung seiner Hand zuckte ich zusammen. „Das alles muß für Sie wie ein Schock gewesen sein“, sagte er einfühlsam und streichelte mein Haar. „Ich bin selbst noch ganz benommen und kann mir vorstellen, wie erst Ihnen zumute sein muß.“ Ich verkniff mir die Bemerkung, daß ich wahrscheinlich härter im Nehmen war als er; sie war in dieser Situation unangebracht. Außerdem tat es mir wohl, von diesem Mann bemitleidet zu werden. Ich kam mir dabei fast wie ein ganz normales Mädchen vor. „Ich verstehe das nicht“, murmelte ich. „Ich habe diese Leute gekannt. Sie haben Makemake nichts getan. Sie kamen nur zu ihm, um seine Hilfe zu erbitten. Warum hat er sie auf so bestialische Weise ermordet?“ 65
„Sie werden keine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage finden“, sagte Jenkins. „Makemake mordet ohne Motiv – aus Lust am Töten. Sehen Sie jetzt ein, daß ihm das Handwerk gelegt werden muß?“ Ich nickte. „Aber bei allem Respekt, Frank, ich traue es Ihnen nicht zu, daß Sie mit diesem Dämon fertig werden.“ „Ich vielleicht nicht – aber der Rattenfänger“, erwiderte Jenkins leidenschaftlich. „Der Rattenfänger hat Erfahrung im Kampf gegen Dämonen. Er wird auch diesen Satan zur Strecke bringen. Aber wer weiß, wie viele Unschuldige bis dahin noch ihr Leben lassen müssen. Sie könnten das verhindern, wenn Sie mir sagen, was Sie über Makemake wissen, Coco.“ Ich brauchte nicht lange zu überlegen, um mich zu entscheiden. Es wäre nicht zum erstenmal gewesen, daß ich mich gegen die Schwarze Familie stellte und einen ihrer Dämonen bekämpfte. Ich wünschte nichts so sehr, als Makemake zur Strecke zu bringen, der für mich zum Inbegriff der Grausamkeit geworden war. Aber ich wollte Jenkins, so gut es ging, heraushalten. Wenn ich ihm verriet, daß Makemake von Sir Bendix’ Anwesen aus operierte, hätte er sich womöglich zu einer Unbesonnenheit hinreißen lassen. Und das wäre sein Tod gewesen. „Vertrauen Sie sich mir an, Coco“, redete Jenkins mir zu. „Verraten Sie mir, was Sie 66
über Makemake wissen. Vielleicht können wir ihn aufgrund Ihrer Informationen zu Fall bringen.“ „Verlange nicht das Unmögliche von mir, Frank“, sagte ich, unwillkürlich in das vertrauliche Du verfallend. „Ich bin auf deiner Seite, aber ich möchte dich mit diesem Wissen nicht belasten. Bringe mich mit dem Rattenfänger zusammen.“ „Das ist nicht so einfach“, sagte Jenkins und nagte an seiner Unterlippe. „Du mußt verstehen, daß der Rattenfänger aus Selbstschutz anonym bleiben möchte. Wenn Makemake seine Identität kennt, ist er eine viel leichtere Beute für ihn.“ „Vertraust du mir denn nicht, Frank?“ „Doch, Coco. Aber es kommt nicht allein auf mich an. Ich muß auch den Rattenfänger davon überzeugen, daß du auf unserer Seite bist.“ „Gut“, stimmte ich zu. „Wenn du ihn von meinen guten Absichten überzeugt hast, lasse es mich wissen. Dann will ich mich mit dem Rattenfänger treffen.“ „Nun sei nicht gleich eingeschnappt“, sagte Jenkins versöhnlich. Ich drehte mich langsam herum. Plötzlich war sein Gesicht dem meinen ganz nahe. Er war nur Augen und Lippen. Lippen, die sich zaghaft und leicht bebend öffneten. Lippen, die mich wie magisch anzogen. Und dann lagen wir einander in den Armen und küßten uns; zuerst zögernd, wie abtastend, dann 67
immer leidenschaftlicher… Es endete, wie es enden mußte, weil ich mir nichts sehnlicher als das gewünscht hatte, seit ich Frank zum erstenmal gegenübergestanden war. „Ich bin wie verzaubert“, flüsterte er mir später ins Ohr. „Wenn das die Waffen einer Hexe sind, will ich gern kapitulieren.“ „In solchen Situationen kämpfe ich nur mit den Waffen einer Frau“, sagte ich ernst. „Du mußt mir glauben, daß ich nichts mit dir angestellt habe, Frank. Es wäre mir ein leichtes gewesen, dich zu behexen. Aber so ist es viel schöner. Ich will nichts erzwingen, sondern um meinetwillen begehrt werden.“ „Ich liebe dich, Coco“, sagte er. Und er sagte danach noch viele solcher Worte, wie sie eine Frau nur allzu gern hört. Ich genoß sie. Aber als dann der Morgen dämmerte und die Sonne aufging, fand ich in die Wirklichkeit zurück. „Vergiß dein Versprechen nicht!“ erinnerte ich Frank. „Ich werde mit dem Rattenfänger reden“, versicherte er. „Noch heute. Und sobald ich Bescheid habe, setze ich mich mit dir in Verbindung. Aber wie kann ich dich erreichen?“ „Ich werde dich zu finden wissen“, sagte ich, löste unbemerkt ein winziges Hexenmal von meiner Haut und drückte es Frank in den Nacken. Es sah dort so harmlos aus wie ein Pigmentfleck. „Wenn du mich sehen willst, 68
brauchst du nur an mich zu denken. Ich komme dann zu dir. Aber wohin wirst du gehen, nachdem dein Haus in Schutt und Asche liegt?“ „Ich werde eben in einem Hotel in der Stadt wohnen“, erklärte er leichthin. Ernster fragte er: „Wirst du auch wirklich kommen, wenn ich dich rufe?“ Ich nickte nur. Er verabschiedete sich mit einem Kuß. Nachdem er gegangen war, kleidete ich mich an. Ich wollte gerade die Badehütte verlassen, als ich draußen Schritte näher kommen hörte. Es war bereits zu spät, die Hütte auf normalem Weg zu verlassen, denn das Tapsen nackter Füße auf der Holztreppe war bereits zu hören. Deshalb versteckte ich mich schnell in einem kleinen Abstellraum. Durch den Spalt der nur angelehnten Tür konnte ich den Eingang im Auge behalten. Dort tauchte Mimine auf, das Mädchen, das vom Götzenstandbild Makemakes einen Liebeszauber erfleht hatte. Da erinnerte ich mich wieder ihrer Opfergaben, die ich an mich genommen hatte und nahm mir vor, mich augenblicklich um das Mädchen zu kümmern. Ich beobachtete sie noch eine Weile. Mimine benahm sich recht seltsam. Sie ging wie in Trance in der Hütte herum, berührte manche Einrichtungsgegenstände fast ehrfürchtig. Als sie jedoch zu dem zerwühlten Bett kam, das unser, Franks und meines, Liebeslager gewe69
sen war, da begann sie auf einmal haltlos zu schluchzen. Ich verstand diese Reaktion nicht – und trat aus meinem Versteck. Das Mädchen erschrak bei meinem Anblick, aber es kam nicht mehr zum Schreien. Ich hypnotisierte es. „Verzweifle nicht, Mimine“, sagte ich zu ihr. „Dir wird geholfen werden. Komm an den Tisch und setz dich mir gegenüber.“ Sie gehorchte, und während ich mich ebenfalls auf einen der Sessel niederließ, holte ich ihre Opfergaben aus der Tasche meines Strandkleides und breitete sie vor mir aus. Als ich auf das Foto des von Mimine geliebten Mannes blickte, erstarrte ich. Es stellte Frank Jenkins dar. Unsägliche Wut übermannte mich. „Dieser Schuft!“ sagte ich. „Du erwartest ein Kind von ihm, und mir hat er Liebe geschworen. Aber das wird er büßen. Ich werde mir für ihn eine Strafe ausdenken, die uns beide befriedigen wird, Mimine!“ Das gelobte ich mir. „Geh jetzt“, befahl ich dem Mädchen. „Und vergiß, was hier vorgefallen ist.“ Nachdem Mimine gegangen war, versteckte ich ihre Opfergaben unter einem lockeren Bodenbrett der Hütte, dann machte ich mich auf den Weg zu Sir Winslow Bendix’ Anwesen. Ich war so sehr in meine Rachegedanken vertieft, daß ich die Omen nicht wahrnahm, die die kommenden Schrecken ankündigten. Als ich sie dann zu deuten vermochte, war es 70
bereits zu spät. Ich saß in der tödlichen Falle.
Ich entdeckte die Häuser erst, als ich kaum hundert Meter davon entfernt war. Sie tauchten auf einmal aus der Savanne vor mir auf. Die Häuser machten einen eher heruntergekommenen Eindruck, und zuerst dachte ich, daß sie unbewohnt seien. Doch dann tauchten Leute auf. Sie waren unterschiedlicher Herkunft, Inder, Afrikaner und Chinesen und Mischlinge aller Couleur. Ich wollte dem Anwesen schon ausweichen, aber da wurde ich entdeckt. Die Leute winkten mir, riefen mir irgend etwas zu, was ich nicht verstehen konnte. Über mir tauchte ein Kolibrischwarm auf und formierte sich wie eine Schutzstaffel von Düsenjägern. Ich fragte mich noch, ob Makemake die Vögel geschickt hatte, um mich von ihnen massakrieren zu lassen. Doch da ging ein Pfeifen durch die Luft. Eine unsichtbare Kraft wirbelte den Kolibrischwarm durcheinander. Eine schwarze Wolke bildete sich mitten unter ihnen und wurde explosionsartig größer. Es gab einen Knall, gleichzeitig regnete es die Kolibris herab, deren Körper zerfetzt und wie geteert waren. Der Explosionsknall hatte mich förmlich taub gemacht. Ich war in unheimliches Schweigen gehüllt. Die Leute winkten mir immer noch, 71
aber ich konnte sie nicht hören. Und in dieses absolute Schweigen drang die Musik einer Steelband, wurde immer lauter und eindringlicher. Ich wußte sofort, daß es sich um die Rhythmen der magischen Steelband des Roten Hahnes handelte. Als gleich darauf die Musiker mit ihren gehämmerten Ölfässern hinter einem Haus auftauchten, war es mir nicht mehr möglich, mich ihrem Bann zu entziehen. Aus der Menge löste sich ein Junge und kam auf mich zugerannt. Es war Joscoe. Er gestikulierte aufgeregt, und er schien mir etwas zuzurufen, doch kein Ton war zu hören. Erst als er mich erreichte und mich an der Hand nahm, konnte ich durch die Berührung verstehen, was er sagte. Es schien, als habe er damit die magische Stille durchbrochen. „Die Leute dort wollen, daß Sie als Ehrengast an dem Hahnenkampf teilnehmen“, sagte der Junge. „Aber tun Sie das nicht. Laufen Sie besser davon. Ich habe gehört, daß man irgend etwas mit Ihnen vorhat.“ „Danke für die Warnung, Joscoe“, sagte ich. „Aber ich will mir dieses Schauspiel nicht entgehen lassen.“ Ich wollte dem Jungen nicht merken lassen, daß ich gar nicht anders konnte. „Wie Sie meinen“, sagte er schulterzuckend. „Ich habe Sie jedenfalls gewarnt.“ Er führte mich an der Hand zu einer Gruppe von Männern. Unter ihnen war auch der Chinese, der mich in seinem Wagen 72
mitgenommen hatte. „Das ist doch die kleine Autostopperin“, begrüßte er mich. „Erinnern Sie sich noch? Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie bei dem kommenden Schauspiel meine Tischdame sein wollten.“ Die Musik der magischen Steelband wurde so eindringlich, daß ich kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Der Chinese schubste mich mal hierhin, dann dorthin und stellte mich allen möglichen Leuten vor. Es waren viele Weiße darunter, die nicht den Eindruck machten, als ob sie von Trinidad stammen würden. Mein Begleiter klärte mich auch bald über ihre Herkunft auf. „Das sind die Mitglieder jener Finanzgruppe, die Trinidad zu wirtschaftlichem Aufschwung verhelfen will. Sie sind eigens aus Europa und den USA auf die Insel gekommen, um sich über die Fortschritte im Kampf gegen den Aberglauben zu überzeugen. Der Hahnenkampf findet ihnen zu Ehren statt, aber wenn man den Versprechungen glauben will, wird es sich um ein besonderes Schauspiel handeln.“ Er führte mich in ein Zelt und dort in eine Loge direkt an der Balustrade der kreisförmigen Sandarena. Obwohl die Steelband nicht mehr zu sehen war, wurde ihre Musik immer lauter. Sie spielten keinen Calypso oder Limbo, sondern eine Mischung aus verschiedenen Kulttänzen. Ich hörte Motive der Sardana ebenso wie des Branle heraus. 73
Die Musik ließ mich einfach nicht los. Plötzlich verstummte die Steelband. Aber nur für einen Augenblick – und da betrat eine phantasievoll und aufwendig kostümierte Gestalt die Arena. Es war ein Riese von Gestalt, über und über mit roten Federn geschmückt. Bei jeder seiner Bewegungen entfalteten sich rot gefiederte Schwingen, die die Luft fächelten und mir einen beizenden Gestank zutrieben. An Stelle des Gesichtes befand sich eine furchterregende Hahnenmaske, die deutliche diabolische Züge trug. Mir war sofort klar, daß es sich dabei um jenen Dämon handelte, der unter dem Decknamen Roter Hahn auftrat. Die magische Musik setzte wieder ein. Der Kostümierte breitete seine Arme aus. Ein Raunen ging durch die Zuschauer, als sie sahen, daß er in jeder Hand einen Kampfhahn hielt. Der eine Hahn war rot und hatte schwarze Flecken, der andere war schneeweiß. Der Kostümierte spreizte die Beine und reckte das Hinterteil, daß sich die Federn seines Kostüms dort sträubten. Dabei wiegte er seinen Oberkörper nach der Musik der magischen Steelband, und er lachte dabei gackernd. Es klang dem Gackern eines Hahnes verblüffend ähnlich, aber für Eingeweihte wie mich war es ein Teufelslachen. Das Wesen im Hahnenkostüm war ein 74
Dämon. Jetzt wandte er den Kopf mit der Maske abwechselnd dem einen Hahn zu, dann wieder dem anderen. Die beiden Tiere in seinen Händen begannen unruhig zu werden. Sie schlugen mit den Flügeln um sich und hieben mit den Krallen aus, die durch Eisendornen verstärkt waren. Langsam holte der Kostümierte die Arme ein und brachte die beiden Hähne einander näher. Als sie sich beinahe schon berühren konnten und mit ihren Schnäbeln und Krallen aufeinander einhacken wollten, hielt der Maskierte plötzlich den schneeweißen Hahn weit von sich. Den roten Hahn mit den schwarzen Flecken preßte er dagegen fest an seine Maske, als wolle er ihn küssen. Und dabei überlief ihn ein schüttelfrostartiger Schauer. Mir war wahrscheinlich als einziger unter den Zuschauern klar, was dieses Zeremoniell zu bedeuten hatte, nämlich daß der Maskierte den roten Kampfhahn mit seiner magischen Kraft aufgeladen hatte. Er hatte ihn mit seinem Ich gespeist und lebte nun auf gewisse Weise auch in diesem Tier fort. Der Kostümierte schleuderte den roten Hahn ruckartig von sich, und das Kampftier segelte flatternd durch die Arena, bis es mit seinen Krallen im Sandboden Halt fand. Nun wandte sich der Rote Hahn mir zu. Der Dämon hielt mir den schneeweißen Hahn entgegen. Ich war entsetzt, weil ich wußte, 75
was das bedeutete, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren. Denn ich stand im Bann der magischen Musik. Und die Steelband spielte ohne Unterbrechung weiter. Jetzt war der weiße Hahn meinem Gesicht ganz nahe. Die starren Vogelaugen blickten mich angriffslustig an. Mit einem krächzenden Laut öffnete der Hahn seinen Schnabel und schlug nach mir. Ich spürte es nicht mehr, als der Schnabel mich im Gesicht traf. Um mich begann sich auf einmal alles zu drehen. Ich schien durch das Innere des Zeltes zu wirbeln, die Brüstung der Arena glitt an mir vorbei – und dann hatte ich den Eindruck, als lande ich im Sand der Arena. Ich sah alles aus der Perspektive des weißen Hahnes. Ich war der weiße Hahn – und sah durch seine starren Augen mich selbst in der Ehrenloge sitzen. Und dort lauerte der rote Hahn, der von der Magie eines gnadenlosen Dämons beseelt war. Ich versuchte, aus dem Gefängnis auszubrechen und in meinen Körper zurückzukehren. Aber das war mir unmöglich. Ich war der weiße Hahn, und wenn ich überleben wollte, mußte ich kämpfen. Der rote Hahn stolzierte drohend an mich heran. Ich duckte mich, um ihn zu unterlaufen, wenn er zum Angriff überging. Doch seine Attacke kam so plötzlich, daß ich keine Zeit hatte, diese Finte anzuwenden. Er stieg mit gesträubtem Gefieder in die 76
Höhe, die Krallen nach vorne gereckt, die mörderischen Klauen geformt. Gleich darauf schlugen die Eisendornen auch schon in den Rücken des weißen Hahnes ein. Sie durchdrangen das Gefieder und bohrten sich ins Fleisch. Verzweifelt flatternd versuchte ich, den weißen Hahn außer Reichweite des Gegners zu bringen. Aber der rote Hahn hatte sich förmlich in den Rücken des Tieres verkrallt und hieb unbarmherzig mit seinem Schnabel auf es ein. In meiner Verzweiflung ließ ich den weißen Hahn sich abschütteln. Und tatsächlich gelang es mir, mich von dem roten Hahn zu befreien. Er wirbelte durch die Luft, und mit ihm eine Wolke von Federn, die der weiße Hahn hatte lassen müssen. Diese Federn waren nicht mehr weiß, sondern blutgetränkt, und auch der Sand der Arena begann sich unter mir rot zu färben. Ich versuchte, meinen Kampfhahn in einen schnelleren Zeitablauf zu versetzen. Doch dies mißlang, und mir war klar, daß ich meine magischen Fähigkeiten nicht gebrauchen konnte, solange ich in diesem Tier gefangen war. Der rote Hahn schien durch meine Abwehr etwas benommen, deshalb ergriff ich die Flucht nach vorn. Ich ließ den weißen Hahn mit wirbelnden Beinen gegen den roten Hahn anstürmen. Doch da stellte es sich heraus, daß er die Benommenheit nur vorgetäuscht hatte. Der Dämon hatte mich aus der Reserve 77
locken und mich zu einer Unvorsichtigkeit verleiten wollen. Und das war ihm vortrefflich gelungen. Denn während er sich in seinem Element fühlte, war diese Art des Kräftemessens für mich neu. Der rote Hahn kam dem anrennenden weißen entgegen, und sie prallten wuchtig aufeinander. Bevor ich mich von dem Zusammenstoß erholt hatte, war der rote Hahn über mir. Wie ich mich unter ihm auch wand, mit den Krallen ausschlug und den Schnabel nach ihm reckte, er wich allen Attacken geschickt aus und setzte mir seinerseits zu. Das Gefühl begann bereits aus dem Körper des weißen Hahnes zu weichen. Seine Bewegungen erlahmten. Und da kam mir blitzartig die Idee, mich totzustellen. Wenn der Dämon glaubte, daß er mich endgültig besiegt hatte, ließ er vielleicht von mir ab. Es war zumindest meine einzige Chance, diesen Kampf lebend zu bestehen. Obwohl es mir nicht leichtfiel, denn ich verspürte die Schmerzen des weißen Hahnes, als hätte man sie mir zugefügt, verzichtete ich auf jede weitere Gegenwehr. Der Körper des weißen Hahnes wurde noch ein paarmal von Reflexen geschüttelt, dann lag er wie leblos da. Aber noch immer ließ der rote Hahn nicht von ihm ab. Erst als ich schon dachte, er würde seinen Gegner förmlich in Stücke reißen, tauchte unter dem Gejohle der 78
Zuschauer der Maskierte auf, ergriff den roten Hahn und hielt ihn als Sieger hoch. Den Kadaver des weißen Hahnes beachtete er nicht. Ich sah durch dessen blutverkrustete Augen, wie der Maskierte dann zu mir ging, die ich wie versteinert dasaß und mir den siegreichen Kampfhahn vors Gesicht hielt. Auf einmal löste sich die Starre meines Körpers, es kam Bewegung in ihn. Ich sah mich lächeln und applaudieren und anschließend angeregt Konversation mit dem Chinesen führen. Ich war immer noch in dem verendenden Körper des weißen Hahnes gefangen und konnte mir zuerst nicht erklären, was mit meinem eigenen Körper los war. Ich hatte angenommen, daß er die scheintote Starre solange beibehalten würde, bis ich in ihn zurückkehren konnte. Doch dann wurde mir auf einmal klar, welchen teuflischen Plan der Dämon ausgeheckt hatte. Er hatte den weißen Hahn absichtlich nicht getötet, sondern nur bewegungsunfähig gemacht, damit ich darin gefangenblieb und nicht in meinen Körper zurückkehren konnte. Statt meiner hatte nun der Dämon meinen Körper beseelt. Und ich lag hilflos im blutgetränkten Sand der Arena. Ich sah, wie sich das Zelt leerte, sah mich entschwinden. Die Musik verstummte, Stille senkte sich über die Arena. Irgendwann tauchte jemand auf, packte den 79
Kadaver des weißen Hahnes und brachte ihn fort. Danach kam eine Zeit, in der ich zwischen Leben und Tod dahindämmerte und in der ich keinerlei Wahrnehmungen machte. Ich dachte immer nur daran, daß der Dämon in meiner Gestalt zu Winslow Bendix’ Anwesen zurückkehren würde, um in meinem Namen sein Zerstörungswerk zu beginnen. Und alle Welt – vor allem innerhalb der Schwarzen Familie – würde glauben, daß ich, Coco Zamis, dahintersteckte. Und ich würde Makemakes Zorn zu spüren bekommen und als Freak oder noch schlimmer enden. Mein Gedankengang wurde unterbrochen, als sich ein großer geflügelter Schatten auf mich niedersenkte. Ich erkannte einen Aasgeier, der den Kadaver des weißen Hahnes zweifellos als willkommene Mahlzeit ansah. Aber der Aasfresser verging sich nicht an dem Tier, als ich es zu einigen schwachen Lebenszeichen veranlaßte. Ich hoffte nur, daß der Aasgeier einer der Vögel des Makemake war, so daß es ihm nicht verborgen blieb, daß hier einiges nicht mit rechten Dingen zuging. Vielleicht hatten die Vögel des Makemake sogar den Hahnenkampf beobachtet und ihrem Herrn und Meister davon berichtet. Tatsächlich nahm mich der Aasfresser in seine Klauen und flog mit mir fort. Der Flug über die Savanne war für mich kein bewußt wahrgenommenes Erlebnis. Ich kam erst wieder einigermaßen zu mir, als der Aasgeier 80
auf einer Lichtung des urwaldähnlichen Parks landete. Er ließ den Kadaver des weißen Hahnes einfach liegen und flog wieder fort. Wenig später trat eine leuchtende Erscheinung auf die Lichtung, und ich erkannte Makemake in seinem Astralkörper. An seiner Seite sah ich – mich. „Was haben wir denn da?“ wunderte sich der Herr von Trinidad. „Hat etwa der Rote Hahn mir eine Botschaft geschickt?“ „Am besten, du rührst das Tier nicht an“, hörte ich den feindlichen Dämon aus mir sprechen. „Wenn der Rote Hahn es geschickt hat, dann beachte es einfach nicht. Überlaß es der Verwesung.“ „Ich könnte aus den Innereien dieses gerupften Hahnes einiges herauslesen“, meinte Makemake. „So würde ich vielleicht erfahren, warum du nicht mehr mein Amulett trägst, Coco. Ist es dir zu heiß geworden? Hat es deine Haut verbrannt, als du abtrünnig geworden bist?“ Ich war erleichtert, als es sich zeigte, daß Makemake das Spiel des Roten Hahnes durchschaute. Aber dann hatte ich plötzlich Angst vor den möglichen Folgen. Wenn Makemake in Unkenntnis des wahren Sachverhalts meinen Körper in der Meinung tötete, daß ich zur Verräterin geworden war, dann war ich endgültig verloren. Aber es kam anders. Der Rote Hahn gab sich ohne ersichtlichen 81
Grund zu erkennen. „Ich war nie so dumm, zu glauben, daß du mein Täuschungsmanöver nicht durchschauen würdest, Makemake!“ rief er durch meinen Mund, und ich war entsetzt über den fratzenhaften Ausdruck, den er dabei meinem Gesicht gab. „Ich wollte nur die Lage erkunden und dich von der wirklichen Gefahr ablenken. Inzwischen sind meine Leute von überall in dein Hoheitsgebiet eingedrungen. Das ist aber erst der Auftakt des Vernichtungsfeldzuges gegen dich.“ Mit einem gackernden Gelächter fuhr der Dämon aus meinem Körper aus. Ich spürte, wie mein Geist von einem Mahlstrom erfaßt und durch unfaßliche Räume, das Nichts, hinweggeschleudert wurde. Als ich wieder klarer denken konnte, fand ich mich in meinem Körper. Ich sah den Kadaver des weißen Hahnes zu meinen Füßen, und sein Anblick bereitete mir Übelkeit. Ich wollte mich an Makemake wenden, doch dessen Astralkörper hatte sich in Nichts aufgelöst. Ich machte mich auf den Weg zum Herrschaftshaus. Doch auf halbem Wege kam mir Sady entgegen. Sein Gesicht war aufgedunsen, das Gewand hing ihm in Fetzen vom Leibe, und sein Körper blutete aus unzähligen Wunden. „Zurück, Miß Coco“, rief er mir zu. „Die Amokläufer haben das Haus von Sir Winslow Bendix besetzt. Es sind die Horden des Roten 82
Hahnes. Sie töten jeden, den sie treffen und machen alles dem Erdboden gleich.“ „Was ist mit Sir Bendix?“ erkundigte ich mich erschrocken. „Ihm ist nichts passiert“, antwortete Sady, und ich mußte ihn stützen. „Kommen Sie, Miß Coco, wir müssen fort.“ „Fliehen?“ wunderte ich mich. „Das kann nicht dein Ernst sein, Sady. Der allmächtige Makemake wird doch Mittel und Wege kennen, die Bande des Roten Hahnes in die Schranken zu weisen.“ „Darauf sollten wir uns lieber nicht verlassen“, sagte Sady schwer atmend. „Bringen wir uns vorerst in Sicherheit. Folgen Sie mir, Coco.“ Er taumelte vor mir durch das dichte Unterholz des Urwalds, und ich folgte ihm. Wir kamen an dem Götzenbild des Makemake vorbei. Es war umgestürzt, mit Tierblut besudelt und mit Schmähschriften beschmiert. Rings um uns erklangen die Schreie von Vögeln, die sich mit dem Rasseln und Hämmern und Trommeln der magischen Steelband vermischten. Noch einmal wollte ich nicht in die Gewalt dieser Bande geraten. „Wir sind da“, sagte Sady, als vor uns das Mausoleum mit dem auf dreizehn Säulen ruhenden Kuppeldach auftauchte. „Nur hier können wir uns einigermaßen sicher fühlen.“ Er machte einige beschwörende Zeichen in die Luft. Gleich darauf erschien Makemakes Astralkörper und geleitete uns über die Treppe 83
zum Mausoleum. Diesmal gab es keine magische Barriere, die mir den Weg versperrte. „Folgt mir durch das unsichtbare Tor“, verlangte Makemake und verschwand an einer bestimmten Stelle durch die Wand. Ich folgte der verblassenden Leuchterscheinung und kam im Innern des Mausoleums heraus. Dort erwartete uns bereits Sir Bendix. Und bei mir fiel der Groschen. „Sind Sie der allseits gefürchtete Dämon Makemake, Sir Bendix?“ fragte ich ungläubig. „So ist es“, antwortete er mit gesenktem Blick. Ich konnte nicht anders, als hysterisch aufzulachen.
5. Makemake ist auch der Herr der Winde. Die Karibik war nicht umsonst schon immer wegen der schnell umschlagenden Wetter gefürchtet, und das Wetter entsprach genau Makemakes Launen. Wenn er es will, kann er den Passat anhalten. Wenn er zürnt, läßt er Hurrikane los, die ganze Inseln entvölkern – mit seinen Stürmen kann er ganze Heerscharen seiner Feinde hinwegfegen. „Warum läßt du keinen Hurrikan los, um die Amokläufer des Roten Hahnes hinwegzufegen?“ fragte ich in Erinnerung der 84
Worte meines Vaters. Und noch spöttischer fügte ich hinzu: „Zeige dem Feind deine Macht, schrecklicher Makemake!“ „Bitte, Coco“, sagte Sady fast flehend. „Sir Bendix hat es nicht verdient, zu allem Übel auch noch verspottet zu werden.“ Sir Bendix winkte mit einer fahrigen Bewegung ab. „Laß sie nur, Sady“, sagte er niedergeschlagen. „Mir gebührt nichts anderes. Schließlich konnte ich nicht hoffen, bis ans Ende aller Tage so weitermachen zu können. Es ist schon recht so, Coco. Ich verdiene keine andere Behandlung.“ Ich sah den Mann an, der als einer der gefürchtetsten Dämonen dieser Hemisphäre galt. Er war eine Trauergestalt und hatte von einem kauzigen Ornithologen tatsächlich mehr an sich als von einem Mitglied der Schwarzen Familie. „Alles hätte ich für möglich gehalten, nur das nicht“, sagte ich verständnislos. „Wie war es dir möglich, die gesamte Schwarze Familie so lange zu narren? Wie kann man sich den Ruf eines grausamen, skrupellosen Dämons verschaffen, den alle fürchten, wenn man in Wirklichkeit ein liebenswerter alter Mann ist?“ „Das war nicht immer so.“ Makemake alias Sir Winslow Bendix ließ sich müde auf den Deckel eines Sarkophags sinken. Durch das Innere des Mausoleums schwirrten einige schwach strahlende Irrlichter. Der Innenraum war dreimal so groß 85
wie die äußeren Abmessungen es eigentlich zuließen, doch das war nichts Ungewöhnliches. Es gab viele Dämonenburgen, die die Eigenart hatten, von außen unscheinbarer zu wirken als sie in Wirklichkeit waren. Aber dies war nicht das Spiegelbild der Macht eines Dämons, sondern reine magische Spielerei. „Als ich noch in der Südsee herrschte“, fuhr Makemake fort, „war ich mächtig. Es stimmt alles, was man mir über die Zeit von damals nachsagt. Ich war furchtlos und grausam, unbarmherzig und rücksichtslos gegen alle, ein Wüterich – eine Bestie. Doch dann kam ich nach Trinidad, und von da ging es mit mir bergab. Ich wurde von anderen Dämonen nicht mehr gefordert, weil alle mich fürchteten. Sie gingen mir aus dem Wege, weil keiner es wagte, sich mit mir anzulegen. Und auch das Leben auf dieser Insel stellte keine besonderen Anforderungen an mich. Bald hatte ich mich an das ruhige Leben gewöhnt und vernachlässigte meine magischen Fähigkeiten immer mehr, bis ich eines Tages erkannte, daß ich so schwach war, daß ich mich mit kaum einem der anderen Dämonen mehr messen konnte. Ich war degeneriert und beherrschte gerade noch einige wenige Taschenspielertricks, wie sie praktisch jeder Sterbliche erlernen kann. Ich zehrte nur noch vom Ruhm vergangener Tage.“ Makemake machte eine Pause. Nach einer 86
Weile fuhr er fort: „Das Image des grausamen Dämons war mein einziger Schutz, ich mußte die Legende meiner Unbesiegbarkeit aufrechterhalten. Denn wenn sich meine Schwäche herumsprach, dann würden sich bald einige machthungrige Dämonen einfinden, um mir meinen Herrschaftsbereich streitig zu machen. Aber mir war klar, daß es dazu sowieso eines Tages kommen mußte. Irgendwann würde sich ein Dämon finden, für den der legendäre Makemake eine Herausforderung darstellte. Ich wollte diesen Tag nur solange wie möglich hinauszögern, um meinen Frieden genießen zu können. Nun, die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Der Rote Hahn wird meine Schwäche aufdecken und mich zum Gespött in der Schwarzen Familie machen. Das schmerzt mehr als der Tod.“ Ich begann mit dem alten Dämon Mitleid zu haben. Doch dann fielen mir die Abscheulichkeiten aus jüngster Zeit ein, die man ihm nachsagte, und Zorn stieg in mir auf. Zu deutlich sah ich noch das Bild der drei Gehenkten vor mir, die ihr Mörder mit dem Zeichen des Kolibri gebrandmarkt hatte – mit Makemakes Zeichen. „Beinahe hättest du mich getäuscht“, sagte ich zynisch. „Aber ich habe mich noch rechtzeitig an drei deiner Opfer erinnert, die du auf bestialische Weise gemordet hast. Es handelte sich um drei jener Bittsteller, die von dir finanzielle Unterstützung erhofften. Warum 87
stehst du plötzlich nicht mehr zu deinen Schandtaten?“ Makemake sah mich mit seltsamem Blick an, aber er gab keine Antwort. Sady antwortete statt seiner: „Solange ich lebe, hat Sir Bendix noch keinem einzigen Menschen Schaden zugefügt. Er hat ihr Schicksal nur zum Guten beeinflußt – und nur mit Rat und Tat, nie aber mit Hilfe Schwarzer Magie. Das kann ich beschwören.“ „Was soll das!“ sagte ich ungehalten. „Ich habe die letzten drei aus der langen Liste seiner Opfer selbst gesehen.“ „Das war nicht mein Herr“, behauptete Sady ehrlich empört. „Diese Verbrechen, und alle die in jüngster Zeit begangen wurden, hat der Rote Hahn in seinem Namen getan.“ „Aber warum sollte er das tun?“ fragte ich ungläubig. „Ich selbst kann mir das nur so erklären“, sagte Sady, „daß dieser hinterhältige Dämon den Rattenfänger auf meinen Herrn hetzen will. Er hat die Bevölkerung gegen Makemake aufgebracht, sie in solche Angst und Schrecken versetzt, daß sie einen Dämonenaustreiber zu Hilfe riefen.“ „Das wäre tatsächlich eine Erklärung“, meinte ich zustimmend. „Demnach war es auch der Rote Hahn, der mich in Jenkins Haus auszuräuchern versuchte. Und ich hätte Makemake in meiner Wut beinahe dem Rattenfänger ausgeliefert.“ „Ich stehe zwischen zwei Fronten“, sagte Sir 88
Bendix. „Und für mich sind der Rattenfänger und der Rote Hahn gleichermaßen gefährlich. Jeder Sterbliche könnte mir den Garaus machen, wenn er wollte. Da ich mich vor meinen Feinden nicht mehr schützen kann, habe ich mich hinter der Maske von Sir Bendix versteckt. Zu allem Übel erreichte mich in dieser Situation noch die Nachricht deines Vaters, Coco, daß er dich zu mir in die Lehre schicken wolle. Er mußte wohl annehmen, daß ich aus dir eine gute Hexe machen könnte, was zeigt, daß meine Tarnung gut ist. Aber nur in der Theorie. Den Anforderungen der Praxis bin ich nicht gewachsen. Du bist wahrscheinlich viel mächtiger als ich, Coco, und ich könnte noch von dir lernen. Jetzt, da du mein Geheimnis kennst, werde ich die Konsequenzen ziehen müssen. Ich möchte nicht, daß Asmodi über mich richtet. Ich würde ein Leben als Freak nicht ertragen.“ Makemake erhob sich und wollte sich tiefer in sein Mausoleum zurückziehen, offenbar um auf eine längst beschlossene Art und Weise aus dem Leben zu scheiden. „Halt, Makemake!“ rief ich ihm nach. „Tu nichts, was du später bereuen könntest. Noch hat der Rote Hahn nicht gesiegt. Vielleicht können wir ihn mit vereinten Kräften bezwingen.“ „Selbst wenn das gelingen würde, kann es nichts ändern“, erwiderte er. „Glaubst du, ich könnte mit der Schmach leben, daß eine Hexe mir das Leben gerettet hat, die in der 89
Schwarzen Familie selbst nicht für voll genommen wird?“ „Niemand braucht das zu erfahren“, erwiderte ich. „Ich jedenfalls werde schweigen, wenn du meine persönlichen Schwächen nicht in die große Kristallkugel hängst. Wir sind einander sehr ähnlich, Makemake, und ich kann mir gut vorstellen, daß wir gut miteinander harmonisieren.“ Der alternde Dämon überlegte. „Ist es möglich, daß du dieses Angebot ernst meinst?“ sagte er wie zu sich selbst. „Aber angenommen, wir können den Roten Hahn gemeinsam bezwingen, so lauert im Hintergrund immer noch der Rattenfänger.“ „Ich habe einen Plan, der alle deine Probleme mit einem Schlag lösen wird“, sagte ich. „Ich werde mich mit dem Rattenfänger treffen und ihm glaubhaft machen, daß der Rote Hahn der wahre Schuldige ist. Damit machen wir den Rattenfänger zu unserem Verbündeten.“ „Das wäre die beste Lösung“, sagte Sady hoffnungsvoll. „Ich glaube, es könnte gelingen, Sir.“ Ich sah Makemakes Gesicht an, daß er neue Hoffnung geschöpft hatte. Doch der Hoffnungsschimmer in seinen Augen erlosch sofort wieder. „Damit ist aber das vordringlichste Problem noch nicht aus der Welt geschafft“, sagte er. „Die Horden des Roten Hahnes haben meinen Herrschaftsbereich besetzt und werden früher 90
oder später auch den magischen Schutzschirm unseres Versteckes aufbrechen.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich sehe keinen Ausweg aus unserer Lage.“ „Aber ich!“ rief ich. „Ich habe einen starken Verbündeten, der die Situation für uns bereinigen könnte.“ „Wenn du jemanden aus deiner Sippe zu Hilfe rufen willst, wäre das der Todesstoß für mich“, sagte Makemake. „Meine Familie lasse ich besser aus dem Spiel. Ich denke an einen Außenstehenden, der unparteiisch ist und über den Dingen steht. Ich spreche von Merlin. Er hat mich schon einmal erhört.“ „Damals war er selbst betroffen“, gab Makemake zu bedenken. „Ich bezweifle jedoch, daß er sich in eine Angelegenheit einmischt, die ihn nicht berührt.“ „Ich werde es dennoch versuchen“, beschloß ich.
Makemake gab mir einige magische Hilfswerkzeuge mit der Bemerkung: „Ich kann ohnehin nichts mehr damit anfangen. Du erzielst damit bestimmt eine größere Wirkung, Coco.“ Dann gab er mir die Formel für die magische Tür in der Wand des Mausoleums, und ich begab mich ins Freie. Ich war auf der Hut und bereit, mich beim geringsten Anzeichen von 91
Gefahr in einen rascheren Zeitablauf zu versetzen. Aber niemand war in der Nähe des Mausoleums. In Richtung des Herrschaftshauses sah ich einen rötlichen Schein über dem Urwald, der von offenem Feuer herrührte. Wahrscheinlich hatte die Bande des Roten Hahnes einen Teil des Hauses in Brand gesteckt. Die Geräusche, die aus dem Wald kamen, zeigten, daß die Amokläufer überallhin ausgeschwärmt waren. Ihr wüstes Geheul wurde nur von gelegentlichen Schreien von Tieren in Todesnot unterbrochen und vom Krachen umstürzender Götzenstandbilder. Zum Glück waren die amoklaufenden Horden noch nicht bis zum Mausoleum vorgedrungen. Ich schloß daraus, daß Makemakes irreführende magischen Symbole, die er in diesem Gebiet gesetzt hatte, ihre Wirkung nicht verfehlten und die Feinde von seinem Versteck fernhielten. Hoffentlich blieb das so, denn ich wollte nicht gestört werden und mich auf die Beschwörung Merlins konzentrieren. Mir kamen bereits leise Zweifel, ob es richtig war, den großen Magier anzurufen, der von sich gesagt hatte: „Ich bin tot und doch lebe ich!“ lch fragte mich, ob er nicht vielleicht sauer reagieren würde, wenn ich seine Ruhe wegen einer solchen Bagatelle störte. Nun, für ihn mochte es eine Bagatelle sein, für uns ging es ums Überleben. Wenn dem Roten Hahn nicht bald das Handwerk gelegt wurde, 92
dann würde das Böse auf Trinidad immer mehr eskalieren und nur noch mehr Dämonen anlocken, die dieserart Nervenkitzel suchten. Ich straffte mich und legte die von Makemake erhaltenen Utensilien vor mir aus. Es handelte sich um einige einfache Fetische für meinen persönlichen Schutz, mit denen man Amokläufer und Besessene blenden konnte, ein dicker Pinsel aus Vogelflaum und magische Rottinte. Nun tauchte ich den Pinsel in die Tinte und zog damit einen scharlachroten Kreis um mich. Er wurde unsichtbar, kaum daß ich ihn vollendet hatte. Aber ich spürte seine Ausstrahlung, deshalb fiel es mir leicht, die vier Runenzeichen innerhalb des Kreises zu zeichnen. Die Man-Rune, die Odal-Rune, die Hagal-Rune und die Tyr-Rune. Auch diese Schriftzeichen verblaßten innerhalb von Sekunden, und als sie nicht mehr zu sehen waren, malte ich mir das Zeichen des Silbers auf die Stirn. Dann bedeckte ich mit der Rechten die Stelle meines Herzens. Und ich sprach die Beschwörungsformel: „Soiritus dei ferebatur super aquas…“ Die fernen Calypsoklänge brachten mich etwas aus dem Konzept, aber ich verschloß mich ihnen und fuhr mit fester Stimme fort: „Fiat verbum halitus meus…“ Ich unterbrach mich kein einziges Mal, bis ich die komplette Formel in einem Zug heruntergesagt hatte. Nun waren nur noch die 93
Schlußworte nötig, die Merlin auf den Plan rufen würden – sofern er mir gewogen war und mir nicht wegen dieser Störung grollte. „Merlin, ich rufe dich!“ Es war ausgesprochen! Ich wußte, was nun kommen würde und war darauf vorbereitet, denn schon einmal hatte ich den legendären Magier von König Arthus’ Tafelrunde angerufen. Ein fernes Donnergrollen erklang. Es kam immer näher, schwoll so laut an, daß man meinte, es würde einem das Trommelfell zerreißen. Und als es am unerträglichsten wurde, ich es förmlich in mir spürte, da kam es zu einer explosionsartigen Entladung. Eine Druckwelle erfaßte mich und riß mich fast von den Beinen, obwohl ich darauf gefaßt war. Urplötzlich unheimliche Stille! Die Welt schien den Atem anzuhalten. Und dann drang die schon bekannte Stimme in meinen Geist, die sagte: „Schon wieder du, mein Kind? Was liegt vor, daß du mich erneut aus der Ewigkeit rufst?“ Der schmächtige Mann mit dem weißen Haar und dem hüftlangen Bart stand auf einmal vor mir. Er war so klein, daß er mir kaum über die Schulter reichte. Und wieder trug er die fast bodenlange Kutte, unter der seine Füße mit den Riemensandalen hervorsahen. Er war nicht imposant durch Kleidung oder Aussehen, aber seine Haltung hatte etwas Majestätisches, die Schlichtheit seines Äußeren vermittelte die Würde eines 94
Herrschers. Der Blick seiner Augen verriet Stärke und Unbeugsamkeit. Das war Merlin! „Ich bin in Not und brauche deine Hilfe“, sagte ich, den durchdringenden Blick seiner Augen erwidernd. „Immer und überall ist irgend jemand in Not“, sagte Merlin. „Es ist weder meine Aufgabe noch meine Passion, den Bedrängten und Leidenden zu helfen. Ich bin auch nicht dein Schutzpatron, kleine Hexe. Wie kommst du dann darauf, mich um Hilfe zu bitten?“ Aus seiner Stimme klang Unmut, der leicht in deutlichen Ärger gegen mich umschlagen konnte. Deshalb versuchte ich diplomatisch zu sein und den großen Magier nicht durch eine unbedachtsame Äußerung gegen mich aufzubringen. „Bei unserem ersten Zusammentreffen, bei dem du deinen Herausforderer Atma bestraftest, da hast du dich mir gegenüber sehr wohlwollend gezeigt“, sagte ich vorsichtig. „Du hast mir einen dornigen Lebensweg prophezeit, mich aber auch wissen lassen, daß dies der richtige Weg für mich sei. Nun stehe ich aber an einem Kreuzweg und weiß nicht, wohin ich mich wenden soll. Ich habe zwei Möglichkeiten zur Wahl – und beide sind voller Gefahren. Überall lauert der Tod.“ „Der Tod ist überall, und du wirst ihm noch oft ins Angesicht blicken“, sagte der Magier. „Ist das eine Prophezeiung?“ fragte ich. „Willst du mir zu verstehen geben, daß ich 95
diese Prüfung bestehe und am Leben bleibe?“ „Ich bin kein Orakel“, sagte Merlin zurechtweisend. „Sage endlich, was du wirklich von mir erwartest.“ Er wandte sich um und dabei schienen seine Blicke in unergründliche Fernen zu entrücken. „Ich sehe viel Böses in weitem Umkreis, Intrige und Verrat, Doppelzüngigkeit und Lüge. Hüte dich vor jenen, die trügerisch sind und falsche Aussagen machen über sich. Jene, die nicht das sind, was sie zu sein scheinen, das sind deine wirklichen Feinde.“ Ich versuchte den Sinn seiner Worte zu ergründen, doch waren sie mir zu rätselhaft. Wollte er mich vor Makemake warnen, der sich zuerst als grausamer Dämon gegeben hatte und nun den alten, gebrechlichen Mann darstellte – war auch das nur Maske? Oder spielte Merlin auf Frank Jenkins an, der mir Liebe geheuchelt hatte, obwohl eine andere Frau ein Kind von ihm erwartete? „Ich werde mich vor den Doppelzüngigen hüten“, versprach ich. „Aber was ist mit jenen, die mein Leben in offener Feindschaft bedrohen? Wie soll ich mich der Amokläufer erwehren, die rings um mich sind, mich umzingelt haben und ein Kesseltreiben auf mich machen? Wie kann ich sie aus eigener Kraft bezwingen?“ Der greise Magier lächelte. „Willst du wirklich aus eigener Kraft bestehen? Warum hast du mich dann gerufen? Oder erwartest du nicht doch, daß ich meine 96
Fähigkeiten für dich einsetze!“ Ich war beschämt, weil Merlin mich durchschaut hatte. Wie hatte ich auch erwarten können, daß dieser Mächtige aus der Ewigkeit sich dazu hergeben würde, meine Probleme zu lösen. „Ich war vermessen“, gestand ich. „Verzeih mir, daß ich mich für zu wichtig nahm und glaubte, du müßtest mich erhören.“ Merlin machte eine Handbewegung in meine Richtung, zuckte dann aber zurück. Wahrscheinlich sollte es eine wohlmeinende Geste sein, doch dann entsann er sich wahrscheinlich, daß eine Berührung mit ihm tödlich sein konnte. Der größenwahnsinnige Dämon Atma, der geglaubt hatte, Merlins Erbe übernehmen zu können, hatte diese Erfahrung mit dem Leben gebüßt. „Ich will dir dennoch einen Weg zeigen“, sagte Merlin. Ich wartete gespannt, welchen Rat er für mich hatte. Er fuhr fort: „Makemake war einst ein mächtiger Dämon, ein grausamer Kämpfer für das Böse. Nun ist er ein hilfloser Greis – und er steht zwischen Gut und Böse. Ein Sprichwort der Menschen würde es so nennen, daß er zwischen zwei Stühlen sitzt. Er soll sich entscheiden, für die eine oder die andere Seite. Wenn er dem Bösen entsagt, dann kann er noch ein letztes Mal seine verloren geglaubten Kräfte freisetzen. Wenn nicht, dann…“ Merlin vollendete den Satz nicht mehr. Seine Gestalt verblaßte. 97
„Auf ein Wort, Merlin!“ rief ich verzweifelt. „Wie kann ich die Verräter und Lügner erkennen, die mich zu täuschen versuchen? Wem kann ich trauen?“ „Ich zeige dir das Bild eines Mannes“, hörte ich Merlins leiser werdende Stimme ein letztes Mal. „Behalte es in deiner Erinnerung und vergleiche es mit jenen, denen du in nächster Zeit begegnen wirst. Jener, mit dem das Bild übereinstimmt, wird über dein weiteres Schicksal bestimmen.“ In meinem Geist bildete sich die Projektion eines Mannes. Ich konnte seine Gesichtszüge nicht genau erkennen, ich hätte ihn nicht zu beschreiben vermocht. Aber er besaß einige besondere Merkmale, die ich mir merkte. Und ich wußte: Wenn ich diesem Mann begegnete, würde ich ihn sofort erkennen! Und ich wußte, daß er die Schlüsselfigur in diesem Machtkampf war. Ich riß mich in die Wirklichkeit zurück. Merlin war verschwunden. Ich hob die Wirkung des magischen Kreises mittels der entsprechenden Formel auf und wandte mich dem Mausoleum zu. Aber ich betrat es nicht. „Makemake!“ rief ich. „Komm heraus. Die Entscheidung liegt jetzt ganz bei dir.“ Gleich darauf erschien der alte Dämon in der Maske von Sir Winslow Bendix in Begleitung seines indischen Dieners. „Hat Merlin unsere Feinde verjagt?“ fragte er hoffnungsvoll. Ich teilte ihm den Wahrspruch des Magiers 98
mit und erklärte zusätzlich: „Du hast es in der Hand, durch eine Abkehr vom Bösen deine Feinde aus eigener Kraft aus deinem Herrschaftsbereich zu verjagen. Du kannst noch einmal ungeahnte Kräfte freimachen!“ „Und was wird danach sein?“ fragte Makemake zweifelnd. „Wenn ich die Entscheidung im Sinne Merlins treffe, dann bin ich nachher noch hilfloser als jetzt! Was soll ich tun, Coco?“ „Du mußt allein entscheiden!“
Makemake richtete sich plötzlich entschlossen auf. In diesem Augenblick war er kein hilfloser, alter Mann mehr. Ich sah, wie er seinen Körper straffte, als werde er von einem soeben erschlossenen Kraftquell gespeist. Er strotzte förmlich vor Energie und Vitalität, und eine starke magische Aura umgab ihn. „Ich habe mich entschieden“, verkündete er. Er sagte nicht wofür, aber ich ahnte es. Er schloß die Augen, ballte die Hände zu Fäusten, sein Gesicht war angespannt, als er sich darauf konzentrierte, seinen Willen durchzusetzen. Plötzlich erhob sich in der Luft ein Rauschen. Ein Wind kam auf, der sich rasch zu einem Sturm entwickelte. Und dann fegte ein Hurrikan über den urwaldähnlichen Park hinweg. 99
Er entwurzelte die jahrhundertealten Baumriesen, wirbelte sie wie Herbstlaub durch die Luft, brach die mächtigen Stämme wie Zündhölzer entzwei. Hinter mir schlug ein Blitz ein. Und als ich mich umdrehte, sah ich das Mausoleum in Schutt und Asche fallen. Ein Wetterleuchten ging über den Himmel, an dem sich schwarze Wolkengebirge auftürmten und wie von einem Zyklon durcheinandergewirbelt wurden. Es war Makemakes Hurrikan! Er fegte wie die Faust eines Riesen über dieses Land hinweg und zerstörte nicht nur diese unnatürliche Landschaft, die noch immer ein Nistplatz für das Böse war, sondern er fällte auch die uralten Götzenstandbilder, brach sie entzwei, zertrümmerte sie. Es war Makemakes Entsagung vom Bösen! Dabei setzte er noch einmal Kräfte frei, denen seine Feinde nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen hatten. Sie wurden in diesem Mahlstrom zermalmt, wenn sie dagegen anzukämpfen versuchten, oder sie wurden in die Flucht geschlagen. Sie entfleuchten alle. Und als sich der Hurrikan nach Minuten legte, war dieser Landstrich von allen dämonischen Einflüssen gesäubert. Der Hurrikan hatte die Horden des Roten Hahnes hinweggefegt. Danach sah der Park wie ein Schlachtfeld aus. Überall lagen gefällte Baumriesen kreuz und quer, türmten sich wie Riesenspielzeug zu 100
skurillen Gebilden. Der Urwald war dem Erdboden gleichgemacht. „Es ist vorbei“, sagte Makemake schwer atmend. „Ich fühle mich so schwach und hilflos wie der Greis, dessen Körper ich angenommen habe.“ „Du bist jetzt nicht mehr Makemake“, sagte ich. „Du bist nur noch Sir Winslow Bendix.“ Sady, der sich ängstlich zu Boden geworfen und den Kopf in den Händen geborgen hatte, kam verschüchtert auf die Beine. Er blickte sich scheu um. „Keine Angst, Sady“, sagte ich aufmunternd zu ihm. „Die Heerscharen des Bösen sind vorerst besiegt. Sir Bendix hat sie vertrieben.“ „Aber sie werden wiederkommen“, behauptete Sady. „Und mein Herr hat nicht mehr die Kraft, gegen sie zu kämpfen.“ „Ich bin schließlich auch noch da“, erwiderte ich. „Denn ich habe der Schwarzen Magie nicht entsagt und befinde mich nach wie vor im Besitz meiner Hexenfähigkeiten. Ich werde deinem Herrn beistehen.“ „Ich fühle mich frei, wie neugeboren“, sagte Sir Bendix, der einmal der gefürchtete Dämon Makemake gewesen war. „Es ist, als sei ein schrecklicher Alptraum von mir genommen.“ Wir setzten uns in Richtung des Herrschaftshauses in Bewegung. Auf unserem Weg kamen wir an den Überresten von Götzenstatuen vorbei. Manche waren unter Tonnen von Erde begraben. Unter den Trümmern der Statuen sah ich plattgedrückte 101
Ölfässer und andere Instrumente der magischen Steelband. Und ich stolperte über Fetische, die die Besessenen in panischer Flucht von sich geschleudert hatten. Aber ich fand keine einzige Leiche. Ich war froh, daß es keine Toten gegeben hatte. Wahrscheinlich war dieser Schrecken für viele der Anhänger des Roten Hahnes heilsam gewesen, so daß sie für immer den Mächten der Finsternis entsagten. Das Herrschaftshaus stand noch. Von außen schien es unversehrt. Aber als wir es betraten, sah ich, daß viele der Einrichtungsgegenstände, die magische Bedeutung hatten, einfach verschwunden waren. Sie hatten sich in Nichts aufgelöst. Es war, als sei von diesem Haus ein Fluch genommen worden. Die Atmosphäre war nicht mehr so stickig, die Luft war rein und frei von Modergeruch. Und es stank nicht mehr nach Verwesung. „Jetzt bin ich wirklich frei“, sagte Sir Bendix. „Mir ist, als hätte es Makemake nie gegeben. Ich habe diese Zeit aus meinem Gedächtnis verbannt.“ Er stieg mit seligem Gesichtsausdruck die Treppe ins Obergeschoß hinauf. Er war ein Erleuchteter und kam mir fast wie ein Heiliger vor. Bei diesem Gedanken verkrampfte sich alles in mir, und ich wurde daran erinnert, daß ich immer noch ein Mitglied der Schwarzen Familie war. Es gab Dinge, an die ich besser nicht dachte. 102
„Das haben Sie aus ihm gemacht, Coco“, sagte Sady vorwurfsvoll. „Er war früher auch schon zu den Menschen gut, und es hätte dieser inneren Reinigung gar nicht mehr bedurft. Jetzt wird er zum Märtyrer, denn er kann sich nicht mehr gegen das Böse wehren, das sich gegen ihn verschworen hat.“ „Ich werde über ihn wachen, Sady“, versprach ich. Der Diener sah mich skeptisch an. In seinen Augen lag die unausgesprochene Frage, wie ausgerechnet ich, die ich noch nicht mal eine richtige Hexe war, es gegen den Roten Hahn aufnehmen wollte. „Ich werde schon Mittel und Wege finden, um deinen Herrn zu beschützen, Sady“, fuhr ich fort. „Und wenn es sein muß, verbünde ich mich mit dem Rattenfänger und bringe mit seiner Hilfe den Roten Hahn zur Strecke.“ Ich ließ Sady stehen und begab mich auf mein Zimmer. Ich öffnete die Fensterläden weit und atmete begierig die frische Luft ein. Dann duschte ich ausgiebig und begab mich zu Bett. Der Schlaf übermannte mich sofort. Ich schlief lange und tief, und vermutlich wäre ich noch lange nicht von selbst erwacht, wenn mich nicht Frank Jenkins Gedankenbotschaft erreicht hätte. Sie lautete: Coco, ich erwarte dich im Buccoo Reef Hotel. Der Rattenfänger will dich kennenlernen. Daraufhin war ich sofort hellwach. Ich kleidete mich an, verließ mein Zimmer 103
und suchte Sady auf. „Wenn du deinem Herrn helfen willst, dann begleite mich in die Stadt“, sagte ich zu ihm. „Sein Schicksal könnte von dem Eindruck abhängen, den du beim Rattenfänger hinterläßt.“
6. Man sollte dies nicht laut sagen, aber Makemake könnte längst an Stelle von Asmodi Fürst der Finsternis sein, wenn er sich nicht auf die einsame Insel Trinidad zurückgezogen hätte. Es ist schade, daß er zu einem Einzelgänger geworden ist. Manche sahen das als Schwäche an und glaubten, leichtes Spiel mit ihm zu haben. Aber einige Dämonen, die auszogen, Makemake die Macht auf Trinidad und Tobago streitig zu machen, wurden nie mehr wiedergesehen. Seit aber Makemake im Jahre 1963 den Hurrikan Flora über Tobago losließ, wobei nicht nur seine Herausforderer vernichtet wurden, sondern auch 60 Prozent aller Häuser und fast dreißig Sterbliche den Tod fanden, hat der Inseldämon Ruhe. „Das war eine Naturkatastrophe“, erklärte mir Sady, als ich ihn an den Hurrikan Flora erinnerte. „Makemake hatte Glück, sonst nichts, daß dabei seine Herausforderer vernichtet wurden.“ Wir fuhren in einem alten Bentley nach Port 104
of Spain, den Sady aus der Garage geholt hatte. Ich hatte selbst das Steuer übernommen, weil sich der Inder denkbar ungeschickt angestellt hatte, als er den Wagen aus der Garage fuhr. Ich kam mit dem alten Gefährt recht gut zurecht, wenn auch nicht all zu flott voran. Aus der alten Kiste waren nicht mehr als sechzig Meilen herauszuholen. Aber ich hatte keine besondere Eile. Der Abend dämmerte bereits, als wir den Stadtrand von Port of Spain erreichten. Der Karneval war bereits in vollem Gange. Die Straßen waren von Scharen Kostümierter bevölkert. Überall wurde zum Rhythmus der Pauken, Trommeln und Rasseln getanzt, und hinter jedem Straßeneck traf man auf eine der unvermeidlichen Steelbands. Schon hinter der sechsten Straßenkreuzung war an ein Weiterkommen mit dem Wagen nicht mehr zu denken, und ich fuhr ihn einfach an den Straßenrand. Sady und ich waren mit Konfetti und Flitter bedeckt. Während ich mich darum nicht kümmerte, versuchte er verzweifelt, sich von dem Zeug zu befreien. „Warum machst du so eine Leichenbittermiene, Sady?“ fragte ich belustigt. „Ist doch nur Spaß.“ Er stieß eine Mulattin in einem silberorangenen Phantasiekostüm von sich, die sich tänzelnd an ihn schmiegte. Ihr Freund, ein glatzköpfiger Hüne mit einem Boxergesicht, der Sady dafür zur Rechenschaft ziehen 105
wollte, konnte nur noch von meinem hypnotisierenden Blick gestoppt werden. Dann tauchten wir schnell in der Menge unter. „Da hört sich der Spaß auf“, sagte Sady, während er sich das Gewand abklopfte und sich gleichzeitig an verschiedenen Körperstellen kratzte, als verursache ihm der Flitter Juckreiz. „Zur Karnevalszeit ist die Stadt ein einziger Sündenpfuhl. Anständige Menschen sollten lieber zu Hause bleiben.“ „So spricht der Diener eines Dämons!“ rief ich lachend. Als sich Sadys steinerne Miene nicht veränderte, fragte ich: „Ist es noch weit bis zum Buccoo Reef Hotel?“ „Wir sind gleich da, falls uns diese Meute vorher nicht überrennt“, sagte er, während er sich unaufhaltsam kratzte; sein Gesicht war schweißbedeckt. „Es liegt gleich hinter dem Platz der Unabhängigkeit.“ Sady begann sich immer hektischer zu kratzen. „Was ist denn los mit dir?“ fragte ich ungehalten. Als ich ihn mir ansah, stellte ich fest, daß er auf Händen und im Gesicht einen Ausschlag hatte. Seine Haut wies lauter Bläschen auf, die sich bläulich verfärbten. Er keuchte, sein Blick war fiebrig. Sein Gang war torkelnd, und er rannte wie blind gegen die Tanzenden, die ihm den Weg verstellten. Ich stützte ihn und brachte ihn in eine Seitengasse, wo es einigermaßen ruhig war. Er lehnte sich röchelnd gegen die Wand. „Heiß“, sagte er und zerrte an seinem 106
Kragen; seine Augen waren ganz verquollen. „Das… war kein Flitter, sondern magisches Quecksilberpulver, das die Haut ätzt. Es dringt in den Körper…“ „Schon gut“, unterbrach ich ihn. „Reiß dich zusammen, Sady. Ich bringe dich ins Hotel und werde dort versuchen, ein Gegenmittel zu mischen. Du mußt noch durchhalten, bis wir bei Jenkins sind.“ Er nickte. Sein Mund stand dabei weit offen, seiner Kehle entrangen sich rasselnde Laute. „Nicht über den Platz der Unabhängigkeit“, sagte er mit kaum verständlicher Stimme. „Die Leute des Roten Hahnes lauern überall, und auf dem Platz sind wir leichte Beute…“ Ich fixierte in der Menge einen jungen Mann, der als Matrose der U.S.-Marine verkleidet war und hypnotisierte ihn. Er kam zu mir, und ich befahl ihm: „Führe uns zum Buccoo Reef Hotel. Aber weiche dem Platz der Unabhängigkeit aus. Pack an!“ Er nahm Sady unter der linken Schulter, – während ich ihn an der rechten Seite stützte. So schleppten wir ihn mit. Niemand beachtete uns. Wahrscheinlich hielt man den Inder für betrunken, und Betrunkene waren zur Karnevalszeit keine Attraktion. Da auch die Seitenstraßen von den Kostümierten besetzt waren, die mit oftmals meterhohen Attrappen aus Schaumstoff, Plastik, Tüll und Papiermache zum Hauptplatz zogen, kamen wir nur langsam weiter. 107
Wir mußten uns den Weg durch die phantasievollen Riesengebilde förmlich erkämpfen, vorbei an bunten Märchenschlössern, Korallenriffen, Drachen und vorsintflutlichen Ungeheuern. Ihre Begleiter waren überirdische Heerscharen, klassische Helden und Sagengestalten, afrikanische Könige, indische Paschas, europäische Märchenfiguren, antike Göttinnen, Schneemenschen, Feen und Trolle… und ein roter Hahn! Als ich den mit roten Federn geschmückten Hünen inmitten eines Arrangements erblickte, das eine Hibiskusblüte darstellte, verfiel ich mitsamt Sady und meinem Führer in einen schnelleren Zeitablauf. Ich handelte, noch bevor mich die Klänge der magischen Steelband erreichten, ohne deren Begleitung dieser Dämon nie auftrat. Es war leicht möglich, daß es sich bei dem als Hahn Kostümierten gar nicht um den Dämon handelte. Doch so genau wollte ich es gar nicht wissen. Mir ging es jetzt nur darum, Sady in Sicherheit zu bringen und ihn gegen die magische Seuche zu behandeln. Bei der nächsten Querstraße brachte ich uns zurück in den normalen Zeitablauf, und sofort nahm uns das plärrende, hämmernde Chaos wieder gefangen, die Masse der schwitzenden, zuckenden Körper schwemmte uns mit sich. Aber da tauchte das Hotel vor uns auf. Ich entließ den „Matrosen“ aus der Hypnose und schleppte Sady das letzte Stück allein. Er 108
konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten. Bevor ich das Hotel betrat, entwand ich einem nicht mehr ganz nüchternen Touristen die Gesichtsmaske, die er unschlüssig in der Hand hielt und setzte sie Sady auf. Sein Gesicht war bereits so verquollen und voller bläulich schimmernder Pusteln, daß er zu großes Aufsehen erregt hätte. Als ich mit ihm in die Hotelhalle kam, stürzte auf einmal Frank auf mich zu. „Was ist los, Coco?“ erkundigte er sich. „Was gibst du dich mit diesem Betrunkenen ab? Der Rattenfänger erwartet uns, und er legt größten Wert auf Pünktlichkeit.“ „Zuerst muß ich meinen Diener versorgen“, erwiderte ich. „Er ist nicht betrunken, sondern ein Opfer des Dämons.“ „Schon wieder Makemake!“ stieß Frank haßerfüllt aus. „Nein, aber das erkläre ich dir später. Bringen wir ihn auf dein Zimmer.“ Wir fuhren im Aufzug ins fünfte Stockwerk hinauf. Franks Zimmer lag schräg gegenüber dem Aufzug. Er sperrte die Tür auf, und wir schleppten Sady hinein. Als ich den Inder auf eine Couch gebettet hatte und ihm die Maske abnahm, entfuhr Frank ein Laut des Entsetzens. „Ist… es ansteckend?“ fragte er. „Stell jetzt keine dummen Fragen“, herrschte ich ihn an. „Ich brauche verschiedene Dinge, 109
um ein Gegenmittel herzustellen. Es handelt sich vor allem um verschiedene Krauter und Nachtschattengewächse. Kannst du sie beschaffen?“ „Mimine, die Schwester von Joscoe, könnte dies besorgen“, sagte er ohne zu überlegen. „Sie kennt sich da aus.“ Mich überkam es siedend heiß, als er den Namen des Mädchens nannte, denn damit erinnerte er mich nachdrücklich an sein schurkisches Doppelspiel. Ich mußte an mich halten, um meine Wut zu unterdrücken. Frank hatte inzwischen eine Telefonnummer gewählt und führte ein Gespräch. „Was sind das für Krauter, die du brauchst, Coco?“ fragte er mich. Ich ging zum Telefon, nahm ihm den Hörer ab und zählte alle möglichen Pflanzen auf, die sich für die Erstellung eines Heilmittels eigneten. Mimine ließ sich durch nichts anmerken, ob sie meine Stimme erkannte, und sie versprach, die benötigten Zutaten – und einige mehr – so schnell wie möglich zu besorgen. Nachdem das erledigt war und ich den Hörer aufgelegt hatte, hörte ich Frank sagen: „Du kannst dich auf Mimine verlassen, sie wird sich um den Inder kümmern. Wir können inzwischen den Rattenfänger aufsuchen. Er befindet sich hier im Hotel.“ Ich sah ihn zwingend an und fragte: „Was ist zwischen dir und dem Mädchen? Und keine Ausflüchte – ich möchte die 110
Wahrheit hören.“ Frank hob die Schultern und warf die Arme in die Luft. „Zwischen mir und Mimine war nie etwas“, versicherte er. „Sie ist ein nettes Mädchen, ein guter Kamerad, aber mehr nicht. Ich habe sie nicht angerührt. Ihre Familie hat mich bei sich aufgenommen. Glaubst du, ich würde deren Gastfreundschaft so schändlich mißbrauchen?“ Wenn er log, dann beherrschte er die Kunst des Versteilens meisterhaft. Aber wenn er die Wahrheit sprach – warum sagte Mimine solche Dinge über ihn? Von ihr wußte ich jedenfalls, daß sie davon überzeugt war, von ihm schwanger zu sein. „Du kannst auf Mimine nicht eifersüchtig sein, Coco“, redete er auf mich ein. „Ich habe nie im Traum daran gedacht, mit ihr ein Verhältnis einzugehen. Das kann ich dir schwören.“ „Halten wir uns nicht mit solchen Lappalien auf“, beendete ich das Thema. „Sieh mich an, Frank, ich möchte etwas herausfinden.“ Während er zu mir sah, rief ich mir das Bild des Mannes in Erinnerung, über den Merlin orakelt hatte, daß er für mich von schicksalshafter Bedeutung sein würde. Aber das Bild stimmte mit Franks Gesicht nicht überein. Demnach hatte Frank nicht jene Bedeutung für mich, wie ich geglaubt hatte. „Bist du zufrieden?“ fragte Frank gereizt. „Wenn das alles ist, dann laß uns zum Rattenfänger gehen.“ 111
Ich warf einen letzten Blick auf Sady, der sich nicht mehr rührte. Aber er war nur scheintot, und es bestand für ihn keine unmittelbare Lebensgefahr. Im Augenblick konnte ich nichts für ihn tun. „Gehen wir“, sagte ich und stand auf. Wir verließen Franks Appartement und betraten den Aufzug. Als Frank jedoch die Taste für eines der oberen Stockwerke drücken wollte, hielt ich ihn zurück und tastete das Erdgeschoß ein. „Aber der Rattenfänger bewohnt das Penthouse“, begehrte Frank auf. „Er erwartet uns dort.“ „Wenn das Treffen stattfinden soll, dann nur unter meinen Bedingungen“, erwiderte ich. „Wer weiß, welchen Empfang mir der Rattenfänger in seinem Penthouse bereiten will. Schließlich hält er mich für eine gefährliche Hexe. Ich betrete keine fremden Räumlichkeiten, in denen alle möglichen Gefahren auf mich lauern können. Der Rattenfänger wird sich schon in die Hotelbar bemühen müssen.“ „Das wird ihm nicht gefallen“, meinte Frank. „Ich weiß nicht, ob er unter diesen Bedingungen…“ „Entweder so oder gar nicht“, fiel ich ihm ins Wort. Es war mein Ernst.
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Die Bar war bis auf zwei Zecher an der Theke und ein schmusendes Paar in einer Ecke leer. Nichts war hier von dem Trubel des Karnevals zu merken, sah man von dem fernen Lärm ab, der gelegentlich von der Straße hereindrang. Während Frank Jenkins mit dem Rattenfänger telefonierte, bestellte ich beim Barkeeper ein Rum-Tonic. Der Barkeeper, der eine violette Perücke mit Zöpfen und eine falsche Nase trug, versicherte mir beim Servieren, daß nach Mitternacht hier mehr los sei. „Mir ist es ganz recht so“, erwiderte ich. Es war die Wahrheit. Mehr Leute würden sich nur störend auf das Gespräch mit dem Rattenfänger auswirken. Andererseits war ich nicht ganz allein mit ihm. Wer wußte schon, auf welche Ideen er kommen könnte, wenn sich eine Gelegenheit bot? Frank kam zurück und berichtete: „Er kommt.“ „Was machst du für ein Gesicht? Paßt dir das nicht?“ fragte ich ihn. „Ich denke jetzt nicht an den Rattenfänger“, sagte Frank. „Mir will nicht aus dem Kopf, daß du mich mit Mimine in Verbindung bringst.“ „Ich bin nicht selbst auf diese Idee gekommen“, erwiderte ich. „Sie selbst bildet sich ein, daß sie von dir ein Kind erwartet.“ Das saß. Er war völlig perplex. Ich habe noch nie vorher einen Mann verblüffter dreinschauen gesehen. In diesem Augenblick betrat ein auffallender Mann die Bar. Er war groß und breitschultrig, 113
hatte gewelltes, eisengraues Haar, das ihm bis in den Nacken reichte. Er hatte einen dunklen Teint, eine gerade, schmalrückige Nase, einen breiten Mund mit vollen Lippen und weit auseinanderliegende Augen unter buschigen Augenbrauen. Er trug mausgraue Hosen und einen weißen Blazer. Unter dem Revers sah ein buntblumiges Hemd hervor, in dessen offenem Kragen sich ein Halstuch bauschte. Ich mußte diesen Mann sehr intensiv betrachtet haben, denn Frank folgte meinem Blick. Er sprang geschäftig von seinem Platz und raunte mir dabei zu: „Das ist er.“ Frank eilte dem Rattenfänger entgegen und führte ihn an meinen Tisch. Er stellte ihn mir als „Lovis Kendall“ vor, und ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen: „Das ist doch nicht Ihr wahrer Name.“ „Rattenfänger gefällt mir auch viel besser“, sagte er mit breitem Grinsen, während er beim Setzen den Bug seiner Hose richtete; ein gutgekleideter, modebewußter Mann, der viel auf Äußerlichkeiten zu geben schien. „Er hat zwar keinen vornehmen Klang, ist jedoch viel treffender. Ich nehme an, Frank hat Ihnen genug über mich erzählt, so daß ich mir nicht selbst die Reverenz erweisen muß.“ „Ich bin sicher, daß Sie über mich viel mehr wissen, als ich über Sie“, sagte ich. „Ich muß gestehen, daß ich vorher noch nie etwas von Ihnen hörte, wogegen Sie sogar über mein 114
Eintreffen unterrichtet waren.“ „Nur schade, daß ich nicht gleich nach Ihrer Ankunft Ihre Bekanntschaft gemacht habe“, sagte er bedauernd. „Frank hat da leider versagt. Im ändern Fall, wenn er Sie vom Flughafen sofort zu mir gebracht hätte, wäre es nicht zu gewissen Mißverständnissen gekommen… Aber reden wir nicht um den heißen Brei herum. Ist es wahr, daß Sie mit mir zusammenarbeiten und Makemake ausliefern wollen?“ „Da irren Sie, Lovis“, erwiderte ich. „Mir läge zwar an einer Zusammenarbeit, nur möchte ich Makemake aus dem Spiel lassen.“ „Das wird schwer möglich sein. Denn ihm allein gilt mein Interesse. Mein Auftrag lautet, ihn zur Strecke zu bringen. Nur deswegen bin ich auf Trinidad.“ „Ist es nicht eher so, daß Sie den Auftrag haben, den Dämon zur Strecke zu bringen, der für die Ritualmorde und die anderen Grausamkeiten verantwortlich zeichnet?“ „Das ist ein und dasselbe.“ „Eben nicht!“ Der Rattenfänger zeigte sich erstaunt. Das drückte sich bei ihm so aus, daß er eine Augenbraue hob, ohne jedoch sein süffisantes Lächeln abzuschwächen. Ich hatte mir inzwischen ein erstes Urteil gebildet und hätte nicht zu sagen vermocht, daß er mir sympathisch war. Eher das Gegenteil traf zu. Er war eingebildet und überheblich, und ich begann zu bezweifeln, 115
daß dieser präpotente Typ der richtige Verbündete im Kampf gegen den Roten Hahn war. Mein Urteil über ihn: Große Klappe und nichts dahinter. Aber ich wollte nicht vorschnell den Stab über ihn brechen und mir keine endgültige Meinung machen, ohne ihn einer Probe zu unterziehen. Ich rief mir das Bild in Erinnerung, das Merlin mir gegeben hatte, und verglich es mit seinem Gesicht. Dabei erlebte ich eine große Überraschung, denn die beiden Gesichter deckten einander punktgenau. Der Rattenfänger war mit jenem Mann identisch, der für mich nach Aussage Merlins eine schicksalshafte Bedeutung hatte! An einen Irrtum des großen Magiers glaubte ich nicht. Da war es schon wahrscheinlicher, daß ich den Rattenfänger unterschätzte. Wenn Merlin ihm solche Bedeutung beimaß, dann mußte er außergewöhnliche Fähigkeiten besitzen, wenn er sie auch hinter einer penetranten Manieriertheit verbarg. Wie auch immer, der Rattenfänger war mein Mann! „Makemake ist für die Verbrechen nicht verantwortlich zu machen, die auf Trinidad geschehen“, erklärte ich. „Ein anderer Dämon, der in der Maske eines roten Hahnes auftritt, verübt diese Greueltaten in Makemakes Namen.“ „Und das soll ich Ihnen glauben?“ fragte der Rattenfänger amüsiert. „Das hört sich recht 116
phantastisch und unwahrscheinlich an, finden Sie nicht auch? Makemake ist ein Dämon, nicht schlechter oder besser als andere, und wie alle Dämonen für jede Schandtat gut. Warum will er nun einen Sündenbock vorschieben? Oder, wenn es diesen anderen Dämon wirklich gibt, warum sollte dieser Rote Hahn die Verbrechen des Makemake begehen? Können Sie mir das erklären, Coco?“ „Ich kann Makemakes Unschuld beweisen“, antwortete ich. „Ich habe herausgefunden, daß der Rote Hohn Makemake nur vorschiebt, um Sie auf ihn zu hetzen. Makemake kann diese Verbrechen gar nicht begangen haben, denn er besitzt keinerlei dämonische Ambitionen und nicht die geringsten magischen Fähigkeiten mehr.“ In den Augen des Rattenfängers zeigte sich Interesse, aber er sagte in seiner spöttischen Art: „Das wird immer bunter. Am Ende stellen Sie Makemake noch als senilen Tattergreis hin, der keiner Fliege etwas zuleide tun kann.“ „Genauso ist es!“ Der Rattenfänger schüttelte ungläubig den Kopf. „Mir ist in meiner langjährigen Tätigkeit als Dämonenaustreiber schon manches untergekommen, aber so etwas noch nicht. Ich habe den starken Verdacht, daß Sie mich als dumm verkaufen wollen.“ „Das glauben Sie nur, weil Sie sich für unfehlbar halten“, erwiderte ich gehässig. 117
„Aber versuchen Sie nicht, übergescheit zu sein, Lovis. Wenn Sie mir keinen Glauben schenken, dann könnte es nämlich sein, daß Sie einen harmlosen alten Mann töten und die Rechnung dann von dem wahren Missetäter präsentiert bekommen. Oder glauben Sie, daß Makemake mit Ihnen verhandeln würde, wenn er so mächtig und gewalttätig ist wie Sie glauben?“ „Daran ist etwas Wahres“, sagte der Rattenfänger nachdenklich. „So ehrlos Dämonen sind, besitzen sie doch einen gewissen Stolz. Deshalb wundert es mich auch, daß Makemake seine angebliche Schwäche zugibt.“ „Daran sollten Sie seinen guten Willen erkennen!“ Der Rattenfänger überlegte mit ausdruckslosem Gesicht. Zum erstenmal war das Lächeln von seinen sinnlichen Lippen verschwunden. „Ich bin geneigt, Ihnen zu glauben, Coco“, sagte er schließlich. „Aber unter einer Bedingung…“ Er sprang mitten im Satz von seinem Platz auf, machte zwei schnelle Schritte zur Seite und nahm Abwehrstellung ein. Plötzlich hielt er ein langes, mattschimmerndes Stilett in der Hand. Obwohl alles so rasch ging, sah ich die seltsamen Einkerbungen auf der Klinge der Waffe. Ich wirbelte herum und sah, wie Sady in die Bar stürzte. Sein Gesicht war durch den 118
Aussatz bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Es war eine unförmige Masse aus nässenden Wunden und bläulich schimmernden Beulen. Mit einem Aufschrei sprang er den Rattenfänger an – und lief geradewegs in die Klinge. Während Sady noch röchelnd zusammenbrach, hatte der Rattenfänger seine Waffe wieder verschwinden lassen. Es war alles so schnell gegangen, daß ich nicht hatte einschreiten können, um das Unglück zu verhindern. Sady lag tot auf dem Boden. Nun war Makemake völlig auf sich allein gestellt. In meine Gedanken drang die hohntriefende Stimme des Rattenfängers. „Handelt es sich bei diesem Monstrum nicht um einen Diener des Makemake?“ fragte er. „Ist es vielleicht ein Mißverständnis, daß er mir nach dem Leben trachtete? Ich glaube, unter diesen Umständen erübrigt sich jedes weitere Gespräch.“ „Das war Makemakes Diener Sady“, gab ich zu. „Aber er handelte nicht im Auftrag seines Herrn. Er war vom Roten Hahn beeinflußt worden und handelte auf dessen Geheiß.“ „Möglich“, sagte der Rattenfänger. „Aber meine Version könnte ebenso wahr sein. Ich will es dennoch versuchen.“ „Sie wurden vorhin unterbrochen, als Sie Ihre Bedingungen nennen wollten“, erinnerte ich ihn. „Oder hat sich durch diesen Zwischenfall etwas geändert?“ „Meine Bedingungen sind die gleichen geblieben. Wenn Makemake ein reines 119
Gewissen hat, dann soll er zu mir kommen und mich von seiner Unschuld überzeugen.“ „Ich glaube, das ist ein faires Angebot“, sagte ich. „Gut. Damit wäre alles gesagt. Die Einzelheiten können Sie mit Frank aushandeln.“ Der Rattenfänger hatte es plötzlich eilig, die Bar zu verlassen. Ich konnte es ihm nicht einmal übelnehmen, denn wer garantierte ihm, daß nicht noch ein Anschlag auf ihn verübt wurde? Der Barkeeper war hinter der Theke hervorgekommen und stand vor dem reglos auf dem Boden liegenden Inder. „Eine gute Maske“, sagte er anerkennend. „Ehrlich, wunderbar echt! Gruselig, in der Tat. Aber heut nacht kann er damit nicht mehr brillieren. Helfe mir doch einer, die Alkoholleiche fortzuschaffen.“ Ich stieß Frank an, und wir verließen die Bar. Für Sady konnte ich nichts mehr tun.
7. Als Christoph Columbus im Jahre 1498 den Golf von Paria zwischen dem Festland und Trinidad passierte, schrieb er, daß er den Eingang zum Paradies entdeckt habe. Er konnte damals nicht ahnen, daß dieses „Paradies“ eifersüchtig vom Dämon Makemake 120
bewacht wurde. Später bekamen holländische und englische Pioniere jedoch eine Ahnung von der Macht des dämonischen Inselherrschers, denn die Arawaken-Indianer boten ihnen einen viel heißeren Empfang als ihre viel sanfteren Brüder auf Kuba und Santo Domingo. Es spricht für die Hartnäckigkeit der Eroberer, daß nicht einmal der mächtige Makemake es ganz verhindern konnte, daß sie schließlich doch ihren Fuß an Land setzten. Ein Coup des großen Makemake, mit dem er die Eindringlinge auf elegante Weise bezwingen wollte, erwies sich jedoch als Fehlschlag. In der Absicht, sie durch ein Suchtgift zugrunde zu richten, lehrte er sie den Genuß des Tabaks. Nun, wir wissen, welchen Siegeszug dieses Suchtmittel durch die Länder des Okzidents genommen hat… Wir hatten uns im Hause der Eltern von Joscoe und Mimine einquartiert. Außer den beiden und ihren Eltern wohnte dort noch der älteste Bruder Carmichael mit seiner Frau und seinen vier Kindern, die ja ihr Haus Frank zur Verfügung gestellt hatten. Es herrschte große Trauer über den Verlust ihres Hauses, das völlig abgebrannt war, und nicht einmal Franks Versicherung, daß seine Auftraggeber den Schaden ersetzen würden, konnte die Stimmung heben. Insgesamt wohnten in dem ineinander verschachtelten Gebäude, das mehr eine Bretterbude war, an die dreißig Personen. 121
Aber die genaue Zahl war nicht festzustellen, weil ein ständiges Kommen und Gehen herrschte und die Heerschar der Kinder das Chaos perfekt machte. Mimines Vater war ein schmächtiges Kerlchen mit olivfarbener Haut. Er verbrachte mit seiner Frau die meiste Zeit vor einem Tabernakel, um für das Seelenheil seiner Familie zu beten. Frank und ich waren im hinteren Teil des Hauses untergebracht, wo wir vor der Rasselbande einigermaßen sicher waren. Der Raum war recht einfach eingerichtet, aber es war gemütlich. „Ich muß reinen Tisch machen“, hatte Frank gesagt und Mimine holen lassen. Jetzt saß sie mit gekreuzten Beinen zwischen uns auf dem Boden, den Kopf so tief gesenkt, daß das lange, blauschwarze Haar ihr Gesicht fast völlig verbarg. Wie sie so dasaß, war sie für mich das Sinnbild der Maria Magdalena. Frank mußte ähnlich denken, denn er wirkte gehemmt und wagte es lange nicht, den ersten Stein nach ihr zu werfen. „Alle bösen Geister stehen mir bei“, murmelte ich, als ich mich bei solcherart Gedanken ertappte, die sich für eine aufstrebende Hexe ganz und gar nicht geziemten. Frank warf mir einen verwunderten Blick zu. Aber es schien, daß meine Worte den Bann gebrochen hatten. Er fand endlich die Sprache und sagte: 122
„Es gibt da einiges zu klären, Mimine. Ich weiß nicht, was du dir dabei denkst, wenn du völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen über uns beide aufstellst.“ Mimine schluchzte verhalten und drückte den Kopf noch tiefer. Frank machte eine resignierende Geste und sah hilfesuchend zu mir. „Du verschüchterst sie nur noch mehr“, sagte ich tadelnd. „Mimine ist sehr sensibel. Was sie sagte, hat sie bestimmt nicht böse gemeint. Stimmt es, Mimine?“ Sie nickte, blickte jedoch nicht auf. Ich berührte sie leicht am Arm und fragte: „Willst du uns nicht erzählen, wie alles war?“ Sie schüttelte den Kopf. Ich seufzte. Da kam Carmichael zur Tür herein. Er war das genaue Ebenbild seines Vaters, klein und schmächtig, aber zäh und voller Vitalität. Er hielt ein seltsam geformtes, pfeifenähnliches Instrument in der Hand. „Ihr habt Probleme“, sagte er in akzentfreiem Englisch. „Und ihr habt Hemmungen, darüber zu sprechen. Deshalb habe ich mir gedacht, ich werde euch helfen, die Hemmungen abzubauen.“ Er setzte sich zwischen mich und seine Schwester. Er wartete, bis Frank und ich ihm unsere Aufmerksamkeit schenkten, dann führte er die ypsilonförmige Pfeife ans Gesicht. Er setzte es mit den Gabelenden gleichzeitig an Mund und Nase an und inhalierte den Rauch tief ein. Das wiederholte 123
er dreimal, bevor er den Rauch langsam und genüßlich ausatmete. „Jetzt du“, sagte er und gab die Pfeife an mich weiter. Beim ersten Zug stellte ich mich noch ungeschickt an, doch dann hatte ich den Dreh heraus. Während ich den Tabakqualm intensiv einsog, spürte ich, wie sich zuerst meine Sinne benebelten, sich mein Geist aber gleich darauf wieder zu klären begann. Ich war hellwach, auf einmal förmlich aufgeputscht, meine Sinne waren geschärft, ich konnte klarer denken als zuvor – und ich spürte, wie der Tabakdunst mein Bewußtsein erweiterte. Ich reichte die Y-Pfeife an Frank weiter. Der zuerst zögernd daran sog und zuletzt begierig paffte. Nun war die Reihe an Mimine. Sie verweigerte die Pfeife zuerst, doch ein kurzer Befehl ihres älteren Bruders machte sie gefügig. Ihre Hände zitterten leicht, als sie die Pfeife an Mund und Nase führte. Sie machte drei hastige Züge und wollte sie an Carmichael weiterreichen, doch der schüttelte den Kopf. „Du bist das Medium“, sagte er und verweigerte die Annahme der Pfeife. Zu mir sagte er: „Jetzt kannst du mit Mimine reden.“ Frank wollt aufbegehren, doch Carmichael gebot ihm durch eine Handbewegung Schweigen. Ich beobachtete Mimine, die nun ruhig und entspannt rauchte. „Mimine“, sagte ich mit leiser, aber 124
eindringlicher Stimme. „Erinnerst du dich, daß du dem Götzenstandbild des Makemake ein Opfer darbrachtest und ihn um einen Liebeszauber batest? Du bekanntest dich zu deiner Liebe zu Frank Jenkins und tatest kund, daß du sein Kind unter dem Herzen trägst. Erinnerst du dich?“ „So ist es“, bestätigte das Mädchen mit vom Tabakrauch rauher Stimme. Sie war wie in Trance. Mit einer vagen Bewegung schüttelte sie das Haar aus dem Gesicht und stierte Frank an, dem unter ihrem Blick nicht ganz behaglich war. Man merkte ihm an, daß es ihn zu einer Äußerung drängte, aber er schwieg. Mimine sagte ihm ins Gesicht: „Ich erwarte von dir ein Kind.“ Jetzt platzte Frank der Kragen. „Das ist gelogen“, rief er empört. „Ich war nie mit dir intim!“ „In jener sturmgepeitschten Nacht habe ich von dir empfangen“, sagte Mimine pathetisch, aber es klang nicht geschwollen. Medien wirken nur selten theatralisch, auch wenn sie mit übertriebener Unterspielung schon wiederum outrieren. Aber das war eben nicht gespielt, sondern was aus ihr kam, war der wahre und ehrliche Erguß ihrer Emotionen – mit der Distanz eines enthemmten Außenstehenden dargebracht. Bevor Frank sich wieder äußern konnte, sagte ich schnell: „Wie war das damals, Mimine? Kannst du uns den Hergang der Geschehnisse in jener 125
sturmgepeitschten Nacht schildern?“ „Frank verbrachte die dritte Nacht in diesem Haus“, erzählte Mimine mit monotoner Stimme. „Am nächsten Tag sollte er in Carmichaels Haus übersiedeln. Ich konnte nicht schlafen. Ich war unruhig. Deshalb verließ ich mein Bett und wanderte zum Strand hinunter. Ich sah Franks Lächeln vor mir, das er mir vor dem Schlafengehen geschenkt hatte. Es war eine einzige Verheißung gewesen.“ „Ich hatte keine Hintergedanken“, fiel ihr Frank ins Wort. „Ich wollte freundlich sein, sonst nichts.“ „Ich wußte, daß der Geliebte am Strand auf mich wartete“, fuhr Mimine fort. „Den ganzen Weg habe ich mich im Vorgefühl seiner Umarmung gesonnt. Und als ich dann die verschwiegene Bucht erreichte, wartete er bereits im Badehaus auf mich. Er war zärtlich und leidenschaftlich zugleich, abwartend und stürmisch, rücksichtsvoll und besitzergreifend. Er war so, wie ich es mir immer erträumt hatte. Und ich wußte, daß ich all die Jahre nur auf ihn gewartet hatte, daß er der Mann war, für den ich mir die Jungfräulichkeit bewahrte. Ich machte sie ihm zum Geschenk meiner Liebe.“ „Das ist unwahr!“ rief Frank dazwischen. Carmichael schnellte sich im Sitzen nach vorne und packte Frank am Kragen. „Mimine ist in Trance“, sagte er dabei gepreßt. „Sie kann gar nicht die Unwahrheit 126
sagen. Wenn jemand lügt, dann bist du es.“ „Ich werde doch noch wissen, ob ich mit deiner Schwester intim war oder nicht“, verteidigte sich Frank. „Wenn es so wäre, warum sollte ich es abstreiten? Aber ich erinnere mich an eine solche Episode überhaupt nicht.“ „Vielleicht willst du dich nicht erinnern!“ sagte Carmichael und drehte Franks Hemdkragen herum, daß es ihm die Kehle abschnürte und er nach Luft schnappte. „Ich erinnere mich nicht, also kann ich es nicht gewesen sein“, preßte Frank röchelnd hervor. „Mimine ist hysterisch, sie bildet sich das alles nur ein…“ Er verstummte, als das Mädchen wieder zu sprechen begann. „Aber er hat meine Liebe verraten“, sagte sie entrückt und ohne Bitternis in der Stimme. „Am selben Ort, in dem Badehaus, wo er mir Treue geschworen hat, betrog er mich mit einer anderen. Es war die gleiche Frau, die mir versprach, über mein Glück mit Frank zu wachen.“ Carmichael ließ Frank los und blickte mich an. „Es kann nur eine Erklärung geben“, sagte ich. „Es sieht alles nach der Intrige eines Dämons aus. Dämonen haben schon immer gerne Schicksal gespielt und sich dann an den seelischen Leiden ihrer Opfer ergötzt.“ „Mimine sagt die Wahrheit“, behauptete Carmichael. 127
„Frank auch“, erwiderte ich und blickte zu dem Mann, den ich für mich gewonnen glaubte. „Aber ich fürchte, daß mit seiner Erinnerung manipuliert wurde. Hast du etwas dagegen, ein Medium zu sein, Frank?“ „Und ob ich etwas dagegen habe!“ rief er empört aus. „Dann muß ich deine Erinnerung eben gegen deinen Willen erforschen, Frank“, sagte ich ohne Bedauern und starrte ihn mit einem Auge intensiv an, während ich die Blicke des anderen kreisen ließ. Er stand augenblicklich in meinem Bann. „Erinnere dich an jene Nacht, Frank“, sagte ich beschwörend. „Es war eine jener Nächte, in dem etwas wie ein Alpdrücken schwer auf einem lastet. Man kann nicht schlafen und auch nicht richtig wach werden. Man befindet sich in einem Zustand zwischen Wachen und Träumen, und man tut Dinge, von denen man nachher nicht weiß, ob sie wirklich geschehen sind, oder ob man sie nicht nur geträumt hat. Und da unliebsame Erinnerungen damit verknüpft sind, verdrängt man sie wie unerquickliche Träume. Erinnerst du dich, Frank?“ „Ja, ich erinnere mich“, sagte Frank mit leiser Stimme. „Ich konnte nicht schlafen und verließ das Haus. Irgend etwas drängte mich, zum Strand zu gehen. Ich war nicht allein. Ich wußte, daß jemand bei mir war, obwohl ich niemand sehen konnte. Und dieser Jemand führte mich zu einem Badehaus. Dort wartete 128
Mimine. Ich wollte der Versuchung widerstehen, aber der Unsichtbare bedrängte mich, das willige Fleisch zu nehmen. Er brachte mich förmlich zur Raserei. Ich war wie von Sinnen, konnte meine Begierde nicht mehr zügeln…“ Frank brach schwer atmend ab. „Kannst du dich an diesen Jemand nicht mehr erinnern?“ fragte ich. „Strenge dein Gedächtnis an. Vielleicht hast du ihn kurz gesehen, einen verschwommenen Eindruck von ihm gewonnen.“ „Er war immer dabei, die ganze Zeit über“, berichtete Frank mit gehetzter Stimme. „Er hat alles mit angesehen… Ich schäme mich. Und ich erinnere mich, daß ich mich auch dabei geschämt habe, weil ich wußte, von ihm beobachtet zu werden. Als ich glaubte, mich dem fremden Bann endlich entzogen zu haben, da tauchte er direkt vor mir auf und zwang mir seinen Willen auf. Es war, als Mimine und ich einander ganz nahe waren. Es war schrecklich.“ „Wie hat der Unbekannte ausgesehen?“ fragte ich. „Rot“, sagte Frank keuchend. „Rot und groß. Rot und gefiedert…“ „Der Rote Hahn“, sagte ich und entließ Frank aus der Trance. Carmichael sprang plötzlich mit einem Aufschrei auf die Beine und zog Mimine mit sich. „Jetzt weiß ich, was zu tun ist!“ schrie er 129
außer sich und schüttelte seine Schwester in maßloser Wut. „Ich werden den Dämon aus deinem Körper austreiben. Töten, wenn es sein muß!“ Frank raffte sich auf und stürzte sich auf Carmichael. Ich sah, wie Frank irgendeinen schweren Gegenstand schwang und ihn auf Carmichael niedersausen ließ. Der Mischling ließ seine Schwester los und brach lautlos zusammen. Frank stand wie benommen da, der schwere Paukenschlegel entglitt seinen Händen. „Wir müssen schnell fort und Mimine in Sicherheit bringen“, sagte ich und drängte Frank zum Ausgang. „Wenn Carmichael zu sich kommt, wird er alles daransetzen, seiner Schwester habhaft zu werden und sie zu töten. Er glaubt, nur durch Abtötung ihres Körpers den Dämon in ihr besiegen zu können.“ „Es ist Wahnsinn!“ sagte Frank. „Carmichael wird noch zur Besinnung kommen“, versicherte ich. „Aber vorerst müssen wir Mimine erst einmal verstecken. Ich weiß einen Ort, wo sie gut aufgehoben ist. Setze du dich inzwischen mit dem Rattenfänger in Verbindung. Ich werde mich bei dir melden, wenn ich mit Makemake verhandelt habe.“ Wir verließen das Haus durch einen Hinterausgang. Niemand schien unser Verschwinden zu bemerken. Doch nachdem wir uns von Frank 130
getrennt hatten, stand plötzlich Joscoe vor uns. Der vierzehnjährige Junge klammerte sich an seine Schwester und fragte weinerlich: „Kann ich helfen?“ Ich wollte ihn schon fortschicken, doch dann überlegte ich es mir anders. „Begleite deine Schwester zum Badehaus und warte mit ihr dort, bis ich mich melde“, trug ich ihm auf. „Aber geht nicht fort, was auch immer geschieht.“ Joscoe versprach, daß er sich an meine Anweisungen halten würde. Wir trennten uns außerhalb der Stadt, und ich holte den Bentley und fuhr zu Sir Winslow Bendix vulgo Makemake.
Der einstmals gefürchtete Dämon war ein angstschlotterndes Nervenbündel und zeigte sich von dem Plan, den Rattenfänger in Port of Spain aufzusuchen, alles andere als begeistert. „Ich fühle mich nur noch in meinem Haus einigermaßen sicher“, begründete er das. „Wenn ich mich in die Stadt wage, bin ich eine leichte Beute für den Roten, Hahn. Durch deine Abmachung mit Merlin bin ich völlig entmachtet worden und habe auf der Insel überhaupt keine Verbündeten mehr.“ „Tu nun nicht so, als ob du vorher eine große Nummer gewesen wärst und durch mich alles verloren hättest, Makemake“, erwiderte ich 131
zornig. „Hätte ich Merlin nicht angerufen, wärst du längst schon ein toter Mann. So haben wir den Roten Hahn wenigstens in dem Glauben gelassen, daß deine Macht ungebrochen ist.“ „Ich weiß ja, daß du nur das Beste für mich willst, Coco“, sagte er versöhnlich. „Aber ich habe einfach Angst. Bisher habe ich nicht gewußt, was das ist. Trotz meiner Unzulänglichkeiten habe ich mich vor nichts gefürchtet. Doch das hat sich auf einmal geändert. Ich liebe plötzlich das Leben – und ich fürchte den Tod. Nach Sadys Abgang ist mir das deutlich klargeworden. Es tut mir leid um ihn. Ich trauere um ihn wie um einen guten Freund.“ „Ich konnte es nicht verhindern“, sagte ich. „Aber ich werde dafür sorgen, daß es dir nicht ebenso ergeht. Denn ganz so hilflos, wie man allgemein glaubt, bin ich denn doch nicht.“ „Ich zweifle nicht an deinem guten Willen, Coco“, meinte er. „Aber um gegen den Roten Hahn zu bestehen, bedarf es etwas mehr. Du warst schon einmal in seiner Gewalt und kamst nur durch Glück wieder frei.“ „Noch einmal komme ich nicht mehr in diese Situation“, versicherte ich. Wir saßen in der Halle, an der riesigen Tafel, die für zwei Dutzend Personen gedacht war, und mußten auf einen heimlichen Beobachter einen recht verlorenen Eindruck machen. Vor uns standen Schüsseln mit Früchten und kalten Speisen, aber wir rührten davon nichts 132
an. Ich fragte mich, ob es nicht doch etwas voreilig von mir gehandelt war, Merlin einzuschalten. Denn wenn Makemake auch keinen großen Zauber mehr besaß, so hätte sich unter seiner Ausrüstung vielleicht doch das eine oder andere Brauchbare gefunden. Nun war aber alles magische Gerät eliminiert, und Makemake konnte nicht einmal mehr auf die Unterstützung seiner Vögel rechnen. Er war mir überhaupt keine Hilfe mehr, und ich war auf mich allein gestellt. Und der Rote Hahn war nicht nur wegen seiner Magie ein übermächtiger Gegner, sondern er hatte zudem auch noch den Vorteil, daß niemand seine Identität kannte. Ich hatte keine andere Wahl, als auf die Unterstützung des Rattenfängers zu bauen. „Muß es sein, Coco?“ fragte Makemake. „Kann ich mir den Kanossagang zu dem Dämonenaustreiber nicht sparen?“ „Ich fürchte nein.“ „Dann sei es. Wie sieht dein Plan also aus?“ „Ich werde für morgen nacht eine Verabredung treffen“, erklärte ich. „Am Aschermittwoch, wenn der Karneval seinen Höhepunkt erreicht, soll der Pakt mit dem Rattenfänger geschlossen werden. Ich werde inzwischen weitere Informationen sammeln und Maßnahmen treffen, über die ich jedoch noch nicht sprechen möchte.“ Die Wahrheit war jedoch, daß ich selbst noch nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich 133
gegen den Roten Hahn vorgehen konnte. Aber das wollte ich Makemake nicht sagen; er wäre sonst vielleicht vor Angst gestorben. Ich hatte mir aber bereits einige Gedanken darüber gemacht, wie ich ihn vor den Attacken des Feindes schützen konnte. „Ich werde deinen Bentley etwas auffrisieren“, fuhr ich fort. „Solange du den Wagen nicht verläßt, kann dir dann nichts passieren. Als zusätzliche Sicherheitsmaßnahme bekommst du ein Kostüm, das dir ausreichend Schutz gewähren wird.“ „Du willst einen Narren aus mir machen“, sagte Makemake. „Als was soll ich denn gehen. Als Hanswurst?“ „Nein. Als Roter Hahn!“ „Was?“ „Nun verschluck nicht gleich deinen Adamsapfel, Makemake“, beruhigte ich ihn. „Es gibt keine so perfekte Tarnung, daß dein Feind dich nicht erkennen würde. Er würde dich sowieso unter Millionen herausfinden. Warum sollst du dann nicht gleich in seiner Maske auftreten? Damit provozierst du ihn, bringst ihn zur Raserei und lockst ihn aus der Reserve. Er wird vor Wut schäumen, und das wird ihn schwächen.“ „Ich habe kein gutes Gefühl dabei, Coco“, sagte Makemake zitternd. „Dafür bin ich um so zuversichtlicher“, log ich. „Es wird schon schiefgehen.“ Als ich seinem Blick begegnete, übermannte mich das Mitleid. Ich ertrug seinen Anblick 134
nicht länger, stand abrupt auf und ging auf mein Zimmer. Ich legte mich aufs Bett und ging in Gedanken noch einmal alles durch. Dabei kamen mir die wildesten Ideen, wie der Rote Hahn zu bekämpfen wäre, aber ich verwarf sie alle wieder. Ich kämpfte gegen ein Phantom. Ich wußte weder, wer dieser Dämon war, noch welche Fähigkeiten er besaß. Er war eine einzige große Unbekannte. Das einzige Verbindungsglied zu ihm war Frank Jenkins. Ich mußte versuchen, über den Amerikaner an ihn heranzukommen. Und Mimine mußte der Köder in der Falle sein. Der Dämon hatte versucht, für die beiden Schicksal zu spielen. Er hatte dafür gesorgt, daß der Funke der Liebe auf sie übersprang, und er arbeitete nun daran, ihr Glück wieder zu zerstören. Das mußte ich mir zunutze machen. An diesem Punkt meiner Überlegungen angelangt, entschloß ich mich sofort, sie in die Tat umzusetzen. Je schneller ich handelte, desto größer waren die Chancen auf einen Erfolg. Es mußte zwischen Frank Jenkins und dem Dämon irgendeine magische Verbindung geben. Wenn ich dafür sorgte, daß Frank seine Geliebte wider Willen in dem Badehaus aufsuchte, dann würde vermutlich auch der Rote Hahn davon erfahren und sich wahrscheinlich als heimlicher Beobachter einfinden. Ich war nicht so anmaßend zu glauben, ihn 135
bei dieser Gelegenheit unschädlich machen zu können. Aber ich hoffte wenigstens, den Schleier des Geheimnisses etwas zu lüften. Ich verließ das Zimmer. In der Halle begegnete ich Makemake, der mich ängstlich fragte: „Willst du mich allein lassen, Coco?“ „Hier bist du sicher“, beruhigte ich ihn. „Die Entscheidung wird erst Aschermittwoch fallen.“ Ich machte, daß ich davonkam, bevor mich das Mitleid mit dem Greis übermannte. Auf dem Weg durch die bizarre Alptraumlandschaft aus entwurzelten Bäumen, zertrümmerten Götzenstatuen und entlaubten Sträuchern dachte ich intensiv an Frank. Er trug immer noch mein Hexenmal, das eine Gedankenverbindung zwischen uns erlaubte. Dieser Kontakt basierte nicht auf Telepathie, sondern einfach auf dem Austausch von Gefühlsschwingungen. Und er war davon unberührt, ob Frank sich in der Abhängigkeit eines Dämons befand oder nicht. Seine Bindung zum Roten Hahn konnte ohnehin nicht stark sein, weil ich es dann an seiner Ausstrahlung gemerkt hätte. Und zweifellos wäre eine solche magische Hörigkeit auch dem Rattenfänger nicht entgangen. Frank war zweifellos nur eines von vielen Opfern des Dämons. Ich dachte: Frank, finde dich in unserem Liebesnest ein. Komm ins Badehaus! Ein unvergeßliches 136
Erlebnis erwartet dich dort. Ich suggerierte ihm dies nicht mit der Holzhammermethode ein, sondern ließ die Botschaft subtil auf ihn einwirken. Und ich ließ ihn über den Absender im unklaren. Wenn er dabei an mich dachte, machte es auch nicht viel aus. Aber wahrscheinlich brachte er die Sehnsucht, die nun in ihm erwachte, eher mit Mimine in Zusammenhang. Immerhin hatte er nun wieder die Erinnerung an das Zusammensein mit ihr. Ich bedauerte es, Frank an dieses Mädchen verloren zu haben. Aber Mimine wäre über seinen Verlust zweifellos schwerer hinweggekommen als ich. Denn Hexen können nicht lieben! Ich erreichte den Strand vor dem Bootshaus und traf einige einfache Vorbereitungen. An exponierten Stellen zog ich magische Kreise in den Sand und verstärkte sie durch Bannformeln. Dabei hielt ich mich vor allem an die Schleichwege, die zur Hütte führten. Ich brachte meine Fallen an Stellen unter, die man auf dem Weg zur Hütte passieren mußte. Ihre Wirkung war nicht besonders stark, und ein einigermaßen gewiefter Magier konnte sich leicht daraus befreien. Aber eben weil sie so schwach wirksam waren, würde er sie nicht vorzeitig entdecken können und ihrer erst gewahr werden, wenn er hineingetappt war. Und damit hätte er sich mir bereits verraten, und darauf kam es mir vor allem an. Ich wollte bloß erreichen, daß das Phantom, 137
das ich jagte, Konturen bekam, ein wenig Gestalt annahm. Als ich sicher war, daß alle Wege zur Hütte über eine meiner magischen Fallen führten, begab ich mich zu dieser. An der Treppe versetzte ich mich in einen schnelleren Zeitablauf, um unbemerkt eindringen zu können. Joscoe und Mimine schliefen. Ich holte aus dem Versteck unter dem Bodenbrett jene Gegenstände hervor, die Mimine für ihren Liebeszauber beim Standbild Makemakes hinterlassen hatte. Ich verteilte den Fingerling, das Vergrößerungsglas, den Zigarettenstummel, die Telefonmembrane, Franks Brusthaar, das Vergrößerungsglas und Franks Foto in einer bestimmten Konstellation über den Raum. Mit einem Brotmesser ritzte ich eine Windrose in den Bretterboden, die eine magische Verbindung zwischen den Gegenständen herstellte und setzte in diese Sternachse das Zeichen Amors. Alles andere, was für einen Liebeszauber noch fehlte, würden Mimine und Frank selbst beitragen. Nachdem auch dieser Teil meines Vorhabens erledigt war, weckte ich Joscoe und führte ihn aus der Hütte und aus dem Bereich meiner magischen Fallen hinaus. Dort trug ich dem Jungen auf: „Geh zu Sir Bendix und hole seinen Wagen. Du kannst doch damit umgehen?“ Als er nickte, fuhr ich fort: „Du fährst den Bentley 138
zum besten Karnevalsdesigner der Stadt. Er soll keine Kosten und Mühen scheuen und ihn in Form einer Hibiskusblüte schmücken. Kann ich mich auf dich verlassen, Joscoe?“ „Klar“, sagte er und wischte sich den Schlaf aus den Augen. „Es gibt nur ein Problem. Sir Bendix mag Kinder nicht.“ „Du bist kein Kind, du bist ein Mann“, versicherte ich ihm. „Und wenn du ihm sagst, daß ich dich schicke, wird er dir den Wagen überlassen.“ „Wenn das so ist…“ Joscoe flitzte davon und verschwand in der Nacht. Ich stellte mich auf eine lange Wartezeit ein. Doch es dauerte nicht lange, bis ich Schritte hörte und gleich darauf mich ein magischer Impuls erreichte, der mir verriet, daß jemand in eine der Fallen geraten war. Als ich zu der Stelle kam, hörte ich Frank schon von weitem steinerweichend fluchen. Sofort hob ich die Wirkung des magischen Kreises auf und ließ ihn passieren. Dann erneuerte ich die Falle und begab mich wieder auf die Lauer. Frank hatte längst die Hütte erreicht, und die Dinge zwischen den beiden Liebenden nahmen bereits ihren Lauf. Dadurch, daß ich der Entwicklung mit meinem Liebeszauber nachgeholfen hatte, konnte nicht einmal mehr der Dämon etwas daran ändern. Das mußte ihn zur Raserei bringen. Ich versuchte, nicht daran zu denken, was 139
sich in der Hütte zwischen Frank und Mimine abspielte. Ich war weder eifersüchtig noch neidisch, ich hatte mich mit meinem Los abgefunden. Plötzlich spürte ich, daß ich nicht mehr allein war. Etwas Unheimliches mit einer starken dämonischen Ausstrahlung geisterte durch die Nacht. Eine starke Erregung ging davon aus, die ich fast körperlich spüren konnte. Der Urheber dieser Ausstrahlung gab sich keine Mühe, diese zu unterdrücken. Er mußte sich wohl sehr sicher fühlen, daß er nicht den geringsten Anlaß zur Tarnung sah. Ich dagegen schirmte mich hermetisch ab. Das Ding, das eigentlich niemand anderer als der Rote Hahn sein konnte, beschrieb einen weiten Bogen um die Hütte und kam nur zögernd näher. Ich dachte schon, daß irgend etwas sein Mißtrauen erweckt hatte und ihn zur Vorsicht gemahnte, als er plötzlich anhielt und sich sogar zurückzog. Doch dann, ganz unvermittelt, unternahm er einen raschen Vorstoß auf das Zentrum mit der Hütte. Es sah so aus, als hätte er auf einmal alle Zurückhaltung abgelegt und dem Drang nachgegeben, sich auf seine Opfer zu stürzen und mit einem Schlag zu vernichten, was sie mit ihren Emotionen gesponnen. Ich vermutete, daß er in diesem Augenblick merkte, daß sich zwischen den beiden Menschen viel stärkere Bande woben, als ihm recht war, und daß er in seinem Jähzorn diese 140
Verbindung zerreißen wollte. Er mußte in seiner Zügellosigkeit förmlich von Blindheit geschlagen sein. Denn er tappte wie ein Anfänger in eine meiner Fallen. Ein fürchterliches Geheul brach los, das jedoch nicht weit drang, denn durch die magische Sphäre war es örtlich gebunden. Ich sah Blitze zucken, Feuer aus dem Boden schlagen. Eine Kaskade roter Irrlichter zerstob in der Luft, daß im wahrsten Sinne des Wortes die Federn flogen. Rote Federn! Eine zuckende, um sich schlagende Gestalt bäumte sich zu gigantischer Größe auf, um die magische Barriere zu sprengen. Und dann zerbarst sie in einer hallenden Detonation wie ein riesiger Luftballon, der dem Überdruck nicht mehr standhalten konnte. Und dann war alles vorbei. Stille trat ein. Ich wartete noch eine Weile, bis ich sicher war, daß der Dämon nach dieser Lektion das Weite gesucht hatte, bevor ich mich zu der Stelle begab. Dort war ein Krater von fünf Metern Durchmesser und einer Tiefe von zwei Metern entstanden. Es stank nach Ozon, die Erde war verbrannt. Die gewaltige Explosion, mit der sich der Dämon befreit hatte, hatte meinen magischen Kreis gesprengt. Der Boden wies an manchen Stellen etwas hellere Flecken auf – das waren die „Schatten“ der Trümmer der magischen Sphäre. Ich lächelte zufrieden. Gerade diese guterhaltenen „Schatten“ von den sphärischen 141
Überresten waren für mich von besonderem Wert. Aus ihnen ließ sich für den Eingeweihten so manches interessante Detail herauslesen. Und wenn man sich darauf verstand, konnte man wertvolle Rückschlüsse auf den Verursacher ziehen, der in diesem Falle der Rote Hahn war. Hinzu kam noch, daß er einige Federn gelassen hatte, die mir bei der Deutung der Schatten eine wertvolle Hilfe sein konnten. Ich wünschte mir, meinen Bruder Georg bei mir zu haben, der sich auf diese Art des Spurenlesens besonders verstand. Er hatte mir zwar etwas von der Kunst beigebracht, von Gegenständen auf jene Personen zu schließen, die mit ihnen in Berührung gekommen waren. Aber gegen ihn, den Meister, war ich ein ahnungsloser Adept. Dennoch versuchte ich mein Glück. Ich stellte durch magische Linien eine Verbindung zwischen den Schattenabdrücken und den herumliegenden Federn her und kniete im Zentrum des imaginären Kreises nieder. Ich schloß die Augen und konzentrierte mich auf die Spuren, während ich gleichzeitig meine Handflächen darübergleiten ließ. Schon bei der ersten Berührung spürte ich ein elektrisierendes Kribbeln auf meinen Handflächen. Aber die Spannungen waren noch zu schwach, um Assoziationen in mir zu wecken. Ich suchte weiter, tastete mich über die magischen Linien des Bodens, von einem Schatten zum anderen, probierte 142
verschiedene Varianten und Konstellationen aus, bis ich immer deutlichere Wahrnehmungen hatte. Da bekam ich jäh einen heftigen Schlag von unten gegen beide Hände. Ich mußte mich förmlich dagegenstemmen, um die Hände unten zu behalten. Vor meinem geistigen Auge entstand ein verschwommenes Bild… Eine Straße, in der eine ausgelassene Menge feierte. Alle waren kostümiert, nur ein Mann nicht. Er zeigte dem Betrachter die Rückenansicht. Es war Jenkins. Ich wußte sofort, daß er sich auf dem Weg zur Hütte am Strand befand. Und ich verfolgte ihn mit den Augen des Roten Hahnes. Das Bild verblaßte, und ich ließ meine tastenden Hände sofort weiterwandern. Wieder bekam ich Kontakt – und mir eröffnete sich erneut ein Blick in die Vergangenheit. Jenkins wanderte einsam durch die Savannah. Plötzlich drehte er sich um. Seine Augen öffneten sich schreckensweit. Er mußte seinen Verfolger erblickt haben… Mein Geist machte einen Sprung – und dann sah ich durch Franks Augen. Ich erblickte den Roten Hahn. Er umtänzelte mich humpelnd. Er hinkte, als sei er an einem Bein lahm. Es war das linke Bein. Und er streckte die linke Hand aus. Darin lagen die Innereien eines Tieres. Zweifellos die eines Hahnes. Er schleuderte sie von sich, und ich hatte das Gefühl, sie geradewegs ins Gesicht zu bekommen. 143
Ich schüttelte mich angeekelt… Und damit verschwand die Vision. Alle meine weiteren Versuche, mehr aus den Schatten des Roten Hahnes herauszulesen, blieben ergebnislos. Ich machte nur noch eine Entdeckung, und die mit bloßem Auge. In einem der Schatten war der Abdruck eines Hahnentrittes. Viel war das nicht, dennoch war ich nicht unzufrieden. Immerhin wußte ich jetzt, daß der Dämon, der sich hinter der Maske eines roten Hahnes versteckte, ein Linkshänder war, daß er hinkte und daß er mit dem linken Bein die Abdrücke eines Hahnes hinterließ. Hinzu kam noch, daß Frank Jenkins kurz vor seinem Eintreffen bei der Hütte Kontakt zu dem Dämon gehabt haben mußte. Da ich mir jedoch nichts davon versprach, ihn zu diesem Punkt zu vernehmen, störte ich seine Ruhe nicht. Es war ein Teilsieg, daß ich die Seelen von Frank und Mimine dem Roten Hahn abgerungen hatte, aber das hieß noch lange nicht, daß er sie ihr Liebesglück würde genießen lassen. Bestimmt sann er auf Vergeltung. Ich löschte alle magischen Fallen und kehrte zu Makemakes Domizil zurück.
8. Der Schrecken der Karibik ist in Wirklichkeit 144
ein Wohltäter der Menschen. Makemake hat den Ärmsten der Armen nicht nur durch finanzielle Zuschüsse geholfen. Mittels seiner bescheidenen magischen Fähigkeiten heilte er sie auch von Krankheiten und lehrte sie den Gebrauch der Kräfte der Natur. Je mehr er Abstand von der Schwarzen Magie gewann, die nur zu zerstören vermag, desto gewandter wurde er auf dem Gebiet der Weißen Magie, die nützlich und segensreich ist. Aber am besten von allem beherrschte er die Kunst der Verstellung, die er anwandte, um die Schwarze Familie der Dämonen über seine wahre Natur zu täuschen. So hatte Sady zu mir gesprochen. Und diese Worte hörte ich ihn auch in meinem Traum wiederholen. Er sagte sie über die Kluft zwischen Diesseits und Jenseits zu mir und war dabei so nahe, daß ich meinte, er sei aus dem Totenreich zurückgekehrt, um ein Loblied auf seinen Herrn zu singen. Aber dann tat er etwas Seltsames. Er warf die Kapuze in den Nacken und brachte seine Hände unter der Kutte zum Vorschein. Und ich sah, daß er das Gesicht eines Aussätzigen hatte und seine Hände nur aus Knochen und fauligem Fleisch bestanden. Diese Hände streckte er in der Art eines Würgegriffs nach mir aus. Dabei sagte er mit einer Stimme, die von zersetzten Stimmbändern herzurühren schien: „Ich muß dich töten, Coco!“ 145
Die Stimme klang so realistisch, daß sie mich aus dem Schlaf riß. Und als ich die Augen öffnete, sah ich ihn über mir. Er war in ein zerschlissenes Totenhemd gekleidet, und sein Gesicht und seine Hände waren von Verwesung gezeichnet. Während er sich über mich beugte, fiel ein Stück verfaulten Fleisches auf meine Bettdecke. Es war so morbid, daß es durch den Aufprall zerfiel. Das riß mich endgültig in die Wirklichkeit zurück. Das war kein Traum. Der tote Sady hatte mich tatsächlich heimgesucht. Er war zu einem Untoten geworden! Bevor sich seine Hände noch um meinen Hals schließen konnten, warf ich mich herum und rollte mich aus dem Bett. Als ich wieder auf die Beine kam, hatte er sich mir neuerlich zugewandt. „Ich muß dich töten, Coco!“ wiederholte er mit hohler Stimme. Ich sah mich nach einem Fluchtweg um. Aber der untote Inder stand nun zwischen mir und der Tür. Er kam mit steifen Bewegungen auf mich zu, und ich hörte seine Gelenke knacken. Im allgemeinen sind Untote behäbiger und langsamer als Lebende. Ihr Vorteil ist ihre unheimliche Wirkung, die sie auf ihre Opfer haben, und die bei ihrem Anblick förmlich vor Entsetzen gelähmt sind. Das traf auf mich nicht zu. Ich hatte schon 146
viel mit Untoten zu tun gehabt, aber noch nicht oft waren sie meine Gegner gewesen. Dennoch unterschätzte ich den magisch beseelten Toten nicht. Wenn er mich erst in den Griff bekam, dann war ich verloren. Ich bewegte mich seitlich, versuchte damit, den Untoten von der Tür wegzulocken. Doch er ging nicht darauf ein. Obwohl er sich mir näherte, tat er es mit ausgebreiteten Händen und so, daß er meinen Fluchtwinkel verkleinerte. Mir blieb keine andere Wahl, als zum Badezimmer zurückzuweichen. Wenn ich mich dort einschloß, dann bedeutete das zwar einen Zeitgewinn, aber ich wäre erst recht in der Falle gefangen gewesen, denn das Bad besaß keinen zweiten Ausgang. Und an eine Flucht durch das Fenster wollte ich noch nicht denken. Dieses Risiko wollte ich erst eingehen, wenn es keine andere Möglichkeit mehr gab. Sady kam mit steifen Gliedern näher. Dabei verlor er einiges Fleisch. Es begann bereits bestialisch zu stinken. Als er auf einen seiner Fleischfetzen trat, die ihm vom Körper gefallen waren, rutschte er beinahe darauf aus und mußte um sein Gleichgewicht kämpfen. Ich nutzte diese Gelegenheit, um an ihm vorbeizuschlüpfen. Aber ich unterschätzte ihn. Gerade als ich glaubte, es geschafft zu haben, bekamen mich seine suchenden Hände an den Haaren zu fassen. Er zog mich daran ruckartig zurück, so daß ich den Halt verlor und 147
rücklings zu Boden stürzte. „Ich muß dich töten, Coco!“ rief der Untote krächzend und zog mich an den Haaren näher zu sich. Ich wand mich wie eine Schlange, trat verzweifelt mit den Beinen um mich und schlug nach der Hand, die meinen Haarschopf so fest umklammert hielt, daß ich meinte, er würde mir den Skalp mitsamt der Kopfhaut abziehen. Sady gab keinen Laut von sich, als er mich an den Haaren hochzog und so hielt, daß sein Gesicht dem meinen ganz nahe war. „Wer hat dich aus dem Totenreich zurückgerufen, Sady?“ fragte ich in der Hoffnung, daß sich der Untote auf ein Gespräch mit mir einlassen würde. „Was spielt das schon für eine Rolle“, sagte er mit kaum verständlicher Stimme. „Ich habe den Befehl, dich zu töten, nur das zählt.“ Ich war völlig hilflos. Meine Schläge steckte Sady ohne Wirkung weg. Während er mich mit der einen Hand immer noch an den Haaren festhielt, griff er mit der anderen nach meiner Kehle. Zum erstenmal bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun und schrie aus Leibeskräften. Denn gerade als ich in höchster Not in einen schnelleren Zeitablauf verfallen wollte, mußte ich erkennen, daß irgend etwas von dem Untoten ausging, das es mir nicht erlaubte, meine Fähigkeiten einzusetzen. Ich mußte erkennen, daß ich ihn nicht einmal hätte töten 148
können, wenn ich die Mittel dazu in der Hand gehabt hätte. Seine magische Aura bannte mich völlig. Seine Hand erreichte mich und legte sich auf meine Kehle. Die Finger spannten sich um meinen Hals. Wieder schrie ich. Da wurde die Tür mit einem Krachen aufgestoßen. Ich sah nicht, wer darin auftauchte. Aber ich sah einen Feuerschein. Wer immer durch meine Schreie angelockt worden war, er hatte eine Fackel entzündet. Und Feuer war immer noch der größte Feind der Untoten. „Sady!“ hörte ich da Makemake entsetzt rufen, und ich wußte, daß es der entmachtete Dämon war, der meinen Ruf gefolgt war. „Sady! Zurück! Was treibst du da?“ „Ich werde Coco töten“, hörte ich den Untoten dicht an meinem Ohr sagen. Sein fauliger Atem raubte mir die Luft. Ich meinte, ersticken zu müssen. „Weg da!“ schrie Makemake und ließ die Fackel fauchend durch die Luft wirbeln. Sie zog eine feurige Bahn, und die Flammen züngelten nach mir und dem Untoten. „Nicht!“ schrie Sady verzweifelt. Aber Makemake näherte sich bereits von der anderen Seite. Er wollte dem Untoten in den Rücken fallen. Doch Sady reagierte diesmal schneller als erwartet. Er ließ auf einmal von mir ab und schlug nach der Fackel. 149
Es gelang dem Untoten, Makemake die Fackel zu entreißen. Doch war es sein Pech, daß er sie ausgerechnet an dem lichterloh brennenden Vorderteil zu fassen bekam. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus, als die Flammen auf ihn übergriffen, und versuchte in rasendem Schmerz, sich der Fackel zu entledigen. Aber sie klebte ihm förmlich in der Hand. Ich zog mich schnell zurück und beobachtete den vergeblichen Kampf des Untoten gegen den Feuer aus sicherer Entfernung. Er schrie immer noch, als sein Körper bereits hell in Flammen stand. Er raste als lebende Fackel durchs Zimmer, geblendet – und blind vor Schmerz. Sady rannte wuchtig gegen eine Wand an, wurde zurückgeschleudert und kam zu Fall. Er fiel zu Boden und rührte sich nicht mehr. Wenige Minuten später hatten die Flammen nichts mehr von ihm übriggelassen. Damit das Feuer nicht auf die Möbel übergreifen konnte, nahm ich die Bettdecke und warf sie über den verkohlten Leichnam, um sie zu ersticken. Dann erst wurde mir bewußt, daß ich immer noch nackt war, und ich schlüpfte ins Strandkleid. Makemake stand wie benommen da. Er schien es immer noch nicht fassen zu können, daß sein treuer Diener aus dem Totenreich zurückgekommen war, um uns heimzusuchen. „Das ist das Werk des Roten Hahnes“, sagte ich erklärend. „Er hat Sady durch eine Seuche 150
getötet und ihm nicht einmal im Tode Ruhe gelassen.“ Makemake sagte nichts darauf. Er starrte nur dumpf vor sich hin. Ich hatte mich schneller von dem Schrecken erholt und dachte schon weiter. Es war nicht ausgeschlossen, daß der Rote Hahn noch andere seiner Sklaven auf uns angesetzt hatte, die vielleicht sogar schon auf der Suche nach ihren Opfern durch dieses Haus geisterten. Als ich von draußen Schritte näher kommen hörte, da spannte ich mich an. Aber zum Glück irrte ich, und meine Vorsicht erwies sich als unberechtigt. In der Tür tauchte Joscoe auf. Ich war froh, daß er noch nicht früher erschienen war und ihm so ein grauenhafter Anblick erspart blieb. „Was führt dich hierher, mein Junge?“ fragte ich. „Meine Schwester ist entführt worden“, sagte er atemlos. „Ich bin sofort hergelaufen, um es dir zu melden, Coco.“ „Aber das ist nicht möglich“, sagte ich. Ich dachte automatisch an den Roten Hahn und daran, daß der Dämon nun keine Macht mehr über ihr Schicksal hatte. „Mimine steht nicht mehr unter einem magischen Bann.“ „Das hat mit ihrer Entführung nichts zu tun“, sagte Joscoe mit weinerlicher Stimme. „Carmichael, mein ältester Bruder, muß völlig durchgedreht haben. Er hat mit seinen Leuten die Badehütte überfallen und Mimine 151
gewaltsam mit sich genommen. Wahrscheinlich hätte er auch mich niedergeknüppelt, wenn es mir nicht gelungen wäre, mich vor ihm und seinen Häschern zu verstecken. Wir müssen Mimine finden, Coco. Carmichael wäre imstande, sie zu töten, weil er glaubt, daß sie von einem Dämon besessen ist.“ „Ich werde mich darum kümmern“, versprach ich.
Ich versicherte Makemake, ihm den geschmückten Bentley und das versprochene Hahnenkostüm zu schicken, und trug ihm auf, sich bei Einbruch der Nacht damit nach Port of Spain zu begeben. Er sollte sich gegen 22 Uhr auf dem Platz der Unabhängigkeit einfinden, wo ich Kontakt mit ihm aufnehmen wollte. Der ehemalige Dämon protestierte zwar, weil ich ihn einen ganzen Tag allein lassen wollte, aber ich ging darauf nicht ein. Ich beruhigte ihn damit, daß der Rote Hahn nach der neuerlichen Niederlage keinen weiteren Anschlag mehr versuchen würde. „Die Entscheidung wird fallen, wenn der Karneval seinen Höhepunkt erreicht.“ Mit diesen Worten verabschiedete ich mich und machte mich mit Joscoe auf den Weg zur Stadt. „Wie viele Leute hatte Carmichael bei sich?“ erkundigte sich mich bei dem Jungen. 152
„Es mögen acht oder neun gewesen sein“, antwortete er. „So genau habe ich das nicht gesehen. Und sie waren alle kostümiert. Auch mein Bruder. Aber seine Maske kenne ich ja. Er trägt das Kostüm eines Narren.“ „Und die anderen?“ „Ihre Masken waren nicht auf eine gemeinsame Stilrichtung abgestimmt, wenn du das meinst“, sagte Joscoe. „Ich sah einen Tiger und noch ein Raubtier, einen Medizinmann – und einen Tod. Ja, an den mit der Maske des Todes erinnere ich mich noch genau.“ „Und Roter Hahn war keiner dabei?“ „Bestimmt nicht“, behauptete Joscoe überzeugt. „Ich vermute, daß Carmichael alle seine Freunde zusammengetrommelt hat. Er gehört einem Geheimbund an, in den nur Männer aufgenommen werden. Carmichael hat nie darüber geredet und sehr geheimnisvoll getan. Aber ich bin ihm einmal nachgeschlichen. Sie treffen sich im Hinterzimmer einer Kneipe, die einem seiner Freunde gehört. Er heißt Naupon und ist wahrscheinlich auch Mitglied des Geheimbundes.“ „Führe mich zu dem Schuppen“, verlangte ich von Joscoe. Als wir die Hauptstadt erreicht hatten, war es längst heller Morgen. Eine fast unheimliche Stille herrschte, nur vereinzelte Nachtschwärmer torkelten durch die Straßen. Die Mehrzahl der Feiernden hielt Siesta. 153
Ich änderte meinen Entschluß und bat Joscoe, mich zu dem Karnevalsausstatter zu bringen, dem er Makemakes Wagen zum Schmücken übergeben hatte. Ich wollte sehen, wie weit er mit seinem Auftrag bereits war. Wir kamen zu einer Ansammlung armseliger Hütten, die alle um einen großen Innenhof gruppiert waren. Dieser Hof war eine phantastische Landschaft aus unzähligen farbensprühenden Attrappen, die sich wie ein meterhohes Gebirge aus Kunststoff, Schaumgummi, Stoff und Papiermache türmte. Beim Betrachten dieser phantasievollen und kunterbunten Gebilde wurde mir fast schwindelig. Und durch dieses Reich aus Plastikformen und Papierblumen eilten geschäftige dunkelhäutige Männer und Frauen, die letzte Hand an diese Fließbandprodukte legten. Niemand beachtete uns. Joscoe verschwand für einige Minuten meinen Blicken, dann tauchte er mit einem Mulatten auf, der nicht viel größer als 1,60 Meter war und fast ebenso breit. Sein runder, stoppelbärtiger Kopf wurde von einer riesigen Sonnenbrille beherrscht. „Das ist der Chefdesigner“, stellte Joscoe den Mann vor. „Er hat die Ausstattung des Bentley höchstpersönlich übernommen.“ „Solche Aufträge habe ich schon gern“, maulte der Mulatte auf Englisch. „In letzter Minute kommen und dann auch noch Sonderwünsche haben. Ich bin Künstler und 154
kein Hexer.“ Er führte uns in den hinteren Teil des Hofes, wo sich eine riesige, halbfertige Hibiskusblüte türmte. Von dem Bentley war nichts mehr zu sehen. „Werden Sie es bis zum Abend schaffen?“ erkundigte ich mich. „Der Wagen wird fertig.“ „Und wie ist es mit dem Kostüm?“ fragte ich. „Meine Arbeiter weigern sich, ein solches Hahnenkostüm anzufertigen“, sagte der Karnevalsausstatter. „Und ich kann sie verstehen. Es gibt einen Mann in der Stadt, der viel für das Recht, als einziger ein solches Hahnenkostüm zu tragen, bezahlt hat. Und ich setze meinen guten Ruf nicht gerne aufs Spiel…“ „Sie werden es doch tun!“ fiel ich ihm ins Wort. Als sich unsere Blicke trafen, blickte ich mit einem Auge in eine andere Richtung. Mein Gegenüber hatte nicht erst Zeit, sich über mein Kunststück zu wundern: Er stand augenblicklich in meinem Bann. „Sie werden auch das Hahnenkostüm bis zum Abend fertig haben!“ befahl ich ihm. „Jawohl, Miß“, sagte er monoton. „Joscoe wird den Wagen und das Kostüm abholen“, sagte ich. „Und jetzt führen Sie uns zu Ihrem Kostümfundus. Mal sehen, ob dort etwas Passendes für uns ist.“ „Jawohl, Miß.“ Der fette Mulatte ging voraus, und Joscoe 155
und ich folgten ihm. Er führte uns in ein großes Lager, in dem vor dem Karneval wahrscheinlich Tausende von Kostümen gelagert gewesen waren. Jetzt wirkte die Halle geradezu geplündert, aber zweibis dreihundert Kostüme waren immer noch vorrätig. Ich suchte nicht lange, sondern entschloß mich spontan für ein HohenpriesterinnenKostüm. Es bestand aus einem silbernen Stirnband mit einem Gesichtsschleier, einem enganliegenden Silberkleid und einem weiten, ärmellosen Mantel, aus Purpur und Silber. Dazu gehörten als Accessoirs überkniehohe Stulpenstiefel – ebenfalls silberfarben mit Purpurstreifen – und ein Priesterstab. Ich wählte dieses Kostüm hauptsächlich wegen des Gesichtsschleiers, der meine Sicht in keiner Weise behinderte, andererseits jedoch mein Inkognito wahrte. Joscoe entschied sich für eine Dämonenmaske. Er trug einen gehörnten Ziegenkopf, einen Löwenschwanz und ein gestreiftes Fell. Ich fragte den Jungen, ob ihm in diesem Fall nicht zu heiß werden würde, aber er tat das mit einer Handbewegung ab und sagte, daß er sich schon immer gewünscht habe, als solches Mischwesen den Karneval zu feiern. Derart maskiert verließen wir die Werkstätte des Karnevalsausstatters. Aber vorher hatte ich dem Designer noch den hypnotischen Befehl gegeben, diesen Zwischenfall zu 156
vergessen. Schon aus dem einfachen Grund, weil ich kein Geld bei mir hatte, um die Kostüme zu bezahlen. „Warum bist du nicht meine Schwester“, sagte Joscoe seufzend. „Du könntest mir alles schenken, was ich mir wünschte. Einfach toll, wie du den Dicken übers Ohr gehauen hast.“ „Vergiß es“, wies ich ihn zurecht. „Jetzt führe mich zu der Kneipe, wo der Geheimbund deines Bruders seinen Sitz hat.“ Die Stadt belebte sich langsam. Als wir die Straße überquerten, wären wir fast von einem Buggy überfahren worden, der laut hupend und im Zickzack aus einer Straße geschossen kam. Mit etwa zehn jungen Leuten war das Gefährt hoffnungslos überbelegt, und als der Wagen knapp hinter uns mit quietschenden Reifen bremste, purzelten einige von ihnen auf die Straße. Aber mit lautem Hallo rafften sie sich wieder auf und kletterten erneut auf den Wagen, der sich daraufhin wieder mit röhrendem Motor in Bewegung setzte. Wir kamen ins Armenviertel der Stadt, wo es keine asphaltierten Straßen gab. Ein Wasserwagen zuckelte die Schotterstraße entlang, und ein verschlafen wirkender Neger spritzte mit einem geflickten Schlauch in der Gegend herum. Einige Betrunkene, die auf der Straße ihren Rausch ausschlafen wollten, wurden von dem Wasserstrahl unliebsam geweckt. Sie murrten, aber nach dem Griff zur Flasche beruhigten sie sich wieder. Die letzte Etappe des Karnevals begann. 157
Auf einer nur mühsam vor dem Einsturz bewahrten Bruchbude waren Parolen zu lesen. NO SEX NO WUK stand dort, oder: TRINIDAD THE ISLAND PRISON! Und: WHAT THE NEXT? I HOPE NOT ELECTION. Während des Karnevals aber hatten die Inselbewohner ihre Sorgen vergessen. Wir kamen zu einem etwas besser erhaltenen Gebäude. Draußen prangte ein Schild, von dem die Farbe bereits abblätterte, auf dem die kühne Behauptung BAR stand. „Das ist die Kneipe“, sagte Joscoe zu mir. „Ich gehe mit dir hinein, denn in meiner Maske kennt mich niemand.“ Wir betraten das Lokal. Es war leer. Die Tische und Stühle standen achtlos herum. Ein Tisch war umgekippt, daneben stand ein Stuhl mit nur drei Beinen, ein anderer Stuhl war völlig in Trümmer gegangen: Stumme Zeugen einer Rauferei der vergangenen Nacht. Niemand schien auf die Idee gekommen zu sein, daß es fürs Geschäft gut wäre, die Unordnung aufzuräumen. Am allerwenigsten der dunkelhäutige Mann mit dem dichten Schnauzbart, der hinter der vergitterten Theke im Stehen vor sich hindöste. „Das ist Naupon, der Besitzer“, klärte mich Joscoe flüsternd auf. „Sollen wir ihn wecken, oder schleichen wir uns an ihm vorbei?“ „Wo ist das Extrazimmer?“ fragte ich im selben Tonfall. Joscoe deutete auf eine Tür. „Du bleibst hier zurück und schlägst Alarm, 158
wenn es brenzlig wird“, trug ich dem Jungen auf und schlich mich zur Tür des Extrazimmers. Ich öffnete sie schnell – der Raum dahinter war leer. Aber in der Luft lag der Duft von Räucherstäbchen, verbrannten Krautern und von Tabak. Ich konnte mir vorstellen, daß Carmichael und seine Leute noch vor kurzem hier ihre y-förmigen Pfeifen geschmaucht hatten. Aber sonst konnte ich nichts Ungewöhnliches entdecken. Aus dem Schankraum ertönten Stimmen. Zuerst die verschlafen wirkende eines Mannes, dann die von Joscoe. Wahrscheinlich war der Kneipenbesitzer aufgewacht. Ich hörte Joscoe nach seinem Bruder Carmichael fragen, und als ihm Naupon versicherte, daß der „schon seit einer Ewigkeit“ sich hier nicht mehr hatte blicken lassen, bestellte der Junge eine RumCola. Ich suchte das Extrazimmer nach einem Geheimgang oder etwas Ähnlichem ab und hatte bald Erfolg. Unter einem Tisch befand sich eine recht gut getarnte Bodenklappe. Ich schob den Tisch vorsichtig beiseite und öffnete die Klappe. Darunter war eine Holztreppe zu sehen, die sich in der Dunkelheit verlor. Kein Geräusch war zu hören. Ich ließ die Klappe offen und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Hier war der Tabakgeruch noch stärker – und frischer, nicht so schal wie oben. 159
Jetzt, als ich den Boden aus gestampftem Lehm erreichte, hörte ich vor mir gedämpfte Geräusche. Ich kam um ein Eck und sah in dem Gang vor mir flackernden Kerzenschein aus einem anderen Seitengang fallen. Langsam schlich ich näher, und als ich um die Ecke blickte, sah ich vor mir einen Raum, der wie eine Satanskirche eingerichtet war. Die Wände waren rot und schwarz bemalt. Mir gegenüber stand ein mit schwarzem Tuch ausgeschlagener Altar. Darüber hing an der Wand eine Teufelsmaske. Das schwarze Altartuch zeigte Flecken wie von Blut – als wäre darauf jemand geopfert worden. Ich dachte sofort an Mimine und hoffte, daß es nicht zum Schlimmsten gekommen war. Vor dem Altar saßen zwei verkommen wirkende Männer. Der eine trug ein Gepardenkostüm, der andere trug ein schwarzes, enganliegendes Trikot, auf das mit Phosphor ein Gerippe gemalt war; die Totenkopfmaske lag achtlos auf dem Boden. Beide Männer rauchten abwechselnd an einer ypsilonförmigen Pfeife. Und auf beide paßte die Beschreibung, die Joscoe von den Begleitern seines Bruders gegeben hatte, die seine Schwester entführten. Plötzlich ertönte oben ein Gepolter. Und der Barbesitzer rief: „Verdammter Bengel! Wen hast du mitgebracht? Wer hat sich da eingeschlichen?“ Mir war klar, daß Naupon die offene Bodenklappe entdeckt hatte. Jetzt mußte ich 160
schnell handeln. Ich stürmte in den Raum. Dem als Tod verkleidetem Mann entfiel bei meinem Anblick vor Schreck die Pfeife. Der andere, den Gepardenkopf in den Nacken geschoben, stierte mich nur stupid an. Er war so berauscht, daß er nicht wußte, was um ihn vor ging. Deshalb hielt ich mich an den anderen. Ich packte ihn am Kragen und zerrte ihn hoch. „Was habt ihr mit Mimine gemacht?“ herrschte ich ihn an. „Wo ist sie?“ „Fort“, sagte der Tod verdattert. „Wir haben die Hexenprobe mit ihr gemacht. Sie ist besessen. Jetzt soll der Dämon aus ihrem Körper vertrieben werden.“ „Wohin hat ihr Bruder sie gebracht?“ brüllte ich den Mann an und schüttelte ihn heftig durch. „Zu einem Exorzisten, der sich in der Stadt aufhält“, antwortete der Tod eingeschüchtert. „Vielleicht kann er sie noch retten.“ „Meinst du den Rattenfänger?“ „Ja, genau…“ Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte, ob diese Entwicklung erfreulich war oder nicht. Möglich, daß der Rattenfänger Mimines Harmlosigkeit erkennen würde. Andererseits war er jedoch ein Fanatiker, der wahrscheinlich lieber einen Unschuldigen strafte, als ein potentielles Dämonenopfer laufenzulassen. Ich hatte ja gesehen, wie kaltblütig er Sady gekillt hatte. 161
„Und wo trifft Carmichael den Rattenfänger?“ „Im Keller des Buccoo Reef Hotels soll der Dämon ausgetrieben werden…“ Das genügte mir. Ich versetzte mich in einen schnelleren Zeitablauf und kehrte zur Treppe zurück. Dort war der Barbesitzer aufgetaucht und scheinbar zur Bewegungslosigkeit erstarrt. Da er mir den Weg verstellte, stieß ich ihn einfach zur Seite und hastete die Treppe hinauf. Oben angekommen, paßte ich mich wieder dem normalen Zeitablauf an. Das Lokal war noch immer leer. Joscoe fand ich auf Tier Straße. „Dicke Luft, was?“ empfing er mich. „Ich wollte dich ja nicht im Stich lassen, Coco. Aber Naupon hat mich mit einigen Tritten aus dem Lokal befördert.“ „Schon gut“, sagte ich. „Es ist ja nichts passiert. Ich brauche dich jetzt ohnehin nicht mehr.“ „Was ist mit Mimine?“ fragte Joscoe besorgt. „Sie scheint wohlauf zu sein“, antwortete ich. „Ich weiß jetzt, wo sie ist und werde mich um sie kümmern. Du wartest am besten, bis der Wagen geschmückt ist und bringst ihn dann mitsamt dem Kostüm zu Sir Bendix hinaus. Fahre mit ihm im Wagen mit. Dort bist du gut aufgehoben.“ „Ich darf wirklich?“ rief er vergnügt aus und schlug übermütig ein Rad. Ich bat ihn, mich auf dem schnellsten Wege zum Platz der Unabhängigkeit zu bringen. 162
Dann entließ ich ihn. Nachdem ich gewartet hatte, bis der Junge in der Menge verschwunden war, begab ich mich zum Hintereingang des Hotels. Gerade als ich den Eingang betreten wollte, kam mir ein Negerjunge mit einem großen Abfallkübel entgegen. „Nix da reingehen, Miß“, sagte er mit gefletschten Zähnen. Sein Grinsen hatte etwas Bösartiges an sich. Ich wollte mich nicht mit langen Diskussionen aufhalten und ihn kurzerhand hypnotisieren. Doch das war mir nicht möglich. Er stand bereits im Banne eines anderen Dämons. Plötzlich schleuderte er den Abfallkübel mit einem unartikulierten Aufschrei in meine Richtung. Der Deckel glitt auf und ein halbes Dutzend Hähne kamen herausgeflattert. Es waren ungewöhnlich große Exemplare. Die Schnäbel waren mit eisernen Hülsen verstärkt, die Krallen, die ebenfalls mit zusätzlichen nadelspitzen Eisendornen ausgestattet waren, waren mörderische Instrumente. Kampfhähne! Aber nicht irgendwelche, sondern Bestien im Dienste des Roten Hahnes. Blutrünstige, erbarmungslose Bestien, von magischem Haß beseelt. Der Negerjunge, der zuerst einen so harmlosen Eindruck gemacht hatte, hetzte nun die Mordhähne mit Zurufen und wilden 163
Gebärden gegen mich auf. Im Nu hatten mich die Kampfhähne umzingelt und gingen in geschlossener Formation gegen mich vor. Sie machten den Eindruck von gedrillten Soldaten: eine Armee des Bösen.
9. Ich rief mir augenblicklich alle magischen Abwehrformeln ins Gedächtnis, die mich mein Bruder Georg gelehrt hatte. Aber die meisten von ihnen – und darunter die wirksamsten – konnten nur mit gewissen Hilfswerkzeugen angewandt werden. Magische Sprüche und mit bloßen Händen in die Luft gesetzte Zeichen waren dagegen von viel geringerer Wirkung. Zudem bildeten die Hähne noch einen magischen Kreis, in dem ich gefangen war. Es war mir unmöglich, mich in einen rascheren Zeitablauf zu versetzen und mich so in Sicherheit zu bringen. Und auf Hilfe von außen konnte ich nicht hoffen. Der Hinterhof lag wie ausgestorben da. Niemand war zu sehen. Nur die heiseren Schreie des Negerjungen gellten über den Platz. Und das Scharren der metallenen Hahnensporen auf dem Beton war zu hören. Ich konnte mir vorstellen, daß die Tiere meinen Angstschweiß rochen und dadurch zu noch größerer Wildheit aufgestachelt wurden. 164
Ich stand geduckt da. Als ich in meinem Rücken ein heftiges Flattern wahrnahm, sprang ich zur Seite und fing einen der Hähne aus der Luft herunter, der zum Frontalangriff übergegangen war. Dabei bekam ich ihn an den Beinen zu fassen und erwischte ihn mit der anderen Hand am Hals. Dadurch hatte ich ihn unschädlich gemacht. Als ich das Tier erst einmal fest im Griff hatte, ließ ich es nicht wieder los. Ich hielt es wie einen Schild vor mich, während ich mich um meine Achse drehte. Die anderen Hähne ließen sich davon nicht abschrecken. Ohne Rücksicht auf ihren Artgenossen griffen sie vehement an. Die meisten Attacken konnte ich mit dem lebenden Schild abwehren, und ich spürte es an den Erschütterungen, wie sie ihre Schnäbel in den zuckenden Körper hackten. Einmal bekam ich einen Schnabelhieb gegen ein Bein und verspürte dort einen brennenden Schmerz. Als der Hahn in meinen Händen kein Lebenszeichen mehr von sich gab, schleuderte ich seinen Kadaver gegen die anderen Angreifer. In derselben Drehung stoppte ich einen der Kampfhähne mit einer Fußabwehr und wehrte den Angriff eines zweiten durch ein in die Luft geworfenes Bannsymbol ab. Der Angriff der Kampfhähne kam dadurch ins Stocken. Ihre magische Aura brach für einen Moment zusammen, so daß ich mich in einen rascheren Bewegungsablauf versetzen konnte. 165
Ich stürzte mich auf zwei nebeneinanderstehende Kampfhähne, packte sie an den Köpfen, sperrte ihre Schnäbel auf und verkeilte sie miteinander. Kaum hatte ich das geschafft, wurde mein Zeitrafferfeld auch schon durch fremdmagische Einflüsse aufgehoben. Aber nun hatte ich nur noch drei Kampfhähne gegen mich. Die beiden anderen, die ich durch meine Manipulation gegeneinander aufgebracht hatte, lieferten sich einen sehenswerten Privatkampf. In ihrer Raserei schienen sie nicht zu merken, auf was sie eigentlich losgingen und zerfleischten sich gegenseitig. Einer der Hähne stieg plötzlich wie ein Vogel in die Luft und ließ sich dann wie ein Stein auf mich fallen. Er verkrallte sich in meinen Haaren und holte mit dem eisenbewehrten Schnabel zu einem wuchtigen Schlag aus, der mir vermutlich die Stirnplatte zertrümmert hätte. Doch reagierte ich rechtzeitig und trieb ihm die Faust in den aufgerissenen Schnabel. Ich tat es mit solcher Wucht, daß meine Faust darin stecken blieb. Aber der Hahn ließ noch immer nicht mit seinen Fängen mein Haar los. Während ich mit der freien Hand eine imaginäre Barriere in der Luft errichtete, versuchte ich gleichzeitig, das im Todeskampf zuckende Tier von meinem Kopf zu zerren. Aber erst als ich ihm durch einen schwungvollen Ruck förmlich den Hals 166
umgedreht hatte, spürte ich, wie sich der Griff seiner Fänge lockerte. Der Hahn fiel flügelschlagend herab, genau vor seine rasenden Artgenossen. Nun war die magische Aura nicht mehr stark genug, um mich in Schach halten zu können. Ich bannte die beiden verbliebenen Kampfhähne in ein Zeithemmerfeld, und während sie mitsamt dem sie anfeuernden Negerjungen in ihren Bewegungen erstarrten, betrat ich schnell durch den Hintereingang das Hotel. Als ich im Gang einen Spiegel erreichte, machte ich mich etwas zurecht und besah mir die Wunde an meinem Bein. -Sie war nicht besonders schlimm, und zum Glück waren die Schnäbel und Sporen der Hähne nicht mit Gift behandelt gewesen. Trotzdem nahm ich mir vor, die Wunde bei nächster Gelegenheit mit einer Hexensalbe zu behandeln. Aber zuerst mußte ich Mimine finden. Ich konnte nur hoffen, daß der fanatische Rattenfänger sich noch nicht an ihr vergriffen hatte. Ich kam zu einem Lift und fuhr in ihm in die zweite Kelleretage hinunter. Als der Lift anhielt und die Türen aufglitten, tauchte dahinter ein Mann im Kostüm eines afrikanischen Medizinmannes auf. Er versuchte, mich durch Gesten und unverständliches Geschwätz zur Rückkehr zu bewegen. Aber ich machte kurzen Prozeß mit ihm. Ein 167
Blick – und er war hypnotisiert. „Gehörst du zu Carmichaels Leuten?“ fragte ich ihn. „Ja“, antwortete er. „Ist seine Schwester hier?“ fragte ich wieder, und nachdem er auch das bestätigt hatte, befahl ich ihm, mich zu ihr zu führen. Wir kamen durch eine Reihe von Gängen, durchquerten einen Vorratskeller und erreichten eine Metalltür, an der ein weiterer Posten stand. „Wen bringst du da mit, Vorley?“ fragte der Mann, der sich hinter einer hölzernen Dämonenmaske verbarg. Ich schlug ihm kurzerhand die Maske vom Gesicht und hypnotisierte ihn ebenfalls. „Was passiert hinter dieser Tür?“ fragte ich ihn. „Die Dämonenaustreibung hat ihren Lauf genommen“, antwortete er, „Gleich wird der Rattenfänger den heiligen Dolch in Mimines Leib stoßen, um das Böse in ihr zu töten.“ Dieser Wahnsinnige würde das Mädchen töten! Ohne lange zu überlegen, öffnete ich die Tür. Ich blickte in einen von einem halben Dutzend Fackeln erhellten Raum. In ihrem Licht sah ich eine Schar maskierter Männer einen Opferstein umstehen. Darauf lag die nackte Mimine gefesselt. Über ihr stand der Rattenfänger, der sich eine sackähnliche Kutte übergestreift hatte. Er hielt sein silbernes Stilett zum Stoß 168
erhoben. Im Hintergrund war Kettengerassel zu hören, und eine sich überschlagende Stimme rief: „Das ist Wahnsinn! Lovis, halten Sie ein! Das Mädchen ist unschuldig.“ Es war Frank Jenkins’ Stimme. Und ich sah, daß er mit Eisenketten an einen Pfeiler gefesselt war. „Wenn dieses Menschenkind rein ist und nicht von den Mächten des Bösen beherrscht wird, dann wird diese Klinge sie nicht verletzen. Ist sie aber ein Werkzeug der Mächte der Finsternis, dann wird sie durch diese Klinge wiedergeboren.“ Das war natürlich alles blühender Unsinn! Ich hatte den Rattenfänger von Anfang an nicht für einen Magier gehalten, und ich glaubte auch jetzt nicht, daß an seinen salbungsvoll vorgebrachten Behauptungen etwas dran war. Ich brauchte nicht lange, um mir zu überlegen, wie ich Mimine helfen könnte. Schnell faßte ich einen Plan, für den sich mein Kostüm einer Hohepriesterin recht gut eignete. Ich versetzte mich in einen rascheren Zeitablauf, lief zwischen den bewegungslos dastehenden Gestalten zu dem Opferstein und ergriff des Rattenfängers Hand, die das Stilett hielt. Dann ließ ich mich in den normalen Zeitablauf zurückfallen. Bei meinem Anblick entstand ein Gemurmel 169
unter den Anwesenden. „Flieht diesen Ort!“ rief ich mit verstellter Stimme. „Beinahe hättet ihr das Leben einer Unschuldigen zerstört. Wenn ihr nicht sofort die Stätte der maßlosen Verfehlung verlaßt, werdet ihr meinen ungezügelten Zorn zu spüren bekommen.“ Da ich von der Wirkung meiner Worte nicht restlos überzeugt war, bannte ich einige der Kostümierten mit meinem Blick und wiederholte speziell für diese Hypnotisierten: „Flieht! Flieht! Flieht!“ Ein Tumult brach los, und die Anwesenden stürzten in panikartiger Flucht zum Ausgang. „Das haben Sie ja prima hingekriegt, Coco“, sagte der Rattenfänger sarkastisch. „Sie kommen sich jetzt wohl sehr schlau vor, daß Sie mir ins Handwerk gepfuscht haben.“ Ich lüftete den Schleier und sagte: „Ich habe diesem unschuldigen Mädchen das Leben gerettet, das genügt mir.“ Der Rattenfänger steckte das Stilett weg und lachte spöttisch. „Glauben Sie wirklich, daß ich dieses Mädchen getötet hätte?“ fragte er dann. „Das war alles nur Schau. Ich wollte bloß den Dämon auf den Plan rufen. Aber anstatt des Roten Hahnes sind Sie aufgetaucht.“ „Dann glauben Sie mir, daß hinter all den Abscheulichkeiten der rote Dämon steckt?“ fragte ich hoffnungsvoll. Der Rattenfänger machte eine wegwerfende Handbewegung. 170
„Die Existenz dieses Dämons ist nicht mehr zu übersehen“, erklärte er. „Aber das beweist noch lange nicht die Unschuld von Makemake. Wo haben Sie denn diesen Dämon gelassen, der angeblich keiner Fliege etwas zuleide tun kann? Warum versteckt er sich noch immer vor mir, wenn er ein reines Gewissen hat?“ „Er hat sich bereit erklärt, Sie aufzusuchen“, erwiderte ich. „Aber es ist noch zu früh. Heute abend wird er kommen.“ „Dann haben wir uns einstweilen nichts mehr zu sagen!“ Er wandte sich abrupt ab und hatte es plötzlich eilig, den Ort des Geschehens zu verlassen. Ich wollte ihm noch etwas nachrufen, aber da war er schon verschwunden. Es war auch nicht so wichtig, daß ich ihm deshalb eigens nachgelaufen wäre. Ich befreite zuerst Mimine und dann Frank Jenkins von den Fesseln. Mimine blieb völlig apathisch liegen. Die Augen hatte sie wie im Schlaf geschlossen. „Diese abergläubischen Narren haben sie mit ihren Tabakdämpfen betäubt, bis sie völlig wehrlos war“, sagte Frank zornig. „Wahrscheinlich ist das sogar besser so“, erwiderte ich. „Dann hat sie wenigstens von den Geschehnissen nichts mitbekommen. Aber warum hat man dich gefesselt? Hat der Rattenfänger das befohlen?“ „Du magst ihn wohl nicht, daß du ihm so etwas unterstellst“, fuhr Frank mich 171
unerwartet heftig an. „Mimin es Bruder, dieser Wahnsinnige, hat gemeint, daß ich zusehen müsse, wie der Dämon aus seiner Schwester ausfahre. Er meinte, dieser Schock wäre heilsam für mich. Lovis Kendall konnte sich seinen Anordnungen nicht widersetzen.“ „Seine Methoden, mit denen er das Böse bekämpft, scheinen mir auch nicht sehr zielführend“, sagte ich sarkastisch. „Der Rattenfänger weiß, was er tut“, sagte Frank. Er deutete vage auf Mimine. „Was sollen wir jetzt tun?“ „Wir werden sie erst einmal auf dein Zimmer bringen, damit sie sich erholen kann.“
Wir brachten Mimine im Aufzug hoch und trugen sie von dort in Franks Appartement. Sie gab die ganze Zeit über kein Lebenszeichen von sich und rührte sich auch nicht, als wir sie auf sein Bett legten. Frank betrachtete sie mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Besorgnis. „Liebst du sie?“ fragte ich ihn. Er wurde tatsächlich rot. „Nun, ja…“ „Du brauchst wegen mir keine Gewissensbisse zu haben“, sagte ich mit tapferem Lächeln. „Was zwischen uns war, hatte für mich nicht die geringste Bedeutung. Es war nur eine Episode, nicht mehr.“ „Coco, ich kann es verstehen, wenn du 172
verbittert bist…“ „Ich habe es nicht nötig, verbittert zu sein“, unterbrach ich ihn und verließ das Schlafzimmer. Er folgte mir. „Was soll nun aus Mimine werden?“ fragte er. „Soll ich einen Arzt kommen lassen?“ „Wo sind die Heilkräuter und anderen Sachen, die Mimine für Sady gebracht hat?“ fragte ich. Frank ging zu einer Kommode und holte aus einer Lade eine Papiertüte hervor. „Da drin ist alles“, sagte er. „Die Sachen sind noch originalverpackt. Ich habe sie nicht angerührt.“ „Mimine wohl auch nicht“, sagte ich gedankenverloren. Ich fragte mich, was vorgefallen war, als das Mädchen in dieses Appartement gekommen war, um sich um den Inder zu kümmern. Hatte sie ihn noch angetroffen, oder hatte er sich bereits auf dem Weg zur Bar befunden? Vielleicht würde ich das noch herausbekommen. Aber zuerst hatte ich einige Fragen an Frank. „Ich werde mich um das Mädchen kümmern“, versprach ich. „Aber zuerst zu dir.“ Ich machte eine kurze Pause, dann fragte ich: „Als du letzte Nacht zur Badehütte hinausgegangen bist, lief dir da jemand über den Weg?“ „Wieso weißt du davon?“ „Beantworte zuerst meine Fragen.“ „Ich war allein“, sagte Frank stirnrunzelnd. 173
„Ich weiß selbst nicht, wieso ich den Drang hatte, in diese Badehütte zurückzukehren. Zuerst dachte ich, es sei deinetwegen. Doch der Gedanke an dich schmerzte mich. Verzeih mir, Coco, aber ich sage, wie es gewesen ist. Ich sah immer wieder Mimines Bild vor mir, und da wußte ich, wie ich zu ihr stehe.“ „Ich sagte doch schon, daß es mir nichts ausmacht“, erwiderte ich. „Versuche dich zu erinnern, was auf dem Weg zum Strand geschah.“ „Nichts!“ platzte er heraus. „Das heißt – ich kann mich an nichts erinnern. Ein paarmal war mir, als werde ich verfolgt. Und einmal – ja, jetzt erinnere ich mich wieder – da glaubte ich, hinter mir eine Gestalt zu sehen. Aber das muß wohl Einbildung gewesen sein. Ich habe niemanden gesehen.“ „Überhaupt niemanden? Auch nicht den Roten Hahn? Und hat dir niemand die Innereien von Geflügel ins Gesicht geschleudert?“ Frank schüttelte den Kopf. „Das müßte ich doch wissen… Bevor ich zu Mimine aufbrach, da hatte ich eine Unterredung mit dem Rattenfänger. Er war der letzte Mensch, den ich gesehen habe.“ Ich winkte ab. Mehr war wohl aus ihm nicht herauszubekommen. Sein Gedächtnis war magisch blockiert, und diese Blockade würde auch nicht in Hypnose zu durchbrechen sein. Frank trug noch immer das Hexenmal, so daß ich jederzeit mit ihm in Verbindung treten 174
konnte. „Es ist jetzt besser, wenn du gehst“, sagte ich zu ihm. „Kann ich denn nichts für Mimine tun?“ „Laß uns allein. Wenn du etwas Nützliches tun willst, dann versuche, ihren Bruder Carmichael zur Vernunft zu bringen. In seiner Verfassung wäre er eine leichte Beute für den Roten Hahn.“ „Ich werde mit ihm sprechen.“ Frank schlich wie ein geprügelter Hund aus dem Zimmer. Ich führte das darauf zurück, daß er mir gegenüber Schuldgefühle hatte. Ich hätte diese vermutlich abbauen können, wenn ich ihm gestanden hätte, daß ich es sogar gewesen war, die ihn in die Arme von Mimine getrieben hatte. Nachdem er fort war, schloß ich das Zimmer ab und bedachte das Türschloß zusätzlich mit einer magischen Sperre. Dann ging ich ins Schlafzimmer, die Tüte unter dem Arm. Mimine lag noch immer wie schlafend auf dem Bett. Ich schüttete den Inhalt der Tüte auf einem Beistelltischchen aus und betrachtete ihn. Es war alles da, was ich Mimine aufgetragen hatte, Nachtschattengewächse, Wurzelwerk, Krauter und noch viel mehr. Es reichte jedenfalls, um fast jede Art von Heilsalben zu mischen, Gifte zu pressen, die eine ganze Kompanie Soldaten umbringen konnten, oder auch um Tinkturen oder Säfte zu gewinnen, mit denen man alle Bewohner dieses Hotels 175
nach Belieben beeinflussen konnte. Ich wollte aber nur Mimine aus ihrer Lethargie reißen. Deshalb ging ich ins Badezimmer, befeuchtete zwei Handtücher mit heißem Wasser. Damit kehrte ich ins Schlafzimmer zurück, legte eine kleine Auswahl von Krautern zwischen die beiden dampfenden Tücher und legte sie dem Mädchen aufs Gesicht. Sie zuckte unter den heißen Tüchern leicht zusammen. Doch das war vorerst ihre einzige Reaktion. Erst als sich nach einer Weile Kräuterdämpfe bildeten, die sie zwangsläufig einatmen mußte, kam Leben in sie. Nach einer Viertelstunde nahm ich die Kräuterkompresse ab. „Mimine, wach auf!“ rief ich mit verhaltener Stimme. Sie öffnete die Augen, blickte sich irritiert um. Als sie sich erheben wollte, drückte ich sie aufs Bett zurück. „Wo bin ich?“ fragte sie. „In Franks Appartement“, antwortete ich. „Erinnerst du dich, daß ich dich zu Sady gerufen habe und dir auftrug, eine Auswahl von Krautern und Nachtschattengewächsen mitzubringen?“ „Ja, ich weiß“, antwortete sie. „Ich habe alles besorgt und bin auf dem schnellsten Weg gekommen. Als ich die Tür öffnete, kam mir der Inder entgegen. Er sah schrecklich aus, direkt zum Fürchten.“ „Was passierte dann?“ 176
„Er benahm sich recht seltsam“, sagte Mimine leise. „Er versicherte mir andauernd, daß er mir nichts antun wolle. Aber er ließ sich einfach nicht von mir helfen. Er sagte, daß er etwas Wichtiges erledigen müsse.“ „Sagte er nicht, was er tun müsse?“ „Doch, ich glaube schon… Aber er drückte sich nicht klar aus.“ „Was sagte er?“ „Er sagte, daß er jemanden treffen wolle, mit dem er ein Hähnchen rupfen müsse. Ja, das waren genau seine Worte. Er sagte, daß er nun wisse, wie diesem Schurken beizukommen sei.“ „Nannte er keinen Namen?“ „Nein.“ „Erwähnte er auch nicht den Roten Hahn?“ „Doch!“ Mimines Gesicht erhellte sich. „Wie konnte mir das nur entfallen? Zuletzt sagte der Inder noch, daß der Rote Hahn nun Federn lassen würde. Daß ich mich nicht sofort daran erinnerte!“ „Es ist nicht weiter schlimm“, beruhigte ich sie. „Was geschah weiter?“ „Er verließ das Zimmer, ehe ich ihn zurückhalten konnte. Ich folgte ihm, aber als ich auf den Korridor kam, war er verschwunden. Also kehrte ich in Franks Appartement zurück und wartete. Später hörte ich dann, was mit ihm passiert ist. Wie schrecklich! Ich mache mir solche Vorwürfe…“ „Du trägst nicht die geringste Schuld“, sagte ich. „Du hättest sein Schicksal nicht ändern 177
können. Und jetzt schlafe!“ Wenige Minuten später zeigten Mimines regelmäßige Atemzüge, daß sie wieder eingeschlafen war. Ich kehrte ins Wohnzimmer zurück und mixte mir einen Drink. Sady hatte also demnach gewußt, wer der Rote Hahn war. Aber anstatt sein Wissen weiterzugeben, wollte er auf eigene Faust handeln. Das war ihm zum Verhängnis geworden. Er mußte sich mit dem Dämon getroffen haben, um mit ihm zu verhandeln. Vielleicht versuchte er, sich zum Schutze seines Herrn friedlich mit ihm zu einigen. Aber es war ganz anders gekommen, als Sady es sich gedacht hatte. Zu allem kam noch dazu, daß er bereits von einer magischen Seuche befallen war. Dadurch befand er sich bereits in einer gewissen Abhängigkeit zum Roten Hahn, so daß dieser dann leichtes Spiel mit ihm gehabt hatte. Als Sady dann noch Forderungen gestellt hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Anstatt sich von ihm erpressen zu lassen, hatte er ihn endgültig in seine Gewalt gebracht. Und der Dämon hatte Sady den Auftrag gegeben, in die Bar zu gehen und über den Rattenfänger herzufallen. Möglicherweise aber hatte Sadys Attentat gar nicht dem Rattenfänger gegolten. Er mochte den Auftrag gehabt haben, mich zu töten, und der Rattenfänger war ihm nur in 178
die Quere gekommen und hatte dadurch mir das Leben gerettet. Wie dem auch war, die Wahrheit würde vermutlich nie ans Tageslicht kommen. Sady war tot – endgültig zu Asche verbrannt – und mit ihm der einzige Zeuge. Aber die Entscheidung würde bald fallen. Vielleicht schon in der kommenden Nacht. Die Omen, die die kommenden Schrecken anzeigten, waren untrüglich. Die Eskalation des Bösen würde zum Karnevalsausklang ihren Höhepunkt erreichen. Und hoffentlich würde es einen Triumph des Guten geben. Aber die Entscheidung mußte fallen, so oder so.
10. „Coco!“ Ich schreckte hoch und verfiel instinktiv in einen rascheren Zeitablauf. Erst als ich Mimine vor meinem Lager stehend erkannte, beruhigte ich mich wieder. „Was ist passiert?“ fragte ich. Da ich blitzschnell meinen Standort gewechselt hatte und nun hinter Mimine stand, wirbelte sie erschrocken herum. „Hast du mich erschreckt“, sagte sie. „Ich habe es gar nicht mitbekommen, wie du aufgestanden bist. In diesem Augenblick lagst 179
du noch schlafend da und dann…“ „Zerbrich dir darüber nicht den Kopf“, unterbrach ich sie. „Warum hast du mich geweckt?“ „Ich bin in Sorge um Frank“, sagte das Mädchen. „Joscoe hat gerade angerufen und läßt dir ausrichten, daß er den Wagen und das Kostüm bei Sir Bendix abgeliefert hat. Er fährt mit ihm in die Stadt zurück. Joscoe hat mir auch gesagt, daß unser ältester Bruder alle seine Freunde zusammentrommelt und um sich schart. Das bedeutet sicherlich nichts Gutes. Ich kann es mir nur so erklären, daß Carmichael Jagd auf Frank und mich machen will.“ „Beruhige dich wieder“, sagte ich. „Frank hat einen Schutzengel – mich. Ich werde schon dafür sorgen, daß ihm nichts zustößt. Und Carmichael werden wir schon noch zur Vernunft bringen.“ „Ich könnte mit meinem Bruder reden“, bot Mimine sich an. „Besser nicht“, lehnte ich ab. „Wenn Carmichael dir begegnet, könnte er auf dumme Gedanken kommen. Ich werde mit ihm reden und ihm die Augen über die wirkliche Gefahr öffnen.“ Das Telefon schrillte, und ich hob ab. Frank Jenkins war am Apparat. „Ist Mimine bei dir?“ fragte er besorgt. „Sie ist wohlauf“, versicherte ich ihm und zwinkerte dem Mädchen zu. Sie wollte an den Hörer, doch ich wehrte sie sanft aber 180
bestimmt ab. Sie würde schon noch Gelegenheit bekommen, mit ihrem Frank zu turteln, aber alles zu seiner Zeit. „Wo bist du jetzt? Hast du mit dem Rattenfänger alles klar gemacht?“ „Lovis hat sich einverstanden erklärt, Makemake gegen zweiundzwanzig Uhr zu treffen“, antwortete Frank. „Er erwartet ihn auf dem Platz der Unabhängigkeit. Ich soll Makemake zu ihm bringen.“ „Gut“, sagte ich zufrieden. „Gibt es sonst noch etwas?“ „Carmichael“, platzte Frank heraus. „Ich fühle mich ständig verfolgt und bin sicher, daß es Carmichaels Leute sind. Ich habe versucht, Kontakt mit ihnen aufzunehmen, aber sie weichen mir aus.“ „Ich weiß, wo du sie treffen kannst“, sagte ich. „Finde dich bei Naupons Kneipe ein.“ Ich blickte auf die Zimmeruhr, dort war es bereits Viertel vor neun; demnach hatte ich den ganzen Nachmittag durchgeschlafen. „Sei um Vierte1 nach neun dort. Ich werde ebenfalls hinkommen.“ „Und was ist mit Mimine?“ „Du kannst gleich mit ihr sprechen. Aber fasse dich kurz.“ Ich legte die Hand auf die Sprechmuschel und hielt dem Mädchen den Hörer hin. Bevor ich ihn ihr überließ, flüsterte ich ihr zu: „Verlange nicht, daß er dich hier aufsucht. Laß ihn seine Arbeit tun.“ Mimine nickte, und ich übergab ihr den 181
Hörer. Da ich das Gespräch nicht unbedingt mithören wollte, verließ ich das Appartement und fuhr im Lift hinunter. In der Hotelhalle ging es bereits hoch her. Ich warf einen kurzen Blick in die Bar, die zu meiner Überraschung gesteckt voll war. Unter den Gästen erkannte ich auch die Mitglieder einer Steelband, die jedoch ohne ihre gehämmerten Ölfässer gekommen waren. Ich ging auf die Straße und ließ mich vom Strom der Menge treiben. Sofort war ich von einem Rudel Tänzer umringt, die mich in ihren Reigen aufnahmen. Ich wollte kein Spaßverderber sein und machte das Spiel eine Weile mit, bis sich eine günstige Gelegenheit fand, unbemerkt zu entwischen. Den Weg zu der Kneipe, in der sich Carmichael mit seinen Geheimbündlern traf, kannte ich inzwischen recht gut. Dennoch kam ich nur langsam vorwärts. Die Straßen waren förmlich verstopft, und es gab kaum ein Weiterkommen. Ich war auf der Hut. Denn die Leute des Roten Hahnes konnten überall lauern – das heißt, sie konnten sich ganz offen unter die Feiernden gemischt haben, ohne daß sie auffielen. Und ich wollte jetzt nicht unbedingt in den Bann der magischen Steelband geraten. Als eine Band meinen Weg kreuzte, versetzte ich mich sofort in einen rascheren Bewegungsablauf, ohne es auf eine nähere Bekanntschaft ankommen zu lassen. Ich war 182
in dieser Beziehung ein gebranntes Kind. Als ich in die Nähe der Bar kam, rief ich in Gedanken Frank. Aber der Kontakt klappte nicht sofort. Erst als ich die Straße vor dem Lokal erreichte, spürte ich seine Ausstrahlung. Ich war ihm schon ganz nahe, und seine Gedanken kamen zweifellos aus der Bar. Plötzlich empfing ich einen geistigen Hilferuf. Und im gleichen Moment schlugen Flammen aus der Bar. Die Leute wichen schreiend zurück und hätten mich fast niedergetrampelt. Aber ich ließ mich nicht abdrängen, sondern kämpfte mir verbissen einen Weg durch die Fluchtrichtung des Menschenstromes. Die Flammen griffen rasch um sich, und im Nu brannte das ganze Haus lichterloh. Schreie gellten aus dem Gebäude, und ein Mann kam auf die Straße gerannt, aus dessen Rücken Flammen schlugen. Ich beschleunigte meinen Bewegungsablauf und brach wie ein Wirbelwind durch die Menschenmauer. Als ich auf den freien Platz kam, war der brennende Mann mitten in der Bewegung erstarrt. Ich warf meinen Umhang über ihn, um so das Feuer auf seinem Körper zu ersticken und schleppte ihn bis an den Rand der Menschenmenge. Dort erst kehrte ich mit ihm in den normalen Zeitablauf zurück. Ich nahm dem Mann den Umhang ab und erkannte Naupon. Seine Verbrennungen waren nicht besonders schlimm. „Was ist vorgefallen?“ fragte ich ihn. Aber er war viel zu verstört, um mir 183
antworten zu können, deshalb zögerte ich nicht, ihn zu hypnotisieren. Nun gab er gehorsam Antwort. „Wir hatten uns gerade alle versammelt, und dieser Frank Jenkins wollte Carmichael um eine Unterredung bitten. Da brach auf der Straße plötzlich ein Höllenspektakel los. Eine Steelband machte furchtbaren Radau, drang in mein Lokal ein und fiel über meine Gäste her. Sie trieben Carmichael, Jenkins und die anderen durch den Hinterausgang – und dann brach das Feuer aus. Ich konnte mich gerade noch ins Freie retten…“ Ich ließ Naupon liegen und rannte durch eine Nebengasse zur Hinterseite des Hauses. Dort war keine Spur mehr von der magischen Steelband zu sehen. Aber ich hatte Kontakt mit Frank. Er war noch nicht weit. Mich an seiner Ausstrahlung orientierend, nahm ich die Verfolgung auf. Plötzlich hörte ich das Gerassel und Gehämmer der magischen Steelband bereits ganz nahe vor mir. Ich lief noch schneller, ohne jedoch meine Zeitrafferfähigkeit einzusetzen, denn ich wollte meine Kräfte für später aufheben. Dieser Vorfall war doch nichts anderes als ein Zwischenspiel. Als ich auf einen freien Platz kam, bot sich mir ein phantastischer Anblick. Eine riesige Menschenmenge hatte sich eingefunden und tanzte zur Musik der magischen Steelband. Hunderte von Leuten waren den unheimlichen Calypsoklängen 184
verfallen, ohne zu ahnen, daß sie einer Massensuggestion erlegen waren. Unter den Maskierten stachen drei Dutzend Gestalten mit nackten Oberkörpern hervor, die ihre Schlegel über die gehämmerten Böden ihrer Ölfässer wirbeln ließen. Das waren die Mitglieder der magischen Steelband. Von einem erhöhten Standplatz aus sah ich, wie die Musiker eine kleine Gruppe von Leuten einkreisten. Unter dieser kleinen Gruppe erkannte ich auch Frank Jenkins. Ich glaubte schon, daß es um ihn und die anderen geschehen sei. Doch da bemerkte ich, wie ein Tumult entstand. Frank und die anderen fielen über die Musiker her. Es sah so aus, als würden sie wie auf Kommando handeln. Sie schlugen die Musiker nieder, rannten sie über den Haufen und flüchteten nach allen Richtungen. Ich orientierte mich an Frank, der das einzige bekannte Gesicht in der Menge für mich war. Carmichael hatte ich nirgends sehen können. Die Calypsoklänge wurden immer disharmonischer, woraus ich schloß, daß diese heftige und unerwartete Gegenwehr die magische Steelband des Roten Hahnes völlig aus dem Konzept gebracht hatte. Plötzlich explodierten Raketen und hüllten den gesamten Platz in einen grellen Schein, der heller als tausend Sonnen zu sein schien. Ich mußte mich geblendet abwenden. Als ich wieder aufsah, bemerkte ich Frank Jenkins ganz nahe bei mir. 185
Ich eilte zu ihm und bekam ihn an der Schulter zu fassen. Er wollte mich abschütteln, weil er mich für eine Fremde hielt. Aber als ich meinen Schleier lüftete und er mich erkannte, da hielt er an. „Coco, du?“ fragte er verwundert. „Hast du gesehen, was bei Naupons Kneipe passierte? Die Leute des Roten Hahnes haben dort Feuer gelegt. Wir konnten zwar durch den Hinterausgang flüchten, aber beinahe hätten sie uns doch noch in ihre Gewalt bekommen. Doch Carmichael weiß sich zu wehren. Das Feuerwerk hat er entzündet. Damit hat er die Musiker der magischen Steelband geblendet.“ „Und was hat Mimines Bruder weiter vor?“ fragte ich. „Ich glaube, daß ich ihn für unsere Sache gewonnen habe“, sagte Frank erregt. „Er will sich ebenfalls am Platz der Unabhängigkeit einfinden und sich Lovis Kendalls Vorschläge für eine Zusammenarbeit anhören. Carmichael hat jedenfalls erkannt, daß der Rote Hahn hinter allem steckt. Ich kann Mimine mit ruhigem Gewissen sagen, daß sie von ihrem Bruder nichts mehr zu befürchten hat.“ „Was hast du jetzt vor?“ fragte ich. „Ich werde den Rattenfänger aufsuchen und ihm über die neueste Entwicklung berichten“, sagte er eifrig. „Ich glaube, jetzt sind wir stark genug, um den Roten Hahn zu besiegen. Du mußt nur Makemake dazu bringen, daß er sich an die Abmachung hält.“ „Dafür sorge ich“, versprach ich. 186
Frank war wie ausgewechselt. Ich hätte nicht gedacht, daß er eine so stärkte Führernatur war. Ich vertraute ihm. „Gut“, sagte er. „Wir trennen uns jetzt besser. Wir treffen uns auf dem Platz der Unabhängigkeit.“ Gleich darauf war er in der Menge verschwunden. Ich machte keinen Versuch, ihm zu folgen. Irgend etwas hatte mich stutzig gemacht, ohne daß ich sofort wußte, was es war. Erst als ich mich umblickte, stach mir etwas Rotes ins Auge. Eine Gestalt, die ein rotes Federkostüm trug. Der Rote Hahn! Er mußte sich hier versteckt haben, um aus sicherer Entfernung die Geschehnisse zu beobachten. Jetzt verschwand er um eine Hausecke.
Ohne lange zu überlegen, nahm ich die Verfolgung auf. Als ich zu der Seitengasse kam, in die die rote Gestalt verschwunden war, fehlte von ihr jede Spur. Die Leute, die ich sah, machten alle einen harmlosen Eindruck. Ich fragte einige von ihnen, ob sie jemanden in einem roten Hahnenkostüm gesehen hatten, doch die meisten waren viel zu betrunken, als daß sie irgend etwas davon bemerkt hätten, was um sie geschah. Ein kleines Mädchen, das an einer 187
Plakatsäule lehnte und eine Eistüte lutschte, konnte mir dann Auskunft geben. „Mir ist das rote Kostüm sofort aufgefallen“, sagte es ruhig. „Der Mann schien es sehr eilig zu haben, denn er hätte mich fast umgerannt. Um ein Haar hätte ich mein Eis fallen gelassen. Er ist in dieses Durchgangshaus.“ Ich folgte der Richtung, die das Mädchen mir wies, und erreichte einen Laubengang, der zu einem offenstehenden Torbogen führte. Durch diesen sah ich in eine Reihe von hintereinanderliegenden Hinterhöfen, an deren Ende schließlich wieder ein Durchgang auf eine andere Straße führte. Überall lag Unrat, der aus überfüllten und umgekippten Mülltonnen gequollen war. Im ersten Moment konnte ich niemanden sehen. Doch dann hörte ich aus einem der Hinterhöfe ein Geschrei. Jemand rief: „Er ist in diesem Haus verschwunden!“ Und dann tauchten einige Burschen in recht einfachen Kostümen auf, die wie verrückt durcheinanderrannten. Und dann entdeckte ich eine Gestalt in einem roten Federkostüm, die aus dem nächsten Hof auftauchte und wie von Furien gehetzt in die entgegengesetzte Richtung rannte. Der Rote Hahn! „Da ist er!“ rief einer der Burschen. Und sie nahmen sofort wieder johlend die Verfolgung auf. Aber der Rote Hahn hatte auf der anderen Seite bereits die Straße erreicht und war in 188
der Menge untergetaucht. Die Burschen gaben die Verfolgung auf und hielten nach dem nächsten Opfer Ausschau. Da ich keine Lust hatte, von ihnen als Opfer auserkoren zu werden, durchquerte ich die Hofzeile im schnelleren Zeitablauf und hielt erst ein, als ich die Durchfahrt hinter mir hatte und wieder auf der Straße war. Dort fuhr gerade ein Korso phantastisch geschmückter Wagen vorbei. Jeder Wagen wurde von einer Steelband begleitet. Die Menge applaudierte und tanzte, kletterte auf die phantasievollen Aufbauten der Wagen. Es regnete Konfetti, Flitter und Papierschlangen. Während ich mich nach dem Träger des roten Hahnenkostüms umsah, merkte ich aus den Augenwinkeln, daß ein am Straßenrand geparkter Wagen sich in den Korso einzureihen versuchte. Das war ein recht schwieriges Unterfangen, denn der Wagenzug bildete eine geschlossene Kolonne. Zudem schien der Fahrer des Wagens – der die hochaufragende Attrappe einer Hibiskusblüte trug – sich recht ungeschickt anzustellen. Als ich dann zwischen den Papierblüten die schlanke Gestalt eines Jungen sah, der die Menge mit Papierschlangen bewarf, wußte ich Bescheid. Ich erkannte in dem Jungen Joscoe. Er winkte mir, als er mich sah und kam heruntergeklettert. „Sir Bendix hat darauf bestanden, eine Rast einzuschieben und den Wagen für eine Weile 189
hier abzustellen“, berichtete Joscoe mir, der sein Chimärenkostüm nicht ohne Stolz trug. „Und jetzt hat er sich noch selbst ans Steuer gesetzt. Das kann nicht gutgehen!“ Ich öffnete den Wagenschlag – und ein rotes Hahnenkostüm stach mir ins Auge. Aber der Träger hatte die Hahnenmaske abgelegt, so daß darunter Makemakes Gesicht mit dem Spitzbart zum Vorschein kam. „Rück rüber“, verlangte ich, und er rutschte sofort auf den Beifahrersitz und überließ mir den Platz hinter dem Lenkrad. Joscoe kletterte in den Fond. Ich schloß die Tür. Während ich versuchte, mich in die Wagenkolonne einzureihen, was mir auch relativ leicht gelang, sagte ich: „Es war nicht klug von dir, den Wagen zu verlassen, Makemake. Wie leicht hätte man dich für den Roten Hahn halten können.“ „Ich bin mir in der Enge des Wagens wie in einer Falle vorgekommen“, sagte der ehemalige Dämon kleinlaut. „Ich habe es hier einfach nicht mehr ausgehalten und habe den Wagen geparkt. Ich wollte mir nur etwas die Beine vertreten.“ „Und das wäre beinahe schlimm für dich ausgegangen“, sagte ich. „Als ich das rote Hahnenkostüm sah, glaubte ich, den Dämon vor mir zu haben. Noch dazu, wo du dich in der Nähe der magischen Steelband herumgetrieben hast. Ich hielt dich natürlich für den Anstifter und nahm deine Verfolgung auf.“ „Hör auf“, bat er und wischte sich den 190
Schweiß aus dem Gesicht. „Ich will gar nicht daran erinnert werden, was alles hätte passieren können. Als ich mich auf den Rückweg zum Wagen machte, da fiel ich beinahe einer Bande von Halbstarken in die Hände. Diese Lümmel machten sich einen Jux daraus, mich zu jagen. Ich kann dir nicht sagen, welche Angst ich ausgestanden habe. Wenn die mich erwischt hätten, wäre es mir schlecht ergangen.“ „Was für ein Glück für die Halbstarken,’ daß du nicht der Rote Hahn bist“, meinte ich spöttisch’. „Mach dich nur lustig über mich“, sagte er. Seiner Brust entrang sich ein Seufzer. „Was bin ich froh, daß du mich gefunden hast. Du bleibst doch jetzt bei mir?“ „Mal sehen“, sagte ich ausweichend. Ursprünglich hatte ich nicht vorgehabt, Kindermädchen für Makemake zu spielen, sondern ich wollte die Lage erkunden und seinen Wagen von außen gegen alle magischen Einflüsse abschirmen. Und ich war auch jetzt nicht von dem Gedanken begeistert, an seiner Seite bleiben zu müssen. Makemake hatte schon recht, in dem Wagen war man wie in einer Falle gefangen. Aber ich konnte ihm nicht gut verraten, daß er der Köder in dieser Falle sein sollte. Da hätte ihn vermutlich der Schlag getroffen. „Wo du da bist, bin ich wohl überflüssig, Coco“, maulte Joscoe in meinem Rücken. „Ich fahre euch nur bis zum Platz der 191
Unabhängigkeit“, sagte ich. „Dann überlasse ich wieder dir das Steuer, Joscoe. Und du, Makemake, verläßt den Wagen nicht mehr. Du wartest, bis ein Bote des Rattenfängers dich holen kommt und dich zu ihm bringt.“ „Um nichts in der Welt würde ich mich in diesem auffälligen Kostüm noch einmal ins Freie wagen“, sagte Makemake und zupfte mißmutig an den roten Federn seines Gewandes. „Es war eine Schnapsidee, mich mit den Federn des Roten Hahnes zu schmücken. Das kann mich das Leben kosten.“ Ich ging nicht darauf ein, sondern konzentrierte mich aufs Fahren. Wir kamen nur im Schrittempo vorwärts. Durch einige Lücken in den Wagenaufbauten konnte ich einen Teil der Straße übersehen, genug jedenfalls, um den Bentley in der Kolonne halten zu können. Mehr war auch nicht nötig. Die Kolonne kam immer wieder zum Stillstand, sei es, weil die Schaulustigen die Straße verstellten, oder eine der Steelbands die Zuschauer zu einer Tanzeinlage animierte. „Hoffentlich kommen wir noch rechtzeitig hin“, sagte Makemake. „Ich möchte das alles schon hinter mir haben. Lange halte ich diesen Streß nicht mehr durch.“ „Wir schaffen es“, beruhigte ich ihn. „Bald hast du es geschafft.“ Unseren Wagen begleitete eine Parade faszinierender und einander ständig 192
abwechselnder Gestalten. Feen und Dämonen, Häuptlinge und Königinnen, Gnome und Riesen. Braune und gelbe und schwarze und olivfarbene Gesichter wirbelten vorbei. Lachend, keuchend, quietschend, jauchzend. Schwitzend. Beine, die den Rhythmus stampften. Hämmernde und rasselnde Instrumente, die ihn dirigierten. Ausgelassenheit, Frohsinn, Ekstase. Ein Furioso des Tanzes und der Musik, oder umgekehrt. Teufelsfratzen und schöne Gesichter zu einem Reigen vereint. Zauberer, Hexen und Dämonenbestien in fröhlicher Eintracht mit antiken Heroen und Göttern, asiatischen Barbaren und afrikanischen Wilden. Das Gute und das Böse Hand in Hand. Was war Maske, was war echt? Verbarg sich der Dämon hinter den maskenhaft schönen Gesichtern? Wohnte die Kraft des Bösen in den makellos schlanken Gestalten der Tänzer, oder verbarg es sich hinter den schauerlichen Masken, die gleichsam ein grotesk verzerrtes Spiegelbild der Seelenschwärze sein mochten? Es war unmöglich, in diesem infernalischen Trubel die Ausstrahlung des Bösen zu sondieren und zuzuordnen. Es war ein wahrer Hexenkessel der Emotionen. Endlich erreichten wir den Platz der Unabhängigkeit. „Geh jetzt du ans Steuer, Joscoe“, sagte ich zu dem Jungen im Fond. „Ich werde mich ein 193
wenig umsehen.“ „Du kannst mich nicht allein lassen, Coco“, jammerte Makemake. Ich lächelte ihn unschuldig an. „Spricht so der Meister zu seiner Schülerin? Was wird mein Vater von dir denken, wenn ich ihm sage, daß du mich nichts weiter als Angst gelehrt hast?“ „Sei nicht so grausam, Coco“, jammerte der ehemalige Dämon weiter. „Du weißt, daß ich dir vertraut habe, sonst hätte ich meine Unzulänglichkeit dir gegenüber nie eingestanden. Und ich würde lieber sterben, als mit dem Wissen zu leben, daß man in der Schwarzen Familie meine Schwäche kennt.“ „Beruhige dich wieder“, sagte ich ungehalten. „Ich lauf dir schon nicht davon. Ich bleibe in der Nähe. Reiß dich zusammen, Makemake. Dies ist die Stunde der Entscheidung.“ Ohne mir sein Gejammer noch weiter anzuhören, stieg ich aus dem Wagen und überließ Joscoe das Steuer, der nach vorne geklettert war. Auf dem Hauptplatz war die Hölle los. Die Menschenmassen, die sich aus allen Teilen der Stadt und der gesamten Insel ins Zentrum wälzten, vereinigten sich hier zu einem dichten, wogenden, unentwirrbaren Knäuel. Die Menschenmasse prallte vor und zurück. Die konkurrierenden Steelbands schienen sich gegenseitig mit ihren Rhythmen zerschmettern zu wollen. Der Lärmpegel stand 194
weit über der Schmerzwelle. In dieser Masse von zuckenden, schwitzenden Körpern konnte man sich nur treiben lassen, und man mußte froh sein, nicht erdrückt zu werden. Man kam sich vor wie im Schmelztigel eines Magiers, der alles, was menschliche Psyche und Physis zu bieten hatte, zu einem einzigen Gemisch verarbeiten wollte. Und dabei kam der Karneval von Trinidad heraus. „Coco!“ Irgend jemand rief meinen Namen, doch ging der Laut sofort wieder in dem allgemeinen Lärm unter. Ich reckte meinen Hals, um den Rufer in der wogenden Menge zu entdecken. „Coco!“ Da war der Ruf wieder. Und ich sah, wie ein Arm aus der Menge gereckt wurde. Der dazugehörige Körper mit dem verschwitzten Gesicht und dem zerrauften Haar gehörte keinem anderen als Frank Jenkins. Irgendwie schafften wir es und fanden zueinander. Aber als wir uns gegenüberstanden, erkannte ich, daß wir dieses Wunder, uns zu finden, nicht aus eigener Kraft geschafft hatten. In Franks Begleitung befand sich der kleine, drahtige Carmichael und einige weitere Männer, die uns gegen den Druck der Menge absicherten. „Geschafft“, sagte ich erleichtert. „Aber willst du mir verraten, wie wir von hier jemals wieder fortkommen?“ 195
„Carmichael wird sich um dich kümmern“, sagte Frank humorlos. „Meine Aufgabe ist es, Makemake zum Rattenfänger zu bringen. Alles andere wird Carmichael dir erklären. Er ist unser Mann.“ Ich blickte Mimines ältestem Bruder in die Augen und hatte sofort Zutrauen zu ihm. Aber mit Frank schien irgend etwas nicht zu stimmen. Warum hatte ich seine Ausstrahlung nicht gefühlt, als er mir in der Menge so nahe war? Er trug immer noch mein Hexenmal. Oder etwa nicht mehr? Ich versuchte, mit Frank geistigen Kontakt zu bekommen – doch da prallte ich entsetzt zurück. Etwas Fremdes, durch und durch abstoßend Böses, ging von ihm aus. Und ich wußte: Er stand im Banne des Dämons. Frank war nicht mehr er selbst, sondern ein Sklave des Roten Hahnes. „Frank Jenkins ist ein Dämonendiener!“ schrie ich Carmichael zu. „Faßt ihn, bevor er Unheil anrichten kann.“ Carmichael schaltete rasch. Er schickte seine Leute aus, damit sie Jenkins wieder einfingen. Aber ich wußte, daß ihnen das nicht mehr gelingen würde. Er hatte bereits einen zu großen Vorsprung. In Carmichaels Schlepptau erreichte ich den mit der Hibiskusblüte geschmückten Bentley. Der Wagen war leer. Aus der Hibiskusblüte rief Joscoe übermütig herunter: „Den Alten sind wir los. Frank hat ihn vor eine paar Minuten abgeholt, um ihn zum 196
Rattenfänger zu bringen.“ „Das wird er wohlweislich nicht tun“, sagte ich erschüttert. „Das war nur ein Vorwand. Als Sklave des Roten Hahnes hat Frank mit Makemake etwas ganz anderes vor. Wie konnte das nur passieren, Carmichael?“ „Ich kann es mir auch nicht erklären“, sagte der Bruder von Joscoe. „Wir waren die ganze Zeit über bei Frank und haben ihn nicht aus den Augen gelassen. Wir sind ihm nicht von der Seite gewichen und hätten es gemerkt, wenn ein Fremder sich an ihn herangemacht hätte. Aber er hatte mit niemanden Kontakt.“ „Bist du ganz sicher, Carmichael?“ drang ich in ihn. „Denke scharf nach. Ist irgend etwas Ungewöhnliches vorgefallen? War Frank vielleicht für einige wenige Minuten allein?“ „Nein.“ Carmichael schüttelte entschieden den Kopf. „Er war keine Minute allein – er ging nicht einmal auf die Toilette. Ich bin sicher, daß kein Fremder an ihn herangekommen ist. Er war unter ständiger Aufsicht meiner Leute, abgesehen von dem kurzen Gespräch, das er mit dem Rattenfänger geführt hat.“ „Und hat er bestimmt zu niemandem anderen als zum Rattenfänger Kontakt gehabt?“ fragte ich. „Das kann ich beschwören“, versicherte Carmichael, und ich glaubte ihm. Ich hatte die ganze Zeit über eine bestimmte Ahnung gehabt. Aber jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich durchschaute mit einem Schlag die Zusammenhänge und 197
erkannte die ganze schreckliche Wahrheit.
11. „Wo habt ihr euch mit dem Rattenfänger verabredet?“ fragte ich Carmichael. „Der Rattenfänger trifft sich am Stadtrand mit seinen Auftraggebern“, antwortete Carmichael. „Dort gibt es ein Zelt, in dem Hahnenkämpfe stattfinden. Der Rattenfänger hofft, daß er dort den Roten Hahn stellen kann.“ „Der Rote Hahn ist bestimmt dort“, sagte ich überzeugt. „Aber ich glaube, es wird alles ein wenig anders kommen, als es sich der Rattenfänger gedacht hat. Schicke zwei deiner Leute zu deiner Schwester, damit sie sie beschützen. Es wäre möglich, daß der Rote Hahn Frank befiehlt, sie zu ihm zu bringen. Es wäre schön, wenn wir Mimine weitere Schrecken ersparen könnten.“ Carmichael schickte zwei seiner Leute los und gab ihnen auch seinen Bruder Joscoe mit. Dann brachen wir anderen auf. Während wir uns durch die Menschenmenge einen Weg kämpften, versuchte ich Carmichael in Stichworten aufzuklären. Er war weder überrascht noch entrüstet über die wirklichen Zusammenhänge, sein Gesicht blieb ausdruckslos. Als das Zelt mit der Hahnenkampfarena vor 198
uns auftauchte, trug ich Carmichael auf, daß er mit seinen Leuten zurückbleiben sollte. „Ich möchte euch in Reserve haben“, begründete ich das. „Haltet euch vorerst heraus und greift erst ein, wenn es die Situation erfordert.“ Carmichael fügte sich meinen Anordnungen nur murrend, aber die Hauptsache war, daß er gehorchte. Als ich mich dem Zelt näherte, tauchte auch schon die magische Steelband auf. Ich wurde umzingelt und zum Eingang des Zeltes geführt. Der Rhythmus war aber nicht so zwingend, daß ich hätte tanzen müssen. Die Musiker trieben mich nur zum Zelt, und ich lehnte mich gar nicht dagegen auf. Mir bot sich ein ähnliches Bild wie bei dem letzten Hahnenkampf, dem ich beigewohnt hatte – und wo ich selbst, wenn auch unfreiwillig, mitgekämpft hatte. Diesmal wollte ich den Spieß umdrehen. Es waren dieselben honorigen Herren anwesend, und ich entdeckte unter ihnen auch den Chinesen, der mir schon beim letztenmal seine Gastfreundschaft angeboten hatte. Aber in der Ehrenloge saßen Makemake und der Rattenfänger. Makemake schien sich in seinem Hahnenkostüm sichtlich nicht wohl zu fühlen. Ich lehnte das Angebot des Chinesen, in seiner Loge Platz zu nehmen, ab, und begab mich zur Ehrenloge. „Es war kein guter Gag, Sir Bendix in ein 199
Hahnenkostüm zu stecken“, sagte der Rattenfänger vorwurfsvoll. „Wie leicht hätte ich ihn für den echten Roten Hahn halten können.“ „Als professioneller Dämonenaustreiber könnte Ihnen eine solche Verwechslung bestimmt nicht unterlaufen“, erwiderte ich spöttisch. Ich blickte mich suchend um und fragte: „Glauben Sie wirklich, daß der Rote Hahn erscheinen wird?“ „Ich habe eine Herausforderung von ihm angenommen“, antwortete Lovis Kendall. „Und bisher hatte ich immer den Eindruck, daß er nicht wortbrüchig wird. Feigheit kann man ihm bestimmt nicht vorwerfen.“. „Sie glauben also, daß er sich zum Kampf stellen wird?“ sagte ich. „Und was ist mit Ihnen, Lovis? Werden auch Sie kämpfen?“ Er blickte mich spöttisch an und meinte: „Ich kenne die Bedingungen und nehme sie an.“ „Wovon redet ihr denn eigentlich?“ fragte Makemake verständnislos, der zwischen uns saß und keinen glücklichen Eindruck machte. „Es ist die Spezialität des Roten Hahnes, seine Händel durch Kampfhähne austragen zu lassen“, erklärte ich ihm. „Er selbst schlüpft dabei in den Körper eines der Kampfhähne, und er zwingt den Geist des Kontrahenten in den Körper eines anderen Kampfhahnes. Wessen Hahn unterliegt, der ist selbst des Todes. Ich habe solch einen ungleichen Kampf schon einmal mitgemacht und bin nur mit 200
knapper Not davongekommen.“ Makemake schüttelte sich. „Das ist ja entsetzlich. Ich würde nicht auf diese Art und Weise kämpfen wollen.“ „Brauchst du auch nicht“, versicherte ich ihm. „Nicht wahr, Lovis, Sie werden den Kampf austragen?“ Der Rattenfänger lächelte undurchsichtig. „Ich werde kämpfen – und gewinnen.“ „Wo ist denn eigentlich Frank Jenkins?“ fragte ich. „Er muß jeden Augenblick eintreffen“, sagte der Rattenfänger. „Ah, da sind sie schon.“ Im Eingang des Zeltes erschienen Frank Jenkins und Mimine. Mir versetzte es bei ihrem Anblick einen Stich. Also war der Rote Hahn schneller gewesen als Carmichaels Leute. Ich bedauerte es, daß Mimine dieses Schauspiel nicht erspart blieb, aber es war nicht mehr zu ändern. Frank führte sie an der Hand um die Arena herum und brachte sie in die Ehrenloge. Als Mimine vor dem Rattenfänger stand und dessen durchdringenden Blick auf sich ruhen spürte, weiteten sich ihre Augen. Erkennen spiegelte sich darin – und namenloses Entsetzen. Der Rattenfänger schien sich daran fast zu weiden. „Was erschreckt Sie so an mir, Kindchen?“ fragte er scheinheilig. Mimines Lippen bewegten sich, aber kein Ton kam darüber. 201
„Wann beginnt endlich die Vorstellung?“ fragte ich. „Worauf warten Sie denn eigentlich noch, Lovis?“ Er sah mich fragend an. „Glauben Sie denn, daß ich den Zeitpunkt bestimmen kann?“ „Doch, ich bin der Meinung, daß Sie den sofortigen Beginn erwirken könnten“, sagte ich. „Oder wollen Sie noch länger mit uns spielen, Lovis?“ „Wie soll ich das verstehen?“ „Wenn ich darauf antworten soll, muß ich deutlicher werden.“ „Ich bitte darum.“ „Sie können den Beginn des Hahnenkampfes bestimmen, Lovis Kendall, weil Sie der Rote Hahn sind“, sagte ich fest. „Als Rattenfänger jagen Sie sich selbst. Sie sind Jäger und Gejagter gleichzeitig. Ein wahrhaft teuflisch raffinierter Plan. Aber ich habe Sie durchschaut.“
Lovis Kendall blieb gelassen. „Ich glaube, die Phantasie ist mit Ihnen durchgegangen, Coco“, sagte er ruhig. „Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen, daß ich der Rote Hahn sein könnte?“ „Das will ich Ihnen gern verraten“, sagte ich und zählte auf: „Sie haben sich schon verdächtig gemacht, als Sie für Frank und Mimine Schicksal spielen wollten. Sie haben 202
Frank die Erinnerung genommen und dafür gesorgt, daß er sich mit mir einläßt. Aber ich selbst habe Ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht und Ihnen in der Badehütte eine Falle gestellt. Ich habe mit einem Liebeszauber dafür gesorgt, daß Frank und Mimine dort zueinander finden. Und weil ich wußte, daß der Rote Hahn sich ebenfalls einfinden würde, habe ich einige magische Fallen aufgestellt. In einer davon hat sich der Rote Hahn gefangen und Spuren hinterlassen. Daraus konnte ich nicht nur ersehen, daß der Rote Hahn Frank zur Hütte gefolgt ist, sondern ich stellte fest, daß er ein Linkshänder ist und das linke Bein nachzieht. Das linke Bein, das den Abdruck eines Hahnentrittes hinterläßt! Und Sie sind ebenfalls Linkshänder, Lovis. Das hat sich deutlich gezeigt, als Sie das Stilett über Mimine zum Stoß erhoben hatten.“ „Es gibt viele linkshändige Menschen, die deshalb nicht gleich Dämonen sein müssen“, sagte der Rattenfänger unbeeindruckt. „Ich habe noch mehr herausgefunden“, fuhr ich fort. „So erfuhr ich, daß Sady, Makemakes indischer Diener, die wahre Identität des Roten Hahnes gekannt haben muß. Als er mit der magischen Seuche behaftet in Frank Jenkins’ Hotelzimmer lag, da faßte er den Entschluß, dem Dämon ein für allemal den Garaus zu machen. Er machte sich daraufhin in die Bar auf, um Sie zu stellen. Er wußte, daß Sie, der Rattenfänger, mit dem Roten 203
Hahn identisch sind. Aber Sie waren vorbereitet und machten kurzen Prozeß mit ihm. Ich habe mich später gefragt, wie Sady zu einem Untoten wurde. Jetzt weiß ich es. Sie haben ihn durch die Stichverletzung Ihres Stiletts zu einem solchen gemacht. Und zweifellos wäre auch Mimine eine Untote geworden, wenn ich nicht im letzten Moment dazwischengetreten wäre.“ „Das ist doch alles blühender Unsinn, Coco“, sagte Lovis Kendall mit spöttischem Lächeln. Er war die Ruhe selbst, siegessicher und überheblich. „Warum sollte ich mich als Rattenfänger selbst jagen?“ „Dafür gibt es eine Reihe von Gründen“, erklärte ich. „Erstens wollten Sie gegenüber Ihren Auftraggebern alle Verdachtsmomente auf Makemake abwälzen. Das konnten Sie als sogenannter Rattenfänger ausgezeichnet. Zweitens kam Ihnen diese Doppelidentität im Kampf gegen Makemake sehr gelegen. Sie konnten ihn von zwei Seiten und mit scheinbar unterschiedlichen Motiven bekämpfen. Und wie sich zeigte, hat sich das Doppelspiel ausgezeichnet bewährt. Ich selbst war so blöd, Ihnen anzuvertrauen, daß Makemake keinerlei Macht mehr besitzt. Und ich habe ihn Ihnen sogar noch in die Hände gespielt. Sie hatten wirklich leichtes Spiel, Lovis. Finden Sie nicht auch, daß Sie die Maske nun fallenlassen können?“ „Allerdings!“ Lovis Kendall sprang mit einem 204
unartikulierten Schrei von seinem Platz auf und schwang sich mit einem Satz über die Brüstung in die Arena. Noch während er durch die Luft flog, bildete sich um ihn eine Aura aus magischen Flämmchen, die schließlich zu einem rotstichigen Federkleid erstarrten, als er den Boden der Sandarena berührte. Er hatte im Sprung den linken Schuh abgestreift – und jetzt war deutlich zu sehen, daß er keinen menschlichen Fuß hatte, sondern Hühnerkrallen. „Richtig kombiniert, kleine Hexe“, rief er mir aus der Arena zu. „Nur nützt dir deine Erkenntnis nun nichts mehr. Ich habe mein Ziel erreicht.“ Er bog den Kopf zurück und lachte gackernd. Während er noch dieses schaurige Lachen ausstieß, kamen zwei Kampfhähne in die Arena stolziert. Der Dämon wirbelte herum, packte beide an den Beinen und hielt sie mit ausgestreckten Händen hoch. Der eine Hahn hatte ein feuerrotes Gefieder, der andere war weißgelb gefleckt. „Ich habe lange auf diesen Kampf gewartet, der entscheiden soll, wem die Macht über Trinidad und Tobago gehört“, rief er mit lauter Stimme, während er die beiden Hähne einander langsam näher brachte. „Sicherlich hätte sich mir schon oft Gelegenheit geboten, Makemake einfach zu vernichten, um seine Stelle einzunehmen. Doch ich wollte ihm die Chance auf einen fairen Zweikampf bieten. Und die gebe ich ihm auch jetzt, obwohl ich 205
ihn in der Hand habe. Er soll im Körper des gefleckten Hahnes gegen mich kämpfen, der ich von dem roten vertreten werde. Der Sieger dieses Zweikampfes soll Herrscher über Trinidad sein.“ Makemake wurde auf seinem Sitz ganz klein. Er zitterte am ganzen Körper. „Wie kannst du von einem fairen Kampf sprechen“, sagte der ehemalige Dämon kleinlaut. „Ich bin ein alter, schwacher Mann…“ „Du bekommst einen jungen kräftigen Körper“, rief Lovis Kendall und hielt ihm den weißgelb gefleckten Hahn hin. „Du brauchst diesen Körper nur richtig zu führen, dann hast du die gleichen Chancen wie ich.“ „Ich verfüge über keinerlei Kampferfahrung“, beteuerte Makemake. „Wenn dir soviel an der Macht liegt, dann trete ich freiwillig zurück und überlasse sie dir.“ „So einfach geht das nicht, Makemake!“ schrie Lovis Kendall. „Ich muß meine Machtansprüche auch gegenüber der Schwarzen Familie geltend machen können. Aber das kann ich nicht, wenn ich behaupte, daß du freiwillig das Feld geräumt hast. Niemand würde mir glauben. Nein, Makemake, ein Kampf über Leben und Tod soll entscheiden.“ Makemake schluckte und sah hilfesuchend zu mir. Die übrigen Zuschauer im Zelt schienen überhaupt nicht zu wissen, worum es eigentlich ging. 206
„Komm, küsse deinen Hahn, Makemake“, forderte Lovis Kendall und hielt ihm das Tier hin. „Küß den Hahn, auf daß dein Geist in seinen Körper schlüpfen kann.“ Makemake starrte gebannt auf das Tier, das ihm mit weit aufgerissenen Schnabel näher kam. Als es ihn fast schon berührte, schaltete ich mich ein. Ich errichtete um mich ein Zeitrafferfeld und drehte den Hahn zu mir herum. Während für die anderen die Zeit stillzustehen schien, stellte ich zwischen mir und dem Tier die magische Verbindung her. Es ging alles blitzschnell, schneller noch als beim erstenmal. Plötzlich sah ich die Umgebung durch die Augen des Kampfhahnes. Makemakes ängstliches Gesicht war knapp vor mir. Ich wand mich kraftvoll im Griff des Dämons, schlug mit den Flügeln und Beinen um mich, bis ich freikam und flatternd auf den sandigen Boden der Arena niedersegelte. Ich hörte das Gelächter des Roten Hahnes. Seine menschliche Gestalt mit dem rotgefiederten Kostüm trat zurück. Dafür schob sich der rote Kampfhahn vor ihn. Ich sah noch, wie die magische Steelband den Körper des Dämons in Gewahrsam nahm und ihn aus dem Zelt brachte, dann konzentrierte ich mich auf den Gegner. Der rote Kampfhahn stolzierte vor mir auf und ab. Provozierend zog er immer ein Bein nach dem anderen an den Körper und ruckte herausfordernd mit dem Kopf hin und her. Er 207
erwartete meinen Angriff, das war mir klar. Aber diesen Gefallen wollte ich ihm nicht tun. Ich wollte ihn kommen lassen. Und er kam. Seine Haltung änderte sich so urplötzlich, daß ich mich beinahe nicht schnell genug umstellen konnte. Er ging aus der Verteidigungspose unvermittelt in den Angriff über. Mir war klar, daß er mich damit nur in Sicherheit hatte wiegen wollen. Und fast wäre es ihm gelungen. Der rote Hahn kam wie ein Wirbelwind auf mich zu. Mit zuckendem stahlbewehrtem Schnabel, mit wirbelnden Beinen und wirbelnden Flügeln. Knapp vor mir stemmte er sich in die Luft und reckte die sporenbeschlagenen Krallen gegen mich. Aber ich konnte im letzten Moment seinem Ansturm noch ausweichen. Als ich jedoch versuchte, ihm in den Rücken zu fallen, sprang ich ins Leere. Das von dem Dämon beseelte Tier hatte sich geschickt herumgedreht, so daß es mir wiederum mit der Frontpartie gegenüberstand. Und darauf war ich nicht gefaßt. Ich sah den roten Hahn zwar über mich kommen, doch konnte ich ihm nicht mehr ausweichen. Seine Krallen bohrten sich in meinen Hals, hielten ihn fest umschlungen. Ich wälzte meinen Hahnenkörper über den Boden, aber der rote Hahn ließ nicht los. Dennoch wehrte ich mich verzweifelt, war ständig in Bewegung, um ihm keine Angriffsfläche zu bieten. 208
Irgendwie gelang es mir dann doch, den Angreifer abzuschütteln. Aber als er den nächsten Angriff startete, war ich bereits viel zu müde, um ihm auszuweichen. Ich mußte ihm gezwungenermaßen Paroli bieten und warf mich mit aller Kraft ihm entgegen. Die beiden Hahnenkörper prallten aufeinander. Ich schlug mit Krallen und dem Schnabel wild um mich und spürte, wie ich immer wieder Wunden in den Körper des anderen trieb. Aber ich bekam ungleich viel mehr Hiebe ab. Es war ein mörderischer Schlagabtausch, bei dem der rote Hahn große Vorteile verbuchen konnte. Ein furchtbarer Schmerz durchraste mich, so als ob mein eigener Körper von den Schnabelund Krallenhieben getroffen worden wäre. Und mir war klar, daß diese Wunden tatsächlich mir zugefügt wurden. Wenn ich hier unterlag, wenn der rote Hahn meinen Hahnenkörper tötete, dann war das auch mein Tod. Meine Lage wurde immer aussichtsloser. Anfangs hatte ich den Kampf noch ausgeglichen halten können. Denn das Überraschungsmoment war auf meiner Seite. Offenbar hatte der Dämon mit einer geringeren Gegenwehr gerechnet, denn er mußte annehmen, daß er es mit Makemake zu tun hatte. Aber das Überraschungsmoment hatte mir keine wirklichen Vorteile eingebracht, denn der Dämon stellte sich rasch auf die neue Situation um. Er wich kurz vor mir zurück, gönnte mir 209
jedoch keine wirkliche Erholungspause, sondern nahm nur einen Anlauf für den nächsten Angriff. Ich wußte, daß ich dieser neuerlichen Attacke nicht lange würde standhalten können. Ich sah keine Möglichkeit, dem sicheren Tod durch eigene Kraft zu entgehen. Ich konnte nur noch auf Hilfe von außen hoffen. Von Makemake oder Mimine durfte ich keine Unterstützung erwarten. Der ehemalige Dämon war vor Schreck starr, und Mimine machte vergebliche Widerbelebungsversuche mit meinem Körper; sie hatte keine Ahnung, daß die scheintote Starre darauf zurückzuführen war, daß sich mein Geist in dem Körper des einen Kampfhahnes befand. Und mit Frank Jenkins war sowieso nicht zu rechnen, weil er sich im Bann des Dämons befand. Er würde erst wieder mit dessen Tode zu sich selbst zurückfinden. Aber wie die Dinge lagen, würde er den Kampf gewinnen und ich auf eine so klägliche Art und Weise sterben müssen: im Körper eines Kampfhahnes verbluten, zerschunden und gequält, gedemütigt. Der Körper des roten Hahnes prallte mit solcher Wucht gegen mich, daß ich fortgeschleudert wurde und über den Sandboden rollte. Das war der Moment, da ich mit dem Leben abschloß. Der mächtige, aufgeblähte Körper des roten Hahnes tauchte über mir auf, die Krallen 210
gespreizt, den stahlverstärkten Schnabel zum entscheidenden Hieb aufgerissen. Und dann fiel er auf mich herunter, begrub mich unter seinem Gewicht. Aber er teilte mit dem Schnabel keine tödlichen Hiebe mehr aus, verkrallte sich mit den Eisendornen nicht in meinem Körper. Er lag regungslos da, den Kopf unnatürlich verdreht, die Beine ausgestreckt. Sein Körper wurde noch von einem Krampf geschüttelt, dann rührte er sich überhaupt nicht mehr. Ich war viel zu benommen, um das begreifen zu können. Mir war das unerklärlich, und ich fragte mich, ob ich nun gesiegt hatte und wie es dazu gekommen sein mochte. Ich befand mich noch immer im Körper des Kampfhahnes, als ich mich hochgehoben fühlte. Jemand trug mich aus dem Zelt und führte mich in ein gemauertes Gebäude. Dort wurde ich hochgehalten und konnte auf einen ausgestreckten Körper hinunterblicken. Er hatte ein rotes Gefieder wie der rote Kampfhahn in der Arena. Aber der Körper war menschlich. Ich erkannte das Gesicht des Rattenfängers. Es war noch im Tode vor Haß und Wut verzerrt. Aus der Seite ragte ihm sein eigenes Stilett. Neben ihm kniete Carmichael. Ich sah noch, wie er einen Benzinkanister entleerte und dann ein Streichholz entzündete. Als die Flammen fauchend emporloderten, verlor ich die Besinnung. 211
Ich erwachte und vergewisserte mich zuallererst, daß ich mich wieder in meinem Körper befand. Mimine war bei mir. Sie lächelte, als sie sah, daß ich wach war. „Ich habe deine Wunden gepflegt“, sagte sie. „In ein paar Tagen sind sie wieder verheilt, und es werden nicht einmal Narben zurückbleiben.“ „Danke“, sagte ich. Sie erhob sich und verschwand aus dem Zimmer. Ich stützte mich auf und blickte um mich. Ich befand mich in jenem Zimmer, das Sir Winslow Bendix mir zur Verfügung gestellt hatte. Da ich mich kräftig genug fühlte, stieg ich aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Ich betrachtete mich in dem großen Spiegel und stellte fest, daß ich überall am Körper Wundmale hatte, die von Vogelklauen und Schnabelhieben herzurühren schienen. Die Wunden des Kampfhahnes hatten sich auf magische Weise auf meinen Körper übertragen. Aber zum Glück waren sie nicht tödlich gewesen. Als es an der Tür klopfte, schlüpfte ich in einen Bademantel und kehrte ins Zimmer zurück. Makemake steckte den Kopf durch den Türspalt. 212
„Komm nur herein, Makemake“, forderte ich ihn auf. Er folgte der Aufforderung und schloß die Tür hinter sich. „Ich möchte nicht mehr länger Makemake sein“, sagte er. „Ich bin es zufrieden, wenn ich als Winslow Bendix meine Ruhe habe.“ „Nun, ganz so einfach wird das nicht sein“, sagte ich. „Mit dem Sieg über den Roten Hahn hast du deinen Ruf als unbezwingbarer und kompromißlos herrschender Dämon untermauert.“ „Was soll das, Coco“, sagte er müde. „Wir beide wissen, wie es war. Warum sollen wir uns etwas vormachen? Du hast in Wirklichkeit den Dämon besiegt, und ich habe dabei nur eine jämmerliche Statistenrolle gespielt.“ „In der Schwarzen Familie wird man anderer Meinung sein“, sagte ich. „Für die Dämonen wird es gerade umgekehrt sein. Und ich werde sie in diesem Glauben lassen.“ „Es ist sehr selbstlos von dir, mir den Ruhm zu überlassen, Coco“, meinte er. „Aber ich brauche ihn gar nicht. Ich weiß, daß ich ein Feigling bin, aber es macht mir nichts aus. Ich bin darüber hinweg und habe mich damit abgefunden, daß ich kein mächtiger Dämon bin.“ „Wir beide wissen es, Makemake“, sagte ich. „Und die Bewohner von Trinidad wissen, daß du ein gutherziger Mensch und kein blutsaugender Dämon bist. Aber die Dämonen der Schwarzen Familie geht das nichts an. 213
Oder willst du, daß sie in Scharen über deine Insel herfallen und daß dich Asmodi zur Strafe noch zu einem Freak macht?“ „Nein, das will ich keineswegs“, erwiderte er. „Aber wie komme ich dazu, deine Verdienste für mich in Anspruch zu nehmen?“ „Ich will es so.“ „Warum?“ „Ich werde es dir bei einem Spaziergang erklären.“ Wir verließen das Haus und wanderten durch den verwüsteten Park, der wie ein Schlachtfeld aussah. „Vor dir liegt noch viel Arbeit, Makemake“, sagte ich. „Aber vielleicht kann ich noch eine Weile bei dir bleiben und dir beim Wiederaufbau helfen. Ich werde nach Hause jedenfalls berichten, daß du mir ein guter Lehrmeister bist. Ich werde meinem Vater ein Loblied über dich singen, daß er nicht anders kann, als mich noch für einige Wochen bei dir zu lassen. Ich bin froh, daß du kein schrecklicher Dämon bist und daß du keine Schandtaten gegen die Menschen von mir verlangst. Denn ich will alles andere, als eine Hexe zu werden, auf die meine Sippe stolz sein kann.“ „Ich verstehe dich, Coco“, sagte Makemake. „Ich kenne jetzt deine Wünsche und werde sie achten. Von mir brauchst du bestimmt nicht zu befürchten, daß ich dich zum Bösen beeinflusse.“ Wir waren uns einig. Und ich hoffte auf ein 214
paar unbeschwerte Tage. Auch wenn der Karneval vorbei war, freute ich mich auf einen Urlaub ohne Dämonen und Schwarze Magie.
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