Alice Alderwood
Die Sichel des Druiden
Irrlicht Band 353
»Melissa! Wachen Sie auf!« murmelte er mit rauher Stimme. ...
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Alice Alderwood
Die Sichel des Druiden
Irrlicht Band 353
»Melissa! Wachen Sie auf!« murmelte er mit rauher Stimme. Er hätte sie gerne von diesem grauenhaften Ort fortgebracht, doch er wollte sie nicht bewegen… So blieb er einfach neben Melissa hocken und nahm ihre Hand in seine. Sanft streichelte er ihre Finger und sah gebannt in Richtung des Höhleneingangs. Richie fror plötzlich. Er glaubte fast körperlich zu spüren, daß irgend etwas Unerklärliches im Fels lauerte. Seine Augen wanderten mit dem schmalen Lichtkegel der Lampe über die Höhlenwände. Er konnte Rußspuren von Fackeln erkennen, die schon vor mehr als zweitausend Jahren erloschen waren. Der junge Mann vermied es, die geschändeten Überreste der hier zur ewigen Ruhe Gebetteten anzuleuchten. Er spürte förmlich, wie die bleichen Totenschädel ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrten. Der Gedanke an die verwitterten Gebeine von Mensch und Tier ließ ihn wieder frösteln.
Melissa Weston zuckte erschrocken zusammen, als die Türglocke schellte. Um diese Zeit erwartete sie nun wirklich keine Besucher. Ärgerlich musterte sie ihr Antlitz im Spiegel. Sie hatte sich gerade den Lidstrich nachziehen wollen, nun war die schwarze Farbe völlig verwischt. Dieses Ergebnis befriedigte sie überhaupt nicht. Melissa warf sich hastig den Morgenmantel über, schließlich konnte sie die Tür nicht so spärlich bekleidet, wie sie um diese Zeit gewöhnlich war, öffnen. Kaum hatte die junge Frau den Schlüssel im Schloß gedreht und die Klinke heruntergedrückt, als ihr auch schon der frühe Besucher entgegenstürmte. Der junge Mann war offensichtlich äußerst gut gelaunt, er nahm Melissa um die Hüften und küßte sie heftig. Sie stemmte ihre Hände gegen seine Brust und versuchte, ihn zurückzuschieben, was ihr natürlich nicht gelang. »Henry! Laß mich los!« schnappte Melissa nach Luft. Sie trommelte mit ihren Fäusten gegen seine Brust, bis er sie freigab. Ein kurzer Blick zum Spiegel zeigte ihr, daß ihr Makeup nun vollständig verwischt war. Sie seufzte tief auf und ergab sich ihrem Schicksal. Henry Handers war sonst kein Mann, der zu Gefühlsausbrüchen neigte, schon gar nicht früh am Morgen. Es mußte etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein, was den jungen Wissenschaftler in diese beschwingte Stimmung versetzt hatte. Henrys Hände krochen nun unter Melissas Morgenmantel, seine Lippen berührten sanft die Haut an Melissas Hals. Die Begierde ihres Freundes verblüffte die junge Frau nun völlig. Normalerweise war Henry ein äußerst korrekter und beherrschter Doktorand. Die Archäologie war eigentlich keine Wissenschaft, die solche Ausbrüche heftiger Leidenschaft sonderlich förderte. Es mußte sich also etwas ereignet haben,
was ihn in solche Aufregung versetzt hatte, daß Melissa ihren langjährigen Gefährten nicht wiederzuerkennen glaubte. »Henry, ich muß ins Büro!« versuchte sich die Frau erneut zu befreien. Doch Handers zog Melissa noch enger an sich, soweit das überhaupt noch möglich war. »Du nimmst dir frei! Am besten gleich für einige Wochen!« raunte er ihr ins Ohr. »Henry Handers! Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden!« Melissa schob jetzt den jungen Mann energisch von sich. »Ich habe keinen Job, den ich einfach mal sausen lassen kann, nur weil es dir so paßt!« Das war ein Seitenhieb auf Henrys finanzielle Situation. Diesbezüglich brauchte er sich überhaupt keine Gedanken zu machen, seine äußerst wohlhabenden Eltern hatten ihm nicht nur das Studium finanziert, sondern kamen auch für die sonstigen Einfälle ihres Sohnes auf. Dabei kannte Henry keine Grenzen. Für seine Doktorarbeit hatte er sogar eine eigene Ausgrabung geplant. Mit zäher Beharrlichkeit hatte er dazu von den unmöglichsten Behörden die Genehmigungen eingeholt. Offensichtlich hing seine morgendliche Begeisterung mit diesem Projekt zusammen, einen anderen Grund konnte sich Melissa nicht vorstellen. Obwohl sie Henry nun schon seit fast vier Jahren kannte, hatte er sie noch immer nicht für die alten Scherben und Knochenreste begeistern können, mit denen er sich ständig beschäftigte. »Du kannst alles, meine Liebe! Ich stelle dich ganz offiziell als meine Assistentin ein, zumindest für die Zeit der Ausgrabung! Heute morgen hatte ich die letzte Genehmigung im Briefkasten!« Melissa rollte mit den Augen. Die Vorstellung, vielleicht wochenlang mit Henry irgendwo draußen auf dem Lande zu kampieren und Tonscherben zu numerieren, löste keine
Begeisterung in ihr aus. Doch so direkt wollte sie das Henry auch nicht beibringen. »Wie stellst du dir das vor, Henry?« fragte sie also sachlich und zog ihren Morgenmantel wieder vor der Brust zusammen, nachdem es ihr gelungen war, sich ganz aus seinen Armen zu winden. »Ganz einfach, Melissa! Du nimmst dir frei, packst einige Sachen zusammen und fährst morgen mit mir los!« Henry grinste wie ein kleiner Junge, der zum erstenmal ohne seine Eltern verreisen darf. Dann begann er zu schwärmen: »Habe ich dir schon erzählt, daß ich einen keltischen Grabhügel öffnen kann? Stell dir vor, das Grab liegt so einsam in einer unwirtlichen Gegend, daß es unberührt sein könnte! Das Ergebnis einer solchen Grabung würde nicht nur für meine Doktorarbeit reichen, sondern für eine jahrelange wissenschaftliche Tätigkeit Material liefern!« Diese Aussicht erfüllte Melissa schlichtweg mit Entsetzen. Henry war ein lieber Junge, sie hatte ihn auch sehr gern, aber wenn es um seine Studien ging, mangelte es ihr völlig an Verständnis. Alte Gräber zu durchwühlen, das war in ihren Augen allenfalls etwas für Totengräber, aber keine Arbeit für einen gestandenen Mann. Henry konnte an ihrem Gesicht ablesen, was sie von der Angelegenheit hielt. Lächelnd nahm er Melissa in die Arme. Mit wissenschaftlichen Argumenten war die junge Frau nicht zu überzeugen. Handers wußte aber andere Mittel, die ihm durchaus geeignet schienen, Melissa von der Notwendigkeit ihrer Assistenz zu überzeugen.
*
Melissa stand vor dem Wohnwagen und musterte die Umgebung. Die hügelige Wiesenlandschaft wurde nur selten von kleinen Baumgruppen und ab und zu von kahlen, aus dem Boden ragenden Felsbrocken unterbrochen. Schafe weideten hier und dort, zu kleinen Herden zusammengedrängt. Die Tiere waren sich selbst überlassen in der Einsamkeit der Landschaft. Das nächste Dorf war über fünf Meilen entfernt. Wohin hatte Henry sie nur geschleppt! Melissa ärgerte sich, daß sie schließlich doch ihre Sachen gepackt hatte und am frühen Morgen zu Henry in den Caravan gestiegen war. Henry Handers hatte sein Lager auf einer ebenen Wiesenfläche errichtet. Etwa zwanzig Studenten begleiteten ihn, die meisten von ihnen waren zum erstenmal an einer Ausgrabung beteiligt. Melissa beneidete sie um den Ausdruck der Begeisterung in ihren Gesichtern. Sie konnte nichts Aufregendes an der Wagenburg finden, die Henry aus den Wohnwagen hatte aufstellen lassen. Wenigstens sollte ein Generator für einen Hauch von Zivilisation sorgen. Henry rannte aufgeregt auf und ab, gab Anweisungen, scherzte mit seinen Helfern. Melissa hatte ihn selten so voller Ekstase gesehen. Sie sah auf den Hügel, der die angebliche wissenschaftliche Sensation bergen sollte. Außer, daß das Gelände mit einigen rot-weißen Bändern abgesteckt war, unterschied sich die flache Bodenerhebung in nichts von den anderen Hügeln ringsum, auf denen friedlich die Schafe weideten. Melissa nahm sich einen der Campingstühle aus dem Caravan, klappte ihn auf und setzte sich. Sie wußte nicht, warum sie sich auch an der allgemeinen Aufregung beteiligen sollte. Erst nach einiger Zeit fand sich Handers wieder bei ihr ein. Seine Augen leuchteten. Er küßte Melissa auf die Stirn. »Ist es nicht wunderbar? Morgen können wir beginnen und das Grab anschneiden!«
Melissa fand Henrys Fachausdrücke scheußlich. Anschneiden! War ein Grab vielleicht so etwas wie ein Kuchen? Dennoch lächelte sie ihn an. Er war so glücklich, dieses Projekt in Angriff zu nehmen, daß sie ihn nicht mit der bissigen Bemerkung, die ihr schon auf der Zunge gelegen hatte, verärgern wollte. Sie brachte es sogar fertig, so etwas wie Interesse zu zeigen. »Woher weißt du überhaupt, daß dieser Hügel ein Grab ist?« erkundigte sie sich. Dabei wurde ihr plötzlich bewußt, daß sie sich vielleicht auf einem Friedhof befand. Auch wenn es Hunderte von Jahren zurücklag, daß hier Menschen bestattet wurden, die Vorstellung reichte doch aus, um eine Gänsehaut auf Melissas Rücken zu erzeugen. Sie spürte, wie sich die kleinen Härchen in ihrem Nacken langsam aufrichteten. Henry konnte seine Freude, daß sich Melissa endlich einmal nach seiner Arbeit erkundigte, nicht verbergen. Begeistert hub er zu langen Erklärungen an. »Ein Bauer hat Weidepfähle gesetzt und dabei einen Schädel ausgegraben. Der gute Mann war natürlich entsetzt und rief die Polizei. Allerdings mußte sich die Mordkommission als nicht zuständig erklären. Das vermeintliche Verbrechen lag fast zweitausend Jahre zurück und war somit verjährt!« Amüsiert zwinkerte Henry der jungen Frau zu, ehe er weitersprach. »Mein Mentor an der Universität übergab mir den Fund. Aus der Lage der Grabstelle konnte ich erkennen, daß es sich um ein sogenanntes Folgegrab in einem keltischen Grabhügel handeln mußte. Manche Sippen hatten den Brauch, ihre Toten ringsum im aufgeschütteten Erdreich eines Adelsgrabes zu beerdigen. Wir wissen natürlich nicht, welche Vorstellungen damit verbunden waren, vielleicht sollten diese Toten dem im Hauptgrab Bestatteten folgen. Alles Weitere weißt du ja! Melissa, ich bin so aufgeregt! In dieser Gegend hier wurde
noch nie ein solcher Grabhügel entdeckt! Schon allein diese Tatsache ist eine wissenschaftliche Sensation!« Melissa nickte ergeben. Eigentlich interessierte es sie überhaupt nicht, wie die alten Kelten ihre Toten bestattet hatten. Und sie konnte sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren. Sie fand solche mysteriösen Dinge, wie alte Begräbnisstätten, sollte man ruhen lassen, um kein Unheil heraufzubeschwören. Die ansonsten sehr realistische junge Frau fürchtete, daß Henrys Worte uralte Geister hervorlocken könnten, die besser weiter friedlich unter dem Weidegras hätten ruhen sollen. Melissas Augen wanderten zu dem abgesteckten Hügel. Morgen früh wollte Henry mit seinen Helfern beginnen, seinen Frieden zu stören. Ein kleiner Bagger sollte die oberen Erdschichten abtragen, Schaufeln und Hacken lagen für die weiteren groben Arbeiten bereit. Für eventuelle Funde gab es winzige Kellen, Pinsel und andere Instrumente, die Melissa eher an das Handwerkszeug eines Zahnarztes, als an das Arbeitsgerät eines Archäologen erinnerten. Melissa zog ihre Jacke enger um die Schultern. Ihr war plötzlich kalt, obwohl die Sonne schien und ein milder Wind über die Hügel strich. Irgendwoher fühlte sie eine Bedrohung, sie wußte nur nicht, was sie da erschauern ließ.
*
Über dem Unternehmen von Henry Handers’ schien ein guter Stern zu stehen. Der Morgen war sonnenklar, kein Wölkchen war am Himmel zu sehen, obwohl dieser Landstrich als eine der verregnetsten Gegenden Großbritanniens galt. Melissa war viel später als Henry aufgestanden. Erst als der Lärm des kleinen Baggers und die Rufe und das Lachen der Studenten zu
ihr drangen, wühlte sie sich mißmutig aus den warmen Decken und warf einen Blick aus der Tür des Wohnwagens. Das Innere von Henrys Wagenburg war leer, alle schienen wohl damit beschäftigt zu sein, Löcher in die Landschaft zu buddeln. Einzig das schöne Wetter versöhnte Melissa mit ihrem Aufenthalt in dieser Einöde. Zweckmäßigerweise wählte sie Jeans und T-Shirt als Kleidung. Nach einem kleinen Frühstück setzte sie sich in die Sonne und döste vor sich hin. Gegen Mittag machten sich zwei der jungen Studentinnen daran, in einem riesigen Topf eine Suppe für alle zuzubereiten. Melissa sah unter den Gläsern ihrer Sonnenbrille zu den Frauen hin, die nur wenig jünger waren als sie selbst. In Shorts und kurzem Top werkelten sie kichernd mit den Küchengerätschaften. Unter der gebräunten Haut spielten Muskeln und Sehnen, für Melissa war klar, daß hier Sonnenbank und Fitneßstudio ihre Aktie am guten Aussehen der Studentinnen hatten. Doch wußte das auch Henry? Den ganzen Tag arbeitete er mit diesen Mädchen, sah, wie sie halbnackt in der Erde gruben, roch ihren Schweiß… Und das allerschlimmste war, daß sie wie gebannt an seinen Lippen hingen, wenn er über keltische Tonscherben referierte! Melissa witterte eine Gefahr. Wenn ihr Henry Handers auch zuweilen auf die Nerven ging, so liebte sie ihn doch. Sie wollte es sich zwar selbst nicht recht eingestehen, aber ein sorgenfreies Leben an seiner Seite, mit zwei oder drei Kindern, einem hübschen Haus in einer ruhigen Vorstadtgegend, das konnte sich Melissa durchaus vorstellen. Aber ihr war völlig klar, daß sie seine Liebe ständig teilen mußte. Mit irgendeiner vertrockneten altägyptischen Mumie, mit einer vorchristlichen Opferstätte, mit einem mittelalterlichen Brunnenschacht oder ähnlichen Objekten. Melissa seufzte auf. Angesichts der beiden Studentinnen, die sich mit Schulmädchenalbereien die Zeit bis zum Mittagessen vertrieben, fand sie sich damit ab, daß Henry ihr nie ganz
allein gehören würde. Ein Teil von ihm lebte ständig irgendwo in der Vergangenheit. Melissa stand von ihrem Campingsessel auf und strich sich mit beiden Händen durch ihr schulterlanges, rotblondes Haar. Sie beschloß, Henrys Arbeit mehr Interesse entgegenzubringen. Es konnte nicht sein, daß eines dieser Mädchen den ganzen Tag um Henry turtelte und mit bewundernden Augenaufschlägen seine Aufmerksamkeit erregte! Langsam ging sie in Richtung des Ausgrabungsgeländes, um nachzusehen, was sich dort inzwischen getan hatte. Melissa hatte den ganzen Morgen das typische Dieseltuckern der Maschine gehört, die Henry von einem Bauunternehmen gemietet hatte. Im grünen Teppich des Hügels klaffte eine häßliche Erdwunde. Der kleine Bagger hatte auf einer Breite von etwa fünf Metern und vom Fuße des Hügels bis hinaus zu seiner höchsten Erhebung den Rasen und die oberste Erdschicht abgehoben. Melissa konnte sehen, daß die Studenten den freigelegten Boden mit Stöcken und Richtschnur in einzelne Segmente unterteilten. Henry eilte umher und gab Anweisungen, beantwortete Fragen und ließ seine Blicke kreisen wie ein Feldherr vor der entscheidenden Schlacht. Endlich entdeckte Handers Melissa, ein Lächeln huschte über sein angespanntes Gesicht. »Hallo, Liebes!« rief er ihr zu und stieg den Hügel hinab. Ungeachtet seiner lehmigen Hände umarmte er Melissa. Mit einem Gedanken an die wohlgeformten Studentinnen ignorierte Melissa die Schmutzspuren auf ihrer Kleidung und schmiegte sich an Henry, als habe sie ihn tagelang nicht gesehen. »Wir können jetzt anfangen zu graben, Melissa! Hoffentlich birgt der Hügel auch, was ich vermute! Ich wäre schrecklich
enttäuscht, wenn der Fund des Bauern nur ein Zufall gewesen wäre!« meinte er. Die hektischen, kleinen roten Flecken auf seinen Wangen zeigten Melissa, wie aufgeregt er war. »Henry, kann ich dir irgendwie helfen? Schließlich bin ich ganz offiziell deine Assistentin!« Melissa lächelte. Sie konnte Henrys Begeisterung nicht nachfühlen, spürte aber, wie glücklich er war. Diese Ausgrabung war die erste große Herausforderung seines Lebens, die erste Arbeit, für die er ganz allein verantwortlich war. Ein liebevolles Gefühl der Fürsorge für diesen großen Jungen überflutete Melissa. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und schloß einen Augenblick die Augen. Henry störte ihre Gedankengänge. »Könnte ich dir die Liste mit den Besorgungen geben, Melissa? Im Dorf gibt es einen kleinen Laden, was dort nicht vorrätig ist, kann der Besitzer sicher bestellen! Du nimmst dir den Jeep und fährst nach dem Mittag hinein in die Ortschaft, einverstanden?« »Na sicher! Ein kleiner Einkaufsbummel tut mir immer gut!« Melissa fand die übertragene Aufgabe nicht übel. Sie war Henry dankbar, daß er nicht von ihr verlangte, hier mit ihm in der Erde herumzuwühlen. »Melissa, da wäre noch etwas!« Henry schob die junge Frau ein kleines Stück von sich, um ihr in die Augen sehen zu können. Er war plötzlich ganz ernst. »Erzähle im Dorf nur nichts von einer Ausgrabung, von einem alten Grabhügel oder ähnlichem! Ich habe uns überall als Geologen ausgegeben, die hier den Bodenaufbau studieren wollen! Es wäre gut, wenn du dich an diese Geschichte hältst, wenn du mit jemandem sprichst!« Melissa konnte ihre Verblüffung kaum verbergen. »Aber warum denn das, Henry? Ich dachte, du hast alle Genehmigungen…«
»Aber Liebes!« Fast vorwurfsvoll schüttelte der junge Archäologe den Kopf. »Das ist es nicht, Melissa! Aber erstens habe ich es mit mißgünstigen Fachkollegen zu tun, die mir niemals einen Erfolg gönnen würden! Schließlich bin ich nicht einmal graduiert! Und zweitens gibt es noch immer Leute, die ganz wild auf gewisse Altertümer sind. Sie gehören einem uralten Berufsstand an: Grabräuber!« »Grabräuber?« Melissa glaubte, nicht recht gehört zu haben. Sie hatte diese Spezies in Altägypten vermutet, abenteuerlich vermummte Gestalten mit rußenden Fackeln, die sich an wachenden Priestern vorbeischlichen, um der soeben bestatteten Königin den Goldschmuck zu stehlen. Aber hier, mitten im zivilisierten Großbritannien, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts? Melissas Gesicht war offensichtlich anzusehen, welche Gedanken durch ihren Kopf geisterten. Denn Henry schüttelte lächelnd den Kopf. »Melissa, ich meine es tatsächlich ernst! Du glaubst gar nicht, welche Unsummen auf dem Schwarzmarkt für prähistorische Kostbarkeiten geboten werden! Das gilt vor allem für die Werke von Volksgruppen, die uns recht wenig derartige Kulturgüter hinterlassen haben, wie eben die keltischen Stämme! Sollte sich in diesem Hügel tatsächlich ein unberührtes Fürstengrab mit entsprechenden Beigaben befinden, ist der Fund nicht nur in wissenschaftlichem Sinne unschätzbar!« »Wir sind also Geologen!« meinte Melissa trocken nach dieser Belehrung. Sie konnte sich trotzdem nicht vorstellen, daß es kriminelle Elemente gab, die ausgerechnet auf Henrys noch nicht gemachte Funde wild waren. Sicher fürchtete er nur die Fachkollegen, die ihn mit Spott überschütten würden, sollte sich die Grabung als Irrtum erweisen und nichts anderes als Erde und Steine aus dem Hügel fördern würde. Aber warum
sollte sie Henry nicht den Gefallen tun? Eine geologische Untersuchung würde bei den Bewohnern des Dorfes auch nicht soviel Neugierde hervorrufen wie eine Graböffnung. Melissa erschauerte wieder, obwohl sie in der prallen Mittagssonne stand. Eine Graböffnung! Schon allein dieses Wort ließ die junge Frau frösteln. Doch sie konnte ihr ungutes Gefühl kaum Henry mitteilen, der schon wieder unruhig zu seinen studentischen Helfern hinsah. Er würde ihr auch nichts anderes entgegnen, als sie sich selbst schon gesagt hatte, als diese eigenartige Empfindung zum erstenmal in ihr aufkeimte: Wenn hier jemand begraben lag, dann war er vor etwa zweitausend Jahren gestorben. Eine solche lange Ruhe wurde heutzutage niemandem mehr gegönnt, wenn man ihn zu Grabe trug! Melissa versuchte, die unangenehmen Gedanken zu verscheuchen. Sie schlang ihre Arme um Henry und küßte ihn auf die Wange. »Also gut, Henry Handers! Die Assistentin deiner geologischen Expedition wird sich also dann in die finsteren Hütten der Eingeborenen begeben und die befohlenen Einkäufe tätigen!« ulkte sie. Vorerst war Melissa mit sich zufrieden. Sie hatte sich bei Henry bemerkbar gemacht, hatte Interesse an seiner Arbeit gezeigt. Trotzdem nahm sie sich vor, die adretten Studentinnen gut im Auge zu behalten.
*
Das Dorf lag friedlich in der Abendsonne. Melissa hatte auf einem Schild den Namen des Fleckens entdeckt: OakHallfield. Die allgegenwärtigen Schafe grasten am Straßenrand, und Melissa konnte nur knapp mit dem Jeep einem dösenden Hund ausweichen, der sich mitten auf der
Fahrbahn niedergelassen hatte. Den kleinen Laden fand sie sofort, es war ja die einzige Einkaufsmöglichkeit in der Ortschaft. Als sie am Straßenrand parkte, konnte sie am Wackeln der Gardinen an den Fenstern ringsum erkennen, daß es nicht oft vorkam, daß ein Auto mit fremdem Nummernschild im Dorf hielt. Melissa fühlte sich nicht wohl unter diesen Blicken, die sie von allen Seiten auf sich spürte. Dennoch war die Straße menschenleer, niemand war zu sehen. Die junge Frau sah sich nochmals um, musterte die kleinen Häuser mit den tiefgezogenen Dächern, die sich ängstlich auf den Boden zu ducken schienen. Von mächtigen Eichen, wie der Ortsname verkündete, war nichts zu sehen, außer den Obstbäumen in den Bauerngärten und dem alten wuchtigen Kirchturm überragte nichts die Häuser des Dörfchens. Melissa zuckte mit den Schultern und drückte die Klinke der Ladentür nieder. Sie fand sich in einem Sammelsurium von Waren wieder. Zwischen landwirtschaftlichem Gerät, Kleidungsstücken und Bergen von Kartons entdeckte sie schließlich einen Ladentisch, der schon bessere Zeiten gesehen haben mußte. Einen Verkäufer konnte Melissa allerdings nirgends erblicken. »Hallo, ist hier jemand?« rief sie mit heiserer Stimme. Ihr war unheimlich zumute in dem düsteren Geschäft, das sie mehr an ein Museum als an einen Verkaufsraum erinnerte. Die ausgeblichene Inschrift an der Fassade hatte einen Jonathan Hammersmith als Geschäftsinhaber ausgewiesen. »Mr. Hammersmith! Hallo!« Melissa fand ihren Auftrag, die Einkäufe für Henry zu erledigen, mittlerweile gar nicht mehr so lustig. Endlich regte sich etwas im hinteren Ladenraum. Das Halbdunkel in diesem Bereich des Stores und die aufgetürmten Kisten machten es Melissa nicht möglich, zu sehen, wer dieses Knarren und Knirschen verursachte. Es hörte sich an, als würde jemand bedächtig eine uralte Holztreppe
hinabsteigen. Endlich wurde Melissa des Mannes ansichtig, der diese Geräusche verursacht hatte. Einem unbeteiligten Zuschauer wäre schwergefallen zu entscheiden, wer überraschter war: Der Geschäftsinhaber über die unvermutete Kundschaft oder aber Melissa über die Erscheinung des älteren Mannes, der sich nach der ersten Verblüffung vorstellte: »Hammersmith ist mein Name, wie Sie schon richtig bemerkten, Miß! Was führt Sie in meinen bescheidenen Laden?« Melissa starrte noch immer Hammersmith an. Der Mann mußte über zwei Meter groß sein. Er zog seinen Kopf ein und ließ die Schultern hängen, wohl um kleiner zu wirken. Langsam und vorsichtig bewegte er sich durch seine gestapelten Vorräte, als fürchte er, mit seinen schlaksigen Gliedmaßen irgendwo anzustoßen. Auf seinem langen schmalen Schädel sprossen noch einige wenige verirrte Haarbüschel von unbestimmter Farbe. Geduldig wartete er, mit beiden Händen auf die Ladentheke gestützt, bis sich Melissa wieder gefaßt hatte. »Guten Tag!« brachte sie endlich über ihre Lippen. »Haben Sie diese Waren hier auf Lager?« Melissa schob der Einfachheit halber Henrys Einkaufsliste auf dem staubigen Holz des Ladentisches in Richtung der dünnen Finger Hammersmiths. Wie überdimensionale Spinnen senkten sich die Hände des Mannes über das Papier. Mit gewichtig nickendem Kopf studierte er die Wünsche Henry Handers’. »Miß, Sie haben aber eine große Familie! Einige dieser Lebensmittel müßte ich erst besorgen, weil sie hier selten und vor allem nicht in dieser Menge gekauft werden. Können Sie morgen wiederkommen, oder sind Sie auf der Durchreise?« Melissa spürte in dieser Frage die Neugier des Händlers. Irgendeine Erklärung mußte sie jetzt abgeben, sonst würden
die wildesten Gerüchte in dem Dorf kursieren, noch bevor sie mit dem Jeep das letzte Haus hinter sich gelassen hatte. Warum sollte sie sich nicht der von Henry vorgeschlagenen Notlüge bedienen? Die junge Frau versuchte ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. »Die Lebensmittel sind für eine Studentengruppe, die hier in der Gegend geologische Studien betreibt. Es geht um Bodenaufbau, Gesteinsformationen und solche Sachen. Ich verstehe leider nichts davon, ich bin nur die Assistentin des Gruppenleiters!« sagte Melissa wie beiläufig. »Natürlich kann ich wiederkommen, wenn Sie die Waren besorgt haben!« »Morgen nachmittag können Sie alles abholen, Miß!« Auch Hammersmith versuchte ein Lächeln, was aber eher furchteinflößend ausfiel und ein schadhaftes Gebiß entblößte. Melissa mußte sich zusammenreißen, um nicht schockiert zurückzuschrecken. Sie schluckte heftig und schloß für einen Moment die Augen, dann hatte sie sich wieder soweit in der Gewalt, um wieder mit dem seltsamen Händler zu reden. »Danke, ich komme also morgen um die gleiche Zeit wieder!« erklärte die junge Frau. Sie wußte selbst nicht, welcher Teufel sie ritt, als sie dem seltsamen Mann noch eine Frage stellte: »Mr. Hammersmith, ich habe hier keine einzige Eiche gesehen, woher kommt dieser eigenartige Ortsname?« »Oh, Miß, dafür soll es früher hier genug gegeben haben! Mächtige Bäume, ganze Dome uralter Eichen! Undurchdringliche Wälder müssen das Land bedeckt haben! Aber das ist lange her, sicher haben schon die alten Römer begonnen, alles abzuholzen!« Hammersmith grinste, sein Gesicht verzog sich zu einer Fratze. Schon allein diese Grimasse, die wohl Freundlichkeit ausdrücken sollte, bewog Melissa, den eigenartigen Laden so schnell als möglich zu verlassen. Sie rief Hammersmith noch ein eiliges Abschiedswort zu und holte tief Luft, als sie endlich wieder im
Sonnenlicht auf der Straße stand. Der muffige Geruch und die düstere Atmosphäre in Hammersmith’ Reich hatten ihr fast den Atem genommen. Melissa beeilte sich, den Motor des Jeeps zu starten. Das Dorf verbreitete eine Art von Gastlichkeit, auf die sie gern verzichten wollte. Mit einer Staubwolke im Schlepp raste sie aus der Ortschaft, ohne Rücksicht auf die verschreckten Schafe am Straßenrand zu nehmen. Erst als Melissa Oak-Hallfield weit hinter sich wußte, nahm sie sich die Zeit, ihre Augen über die grünen Rasenhügel streifen zu lassen. Fast glaubte sie, den Urwald sehen zu können, der einst das Land von Horizont bis Horizont bedeckte. Die Worte des Ladenbesitzers hatten einen tiefen Eindruck in Melissa hinterlassen. Sie konnte sich gut vorstellen, wie anstelle der kümmerlichen Weidenbüsche oder der verfilzten Heckenrosengestrüppe jene alten knorrigen Eichen in den Himmel ragten. Melissa nahm sich vor, Henry zu fragen, ob der Geschäftsinhaber, der sich wie ein Insekt durch seinen Laden bewegt hatte, recht hatte mit seiner Erklärung.
*
»Na, wie war es beim Einkauf, meine Liebe?« Henry konnte Melissa keine schlimmere Frage an diesem Abend stellen. Sie sah ihn nur vorwurfsvoll an und stellte erleichtert fest, daß er eigentlich gar keine Antwort von ihr erwartete. Sein Gesicht war puterrot vor Aufregung und Erschöpfung. Henry war ebenso schmutzig wie seine studentischen Helfer, aber das Leuchten in seinen Augen sagte Melissa, daß er zufrieden mit dem Erreichen war.
»Ich kann die Waren morgen abholen!« meinte Melissa, ohne den seltsamen Händler mit den Spinnenhänden oder den eigenartigen Empfang in dem Dorf zu erwähnen. »Das ist gut, wir brauchen also keine Zeit damit zu verlieren, in die nächste Stadt zu fahren, um unsere Vorräte zu ergänzen!« freute sich Henry. »Es gibt nachher Arbeit für dich, Melissa! Ich werde dir nachher grob das Protokoll für unseren ersten Grabungstag diktieren! Stell dir vor, wir haben Spuren einer alten Brandstelle entdeckt! Das muß zwar noch nichts bedeuten, aber ich bin mir ganz sicher, daß dieses Feuer mit dem Hügel zusammenhangt!« Melissa glaubte nicht recht zu hören. »Wenn nun Hirten dieses Feuer entzündet haben, als sie ihre Herden hier hüteten? Woher weißt du, daß die Asche und Kohlespuren so alt sind?« Sie deutete auf die in Plastiktütchen abgepackten Proben, die säuberlich aufgereiht und numeriert auf dem Campingtisch vor ihr lagen. »Die Brandstelle lag ziemlich tief unter der Rasenschicht, muß also schon älter sein. Durch die Untersuchung der Holzkohlereste wird das genaue Alter dieses Feuers bestimmt werden können!« Henry strahlte Melissa an, als hätte er den Schatz der Nibelungen ausgegraben und nicht eine Spur dunkler Erde. Die junge Frau seufzte wieder einmal tief auf. Gegen Henrys Begeisterung für alles Alte war kein Kraut gewachsen. »Vielleicht war es ja wenigstens ein Lagerfeuer, an dem Ritter Lanzelot auf der Suche nach dem Gral rastete!« »Oh, Melissa, du hast das Zeug zum Archäologen! Deine Phantasie reicht jedenfalls für diesen ehrwürdigen Zweig der Wissenschaften!« Ungeachtet seiner durchschwitzten und schmutzigen Kleidung zog er die junge Frau an sich und küßte sie innig. Melissa ließ es nur zu gern geschehen. Nach dem
unmöglichen Einkaufsbummel hatte sie wirklich etwas Trost nötig. Als sie sich später im Wohnwagen an Henrys Seite kuschelte, fielen ihr die Worte des Mr. Hammersmith wieder ein. Obwohl Henry von den Anstrengungen des Tages bereits die Augen zufielen, mußte er doch noch Melissas Frage beantworten: »Stimmt es, daß es hier einen Urwald gab?« Henry brummte zustimmend, legte seinen Arm um Melissa und schloß die Augen zum Zeichen, daß er jetzt schlafen wollte. Die junge Frau fand noch lange keine Ruhe. Mit weit geöffneten Augen starrte sie in die Dunkelheit. Sie glaubte, den Wind in den längst gefällten Eichen rauschen zu hören, spürte, wie die Schwingen von Nachtvögeln, die längst keine Heimstatt mehr hier hatten, über den Caravan strichen. »Wenn ich jetzt noch die Wölfe heulen höre, werde ich endgültig verrückt!« flüsterte Melissa in die Dunkelheit. Es mußte an der absoluten Stille und Dunkelheit liegen, die hier draußen herrschten, daß ihre Phantasie ihr solche Streiche spielte. Melissa kroch aus dem Bett und tastete sich zum Kühlschrank. Ein Whisky mit viel Eis würde ihr das Einschlafen sicher etwas erleichtern. Die junge Frau setzte sich mit dem Glas in einen der Campingsessel. Sie ließ die Eiswürfel im Alkohol kreisen. Ihre Gedanken verwirrten sich zu einem Knäuel diffuser Bilder: Der Händler, der seinen knochigen Körper wie eine Heuschrecke bewegte, die grünen Hügel, die plötzlich vom Schatten uralter Bäume verschlungen wurden, ein Feuer, das aus der Zeit herausloderte und warnende Flammenzungen in Melissas Richtung schleuderte. Henry mußte am Morgen verblüfft feststellen, daß Melissa in reichlich unbequemer Stellung in dem Sessel schlief. Neben ihr auf dem Boden lag das leere Glas. Der junge Mann schüttelte zuerst verwundert seinen Kopf und dann seine Freundin.
»Hallo, Melissa! Hältst du es nachts nicht mehr an meiner Seite aus?« Erschrocken fuhr die Frau hoch und wußte einen Augenblick nicht, wo sie sich befand. »Mir tut alles weh, Henry!« stöhnte sie schließlich. »Kein Wunder, wenn du dir solche Schlafplätze suchst!« grinste der Archäologe. »Nun wird es aber Zeit, daß du wach wirst, Melissa! Soeben bricht ein bedeutender Tag im Leben von Henry Handers an! Den wirst du doch nicht verpassen wollen!« »Ein bedeutender Tag?« ächzte Melissa und versuchte, ihre erstarrten Glieder zu strecken. »Natürlich! Ich werde heute die ersten Funde im Grabhügel machen!« Henrys Worte waren so überzeugend, daß Melissa regelrecht der Mund offen blieb, den sie zum Gähnen aufgesperrt hatte. Ein Blick auf den strahlend blauen Himmel zeigte ihr, daß Henry ein wirkliches Glückskind war. In dieser Gegend mußten mehrere aufeinanderfolgende Sonnentage die absolute Ausnahme sein. Melissa zweifelte kaum mehr daran, daß dem jungen Wissenschaftler tatsächlich der erwartete große Fund gelang.
*
Melissa zögerte ihre Abfahrt in das Dorf bis in den späten Nachmittag hinaus. Das Wiedersehen mit dem schlaksigen Händler wünschte die junge Frau nicht gerade sehnsüchtig herbei. Sie hatte Henry nur kurz über Mittag gesehen. Er hatte sie heftig in die Arme geschlossen, mit glänzenden Augen etwas über eine Sensation gemurmelt und war, kaum daß er
etwas von dem Essen in sich hineingeschlungen hatte, wieder an seinen Hügel geeilt. Es war abzusehen, daß Henry heute nicht eher aufhören würde, in dieser Erde zu wühlen, bevor es stockdunkel war. Die Sonne neigte sich bereits dem Horizont zu und tauchte die Landschaft in ein eigenartiges Licht. Lange Schatten krochen von den Hügeln her über die Weiden. Müde lagen die allgegenwärtigen Schafe im Gras und sahen mit gelangweilten Blicken dem Jeep nach, den Melissa in Richtung Oak-Hallfield steuerte. Das menschenleere Dorf wirkte noch immer nicht sehr einladend auf Melissa, doch die Blicke hinter den Gardinen störten sie diesmal nicht so sehr. Vielleicht war es doch eine halbe Weltsensation, wenn sich ein Fremder in dem abgelegenen Flecken sehen ließ. Provozierend schaute sich Melissa nach allen Seiten um, bevor sie den Laden betrat. Hammersmith erwartete sie offenbar bereits. Er stand in der für ihn typischen gebeugten Pose hinter dem Ladentisch und starrte Melissa entgegen. »Na endlich, Miß! Ich dachte schon, daß ich auf diesem ganzen Kram sitzenbleibe! Sehr eilig brauchen diese Geologen wohl keinen Nachschub?« Hammersmith klopfte mit seinen dünnen Fingern auf die Kartons mit den bestellten Lebensmitteln, die neben ihm auf der Theke standen. Melissa sah angewidert auf diese Hände, die eine ungesunde gelbgraue Färbung aufwiesen. Deutlich traten die Adern als dunkle Stränge hervor. Die junge Frau konnte sich nicht erklären, warum sie diesen Mann so widerwärtig fand. Kein Mensch konnte etwas für sein Aussehen, auch Hammersmith nicht. Bis jetzt hatte Melissa immer geglaubt, diesbezüglich tolerant zu sein. Aber warum hatte sie bei dem Händler nur den Eindruck, er würde sie gerade so beobachten, wie ein Geier ein todwundes Her belauerte?
»Keine Sorge, das Forschungsteam wird nicht verhungern, wenn ich die Lebensmittel erst jetzt mitbringe!« antwortete sie betont munter. »Was bin ich Ihnen schuldig?« Henry hatte Melissa mit genügend Bargeld ausgestattet. »Schecks, Kreditkarten, Überweisungen auf Rechnungen hinterlassen mir zuviel Spuren!« hatte er erklärt. In Melissas Augen grenzte Henrys Geheimniskrämerei schon an Verfolgungswahn. Doch wenn sie diesen Hammersmith vor sich sah, war sie froh, ohne weiteren Aufwand die Waren bezahlen zu können. Barzahlung provozierte keine weiteren Fragen, denen Melissa vielleicht nicht so gut ausweichen konnte. Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie die Geldscheine zu Hammersmith hinüberschob. »Nein, Sie brauchen mir den Rest nicht herauszugeben, Mr. Hammersmith! Aber wenn Sie mir die Sachen vielleicht mit in den Jeep tragen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar!« Hammersmith gab eine geradezu lächerliche Figur ab, als er die Kartons aus dem Laden trug. Melissa grinste, mochte der unsympathische Händler ruhig glauben, ihr Gesichtsausdruck zeuge von besonderer Freundlichkeit. Doch wenn sie sah, wie Hammersmith Mühe hatte, nicht über seine eigenen knochigen Beine zu stolpern und mit seinen langen Armen spinnenhaft die Kisten an sich drückte, mußte sie sich das Lachen verkneifen. Der Mann war ein wenig außer Atem, als er endlich alles in dem Wagen verstaut hatte. »Diese Erdwürmer, die Geologen, was tun die eigentlich hier?« Melissa war auf diese Frage nicht vorbereitet. »Nun, die graben… untersuchen den Boden… Es sind doch nur Studenten, die etwas Praxis erfahren sollen!« stotterte sie.
Hammersmith wiegte seinen Kopf auf dem dünnen Hals hin und her. Es hatte den Anschein, als würde dieser Kopf mit der spärlichen Haartracht jeden Moment von seinen Schultern rollen. »Was gibt es denn in unserer Gegend für Geologen Interessantes zu untersuchen?« »Darum geht es doch gar nicht!« Melissa hatte sich wieder gefangen und ereiferte sich in ihrer Antwort an Hammersmith. »Die Studenten sollen nur ihre Fähigkeiten beweisen…« »… indem sie Löcher in die Landschaft graben?« unterbrach sie der Händler. Sein Kopf schnellte nach vorn, als habe er sich soeben vom Insekt zur Schlange verwandelt. Melissa fand, daß der Mann jetzt zu neugierig wurde. Sie dachte an Henrys Warnungen, seine Geschichten von Grabräubern und neidischen Kollegen. Sie sollte jetzt besser hier verschwinden, der Inhaber dieses Stores wurde ihr immer unheimlicher. »Auch das, Mr. Hammersmith, auch aus Löchern in der Landschaft kann man etwas über die Beschaffenheit des Bodens erfahren! Auf Wiedersehen!« Melissa hatte Mühe, noch freundlich zu sein. Ihre Hand zitterte, als sie den Autoschlüssel in das Schloß steckte und herumdrehte. Die Geräusche des Motors trösteten sie etwas. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß es inzwischen schon dämmerte. In wenigen Minuten würde es stockdunkel sein. Der Weg zurück zu Henrys Wagenburg führte über unbefestigte Feldwege und das letzte Stück sogar nur über Weideland. Melissa würde Mühe haben, sich nicht in den einsamen Hügeln zu verirren. Es war wirklich an der Zeit, Oak-Hallfield zu verlassen! Sie sah sich nicht mehr um, als sie, wieder eine Staubfahne hinter sich herwirbelnd, die gedeckten Häuschen hinter sich ließ. Vor seinem Geschäft stand Hammersmith, die knochigen Arme verschränkt, und sah ihr nach. Die junge Frau wäre
schockiert gewesen, hätte sie das zynische Grinsen auf seinem Gesicht gesehen.
*
Es war tatsächlich stockdunkel geworden, als Melissa die Runde der Caravans erreichte. Trotzdem war es kein Problem gewesen, sie inmitten des einsamen Weidelandes zu finden. Selbst der schwache Lichtschein, den das Lager der Archäologen ausstrahlte, drang weit in die Landschaft. Die Studenten hatten ein Lagerfeuer entfacht, die Stimmung war ausgelassen, obwohl doch alle den ganzen Tag lang schwer gearbeitet hatten. Das Lachen der jungen Leute schallte weit über die stillen Hügel. Melissa brachte den Jeep neben Henrys Wohnwagen zum Stehen und kletterte aus dem Wagen. Lächelnd sah sie sich um. Es war wohltuend, dieses Leben um sich herum zu spüren. Verglichen mit der bedrückenden Atmosphäre, die sie soeben in Oak-Hallfield hinter sich gelassen hatte, hatte sie das Gefühl, aus einer düsteren Gruft hinaus in einen mit sonnenhungrigen Menschen erfüllten Park zu gehen. »Hallo, Liebes! Ich hatte mir schon Sorgen um dich gemacht!« Henry eilte auf sie zu. Melissas Lächeln war ehrlich. Irgendwie erleichtert ließ sie sich in Henrys Arme sinken. Er roch nach Sonne, Erde und Schweiß, und Melissa spürte nach langer Zeit wieder einmal dieses eigenartige Kribbeln im Bauch. Wie ein frisch verliebter Teenager erwiderte sie heißblütig seinen Kuß. »Na, das ist eine Begrüßung!« schnappte Henry endlich nach Luft. »Wo warst du nur so lange, Melissa? Es ist schon pechrabenschwarze Nacht!«
»Ich bin erst sehr spät nach Oak-Hallfield gefahren, Henry! Und dort habe ich mich wohl beim ausgedehnten Shopping in der meilenlangen Einkaufsstraße etwas verbummelt!« versuchte die junge Frau zu scherzen. Henry, der das erwähnte Dorf bereits kannte, grinste schelmisch. Der bittere Unterton in Melissas Stimme, als sie die Ortschaft erwähnte, war ihm gar nicht aufgefallen. »Dürfen wir deine Einkäufe ausladen? Ich hoffe, du warst nicht allzu leichtsinnig!« Henry winkte einigen seiner studentischen Helfern, daß sie die Kartons aus dem Jeep laden sollten. Die jungen Leute machten sich sofort an die Arbeit, und ehe es sich Melissa recht versah, waren ihre Errungenschaften im Küchenzelt verschwunden. Handers hatte unterdessen Melissa untergehakt und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Nur gut, daß es bereits Nacht geworden war, sonst wäre allen aufgefallen, wie puterrot Melissa plötzlich wurde. Dennoch genoß sie Henrys Anzüglichkeiten, die er ihr soeben zugeraunt hatte, als einen Erfolg. Die Studentinnen schienen also doch keinen so großen Eindruck auf Henry zu machen! »Wir sind heute auf Steine gestoßen!« unterbrach Henry die Gedankengänge der jungen Frau. Melissa konnte die Begeisterung in seiner Stimme schwingen hören. »Ja, aber hier gibt es überall Steine, Henry! Zuweilen ragt sogar der nackte Fels aus dem Erdreich!« entgegnete sie ihm verblüfft. »Aber die Steine im Grabhügel hat jemand zusammengefügt, wie eine Mauer sozusagen! Das ist sensationell! Die Grabkammern wurden gewöhnlich aus Eichenstämmen gefügt! Da blieb natürlich nach all den vielen Jahren nicht viel von dem Grab übrig. Aber stell dir vor, wenn dieser Hügel wirklich eine Kammer aus Steinen enthielte, Melissa! Alle Grabbeigaben könnten außergewöhnlich gut
erhalten sein! Wir haben heute nur ein winziges Stück dieser Felsmauer freilegen können. Aber morgen werden wir soweit mit unserer Arbeit vorankommen, daß wir imstande sind, diese Barriere zu durchbrechen!« Henry hatte sich völlig in Eifer geredet. Trotz der Dunkelheit konnte Melissa sehen, wie seine Augen leuchteten. In der jungen Frau kroch jetzt wieder ein Gefühl hoch, was sie nicht recht bestimmen konnte. Hatte sie Angst vor dem, was Henry da ausgrub? Oder hatte sie Angst, jenes ganze Projekt würden diesen Mann, den sie liebte, verändern? Melissa sah forschend in Henrys Gesicht. Das Lagerfeuer der Studenten warf flackernde rotgoldene Lichterfetzen auf sein Gesicht. Es wirkte fremd und unheimlich im Spiel von Licht und Schatten. War es wirklich richtig, was Henry tat? Sollte er nicht lieber das Grab unberührt lassen? Immerhin hatten die Menschen vor zwei Jahrtausenden viel Zeit und Mühe aufgewendet, dem oder der Toten eine Ruhestätte für die Ewigkeit zu schaffen. Hier mußte jemand begraben sein, der in seinem Leben sehr viel Achtung und Ehrfurcht verdient hatte. Wie lange mochten diese Leute mit ihren primitiven Werkzeugen gebraucht haben, den großen Erdhügel aufzuschütten! Und jetzt kam Henry und machte all diese Arbeit zunichte! Melissa erschauerte. Der junge Mann hatte bemerkt, wie Melissa die Schultern nach vorn zog. »Ist dir etwa kalt, Liebes? Wir sollten vielleicht in den Wagen gehen!« meinte er besorgt. Melissa nickte zustimmend und ließ sich von Henry in Richtung des Caravans führen. Sie wollte ihm keinesfalls sagen, daß ihr Frösteln nicht unbedingt von der Nachtkälte herrührte. Bevor sie den Wohnwagen betrat, sah sie sich nochmals um. Alles wirkte so unwirklich, die Wagenburg im Lichtspiel des Lagerfeuers, die Gestalten der Studenten, die jetzt enger zusammengerückt waren. Melissa hörte die
Akkorde einer Gitarre. Die angenehme Singstimme eines Mannes intonierte einen Bob-Dylan-Song, in den sofort weitere Stimmen einfielen. Eigentlich verbreitete Henrys Lager die romantische Stimmung eines Sommercamps. Melissa hätte wohl niemandem klarmachen können, am allerwenigsten Henry Handers, daß sie ein Unheil herannahen fühlte. Sie sah hinaus in die Schwärze der Nacht. Außerhalb des Feuerscheins herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Die sanften Hügel, das Gestrüpp, die Felsbrocken und die Schafe dort draußen waren nur zu erahnen. Melissa zuckte zusammen. Sie glaubte, eine Bewegung zu erkennen, einen Schatten, der sich aus einem der kümmerlichen Sträucher löste. Sie strich sich mit der Hand über die Augen und sah erneut in diese Richtung. Dort war nichts, ihre Sinne mußten ihr einen Streich gespielt haben. Kopfschüttelnd folgte sie Henry in die Geborgenheit des Wohnwagens.
*
Oak-Hallfield beherbergte fast nur noch alte Leute. Die Jüngeren hatten auf der Suche nach einer Zukunft für sich und ihre Familien das einsame Dorf nach und nach verlassen. Von der traditionellen Schafzucht konnte kaum jemand leben. Melissas düsterer Eindruck von dem Flecken war also gar nicht so verkehrt gewesen, Oak-Hallfield war eine sterbende Ortschaft. Die wenigen Bewohner, die noch nicht das Rentenalter erreicht hatten, gingen anderen Geschäften nach, als die geduldigen Wiederkäuer in den grünen Hügeln zu hegen.
Jonathan Hammersmith gehörte zu dieser Spezies, die sich mit aller Art von Geschäften beschäftigte. Sein Kramladen war nicht nur für die verbliebenen Einwohner von Oak-Hallfield eine wahre Fundgrube und echte Hilfe, denn die meisten der alten Leute besaßen kein Fahrzeug, um in die Stadt zum Einkaufen zu gelangen, sondern auch eine perfekte Tarnung. Hammersmith betrieb im Nebenberuf eine gutgehende Hehlerei, von der wiederum eine Anzahl kleiner Ganoven der Umgegend profitierte. Der Mann, der soeben die knarrende Holztreppe aus dem Ladenraum hinauf in Hammersmith’ Wohnung bestieg, gehörte aber nicht zu der Sorte der ansonsten braven Familienväter, die sich durch gelegentliche Diebstähle über Wasser hielten. Im Gegensatz zu dem schlaksigen Hammersmith war er eher von kleiner Statur, doch unter dem T-Shirt und den hautengen Jeans spannten sich kräftige Muskeln. Sein Alter war schwer zu bestimmen, weil er sich den Kopf kahlgeschoren hatte und die Haut um seine eisblauen Augen glatt und faltenlos war. John Doe, wie er sich sinnigerweise nannte, wenn er mit Hammersmith Geschäfte machte, betrat das Zimmer, in dem der Händler hauste. Die zusammengewürfelten Möbelstücke und der Krimskrams, der überall herumlag, machten den Eindruck, als sei dieser Raum nur eine Fortsetzung des chaotischen Ladens. Die knochige Gestalt Jonathan Hammersmiths ruhte in einem uralten Schaukelstuhl, der unter jeder Bewegung noch unheimlicher knirschte als die wurmstichige Treppe. Gelassen sah der Händler seinem späten Besucher entgegen. »Nun, John, was hast du herausgefunden?« brummte Hammersmith, ohne sich mit langwierigen Begrüßungen aufzuhalten. John Doe musterte seinen eigenartigen Gastgeber mit geringschätzigen Blicken. Die beiden hatten schon
genügend dunkle Geschäfte miteinander abgewickelt, daß sie recht gut wußten, was sie voneinander zu halten hatten. »Du hattest vollkommen recht, das sind keine Erdwürmer! Die graben zwar ein mörderisches Loch, aber ich wette, für Geologie haben diese Leute nicht viel übrig! Ich habe mir den Verein angesehen!« John fegte einen Stapel Zeitungen von einem Stuhl, um sich setzen zu können. Hammersmith nickte und fuhr sich über seine nicht gerade üppige Haartracht. »Wird das was für uns?« wollte er von seinem Gegenüber wissen. »Könnte sein!« John Doe zuckte mit den Schultern. »Bis jetzt haben sie noch nichts aus dem Hügel geholt, aber wenn diese Spinner dort wirklich ein Keltengrab ausbuddeln, läßt sich was holen!« »Ich habe da einen Kunden, der ganz wild auf keltische Kultstücke ist. Ein Druidenverehrer, ganz anonym und vor allem sehr zahlungskräftig!« ließ Hammersmith wissen und versetzte seinem Schaukelstuhl einen Schwung. Knirschend und knarrend wippte das Ungetüm seinen Insassen. Für John Doe oder wie er auch immer heißen mochte, war dies das Zeichen, daß die Unterredung für heute beendet war. Er stand auf und deutete mit dem Zeigefinger der rechten Hand auf Hammersmith. »Alles Weitere morgen bei Sonnenuntergang!« sagte er anstelle eines Abschiedsgrußes. Hammersmith nickte ihm zu. Er hielt es nicht für nötig, dem Besucher hinunter in den Laden zu folgen und die Tür zu verschließen. Einen Jonathan Hammersmith bestahl niemand in Oak-Hallfield.
*
Melissa hatte den ganzen Tag damit zu tun, Henrys hastig hingekrakelte Notizen zu ordnen und den Fortlauf der Ausgrabung ordentlich zu dokumentieren. Handers und seine Studenten waren kaum zu bremsen, schon im Morgennebel waren sie hinausgeeilt an ihren Hügel. Das Mittagessen hatten sie mit roten verschwitzten Gesichtern eingenommen, kaum daß die Suppe hinuntergelöffelt war, packten alle wieder ihre Schaufeln. Die Anspannung, die die gesamte Archäologengruppe erfaßt hatte, war fast körperlich greifbar. Melissa hatte sich am späten Nachmittag von ihrem Papierkram gelöst und hatte sich am Grabhügel angesehen, was es dort Aufregendes gab. Für die junge Frau wurde diese Besichtigung zur Enttäuschung. In der Grube wühlten die Studenten scheinbar planlos in der Erde, die meisten waren jedoch damit beschäftigt, eine Art Steinmauer von Erdresten zu befreien. Mittlerweile war selbst für einen Laien wie Melissa erkennbar, daß hier ein natürlich gewachsener Felsen von Menschenhand ergänzt worden war. Henry erblickte Melissa und winkte ihr zu. Sein Gesicht war schmutzig, dennoch konnte die junge Frau sein triumphierendes Lächeln erkennen. »Melissa, wir sind bis heute abend soweit, die Kammer öffnen zu können! Ich weiß jetzt, wie das ist, wenn man im Tal der Könige ein unversehrtes Pharaonengrab findet!« rief er. Melissa winkte lächelnd zurück. Henry wirkte wieder einmal wie ein kleiner verspielter Junge. Sie gönnte ihm von ganzem Herzen die Freude, auch wenn sie den Vergleich mit einem altägyptischen Königsgrab etwas übertrieben fand. Als am Nil bereits ganze Zivilisationen in den Sand gesunken waren, hatten die Bewohner der britischen Insel noch im barbarischen Dämmerschlaf vor sich hin gelebt. Aber waren sie deshalb unglücklicher gewesen, nur weil sie zu ihren Göttern nicht in überdimensionalen Tempeln beteten, sondern
unter dem wispernden Blätterdach uralter Eichen? Melissa mußte sich wundern über ihre Gedanken. Hätte Henrys Sucht, ständig in der Vergangenheit zu kramen, sie bereits angesteckt? Kopfschüttelnd entfernte sie sich von dem Hügel, um ihre Arbeit fortzusetzen. Sie war so in Gedanken vertieft, daß sie nicht sah, daß sich in einem nahen Gesträuch hastig eine Gestalt verbarg. Die Dunkelheit war bereits wieder über das Land gefallen, als sich Henry mit seinen Helfern von seiner Grabung trennte. Melissa konnte an dem Stimmengewirr der Studenten erkennen, daß sich die Aufregung keineswegs gelegt hatte, sondern eher noch größer geworden war. Henry selbst stürmte auf sie zu, und so schmutzig und verschwitzt wie er war, zog er sie heftig an sich, küßte sie und verkündete, soeben den glücklichsten Tag seines Lebens hinter sich zu haben. »Melissa, morgen gibt es viel Arbeit für dich! Alles muß ganz genau dokumentiert werden! Wenn wir zu Abend gegessen haben, muß ich dir etwas zeigen, Liebes! Oh, Melissa, ich liebe dich!« jubelte Henry überschwenglich. Über das Gesicht der jungen Frau glitt ein sanftes Lächeln. Es war schon erstaunlich, mit welcher Selbstverständlichkeit dieser Henry Handers seine Arbeit mit seiner Liebe verflocht. »Solltest du dich vielleicht nicht erst einmal waschen?« meinte sie und fuhr mit dem Zeigefinger liebevoll über sein Gesicht, um ihm die schmutzige Fingerkuppe vor die Augen zu halten. »Natürlich! Und einen Bärenhunger habe ich!« Henry grinste, küßte Melissa allem Schmutz zum Trotz nochmals auf die Wange und begab sich zu den Studenten, die bereits in mehreren großen Schüsseln voller Wasser versuchten, ihre Körper von den Spuren des Hügels zu befreien. Melissa gingen bei diesem Anblick wieder eigenartige Gedanken durch den Kopf. Was diese Leute dort von sich
abwuschen, war Graberde, heilige Erde. War es wirklich richtig, den Frieden der Grabkammer zu stören? Das eigenartige Frösteln kroch erneut Melissas Rücken hinunter. Ärgerlich verscheuchte sie die unbestimmbaren Gefühle und begab sich in den Wohnwagen, um die Spuren von Henrys Umarmungen von sich zu waschen. In das gemeinsame Planschen der Studenten wollte sich Melissa nicht mischen. Erst als Henry ein ausgiebiges Essen zu sich genommen hatte, kam er wieder auf die angekündigte Überraschung zu sprechen. »Melissa, wir haben das Grab kurz vor Einbruch der Dunkelheit geöffnet! Ich muß dir die Kammer unbedingt zeigen! Es ist der pure Wahnsinn!« verkündete er strahlend und faßte nach Melissas Hand, um sie von ihrem Campingsessel hochzuziehen. »Jetzt willst du mir das Grab zeigen?« Die junge Frau war regelrecht entsetzt. Schon allein der Gedanke verursachte ihr eine Gänsehaut auf dem Rücken. »Es ist pechschwarze Nacht draußen!« »Das macht doch nichts! Wir nehmen die Lampen! Außerdem haben wir eine Nachtwache am Hügel eingeteilt. Einer der Studenten hält immer vor der Grabkammer die Augen auf! Ich möchte dir das Grab völlig unberührt zeigen! Morgen, wenn wir alles vermessen und bergen, ist der ganze Zauber dahin, dann ist alles nur noch nüchterne Wissenschaft. Aber jetzt – es ist, als würde dir die Vergangenheit selbst begegnen!« beschwor Henry seine Freundin. Seinen bittenden Augen, in denen das Feuer der Begeisterung glühte, konnte Melissa nicht widerstehen. Seufzend zog sie ihre Jacke über, denn die Nächte waren empfindlich kalt. Henry hatte inzwischen draußen zwei der batteriebetriebenen Handstrahler der Ausrüstung entnommen.
Er schwenkte den Lichtstrahl hin und her, leuchtete Melissa ins Gesicht und lachte, weil sie geblendet die Augen schloß. »Entschuldige, ich wollte dich nicht ärgern! Hier, nimm eine der Lampen!« Henry legte seinen Arm um Melissas Schultern. Innerlich noch immer widerstrebend ließ sich die junge Frau in Richtung des Hügels geleiten. Wie Messerspitzen durchschnitten die Strahlen der beiden Lampen die Dunkelheit. Melissa wurde bewußt, daß ihr als Stadtbewohnerin jegliches Gefühl für die Nacht abhanden gekommen war. In den Städten wurde es auch in der finstersten Winternacht nie richtig dunkel, hier aber, weit entfernt von großen Ansiedlungen, war die mondlose Nacht noch samtschwarz. Gespenstisch anzusehen war es, wie in dem Lichtstrahl ab und zu Büsche auftauchten und Felsbrocken, um gleich darauf wieder zu verschwinden, als hätten sie sich vor der Störung selbst wieder in den Schatten der Dunkelheit geflüchtet. Sie war froh, daß Henry sie an die Hand genommen hatte, um sie zu führen. Diese Berührung gab ihr wenigstens ein wenig das Gefühl von Sicherheit. Melissa atmete auf, als sie endlich vor sich einen sanften flackernden Lichtschein entdeckte. Die studentische Nachtwache hatte ein kleines Lagerfeuer entfacht. Die Gestalt eines jungen Mannes erhob sich von dem aufgewühlten Boden. »Mr. Handers, sind Sie es?« fragte eine dunkle, angenehme Stimme. »Ja, natürlich! Dachten Sie, ich wäre der Geist eines Druiden? Melissa, das ist Richard Miller, einer meiner erfahrensten Helfer! Er schreibt in seiner Diplomarbeit über die späte keltische Kultur!« Melissa mußte über diese Vorstellung lächeln. Das war typisch Henry! Für ihn war es wohl das Wichtigste an einem Menschen, mit welcher vergangenen Kultur er – sich beschäftigte. Sie reichte dem jungen Mann die Hand.
»Richie, nicht wahr? So werden Sie doch gerufen?« »Ja, aber…«, wand sich der junge Mann verlegen. Es war offensichtlich, daß ihn Melissas Anwesenheit befangen machte. »Sie wollen sich doch sicher das Grab ansehen?« »Von ›wollen‹ ist eigentlich nicht die Rede!« murmelte Melissa vor sich hin. Ihr war plötzlich eingefallen, daß sie inmitten des aufgeschütteten Grabhügels stand. Aber Henry zuliebe würde sie sich jetzt das Grab zeigen lassen, auch wenn dieser unheimliche Schauer schon wieder ihren Rücken hinabkroch. Der Student wertete ihr Murmeln als Zustimmung. Er wandte sich an Handers. »Gehen Sie ruhig hinein, ich bleibe hier draußen am Feuer! Ich habe vorhin Geräusche gehört, sicher sind einige dieser dummen Schafe im Anmarsch. Es wäre nicht besonders gut, wenn sie sich hierher verirrten und vielleicht alles zertrampelten!« »Gute Idee, Richie!« Henry nickte dem Studenten zu und schob Melissa in die Dunkelheit. Im Schein der Handstrahler sah sie einen Felsen aufragen, der vorher mit Erde bedeckt gewesen sein mußte. Erst als Henry eine Decke beiseite schob, entdeckte Melissa, daß dieser Felsen einen Eingang besaß. Ihr Unterbewußtsein wehrte sich, Henry in dieses Loch zu folgen, doch der junge Mann ließ ihr keine Wahl. Er hatte ihre Hand fest umklammert und zog sie mit sich. Kühle Luft schlug ihr entgegen. »Bitte sei ganz vorsichtig! Komm noch ein Stück zu mir, ja, so ist es gut! Hier müssen wir stehenbleiben, aber man kann von dieser Stelle alles überblicken!« dirigierte Henry seine Freundin. Der Lichtstrahl der Lampen kam zur Ruhe. Melissa stand wie erstarrt und versuchte das, was sie sah, zu deuten. Eine Menge Knochen bedeckte den Boden, verschiedene Gegenstände, von der Zeit unkenntlich gemacht, lagen
dazwischen. Henry begann, ihr dieses Wirrwarr zu erklären, doch mit jedem seiner Worte wuchs Melissas Unbehagen. »Hier wurde eine natürliche Höhle erweitert, eine geradezu phantastische Handwerksleistung für die Menschen in jener Zeit! Der Tote muß eine große Bedeutung gehabt haben, ein Fürst oder ein mächtiger Druide vielleicht!« Henry redete sich in Begeisterung. Mit der Hand, die bisher Melissa festgehalten hatte, deutete er auf seinen Fund. Er bemerkte nicht, wie Melissa diesen Halt vermißte, wie sie die Zähne aufeinanderpreßte und die nun freie Hand zur Faust ballte. Melissa hatte schlichtweg Angst. Sie glaubte nicht an Geister und ähnliche Schauermärchen, aber mitten in der Nacht in einem Grab zu stehen, gehörte nicht zu jenen Dingen, die sie sich jemals erträumt hatte. Ihr Grauen steigerte sich noch mit Henrys Erläuterungen. »Der Tote lag auf einem festlich geschmückten Wagen. Das Besondere an diesem Fall ist, daß ihm auch noch die Pferde mit ins Grab gegeben wurden. Nicht genug damit, auch zwei weitere Menschenskelette liegen hier am Boden. Ob es sich um Menschenopfer oder eine freiwillige Grabfolge handelt, müssen wir erst noch feststellen, Siehst du den Schmuck zwischen den Knochen, Melissa? Alles Gold! Nicht nur der Tote, sondern auch eines der Opfer war reich geschmückt!« Die junge Frau zuckte zusammen. Ihr war, als hätte sie draußen vor der Höhle ein eigenartiges Geräusch gehört. Sie hatte sich nicht getäuscht. Der provisorische Vorhang wurde zur Seite geschoben und der Strahl einer starken Lampe blendete Melissa und Henry. »Richie, was ist denn los?« fragte Handers verwundert, noch bevor er feststellen konnte, daß es sich bei dem Eindringling nicht um den Studenten handelte. Melissa bemerkte gerade noch, daß sich zwei Gestalten in die Höhle schoben, eine sehr große und eine eher unscheinbare. Dann
flog die große Gestalt mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf sie zu und hob den Arm. Die junge Frau durchzuckte ein heftiger Schmerz an der Schläfe. Melissa sank taumelnd zu Boden, Dunkelheit umfing sie. Von dem Handgemenge, das sich zwischen Henry und dem Kleineren der beiden ungebetenen Besucher entspann, von dem blitzenden Messer, das dieser Mann plötzlich zückte und mehrmals in die Brust des Archäologen stieß, bekam sie nichts mehr mit.
*
John Doe steckte sich zufrieden eine Zigarette an. »Nun sieh dir das an, Hammersmith! Die Sache lohnt sich tatsächlich!« Er bückte sich und zerrte mit einer Hand achtlos die Knochen am Boden auseinander, um an einen kleinen Gegenstand zu kommen. Der Grabräuber nibbelte an der Patina, die die Jahrhunderte an dem Ohrring hinterlassen hatten. Mattglänzendes Metall von dunkelgelber Färbung kam zum Vorschein, die feine Ziselierung war deutlich zu erkennen, als wäre das Stück soeben aus den geschickten Händen des Goldschmiedes gekommen. Hammersmith brummte ärgerlich. Er fühlte sich in der Höhle nicht wohl. Sein Kopf war wieder weit zwischen die gebeugten Schultern gesunken. Das verlieh ihm das Aussehen eines Geiers, der irgendwo reglos auf Beute wartet. Der Händler hatte die reglose Gestalt Henrys auf den Rücken gedreht und vergeblich seinen Puls am Hals gefühlt. Jetzt zog er wenig gefühlvoll eines der Augenlider des jungen Mannes nach oben und leuchtete ihm ins Gesicht. Nicht nur Henrys
Brust war völlig mit Blut besudelt, sondern auch aus seinem Mund und seiner Nase quoll es rot. »Mußtest du ihn umbringen? Das macht uns unnötigen Ärger! Es wird einen mächtigen Wirbel in den Zeitungen geben! Was hast du für eine Ahnung davon, wie heiß dieses Gold hier wird, wenn du einen Mord dranhängst! Die Ware wird schwer abzusetzen sein, glaub mir das!« »Ach, was! Du machst zuviel Wirbel, Hammersmith! Hast du nicht gesehen, dieser Spinner hat mich angegriffen! Außerdem gibt es für diese Art von Ware immer Interessenten, denen reichlich egal ist, wie du das Zeug beschafft hast!« Geringschätzig stieß John Doe mit dem Fuß nach Henrys Leiche, die in einer riesigen Blutlache lag. Hammersmith runzelte die Stirn. »Jetzt laß uns aber das Zeug einsammeln! Wer weiß, wann hier wieder jemand auftaucht! Ich möchte nicht unbedingt noch eine ganze Horde wildgewordener Studenten auf dem Hals haben!« Die beiden Diebe begann ihr Werk. Außer dem Goldschmuck der Toten, den sie achtlos zwischen den Skeletteilen hervorzerrten, nahmen sie noch einige guterhaltene Tongefäße mit. Schon bald sah das Grab aus wie eine Müllhalde. Nur wenige Minuten später verließen Hammersmith und Doe die Höhle, die gefüllten Säcke mit dem Diebesgut auf dem Rücken. Sie sahen sich nicht noch einmal um nach der besinnungslosen Frau und dem toten Handers.
*
Der Student, der Richard Miller ablösen sollte, wußte im ersten Moment nicht, ob er das Ganze für einen schlechten Scherz halten sollte. Er fand Richie neben seinem heruntergebrannten
Feuer liegen, mit einem alten Lappen geknebelt und mit etlichen Metern Wäscheleine zu einem handlichen Paket verschnürt. »Richie, was soll das?« Nun war es nicht gerade sinnvoll, einem Geknebelten eine Frage zu stellen. Miller brummte ärgerlich und zappelte, soweit es seine Fesseln zuließen. Er wand sich am Boden wie eine überdimensionale Raupe. Endlich hatte sich der andere Student von seiner ersten Verblüffung erholt und löste Richies Knebel. Richard spuckte und würgte. Seine Kiefergelenke schmerzten, seine Zunge fühlte sich ungewöhnlich dick an. Mittlerweile war es dem anderen jungen Mann gelungen, die Knoten der Leine zu lösen. Er wickelte Richie aus seinen Fesseln. »Jetzt weiß ich endlich, wie sich eine Roulade fühlt!« brachte Richard mühsam hervor. Er packte den anderen Studenten am Arm. »Wir müssen nach Henry und Melissa sehen! Sie sind da drin!« Er deutete auf die Höhle. Die Männer hasteten zu dem Grab. Die Decke, die den Eingang bis zum Morgen hatte schützen sollen, war achtlos herabgerissen. Miller leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Dunkelheit der Felsenkammer. Der Anblick, der sich ihm in dem schmalen Lichtkegel bot, war grauenvoll. Schon allein die Verwüstung, die die beiden Diebe hinterlassen hatten, war dazu angetan, dem jungen Wissenschaftler das Herz bluten zu lassen. Aber Miller hatte auch die beiden reglosen Gestalten auf dem kalten Felsboden liegen sehen. »O Gott!« stieß Richard hervor und packte den anderen Studenten am Arm. »Hast du das Handy dabei? Rufe den
Notdienst an! Und die Polizei auch gleich noch! Nun mach schon!« Der junge Mann nickte erschrocken und zog die Antenne aus dem Mobiltelefon. Stirnrunzelnd starrte er auf das Display. »Ich bekomme hier keine Verbindung!« »Du lieber Himmel! Dann geh schon endlich rauf auf den Hügel! Beeil dich! Ich gehe inzwischen in das Grab, vielleicht kann ich etwas für Henry und Melissa tun!« Richard Miller betrat die Höhle, während sein Mitstudent den Hügel hinauf rannte, um sofort die Tastenkombination des Notrufes zu drücken, als er den Funkschatten der von den Archäologen ausgehobenen Grube verlassen hatte. Richie beugte sich zu Handers hinunter. Das Licht der Taschenlampe riß nur Details aus der Dunkelheit. Der Student leuchtete in Henrys Gesicht und wich unwillkürlich zurück. Richie wagte nicht, Handers anzufassen, um zu prüfen, ob noch Leben im Körper des Mannes war. Das viele Blut, die unnatürlich Lage der Gliedmaßen, all das sagte Miller, daß hier jede Hilfe zu spät kam. Er leuchtete zu Melissa und atmete erleichtert auf. Die junge Frau lag wenigstens nicht in einer Blutlache! Der Student kniete sich neben Melissa und strich über ihren Kopf. Er konnte spüren, daß sie atmete. »Melissa! Wachen Sie auf!« murmelte er mit rauher Stimme. Er hätte sie gern von diesem grauenhaften Ort fortgebracht, doch er wollte sie nicht bewegen, weil er nicht erkennen konnte, welche Verletzungen die Frau hatte. Richie hielt es für besser, auf den Notarzt zu warten. So blieb er einfach neben Melissa hocken und nahm ihre Hand in seine. Sanft streichelte er ihre Finger und sah gebannt in Richtung des Höhleneingangs, den sie tagsüber erst freigelegt hatten. Ein sanfter Schimmer zeigte an, daß die Nacht draußen nicht so dunkel war wie das Innere des Grabes. Richie fror plötzlich. Er
glaubte fast körperlich zu spüren, daß irgend etwas Unerklärliches im Fels lauerte. Seine Augen wanderten mit dem schmalen Lichtkegel der Lampe über die Höhlenwände, die überall die Spuren von Werkzeugen trugen. Er konnte Rußspuren von Fackeln erkennen, die schon vor mehr als zweitausend Jahren erloschen waren. Der junge Mann vermied es, die geschändeten Überreste der hier zur ewigen Ruhe Gebetteten anzuleuchten. Er spürte förmlich, wie die bleichen Totenschädel ihn anstarrten. Der Gedanke an die verwitterten Gebeine von Mensch und Tier ließ ihn wieder frösteln. Richard hatte kein Gefühl für die Zeit, die er neben Melissa auf dem kalten Stein gesessen hatte. Es hätten nur Sekunden sein können, aber auch lange Stunden. Die Zeit schien aufgehoben zu sein in dem alten Keltengrab, schien einen Kreis zu schlagen um Vergangenheit und Zukunft, in dem die Gegenwart unwichtig schien. Blauer Lichtschein und Motorengeräusch rissen den Studenten aus seinen Gedanken. Erleichtert sah er, wie mehrere Gestalten sich aus der Dunkelheit lösten und auf die Höhle zueilten.
*
Inspektor Willery hatte schon allerhand in seiner mehr als zwanzigjährigen Laufbahn bei der Polizei erlebt, aber was sich seinen Augen jetzt darbot, war sogar ihm unheimlich. Der Tatort, zu dem er diesmal gerufen worden war, glich einem Gruselkabinett. Angewidert starrte der Mann auf die Knochen, die auf dem Felsboden verstreut lagen. Soeben brachten die Sanitäter auf einer Trage die bewußtlose Frau nach draußen. Der Notarzt hatte versichert, daß ihre Verletzungen
offensichtlich nicht sehr schwer waren. Inspektor Willery hatte das mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Er brauchte dringend die Zeugenaussage der Frau. Dieser Mann, der jetzt von einem seiner Mitarbeiter von allen Seiten fotografiert wurde, konnte leider nicht mehr berichten, was hier in dieser Höhle vorgefallen war. Gleich würde sich der Gerichtsmediziner näher mit ihm beschäftigen. Willery brummte Unverständliches vor sich hin. Es war ihm unbegreiflich, was man mitten in der Nacht an einem solchen Ort suchen konnte. Wegen diesen verrückten Altertumsforschern hatte man ihn aus dem besten Schlaf gerissen! Dabei hatte Willery geglaubt, die Leitung der Mordkommission in dieser gottverlassenen Gegend wäre ein ruhiger Posten! »Und wer sind Sie?« knurrte der Inspektor den jungen Mann an, der mit ratlosem Gesicht schon eine ganze Weile neben ihm stand. »Ich? Richard Miller! Sie wollten mit mir sprechen!« Der Student sprach mit leiser, rauher Stimme und starrte auf die Beamten, die dem Gerichtsmediziner halfen, Henry Handers’ Körper in einen dunklen Plastiksack zu verpacken. »Ach ja! Sie waren also gefesselt und geknebelt, als das hier in der Höhle passierte? Warum haben die Täter nicht auch mit Ihnen kurzen Prozeß gemacht?« Argwöhnisch musterte Willery den schlanken, aber muskulösen Körper des Studenten. »Was soll denn das heißen, Inspektor?« Richard war der zynische Unterton in der Stimme des Polizisten nicht entgangen. »Diese Grabräuber haben sicherlich keinen Mord geplant, als sie hier auftauchten! Zuviel Publicity verdirbt solchen Leuten das Geschäft, da müßte sich sogar bis zur Polizei herumgesprochen haben! Daß sich Henry und Melissa
gerade in der Höhle befunden haben, war ein ganz unglücklicher Zufall!« »Grabräuber?« Willery glaubte nicht richtig zu hören. »Ja, natürlich!« Miller schüttelte den Kopf. Soviel Unverständnis war ihm noch nicht untergekommen. Geduldig versuchte er, dem Inspektor die Sachlage zu erklären: »Es befand sich Gold in der Höhle, Grabbeilagen von unschätzbarem kulturhistorischen Wert! Mr. Handers hat sich diesen Grabschändern offenbar in den Weg gestellt! Diese Ausgrabung war für ihn der Höhepunkt in seiner bisherigen wissenschaftlichen Arbeit!« Jetzt schüttelte Hannibal Willery den Kopf und warf einen mitleidigen Blick auf die Knochenreste und Scherben auf dem Boden. Höhepunkte stellte er sich anders vor. »Können Sie mir sagen, was hier gestohlen wurde?« meinte er sachlich zu Miller, dessen Aussage bereits von dem Studenten, der Polizei und Notdienst verständigt hatte, bestätigt worden war. »Nein, das kann ich nicht! Es war schon fast dunkel, als wir endlich den Zugang zur Grabkammer freigelegt hatten! Die Katalogisierung sollte erst am Morgen beginnen! Es war Schmuck, wie man ihn halt vor zweitausend Jahren trug! Auch einige Kultgegenstände könnten dabeigewesen sein, wenn ich mich recht erinnere!« Diese Beschreibung nutzte Willery so gut wie nichts. Er ließ den Block sinken, den er erwartungsvoll aus seiner Manteltasche gezogen hatte, und sah Miller nachdenklich an. »Nun sagen Sie mir einmal, wie wir nach etwas suchen sollen, von dem wir nicht einmal wissen, wie es aussieht, oder ob es überhaupt vorhanden war!« In Richard Millers Gesicht zeigte sich jetzt Betroffenheit. Der Polizist hatte recht. Die Diebe hatten sich den günstigsten Zeitpunkt ausgesucht, um das Grab zu plündern. Dann fiel dem
Studenten plötzlich ein, daß Handers gleich nach der Öffnung des Zuganges einige Fotos von dem Inneren der Höhle gemacht hatte. Erfreut wies er den Inspektor auf diese Tatsache hin. »Wenn Sie diesen Film entwickeln, ließen sich sicher Details der Grabbeigaben erkennen! Melissa muß doch wissen, wo Henry seine Kamera hat!« »Miß Weston kann im Moment leider keine Auskünfte geben!« erwiderte Willery steif. Für ihn stand fest, mit einer jungen Frau, die mitten in der Nacht in alten Grabstätten herumschlich, konnte etwas nicht stimmen! Wie aus weiter Ferne drangen Stimmen in Melissas Bewußtsein. Sie fühlte sich einerseits gut, irgendwie schwebend, andererseits schmerzten sie diese Stimmen, und ihr Kopf schien im Takt ihrer Herzschläge zu pulsieren. Die unangenehmen Gefühle holten Melissa aus der Bewußtlosigkeit zurück. Stöhnend riß sie die Augen auf. »Sehen Sie, was Sie angerichtet haben, Inspektor!« hörte Melissa jemanden sagen, eine junge männliche Stimme, die ihr bekannt vorkam. »Holen Sie den Arzt, sie wird Schmerzen haben!« »Das könnte Ihnen so passen, Mr. Miller! Sie holen den Arzt, und ich bleibe im Interesse einer ungehinderten Ermittlung in diesem Mordfall bei Miß Weston!« Diese Stimme war Melissa fremd, und sie haßte den schleppenden Tonfall der Einheimischen in dieser gottverlassenen Gegend. Die junge Frau mühte sich, den Sprecher zu erkennen. Noch schienen ihr ihre Sinne nicht recht zu gehorchen, denn sie sah nur eine verschwommene Gestalt an ihrem Bett stehen. »Miß Weston? Hören Sie mich? Ich bin Inspektor Hannibal Willery!« sagte die fremde Stimme. Melissa drehte mühsam ihren Kopf in die Richtung des Mannes. Das Pochen unter ihrer Schädeldecke war
unerträglich. Sie sehnte sich nach der schützenden Dunkelheit, aus der sie soeben erwacht war. »Wo bin ich?« flüsterte sie kaum hörbar. »Melissa, es wird alles gut! Bitte regen Sie sich nicht auf! Sie sind im Krankenhaus!« Das sagte eine andere Stimme, jene, die sie gehört hatte, als sie soeben aus dem Nichts erwacht war. »Wie geht es Ihnen?« Die junge Ärztin, die von Richard gerufen worden war, strich Melissa das Haar aus der Stirn und faßte nach ihrem Handgelenk, um den Puls zu fühlen. Zufrieden nickte sie. »Für die gewaltige Gehirnerschütterung, die Sie sich von diesem Schlag eingefangen haben, sind Sie schon wieder ganz schön auf dem Damm! Ich werde Ihnen eine Spritze geben, die Ihnen die Schmerzen nimmt. Sie werden sehen, gleich ist Ihnen etwas wohler!« Melissa spürte den Stich in der Armbeuge. Es dauerte tatsächlich nur wenige Augenblicke, bis die Wirkung des Medikamentes einsetzte. Endlich hob sich der Schleier von ihren Augen. Sie konnte deutlich das freundliche Gesicht der Ärztin sehen, die sich jetzt zu dem fremden Mann wandte. »Ich muß Sie bitten, Mr. Willery, meine Patientin heute in Ruhe zu lassen! Miß Weston ist nicht in der Verfassung für Polizeiverhöre!« Der Inspektor zog ärgerlich seine buschigen Brauen zusammen. »Ich ermittle in einem Mordfall! Miß Weston ist meine wichtigste Zeugin!« »Und ich versuche, Kranke zu heilen!« erwiderte die junge Medizinerin höflich, aber bestimmt. »Ich erwarte, daß Sie in fünf Minuten dieses Zimmer verlassen haben!« Mit diesen Worten verließ die Ärztin den Raum. Willery verlor keine Zeit. Er trat nahe an Melissas Bett.
»Miß Weston, können Sie sich an den Vorfall in dieser Höhle erinnern?« »Vorfall?« Melissa stöhnte auf, als bereite ihr die Erinnerung Schmerzen. »Ich war mit Henry in diesem Grab, überall lagen Knochen, es war wirklich ekelhaft! Und dann weiß ich gar nichts mehr! Wo ist überhaupt Henry und wie komme ich zu einer Gehirnerschütterung?« Inspektor Willery kniff seine Lippen zusammen. Seine Zeugin wußte entweder tatsächlich von nichts oder konnte sehr gut schauspielern. Er war überzeugt davon, das irgend jemand diesen Mördern und Dieben von dem Gold im Grab erzählt hatte. Willery hätte inzwischen bereits ermittelt, daß Melissa die Einzige war, die in den letzten Tagen das Lager der Archäologen verlassen hatte. Handers und die Studenten waren mit der Ausgrabung beschäftigt gewesen. Argwöhnisch betrachtete er die blasse junge Frau in ihrem Krankenbett. Melissa hatte erschöpft wieder die Augen geschlossen. »Nun gut, Miß Weston, ich komme morgen wieder! Gute Besserung!« Der Polizist wandte sich zum Gehen, Richard Miller bedachte er nur mit einem leichten Kopfnicken. Richard atmete auf, als sich die Tür hinter dem Polizisten schloß. »Ein unangenehmer Mensch! Aber er macht auch nur seine Arbeit!« meinte er und setzte sich zu Melissa auf die Bettkante. »Wissen Sie wirklich nicht mehr, was passiert ist?« Melissa schüttelte den Kopf und bereute sogleich diese Bewegung. Stechende Schmerzen durchfuhren sie. »Wo ist Henry?« fragte sie matt. Der Student griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Melissa, es tut mir leid…«
Richard wußte wirklich nicht, wie er der jungen Frau beibringen sollte, daß sie Henry Handers nie wiedersehen würde. Verlegen sah er zum Fenster hinaus, wo er nur die kahlen Mauern eines Wirtschaftsgebäudes sehen konnte. »Bitte, Richie, sagen Sie mir, was eigentlich geschehen ist!« bat Melissa leise. Ihr Gefühl sagte ihr, daß ihr bisheriges Leben völlig aus den Fugen geraten war, daß der Schatten von etwas Entsetzlichem über ihr schwebte. Der Student hielt noch immer ihre Hand, und diese Berührung empfand Melissa als die einzige Verbindung zur Wirklichkeit. Sanft erwiderte sie den Druck seiner Finger. »Richie? Was ist passiert?« fragte sie erneut. Endlich blickte der junge Mann sie an. Die Trauer in seinen Augen nahm seine Worte vorweg. Richard berichtete, was er von den Vorgängen in dem alten Keltengrab wußte. Melissa sah ihn gebannt an, ihr ohnehin schon blasses Gesicht wurde noch bleicher. Sie ließ Richards Hand nicht los, und dem jungen Mann war diese Berührung nicht unangenehm.
*
Hannibal Willery gab sich nicht mit der Tatsache zufrieden, daß sich Melissa nicht an die Ereignisse in der Höhle erinnern konnte. Obwohl auch die von dem Inspektor befragten Ärzte versicherten, Miß Weston habe durch den Schlag auf den Kopf eine, in solchen Fällen, durchaus übliche Gedächtnislücke, glaubte der Polizist, Melissa würde sich am Ort des Geschehens dieser schrecklichen Nacht wieder entsinnen. Kaum hatte sich Melissa Weston etwas erholt, ordnete Willery alle Zeugen vor Ort. Der Student, der Richard Miller
von seinen Fesseln befreit und die Polizei alarmiert hatte, Richie und Melissa mußten diesen Lokaltermin über sich ergehen lassen. Die junge Frau stützte sich dankbar auf Richies Arm. Es ging ihr zwar besser, aber zuweilen erfaßte sie noch heftiger Schwindel, daß sie taumelte und zu stürzen glaubte. Melissa war schon froh, im Moment keine dieser Kopfschmerzattacken zu erleiden, die sie heimsuchten, seit sie niedergeschlagen wurde. Gemeinsam mit Inspektor Willerys Mitarbeitern kletterten die drei jungen Leute in das mit grellgelben Bändern abgesperrte Grabungsgelände. Seit dem nächtlichen Vorfall war das Keltengrab ständig von einer Polizeistreife bewacht worden. Natürlich hatten sich die skrupellosen Diebe nicht noch einmal blicken lassen. Die Wache war eher nötig gewesen, neugierige Reporter vom Tatort fernzuhalten. Willery ließ sich zeigen, wo die beiden Verbrecher Richard Miller überwältigt und gefesselt haben. Der Student, der Richie schließlich befreit hatte, wiederholte fast wörtlich seine Aussage, die er schon zu Protokoll gegeben hatte. Ärgerlich starrte der Inspektor auf seine Unterlagen und blätterte darin. Das brachte seine Ermittlungen nicht weiter. Grübelnd legte er den Zeigefinger seiner rechten Hand auf seinen Nasenrücken und sah Melissa an. »Können Sie sich schon wieder erinnern, Miß Weston?« wandte er sich an die junge Frau. Benommen schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß noch, daß ich mit Henry hierhergekommen bin. Wir haben mit Richard gesprochen und sind in diese Höhle gegangen. Aber dann…« Melissa sah in eine unbestimmte Ferne und zuckte mit den Schultern. Sie war wieder sehr blaß geworden. Richie eilte besorgt an ihre Seite und erntete dafür einen dankbaren Blick der Frau. Richie war in den letzten Tagen zum einzigen Fixpunkt in Melissas Leben geworden.
Sie hatte sich entsetzlich verloren gefühlt, als ihr bewußt wurde, daß sie Henry nie wiedersehen würde. Hannibal Willery brummte etwas Unverständliches. Tief im Inneren glaubte er noch immer, daß die Diebe und Mörder einen Hinweis auf die Beute in diesem Grab erhalten haben mußten. Vielleicht von dieser Melissa Weston! Sie war als Einzige nicht an die Grabung gebunden gewesen, sie hatte nichts mit den wissenschaftlichen Interessen Henry Handers’ und der ihn begleitenden Studenten gemein. Für Willery war die Frau eine Verdächtige. Es mochte wohl sein, daß Handers’ Tod nicht geplant gewesen war, aber für den Inspektor stand fest, die Schätze des Keltengrabes waren an Außenstehende verraten worden! »Nun gut, Miß Weston! Lassen Sie uns hineingehen in diese Höhle!« Willery wies auf den immer noch verhangenen Eingang zu dem Grab. Melissa schauderte zusammen. Sie starrte auf das aufgebrochene Innere der Erde, vor langen Zeiten hatten sich Menschen große Mühe gegeben, es vor neugierigen Blicken zu verbergen. Irgend etwas Unbestimmtes griff nach ihrem Herzen. Das war nicht allein der Gedanke, daß Henry dort drinnen auf eine solch schreckliche und sinnlose Art gestorben war. Stöhnend stützte sich Melissa auf Richie, der besorgt einen Arm um sie legte. Ärgerlich sah der Student auf den Inspektor. Bemerkte dieser nicht, daß es der jungen Frau nicht gutging? Doch Willery strebte bereits erbarmungslos auf die Höhle zu. Seine Mitarbeiter eilten ihm voraus, um für eine entsprechende Beleuchtung zu sorgen. Mit grimmigem Gesicht folgte Richard Miller dem Polizisten, noch immer Melissa stützend, die mit seltsam taumelnden Schritten auf das Grab zuging.
*
»Sehen Sie sich um, Miß Weston! Wie sah es hier aus, als Sie mit Mr. Handers die Höhle betraten?« Inspektor Willery hatte seine Augen starr auf die junge Frau gerichtet, damit er diese gräßlichen Artefakte auf dem Boden nicht betrachten mußte. Er hatte unentwegt den Eindruck, einer dieser bleichen Totenschädel würde ihn aus seinen leeren Augenhöhlen heraus mustern. Durch seine Arbeit in der Mordkommission war der Mann zwar nicht gerade zimperlich, aber diese Leute, deren Knochen hier verstreut lagen, waren schon so lange tot, daß es dem Inspektor unheimlich vorkam. Melissa fühlte einen leichten Schwindel und klammerte sich an Richie, der besorgt in ihr Gesicht sah. Ihre Pupillen waren unnatürlich weit, kleine Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn. Sie konnte sich absolut nicht erinnern, wie es in dieser verhängnisvollen Nacht in dem Grab ausgesehen hatte, als Henry ihr seine Entdeckung zeigen wollte. Sie wußte nur eines: Dieses Durcheinander von Pferdeund Menschenknochen, Scherben und vom Alter unkenntlich gewordenen Gegenständen war falsch, war ein Frevel, eine Ungeheuerlichkeit! Niemals hätte dieses Grab geöffnet werden sollen! Vor mehr als zweitausend Jahren waren diese Toten der Ewigkeit übergeben worden, und keiner hatte das Recht, ihre Ruhe zu stören, auch Henry nicht. Melissas Blick fiel auf einen häßlichen braunen Fleck auf dem steinigen Boden. Henrys Blut hatte niemand entfernt. Zwar wußte Melissa nicht mehr, was hier vorgefallen war, aber der Inspektor und Richie hatten ihr genug erzählt. Dort war also Henry gestorben! Übelkeit stieg in ihr auf, etwas Dunkles schob sich vor ihre Augen.
»Richie!« hauchte Melissa hilfesuchend, ehe sie in den Armen des Studenten zusammenbrach. Erschrocken umklammerte Richie Melissas schlaffen Körper. Er konnte fühlen, daß sie viel zuviel abgenommen hatte in den letzten Tagen. Das war nicht mehr die lebenslustige Freundin Henrys, wie Richie sie kannte, sondern eine abgehärmte, kranke Frau, die Hilfe und Beistand brauchte. »Mein Gott, Inspektor! Sehen Sie, was Sie angerichtet haben! Sind Sie nun zufrieden?« Richard warf einen bösen Blick auf Willery. Der Inspektor stand wie versteinert da. Mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Die Ärzte im Krankenhaus hatten ihm versichert, daß es Miß Weston wieder gutging. Es hatte keine Bedenken gegeben, diesen Lokaltermin durchzuführen. »Jetzt rufen Sie schon einen Arzt! Sehen Sie nicht, Melissa ist besinnungslos!« rief ihm Miller zu, während er die junge Frau sachte auf den Boden gleiten ließ. Richie suchte besorgt nach Melissas Puls. Der langsame Herzschlag war kaum zu spüren. Der junge Mann zog seine Jacke aus und bettete Melissas Kopf darauf. Vorwurfsvoll blickte er auf die Polizeibeamten ringsum, sah, wie Willery nervös mit seinem Handy hantierte und schließlich nach draußen eilte, um eine Verbindung zu bekommen. Was war nun plötzlich mit Melissa? Die Aufregung war sicher zuviel gewesen nach diesem schweren Schlag auf ihren Kopf. Dieser Inspektor benahm sich aber auch unmöglich, Richard hatte den Eindruck, als würde er Melissa sogar verdächtigen, etwas mit Henrys Tod und dem frechen Grabraub zu tun zu haben. Grimmig starrte er Hannibal Willery an, als dieser die Höhle wieder betrat und in seine Richtung sprach: »Der Notarzt wird in wenigen Minuten da sein!« Das konnte Richard nicht trösten. Er versuchte, Melissa in eine stabile Lage zu bringen, um ihr die Atmung zu erleichtern.
Ärgerlich stellte er fest, viel zu wenig von Erster Hilfe zu verstehen. Besorgt sah er in das schmale Gesicht der jungen Frau, aus dem jede Farbe gewichen war. Um Melissas geschlossene Augen lagen dunkle Ringe. Richie glaubte, ein eiserner Reif würde sich um sein Herz legen. Ihm wurde bewußt, daß er es nicht ertragen könnte, wenn Melissa etwas passieren würde. Seine Hand zitterte, als er sanft über ihre Wange strich. Aus der Ferne war endlich das Horn des Notarztwagens zu hören.
*
Sie schwebte. Melissa schwamm in weicher Dunkelheit. Es war ein angenehmes Gefühl, sie war regelrecht enttäuscht, als es heller um sie wurde. Sonnenlicht brach durch ein dichtes Blätterdach. Leuchtende Flecken tanzten auf dem weichen Moos, auf dem Melissa lag. Verwirrt sah sie sich um. Mächtige Eichenstämme reckten sich empor, verflochten ihre Äste über Melissa zu einem geheimnisvollen grünbelaubten Gewölbe. Sie setzte sich auf. Ihre Finger strichen über Gras und Flechten, die den Boden bedeckten. Es war absolut still, nur das Säuseln des Windes in den Blättern der Eichen und der Ruf eines Vogels irgendwo in diesem Wald war zu hören. Jetzt erst bemerkte Melissa, daß sie nackt war, völlig nackt. Erschrocken sah sie sich um. Aber sie war allein. War sie vielleicht tot? Ihr war so furchtbar übel geworden, als sie dieses gräßliche Grab betreten hatte, das wußte sie noch. Was war dann mit ihr geschehen? Benommen versuchte sie aufzustehen. Es gelang ihr erst beim dritten Anlauf, zweimal war sie zurück in das Moos
geplumpst. Doch auch jetzt im Stehen konnte sie keine Menschenseele ringsum entdecken. Da war nur Wald, nichts als ein Wald, der Melissa so fremd und eigenartig vorkam. Solche gewaltigen, uralten Bäume hatte sie noch nie gesehen. Dann stand plötzlich dieser alte Mann hinter ihr. Melissa stieß erschrocken einen verhaltenen Schrei aus. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust, um ihre Blöße zu bedecken. Der Alte quittierte diese Geste mit einem Lächeln, soweit dies Melissa unter dem gewaltigen weißen Bart deuten konnte. Er breitete ein Tuch aus grobem Wollstoff aus und legte es geschickt um ihre Schultern. An zwei Zipfeln verband er das Tuch über ihrer linken Schulter mit einer schweren Fibel, die andere Schulter blieb frei, hier hatte der Mann Melissas Arm aus dem Stoff herausgezogen und das Tuch unter der Achsel entlanggeführt. Zum Schluß legte er ihr noch einen breiten Metallgürtel um die Hüften. Aus dem einfachen Tuch war eine Art Kleid geworden. In aller Ruhe hatte der Alte den Wollstoff um Melissas Körper drapiert, als hätte er eine Schneiderpuppe vor sich. Nachdem er hier und da noch etwas an seinem Werk gezupft hatte, trat er einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Melissa konnte ihn zufrieden nicken sehen. Sie stand noch immer wie erstarrt. Jetzt blickte sie den Alten an. Sein schütteres Haar fiel lang und strähnig auf seine Schultern, es war von einem schmutzigeren Weiß als sein Barthaar, das regelrecht silbern von seinem Kinn und seinen Wangen floß. Er war mit einem Mantel bekleidet, der offenbar sehr dicht gewebt war und eine dunkle lila Farbe hatte, die ihm etwas Düsteres und Gebieterisches zugleich verlieh. Trotz seines offenbar hohen Alters stand er gerade und aufrecht vor Melissa, er war fast zwei Köpfe größer als die junge Frau. Seine Augen hatten die hellgraue Farbe eines fahlen Winterhimmels, sie lagen unter buschigen Brauen verborgen,
die ebenfalls schon das Weiß des Alters angenommen hatten. Wie ein scharfer Vogelschnabel ragte seine große schmale Nase aus seinem Gesicht. »Endlich treffe ich dich, Melissa! Es war nicht einfach, dich hierherzuholen!« meinte der Alte, nachdem er ihr Zeit gelassen hatte, ihn zu betrachten. Er seufzte tief auf. »Ein Glück, daß du noch einmal in die Höhle zurückkamst, es war der einzige Ort, an dem ich Macht über dich gewinnen konnte! Nun ja, auch ich werde nicht jünger!« Die junge Frau kannte diese Sprache nicht, in der dieser Mann seine Worte an sie richtete, und dennoch verstand sie alles, was er sagte. Es gab keine Erklärung für das, was sie hier erlebte. Mit zitternden Händen strich sie über den Stoff, der sie nun bekleidete. Es war ungefärbte Schafwolle, grob versponnen und ebenso grob gewebt. Ein ähnliches Tuch hatte sie einmal in einer dieser alternativen Boutiquen gesehen. Der Stoff juckte und kratzte auf ihrer Haut. Ihre Gedanken arbeiten fieberhaft, doch Melissa konnte sich nicht vorstellen, was mit ihr geschehen war. Entweder sie träumte das hier alles, oder aber… Sie sprach ihren Gedanken aus. »Bin ich tot?« Zaghaft sah sie den Alten an, fürchtete seine Antwort. Doch der Mann schüttelte gütig seinen Kopf. »Nein, tot bist du nicht, Melissa, bis zu diesem Zustand hast du noch viel Zeit. Aber du bist nicht dort, wo du hingehörst. Ich habe dich aus deinem Körper, aus deiner Zeit geholt, weil du dabei warst, als mein Frieden gestört wurde. Wenn du einsichtig bist, werde ich dich zurücklassen!« »Und wenn ich nicht einsichtig bin?« fragte Melissa tonlos, die nur begriffen hatte, daß mit ihr etwas geschah, das sich mit keiner Wissenschaft erklären ließ.
Der alte Mann runzelte die Stirn. »Das wäre sehr schade für dich; sehr, sehr schade. Du bist noch jung, du könntest noch viel erleben, Liebe erfahren, Kinder haben! Es wäre wirklich sehr schade!« Melissa schwieg. Diese Andeutungen waren nur allzu verständlich für sie gewesen. Er streckte jetzt seine schmale knochige Greisenhand nach ihr aus. »Komm!« befahl er. Melissa schüttelte verwirrt den Kopf. »Wer bist du überhaupt?« In seinen grauen Augen glomm etwas Unheimliches auf. »Ich bin Kennerk, der Eichenkundige der umliegenden vier Dörfer!« Er griff nach Melissas Handgelenk, um sie vorwärts zu ziehen. Dabei wandte er sich nochmals zu ihr um. Seine Stimme war bedrohlich und duldete keinen Widerspruch. »Ich bin ihr letzter Druide! Nach mir wird keiner mehr sein, der die Geheimnisse hütet! Und du, Melissa, wirst meine Wünsche erfüllen!«
*
Richard saß auf einem der harten Stühle vor der Intensivstation und hatte seinen Kopf auf beide Hände gestützt. Dabei verbarg er sein Gesicht und starrte durch seine Finger hinunter auf den marmorweißen Boden. Er wollte Willery nicht ansehen, der unruhig den Gang auf und ab ging. Der Inspektor hätte Melissa nicht in diese Höhle schleppen sollen! Richard Miller gab dem Polizisten die Schuld am Zusammenbruch der jungen Frau in diesem keltischen Kultgrab.
Die besinnungslose Miß Weston war sofort wieder ins Krankenhaus gebracht worden. Hinter verschlossenen Türen bemühte man sich jetzt um sie. Richards Hände verkrampften sich ineinander. Er blickte auf und starrte Willery an. »Beten Sie zu Gott, daß ihr nichts geschehen ist!« preßte der Student zwischen seinen Zähnen hervor. Der Inspektor zuckte mit den Schultern. »Die Ärzte hatten mir versichert, daß es Miß Weston wieder gutgeht. Es gab keine Bedenken gegen eine Befragung vor Ort!« versuchte er Richie zu beschwichtigen. »Sie glauben, daß Melissa mit dieser ganzen Geschichte etwas zu tun hat!« knurrte der junge Mann bitter. »Sie hat Einkäufe getätigt bei einem gewissen Jonathan Hammersmith in Oak-Hallfield! Der Mann ist einschlägig vorbestraft und steht im Verdacht, noch immer in Hehlergeschäfte verwickelt zu sein!« trumpfte Willery auf. »Sie könnte von der Grabung erzählt haben, vielleicht unbewußt!« Richard sah dem Inspektor fest in die Augen. »Was sind Sie nur für ein Mensch, Willery! Glauben Sie wirklich, Melissa hätte dabei mitgeholfen, den Mann, den sie liebte, zu ermorden? Oder sein Lebenswerk zu zerstören? Handers hat nur auf diesen Augenblick hingearbeitet, endlich ein unberührtes Grab aus der Keltenzeit zu finden und die Anerkennung seiner Fachkollegen zu erlangen! Hier ging es nicht um Gold, sondern um Wissenschaft! Warum begreifen Sie das nicht, Inspektor? Es gab Neider, die Henry den Erfolg nicht gönnten! Schließlich war er noch sehr jung und blamierte mit seinen Ideen und Erfolgen in der Forschung ältere Fachkollegen! Haben Sie wirklich an alles gedacht, Mr. Willery?« Der Inspektor preßte die Lippen aufeinander und schaute Richard ziemlich grimmig an. Dabei mußte er ihm recht geben.
Die junge Frau hatte kein Motiv, irgendwelchen Gaunern zu helfen. Willery hatte Erkundigungen eingezogen, Melissa stammte aus gesicherten Verhältnissen, hatte eine gutbezahlte Arbeit und war schon länger mit Henry Handers liiert gewesen. Seine Ermittlungen landeten immer mehr in einer Sackgasse. Einer der Ärzte trat auf die beiden zu. Der Mediziner wirkte erschöpft. »Melissa Weston, gehört sie zu Ihnen?« fragte er und wischte sich über sein Gesicht, als wäre er durch Spinnweben gelaufen. Richie sprang auf. »Ja! Wie geht es ihr?« Der Arzt sah ihn ernst an. »Ihr Zustand ist stabil!« Über Richards Gesicht huschte ein Lächeln der Erleichterung. Auch Inspektor Willery unterbrach seine nervöse Wanderung. »Kann ich zu ihr? Wann kann ich mit ihr reden?« Der Student sah hoffnungsvoll auf die Tür, hinter der sich Melissa in der Obhut der Ärzte befand. »Sie können mit ihr reden!« erwiderte der Arzt. »Aber Sie werden keine Antwort erhalten! Miß Weston liegt im Koma!«
*
Kennerk brachte Melissa zu seinem Haus, einem beachtlichen Blockhaus in Sichtweite eines umfriedeten Dorfes. Zwei alte Frauen saßen auf einer Bank vor dem Eingang. Sie ließen die Tücher ihrer Stickarbeit sinken und blickten dem Druiden und seinem Gast entgegen. Eine der Frauen war aufwendiger als die andere gekleidet, sie trug an Hals und Armen Schmuck. Der Alte blieb vor ihr stehen und sah sie lächelnd an. In der
Art, wie sie zurücklächelte, konnte Melissa erkennen, daß diese beiden Menschen ein Paar waren. »Diese Frau fand ich beim Grab unseres Kindes! Sie wird tun, was zu tun ist!« Die Stimme des alten Mannes war seltsam weich, als er das sagte. Melissa konnte noch immer nicht glauben, was ihr geschah. »Ich bin doch nicht wirklich hier, oder?« stammelte sie tonlos und sah von dem alten Druiden fragend zu den beiden Frauen. Die Hausherrin lächelte mild und reichte ihre Handarbeit der anderen Frau, damit sie sich erheben konnte. Sie streckte Melissa beide Hände entgegen. Herzlichkeit lag in der leichten Umarmung, mit der die Alte Melissa umfing. »Nein, du bist nicht wirklich hier, mein Kind! Es ist deine Seele, die mein Mann rief!« »Meine Seele? Bin ich jetzt tatsächlich tot?« Der alte Mann legte wie tröstend seine Hand auf Melissas Schulter. »Tot? Nein, tot bist du nicht, soweit ich das beurteilen kann! Du bist in deiner Zeit, in deiner Welt im Augenblick nur noch körperlich vorhanden! Deinen Geist habe ich allerdings zu mir gerufen!« Die Hausherrin bot mit einer stummen Geste Melissa den Platz an ihrer Seite auf der Bank an. Die junge Frau war sich bewußt, daß sie diese Einladung annehmen mußte. Mit in ihrem Schoß gefalteten Händen setzte sie sich. Kennerk begann langsam auf und ab zu schreiten. Er tat das würdevoll, hochaufgerichtet, den Blick in eine imaginäre Ferne gerichtet. »Melissa, ich will dich nicht länger aufhalten in dieser Welt, als es unbedingt nötig ist!« begann er schließlich zu sprechen. Er deutete auf das nahe Dorf. »Ich bin ihr letzter Druide, und das Wissen all der Eichenkundigen wird mit mir vergehen. Unsere Zeit endet, wie alles einmal endet. Fremde herrschen
über unser Land, nichts wird mehr sein, wie es war. Das Dorf hat schon die schönsten Schimmel auf der Weide stehen für meinen Totenwagen, die Frauen richten schon unsere Gewänder für die andere Welt. Meine Gemahlin wird mit mir gehen, und die treue Kinderfrau unseres Sohnes auch.« Melissa wagte kaum zu atmen, so beeindruckt war sie von der Gestik des Alten. Er blieb jetzt vor ihr stehen und sah ihr ins Gesicht. »Das alles hat mit dir nichts zu tun, Melissa. Du wolltest nicht, daß mein Grab geöffnet wird! Aber du warst dabei, als es geschändet und mit Blut besudelt wurde. Das gab mir die Möglichkeit, nach deiner Seele zu greifen. Was ich von dir will, werde ich dir jetzt erklären!« Er blickte auf seine Frau, in seinen klugen grauen Augen schwamm die Unendlichkeit. »Wir hatten nur einen einzigen Sohn, nur ihm hätte ich meine Geheimnisse anvertrauen können. Er starb, als er gerade fünf Jahre alt war. Ein römischer Soldat war daran schuld. Vergiß die Gedanken, die du jetzt hast, Melissa! Es war kein blutiger Überfall grausamer Besatzer! Die Römer waren eines Tages da und ich hätte nie zugelassen, daß sich die mir anvertrauten Bauern in sinnlosen Gemetzeln hinschlachten lassen. Unter Beachtung gewisser Regeln kann man auch mit Eindringlingen auskommen! Mein Sohn starb durch einen jener unglücklichen Zufälle, die auch ein Druide nicht bannen kann: Dem Römer gingen die Pferde durch und der Wagen donnerte genau in die Richtung, wo mein kleiner Sohn spielte. Kannst du dir vorstellen, was mit einem zarten Kinderkörper geschieht, wenn die Hufe von vier Pferden und die Räder eines schweren Proviantwagens über ihn hinwegrasen?« Melissa wurde übel von dieser Vorstellung, der Schmerz in des Druiden Stimme griff sie fast körperlich an. »Siehst du, deshalb hat mein Kind seine Ruhe im Grab verdient! Du wirst dafür sorgen! Du wirst mit mir kommen,
dann werde ich dir zeigen, was du zu tun hast, Melissa!« Er winkte ihr. Gehorsam stand Melissa auf. »Das ist nicht wirklich! Das ist ein Traum!« pochte es heftig in ihrem Kopf. Eine Hand griff nach ihrem Arm. Die Hausherrin lächelte ihr zu. »Ich wollte dich sehen, wollte dich kennenlernen! Behüte meinen Sohn!« Melissa fröstelte, dennoch nickte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Noch mehr erschauerte sie, als die alte Frau noch hinzufügte: »Du weißt, wie es schmerzt, jemanden zu verlieren, den man liebt!« Kennerk ließ ihr keine Zeit, länger über die Worte der Frau nachzudenken. Er nahm sie an die Hand wie ein Kind und führte sie zurück in den Wald. Zielsicher schritt der Druide durch das Dickicht. Für Melissa waren die mächtigen Stämme beängstigend. Kennerk lächelte über das verschreckte Gesicht der jungen Frau. »Diese Eichen werden nicht mehr lange stehen, Melissa! Sie werden Häuser bauen und Schiffe, ohne Respekt vor jenen Bäumen zu haben.« Dann standen sie plötzlich vor einer Felsennase, die sich etwa zwei Meter aus dem Boden erhob. Rings um diese Erhebung war geschäftiges Treiben, Männer hieben mit Hämmern auf den Stein ein und gruben mit altertümlichen Schaufeln im Boden, Frauen trugen in flachen Körben Erde und Gestein emsig hin und her. Alles das erinnerte Melissa auf makabre Weise an die Tätigkeiten der Studenten, als sie das Grab freilegten. »Das sind alles Leute aus meinen vier Dörfern. Ich habe sie behütet, seit ich diese Sichel von meinem Vater übernahm. Ich habe ihre Krankheiten geheilt, ihr Vieh von bösem Zauber befreit, habe ihnen das Wetter vorhergesagt und die Zukunft in den Sternen gelesen. Jetzt tun sie einen letzten Dienst für mich, und dann werden sie vergessen, daß es solche wie mich
überhaupt gab. Nur in langen Winternächten werden sie manchmal Geschichten erzählen von mächtigen Zauberern, die klug genug waren, um Könige zu beraten.« Kennerk zeigte Melissa die Sichel, die er aus den unzähligen Falten seines Gewandes genestelt hatte. Sie war wirklich aus Gold, matt und doch scharf glänzte die gekrümmte Schneide, die nur eine Spanne lang war und an einem fast unterarmlangen Stiel saß. »Sie ist sehr alt, viele Generationen vor mir wurde sie nach einem längst vergessenen Ritual geschmiedet, mit Menschenblut gelöscht und mit Zauber versehen.« Der Alte erhob die Sichel hoch in die Luft. Die Menschen hielten in ihrer Arbeit inne und bildeten eine Gasse für Kennerk und Melissa. Der Druide führte die junge Frau durch die eigenartige Baustelle. Jetzt konnte Melissa erkennen, daß die Felsennase nur den Eingang zu einer Höhle bildete. Sie kannte diese Höhle! »Nur auf Knien konnte man die Höhle erreichen, nur ein einziger Mensch paßte durch den Zugang! Jetzt schlagen sie den Fels aus, um Platz zu schaffen für meinen Totenwagen! Ich habe mir ausbedungen, in der Nähe meines Sohnes zu ruhen!« In der Höhle loderten Fackeln, ließen gespenstische Schatten über den Fels huschen. Melissa erkannte, daß sich die Höhle in einem Felsspalt fortsetzte, der schräg hinunter in die Erde führte. Genau dorthin zog der Alte sie. Gebückt zwängte sie sich durch die Enge und fand sich in einer weiteren Höhle wieder. Kennerk hatte eine der Fackeln mitgenommen. In dem diffusen Licht erkannte sie, daß sie eine Gruft vor sich hätte. Der modrige Geruch ließ wieder Übelkeit in ihr aufsteigen. Sie zweifelte nicht daran, daß das Bündel aus zerfallendem Stoff vor ihr Kennerks Sohn barg. Goldene Ketten lagen über diesen Stoff gebreitet, eine wertvoller als die andere. Der ganze
Höhlenboden war mit feiner Keramik vollgestellt, dazwischen kleine Kultfiguren, die den Fackelschein zurückwarfen – Gold. Melissa wagte nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn jemand in ihrer Zeit auf dieses Grab stieß. »Meine Leute werden dafür sorgen, daß dieser Zugang verschlossen wird, als hätte es ihn nie gegeben. Deine Aufgabe ist es, zu verhindern, daß die Ruhe meines Sohnes gestört wird!« Melissa rang nach Luft. »Was geschieht, wenn ich das nicht tue?« »Ich will dir nicht drohen, du weißt, was ich tun kann, für mich zählt die Zeit nicht, die zwischen uns liegt! Du sollst es freiwillig tun, weil ich dir helfen werde, etwas zu Ende zu bringen.« Der Druide zog Melissa aus dem Felsspalt. Aufatmend fand sich die junge Frau wieder in der großen Grabhöhle. Benommen zwinkerte sie in das Licht. »Paß auf, Melissa, ich hinterlasse dir ein Geschenk!« Er schritt auf einen natürlichen Felssims zu, der in etwa zwei Metern Höhe verlief. Mit ausgestrecktem Arm reichte er gerade dort hinauf. Ächzend schob der Alte die Goldsichel dort hinauf. Ein leises Klirren verriet, daß sie dort in einen Hohlraum fiel. »Das mußt du dir merken, alles andere kannst du vergessen, nur nicht, wo du diese Sichel finden kannst! Melissa, du wirst sie brauchen! Sie hilft dir bei der Suche nach dem Mörder, sie hilft dir zu tun, was du tun mußt!« Melissa nickte benommen und versuchte, sich diesen Sims genau einzuprägen. Sie sah auf den Druiden, sah erst jetzt, wie müde er wirkte, welche Spuren das Alter in sein Gesicht gegraben hatte. »Ich schicke dich jetzt zurück, Melissa! Denk an die Sichel!« Kennerks Stimme war spröde. Er hob seine Hände. Murmelnd bewegten sich seine Lippen. In Melissa stieg ein
eigenartiges Kribbeln auf, obwohl sie dagegen ankämpfte, wurde es dunkel um sie. Ein Wirbel schien sie in den Boden zu reißen.
*
Melissa schwebte. Sie träumte. Ihr Traumbild war beängstigend gegenwärtig. Ein von zwei Schimmeln gezogener Wagen fuhr in eine Höhle. Ein Toter war auf den Wagen gebettet, ein alter Mann, und Melissa kannte ihn. Zwei ebenfalls sehr alte Frauen folgten dem Wagen, stützten sich in ihrer Gebrechlichkeit gegenseitig. Der Kutscher stieg vom Wagen und nahm die Schimmel am Zügel. Nervös tänzelten die Tiere ihrem Schicksal entgegen. Ein anderer Mann schwang einen Hammer und schlug den Pferden den Schädel ein. Zuckend sanken die Tiere nieder. Die alten Frauen hatten sich inzwischen auf einer Decke niedergelassen. Mit ernsten Gesichtern sahen sie zum Eingang der Höhle. Dort gingen, scheu ihre Köpfe in Ehrfurcht neigend, viele Menschen vorbei, alte und junge Frauen, Männer und Kinder. Schließlich schloß sich der Eingang allmählich, immer mehr die gespenstische Szene in die Dunkelheit rückend. Melissa fuhr schreiend hoch und riß die Augen auf. Sie starrte in das besorgte Gesicht Richard Millers. Er drückte sie zurück in die Kissen. »Meine Güte, Melissa! Du kannst einem einen gehörigen Schrecken einjagen! Bleib jetzt ganz ruhig liegen, bis der Arzt kommt!« Unwillkürlich hatte der junge Mann auf jegliche Förmlichkeit bei der Anrede Melissas verzichtet. Fast zwei Tage hatte er an ihrem Krankenbett verbracht, ihre Hand gehalten, mit ihr gesprochen, jede Linie in ihrem Gesicht war
ihm vertraut. Es war, als kenne er diese Frau bereits seit Ewigkeiten. Der diensthabende Arzt riß die Tür auf und stürmte in Begleitung einer Krankenschwester in das Zimmer. Mit geübten Handgriffen überprüfte er Melissas Reflexe, besah sich die Monitore der Geräte, die die Lebensfunktionen der jungen Frau überwachten, und schüttelte schließlich den Kopf. Das hatte er in seiner bisherigen Laufbahn als Mediziner noch nicht erlebt. »Miß Weston, ich begrüße Sie unter den Lebenden! Sie sind topfit für jemanden, der sich für zwei lange Tage aus der realen Welt verabschiedet hatte!« meinte der Arzt. »Sie sollten aber jetzt nicht gleich aus dem Bett springen! Ich möchte Sie nämlich nicht noch einmal in diesem Krankenhaus begrüßen dürfen!« Er lächelte Melissa zu und zeigte auf Richie. »Sie passen auf die junge Dame auf, bis sie auf eine normale Station gebracht wird! Und dann legen Sie sich erst einmal schlafen, Mr. Miller!« »Hast du die ganze Zeit hier bei mir gesessen? Schon wieder?« wollte Melissa wissen. Richie nickte und preßte ihre Hand. »Ich hatte gräßliche Träume von diesem Grab!« stöhnte Melissa. »Das glaube ich ohne weiteres! Es ist ja wohl nicht oft vorgekommen in der Geschichte der Medizin, daß jemand schreiend aus dem Koma erwacht!« versuchte Richard zu flachsen. Melissa sah ihn an, ihr Lächeln wirkte gequält. Ihre Hand wanderte zu seinem Gesicht, strich sanft über seine Wangen, über seine Augenlider. »Du siehst müde aus, Richie! Geh schlafen, ich bin jetzt in Ordnung!«
Einen winzigen Augenblick zögerte Richard, dann beugte er sich über Melissa und küßte sie sanft auf beide Wangen.
*
»Du glaubst gar nicht, welche Überzeugungsarbeit ich leisten mußte, damit die Ärzte dich aus dem Krankenhaus entließen!« stöhnte Richie. Er öffnete die Beifahrertür des Jeeps, den Handers für die Ausgrabung organisiert hatte, damit Melissa einsteigen konnte. Sie nickte ihm dankbar für diese höfliche Geste zu. »Das kann ich vollkommen verstehen! Da ich mich zum Dauergast in dieser Klinik entwickelt habe, sehen mich wohl alle lieber sicher im Bett! Heute morgen war sogar Inspektor Willery bei mir! Er bat mich, doch an meine Gesundheit zu denken und noch einige Tage im Krankenhaus zu verbringen!« »Na, das sind ja ganz neue Töne! Gerade noch wollte er dich am liebsten verhaften, und jetzt ist er besorgt um dich!« Richard schüttelte verwundert den Kopf und startete den Wagen. Melissa grinste belustigt. »So uneigennützig war dieser gute Rat des Inspektors bestimmt nicht! Dort hätte er mich nur besser unter Kontrolle! Er fragte mich nämlich, ob ich vorhätte, nach Hause zu fahren!« »Fährst du nach Hause?« erkundigte sich der junge Mann, mit einem Gesicht, als hätte er soeben in eine Zitrone gebissen. »Würde dir das leid tun, Richie?« Miller wurde plötzlich rot, als wäre ihm diese Frage peinlich. Seine Antwort war dementsprechend ausweichend: »Nun, ich habe mich inzwischen unheimlich an dich gewöhnt…«
Sie hatten inzwischen die Stadt verlassen, die letzte befestigte Straße lag hinter ihnen. Richard lenkte den Wagen zielsicher auf kaum als solche zu erkennende Wege in Richtung des Archäologencamps. Plötzlich bremste er, die blockierenden Räder wirbelten Staub auf. Er sah die verblüffte junge Frau auf dem Beifahrersitz ernst an. »Es würde mir sogar sehr leid tun, Melissa! Ich liebe dich!« gestand er. Jeden Augenblick erwartete er, daß ihn die junge Frau abweisen würde. Aber Melissa sah ihn sanft lachend an und nahm seinen Kopf in ihre schmalen Hände, so daß er gezwungen war, ihr in die Augen zu sehen. »Richie, auch ich habe dich sehr gern! Du hast in den letzten Tagen so viel für mich getan, du hast mehr verdient als bloße Dankbarkeit! Aber ich bitte dich, laß mir noch etwas Zeit! Henry ist erst…« Sie stockte mitten im Satz, weil sie sich scheute, das Wort »tot« auszusprechen. Leise fügte sie hinzu: »Ich konnte nicht einmal an seinem Begräbnis teilnehmen!« Schweigend sahen sich die beiden jungen Menschen eine Zeitlang an, als würden sie auf diese Weise zu einer stillen Übereinkunft kommen. »Du fährst also nicht nach Hause? Wir werden ganz allein im Lager sein! Die Studenten sind inzwischen abgereist, weil Inspektor Willery angeordnet hat, daß am Tatort nichts verändert werden darf!« Richard faßte nach Melissas Händen und zog sie von seinem Gesicht. Einen Augenblick hielt er die Finger der Frau fest, bevor er sie freigab. »Ich habe dem Inspektor gesagt, daß ich Henrys Unterlagen sichten muß! Im Lager!« Die junge Frau lächelte, ihre Augen lösten sich von Richards Gesicht und wanderten hinaus zu den grünen Hügeln. »Das hat Willery nicht so recht gefallen, er hat mir strikt verboten, auch nur in die Nähe des Grabes zu gehen.«
»Das klingt nicht so, als würdest du dich daran halten wollen!« stellte Richie fest. »Was glaubst du, was du dort noch findest, was der Polizei nicht aufgefallen sein könnte? Die Beamten haben da drin alles noch gründlicher untersucht, als mein zukünftiger Berufsstand es tun würde! Jeden Knochen und jede Scherbe haben sie nach Fingerabdrücken abgepudert!« Sie schüttelte leicht amüsiert den Kopf. »Ich will eigentlich nur feststellen, ob ich verrückt bin! Wenn du wüßtest, was ich geträumt habe… Jetzt fahr schon los, Richie, sonst wird es dunkel! Es ist scheußlich, bei Nacht durch diese Einöde zu fahren, das kann ich dir aus eigener Erfahrung sagen!« Das verlassene Camp wirkte nicht gerade einladend. Das fröhliche Durcheinander der jungen Leute hatte es wohnlich gemacht, jetzt lastete eine unerträgliche Stille über den Caravans. Schon sank die Dämmerung, tauchte die Umgebung in ein diffuses Zwielicht. »Ich werde doch beginnen, Henrys Unterlagen zu ordnen!« meinte Melissa und öffnete den Wohnwagen, der ihr und Handers als Unterkunft gedient hatte. Richard akzeptierte ihre Gefühle. »Wenn du mich brauchst Melissa, du weißt, wo du mich finden kannst! Gute Nacht!« »Gute Nacht, Richie!« Dankbar sah sie ihn an.
*
Mit den ersten Sonnenstrahlen erwachte Melissa. Sie hatte tief und fest geschlafen, ohne die von ihr eigentlich erwarteten bösen Träume. Sie streifte sich rasch einen bequemen Jogginganzug über und ging nach draußen. Es war empfindlich kühl an diesem Morgen. Melissa rieb fröstelnd die Hände.
Richard steckte seinen zerzausten Kopf aus der Tür seiner Behausung. Er gähnte laut. »Du bist schon wach?« meinte er überflüssigerweise. »Ja, und sehr tatendurstig! Ich muß unbedingt in dieses Grab!« »Melissa, ich muß mich wundern! Dir ist in dieser Höhle jedesmal etwas Schlimmes passiert, und du willst noch einmal dorthin?« »Gerade deshalb!« Wie ein trotziges Kind warf sie den Kopf nach hinten. »Läßt du dich wenigstens zu einem kräftigen Frühstück überreden?« bat Richie und versuchte, sich den Schlaf aus den Augen zu reiben. »Natürlich!« stimmte die junge Frau lachend zu. »Wenn du es zubereitest!« Nur wenig später waren die beiden unterwegs zu dem Ausgrabungsgelände. »Ich hoffe nur, daß Willery keine Leute übrig hat, um das Grab noch zu bewachen!« murmelte Richie. »Jetzt sei mal nicht so pessimistisch! Die Spuren sind gesichert, sämtliche wertvollen Gegenstände gestohlen, mit welcher Begründung sollte der Inspektor hier noch Tag und Nacht in dieser Einöde sein knappes Personal einsetzen!« Melissa hatte die aufgewühlten Erdhaufen erreicht, die Handers’ Studentengruppe hinterlassen hatte. Die lächerlichen Plastikbänder mit dem Aufdruck, daß das Betreten dieses Bereiches verboten sei, flatterten grellgelb im Wind. Die junge Frau holte tief Luft, als sie die dunkle Höhlenöffnung sah. Die Sonne, die sich aus dem Morgennebel kämpfte, hatte die Grube noch nicht erreicht, so daß der Eingang zu Henry Handers’ Entdeckung noch in geheimnisvollem Schatten lag. Jetzt war ihr doch etwas
beklommen zumute. Sie sah sich um. Es machte ihr keine Mühe, sich den Wald vorzustellen, der vor zwei Jahrtausenden diese Hügel bedeckt hatte. Melissa ertappte sich, wie sie überlegte, an welchen Stellen welche Bäume gestanden hatten. »Sag mal, Richie, das stimmt doch, daß es hier einen Urwald gab? Henry hat mir das gesagt!« Der junge Mann hatte die Unsicherheit in Melissas Stimme gehört. »Natürlich, das weißt du doch! Eichen, Buchen und andere Laubbäume! Sollten wir nicht lieber umkehren?« bot Richard ihr an. Sie schüttelte den Kopf. »Glaubst du, ich bin verrückt, wenn ich dir sage, daß genau hier vor uns eine verkrüppelte Buche wuchs, dort unten vor der Höhle aber eine kleine Lichtung war? Vor zweitausend Jahren natürlich!« »Melissa, du hast eine blühende Phantasie, das ist doch nichts Schlimmes! Vielleicht solltest du auch noch Archäologie studieren, viele unserer Fachkollegen sind so schrecklich wissenschaftlich nüchtern und einfallslos!« »Gott bewahre! Das fehlte noch! Ich habe schon mit dieser einen Ausgrabung Ärger genug!« stöhnte sie und versuchte burschikos, ihre Beklommenheit zu überspielen. »Komm, wir gehen hinunter!« Sie griff nach Richies Hand und zog ihn hinunter zu der Höhle. Auch dort hatte Willery üppig Absperrbänder ziehen lassen, was den beiden jungen Menschen nur ein Grinsen entlockte. Richard hob die gelben Plastikstreifen hoch, um Melissa durchkriechen zu lassen. Als er ihr folgte, hatte sie schon ihre Taschenlampe eingeschaltet und leuchtete die Wände der Höhle ab. »Was suchst du eigentlich hier?« wollte Miller wissen. Seine Stimme hallte unheimlich von den Höhlenwänden wider.
»Meinen Verstand! Entschuldige bitte, Richie, aber ich will hier drin herausbekommen, ob ich langsam verrückt werde!« »Hängt das etwa mit deinem Traum zusammen?« ahnte der Student. »Laß uns verschwinden, Melissa! Du solltest einen Psychiater aufsuchen, wenn du wegen deiner Erlebnisse hier in diesem Grab Probleme hast!« »Der würde mich gleich in eine dieser geschlossenen Anstalten einweisen lassen!« murmelte Melissa. Im Lichtstrahl der Taschenlampe entdeckte sie einen schmalen Gesteinsstreifen, der sich deutlich von dem glatteren Fels ringsum abhob. Besorgt folgte Richie der jungen Frau, die hastig auf diese Wand zustolperte. Verwundert sah er ihr zu, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellte und mit der freien Hand den natürlichen Sims abtastete. Melissa hielt inne, war einen Augenblick lang wie erstarrt. »Du lieber Himmel, ich bin doch verrückt!« stöhnte sie, laut genug, daß Richard es hören konnte. Er kam näher, um zu sehen, was die junge Frau dort an dem Felsen tat. Melissa tanzte noch immer auf Zehenspitzen, ihre Hand, die auf dem Sims ruhte, schloß sich um etwas und hob es aus seinem Versteck. Als wäre sie gestern erst dort versteckt worden, glänzte die goldene Sichel im Schein von Richards Taschenlampe. Unwillkürlich wich der Student einen Schritt zurück. »Melissa! Du weißt, was das ist?« »Natürlich! Die Sichel eines Druiden!« meinte sie sarkastisch. »Er hat sie extra für mich dort versteckt! Jetzt weiß ich ganz genau, daß ich nicht alle Tassen im Schrank habe!« Fachmännisch besah sich Richie das goldene Kultwerkzeug. »Kein bißchen Patina! Ich kann nicht glauben, daß dieses Ding schon zweitausend Jahre alt sein soll!«
»Du kannst es ruhig glauben! Ich war selbst dabei, als der Druide es dorthin legte!« Sie deutete auf einen der Schädel auf dem felsigen Boden, der mit leeren Augenhöhlen auf sie zu starren schien. Richard legte seine Hand auf Melissas Schulter. »Geht es dir wirklich gut? Wir sollten sofort hier verschwinden!« »Nein, noch nicht!« Sie schüttelte ihn unwillig ab. »Erst muß ich noch etwas anderes sehen!« Schneller, als Richie folgen konnte, sprang Melissa an das Ende der Höhle, dort, wo sie immer niedriger wurde und in Massen von Geröll endete. Die junge Frau hockte sich nieder und leuchtete das lose Gestein an. Sie bot einen seltsamen Anblick, wie sie dort kauerte und Steine besah. Unbewußt hielt sie die Druidensichel hoch erhoben. »Das dachte ich mir!« hörte Richard sie murmeln. Dann kam sie zu seiner Erleichterung zurück zu ihm. »Es tut mir leid, Richie, ich muß jetzt ziemlich irre auf dich gewirkt haben!« entschuldigte sie sich. »Jetzt können wir gehen! Ich habe dir einiges zu erklären, glaube ich!« Aufatmend verließen beide das Höhlendunkel. Inzwischen hatten sich dunkle Wolken vor die Sonne geschoben, ein leichter, unangenehmer Nieselregen ging nieder. Dennoch war es Melissa angenehm, die Feuchtigkeit auf ihrer Haut zu spüren. Sie taumelte, geradewegs in Richies Arme. Nur zu gern zog er sie fest an sich. Er machte sich Sorgen um sie, zu seltsam hatte sie sich in diesem Grab benommen. »He, bitte fuchtele nicht mit dieser Sichel herum, Melissa! Sie sieht verdammt scharf aus, und ich habe nicht die Absicht, als letztes Menschenopfer eines keltischen Druiden aufgeschlitzt zu werden!« versuchte er zu scherzen. In Melissas Augen schimmerten Tränen. »Du wirst mir nicht glauben, Richie!«
»Wir beide suchen jetzt erst mal eine trockenere Gegend auf, Liebes! Wenn du dann mit mir schön gemütlich einen Brandy trinkst, verspreche ich dir, alles und jedes zu glauben!« versicherte er ihr und zog sie sanft den Hügel hinauf.
*
Richard starrte in sein leeres Glas. Was Melissa ihn soeben erzählt hatte, widersprach seinem gesunden Menschenverstand. Und doch, hatte sie nicht zielsicher die Sichel gefunden? Niemand wäre auf die Idee gekommen, diesen winzigen Felsvorsprung nach Spuren einer vergangenen Zeit zu untersuchen. Blank und geheimnisvoll schimmernd lag das Artefakt zwischen ihm und Melissa auf dem Tisch. Der junge Mann mußte zugeben, daß ein geheimnisvoller Zauber von der Druidensichel ausging. »Ich wußte es! Du nimmst mir diese Geschichte nicht ab!« flüsterte Melissa bitter, weil Richard so lange schwieg. Er zuckte zusammen, so versunken in seine Gedanken war er gewesen. Langsam schüttelte er den Kopf. »Es bleibt mir nichts anderes übrig, als dir zu glauben, Melissa. Du hast mir schließlich ein massiv goldenes Beweisstück vorgelegt!« versuchte er zu scherzen. »O Gott, ich brauche noch einen Brandy! Willst du auch noch ein Glas?« Jetzt wehrte Melissa kopfschüttelnd ab. Mit dem Zeigefinger fuhr sie über den mit verschlungenen Mustern reich ziselierten Griff der Sichel. »Was haben die Druiden damit getan? Wozu war das Ding aus Gold? Hätte es nicht ein weniger wertvolles Material getan, wenn das vielleicht doch nur ein Werkzeug war?«
Richard zuckte mit den Achseln. »Wir wissen viel zu wenig von der Religion der Kelten und ihrer Druiden! Wenn wir der allgemeinen Meinung glauben sollen, hatten diese sogenannten Eichenkundigen den lieben langen Tag nichts anderes zu tun, als mit ihren goldenen Sicheln durch den Wald zu kriechen und Misteln von den Bäumen zu schneiden!« »Du bist albern, Richie! Vielleicht war der zweite Brandy zu viel für dich! Aber im Ernst, wie kann mir dieses Ding helfen?« »Diese Sichel soll dir helfen? Wobei?« Melissa stöhnte auf. »Hast du mir überhaupt zugehört? Kennerk, der Druide, hat mir versprochen, wenn ich dafür sorge, daß das Kindergrab nicht geöffnet wird, führt mich die Sichel zu Henrys Mörder! Oder glaubst du mir doch nicht?« Richard sah sie an, ohne ihr zu antworten. Melissas Wangen glühten von dem ungewohnten Alkohol, ihre Augen schienen von einem inneren Feuer zu brennen. Er war in Versuchung, sie zu küssen, sie zu umarmen, um sie nie mehr loszulassen. »Richie! Hörst du mir überhaupt zu?« Empört schlossen sich ihre Finger um sein Handgelenk. Die Berührung riß ihn aus seinen Gedanken. »Willery war der Meinung, du könntest diesem seltsamen Händler in Oak-Hallfield etwas erzählt oder gar mit ihm gemeinsame Sache gemacht haben!« sagte der junge Mann leise. »Hammersmith?« Melissa war verblüfft. »Der sah nicht aus wie ein Mörder! Eher wie eine Gestalt aus einem Lachkabinett oder einer Geisterbahn!« »Aber er betreibt einen Handel in einer Gegend, wo es gar nichts zu handeln gibt! Da muß ich Willery recht geben! Ein Mörder ist er vielleicht nicht, aber sicher ein Dieb und Hehler!«
»Gut!« Melissa stand vom Tisch auf. »Das läßt sich ganz einfach überprüfen! Wir fahren nach Oak-Hallfield! Und zwar mit dieser Sichel!« »Was? Jetzt sofort? Ich habe zuviel Brandy getrunken, um mich hinter das Steuer des Jeeps zu setzen!« Richies Blick wanderte zu seinem Glas, in dem noch ein Rest goldener Flüssigkeit schimmerte. »Was willst du diesem Händler überhaupt erzählen?« »Keine Sorge! Ich fahre höchstpersönlich und ich werde mir auch eine hübsche Geschichte einfallen lassen, die wir diesem Hammersmith unterbreiten können. Ganz sicher verrät er sich irgendwie!« »Melissa, bist du jetzt etwa unter die Detektive gegangen?« stöhnte Richard. Am Gesicht der jungen Frau konnte er erkennen, daß sie fest entschlossen war, ihr Vorhaben sofort in die Tat umzusetzen. »Findest du das furchtbar?« neckte sie ihn. »Die Arbeit eines Detektivs dürfte sich doch gar nicht so sehr von der eines Archäologen unterscheiden! Komm, wir gehen auf Spurensuche!«
*
Oak-Hallfield machte im naßkalten Nebel einen noch trostloseren Eindruck. Die kleinen Häuser schienen sich fest an den Boden zu ducken. Der Anblick des Ortes ließ Melissa wieder frösteln. »Kannst du dir vorstellen, daß hier einmal uralte Bäume standen, sich dichter Wald dehnte, wie weit die Bewohner des Ortes auch gingen?« flüsterte Melissa Richard zu. Sie wagte einfach nicht, laut zu sprechen.
»Ich kann mir nicht einmal vorstellen, daß diese Straße einmal voller spielender Kinder und geschäftiger Hausfrauen gewesen sein soll! Es ist gespenstisch, wenn ein Ort langsam stirbt!« Richie schüttelte traurig den Kopf. Die Geschichte, die er studierte, war voller blühender Orte, die plötzlich ausgelöscht wurden, durch Kriege, durch Seuchen, durch Naturkatastrophen. Aber das hier war etwas anderes. Die Bewohner von Oak-Hallfield waren freiwillig gegangen, weil es keine Zukunft für sie gab. Zurückgeblieben waren nur die Alten, die für sich die Entscheidung getroffen hatten, auch dort zu sterben, wo sie geboren waren, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hatten. Irgendwann würde von dem alten Dorf OakHallfield nicht einmal mehr eine Legende bleiben. »Es ist schade, wenn eine in der Vergangenheit gewachsene Siedlung so verlischt. Das ist gerade, als würde ein Stück vom Charakter eines Landes verschwinden!« Richie legte wie tröstend seinen Arm um Melissas Schulter. Die junge Frau war vor dem Laden stehengeblieben. Noch immer kündete die vom Wetter verblichene Inschrift vom Namen des Hausbesitzers. Das vor Schmutz blinde Schaufenster gab nichts vom Inneren des Ladens preis, denn es war bis in Sichthöhe mit Kisten verstellt. »Hier hast du unsere Verpflegung besorgt?« entsetzte sich Richie und faßte mit der Hand an seine Kehle. »Und da sind wir nicht sofort alle an Lebensmittelvergiftung erkrankt? Der Plunder in diesem Laden muß doch auch noch aus der Römerzeit stammen! Und wir graben mühsam nach so was!« »Du brauchst gar nicht zu flachsen! Warte nur, bis du das Geschäft von innen siehst! Aber keine Sorge, die Lebensmittel für unsere Gruppe hat Hammersmith alle frisch besorgt!« Im Inneren des Ladens hatte Richard auch gleich das Vergnügen, den Inhaber persönlich kennenzulernen. Leider war es zu dämmrig in dem mit Krimskrams aller Art
zugebauten Verkaufsraum, um das Gesicht Hammersmiths genauer zu erkennen. Der Student hätte zu gern gesehen, wie der knochige Händler auf Melissas Erscheinen reagierte. »Sind Sie nicht die Miß, die für diese Studenten hier eingekauft hat? Sie sind immer noch hier? Da gab es doch ein Unglück, oder was war denn da gleich? Ich habe in der Zeitung davon gelesen…«, begrüßte der große Mann die junge Frau gelassen und freundlich. »Es freut mich, daß Sie sich an mich erinnern, Mr. Hammersmith!« flötete Melissa mit zuckersüßer Stimme, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie konnte nicht genau sagen, was ihr an dem Händler plötzlich so bedrohlich vorkam. War es ein Bruchstück einer schrecklichen Erinnerung, die Bewegung eines Schattens wie von einem riesigen Insekt, nur unbewußt aufgefangen im Unterbewußtsein? Aber Melissa bezwang ihre Furcht. »Dann werden Sie auch wissen, daß wir dort draußen nicht nur Bodenproben genommen haben und die ganze Sache nicht sehr erfreulich für mich endete!« »Nun ja, so genau habe ich nicht…«, brummte Hammersmith und schob den Kopf auf dem dürren Hals in Melissas Richtung, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Richard stellte sich dicht neben die junge Frau, weil er spürte, daß sie unsicher wurde. »Und was habe ich damit zu schaffen? Was führt Sie zu mir, Miß? Brauchen Sie wieder Lebensmittel?« erkundigte sich der Händler, und das Lächeln, das er auf sein Gesicht zu zaubern versuchte, machte ihn keineswegs sympathischer. »Das auf keinen Fall! Aber ich brauche einen Rat von Ihnen! Ich habe so gut wie alles verloren bei dieser Geschichte hier! Um mir eine neue Existenz aufzubauen, brauche ich
Geld! Können Sie mir jemanden empfehlen, der mir etwas sehr Wertvolles abkaufen könnte?« »Wie meinen Sie das, Miß? Ich kenne keinen Juwelier oder Goldschmied, der Ihnen Ihren Familienschmuck abnimmt!« Mißtrauisch starrten die viel zu kleinen Augen Hammersmiths auf Melissa und Richard. »Es geht hier nicht um einen ererbten Trauring!« trumpfte Melissa auf und zog einen sorgfältig in ein Tuch gehüllten Gegenstand aus dem Beutel, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte. Sie legte das Bündel auf die Ladentheke. Staub wirbelte davon. Hammersmith beugte seine Schultern neugierig noch weiter hinunter, als Melissa begann, das Tuch auseinanderzuschlagen. Selbst im Halbdunkel des Ladens glänzte das Gold der Sichel sanft und lockend. An Hammersmiths dürrem Hals konnten seine Besucher den Adamsapfel aufgeregt auf und nieder hüpfen sehen. Die Finger des Händlers, die Melissa wiederum an die zuckenden Beine einer Spinne erinnerten, schwebten begehrlich über die Druidensichel. Nur wenige Zentimeter über dem Artefakt zog er jedoch seine Hand zurück, mit einer Geschwindigkeit, als hätte ihn etwas gebissen. »Sie wollen mich reinlegen! Das ist doch illegal!« fauchte Hammersmith, und in seinen Augen glomm etwas auf, was durchaus Angst sein konnte. »Natürlich!« meinte Melissa kalt. »Ich habe den Mann verloren, den ich heiraten wollte! Glauben Sie, ich stelle das einzige Stück von Wert, das er mir hinterlassen hat, für ein nettes Gedenkschildchen einem Museum kostenlos zur Verfügung? Ich muß an meine Zukunft denken!« Hammersmith schien nachzudenken. Seine schlaksigen Glieder zuckten seltsam. Endlich schien er einen Entschluß gefaßt zu haben.
»Gehen Sie morgen abend in die Stadt! Gleich am Hafen gibt es einen Gasthof, genannt >Zum Anker
Alptraum für ihn entwickelt. All die Jahre hatte der Händler darauf geachtet, daß bei seinen Hehlergeschäften und Gaunereien nie jemand körperlich Schaden erlitt, und nun war er plötzlich sogar in einen Mord verwickelt! Schnaufend stieg er die altersschwache Treppe zu seinen Wohnräumen empor. Hammersmith ließ sich in einen Sessel sinken und schloß die Augen. Das Bild der Druidensichel erschien fast greifbar vor ihm. Sanft glänzte das Gold, so rein, unbefleckt, heilig. Ganz anders, als das Leben, das Hammersmith führte. Diese Erkenntnis war dem Mann nicht neu, aber so schmerzhaft wie heute war ihm das noch nie bewußt geworden. Hammersmith fühlte sich plötzlich sehr einsam, und die Einsicht, sein Leben vergeudet zu haben, brannte in ihm, brannte peinigend und heiß…
*
»Willst du wirklich in dieses seltsame Lokal gehen?« brummte Richard mißbilligend. Er betonte das Wort »Lokal« mit einem zynischen Unterton. Die Wirtschaft »Zum Anker« machte von außen einen wirklich verkommenen Eindruck. Der Vergleich zum heruntergewirtschafteten Laden von Hammersmith lag nahe. Auch hier bröckelte die Fassade, die Fensterscheiben waren schmutzig, vergilbte Gardinen verbargen den Blick in die Gaststube. »Natürlich gehe ich dort hinein!« Melissa strich sich mit einer entschlossenen Bewegung das Haar aus der Stirn. »Der Druide hat mir versprochen, daß die Sichel mich zu Henrys Mörder führt!« Richard umfaßte Melissas Schultern und zog sie an sich. Ernst sah er in die Augen der jungen Frau. »Du hast sehr viel
durchgemacht in den letzten Tagen! Glaubst du nicht, daß es besser wäre, du würdest dich ausruhen und einfach versuchen, alles so weit als möglich zu vergessen?« Zornig blitzten die schönen Augen Melissas auf. Sie trat einen Schritt nach hinten, so daß Richards Hände von ihren Schultern glitten. »Weißt du, daß du dich wiederholst? Zweifelst du jetzt etwa doch an meinem Verstand? Ich gehe jetzt in diese Spelunke, ganz gleich, ob du mich begleitest oder nicht, Richie!« Seufzend folgte der Student der jungen Frau, die energisch auf die Eingangstür des Gasthauses zustrebte. Das Innere der Wirtschaft war nicht ganz so schlimm, wie es sich die beiden jungen Leute vorgestellt hatten. Zumindest das Tischtuch auf dem kleinen Tisch, an dem sie sich niederließen, war sauber. Der Wirt, ein nicht gerade großer, beleibter Mann von fortgeschrittenem Alter schüttelte zwar mißbilligend den Kopf, als Melissa nur ein Mineralwasser und Richard eine Cola bestellte, brachte aber die gewünschten Getränke rasch und dazu noch gut gekühlt. Wie gebannt blickte Melissa auf die große Uhr, die über der Theke an der Wand hing. Es war bereits fünf Minuten vor acht. Auch Richard Miller war unruhig. »Melissa, entschuldige mich! Ich bin sofort wieder da!« Hastig strebte der Student in Richtung der Toiletten. Mißbilligend sah ihm Melissa nach. Jeden Moment konnte der von Hammersmith angekündigte Schwarzhändler das Lokal betreten, und Richie rannte einfach davon! Die junge Frau fühlte sich nicht besonders wohl bei dem Gedanken, mit einem Kriminellen allein an einem Tisch zu sitzen. Es schien unendlich lange zu dauern, bis Richard endlich wieder an ihrer Seite Platz nahm. Melissa atmete hörbar auf. Wenige Minuten nach acht betrat ein nicht sonderlich hochgewachsener Mann von schwer bestimmbarem Alters die
Gaststube. Die Muskeln unter seinem Jackett spannten sich sichtbar und verrieten einen durchtrainierten Körper. In seiner rechten Hand hielt er eine gefaltete Zeitung, die stechend klaren Augen unter den buschigen Brauen wanderten suchend durch den Raum. »O Gott, das ist er! Richie, so unternimm doch etwas!« flüsterte Melissa ihrem Begleiter zu. Der Student hatte gar keine andere Wahl, er stand auf, trat auf den neuen Gast zu. »Wollen Sie nicht an unserem Tisch Platz nehmen?« hörte sich Richard sagen. Dieser Hehler war ihm schon beim ersten Anblick zutiefst zuwider. Der Unbekannte setzte sich zu Melissa, ohne den jungen Mann weiter zu beachten. »Sie möchten mir etwas zeigen?« kam er sofort auf sein Geschäft zu sprechen. »Woher weiß ich, daß Sie der Mann sind, den wir erwarten, Mister…?« konterte Melissa. »Nennen Sie mich John!« Gönnerhaft grinste der Fremde Melissa an. »Ich bin schon der Richtige, sonst würde ich mich kaum zu Ihnen gesellt haben! Also, Sie brauchen Geld, und Sie wollen mir deshalb etwas verkaufen! Kommen Sie zur Sache, Miß, ich habe nicht viel Zeit!« Melissa holte nun ohne ein weiteres Wort ihr Stoffbündel aus der Tasche und legte es auf den Tisch. Theatralisch schlug sie die Tuchzipfel zurück. Es war sicher gewagt, die Sichel hier offen zu präsentieren. Aber keiner der wenigen Gäste beachtete das Trio, das sich über den eigenartigen Gegenstand auf dem Tisch beugte, hier war offensichtlich jeder mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Der Gangster atmete tief, seine Augen glänzten begehrlich auf. »Das ist ja interessant! Woher haben Sie das?« »Sagen wir, es ist ein altes Erbstück!« antwortete Richie anstelle der jungen Frau. Erstaunt sah sie den Studenten an.
Die stille Warnung in seinem Blick entging ihr dennoch nicht. Dieser Mann hier war nicht vom Typ eines Jonathan Hammersmith, sondern ein Krimineller, der rücksichtslos und ohne jeden Skrupel war. »Darf ich es etwas genauer ansehen? Wenn es wirklich massiv Gold ist und aus der Epoche stammt, die ich vermute, ist dieses Werkzeug unbezahlbar! Es sei denn, Sie finden einen fanatischen Sammler von Altertümern!« Mit ausgestrecktem Zeigefinger fuhr John Doe über den mit magischen Mustern verzierten Griff der Sichel, als scheute er sich, das Kunstwerk aus einer längst vergangenen Epoche in seine Hand zu nehmen. Tatsächlich spürte der Verbrecher eine eigenartige Spannung im Innersten. Wollte ihn dieses raffinierte Pärchen hereinlegen? Natürlich wußte er, woher die Sichel stammte, und John Doe ärgerte sich zutiefst, daß er bei der Plünderung des Keltengrabes dieses wertvolle Stück übersehen hatte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Melissa, um keine ihrer Reaktionen zu versäumen. Es war zwar unwahrscheinlich, daß sie ihn erkannte, aber immerhin bestand eine geringe Möglichkeit. »Tatsächlich könnte ich Ihnen Kontakt zu einem solchen Sammler verschaffen! Das wird natürlich nicht ganz umsonst für Sie sein! Sagen wir fairerweise fünfzig Prozent von Ihrem Erlös!« »Habe ich das richtig verstanden?« empörte sich Richie laut. Melissa zuckte zusammen und sah sich erschrocken um. Doch nur der Wirt hatte einen kurzen Blick von der Theke zu ihrem Tisch geworfen, aber wohl auch nur, um zu sehen, ob jemand einen neuen Drink brauchte. »Wenn Ihnen mein Vorschlag nicht gefällt, Sie brauchen ihn nicht anzunehmen!« konterte John Doe. »Ihre Ware ist heiß, sehr heiß sogar! Wenn Sie dieses Ding irgendwo anders
verkaufen können, vielleicht beim Juwelier um die Ecke, bitte sehr!« Seine Hand umschloß nun den Griff der Goldsichel. Die Versuchung, dieses unbezahlbare Stück näher zu betrachten, siegte über seinen Instinkt, daß von dem uralten Werkzeug etwas Unbestimmbares, Unheilvolles auszugehen schien. John Does Augen glommen auf. Es war wirklich massives Gold, was er da in den Händen hielt. Die Schneide und die Spitze der Sichel waren nach all den Jahrhunderten noch ungewöhnlich scharf, ein Zeichen dafür, daß die Sichel nicht nur zur Zierde gedient hatte, sondern tatsächlich, zu welcher Tätigkeit auch immer, benutzt wurde. John Doe sah auf zu Melissa und Richard. Für einen Augenblick glaubte der Dieb und Mörder in der rauchgeschwängerten Luft der Gaststube eine Erscheinung zu sehen, das Gesicht eines alten Mannes mit langem weißem Bart. Ärgerlich kniff er die Augen zusammen. »Warum habe ich nur den Eindruck, daß Sie mich hereinlegen wollen?« knurrte John Doe. Seine Worte schienen wie ein Kommando zu sein. Die Tür wurde heftig aufgestoßen, einige uniformierte Polizisten stürmten in das Lokal, von Zivilbeamten begleitet. »Bleiben Sie auf Ihren Plätzen!« dröhnte eine Stimme, die Melissa nur zu bekannt vorkam. Bevor die junge Frau darüber nachdenken konnte, woher Inspektor Willery wußte, daß sie hier auf eigene Faust Henrys Mörder suchte, sah sie John Does Hand vorschnellen. Der Mann griff blitzschnell die Goldsichel und raste in Richtung der Toiletten davon. Dabei schleuderte er den Polizisten, die ihn verfolgen wollten, einige Stühle in den Weg. Es war selbstverständlich, daß ein etwas zwielichtiges Lokal wie der »Anker« einen Hinterausgang hatte. John Doe wollte auf diese Weise den hinter ihm her stolpernden Beamten
entkommen. Das wäre ihm auch fast gelungen. Schon stieß er aufatmend die unscheinbare Tür auf, die zu den Hinterhöfen des Hafenviertels führte. Verblüfft prallte der Gangster zurück. Urplötzlich stand ihm ein alter Mann im Wege. Er war in eine Art hellen Kittel oder Hemd gekleidet, der weiße Bart reichte ihm fast bis zur Hüfte. Mochte der Teufel wissen, woher dieser Irre auf einmal kam! »Scher dich aus dem Weg, Alter!« John Doe knurrte das unerwartete Hindernis böse an. Die Sichel in seiner Hand hob sich drohend. Doch das faltige Gesicht des alten Mannes verzog sich zu einem Grinsen. Die Augen des Greises leuchteten ungewöhnlich auf, als würden kleine Fünkchen aus ihnen sprühen. »Du gehst nirgends mehr hin!« sagte der Weißbärtige ruhig und streckte die Hände nach John Doe aus. Der sah sich gehetzt um. Die Geräusche aus dem Wirtshaus machten nur zu deutlich, daß die Polizisten auf dem Wege zu der verborgenen Hintertür waren. »Wie du willst!« fluchte John, sprang auf den Alten zu und schwang die Sichel, um ihm einen gehörigen Denkzettel zu verpassen. Das goldene Werkzeug sauste auf den Hals des Mannes zu. Niemand sollte es wagen, sich einem John Doe in den Weg zu stellen! Die Sichel glitt ins Nichts. Das Abbild des alten Mannes verblaßte und verging wie ein flüchtiger Nebel. Nur die Augen blieben für den Gangster wie zwei kleine grelle Leuchten im Nachtdunkel noch einen Moment sichtbar. Das alles war viel zu schnell für John Doe geschehen. Ohne das Geschehen überhaupt begreifen zu können, brachte er es nicht mehr fertig, den Schwung seines Körpers abzubremsen und kam ins Stolpern. Schwer fiel sein Leib in den Schlamm des Hofes. Der letzte Laut, den John Doe von sich gab, war ein verzweifelter Seufzer.
*
Scheinwerfer erhellten den schmutzigen Hinterhof. Der Polizeifotograf machte Fotos aus allen möglichen Perspektiven. Sein Motiv war der leblose Körper John Does. Eine Blutlache unter ihm mischte sich mit dem Modder am Boden. Melissa bemühte sich, nicht auf die Leiche zu sehen. Nicht nur das Scheinwerferlicht ließ sie unnatürlich blaß aussehen. Richard, der seinen Arm tröstend um sie gelegt hatte, konnte spüren, wie ihr ganzer Körper bebte. »Jetzt fallen Sie mir bloß nicht wieder um, Miß Weston!« meinte Inspektor Willery besorgt. »Was haben Sie sich bloß bei dieser Aktion gedacht! Nur gut, daß wenigstens Mr. Miller die Nerven behalten hat und uns verständigte!« Melissa wußte nicht, ob sie Richie einen dankbaren oder einen vorwurfvollen Blick zuwerfen sollte. Der Student nickte etwas zerknirscht und beantwortete Melissas unausgesprochene Frage. »Als wir vorhin dieses eigenartige Lokal betreten hatten, bekam ich Angst um dich! Ich rief von dem Münzfernsprecher bei den Toiletten Inspektor Willery an!« »Ich wollte doch nur Henrys Mörder finden!« flüsterte Melissa mit Tränen in den Augen. »Nun, falls es Sie tröstet, das ist Ihnen offenbar gelungen! Dieser Tote ist uns gut bekannt. Er wird schon lange wegen einiger schwerer Gewalt- und Eigentumsdelikte gesucht.« Willery zog ein großes Taschentuch aus seiner Manteltasche und schneuzte sich lautstark, ehe er weitersprach: »Makabererweise trat er in letzter Zeit unter dem Namen John
Doe auf. Falls Ihnen das nicht bekannt ist, in einigen Gegenden der USA nennt man unbekannte Tote bis zur Identifizierung bei diesem Namen.« Melissa schauderte zusammen. »Was ist denn mit ihm geschehen? Ich meine, wie ist er gestorben? Hat ihn einer Ihrer Leute auf der Flucht erschossen?« Erstaunt sah Hannibal Willery die junge Frau an. »Um Himmels willen, wir können doch nicht wahllos in der Gegend herumballern! Der Mann muß gestolpert sein und ist in dieses komische Ding gefallen, von dem Sie mir erzählt haben! Ein wirklich dummer Zufall, offenbar hat sich die Spitze genau in sein Herz gebohrt. Er war sofort tot!« »Ein Zufall?« flüsterte Melissa. Sie hatte in letzter Zeit einfach zu viele unglaubliche und vor allem schreckliche Sachen erlebt. An einen Zufall mochte sie deshalb nicht glauben. Auf keinen Fall konnte sie dem Inspektor erzählen, auf welche merkwürdige Art sie diese Sichel gefunden hatte. Natürlich war es ihr ebenso unmöglich, Willery zu erklären, daß sie davon überzeugt war, ein seit mindestens zweitausend Jahren toter Druide habe seine Hand bei John Does Tod im Spiele gehabt. Melissa war schwindelig und schrecklich übel. »Ich ertrage das hier einfach nicht mehr!« Der Inspektor schien einzusehen, daß er die junge Frau nicht länger belasten konnte. »Mr. Miller, versprechen Sie mir, morgen früh mit Miß Weston in meinem Büro zu erscheinen! Offensichtlich ist die junge Dame heute nicht mehr in der Lage, eine detaillierte Aussage zu machen!« Richie nickte nur und legte seinen Arm um Melissas Schulter. Nur zu bereitwillig ließ sich die Frau von dem Toten wegführen. Obwohl sie sich jetzt vollkommen sicher war, daß dieser Verbrecher in der Grabkammer kaltblütig Henry niedergestochen hatte, fühlte sie sich schuldig an seinem Tod.
Sie hätte diese verfluchte Sichel nie in die Hand nehmen dürfen! Dieser Gedanke ließ sie still und bedrückt neben Richard in den Wagen steigen. Er spürte, daß Melissa jetzt nicht reden wollte. Ab und zu warf der junge Mann einen besorgten Blick zu seiner Begleiterin auf dem Beifahrersitz. Von Melissas morgendlichem Tatendrang war nichts übriggeblieben. Es war stockdunkel und unwirklich still in der Wohnwagenburg der Archäologen. Melissa wußte, daß die Studenten erst in der nächsten Woche ihre Arbeit fortsetzen und wenigstens die Funde in dem Grab sichern und auswerten würden, die von den Räubern nicht gestohlen oder völlig zerstört worden waren. »Richie?« Zaghaft klang ihre Stimme, schon fast flehend. »Richie, kannst du heute nacht in meinem Wohnwagen schlafen? Ich glaube nicht, daß ich es allein aushalte!« »Aber natürlich, Melissa!« Richard griff nach der Hand der jungen Frau und drückte sie fest und tröstend. Nur wenig später lag er nicht weit von ihr entfernt und starrte in die Dunkelheit. Er konnte die regelmäßigen Atemzüge Melissas hören. Endlich war sie eingeschlafen, nachdem sie sich lange unruhig hin und her gewälzt hatte. Unwillkürlich mußte Richard lächeln. Er hatte sich sehr gewünscht, die Nacht mit Melissa zu verbringen, denn er hatte sie nicht nur gern, sondern er liebte sie von ganzem Herzen. Das war ihm in den letzten Tagen immer mehr bewußt geworden. Allerdings hatte er sich ihre erste gemeinsame Nacht schon etwas anders vorgestellt.
*
Hannibal Willery musterte die beiden jungen Leute, die mit aufgesetzter Unschuldsmiene vor ihm saßen, mit gerunzelter Stirn. »Warum habe ich bloß den Eindruck, daß ihr beiden mir etwas verschweigt? Meine Mitarbeiter haben nach dem Mord an Mr. Handers jeden Zentimeter in der Höhle abgesucht. Und Miß Weston geht einfach in diese Grabkammer und stolpert über eine goldene Sichel!« brummte er. »Wir haben Ihnen schon erklärt…«, wollte Richard antworten, aber der Inspektor winkte ab. »Ihre Aussage wurde aufgenommen, es gibt für mich keinen Grund mehr, an Ihren Angaben zu zweifeln. Die Untersuchungen sind zwar noch nicht abgeschlossen, aber ich gehe davon aus, daß dieser Mann, mit dem Sie sich leichtsinnigerweise in dem Lokal getroffen haben, unser gesuchter Mörder ist. Wir haben einen Teil der Grabbeigaben in seiner Wohnung gefunden, ebenfalls die Adressen einiger gutbetuchter Herrschaften, von denen wir wissen, daß sie gestohlene Kunstgegenstände kaufen und ohne Skrupel in ihre Sammlungen einreihen. Leider wird diesen Leuten wie immer nichts nachzuweisen sein.« »Die Schmuckstücke und die anderen Beigaben werden doch an die Universität gegeben?« erkundigte sich Melissa zaghaft. »Natürlich, sobald das Verfahren abgeschlossen ist!« bestätigte Willery. »Wie ich hörte, soll die Grabung fortgesetzt werden?« Richard nickte bestätigend. »Meine Mitstudenten aus den entsprechenden Fachbereichen machen sich in wenigen Tagen wieder an die Arbeit. Es wird alles, was diese Räuber zurückließen, aufgenommen und wissenschaftlich ausgewertet. Bevor die Kammer wieder geschlossen wird, bringen wir
allerdings die Skelette der Bestatteten zurück an ihren Ruheort im Grab«, erläuterte der Student bereitwillig. Verwundert meinte der Inspektor: »Das ist doch wohl eigentlich nicht üblich bei solchen archäologischen Unternehmungen?« »Es war Melissas Wunsch, sozusagen im Namen von Henry Handers.« Richie drückte fest die Hand der jungen Frau, in deren Augen schon wieder Tränen schwammen. »Ich möchte einfach, daß auch diese Toten ihre Ruhe finden!« sagte Melissa sehr leise. Willery nickte verständnisvoll. »Nun möchte ich Sie nicht länger aufhalten! Übrigens, in dem Dorf gleich in der Nähe Ihres Grabungsortes gab es heute nacht einen schlimmen Brand! Das Haus von diesem zwielichtigen Händler Hammersmith ist völlig niedergebrannt! Leider kam der Besitzer in den Flammen um, so daß wir ihn nicht mehr befragen können, ob er bei diesem Grabraub beteiligt war! Waren Sie nicht erst gestern in Oak-Hallfield?« Der Inspektor weidete sich an der Verblüffung der jungen Leute. Doch dann winkte er beruhigend ab. »Keine Sorge, es wurde bereits festgestellt, daß ein defektes Elektrokabel schuld an dem Unglück war!« Willery schüttelte Melissa und Richard die Hand zum Abschied. »Ich hoffe, daß wir uns nicht so bald wiedersehen!« meinte er lächelnd. »Ihre Grabung hat mir den aufregendsten Fall in meiner bisherigen Laufbahn beschert, und ich möchte nicht, daß sich derartige Aufregungen allzuoft wiederholen! Für Ihre Zukunft alles Gute!« Melissa war überglücklich, die düstere Atmosphäre des alten Amtsgebäudes, in dem sich das Büro Willerys befand, hinter sich zu lassen. Sie atmete tief auf. »Gleich morgen früh mit dem ersten Zug fahre ich nach Hause!« verkündete sie entschlossen. »Ich ertrage das einfach
nicht länger! Kannst du mir vielleicht erklären, warum Hammersmith ausgerechnet umkommt, nachdem wir ihm diese Sichel gezeigt haben? Von dem anderen Mann, der so unglücklich gefallen sein soll, daß er sich das Herz mit diesem Ding durchbohrt, will ich gar nicht reden!« »Wer ist denn hier für Übernatürliches zuständig, ich oder du? Hat nicht dir ein uralter Druide Vergeltung für Henrys Tod versprochen?« Erschrocken sah Melissa Richard an. Fast ergeben nickte sie. »Versprichst du mir, Kennerk und die beiden Frauen wirklich wieder in dieser Höhle zu beerdigen und niemandem von dem versteckten Kindergrab zu erzählen, geschweige denn, es anzurühren?« bat sie leise. »Natürlich, was denkst du denn von mir!« Er drückte sie wie bestätigend an sich. Sein Gesicht ruhte für einen Augenblick in ihrem duftenden Haar. Richard wünschte sich, dieser Moment würde ewig währen. »Du wirst mir fehlen, Melissa!« flüsterte er.
*
Melissa streifte die Schuhe von ihren Füßen. Leise stöhnte sie, als sie ihre endlich befreiten Zehen spielen ließ. Sie hatte Glück gehabt, ohne Probleme hatte sie ihren Job wiederbekommen, den sie vor ihrem Ausflug in die Welt der Wissenschaften ausgeübt hatte. Der Tag im Büro war anstrengend gewesen und hatte ihr zudem noch einige Überstunden beschert. Jetzt ließ sich Melissa müde in den Sessel fallen. Eigentlich wollte sie nur noch eines: Schlafen, am besten bis lange nach Mittag. Zum Glück stand das Wochenende vor der Tür.
Ihr Blick fiel auf die Tageszeitung, die sie achtlos auf den Tisch geworfen hatte. Eher beiläufig wurde dort die Eröffnung einer Ausstellung in der völkerkundlichen Abteilung des Museums erwähnt. Melissa blätterte nach dem angekündigten Artikel. Sie hatte lange nicht an ihr Abenteuer vor einigen Monaten gedacht, jetzt stand alles wieder ganz deutlich vor ihr. Das Druidengrab, all diese seltsamen Ereignisse nach Henrys schrecklichem Tod, war das alles wirklich geschehen, oder war es einfach nur ein böser Traum gewesen? »Die Funde aus einem der bedeutendsten Gräber der Keltenzeit, welches je entdeckt wurde, werden jetzt einem breiten Publikum präsentiert. Die Ausstellung ist dem Andenken Henry Handers gewidmet, jenem jungen, hoffnungsvollen Wissenschaftler, der während der Ausgrabung durch ein schreckliches Verbrechen ums Leben kam«, verkündete die Zeitung. Melissa wiegte nachdenklich den Kopf. Sicher, Henry hatte jegliche Aufmerksamkeit genossen, aber würde ihm recht sein, daß mit dem Hinweis auf seinen sinnlosen Tod Besucher in das Museum gelockt wurden? Ein zaghaftes Pochen an der Eingangstür ihres Appartements riß Melissa aus ihren Gedanken. Sie erwartete keinen Besuch. Auf nackten Zehen hüpfte sie zur Tür. »Wer ist da?« fragte sie. »Richie!« klang es dumpf von draußen. »Wer?« Melissa grübelte einen Moment. »Richard Miller?« fragte sie schließlich zögernd. Sie hatte lange Wochen nichts von dem Studenten gehört. Man hatte sich nach dem gemeinsam bestandenen Abenteuer im Alltagstrott einfach aus den Augen verloren. Ein Lächeln huschte über ihr abgespanntes Gesicht. Sie öffnete die Tür, und der junge Mann stolperte regelrecht zu ihr hinein. Richard war mit zwei randvoll gepackten Einkaufstüten beladen, die ihn wohl soeben etwas aus dem Gleichgewicht gebracht hatten.
Melissa fiel ihrem Besucher einfach um den Hals. Sie hatte sich in den letzten Tagen so allein und regelrecht verlassen gefühlt. Das vertraute Gesicht des Studenten war genau das, was sie jetzt brauchte. »Oh, Melissa!« schnaufte Richard. »Willst du mich nicht erst einmal die Tüten abstellen lassen? Ich dachte, wenn ich schon so überraschend über dich herfalle, muß ich auch etwas zum Abendessen und ein paar Getränke mitbringen!« »Du hast dich wirklich sehr rar gemacht!« rügte die junge Frau. »Das stimmt natürlich! Ich weiß einfach nicht, warum ich mich nicht bei dir gemeldet habe! Vielleicht brauchte ich einfach nur ein wenig Abstand von allem. Und dann war die Auswertung der Grabungsfunde, die Vorbereitung der Ausstellung…« »Ich habe davon gelesen, gerade jetzt in der Zeitung. Wenn das nur Henry noch erleben könnte!« Melissas Augen schwammen plötzlich. Richard, der endlich seine Einkäufe abgestellt hatte, umarmte sie sanft und etwas scheu, als wisse er nicht recht, ob er die junge Frau mit solcher Vertraulichkeit berühren durfte. »Manchmal glaube ich, alles was wir dort in den Wiesen vor Oak-Hallfield erlebt haben, ist nur ein böser Traum. Aber wenn ich ins Museum komme und all diese Schätze vor mir sehe, dann muß ich akzeptieren, was geschehen ist, Melissa, und das mußt du auch! Henry würde es nicht gefallen, wenn wir die Ohren hängenlassen!« Richard strich sanft über Melissas weiches Haar. »Weißt du was? Ich werde uns einen kleinen Imbiß machen, wenn du mir hilfst, in deiner Küche zurechtzukommen!« Schon bald darauf saßen sie zusammen am Tisch. Melissa schmeckte es nach Wochen zum erstenmal wieder einmal richtig, wozu nicht nur Richies Anwesenheit, sondern auch der
schwere Rotwein beitrug, den der junge Mann in die Gläser geschenkt hatte. Es war schon eigenartig, sie hatte in Richard immer nur den guten Freund, den Kameraden gesehen, dem man einfach alles anvertrauen konnte. Jetzt schaute sie ihn plötzlich mit völlig anderen Augen an. Unverhohlen musterte sie ihn, als wäre er ein völlig anderer Mann als jener, der ihr in den schweren Tagen nach Henrys Tod beigestanden hatte. Richard sah verdammt gut aus, er war groß und breitschultrig. Seine Augen waren verträumt und schienen ständig in eine unbekannte Ferne zu blicken. Melissa kannte diesen Ausdruck. Sie seufzte tief auf. Auch Henry hatte stets irgendwie in andere Welten gesehen, als suche er immer und überall nach Spuren längst vergangener Zeiten. »Richie, du bist doch nicht etwa nur gekommen, um mir von der Ausstellung zu berichten?« Wie zufällig legten sich ihre schmalen Finger auf Richards Hand. Die Unbefangenheit des jungen Mannes war plötzlich verschwunden. Nervös zuckten seine Augenlider, als er Melissa ansah. Um ihre leicht geöffneten Lippen spielte ein Lächeln, ihre Augen schienen plötzlich sehr groß und dunkel zu sein. Richard konnte gar nicht anders, er zog Melissa an sich. Sein Gesicht vergrub sich in ihrem rotblonden Haar, tief sog er den Duft der Frau, der ihn fast augenblicklich jeden vernünftigen Gedankens beraubte, in sich ein. Diesmal wollte er sie nicht trösten oder ihr Mut zusprechen, diesmal war seine Berührung fordernd, voller Begehren. Die junge Frau erwiderte seinen Kuß ebenso heftig. Die letzte Schranke zwischen Melissa und Richard war gefallen.
*
Unruhig wälzte sich Melissa im Schlaf hin und her. Die Traumwelt, in die sie eintauchte, war unmöglich ihrem eigenen Hirn entsprungen. Wie ein Finger einer fremden Macht bohrte sich etwas in ihr Unterbewußtsein. Melissa sah Wasser, das Meer in sanfter Dünung. Der Morgen kroch gerade aus dem weißen Nebel empor, der über den Wellen aufstieg und den Horizont in milchigem Nichts verbarg. Unwirklich rotgold verdrängte die Helligkeit am Himmel ein violettes Dunkel, den letzten Schatten der Nacht. Eine ganz in Weiß gekleidete Gestalt stand im feinen Sand des Strandes, so nahe am Wasser, daß vorwitzige Wellen die nackten Füße des Mannes umspülten. Er sah sich um. Henry, unnatürlich blaß, aber mit dem der jungen Frau wohlvertrauten leicht spöttischen Lächeln nickte ihr grüßend zu. Melissa versuchte zu schreien, zu flüchten. Doch nur ein leises Wimmern drang aus ihrem Mund. Wie in jedem anderen Alptraum vermochte sie sich nicht zu rühren. Aus dem Nebel löste sich ein Kahn, der von einem kräftigen jungen Mann mit schwungvollen Ruderschlägen vorangetrieben wurde. Zwei Frauen saßen in dem Boot und spielten lachend mit einem kleinen Knaben. Urplötzlich erkannte Melissa den Ruderer und seine Passagiere. Der Druide Kennerk mußte so ausgesehen haben, als er jünger war, vielleicht zu jener Zeit, als sein geliebter Sohn starb. Sein Bart war noch nicht weiß, in sein Gesicht waren noch nicht die Jahre voller Kummer eingegraben. Die junge Frau, die soeben das Kind herzte, sah mit gütigen Augen zu Melissa hin. Auch in diese Augen hatte Melissa schon geblickt. Sie wußte, daß sie die ganze Familie des Druiden vor sich hatte, vereint in einer Zeit, die weder Anfang noch Ende hatte. Kennerk legte die Ruder ins Boot, das jetzt im flachen Wasser im Sand auflief. Er streckte die Hand nach Henry aus und half ihm in das Boot.
»Unser Handel ist erfüllt! Du hast dein Wort gehalten, ich habe mein Wort gehalten. Deshalb habe ich dich nochmals aufgesucht, du sollst den letzten Zweifel an dir verlieren. Ich nehme Henry jetzt mit mir, und er kommt gern mit. Er wird Dinge erkennen, die er nie im Leben gefunden hätte.« »Wohin?« flüsterte Melissa tonlos. Kennerks Lächeln war tief und geheimnisvoll. Er gab keine Antwort und nahm das Ruder wieder auf. Henry sah in Melissas Augen und hob seine Hand. Endlich begriff die Frau. Dies war der Abschied, der ihnen beiden nicht vergönnt gewesen war. Sie winkte ihm zurück in ihrem Traumgesicht. Ein Band löste sich in ihr, das bisher noch einen Teil ihrer Seele gefesselt hatte. Der Druide steuerte den Kahn in den Nebel. Es hatte den Anschein, als würde das Boot in den weißen Schleiern zerfließen. »Melissa! Wach doch auf!« drang eine Stimme in das Bewußtsein der jungen Frau. Nur mühsam fand Melissa zurück in die Wirklichkeit. Das besorgte Gesicht Richies beugte sich über sie. »Du hattest einen Alptraum!« erklärte er und strich ihr beruhigend übers Haar. Melissa atmete schwer und schlang ihre Arme um Richards Hals. »Ich habe Henry gesehen!« sagte sie leise und mit rauher Stimme. »O Gott! Ich hätte nicht zu dir kommen sollen! Es war nicht richtig, es war zu früh! Henry steht noch zwischen uns!« Richard setzte sich auf und fuhr sich seufzend mit beiden Händen über das Gesicht. »So ist es nicht!« Zart legten sich Melissas Hände auf den nackten Rücken des Mannes. Sie konnte das Spiel seiner Muskeln unter der Haut spüren. »Henry hat mich freigegeben in diesem Traum!«
»Melissa! Deine Träume sind mir langsam unheimlich!« »Ich glaube nicht, daß ich je wieder solche Träume haben werde!« beteuerte die junge Frau. Richard schwieg. Er fühlte, daß sie diesmal nicht bereit war, alles preiszugeben, was ihr das Traumgesicht offenbart hatte. Nur zu gern wollte er glauben, was Melissa soeben sagte. »Es lohnt sich nicht mehr, nochmals einzuschlafen! Zum Aufstehen ist es aber noch zu früh!« lenkte Melissa Richard von seinen düsteren Gedanken ab. Sie schmiegte sich fest an ihn. Dem jungen Mann blieb gar nichts anderes übrig, als sie in die Arme zu nehmen. Erwartungsvoll wandte sie ihr Gesicht zu ihm auf, ihre Lippen bebten in sehnsüchtiger Ungeduld. Richie nahm die Einladung nur zu gern an. Er küßte sie, erst sanft und tröstend, dann voller Leidenschaft. Seit langer Zeit fühlte sich Melissa wieder frei und unbeschwert. Es war ihr, als hätte sie eine schwere Last von sich gestoßen.
*
Richard und Melissa kamen gerade noch zurecht, um der offiziellen Einweihung der Ausstellung beizuwohnen. Das Museum war gut besucht, und Melissa mußte mit einem bitteren Beigeschmack bemerken, daß Henry Handers Arbeit jetzt endlich die Anerkennung seiner Fachkollegen fand. Den Fundstücken war nicht mehr anzusehen, wie sehr sie durch den brutalen Raub gelitten hatten. Liebevoll restauriert, zeichneten sie ein Bild einer längst vergangenen Zeit. Dennoch kamen die Schmuckstücke, die Keramiken, Werkzeuge und Waffen, die sich in dem Grab befunden hatten, der jungen Frau irgendwie leblos und unpersönlich vor. Es beruhigte sie, daß
wenigstens die sterblichen Überreste Kennerks und der beiden Frauen der schützenden Erde zurückgegeben worden waren, ganz so, wie sie es von Richard vor der Fortsetzung der Ausgrabung verlangt hatte. Melissa blieb vor einer Vitrine stehen und griff wie schutzsuchend nach Richards Hand. Die Sichel lag unscheinbar und matt zwischen anderen Gegenständen aus dem Grab. Ihr Glanz schien völlig vergangen zu sein, als wäre jede Magie aus ihr gewichen. Dennoch konnte Melissa spüren, wie eine eisige Kälte in ihr aufstieg und sie erschauern ließ. »Ich wollte das alles nicht!« flüsterte die junge Frau, und Richard wußte sofort, was sie meinte. »Nach allem, was geschehen ist, weißt du genau, daß es nicht deine Schuld war, daß die Diebe ums Leben kamen! Vergiß nicht, daß sie Henry ermordeten! Heute morgen hast du mir erst versprochen, daß jetzt endgültig Schluß ist mit diesen mystischen Sachen!« mahnte Richie leise und drückte die schmale Hand Melissas an seine Brust. »Du hast ja so recht!« gestand die junge Frau und warf aus den Augenwinkeln dennoch einen erneuten Blick in die Vitrine mit der Goldsichel. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen, kein magisches Funkeln verklärte das Artefakt. Melissa atmete tief auf. »Richie, wirst du jetzt wieder für Wochen aus meinem Leben verschwinden, weil irgendeine Ausstellung oder Ausgrabung dich voll und ganz beansprucht?« Richard, verblüfft über den plötzlichen Themenwechsel, sah Melissa tief in die Augen. »Nein, ganz sicher nicht! Ich bleibe jetzt bei dir, für immer!« beteuerte er. »Wenn es sich gar nicht anders einrichten läßt, nehme ich dich eben mit!« Auf Melissas Stirn erschienen kleine Falten, ihre Augen funkelten warnend.
»Wohin willst du mich mitnehmen?« fragte sie lauernd. »Zu diesen Ausgrabungen natürlich!« Melissa wollte laut und heftig protestieren, doch Richard nahm sie in die Arme und schloß ihren Mund mit einem langen und innigen Kuß, ohne auf die ehrwürdigen Räume und die verwunderten Blicke der Ausstellungsbesucher ringsum Rücksicht zu nehmen.