Steve Hagen
Buddhismus kurz und bündig Prinzipien und Praxis
Der buddhistische Priester und Zenmeister Steve Hagen faß...
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Steve Hagen
Buddhismus kurz und bündig Prinzipien und Praxis
Der buddhistische Priester und Zenmeister Steve Hagen faßt die Grundaussagen des Buddhismus ebenso systematisch wie authentisch zusammen. Er stützt sich auf die ursprüngliche Lehre Buddhas und weiht den Leser in dessen essentielle Wahrheiter ein. Seine prägnante Darstellung gewährt einen leicht faßlichen Überblick. ISBN: 3-442-21544-7 Original: Buddhism Plain and Simple Aus dem Amerikanischen von Ursula Gail Verlag: Wilhelm Goldmann Erscheinungsjahr: Deutsche Erstausgabe 2000 Umschlaggestaltung: Design Team München
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Als Buddha gebeten wurde, seine Lehre in einem einzigen Wort zusammenzufassen, antwortete er: Bewußtheit. Steve Hagens Buch handelt davon, bewußt und wach zu werden. Es setzt sich mit den grundlegenden Fragen des Lebens auseinander und fragt nach der unmittelbaren Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks. Buddhas Lehre war diesseitsorientiert und ausschließlich auf die Gegenwart bezogen. Hagen kehrt zu dieser originären Lehre zurück. Er stellt die vier existentiellen Wahrheiten vor und erläutert Buddhas praktisches Lebenskonzept. Für alle, die sich zum ersten Mal mit dem Buddhismus beschäftigen, bietet sein Buch einen leicht verständlichen und klaren Einblick in die Weisheit des erleuchteten Meisters, dessen Lehre heute noch so lebendig ist wie vor 2500 Jahren.
Autor Steve Hagen ist zenbuddhistischer Priester. 15 Jahre lang studierte er bei dem Zen-Meister Dainin Katagiri. Seit 1989 unterrichtet er Buddhismus am Dharma Field Meditation and Learning Center in St. Paul.
Inhalt Vorwort................................................................................... 7 Die Reise ins Jetzt ................................................................ 12 TEIL I Das ewige Problem.................................................. 18 1 Die menschliche Situation............................................... 19 2 Das schiefe Rad ............................................................... 29 3 Kommen .......................................................................... 38 4 Gehen............................................................................... 50 5 Die Kunst des Sehens ...................................................... 60 TEIL II Der Weg zum Erwachen....................................... 67 6 Weisheit........................................................................... 68 7 Moral ............................................................................... 84 8 Praxis ............................................................................. 103 9 Erkenntnis...................................................................... 119 TEIL III Der befreite Geist............................................... 126 10 Was wir sind................................................................ 127 11 Das Ich läßt sich nicht finden ...................................... 143 12 Die Wirklichkeit .......................................................... 148 Epilog Seid euch selbst ein Licht ...................................... 161 Anhang Bedingtes Entstehen ............................................ 163 Tabelle: Zwei Sichtweisen der Kette des bedingten Entstehens........................................................................... 172
Dieses Buch widme ich allen Wesen in Dankbarkeit
Danksagung Mein Dank gilt allen meinen Lehrern Dieses Buch entstand aus dem Unterricht, den ich in den letzten Jahren gegeben habe. All meinen Schülern sei gedankt. Ohne sie wäre das Buch nicht das geworden, was es ist. Ein besonderer Dank geht an Scott Edelstein, meinen langjährigen Freund und literarischen Berater, der mir half, dieses Buch zusammenzustellen.
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VORWORT Mit dem Beginn eines neuen Jahrtausends haben die meisten von uns den Glauben an unsere alten Märchenbuchversionen der Welt verloren. Die Entwicklung der Naturwissenschaften hat viele Menschen dazu gebracht, das Universum als ein unbegreiflich seltsames, riesiges, komplexes, unpersönliches, multidimensionales und vielleicht sinnloses Reich von Geist und Materie anzusehen. Dieser Glaubensverlust kann zu zwei unglücklichen Extremen führen. Entweder wir schließen die Augen vor dieser mißlichen Lage und versuchen, in Drogen oder Alkohol zu flüchten, in den Beruf oder eine der unzähligen Glaubenslehren, oder wir stellen uns der traurigen Aussicht, daß wir intelligente Geschöpfe sind, die in einer bedeutungslosen Welt leben. Viele Menschen verhalten sich so, als könnten sie Erfüllung finden, wenn sie nur genug Geld besäßen, genug Sicherheit, genug Ansehen, genug Liebe, genug Glauben, genug Erziehung, genug Macht, genug Frieden, genug Wissen, genug – von irgend etwas. Andere wieder wollen (oder können) sich damit nicht zufriedengeben. Sie spüren, daß echte Sicherheit unerreichbar ist. Denn sie wissen, daß selbst wenn es uns gelänge, alles anzuhäufen, was wir uns wünschen, der Tod es uns unweigerlich wegnehmen wird. Unsere Sterblichkeit türmt sich drohend vor uns auf, so schrecklich wie sicher. Wir sind völlig verwirrt. Wie können wir unter diesen Umständen überhaupt Frieden finden? Wir fühlen uns durch unsere Unwissenheit nicht nur eingeengt, sondern wir scheinen dazu verdammt zu sein, es auch zu bleiben. Yang Chu, ein chinesischer Philosoph des vierten Jahrhunderts v. Chr., formulierte es so: 7
Wir gehen durch die Welt wie auf einer engen Bahn, mit den Nichtigkeiten beschäftigt, die wir sehen und hören, über unseren Vorurteilen brütend, und schreiten an den Freuden des Lebens vorüber, ohne zu ahnen, daß wir etwas verpassen. Nicht einmal für einen Augenblick schmecken wir den berauschenden Wein der Freiheit. Wir sind so gefangen, als lägen wir tatsächlich auf dem Boden eines Verlieses, mit Ketten behängt. Was ist das grundlegende menschliche Problem, für das es offensichtlich kein Heilmittel gibt? Worum geht es bei unserer Existenz überhaupt? Wie können wir das Ganze je verstehen? Und ist es nicht gerade die Kenntnis des Ganzen – eine Kenntnis, die nicht relativ ist oder von unbeständigen Verhältnissen abhängt –, was wir brauchen, um uns von den Zweifeln und Dilemmas zu befreien, die uns so viel Schmerz und Angst verursachen? Wir sehnen uns danach, Verwirrung und Unzufriedenheit loszuwerden und nicht mehr ein Leben leben zu müssen, das uns hilflos an Unsicherheit und Furcht kettet. Doch oft erkennen wir nicht, daß es gerade unser verworrener Geisteszustand ist, der uns bindet. Es gibt einen Weg, über diese Unwissenheit, den Pessimismus und die Verwirrung hinauszugehen und die Wirklichkeit als Ganzes zu erfahren – statt sie zu verstehen. Diese Erfahrung beruht nicht auf irgendeiner Vorstellung oder irgendeinem Glauben. Es ist die direkte Wahrnehmung selbst. Es ist das Sehen, ehe Zeichen erscheinen, ehe Ideen keimen, ehe man ins Denken verfällt. Es wird Erleuchtung genannt. Es ist nicht mehr oder weniger als das Sehen der Dinge, wie sie wirklich sind und nicht wie wir sie haben möchten oder glauben, daß sie sind. Diese Befreiung des Geistes – diese direkte Wahrnehmung der 8
Wirklichkeit als Ganzes – ist jedem Menschen voll zugänglich, der bereit ist, diese Erfahrung zu machen. Vor 2500 Jahren erlebte ein Mann namens Gautama in Indien diese Befreiung. Den Rest seines Lebens verbrachte er damit, andere Menschen zu lehren, wie sie die gleiche geistige Freiheit erleben konnten. Nachdem er aus der lähmenden Unwissenheit erwacht war, die ihn daran hinderte, zu erkennen, was wirklich war, wurde er bekannt als der Buddha, der »Erwachte«. Als Buddha gebeten wurde, seine Lehre in einem einzigen Wort zusammenzufassen, erwiderte er: »Bewußtheit.« Dies ist ein Buch über Bewußtheit. Nicht über die Bewußtheit von etwas Bestimmtem, sondern über Bewußtheit selbst – wach zu sein, aufmerksam, in Harmonie mit dem, was tatsächlich passiert. Wir wollen die grundlegenden Lebensfragen prüfen und erforschen. Deshalb handelt das Buch davon, sich auf die unmittelbare Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks zu verlassen. Es handelt nicht von Glauben, Grundsätzen, Rezepten oder Traditionen. Es handelt von der Freiheit des Geistes. Buddha lernte, direkt in das Wesen der Erfahrung zu sehen. Als Ergebnis seiner Lehre und seines Lebens entstand eine neue Religion und verbreitete sich auf der ganzen Welt. Dabei sammelte (und produzierte) der Buddhismus wie alle Religionen Überzeugungen, Rituale, Zeremonien und Praktiken. Während er sich von einem Land zum anderen verbreitete, entstand eine große Vielfalt an dekorativen Anhängseln: besondere Kleidung und Hüte, Statuen, Räucherwerk, Gongs, Glocken, Pfeifen – sogar eigenartige Ikonen, Symbole und architektonische Formen. Dieses Buch läßt das alles hinter sich. Rituale, Zeremonien, Gebete und besondere Kleidung sind unvermeidlich, aber sie drücken nicht den Kern dessen aus, was Buddha lehrte; sie können es nicht. Viel zu häufig stehen diese Dinge sogar im Weg. Sie verschleiern die einfache Weisheit von 9
Buddhas Worten und lenken uns von ihr ab. Dies ist ein großes Problem, und nicht nur für diejenigen von uns, die im Westen aufgewachsen sind. Es ist nicht einfach zu erkennen, wo der Buddhismus aufhört und die asiatische Kultur beginnt, oder die ursprüngliche und authentische Lehre Buddhas von dem zu unterscheiden, was später von Leuten mit weniger klarer Erkenntnis hinzugefügt wurde. Als Ergebnis glauben viele Amerikaner und Europäer tatsächlich, daß es sich beim Buddhismus um die Anbetung Buddhas handelt, daß man sich verbeugt und bestimmte Roben trägt, in Trance gerät, Antworten auf verwirrende Rätselfragen oder Klarheit über vergangene und künftige Inkarnationen erhält. Beim Buddhismus geht es nicht um diese Überzeugungen und Praktiken. Buddhas Beobachtungen und Einsichten sind einfach, praktisch und in hohem Maß realistisch. Es geht bei ihnen ausschließlich um das Hier und Jetzt, nicht um Theorie, Spekulationen oder Glauben an etwas in einer fernen Zeit oder an einem fernen Ort. Weil Buddhas Lehre auf den Augenblick gerichtet ist – auch jetzt, da Sie dies lesen –, bleibt sie für jede Kultur und jeden Menschen, der sie ernsthaft erforschen will, gültig und ist für alle von hohem Wert. Zu seinen reinen, ursprünglichen Einsichten und Beobachtungen kehrt dieses Buch zurück. Es besteht aus drei Teilen. In Teil I beschäftigen wir uns mit dem Kern von Buddhas Lehre, den er die »Vier Edlen Wahrheiten« nannte. In Teil II richten wir unsere Aufmerksamkeit genauer auf die vierte dieser Wahrheiten. Hier zeigt Buddha einen Weg – eine praktische und wirksame Methode –, wie wir die Welt, wie sie ist, verstehen und mit ihr umgehen können. Und in Teil III werden wir die ersten beiden Aspekte dieses Weges genauer untersuchen. Diese beiden Aspekte umfassen Buddhas Weisheitslehren, also die Lehren, die Willen und Bewußtsein des Menschen behandeln. Für die Menschen, die sich zum erstenmal mit dem 10
Buddhismus beschäftigen, bietet dieses Buch einen klaren, direkten Blick auf die Weisheit und Führung eines erleuchteten Lehrers, der vor 2500 Jahren lebte, dessen Lehre aber heute noch genauso lebendig und eindringlich ist wie damals. Für diejenigen, die mit dem Buddhismus vertraut sind und ihn vielleicht schon lange praktizieren, liefert es einen schon längst fälligen Blick auf das Wesen des Buddhismus, wie er sich darstellt, wenn man ihn ohne die Fesseln und kulturellen Ausschmückungen betrachtet, die sich über 2500 Jahre angesammelt haben. Und für jeden, der das Verlangen hat, tiefer in den Sinn des Lebens zu blicken, ist es ein Weckruf.
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DIE REISE INS JETZT Der Mann, den wir als Buddha bezeichnen, lebte im sechsten Jahrhundert v. Chr. in Nordindien, dem heutigen Nepal. Ursprünglich hieß er Gautama. Er war der einzige Sohn eines reichen Königs, der über ein kleines Land regierte. Als Junge und Heranwachsender führte er im Palast seines Vaters ein verwöhntes und behütetes Leben. Sein Vater sorgte dafür, daß Gautama von allem nur das Beste erhielt: die besten Kleider, die beste Erziehung und eine Menge Diener, die seine Befehle ausführten. Gautamas Leben war tatsächlich so behütet, daß er nichts von Krankheit, Tod und menschlichem Leid wußte. Erst als junger Erwachsener erfuhr er durch einen Diener vom Tod. Plötzlich, zum erstenmal, war er mit der Wirklichkeit konfrontiert, daß das menschliche Leben Krankheit, Alter und Tod mit sich bringt. Diese neue Erkenntnis konnte er nicht verleugnen und verdrängen. Sie beschäftigte ihn bald immer mehr. Was war der Sinn des menschlichen Lebens, fragte er sich, wenn es so vergänglich ist, so unsicher und voll von Leid? Die Frage quälte ihn, bis er die vergänglichen Freuden seines Luxuslebens nicht länger genießen konnte. Er beschloß, sein Vaterhaus zu verlassen und auf die Möglichkeit, König zu werden, zu verzichten, denn er sah jetzt Macht und Wohl; stand als eine bloße Fassade des Lebens, das Trauer und Verlust als Grundlage hatte. Er verwandte seine Zeit und seine Energie darauf, einen Weg zu finden, wie er sich von der allumfassenden Verzweiflung freimachen konnte, die den Boden der menschlichen Existenz zu bilden schien. Sechs Jahre lang durchwanderte er das Tal des Ganges und lernte die verschiedenen Systeme und Praktiken der 12
bedeutenden religiösen Lehrer seiner Zeit kennen. Er war ein guter Schüler, der schnell beherrschte, was man ihn lehrte, doch diese Lehren und Übungen befriedigten ihn nicht, nichts konnte den tiefen Kummer, der sein Herz und seinen Geist erfüllte, vertreiben. Daher verließ er die Lehrer und ging seine eigenen Wege. Und dann, während er unter einem Baum saß, erlebte er die Erleuchtung. Endlich verstand er das menschliche Problem vollkommen, seinen Ursprung, seine Folgen und seine Lösung. Von da an kannte man ihn als Buddha, was der »Erwachte« bedeutet. Während der nächsten 45 Jahre lehrte er alle den Weg der Erleuchtung – Männer und Frauen, Adlige und Bauern, Gelehrte und Ungebildete, die Höchsten und die Niedrigsten, ohne auch nur den geringsten Unterschied zu machen. Seine Lehre von der Befreiung von menschlichem Leid und menschlicher Verzweiflung ist allumfassend, und bis zum heutigen Tag ist sie jedem zugänglich, der sie prüft, versteht und erprobt. Eines Tages, kurz nach Buddhas Erleuchtung, sah ein Mann den Buddha auf sich zukommen. Der Mann hatte noch nicht von Buddha gehört, aber er konnte sehen, daß mit dem Mann, der ihm entgegenkam, irgend etwas anders war, und deshalb fühlte er sich veranlaßt zu fragen: »Bist du ein Gott?« »Nein«, erwiderte Buddha. »Dann bist du ein Magier? Ein Zauberer? Ein Hexenmeister?« »Nein.« »Bist du eine Art himmlisches Wesen? Vielleicht ein Engel?« »Nein«, antwortete Buddha wieder. »Also, was bist du dann?« »Ich bin erwacht«, erwiderte Buddha. Buddha sah in sich nie etwas anderes als einen Menschen – 13
allerdings einen, der voll erwacht war. Er behauptete nie, ein Gott oder von Gott inspiriert zu sein oder Zugang zu okkulten oder übernatürlichen Kräften zu haben. Er schrieb seine Verwirklichung und sein Verstehen allein menschlichen Anstrengungen und Fähigkeiten zu. Wir nennen Gautama »Buddha«, aber es hat noch viele andere Buddhas, viele andere erwachte Menschen gegeben, und es gibt sie noch heute. Jeder Buddha – der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft – ist ein Mensch, kein Gott. Man betet nicht zu einem Buddha, man versucht auch nicht, etwas von ihm zu bekommen. Ein Buddha ist auch kein Wesen, vor dem man sich verneigt. Ein Buddha ist einfach ein Mensch, der erwacht ist – nicht mehr und nicht weniger. Der Buddhismus ist keine Glaubenslehre. Es handelt sich nicht darum, gewisse Dogmen zu akzeptieren und eine Reihe von Behauptungen oder Prinzipien zu glauben. Es ist eigentlich genau das Gegenteil. Es geht darum, die Welt klar und sorgfältig zu untersuchen und jede Idee zu prüfen. Beim Buddhismus geht es um das klare Sehen und Erkennen, nicht um das Glauben oder Hoffen oder Wünschen. Er handelt auch davon, daß wir den Mut haben sollten, alles zu erforschen, einschließlich unserer eigenen persönlichen Einstellungen. Nicht zuletzt müssen wir natürlich Buddhas Lehre selbst prüfen. Buddha lud die Leute bei jeder Gelegenheit ein, ihn zu testen. »Glaubt mir nicht, nur weil ich als Lehrer vor euch stehe«, sagte er. »Glaubt mir nicht, nur weil andere es tun. Und glaubt auch nicht, nur weil ihr es in einem Buch gelesen habt. Verlaßt euch nicht auf Berichte oder Traditionen oder Hörensagen oder die Autorität religiöser Führer oder Texte. Stützt euch nicht auf reine Logik oder Hypothesen oder Phänomene oder Spekulationen.« Wiederholt hat Buddha betont, daß es unmöglich ist, jemals 14
die Wahrheit zu erkennen, wenn man die eigene Autorität aufgibt und den Anweisungen anderer folgt. Dieser Pfad führt nur zu einer Meinung, ob zur eigenen oder zu der eines anderen. Buddha ermunterte die Leute dazu, »selbst zu erkennen, daß gewisse Dinge schädlich und falsch sind. Und wenn ihr das erkennt, dann gebt sie auf. Und wenn ihr für euch erkannt habt, daß gewisse Dinge gut und unschädlich sind, dann nehmt sie an und folgt ihnen.« Seine Botschaft besteht darin, immer selbst zu sehen und zu prüfen. Wenn man selbst sieht, was wahr ist – und das ist wirklich die einzige Art, wie man etwas unverfälscht erkennen kann –, dann macht man es sich zu eigen. Bis dahin sollte man jedes Beurteilen und jede Kritik sein lassen. Der Kernpunkt des Buddhismus ist, einfach zu sehen. Das ist alles. Mit irgendwelchen Annahmen oder Überzeugungen können wir uns dem Buddhismus nicht nähern und nicht beginnen, die Wahrheit wirklich zu erforschen. Wir müssen bereit sein, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, und nicht so, wie wir es hoffen, wünschen oder erwarten. Der authentische Buddhismus beginnt deshalb mit Tatsachen. Er beginnt mit Wahrnehmung – direkter Erfahrung. Der wahre Buddhismus ist eigentlich gar kein »Ismus«. Er ist ein Prozeß, eine Bewußtheit, eine Offenheit, ein forschender Geist – kein Glaubenssystem oder gar eine Religion, wie wir das gewöhnlich annehmen. Es ist richtiger, ihn »die Lehre des Erwachten« zu nennen oder den Buddha-Dharma. Da sich dieses Buch auf die Lehre des Erwachten bezieht und nicht auf irgendwelche sektiererische Darstellung, werde ich von nun an gewöhnlich den Ausdruck Buddha-Dharma für Buddhismus verwenden. Die Lehre des Buddha legt keinen großen Wert auf die schriftliche Übermittlung. Buddhistische Schriften (auch dieses 15
Buch) können mit einem Floß verglichen werden. Ein Floß ist ein sehr praktisches Ding, um einen über das Wasser zu bringen, von einem Ufer zum anderen. Aber wenn man das andere Ufer erreicht hat, braucht man es nicht mehr. Und wenn man die Reise ins Landesinnere fortsetzen will, muß man das Floß sogar zurücklassen. Das Problem ist, daß wir dazu neigen, an dem Floß hängenzubleiben. Über kurz oder lang denken wir: Das war ein sehr gutes Floß. Es hat mir gute Dienste geleistet. Ich möchte es behalten und auf die weitere Reise mitnehmen. Aber wenn wir uns an die buddhistische Lehre klammern – oder an irgendeine andere Lehre –, wird sie schließlich ein Hindernis. Buddhistische Lehren und Schriften können helfen, aber die Wahrheit an sich wird man in ihnen nicht finden, sie wohnt auch nicht in Buddhas Worten. Keine Worte – weder von Buddha noch von mir oder irgend jemand anderem – können für uns sehen. Das müssen wir selbst tun, so wie Buddha, während er vor hundert Generationen unter einem Baum saß. Buddhas Worte können auch mit einem Finger verglichen werden, der zum Mond weist. Seine Lehre kann auf die Wahrheit hindeuten, aber sie kann nicht die Wahrheit sein. Buddhas – Menschen, die erwacht sind – können nur den Weg zeigen. Mit Worten läßt sich die Wahrheit nicht fassen. Wir können sie nur selbst sehen, selbst erfahren. Wenn man einer Katze den Mond zeigt, wird sie wahrscheinlich nicht zum Himmel blicken. Sie wird näher kommen und den Finger beschnüffeln. Auf ähnliche Weise neigen wir dazu, von einer bestimmten Lehre oder Kultur, von einem System, Ritual oder Buch fasziniert zu sein. Doch Buddha-Dharma – die Lehre des Erwachten – leitet uns an, nicht auf den ausgestreckten Finger zu schauen, sondern auf die Erfahrung der Wahrheit selbst. 16
Der Buddhismus wird manchmal als eine ahistorische Religion bezeichnet. Mit anderen Worten, er erzählt keine Schöpfungsgeschichte oder spekuliert darüber, ob wir in den Himmel kommen oder es irgendeine Art von Leben nach dem Tod gibt. Der Buddha-Dharma spricht tatsächlich überhaupt nicht von einem Anfang oder Ende. Es handelt sich mehr um eine Religion der Mitte, und er wird deshalb häufig auch der »mittlere Weg« genannt. Beim Buddha-Dharma beginnen wir mit der direkten Erfahrung. Es wird nicht verlangt, daß wir irgendeine Überzeugung akzeptieren oder versuchen, uns mit irgendeiner Vermutung oder Vorstellung anzufreunden. Beim BuddhaDharma müssen wir nicht bestimmte Erklärungen für die Dinge akzeptieren. Die Wahrheit braucht keine Erklärungen. Sie muß nur gesehen werden. Buddha verglich unsere Situation mit der eines Menschen, den ein Pfeil getroffen hat. Es schmerzt, und wir brauchen dringend Hilfe. Aber statt diese Hilfe für unser Leiden zu holen, erkundigen wir uns nach Einzelheiten über den Bogen, von welchem der Pfeil abgeschossen wurde. Wir fragen, wer den Pfeil gemacht hat. Wir möchten etwas über Aussehen und Herkunft der Person erfahren, die den Bogen spannte. Wir fragen nach vielen Dingen – belanglosen Dingen – und übersehen dabei das unmittelbare Problem. Wir fragen nach Ursprüngen und Absichten, doch den Augenblick selbst vergessen wir. Wir vergessen ihn, obwohl wir mitten in ihm leben. Zuerst müssen wir lernen, in das Jetzt zu reisen.
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TEIL I DAS EWIGE PROBLEM
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1 Die menschliche Situation Stellen wir uns einmal Leute vor, die an einem üppigen Bankett teilnehmen. Die langen Tische sind mit Köstlichkeiten beladen. Ein überwältigendes Angebot von Gerichten, perfekt zubereitet, dampft und glitzert und brutzelt direkt vor ihren Augen in Reichweite. Das Wasser läuft einem im Mund zusammen. Aber die Leute, die an diesem Festmahl teilnehmen, essen nicht. Ihre Teller sind völlig leer. Nicht mal ihren Löffel haben sie berührt. Sie sitzen jetzt schon eine lange Zeit so da. Langsam und unerbittlich verhungern sie. Sie verhungern nicht deshalb, weil sie an dem wundervollen Festmahl nicht teilnehmen können oder weil es verboten ist zu essen oder schwierig oder schädlich. Sie verhungern, weil sie nicht erkennen, daß das, was sie brauchen, Nahrung ist. Sie begreifen nicht, daß der scharfe, bohrende Schmerz in ihrem Magen Hunger bedeutet. Sie sehen nicht, was sie tun müssen, was sie als einziges tun müssen: das Festessen genießen, das vor ihnen steht. Das ist unsere grundlegende menschliche Situation. Die meisten von uns spüren, daß mit unserem Leben etwas nicht stimmt. Aber wir haben keine Ahnung, was unser Problem eigentlich ist oder was wir unternehmen können, um es zu lösen. Wir sehen das Essen vor uns stehen – vielleicht nur undeutlich – , aber wir bringen es nicht mit dem Schmerz in uns in Verbindung, obwohl er immer schärfer und bohrender wird. Wir sehnen uns nach etwas. Wir spüren Schmerz und Verlust. Wir leiden. Alles, was wir brauchen, um diese Unzufriedenheit zu lindern, liegt direkt hier vor uns. Doch wir begreifen es nicht. Gemäß dem Buddha-Dharma ist dieser traurige Zustand, diese 19
tiefe und ständige Unzufriedenheit, die erste Wahrheit. Alles Leid, das wir uns oder anderen zufügen – Haß, Abwehr, Heuchelei, Manipulation –, ist selbst gemacht. Es entspricht unserem eigenen Herzen und Denken, unserer eigenen Verwirrung. Und wenn wir das Problem nicht genau sehen, wird es ewig weiterbestehen. Wir geben die Verwirrung an unsere Kinder weiter, und so setzt sie sich fort, von Generation zu Generation, und immer wieder fügen wir uns und anderen das gleiche zu. Als Buddha ehrlich in sein eigenes Herz und in seinen eigenen Geist blickte, erkannte er dies, ebenso wie die zahllosen anderen Menschen, die es seitdem erkannt haben. Alle diese Menschen sahen mit eigenen Augen, daß ihr Leid und die Mittel, es zu beenden, in ihnen selbst liegen. Dies bedeutet nicht, daß wir erwarten sollten, keine Probleme zu haben, oder daß alles nach Wunsch verläuft, wenn wir uns nur anständig benehmen. Kein Leben – auch nicht das Buddhas – ist, war oder wird je frei von Schwierigkeiten sein. Der Buddha-Dharma verspricht nicht, unser Leben problemlos zu machen. Vielmehr fordert er uns dazu auf, das Wesen unserer Probleme zu untersuchen, was sie sind und woher sie kommen. Der Buddha-Dharma ist keine theoretische Philosophie, es geht nicht um Hirngespinste. Er hilft uns, die grundlegenden Dinge zu erfassen und unser Handeln danach einzurichten. Es gibt die Geschichte von einem Mann, der Buddha aufsuchte, weil er gehört hatte, Buddha sei ein großer Lehrer. Wie wir alle hatte er in seinem Leben Probleme und dachte, Buddha könnte ihm dabei helfen, mit ihnen klarzukommen. Er erzählte Buddha, daß er Bauer sei. »Mir gefällt meine Arbeit«, sagte er, »aber manchmal regnet es nicht genug, und die Ernte fällt schlecht aus. Letztes Jahr wären wir beinahe verhungert. Und manchmal regnet es zuviel, und dann sind die 20
Erträge auch nicht so, wie ich sie gerne hätte.« Buddha hörte dem Mann geduldig zu. »Ich bin auch verheiratet«, sagte der Mann, »mit einer guten Frau … ja, ich liebe sie. Aber manchmal nörgelt sie zu sehr an mir herum. Und manchmal habe ich sie einfach satt.« Buddha hörte schweigend zu. »Ich habe auch Kinder«, sagte der Mann, »nette Kinder … , aber manchmal zeigen sie mir gegenüber nicht genügend Respekt. Und manchmal …« So ging es weiter, und der Mann breitete alle seine Schwierigkeiten und Sorgen vor Buddha aus. Schließlich war er am Ende und wartete darauf, daß Buddha die Worte sagte, die für ihn alles in Ordnung bringen würden. Statt dessen erklärte Buddha: »Ich kann dir nicht helfen.« »Was meinst du damit?« fragte der Mann erstaunt. »Jeder hat Probleme«, sagte Buddha. »Genaugenommen haben wir 83 Probleme, jeder von uns. 83 Probleme, und man kann nichts gegen sie tun. Wenn du dich mit einem Problem gründlich beschäftigst, kannst du es vielleicht lösen – aber dann taucht statt dessen ein anderes auf. Zum Beispiel wirst du einmal deine Angehörigen verlieren. Und eines Tages wirst du sterben. Das ist ein Problem, und es gibt nichts, was du oder ich oder irgend jemand anderer dagegen tun könnte.« Der Mann wurde wütend. »Ich dachte, du seist ein großer Lehrer!« schrie er. »Ich dachte, du könntest mir helfen! Was nutzt da deine ganze Lehre?« »Vielleicht wird sie dir bei deinem vierundachtzigsten Problem helfen«, sagte Buddha. »Beim vierundachtzigsten Problem?« rief der Mann. »Was ist das vierundachtzigste Problem?« »Daß du keine Probleme haben willst«, sagte Buddha. 21
Wir glauben, wir müßten mit unseren Problemen auf eine Weise umgehen, die sie auslöscht, die ihre Wirklichkeit verändert oder leugnet. Aber dadurch versuchen wir, die Wirklichkeit zu etwas anderem zu machen, als sie ist. Wir versuchen, die Welt so zu ändern und zu manipulieren, daß Hunde niemals beißen, Unfälle nie passieren und die Menschen, die wir lieben, niemals sterben. Schon auf den ersten Blick sollte die Vergeblichkeit solcher Bemühungen offensichtlich sein. Während ich an diesem Buch arbeitete, starb ein Freund von mir – plötzlich, unerklärlicherweise, ohne jede Vorwarnung. Ein paar Augenblicke vorher lachte er noch mit Freunden. Er ging einfach durch den Garten zu den Stufen vor der Haustür, setzte sich hin und starb. Rick war freundlich, großzügig und bei allen beliebt. Er hatte eine gute, glückliche Ehe geführt und ließ eine liebende Ehefrau und drei kleine Kinder zurück. Er war 36 Jahre alt und, soviel er und alle anderen wußten, bei ausgezeichneter Gesundheit. Für mich und andere, die ihn gekannt hatten, war sein Tod sehr traurig. Sehr erschütternd. Sehr unerwartet. Und überaus plötzlich. Ich vermisse ihn sehr und habe mit seiner Familie und den vielen Freunden, die ihn liebten, Tränen vergossen. So ist das menschliche Leben. Wir können es nicht ändern. Das Unkraut wird wachsen, obwohl wir es nicht leiden können und wünschten, es gäbe es nicht. Blumen werden verwelken, obwohl wir sie lieben und uns danach sehnen, daß sie bleiben. Das menschliche Leben ist von Unzufriedenheit erfüllt. Sie ist unser ständiger Gefährte. Das ist die erste Wahrheit des BuddhaDharmas über das menschliche Leben. Wie gehen wir mit dieser Wirklichkeit um? Sollten wir vorgeben – oder auch nur hoffen – , daß das, was wir lieben, nicht sterben wird? Der Erwachte würde mit einem entschiedenen Nein antworten. Der Buddha-Dharma ist fest in der Wirklichkeit verankert. Es 22
sind keine Luftschlösser, es ist kein Wunschdenken oder ein Leugnung dessen, was das menschliche Leben ausmacht. Es gibt keine Versuche, Fakten zuzudecken, zu beschönigen oder umzudeuten. Es ist unbedingt erforderlich zu erkennen, daß unsere Unzufriedenheit ihren Ursprung in uns selbst hat. Sie entsteht durch unsere eigene Unwissenheit, unsere eigene Blindheit für die wahre Lage, aus dem Wunsch, die Wirklichkeit möge anders sein, als sie ist. Was uns unzufrieden macht, ist unsere Sehnsucht, unser heftiges Verlangen, unser Durst nach etwas anderem als der Wirklichkeit. Die zweite Wahrheit des BuddhaDharmas ist also, daß diese Unzufriedenheit in uns selbst entsteht. Die dritte Wahrheit ist, daß wir den Ursprung unserer Unzufriedenheit einsehen und dadurch ihre tiefsten und grundlegendsten Formen auflösen können. Die vierte Wahrheit, zu der ich gleich kommen werde, bietet uns Mittel, um eine solche Einsicht zu verwirklichen. Diese Verwirklichung wird manchmal als Nirvana oder Erleuchtung bezeichnet. Eine genauere und einfachere Beschreibung wäre jedoch »Freiheit des Geistes«. Häufig sehen wir unsere geistige Suche – das Ringen mit den fundamentalen menschlichen Themen – als eine Art Reise an. Aber die Reise, die wir jetzt beginnen, ist keine Reise im üblichen Sinn des Wortes. Im allgemeinen denken wir bei einer Reise an Bewegung und Richtung, entweder gehen wir in die Welt hinaus oder nach innen, zu unserem Selbst. Aber im Buddhismus geht unsere Reise nirgendwohin – weder nach außen in die Ferne noch nach innen zum Selbst. Eher könnte man sagen: Unsere Reise geht in die Nähe, in das Unmittelbare. Unsere Reise soll uns hier und jetzt erwecken, zum Hier und Jetzt erwecken. Um ganz lebendig 23
zu sein, müssen wir ganz dasein. Die Frage ist: Wie machen wir das? Damit wir beide – du und ich – die Antwort auf diese Frage selbst erfahren können, müssen wir zu drei Erkenntnissen kommen. Erstens müssen wir wirklich erkennen, daß das Leben vergänglich ist. Dann müssen wir begreifen, daß wir bereits vollkommen, makellos, ganz sind. Und schließlich müssen wir sehen, daß jeder uns seine eigene Zuflucht, sein eigener Schutz, seine eigene Rettung ist. Pflücke eine Blume – eine schöne, lebendige, frische Rose. Sie riecht wundervoll. Ihre Blütenblätter sind von leuchtender Farbe und wie Samt, ihre Anordnung folgt einem bezaubernden Rhythmus. Die Rose bewegt und erfreut uns. Das Problem mit der Rose ist, daß sie stirbt. Sie verliert ihre Blütenblätter und vertrocknet. Sie wird braun und kehrt zur Erde zurück. Eine Lösung dieses Problems ist, daß wir die echte Rose vergessen und durch eine aus Plastik ersetzen, die niemals stirbt (und niemals lebt). Aber wollen wir wirklich eine Plastikrose? Nein, natürlich nicht. Wir wollen die echte Rose. Wir wollen die Rose, die stirbt. Wir wollen sie haben, weil sie stirbt, weil sie vergänglich ist, weil sie verblüht. Gerade diese Eigenschaften machen sie kostbar. Das ist es, was wir haben wollen, was wir alle sind: etwas Lebendiges, das stirbt. Unser eigener Körper und Geist sind auch kostbar, eben weil sie vergänglich sind. Sie verändern sich – ständig, in jedem Augenblick. Wir sind tatsächlich nichts anderes als die personifizierte Veränderung. Sehen wir uns die Sache einen Augenblick genauer an. Es ist leicht zu erkennen, daß du nicht mehr den Körper des kleinen Kindes hast, das du einmal warst. Auch denselben Verstand hast du nicht mehr. Wenn du genauer hinsiehst, wirst du feststellen, 24
daß du nicht einmal mehr denselben Körper und Verstand hast wie eben, als du diese Seite umgeblättert hast. In diesen paar Sekunden starben viele Zellen in deinem Körper und viele andere wurden erschaffen. Zahllose chemische Veränderungen fanden in den verschiedensten Organen statt. Deine Gedanken veränderten sich in Reaktion auf die Worte auf dieser Seite und deine Umgebung. Tausende von Schaltstellen des Gehirns reagierten Tausende von Malen. Jeden Augenblick veränderst du dich. Unser Körper und unser Geist sind so vergänglich wie die Rose. Tatsächlich sind alle unsere Erfahrungen flüchtig – unser Körper, unser Geist, unsere Gedanken, unsere Wünsche und Bedürfnisse, unsere Beziehungen. Sie verändern sich, sie müssen sterben. Wir sterben jeden Augenblick, und in jedem Augenblick werden wir wiedergeboren. Der Prozeß von Geburt und Tod geht endlos weiter, von Augenblick zu Augenblick, direkt vor unseren Augen. Alles, was wir sehen, uns selbst und alle Aspekte unseres Lebens eingeschlossen, ist nichts als Veränderung. Das Leben selbst besteht aus Geburt und Tod. Diese Vergänglichkeit, dieses ständige Werden und Vergehen, ist genau das, was unser Leben kraftvoll, wunderbar und lebendig macht. Doch gewöhnlich wollen wir die Dinge vor Veränderungen bewahren. Wir wollen sie erhalten, uns an sie klammern. Wie wir sehen werden, ist dieses Verlangen, festzuhalten und Veränderungen zu verhindern, die größte Quelle von Leid und Schrecken und Sorgen in unserem Leben. Du bist bereits in der Wirklichkeit, ob du sie siehst oder nicht. Die Wirklichkeit ist hier und jetzt. Und du bist auch hier. Das weißt du alles aus direkter Erfahrung. Du bist nicht getrennt von 25
der Wirklichkeit. Sie ist nicht irgendwo außerhalb von dir, sondern genau hier. Das gibt uns die Chance zu erwachen. Du hast die Möglichkeit zu erwachen, jetzt, in diesem Augenblick und in jedem Augenblick. Also ist dir die Erleuchtung bereits sicher. Die meisten von uns neigen dazu zu denken – so wurde es uns beigebracht –, daß es gerade umgekehrt ist, daß wir etwas suchen müssen. Aber nein! Wir müssen nicht unsere eigene Erfahrung suchen. Sie ist bereits da, aus erster Hand. Du bist bereits erleuchtet. Du mußt nur aufhören, dich selbst zu blockieren, und ernsthaft aufpassen, was vorgeht. Dir fehlt nichts. Du mußt nur aufhören, deine Einsicht in die Wirklichkeit zu unterdrücken oder zu interpretieren. In seinem letzten Vortrag vor seinem Tod sagte Buddha: »Jeder von euch sei sich selbst ein Licht. Sucht eure Rettung nicht in einer äußeren Zuflucht. Haltet an der Wahrheit fest. Sucht bei niemandem Zuflucht außer bei euch selbst.« Du bist die letzte Autorität. Nicht ich, nicht Buddha, nicht die Bibel, nicht die Regierung, nicht der Präsident. Nicht Mutter oder Vater. Du. Keine Gemeinschaft von Philosophen, Wissenschaftlern, Priestern, Akademikern, Politikern oder Generälen – keine Schule, kein Gesetz, kein Parlament oder Gericht – kann die Verantwortung für dein Leben, deine Worte oder Taten übernehmen. Du bist die Autorität, du allein, du kannst sie nicht loswerden und ihr nicht entfliehen. Natürlich kannst du so tun, als würdest du auf diese letzte Autorität verzichten, du kannst sie ignorieren oder dich so benehmen, als hättest du keine, oder versuchen, sie jemand anderem zu übertragen. Aber du wirst sie dadurch nicht wirklich los. Du überträgst deine Autorität jemand anderem. Du beschließt, diese Autorität zu leugnen oder zu ignorieren. Du triffst die Entscheidung, dich selbst anzulügen und so zu tun, als hättest du keine Autorität. 26
Dabei ist diese letzte Autorität durchaus keine Last, sondern vielmehr etwas Großartiges. Sie bedeutet, daß du die Macht hast, aufzuwachen. Du hast sie jetzt, in diesem Augenblick. Du brauchst nicht irgendwo anders hinzugehen. Du kannst genau jetzt erwachen, sofort. Du bist dazu vollkommen ausgerüstet, jetzt, in diesem Augenblick. Du hast bereits alle Macht, die du je brauchen wirst, um die Glückseligkeit zu verwirklichen. Mit anderen Worten: Du bist auf alles, was geschieht, bestens vorbereitet. Jeder von uns hat die Macht, einfach zu sein, was er ist, ohne irgend etwas hinzuzufügen. Nichts fehlt, nichts ist ausgelassen. Du wirst versorgt, dir wird geholfen, genau jetzt, auch wenn du es vielleicht noch nicht merkst (oder nicht merkst, wie). Das Festessen steht vor dir, und du kannst deinen Hunger stillen. Um dein geistiges Leiden völlig zu beenden, brauchst du nur zu sehen, daß es »dort draußen« wirklich nichts zu holen gibt, weil bereits alles ganz und vollständig ist, jetzt, in diesem Augenblick. Dann kannst du aus der ewigen Verwirrung erwachen, aus der Existenzangst, aus der Suche nach Antwort auf die Frage, was das Leben eigentlich ist. Dieses Tun – dieses Sehen – ist die vierte Wahrheit des Buddha-Dharmas. Sie ist das Mittel, durch das wir die Freiheit des Geistes erfahren können. Die vierte Wahrheit des Buddha-Dharmas enthält acht Aspekte, deshalb wird sie auch der Achtfache Pfad genannt. Was ist das nun für ein Pfad? Er beginnt damit, daß wir sehen, was unser Problem ist, und dann beschließen, dieses Problem zu lösen. Durch das Sehen erkennst du, daß du bewußt leben mußt, nicht wegen dir oder wegen jemand anderem oder wegen eines Zieles oder einer Überzeugung oder einer Idee, sondern um dich voll auf den Augenblick einzulassen. Sobald du das siehst, wirst du auf bewußte Weise sprechen, handeln und leben. Rechte Rede, rechtes Handeln und rechter Lebenserwerb folgen dann 27
ganz natürlich. Dies liefert das Fundament für eine Moral, die tatsächlich funktioniert. Die vom Buddha-Dharma abgeleitete Morallehre ist kein scheinheiliger Verhaltenskodex, bei dem wir Tugendsamkeit heucheln, eine Gunst erschmeicheln oder versprechen, gut zu sein, damit wir irgendwann später eine Belohnung beanspruchen können. Die richtige Moral bezieht sich voll und ganz auf den Augenblick. Sie basiert auf der Unmittelbarkeit der Wirklichkeit, darauf, wie wir tatsächlich leben. Unsere »Belohnung« liegt in der Gegenwart, im Hier und Jetzt, nicht in irgendeinem Traumland. Der Achtfache Pfad schließt auch Anstrengung, Achtsamkeit und Meditation ein. Aber die buddhistische Meditation ist anders, als sich die meisten Menschen eine Meditation vorstellen. Sie ist weder eine Entspannungsübung noch ein Streben nach einem besonderen Geisteszustand. Bei dieser Meditation geht es einfach darum zu lernen, dazusein – in jedem Augenblick anwesend zu sein und wahrzunehmen, was geschieht. Der Buddha-Dharma lädt nicht dazu ein, mit abstrakten Begriffen herumzuspielen. Vielmehr fordert er uns auf, auf das zu achten, was wir tatsächlich erfahren, jetzt, in diesem Augenblick. Wir brauchen nicht anderswohin zu sehen. Wir brauchen nichts zu suchen. Wir brauchen nichts zu erwerben. Und wir brauchen nicht nach Tibet oder Japan oder sonstwohin zu gehen. Tatsächlich können wir nur genau hier erwachen. Also müssen wir keine lange Suche unternehmen, keine wilde Jagd, keine schmerzvolle Reise. Wir sind bereits genau da, wo wir sein sollen. Der Tisch ist vor uns gedeckt. Sehen wir einmal, wie das Essen schmeckt.
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2 Das schiefe Rad Die erste der Vier Edlen Wahrheiten, die Buddha beschreibt, wird Duhkha genannt. Duhkha ist nicht einfach zu übersetzen, deshalb übernehme ich die Bezeichnung und werde sie genau erklären. Duhkha wird häufig mit Leid übersetzt. Doch das ist nur ein Teil der Bedeutung, denn auch Vergnügen ist eine Form von Duhkha. Im Sanskrit ist das Gegenteil von Duhkha Sukha, was Zufriedenheit bedeutet. Manche Leute übersetzen deshalb Duhkha mit Unzufriedenheit. Doch das trifft es auch nicht genau. Duhkha bezeichnet im Sanskrit ursprünglich ein Rad, das nicht richtig läuft. Stellen wir uns einmal ein Rad vor, das eine wichtige Funktion für uns hat, wie zum Beispiel eine Töpferscheibe. Ist diese Scheibe krumm, dann werden wir Schwierigkeiten haben, ein Tongefäß herzustellen. Zu Buddhas Zeiten war das Bild für Duhkha vielleicht ein schiefes Karrenrad, das nicht richtig lief. Man kann sich vorstellen, wie unangenehm es gewesen sein muß, mit solch einem Fahrzeug zu fahren. Das ständige Ruckeln und Quietschen des schiefen Rades ist anfangs nur ärgerlich, dann wird es immer lästiger und beunruhigender. Vielleicht hat der Fahrer zu Beginn noch Vergnügen daran, etwa weil das Rad bei jeder Drehung einen kleinen Ruck macht – doch nach einer Weile wird die Sache immer quälender. Die erste Wahrheit des Buddha-Dharmas vergleicht das menschliche Leben mit diesem schiefen Rad. Etwas Grundlegendes und Wichtiges ist schief in unserem Leben. Es 29
beunruhigt uns, es macht uns unglücklich, immer wieder. Mit jeder Drehung des Rades, an jedem Tag, der vorübergeht, spüren wir Leid. Natürlich gibt es auch Momente der Freude. Doch gleichgültig, wie sehr wir uns anstrengen, Freude zu schaffen und zu erhalten – am Ende verschwindet sie, und Sorge und Ärger kehren zurück. Nichts, was wir unternehmen, kann uns Sorge und Ärger völlig vom Leibe halten. Gleichgültig, was wir anstellen, unsere 83 Probleme bleiben. Was können wir dagegen tun? Wir können damit anfangen, daß wir klar und vollständig sehen, worin das Problem eigentlich besteht. Wir haben schon alle den Spruch gehört »Sehen heißt glauben«. Doch Tatsache ist, daß glauben nicht wirklich sehen ist. Es sind sogar Gegensätze. Zu glauben ist bestenfalls eine auf Erziehung und Wissen beruhende Mutmaßung über die Wirklichkeit. Dagegen ist das Sehen – unmittelbare, unverfälschte Erfahrung – die direkte Wahrnehmung der Wirklichkeit selbst. Betrachten wir die Sache an einem kurzen Beispiel. Angenommen, ich würde zu dir kommen und dir erzählen, daß ich in meiner geschlossenen Hand ein Schmuckstück habe. Es könnte die Wahrheit sein oder eine Lüge. In jedem Fall hast du kaum irgendwelche Anhaltspunkte, um es zu überprüfen. Solange ich die Faust nicht öffne, kannst du nicht wissen, ob ich ein Schmuckstück darin verberge oder nicht. Bei der beschränkten Information, die ich dir gegeben habe, kannst du höchstens glauben, daß ich etwas in der Hand habe oder nicht, oder darüber spekulieren. Erst wenn ich die Faust öffne, kannst du sehen, ob ein Schmuckstück da ist oder nicht. Und wenn ich sie aufgemacht habe, verschwindet die Notwendigkeit zu glauben und damit auch die Nützlichkeit des Glaubens. Du kannst selbst sehen, ob 30
ein Schmuckstück in meiner Hand liegt oder nicht, und so kannst du dein Verhalten nach dem richten, was du siehst, und nicht nach dem, was du vermutest. So verhält es sich mit jedem Problem, jeder Frage, jedem Dilemma. Zu glauben mag beim Fehlen von echter Erfahrung eine nützliche Notlösung sein, aber wenn du die Wirklichkeit erst einmal siehst, ist es nicht mehr nötig zu glauben. An diesem Punkt steht der Glaube sogar der klaren direkten Wahrnehmung im Weg. Wenn wir Wahrheit und Wirklichkeit sehen wollen, können wir uns deshalb nicht auf reinen Glauben verlassen. Wir können uns nur auf tatsächliche Wahrnehmung und direkte Erfahrung verlassen. Wahrheit oder Wirklichkeit ist nicht etwas Vages, Geheimnisvolles oder Verborgenes. Du brauchst nicht zu irgend jemand anderem zu gehen, um sie zu finden – zu einem Lehrer oder einem Buddha oder den Eltern, zu einem Priester oder Rabbi oder Schamanen oder irgendeiner anderen Autorität. Du kannst sie auch nicht in einem Buch nachschlagen. Die Wahrheit kommt zu uns durch das Sehen. Sehen ist Wissen. Das Sehen braucht keine weitere Überprüfung. Es ist unmittelbar und eins mit der Wahrheit. Aber gewöhnlich sind wir nicht sehr erfahren darin, zu sehen, was uns tatsächlich gezeigt wird. Ein konkretes Beispiel dafür bietet das Bild auf der nächsten Seite. Ob du es glaubst oder nicht – es ist eine beinahe fotografisch getreue Abbildung von etwas sehr Vertrautem. Du hast es schon unzählige Male gesehen, entweder als Bild oder in Wirklichkeit. Wenn du nicht sofort erkennst, was es ist, achte auf deine geistige Verfassung. Stell fest, daß du bis zu einem gewissen Grad verwirrt bist. Manche Leute, die das Bild zum erstenmal sehen, sagen: 31
»Ich glaube, es könnte ein liegender Mensch sein.« Aber sie sagen es unsicher, sie sind nicht wirklich davon überzeugt. Sie glauben nur, es könnte ein liegender Mensch sein, der den Kopf anlehnt, (das dachte ich zuerst auch), aber sie haben nicht das Gefühl, wirklich zu sehen, sie sind nicht überzeugt, daß sie wissen, was das Bild darstellt. Betrachte das Bild weiter. Ich versichere dir, wenn du tatsächlich siehst, was es darstellt, wird deine ganze Unsicherheit sofort beseitigt sein. Du wirst wissen, was abgebildet ist. Alle Annahmen und jede Unklarheit werden sofort verschwinden. Wenn du nicht erkennst, was das Bild darstellt, betrachte es noch eine Weile. Schließlich wirst du dahinterkommen. Und dann wirst du merken, daß in deinem Geist plötzlich eine Veränderung passiert. (Wenn die Sache beginnt, hoffnungslos zu werden, kannst du im Text auf Seite 190 die Lösung finden. Aber versuch lieber, dranzubleiben, bis du siehst, was es ist, damit du plötzlich den Moment der Erkenntnis und die tiefe Veränderung in deinem Geist erlebst.)
Geheimnisvolle Gestalt
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Hast du gemerkt, wie dein Geist sich entspannte, als du plötzlich sahst und wußtest, daß du sahst? Dein Geisteszustand, der vorher vage, rätselhaft, trübe, verwirrt und unbefriedigt war, veränderte sich plötzlich in dem Augenblick, als du sahst. Du besaßest Klarheit und warst völlig überzeugt. Und diese Klarheit und Überzeugung wird jedesmal, wenn du dieses Bild betrachtest, bei dir sein. Wenn jemand zu dir sagt: »Das Bild stellt einen liegenden Menschen dar«, weißt du, daß er sich irrt, und keine Argumente können dich davon abbringen. Dies entspricht dem Unterschied zwischen Sehen und Glauben, zwischen Erkenntnis und Einbildung oder Vorstellung. Der Buddha-Dharma weist den Weg zu einem ähnlichen, aber universelleren und tieferen »Aha-Erlebnis«. Es handelt sich nicht darum, über etwas Vages und Fernes nachzugrübeln. Es geht um das Hier und Jetzt. Darum, zu diesem Augenblick zu erwachen, ihn so zu sehen, wie er ist. Und genau wie dein Geisteszustand sich verändert hat, als du sahst, was das Bild darstellt, wirst du Gewißheit erfahren, wenn du plötzlich die Situation siehst, in der du dich befindest. Alles ist dann völlig klar. Das nennt man Erleuchtung oder Erwachen. Dieses Erwachen ist für uns alle erreichbar, in jedem Augenblick, ohne Ausnahme. Solange wir in unserem üblichen Zustand der Verwirrung bleiben, wird unser Geist charakterisiert durch Sorge und Schmerzen, durch Duhkha. Wenn wir unsere Lage sorgfältig und ernsthaft betrachten, werden wir sehen, daß wir drei Arten von Duhkha erleben. Die erste Art von Duhkha ist direkter Schmerz physischer oder psychischer Art. Ob es uns gefällt oder nicht – der Schmerz ist ein unvermeidlicher Teil unseres Lebens. Wir können ihn dämpfen, uns gegen ihn betäuben oder Medikamente gegen ihn 33
einnehmen, Schritte unternehmen, um ihn zu vermeiden oder so gering wie möglich zu halten, und manchmal gelingt es uns, ihn zu lindern. Aber wir können ihm nicht völlig entkommen. Auch wenn du jetzt völlig gesund bist, wirst du dich früher oder später verletzen, krank werden, Schmerzen haben, sterben. In vielen Fällen können unsere Versuche, den Schmerz zu begrenzen oder zu vermeiden, unser Leiden sogar noch vergrößern. Das klassische Beispiel ist der Mensch, der Zahnweh hat und den Besuch beim Zahnarzt aufschiebt, weil er Angst hat, die Behandlung würde weh tun. Weil er zu lange zögert, entsteht eine schwere Infektion, und eine Wurzelkanalbehandlung wird notwendig – eine viel schmerzlichere, zeitraubendere und teurere Behandlung, als wenn er sofort zum Zahnarzt gegangen wäre. Physische Schmerzen treten immer dann auf, wenn in unserem Körper etwas nicht in Ordnung ist. Psychischen Schmerz erfahren wir, wenn wir nicht bekommen, was wir wollen, oder wenn wir gezwungen sind, mit etwas zu leben oder etwas zu ertragen, das wir nicht wollen. Tatsache ist, daß wir dem Schmerz nicht wirklich entrinnen können. Wohin wir uns auch wenden, er ist immer bei uns. Wir müssen der Tatsache ins Gesicht sehen, oder wir finden niemals einen Ausweg aus der Situation, in der wir uns befinden – dieser Situation von Duhkha. Wir können mit dem Schmerz nur fertig werden, indem wir ihm offen entgegentreten. Die zweite Art von Duhkha ist Veränderung. Alle Aspekte unserer Erfahrung, sowohl physischer als psychischer Art, sind in ständiger Bewegung und Veränderung. Was wir auch denken, was wir auch ansehen oder worüber wir auch sprechen – alles befindet sich in ständigem Fluß. Wenn wir in unserer gewöhnlichen Geistesverfassung (im Gegensatz zum erwachten Zustand) sind, macht sich dieses Fließen in Unzufriedenheit, Sorge, Duhkha bemerkbar. 34
Und dann vergrößern wir unser Problem, weil wir diese Veränderung aufhalten wollen und versuchen, die Dinge an ihrem Platz festzuhalten. Äußerlich versuchen wir dies durch Macht, Kontrolle und Manipulation; innerlich versuchen wir es, indem wir die Welt in Begriffe fassen. Wir versuchen, alles festzunageln, alles in unserem Geist zu ordnen, weil das ein Gefühl von Bedeutung oder Sinn oder Erleichterung in uns hinterläßt. Selbst wenn es uns gelingt, unsere Lage für den Augenblick angenehm zu gestalten, kann dies nur vorübergehend sein. Alle Umstände, die diese Augenblickssituation umgeben, werden sich unweigerlich ändern. Und dann wird unsere momentane Freude vergehen, um wieder Duhkha zu enthüllen. Unser Versuch, die Welt festzunageln, ist eine tiefgehende, wenn auch subtile Manifestation der zweiten Art von Duhkha. Sie ist so schmerzhaft und quälend, weil sie nichts anderes ist als unser verzweifelter Versuch, uns der Wirklichkeit zu widersetzen. Vielleicht sehnen wir uns nach einem Ort in einer anderen Welt, einem Platz, wo solches Leid und solche Qual uns niemals erreichen. Wir versuchen vielleicht sogar, uns einen solchen Ort zu schaffen, im Inneren oder äußerlich. Aber solch ein Ort existiert nicht, hat nie existiert und wird nie existieren. Ein kurzes Nachdenken über den Tod sollte dies offensichtlich machen. Alles, was lebt, muß sterben. Alles, was wird, muß vergehen oder seine Form ändern. Es ist schlicht unmöglich, daß etwas existiert und sich nicht ändert. Solange wir in unserem gewöhnlichen Geisteszustand bleiben, gibt es kein Entkommen aus dem unvermeidlichen Duhkha, das durch Veränderung entsteht. Doch wir neigen dazu, dies nicht anzuerkennen. Statt dessen versuchen wir gewöhnlich die Welt – unser Leben, unsere Beziehungen, Ereignisse, andere Menschen – zu kontrollieren und zu manipulieren. Dieser Versuch ist die Hauptquelle für die zweite Art von Duhkha. Ehe wir nicht sehen, daß dies so ist, wird es immer unser 35
höchstes Ziel sein, uns einzumischen, zu kontrollieren und zu manipulieren. Wir glauben ehrlich, daß wir dadurch die Welt für uns und alle anderen besser machen können. Wir erkennen nicht, daß wir dabei nur Verheerungen anrichten – Ärger, Sorgen, geistiges und körperliches Leid: Duhkha. Der Ausweg ist nicht Kontrolle oder absichtsvolles Handeln, sondern sehen. Einfach sehen genügt. Aber wie sehen und was? Dazu kommen wir gleich. Außer dem Duhkha des Leids und dem Duhkha der Veränderung gibt es noch das Duhkha des Seins. Diese dritte Art von Duhkha ist viel schwerer zu sehen als die ersten beiden. Gewöhnlich ist eine eingehende Betrachtung notwendig. Solange du dich als deutlich getrennte Wesenheit siehst, mußt du dich auch als dem Tod unterworfen betrachten. Wenn deine Existenz im Dasein besteht, muß sie zwangsläufig einmal verschwinden. Diese Erkenntnis bringt tiefes Leid, Trauer und Schrecken mit sich. Die einfachste Art, diese Form von Duhkha zu erfahren, ist nur still dazusitzen und über die Tatsache nachzudenken, daß du die Antworten auf einige sehr grundlegende Fragen nicht weißt. Wie bist du hergekommen? Was bist du? Woher bist du gekommen? Wohin gehst du? Du magst Meinungen und Vorstellungen zu diesen Fragen haben, aber du kennst die Antworten auf sie nicht durch eigene direkte Erfahrung. Sieh, wie groß die Welt ist. Hat das alles einen Sinn? Sieh, wie unbedeutend jeder von uns angesichts dieser Größe ist. Wozu dient das menschliche Leben? Warum gibt es das alles überhaupt? Warum gibt es etwas und nicht nichts? Und dann ist da die große offene Frage: »Was geschieht mit mir nach dem Tod?« Wir kennen alle möglichen Geschichten über Himmel und Hölle, über das Vergehen und das Nichts, über das »Zurückkommen« und so weiter. Aber es sind alles nur 36
Geschichten. Bei der Lehre des Erwachten handelt es sich nicht darum, uns eine Geschichte zu erzählen. Es geht dabei darum, tatsächliche Erfahrung zu erforschen. Was sagt uns die tatsächliche Erfahrung über die große Frage? Können wir irgend etwas verstehen, wenn wir darüber nachdenken von wo wir kommen oder wohin wir gehen oder warum wir hier sind oder was mit jedem von uns geschieht, wenn er stirbt? Ja, das können wir. Aber wir können keine Befriedigung erlangen, indem wir versuchen, die Antworten auf solche Fragen zu finden. Wenn wir jedoch unsere eigene Erfahrung sorgfältig prüfen, kann dieses tiefe Unbehagen, das wir alle erleben, nur weil wir existieren, verschwinden – genau wie die unzufriedene geistige Verfassung verschwand, als du die geheimnisvolle Gestalt auf Seite 43 erkanntest. Durch das Sehen können wir erkennen.
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3 Kommen Die zweite Wahrheit des Buddha-Dharmas ist das Entstehen von Duhkha. Duhkha entsteht durch Durst – durch Begehren oder Wünschen und den Versuch, das Objekt der Begierde zu erlangen. Dieses Begehren und Habenwollen tritt in drei verschiedenen Formen auf. Erstens als sinnliches Verlangen. Wir neigen dazu zu glauben, daß es rein physisch ist, aber es ist auch psychisch oder mental. Natürlich wollen wir angenehme, anregende physische Empfindungen, aber wir wollen auch gute intellektuelle Anreize: schöne Gespräche, ein ausgeglichenes Gefühlsleben, genußreiche Kunst und Unterhaltung und so weiter. Unsere sinnliche Begierde ist tatsächlich meistens mentaler Art. Die zweite Form des Begehrens ist unser Durst nach Existenz. Wir wollen nicht sterben. Wir wollen irgendwie weiterbestehen, weiterleben, ewig. Aber selbst wenn wir unseren Durst nach Existenz aufgeben könnten, ist da immer noch die dritte Form von Begehren, die uns plagt: der Durst nach Nichtexistenz. Wir wollen aus dieser Welt von Leid und Kummer ein für allemal befreit werden. Duhkha entsteht immer wieder in unserem Herzen und in unserem Geist in diesen drei Formen von Begehren. Wenn wir nicht erkennen, daß dies so ist, vergessen wir diesen Augenblick und verfangen uns in Begierde und Ablehnung – wünschend, daß einige Dinge eintreffen (oder so bleiben) und andere verschwinden. Buchstäblich alles Leid der Menschheit geht auf diese drei Formen von Begehren zurück. Unsere größten Leiden sind also alle selbstverschuldet. Benenne, was dich quält, und du wirst 38
letzten Endes feststellen, daß es mit deiner Begierde zusammenhängt, mit deinen Wünschen und deinem Verlangen. Aber wir neigen dazu, dies nicht zu bemerken. Im Grund sind wir unsicher, was wir eigentlich wollen. Wir erkennen nicht so leicht, daß wir – wir alle – eigentlich nur erwachen möchten. Wir wollen nicht verwirrt sein. Wir wollen nicht in einem Zustand der Unwissenheit durchs Leben gehen. Doch im allgemeinen erkennen wir nicht einmal das. Weil wir dieses tiefe Herzensbedürfnis nicht erkennen, versuchen wir, unseren Durst durch Erlangen und Abwehren zu befriedigen. Wir bilden uns ein, daß eine Kombination aus Geld und Ruhm und Liebe und dem Verhindern von Streß all unserer Not ein Ende machen wird. Aber nichts, was erlangt werden kann, ist dazu imstande – und wir wissen es. Der Erwachte verspricht nicht, daß unsere 83 Probleme – die Schicksalsschläge des täglichen Lebens – verschwinden werden. Nein, die Höhen und Tiefen des Lebens bleiben. Aber indem wir uns mit dem vierundachtzigsten Problem auseinandersetzen und das Entstehen von Duhkha sehen, sind unsere Probleme eigentlich keine mehr. Mein Zen-Lehrer pflegte die Geschichte eines jungen Mönches zu erzählen, der raus wollte – nicht aus dem Leben, sondern nur aus dem Zen-Kloster, in dem er lebte. In Zen-Klöstern muß man ständig darauf achten, was man tut, was man jeden Augenblick erlebt. Alle Aktivitäten sind vorgeschrieben und werden in bewußtem Schweigen ausgeführt. Nach einer gewissen Zeit kann einem das auf die Nerven gehen – was dem Mönch in unserer Geschichte passierte. Er ging zum Meister und sagte: »Ich kann es nicht mehr aushalten. Ich möchte raus.« »Okay«, sagte der Meister. »Dann geh!« 39
Während der junge Mann auf die Tür zuging, sagte der Lehrer: »Das ist nicht deine Tür.« »Oh! Entschuldigung.« Der junge Mann sah sich bestürzt um und entdeckte eine zweite Tür. Als er auf sie zuging, sagte der Lehrer: »Das ist nicht deine Tür.« »Oh!« Der junge Mann sah sich nach einer weiteren Tür um. Er entdeckte, daß sich hinter dem Lehrer eine kleine Tür befand, die gewöhnlich vom Helfer des Lehrers benutzt wurde. Als er auf diese Tür zuging, schrie der Lehrer ihn an: »Das ist nicht deine Tür!« Völlig verwirrt und gereizt sagte der arme Kerl: »Was soll das heißen? Es gibt keine andere Tür! Sie haben gesagt, ich könnte gehen, aber es gibt keine Tür, durch die ich hinausgehen kann.« »Wenn es keine Tür gibt, durch die du hinausgehen kannst«, sagte der Lehrer, »dann setz dich.« Wir können nur hier sein. Wir können nicht weg. Wir sind immer hier. Prüfe dein Leben, und du wirst sehen, daß dies stimmt. Das »Setz dich« des Lehrers bedeutet, daß man anfangen soll, darauf zu achten, was tatsächlich vor sich geht, statt wegzulaufen. Dies ist die einzige Möglichkeit, das Grundlegende, wie wir das Leid und die Verwirrung beenden können. Leider versuchen wir meistens, mit unseren Problemen fertig zu werden, indem wir zur Tür laufen und unsere unmittelbare Situation durch jedes verfügbare Mittel hinter uns lassen. Aber unser wirkliches Problem – der Schmerz tief innen – verschwindet nicht. Er begleitet uns immer. Dieses Problem tief in uns ist die Verwirrung. Unsere leidvollsten Probleme – Krieg, Verbrechen, Armut, Unwissenheit, Gier, Demütigung – sind keine 40
Naturkatastrophen. Was schmerzt uns mehr tief innen, das Erdbeben von Los Angeles oder der Rassenaufruhr von Los Angeles? Ein Erdbeben ist zwar schlimm, aber in solchen Augenblicken halten die Leute zusammen und helfen sich gegenseitig. Mitten in Rauch und Trümmern reichen sie sich die Hände und vertrauen einander. Der Aufruhr hingegen verursacht fast immer nur Leid, und die Menschen selbst sind dessen Quelle. Die Zustände, die ihn erzeugen, schaffen wir. Wir fangen ihn an, wir machen ihn, und wir halten ihn in Gang. Im Gegensatz zu einem Erdbeben ist ein Aufruhr allein das Ergebnis unserer Macht – was bedeutet, daß es auch in unserer Macht liegt, ihn zu verhindern. Doch um ihn zu verhindern, müssen wir uns erst einmal der wahren Situation stellen. Wenn wir nicht vorsichtig sind, kann Unwissenheit hinterhältig sein. Denken wir nur einmal daran, wie wir immer noch mehr haben wollen, selbst wenn wir die herrlichen Dinge bekommen, nach denen wir uns sehnen, und wie wir immer auf das warten, was als nächstes kommt. Dies kann nur eine gewisse Zeit so weitergehen, bis das Leben sinnlos wird. Entweder das, oder wir sind regelrecht frustriert, weil wir nicht bekommen, was wir wollen. Nachdem Henry Ford seine erste Milliarde verdient hatte, wurde er gefragt, wieviel mehr Geld er noch haben wollte. Er sagte: »Nur noch ein wenig mehr.« So steht es mit uns. Weil wir unsere wahre Situation nicht erkennen, sind wir zwangsläufig nie zufrieden. Wir sind wie die Comicfigur Hägar der Schreckliche. Als er gefragt wurde, was er wählen würde: Macht, Gold oder wahres Glück, wählte er die Macht: »Wenn ich die Macht besitze, kann ich das Gold kriegen, und dann bin ich glücklich.« Wir finden Hägars Einfall komisch, weil wir es besser wissen. Doch die meiste Zeit ignorieren wir gerade dieses Wissen und 41
verhalten uns (oder denken zumindest) so wie Hägar. Gute Zeiten kommen und gehen, ebenso wie die schlechten. Trotzdem verbringen wir viel Zeit und Energie mit dem Versuch, die guten Zeiten zurückzuholen. Wir merken nicht, daß die guten Zeiten von allein eintreffen. Genauso kommen die schlechten Zeiten von allein, obwohl wir viel Zeit und Energie darauf verwenden, sie uns vom Leib zu halten. Natürlich wollen wir keine schlechten Zeiten. Aber schlechte Zeiten unterliegen so wenig unserer Kontrolle wie die guten. Die Zeiten, die wir nicht haben wollen, kommen (und gehen), gleichgültig was wir unternehmen, um Herr der Situation zu bleiben. Mit den guten Zeiten verhält es sich genauso. Wir sollten erkennen, daß solch eine Kontrolle unmöglich ist, ein Wunschtraum, und statt dessen einfach nur jeden Augenblick voll erleben. Dies bedeutet nicht, daß wir uns nicht um die Zukunft kümmern sollten. Es bedeutet nur, daß wir gut daran täten, nicht an einem bestimmten Ereignis zu hängen. Wir sollten lieber mit unseren Bemühungen darauf abzielen, in der Gegenwart zu sein, als darauf zu beharren, wie die Zukunft sein muß. Aus der Umklammerung von Unwissenheit und Begehren können wir uns nur durch Sehen, einfaches Sehen, lösen und nicht dadurch, daß wir etwas Bestimmtes unternehmen. Wenn wir sehen, folgt daraus von ganz allein das Handeln. Wenn wir das Problem des Begehrens lösen wollen, indem wir es unterdrücken, sorgen wir nur dafür, daß es irgendwo anders wiederauftaucht. Und dann ist es größer denn je. Angenommen zum Beispiel, daß du feststellst: »Ich hab’ jetzt Lust auf eine Pizza.« In Ordnung. Stell es einfach fest. Aber gewöhnlich belassen wir es nicht dabei. Statt nur zu sehen, wirken wir auf das ein, was wir erkennen: »Ich sollte keine Lust auf Pizza haben. Ich muß dieses Verlangen nach 42
Pizza unterdrücken.« Schon diese Reaktion allein ist wieder Begehren. Wir wünschen uns, daß unser Verlangen vergeht. Wieder verhalten wir uns wie üblich – wir greifen nach etwas, wir beharren auf etwas, wir wollen etwas haben. Das ist Zwang, nicht Freiheit. Dies ist ein subtiler, aber wesentlicher Punkt. Man kann keine Lösung für ein Problem erzwingen, die nicht selbst wieder zum gleichen Problem wird. Der einzige Weg, das Problem aus der Welt zu schaffen, ist, es zu sehen und es dadurch nicht mehr länger zu nähren. Das ist kein Aufruf zu Selbstzufriedenheit und Tatenlosigkeit. Zu handeln oder nicht zu handeln – das ist niemals die Frage. Man kann gar nicht anders als handeln. Die Frage ist vielmehr, ob wir sehen oder nicht. Das ganze Problem beruht auf diesem Punkt. Das Problem deutlich zu sehen ist schwierig genug, auch nachdem man es uns gezeigt hat. Während wir unser Leben leben, ist es noch schwieriger zu sehen – aber genau darum geht es. Unser Problem wird verursacht durch das, was Buddha als »Neigung des Geistes« bezeichnet hat. Der Geist neigt dazu, sich in die eine oder andere Richtung zu wenden, weil er aus Unwissenheit irgendwo etwas sieht, das er dann verlangt oder zurückweist. »Ich will das haben«, »Ich will es jetzt haben« oder »Ich brauch’ das nicht mehr. Schieb es weg, werd es los«, sagt er zu uns. In jedem Fall definieren wir das, was wir haben wollen oder nicht haben wollen als etwas von uns Getrenntes. Im erleuchteten Geist, dem Geist eines Buddha, gibt es keine solche Neigung. Nur unser gewöhnlicher Verstand, unser begriffliches Denken kennt solche Vorlieben. Es ist voll von Aussichten und Wählen, von Habenwollen und Verlangen. Seng-ts’an, einer der Gründer des Zen-Buddhismus in China, schrieb in Dem Herz-Geist vertrauen, daß Aussuchen und 43
Wählen die schlimmsten Krankheiten des Geistes sind. Es gibt das Sprichwort: Wer die Wahl hat, hat die Qual. Das stimmt. Wo immer eine Wahlmöglichkeit auftaucht, fühlt sich der Geist sofort unbehaglich. Duhkha – Leid, Schmerz – ist mit dem Wählen verbunden. Je weniger wir dies begreifen, desto mehr sind wir in Duhkha verfangen. Und desto weniger werden wir die wahren Zusammenhänge sehen. Wir leben in einer Kultur, in der uns beigebracht wird, unsere Freiheit als Maximierung der Wahlfreiheit zu betrachten. Aber dies ist ganz und gar keine echte Freiheit. Vielmehr ist es eine Art von Zwang. Wahre Freiheit liegt nicht in der Maximierung der Wahlfreiheit, sondern findet sich paradoxerweise eher in einem Leben, wo es wenig Wahlmöglichkeiten gibt. Überleg einmal: Je wichtiger eine Entscheidung ist, desto leichter fällt sie einem. Ich erkannte dies, als ich Krebs hatte. Mein Arzt wollte, daß ich eine Chemotherapie machte, aber ich hatte schon etwas dagegen, auch nur Aspirin zu nehmen. Der Gedanke, meinen Körper diesen starken Chemikalien auszusetzen, war mir durch und durch zuwider. Doch ich hatte einen großen Tumor in der Brust, Knoten im Nacken, Metastasen im Unterleib. Ich hatte Untergewicht und war matt und schwach. Ohne Behandlung hatte ich nur noch ein paar Wochen zu leben. Mit der Chemotherapie bestand eine schwache Möglichkeit, daß ich noch ein paar Monate, vielleicht sogar ein Jahr oder länger weiterleben würde. Obwohl mich schon der Gedanke daran abstieß, war die Entscheidung leicht. Ich sagte ja zur Chemotherapie. Das war vor beinahe zwanzig Jahren. Das soll nicht heißen, daß Freiheit des Geistes bedeutet, das Entscheiden aufzugeben. Bei den sich ändernden Einzelheiten und Umständen unseres Lebens wird es immer notwendig sein, sich zu entscheiden. Aber Tatsache ist, daß die Wahl leicht ist, 44
wenn der Geist frei ist. Wir haben keine andere Wahl, als zu erwachen. Wenn unwichtige Entscheidungsprozesse den Geist beschäftigen, wird das Notwendige vergessen und Habenwollen und Verlangen, Aussuchen und Wählen übernehmen die Herrschaft. Der Geist fühlt sich unbehaglich und ist unzufrieden, weil er die nächste unwichtige Kleinigkeit haben will. Entscheidungen über Leben und Tod gibt es (gewöhnlich) nicht oft, und sie sind leicht zu treffen, wie schmerzlich sie auch sein mögen. Die belanglosen Entscheidungen hingegen sind schwer, trotzdem stopfen wir unser Leben damit voll. Wir glauben, sie machen Freude, aber sie erzeugen nur Unzufriedenheit. Ohne zu merken, was wir uns antun, legen wir uns auf diese Weise immer mehr Fesseln an. Wenn wir nicht vorsichtig sind, machen wir unser Leben hektisch, kompliziert und unwesentlich. Wir füllen uns mit einem Gefühl von Leere und Sinnlosigkeit. Unser Geist wird durch unwichtige Details und Wünsche gefesselt, und wir werden immer verwirrter. Aber in unseren stillen Augenblicken spüren wir, daß in der Maximierung unbedeutender Entscheidungen keine Freiheit liegt. Es ist der falsche Spielplan – und wir wissen es. Betrachten wir noch eine andere Art, wie die Absicht mit Duhkha verbunden ist. In meiner Jugend fuhr ich einen Austin Healey Sprite, einen kleinen Sportwagen, so ähnlich wie ein MG. Es war ein Kabriolett mit einem Stoffdach. Einmal fuhr ich mit einem Freund quer durch das Land. Um Geld zu sparen, wollten wir unterwegs zelten. Es war März, keine Saison. An einem Abend trafen wir spät im State Park am Lake Michigan ein. Ich dachte, der State Park sei geschlossen, 45
doch die Tore standen bei unserer Ankunft offen. Kein Mensch war zu sehen, und so fuhren wir direkt zum Zeltplatz und bauten das Zelt auf. Wir waren müde von der Reise, und sobald wir uns eingerichtet hatten, machten wir uns bereit zum Schlafengehen. Ehe ich mich hinlegte, streifte ich die Armbanduhr ab und hängte sie im Wagen an den Blinkerschalter. Da niemand sonst da war, legte ich auch noch die Brieftasche auf das Armaturenbrett. Dann kroch ich in meinen Schlafsack und schlief ein. Für meinen Freund war es eine völlig neue Erfahrung, die Nacht in einem Zelt zu verbringen. Nachdem ich eine Zeitlang geschlafen hatte, weckte er mich. Er war beunruhigt, weil sich draußen etwas bewegte. Er war ein Städter und dachte, es könnte ein Dieb sein. Ich setzte mich lachend über seine Bedenken hinweg. Ich war das Zelten gewöhnt und rechnete damit, daß nachts irgendwelche Tiere um das Zelt raschelten. Ich sagte, er brauche keine Angst zu haben, drehte mich um und schlief wieder ein. Am nächsten Tag kroch ich aus dem Zelt und stellte mich neben den Wagen, um mich zu dehnen und zu strecken. Während ich mit erhobenen, weit ausgebreiteten Armen dastand, entdeckte ich, daß das Dach meines Wagens T-förmig aufgeschlitzt worden war. Die Teile des Daches waren in einem großen gähnenden Loch in sich zusammengefallen. Es schien ein unwillkürlicher Akt der Zerstörung zu sein, denn meine Brieftasche lag noch auf dem Armaturenbrett, und meine Uhr hing am Blinkerschalter. Das Dach war einfach aufgeschlitzt worden, und der Täter war dann abgehauen. Ich war außer mir vor Ärger und Abscheu. Wer würde mein Autodach grundlos mit dem Messer aufschlitzen? Ich wollte nicht in einer Welt leben, in der die Leute so etwas taten. Später, als ich durch den nahen Wald ging, stieß ich auf eine zerfetzte Keksschachtel. Es waren keine Kekse mehr darin, nur 46
die Schachtel war übrig. Ich machte mir keine Gedanken darüber und warf die Schachtel in einen Abfalleimer. Als wir eine Weile später wieder im Wagen saßen, suchte mein Freund etwas im Handschuhfach. Plötzlich rief er aus: »He! Meine Kekse sind weg!« Blitzartig wurde mir alles klar: Mein Freund aus der Stadt hatte in seiner Ahnungslosigkeit eine Schachtel Kekse über Nacht im Auto gelassen, und ein Waschbär hatte das Dach aufgeschlitzt, um sie sich zu holen. Sofort veränderten sich meine unangenehmen Gefühle wegen des Vorfalls. Als ich dachte, das aufgeschnittene Dach sei die böswillige Tat eines Menschen, fühlte ich eine Abscheu in meinem Herzen, die mehr war als nur Zorn über ein aufgeschlitztes Dach. Doch als ich erkannte, daß es ein Waschbär war … nun, ein Waschbär wird natürlich nicht denken: Das sind nicht meine Kekse, ich sollte sie nicht fressen. Ein Waschbär dringt auf die einzige Art und Weise ein, die er kennt, ohne jedes Gefühl für Bösartigkeit oder Besitz. Da war etwas zu fressen, und natürlich holte er es sich. Da gab es keine Verwirrung, keine Schuld. Plötzlich spürte ich kein großes Leid mehr. Der hohle, unerträgliche Schmerz in meinem Herzen war verschwunden. Aber warum sollte mein geistiger Zustand sich mit dieser Erkenntnis so drastisch verändern? Warum ist die Tat eines Waschbären von Vandalismus so verschieden? Der Unterschied liegt in der Absicht. Wir denken oft, daß es der Sinn eines spirituellen Weges ist, Gutes zu tun statt Böses. Gemäß Buddha-Dharma spielt dies jedoch überhaupt keine Rolle. Viel wichtiger ist, daß wir uns bewußt werden, wann und wie wir aus einer Absicht heraus handeln. Die meisten von uns neigen die meiste Zeit dazu, absichtsvoll 47
zu handeln, und zu versuchen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Aber die Natur handelt nicht mit Absicht. Auch ein Buddha nicht. Absichtslos zu handeln heißt aus der Ganzheit heraus zu handeln – aus dem Sehen des Ganzen heraus. Aber warum nicht einfach lernen, Gutes zu tun statt Böses? Weil es kein festes unveränderliches »Gutes« oder »Böses« gibt. Gut und böse sind nicht absolut. Es sind Meinungen, Urteile, Vorstellungen, die auf begrenztem Wissen beruhen und auch auf den Vorlieben unseres Geistes. Die Situation, in der wir uns ständig befinden, läßt sich mit der des weisen chinesischen Bauern vergleichen, dessen Pferd davongelaufen war. Als der Nachbar kam, um ihn zu trösten, sagte der Bauer: »Wer weiß schon, was gut oder schlecht ist?« Das Pferd kehrte am nächsten Tag an der Spitze einer Herde von Pferden zurück, und der dumme Nachbar erschien, um dem Bauern zu seinem Glück zu gratulieren. »Wer weiß schon, was gut oder schlecht ist?« sagte der Bauer. Dann, als der Sohn des Bauern sich bei dem Versuch, eines der neuen Pferde zu reiten, das Bein brach, kam der dumme Nachbar, um ihn wieder zu trösten. »Wer weiß schon, was gut oder schlecht ist?« sagte der Bauer. Die Armee zog durch, und Männer wurden für den Krieg eingezogen. Der Sohn des Bauern wurde wegen des gebrochenen Beines verschont. Der dumme Nachbar kam, um den Bauern zu beglückwünschen, daß sein Sohn nicht in den Krieg ziehen mußte, und der Bauer sagte wieder: »Wer weiß schon, was gut oder schlecht ist?« Wann wird die Geschichte wohl zu Ende sein? Sokrates wies darauf hin, daß wir uns benähmen, als sei der Tod das schlimmste aller Übel – und doch könnte er, nach allem, was 48
wir wissen, die größte aller Segnungen sein. Was nennen wir gut? Was nennen wir schlecht? Es geht niemals darum, gut oder schlecht zu wählen. Das ist nicht das Problem. Während des amerikanischen Sezessionskriegs beanspruchten beide Seiten Gottes Unterstützung. Jede Seite war überzeugt, daß sie das Richtige tat. Diese Ansicht war so oft zu hören, daß Präsident Lincoln bemerkte: »Gott kann nicht zu gleicher Zeit gegen und für eine Sache sein.« Je länger wir dieses Spiel spielen, desto mehr betrügen wir uns selbst. Gut oder schlecht ist eindeutig nicht die Frage. Es steht etwas Wesentlicheres auf dem Spiel. Aber was ist es? Wenn unsere Vorstellung von gut etwas anderem entgegensteht, können wir sicher sein, daß das, was wir »gut« nennen, nicht absolut oder sicher ist. Nur durch das Sehen können wir das zu finden hoffen, was hinter unseren unzuverlässigen, relativen Vorstellungen von Gut und Böse liegt. Wenn wir auf eine Weise leben wollen, die irgendwie über die unsichere Dualität der relativen Welt hinausgeht, müssen wir lernen, die Neigungen unseres Geistes zu beobachten – unsere Absichten, unseren Willen, unser Begehren. Zerstöre dein Begehren nicht. Versuch nicht, es zu unterdrücken. Du wirst es dadurch nur nähren und verstärken. Das Entscheidende ist nicht, das Begehren zu töten. Das Entscheidende ist zu sehen.
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4 Gehen Die dritte Wahrheit des Buddha-Dharmas lautet ganz einfach, daß alles, was entsteht, auch vergehen muß. Und da auch Duhkha entsteht, ist es ebenfalls dem Vergehen unterworfen. Das Aufhören von Duhkha – das Ende von Verwirrung, Kummer und Verlust – ist Nirvana. Buddha nannte das Nirvana »nicht-geboren, nicht-gestaltet und nicht-bedingt«. Er sagte: Würde es nicht das Nicht-Geborene, das Nicht-Gestaltete und das Nicht-Bedingte geben, würde es für das Geborene, Gestaltete und Bedingte kein Entrinnen geben. Da es das NichtGeborene, das Nicht-Gestaltete und das Nicht-Bedingte gibt, gibt es auch für das Geborene, das Gestaltete und das Bedingte ein Entrinnen. Das Geborene, Gestaltete und Bedingte bezieht sich auf alles, was du dir vorstellen kannst – auch auf dich selbst. Sieh dich um! Du kannst nichts finden – tatsächlich kannst du dir nicht einmal etwas vorstellen –, das nicht von etwas anderem bedingt ist, entsteht und sich verändert. Geboren zu werden, zu wachsen und auf Bedingungen zu reagieren, ist fest in den Bauplan der Welt, in der wir leben, eingearbeitet. Aber Buddha erklärt auch, daß es einen Aspekt der Erfahrung gibt, der nicht geboren, gestaltet oder bedingt ist. Dieser nichtbedingte Aspekt ist unserer Wahrnehmung direkt zugänglich. Wir können ihn sehen – wir können ihn nur nicht in Begriffe fassen oder festnageln. 50
Kurz gesagt, unsere Situation ist alles andere als hoffnungslos. Es gibt tatsächlich etwas Reales, Echtes und Wahres für uns zu sehen. Damals, als ich Krebs hatte, traf ich mich manchmal mit anderen Leuten, die krebskrank waren. Wir hatten uns immer viel zu erzählen. Und so geschah es, daß ich mich mit einem Mann anfreundete, der im Sterben lag. Ich besuchte ihn oft im Krankenhaus. An einen Abend erinnere ich mich besonders, weil alles anders zu sein schien. Es war nicht so wie bei meinen früheren Besuchen. Vor allem schien es im Krankenhaus viel ruhiger zu sein als sonst. Mein Freund lag im Bett und war an ein Gerät angeschlossen, das gelegentlich seufzte und alle paar Minuten die Stille unterbrach. Sonst war es extrem still, bis auf das Radio, das auf den Klassiksender eingestellt und kaum zu hören war. Ich saß an seinem Bett, und wir unterhielten uns eine Weile ruhig. Unser Gespräch bestand meistens aus Schweigen, begleitet nur vom Radio und dem seufzenden Gerät. Er hatte Schmerzen und bat mich, ihn zu massieren. Das tat ich ein paar Minuten lang. Dann unterhielten wir uns wieder eine Weile. Nach einem längeren Schweigen legte er plötzlich die Hände über das Gesicht und ließ ein kräftiges Keuchen hören. Die Wirklichkeit hatte ihn schließlich eingeholt. Er hatte fast ein Jahr lang gegen den Krebs angekämpft, und in diesem Augenblick hatte er die Realität des Todes endlich erkannt. Dann nahm er die Hände weg und starrte nur geradeaus. »Wo wir auch hingehen, es ist immer so«, sagte ich. Erstaunt sah er mich an und fragte: »Wie meinst du das?« Ich machte eine Geste und sagte: »So!« Der erstaunte Blick blieb noch einen Augenblick. Dann 51
veränderte sich sein Gesicht. Er hatte verstanden. Es war das letzte, was wir zusammen sprachen. Ich blieb noch eine Weile bei ihm sitzen, in der Todesstille jenes Zimmers mit dem keuchenden Gerät und dem Radio, das ganz leise spielte. Am nächsten Tag starb er. Manche Leute denken, die Lehre des Erwachten sei nihilistisch, als würde sie eine Art von Nichts postulieren. Als wäre das Nirvana irgendwie ein Versinken in friedlichem Vergessen, ein verschwommenes Grau, ein Treiben in einem uferlosen Meer. Das ist nicht Nirvana. Erinnere dich, daß alles, was wir sehen, hören, fühlen und denken, ein ständiges Fließen und Verändern ist. Nichts hat Bestand. Wir sehnen uns nach Dauer, und als Ergebnis leiden wir, denn wir können keine Dauer finden. Es scheint nur dieses Kommen und Gehen, Kommen und Gehen, dieses endlose Entstehen und Vergehen zu geben. Wir erfahren alles als Bewegung. Die Physiker erzählen uns sogar, daß Materie buchstäblich nichts als Bewegung ist. Und gleichgültig, in welchem Maßstab wir etwas betrachten, unsere Erfahrung ist immer Bewegung, Veränderung. Das gilt für alle Dinge der physischen Welt, unseren Körper eingeschlossen. Jede Zelle – jedes Atom jeder Zelle – enthüllt nichts anderes als unaufhörliches Kommen und Gehen. Unser Körper bildet sich Augenblick für Augenblick neu, und in keinen zwei Augenblicken ist er derselbe. Das gleiche gilt für unseren Geist. Der Inhalt unseres Geistes ist auch in ständiger Bewegung. Gedanken, Gefühle, Urteile und Impulse entstehen in ständiger Folge; sie entfalten sich und vergehen wie Blumen, wenn sie verblüht sind. Nirvana besteht darin, vollkommen und umfassend zu sehen, 52
daß dies so ist. Wir müssen unsere Situation so sehen, wie sie ist. Wir sind nicht verrückt oder dumm. Wir sehen nur nicht – das heißt, wir achten nicht auf das, was wir sehen. Wir neigen dazu, uns für Personen, für einzelne Individuen zu halten – getrennte Wesenheiten, die in der Zeit existieren. Aber das sind wir nicht. Was wir als Person bezeichnen, nennt Buddha einfach »Strom«. Wenn du wie die meisten Menschen bist, dann hältst du dich für jemanden, der geboren wurde. Aber wenn du diese Vorstellung genau betrachtest, wirst du sehen, daß du überhaupt keine direkte Erfahrung davon hast, wie du auf die Welt gekommen bist. Geh die Spur zurück. Folge deiner Erinnerung. Erinnerst du dich daran, entstanden zu sein? Natürlich fing das nicht mit der Geburt an – aber womit fing es dann an? Mit der Empfängnis? Wann geschah die Empfängnis genau? Als das Sperma auf das Ei traf? Aber was ist mit diesem Sperma und dem Ei? Womit haben sie angefangen? Mit deinen Eltern? Und wann war deren Beginn? Und der ihrer Eltern? Die Wahrheit ist, daß du das Entstehen als ein Ereignis in der tatsächlichen Erfahrung nicht finden kannst. Alles wird zu dem, was es ist, durch das, was vorher war. Alles hängt von früheren Zuständen ab, die ihrerseits wieder von früheren Zuständen abhängen, und so weiter, so weit zurück, wie wir es verfolgen oder uns vorstellen können. Mit anderen Worten, an diesem Konzept des »Entstehens« ist etwas sehr Seltsames, Widersprüchliches und Beunruhigendes. Trotzdem – hier ist die Wirklichkeit. Hier ist die Welt. Hier ist: »So!« 53
Das gleiche Problem tritt bei allem auf, was man sich vorstellen kann. Ich sitze zum Beispiel hier an meinem Computer und schreibe diese Worte. Aber wann wurden diese Worte zu einem Buch? Als ich sie schrieb? Als ich die Endfassung fertig hatte? Als ich mein Manuskript dem Verleger gab? Als die gedruckten Seiten gebunden wurden? Wann fing dieses Buch an? Als ich beschloß, es zu schreiben? Aber dieses Buch hat sich über Jahrzehnte entwickelt. Entstand es, als ich Buddhismus zu studieren begann? Als die Erkenntnisse, auf denen es beruht, vor 25 Jahrhunderten zum erstenmal gelehrt wurden? Tatsache ist, daß das Schreiben dieses Buchs von den Anstrengungen und Erkenntnissen zahlloser Menschen während Tausender von Jahren nicht zu trennen ist. Und wie steht’s mit dem Ende? Wo endet dieses Buch (wo endest du, wo ende ich)? Es ist alles ein Fließen, denn es gibt kein fortdauerndes Ding wie ein Buch (oder dich oder mich), das ein Ende erreicht. Das Material, aus dem dieses Buch in diesem bestimmten einen Augenblick besteht, durchläuft endlose Verwandlungen und hat sie immer schon durchlaufen, und es gibt keine Hinweise dafür, daß solche Umwandlungen je aufhören werden. Und wenn wir sagen, daß die Essenz dieses Buches (oder deine oder meine) nicht im Materiellen liegt, sondern in seiner mentalen und geistigen Dimension, finden wir wieder nur endlose Veränderungen, wobei nichts geschaffen oder zerstört wird. Es gibt Geschichten, in denen es so heißt: »Am Anfang schuf Gott …« Aber woher kam Gott? Wenn alles wirklich ein Fließen ist, wo finden wir Anfang oder Ende? Wir sind wie der dumme Nachbar, der immer wieder zu dem weisen Bauern kommt, um ihn abwechselnd zu trösten und zu beglückwünschen. Wann wird die Geschichte enden? 54
Sowohl Anfang wie Ende sind unvorstellbar. Betrachten wir wieder die drei Arten von Begehren, die wir im letzten Kapitel besprachen, doch diesmal unter einem anderen Blickwinkel. Das erste, das Verlangen nach sinnlichem Vergnügen, kann einfach als der Wunsch angesehen werden, sich selbst eine Freude zu machen. Wir möchten eben glücklich sein. Aber wie können wir wirklich glücklich sein, wenn das Todesurteil schon über uns gesprochen ist? Das bringt uns zum zweiten Begehren. Wir möchten lieber nicht sterben. Wie können wir das umgehen? Wenn wir geboren wurden, werden wir sterben. So einfach ist das. Aber was, wenn dieser Glaube an das Vergehen, der eine so große Gewalt über uns hat, sich als falsch herausstellt? Was, wenn er in Wirklichkeit auf Verwirrung beruht? Und wenn es so ist, wie können wir das erkennen und uns so von ihm befreien? Unser Problem ist, daß wir Veränderung nicht als reines Kommen und Gehen sehen. Statt dessen glauben wir, daß sie irgendwie auch Dauer enthält – obwohl das im Widerspruch zur direkten Erfahrung steht, die uns nur Fluß und Wechsel zeigt. Wir stellen uns vor, daß die Dinge entstehen, eine Weile dauern und dann vergehen. Und weil wir so denken, haben wir noch ein anderes Begehren: das Begehren nach Nichtexistenz – das Verlangen, das Vergehen zu kontrollieren. Alle diese drei Begierden entstehen durch unsere verwirrte Sichtweise von Veränderung. Buddha sprach davon, diese Begierden auszulöschen. Aber wie können wir das machen? Ist nicht schon unsere Absicht, das zu tun, wieder ein neues Verlangen? Und führt nicht ein Verlangen 55
zum nächsten? Es scheint, daß Begierden unerschöpflich sind. Was sollen wir also tun? Wir können aufhören, die Flamme der Begierde zu nähren, und sie kleiner werden und ausgehen lassen wie eine Lampe, die all ihr Öl verbrannt hat. Der Buddha-Dharma bietet zwei Möglichkeiten dazu. Die erste bezeichnete Buddha als »weniger begehren«. Die zweite wird häufig »das Selbst vergessen« genannt. Es wird behauptet, daß ein Frosch, den man ins heiße Wasser wirft, sofort wieder herausspringt. Wenn man ihn dagegen in lauwarmes Wasser setzt und langsam die Temperatur erhöht, bleibt er darin, bis er stirbt. Wir sind keine Frösche. Wir besitzen die Fähigkeit zu sehen und zu erkennen, wenn wir zu tief in eine mißliche Situation geraten. Doch wir müssen uns das, was wir sehen auch bewußtmachen. Wir brauchen nicht einen schlüpfrigen Abhang weiter hinunterzugleiten. Wir können innehalten, uns umwenden und die andere Richtung einschlagen. Doch das können wir nur tun, wenn wir unsere Situation so sehen, wie sie ist. Diese Abkehr aus einer mißlichen Situation ist die Praxis des »weniger Begehrens«. Unsere Sinne stumpfen ab, wenn wir sie überreizen. Aber wenn sie erst einmal abgestumpft sind, geraten wir in Versuchung, sie immer noch mehr zu reizen, bis wir zu betäubt sind, um überhaupt noch etwas zu fühlen. Dies ist genau der tückische Kreislauf bei der Drogensucht. Die Gesamtwirkung, die sich einstellt, steht im Gegensatz zu dem, was wir uns gewünscht haben. Aber nicht nur Drogen können süchtig machen und haben die Macht, uns abzustumpfen. Heute sind wir zum Beispiel gegen Kunstwerke und Musik abgestumpft, weil sie durch unsere moderne Technologie zu alltäglich geworden sind. Wenn wir 56
Abbildungen von van Goghs Sonnenblumen regelmäßig sehen können, sehen wir ihre unglaubliche, schreiende Vitalität nicht mehr. Und wieviel Kraft hat Beethovens Fünfte Symphonie nach dem hundertsten Hören noch? (Es mag nützlich sein, sich daran zu erinnern, daß es für Beethovens Zeitgenossen ein seltenes Ereignis war, sie überhaupt zu hören.) Wie können wir mit dieser Situation fertig werden? Sollen wir versuchen, unser Begehren auszulöschen? Sollen wir unsere Begierden für widerlich oder falsch oder böse halten? Natürlich nicht. Diese Einstellung würde nur noch mehr Öl ins Feuer gießen. Was können wir also tun? Als erstes sehen wir. Dann drehen wir uns um und gehen langsam weg. Es ist nicht notwendig, Druck auf uns selbst auszuüben. Schon allein durch das Sehen der Dinge, wie sie wirklich sind – was zu Verwirrung führt und was zu Klarheit führt –, beginnen wir, uns abzuwenden. Die Natur hat ihr selbstregelndes Gleichgewichtssystem. Wir neigen dazu, uns mit unserem Denken darüber hinwegzusetzen. Wir können uns jedoch bewußt anstrengen, zu sehen und zuzulassen, daß das Gleichgewicht sich von selbst wiederherstellt. Durch das Sehen ist das Wiederherstellen des Gleichgewichts nicht problematischer oder mit mehr Opfern verbunden, als wenn wir die Hand nicht in eine Flamme halten. Wenn wir sehen, was die Tat zur Folge hat, haben wir einfach nicht den Drang, weiter so zu handeln. Der andere Weg, mit unseren Begierden umzugehen, besteht darin, den Brennpunkt unseres Verlangens von uns selbst wegzulenken. Das Selbst zu vergessen bedeutet, sich daran zu erinnern, daß wir nicht allein existieren, sondern in Verbindung mit anderen Menschen, mit anderen Geschöpfen, mit der Erde und dem Universum. Es bedeutet, die Aufmerksamkeit nicht auf 57
uns selbst als eine Kraft einzustellen, die die Verantwortung für die Manipulation anderer Menschen hat, sondern darauf, wie unser Leben das anderer Menschen durchdringt – und in der Tat alle Aktivitäten dieses dynamischen Universums. Auf diese Weise haben wir viele Gelegenheiten, das Selbst zu vergessen – indem wir einen Baum für künftige Generationen pflanzen. Indem wir ein Gedicht machen, ein Tongefäß töpfern. Indem wir Baseball spielen, wissend, daß die Gegner für das Spiel genauso wichtig sind wie wir selbst. Gewöhnlich werden unsere Begierden – unsere Handlungen, Worte und Gedanken – in Gang gesetzt, um ein bestimmtes Ziel durch das Ausüben von Kontrolle zu erreichen. Und wenn diese Kontrollbemühungen versagen (was nicht zu vermeiden ist, wenn wir es zu lange versuchen), leiden wir. Der BuddhaDharma verlangt nicht von uns, die Kontrolle aufzugeben. Vielmehr stellt er fest, daß wir sie gar nicht erst hatten. Wenn wir das sehen können, beginnt das Verlangen nach Kontrolle ganz natürlich abzunehmen. Die Hauptsache ist, daß wir gar nicht erst versuchen, keine Kontrolle auszuüben oder das Verlangen nach Kontrolle als schlecht oder falsch zu verdammen, sondern daß wir die Dinge so sehen, wie sie sind, daß wir anerkennen, was wirklich vor sich geht. Durch solches Einsehen und Anerkennen können wir aufhören zu leiden. Im Zentrum unseres Verlangens, Kontrolle auszuüben, steht unser Selbstgefühl. Aber durch das Sehen verliert dieses Gefühl seine Macht. Was ausgelöscht wird, ist dieses falsche Selbstgefühl. Wir hören auf, uns an etwas zu klammern, das von Anfang an nicht da war. Unsere erste Reaktion darauf wird vielleicht sein: »Aber wer wird so was wollen?« Wenn wir die Sache sorgfältiger betrachten, werden wir die tiefgehende Befreiung entdecken, die darin liegt. Denn wenn das, was uns am meisten angst macht, 58
tatsächlich illusorisch ist, dann wird uns das Erwachen zu dieser Erkenntnis größte Freiheit bringen. Unsere größte Furcht ist, daß jeder von uns – »Ich« – eines Tages vergehen wird. Aber wie kann etwas aufhören zu existieren, das von Anfang an keine feste Existenz hatte? Buddha sagte: Genau wie ein Mensch voll Entsetzen zusammenschrickt, wenn er auf eine Schlange tritt, und lacht, nachdem er genau hingesehen und entdeckt hat, daß es nur ein Stück von einem Seil ist, so habe ich eines Tages entdeckt, daß das, was ich das »Ich« genannt hatte, gar nicht auffindbar war, und alle Furcht und Unruhe verschwanden zusammen mit meinem Irrtum. Der Buddha-Dharma weist jedem von uns den Weg, um aus diesem grundlegenden Irrtum zu erwachen. Und wenn wir erwachen, verschwinden Angst und Sorge ganz natürlich, so wie durch den Sonnenaufgang die Nacht verschwindet.
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5 Die Kunst des Sehens Die vierte Wahrheit des Buddha-Dharmas – auch bekannt als der Achtfache Pfad – bringt uns die Erkenntnis und die Praxis, um Duhkha zu beenden. Dies ist kein Weg, den wir einschlagen können, um von Punkt A nach Punkt B zu kommen. Er hat die Besonderheit, daß er, sobald wir ihn betreten, schon voll und ganz erkannt und verwirklicht ist. Und doch können wir mit jedem Schritt, den wir machen, unser Verständnis vertiefen. Die acht Glieder dieses Pfades sind: rechte Erkenntnis, rechter Entschluß, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenserwerb, rechte Anstrengung, rechte Achtsamkeit, rechte Sammlung. Wir werden gleich jeden dieser Aspekte näher kennenlernen, aber zuerst einmal wollen wir das Wort »recht« betrachten. Das Wort, das Buddha tatsächlich benutzte, war samma. Es wird gewöhnlich mit »recht« übersetzt – aber nicht als »recht« im Gegensatz zu »falsch« oder »schlecht« oder »böse«. In dem Augenblick, wo wir »recht« sagen, denken wir gewöhnlich auch an »schlecht« oder »falsch« und schaffen damit einen Dualismus. Für diejenigen, die mit letzterem Ausdruck nicht vertraut sind, eine Erklärung. Dualismus, wie er hier gebraucht wird, bezieht sich einfach auf die Welt von links und rechts, dunkel und hell, gut und schlecht, rein und unrein. Es ist das psychische Gerüst für unsere Alltagswelt, in der wir irgendwelchen Dingen nachjagen und vor anderen davonlaufen, die Welt, in der etwas mit dir nicht stimmt, wenn du anders bist als ich. Es ist offensichtlich, daß Buddha dies mit samma nicht meinte. Der Ausdruck bezeichnet etwas viel Subtileres. Samma bezieht 60
sich auf etwas, das »angemessen« ist, das »funktioniert«, das »mit der Wirklichkeit übereinstimmt«. Auf dem Achtfachen Pfad bedeutet »recht« also nicht »richtig« im Gegensatz zu »falsch«, sondern sehen im Gegensatz zu nicht sehen. Es bezieht sich darauf, mit der Wirklichkeit in Berührung zu sein, im Gegensatz zur Irreführung durch unsere eigenen Vorurteile, Gedanken und Überzeugungen. Samma weist auf Ganzheit hin, statt auf Zersplitterung. Wenn ich also das Wort »recht« in den kommenden Kapiteln verwende, will ich damit auf etwas verweisen, das zum Erwachen hinleitet, und nicht auf etwas, das zu etwas Falschem im Gegensatz steht. Der erste Aspekt des Achtfachen Pfades ist rechte Erkenntnis. Gemäß Buddha führt das Festhalten an einer bestimmten Ansicht dazu, daß man die Wirklichkeit erstarren läßt, daß man versucht, die Welt in ein Schema von Gedanken zu zwängen. Eine Absicht über etwas zu haben gleicht einem Schnappschuß, der die Szene in einem bestimmten Augenblick erstarren läßt. Wenn wir erst einmal eine Meinung haben, dauert es nicht lange, bis sie auf andere Meinungen prallt. Danach sammeln sich die Vertreter der verschiedenen Meinungen in getrennten Lagern. Und dann fangen wir an, aufeinander loszugehen. So etwas meint Buddha mit rechter Erkenntnis ganz und gar nicht. Die Erkenntnis eines Buddha ist nicht eine gewöhnliche, erstarrte Meinung. Es gibt Leute, die behaupten, Buddha habe überhaupt keine Meinung gehabt, doch das ist nicht korrekt. Nur läßt sich das, was Buddha mit rechter Erkenntnis meinte, nicht als eine bestimmte Meinung definieren, es kann nicht in Ideen, Begriffen, Überzeugungen oder Ansichten eingefangen werden. Ein Buddha erkennt, wie die Dinge wirklich sind – was 61
angesichts der dauernden Veränderung und des Fließens der Welt keine bestimmte Ansicht ergibt. Denn wie können Dinge in einer bestimmten Weise sein, wenn sie in ständiger Bewegung sind? Wie kann eine feste und sichere Ansicht von einer Welt richtig sein, die niemals fest und sicher ist? Es sind nicht die Einzelheiten der Welt, die uns die rechte Erkenntnis liefern, sondern die Welt selbst als ein ewig dynamisches Ganzes. Die rechte Erkenntnis ist ganzheitlich – das heißt, sie betrifft das Ganze. Sie ist allumfassend. Sie läßt nichts aus. Solch eine Meinung tritt schon der Definition nach nicht in Gegensatz zu einer anderen Meinung. Tatsächlich kann sie es gar nicht. Da sie bereits zur dynamischen Welt als Ganzes gehört, können wir uns nichts vorstellen, was zu ihr im Gegensatz steht. Der zweite Aspekt des Pfades ist rechter Entschluß. Manchmal wird er auch als rechter Vorsatz, rechter Beweggrund oder rechter Gedanke bezeichnet. Es gibt eine Geschichte über Sokrates, wie er die wahren Absichten eines jungen Mannes prüfte, der ihn um Unterweisung bat. Sokrates wollte sehen, ob der junge Mann den festen Entschluß hatte, nach der Wahrheit zu suchen. Er nahm ihn mit zum Fluß, watete ins Wasser und bat ihn, ihm zu folgen. Als sie bis zu den Hüften im Wasser standen, packte Sokrates plötzlich den anderen und drückte seinen Kopf unter Wasser. Natürlich fing der junge Mann bald an, nach Luft zu ringen. Da ließ Sokrates ihn los und sagte: »Wenn du um die Wahrheit so kämpfst, wie du jetzt um Atem ringst, dann komm wieder, und ich werde dich unterrichten.« Das ist rechter Entschluß. Tatsächlich kann niemand die Wahrheit von einem anderen erfahren. Sie wird nur durch den eigenen Entschluß gesehen. Wenn du nicht beschließt zu erwachen, gibt es nichts, was ein 62
Lehrer für dich tun könnte. Was rechter Entschluß bedeutet, kann man am Beispiel eines Menschen verdeutlichen, dessen Haare brennen. Wenn dein Haar brennt, denkst du nicht lange über das Für und Wider des Löschens nach. Wenn dein Haar brennt, gibt es keine langen Diskussionen. Du hast gar keine Wahl. Du handelst. Die rechte Rede ist der nächste Aspekt des Achtfachen Pfades. Die offensichtlichste Form von rechter Rede ist das Vermeiden von Lügen. Was für moralische Rechtfertigungen du auch haben magst, nicht zu lügen – es gibt auch ein paar sehr praktische Gründe, ehrlich zu sein. Der Achtfache Pfad soll deinen Geist daran hindern, unruhig zu werden, so daß du im Hier und Jetzt bleiben kannst. (Schließlich kannst du nur hier und jetzt erwachen.) Wenn du lügst, wird dein Geist dadurch abgelenkt. Jetzt mußt du aufpassen, was du gesagt hast und zu wem und wie die Geschichte weitergehen soll und so fort. Es gibt kein Ende. Zu erwachen wird plötzlich schwieriger. Zur rechten Rede gehört auch, nicht grob oder gemein zu sprechen. Solche Rede ist unnötig, unwürdig und störend. Weiterhin gehört dazu, von anderen nicht schlecht zu sprechen sowie Klatschen und leeres Geschwätz zu unterlassen. Es ist offensichtlich, daß das Schwelgen in Trivialitäten, übler Nachrede oder Tagträumen dem Erwachen nicht förderlich ist. Der vierte Aspekt des Achtfachen Pfades ist rechtes Handeln. Dies ist ein Handeln, das aus einem unbehinderten Geist kommt, einem Geist, der nicht in ein starres Gedankenkorsett eingezwängt ist. Aspekt fünf des Achtfachen Pfades ist rechter Lebenserwerb. Wie können wir unseren Lebensunterhalt auf diesem Planeten verdienen, ohne anderen Menschen, der Umgebung oder uns selbst Gewalt anzutun? 63
Natürlich gibt uns der Buddha-Dharma keine Listen mit empfehlenswerten Berufen. Vielmehr leitet er uns an, zu erwachen und zu erkennen, wie wir einem Erwerb nachgehen können, der Offenheit, Einsicht, Ehrlichkeit und Harmonie fördert. Rechte Anstrengung, der sechste Aspekt des Achtfachen Pfades, ist ein bewußtes und ständiges Eingehen auf jeden Augenblick. Es ist die bereitwillige Aufgabe unserer fragmentierten Psyche und unserer dualistischen Gedanken, Augenblick für Augenblick, und die Förderung von gesunden und ganzheitlichen Bewußtseinszuständen. Rechte Anstrengung ist eng verbunden mit dem siebten Aspekt des Achtfachen Pfades, der rechten Achtsamkeit. Dies heißt einfach, nicht zu vergessen, was unser eigentliches Problem ist: Duhkha. Durch rechte Achtsamkeit machen wir uns immer wieder die Verfassung und das Funktionieren unseres Geistes bewußt und achten darauf, wie wir uns faktisch Augenblick für Augenblick auf die Welt einlassen. Durch dieses Beachten und Bewußtmachen werden wir damit vertraut, wie wir uns jeweils aufgrund der verschiedenen geistigen Zustände verhalten. Der letzte Aspekt des Achtfachen Pfades ist rechte Sammlung oder rechte Meditation. Der Geist wird gesammelt, so daß er bewußt, zentriert und klar ist. Im 8. Kapitel dieses Buches gibt es eine Einführung in diese einfache Form der Meditation. Bitte nimm keinen dieser Aspekte des Weges einfach nur gutgläubig an. Probier sie aus. Übertrag sie in dein eigenes Leben, und stell selbst fest, ob sie für das Erwachen förderlich sind. Erinnere dich: Beim Buddha-Dharma geht es um das Sehen, nicht um das Glauben. 64
Eng verbunden mit dem Achtfachen Pfad ist eine Reihe von allgemeinen Lebensrichtlinien, die die »buddhistischen Prinzipien« genannt werden. Sie werden manchmal mit den Zehn Geboten verglichen, weil häufig zehn dieser Prinzipien angeführt werden. Aber es sind absolut keine Gebote oder auch nur Regeln. Sie haben einfach damit zu tun, wie man in der unmittelbaren Wirklichkeit lebt, ohne sich Launen und Phantasien, Vorlieben und Abneigungen hinzugeben. Statt bestimmte Handlungen oder Aktivitäten vorzuschreiben, ermutigen uns diese Prinzipien zu leben, indem wir sehen und in jedem Augenblick wach sind. Wenn wir versuchen müßten, moralische Vorschriften strikt zu befolgen, würden wir schon bald in große Verwirrung geraten, weil wir auf eine Reihe von Widersprüchen und Paradoxa stoßen würden. Echte moralische Verantwortung liegt darin, in jedem Augenblick wach zu sein. Notwendigerweise kann es dafür keine starren und festen Regeln geben. Angenommen, zum Beispiel, du beherbergst eine jüdische Familie auf dem Dachboden und zwei Gestapo-Offiziere kommen an deine Tür. Sie fragen dich nach dem Aufenthaltsort der Familie. Sagst du, daß sie auf deinem Dachboden sind? Unter den gegebenen Umständen wird das weiseste und mitfühlendste Verhalten sehr wahrscheinlich sein zu lügen. Wenn du dich gezwungen fühlst, ein absolutes Gebot zu befolgen – »Du sollst nicht lügen« –, dann müßtest du sagen: »Oh, sie sind oben.« Wenn du dich andererseits nicht an starre Gebote gebunden fühlst, kannst du der Gestapo erzählen, daß die Familie nach Ontario gereist ist, um Verwandte zu besuchen. Natürlich heißt das nicht, daß Lügen im allgemeinen richtig sind. Es bedeutet nur, daß wir, um moralisch zu sein, die tatsächliche Situation und auch deine eigene Geistesverfassung 65
beobachten müssen. Moralisch ist, was dem Erwachen am meisten förderlich ist. Darum allein geht es bei den Prinzipien. Wenn wir die moralischen Umstände durch die Verwendung von starren Formulierungen in eine begriffliche Form bringen, geraten wir sofort in Schwierigkeiten. Durch das Sehen der Situation, wie sie ist, sind wir in der Lage, aus der Wirklichkeit heraus zu handeln, nicht aus irgendeiner begrifflichen Formulierung heraus. Am Ende gibt es keine Regel, nur die Situation und die Neigung unseres Geistes.
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TEIL II DER WEG ZUM ERWACHEN
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6 Weisheit Schüler: »Lehr mich den Weg der Befreiung.« Zen-Meister: »Wer bindet dich?« Schüler: »Niemand.« Meister: »Warum dann Befreiung suchen?« Unser Gefängnis, unser Kerker liegt in uns selbst, in unserem eigenen Geist, in unserem eigenen Denken. Wir legen uns selbstgemachte Fesseln an und fesseln uns gegenseitig. Wir erziehen unsere Kinder zur Sklaverei. Das alles beruht auf Unwissenheit. Wir sehen nicht, was wir sind. Wir sehen unsere Situation nicht, wie sie ist, noch sehen wir, wie wir mit ihr umgehen können. Wie Yang Chu sagt: Wir schreiten an den Freuden des Lebens vorüber, ohne zu ahnen, daß wir etwas verpassen. Wenn wir einen Weg einschlagen, dann gehen wir üblicherweise irgendwohin. Wir beginnen ihn, gehen ihn entlang und erreichen unser Ziel oder unseren Bestimmungsort, falls alles nach Plan verläuft. Der Pfad der Befreiung des Geistes ist anders. Dieser Pfad hat weder Anfang noch Ende. So ist es eigentlich auch kein Weg, der irgendwohin führt. Außerdem haben wir ihn in dem Augenblick, in dem wir den Fuß darauf setzen, schon in seiner Ganzheit durchschritten. Auf diesem Weg zu sein bedeutet schon, ihn vollendet zu haben. Ich meine dies wörtlich, nicht symbolisch oder bildlich. Aber zuerst müssen wir den Pfad betreten. 68
Dies ist rechte Erkenntnis: Wir müssen wenigstens den Schimmer einer Ahnung haben, daß etwas an der menschlichen Existenz problematisch, schief, leidvoll und beunruhigend ist. Wenn es stimmt, daß am menschlichen Leben etwas schief ist, was wäre notwendig, damit es wieder »gerade« wird? Was kann die menschliche Existenz sinnvoll oder »richtig« machen? Mit anderen Worten: Wonach sehnen wir uns eigentlich als intelligente Wesen in einem riesigen und anscheinend sinnlosen Universum? Was könnte die Antwort auf den hohlen Schmerz im Herzen sein? Geld? Ruhm? Sex? Gelehrsamkeit? Macht? Ein Leben auf der Überholspur? Ein Leben auf dem Spazierweg? Luxuswohnungen in Paris und Manhattan? Ein kleines Haus am plätschernden Bach? Vielleicht spürst du schon, daß es all das nicht sein kann. Tatsächlich ist es so, daß all das bestenfalls vorübergehend ein bestimmtes Sehnen stillt. Der darunterliegende Schmerz des Herzens bleibt allgegenwärtig und unstillbar. Was, glaubst du, könnte wohl einen unstillbaren Durst stillen? Wenn es kein gewöhnlicher Durst ist, warum dann ein gewöhnliches Heilmittel suchen? Es hat keinen Zweck, nach etwas zu suchen, das man einnimmt, das einen befriedigt. Wir wissen, daß das nicht funktioniert. Wenn wir ein Verlangen gestillt haben, entsteht an seiner Stelle ein neues. Hier haben wir es mit einer völlig anderen Art von Problem zu tun. Also nehmen wir auch einen anderen Lösungsansatz. Wir wollen einmal damit anfangen, daß wir nicht erst versuchen herauszufinden, was es eigentlich ist, das wir alle brauchen und haben wollen. In der Mathematik benennen wir unbekannte Größen mit einem Buchstaben, zum Beispiel a, b oder y. Machen wir es also genauso und benennen das, was wir wirklich brauchen und 69
haben wollen, als x. X ist die Lösung; es ist das, was wir wirklich haben wollen und brauchen, obwohl wir nicht wissen, was es ist. Dagegen wissen wir, daß alles, was wir uns vorstellen können, uns niemals befriedigt. Also wissen wir, daß wir nach etwas suchen, das wir uns nicht vorstellen können und das wir nicht als Besitz behalten können – auch nicht als geistigen Besitz. Vielleicht denken oder glauben wir ab und zu für einen Augenblick, daß es etwas gibt, das uns wirklich befriedigt. Aber im nächsten Augenblick entdecken wir, daß wir wieder etwas anderes haben wollen. Früher oder später zweifeln wir auch daran wieder. Nach der Definition, die wir x gegeben haben, kann x so nicht sein. Wenn wir x verwirklichen – was immer es auch sein mag –, haben wir keine Wünsche mehr. Doch im Gegensatz zu den schönen Dingen, denen wir gewöhnlich nachjagen, um uns zu befriedigen, können wir nicht suchen, was wir wirklich brauchen und haben wollen, weil wir keine Ahnung haben, wonach wir suchen. X ist eher wie ein Fisch, der freiwillig ins Netz schwimmt. Was wir als einziges tun können, ist das Netz auszuwerfen. Was wir wirklich brauchen und haben wollen, wird in unserem Geist niemals als ein Gegenstand auftauchen. Trotzdem kennen wir bereits jetzt die Wahrheit und Wirklichkeit (das, was wir wirklich brauchen und haben möchten). Wenn wir aufhören würden, uns selbst vorzubeten, was es ist, oder uns zu fragen, was es sein könnte, oder darüber zu spekulieren, wie es aussehen könnte, würde es sofort sichtbar werden. Unser Problem ist, daß wir gar nicht darauf achten, was wir tatsächlich erkennen. Wir achten auf das, was wir denken – auf das, wovon wir Vorstellungen oder Überzeugungen haben –, und kümmern uns nicht darum, was wir tatsächlich sehen. Da wir notgedrungen in völliger Unwissenheit beginnen, 70
haben wir keine Ahnung, hinter was wir eigentlich her sind. Und so begeben wir uns auf die lange Suche. Wir suchen die Wahrheit vielleicht in einem Buch, in einem Glauben oder in einem Ritual oder in einem heiligen Gegenstand oder Ort. Aber diese Dinge befriedigen niemals. Das müssen wir sehen und beherzigen. Das einzige, was wirklich befriedigt, ist das Sehen der Wirklichkeit – zu sehen, was wirklich geschieht, in uns selbst, in anderen, in der Welt. Rechte Erkenntnis, der erste Schritt auf dem Weg des BuddhaDharmas, beginnt aber nicht so sehr mit dem Sehen als damit, daß wir das Wesen dessen erkennen, wonach wir suchen. Wir hören auf, nach etwas zu suchen, das sich in unserem Geist als Objekt formt, nach etwas, das wir als außerhalb von uns visualisieren und dem wir dann nachjagen können, als wäre die Wahrheit ein Bild, eine Idee oder eine Überzeugung. Die Wahrheit ist anders. Wahrheit ist nichts, was man glaubt oder nicht glaubt. Die Dinge, an die wir glauben können, sind immer weniger als die Wahrheit und können uns deshalb nicht befriedigen. Gewöhnlich ist die Sicht der Welt nichts weiter als eine Anzahl von Überzeugungen, eine Methode, die Welt in unserem Geist einzufrieren. Doch dies kann niemals der Wirklichkeit entsprechen, einfach weil die Welt nicht erstarrt ist. Trotzdem machen wir so weiter, als wäre die Art, wie wir sie in unserem Geist eingefroren haben, die Art, wie sie wirklich ist. Als Buddha von rechter Erkenntnis sprach, bezog er sich auf eine Sehweise, die nicht erstarrt ist. Rechte Erkenntnis ist fließend und flexibel, ständig in Bewegung. Durch sie werden wir uns bewußt, wie dieser Augenblick entstanden ist. Rechte Erkenntnis heißt, die Wirklichkeit in all ihrer Fülle und Unbeständigkeit zu sehen. Doch es gibt nichts Besonderes zu sehen. 71
In der Welt unseres alltäglichen gewöhnlichen Verstandes ist alles aufgeteilt: in links und rechts, gut und schlecht, oben und unten. Wir sehen zum Beispiel, wie der Puma sich an ein Reh anpirscht, und möchten das Reh laut warnen, damit es entkommen kann. Und wenn der Puma das Reh anspringt, ist unser Herz bei dem Reh. Und so suchen wir nach einer Möglichkeit, das Reh zu schützen. Wir hängen dem Puma Glocken um, damit das Reh weiß, wann er in der Nähe ist. Das Ergebnis ist, daß der Puma leidet und schließlich verhungert. Da es keinen Puma mehr gibt, der den Rehbestand begrenzt, nimmt dieser immer mehr zu. Schon bald gibt es mehr Rehe, als für die Gegend gut ist. Die Rehe überweiden das Land und fressen Bäume und Büsche kahl. Und weil der Bestand zu groß wird, fangen schließlich auch die Rehe an zu verhungern. Wir glauben, wir haben Mitgefühl gezeigt. Aber Mitgefühl muß mit Weisheit einhergehen. Solange wir nicht sehen, verschwenden wir unser Mitgefühl. Wenn wir die Wirklichkeit in ihrer Unbeständigkeit und Fülle sehen, dann sehen wir sowohl den Puma als auch das Reh. Wir sehen, wie die beiden zusammengehören, als Teile eines fugenlosen Ganzen. Ein Freund von mir, ein Arzt, erzählte mir von der Zeit seines Studiums, als er mit Informationen überhäuft wurde. Er sagte, einige Professoren konnten die Informationen sehr einfach verpacken. »Hier. Das ist, was ihr wissen müßt.« Die Medizinstudenten mochten jene Lehrer, erzählte er. Doch es gab andere Professoren, die zwei oder mehr Sichtweisen der Dinge anboten, manchmal widersprachen sie sich sogar. So etwas konnten die Studenten nicht leiden. »Es erforderte mehr Arbeit von unserer Seite«, erklärte mein Freund. 72
»Wer möchte schon hören, daß manche Leute dies denken und andere Leute das? Es war soviel bequemer, einfach erklärt zu bekommen, was das ist.« Aber, meinte er, als die Jahre vergingen und er als Arzt immer mehr Erfahrung sammelte, erkannte er, daß die kompakten, nett verpackten Ansichten falsch waren. Die Professoren hatten alle hervorstehenden Ecken abgehackt, die nicht in das System paßten. Bedauerlicherweise machen wir das alle so. Immer wieder, bei buchstäblich jedem Aspekt unseres Lebens. In den Nachrichten sehen wir das häufig. Wir bekommen den sauber verpackten kleinen Bericht – auch über komplexe Themen. Es wird uns erzählt, wer die Bösen sind und wer die Guten, wer die Opfer sind und wer die Täter. Was ist die Antriebskraft, die uns dazu bringt, alles zu verpacken? Was wir haben wollen, was wir brauchen, ist Klarheit. Wir möchten verstehen. Wir möchten wissen. Alles sauber zu verpacken verschafft uns die Illusion, tatsächlich etwas zu wissen. Warum begnügen wir uns also mit den unkomplizierten Nachrichtenhappen des Fernsehens? Weil wir dann nicht so hart arbeiten müssen. Weil wir Angst davor haben, uns mit Wahrheit und Wirklichkeit auseinanderzusetzen. Wir haben es lieber nett und ordentlich – dies ist dies, und das ist das –, alles ist klar gekennzeichnet und geordnet. Wenn wir die Welt so organisiert haben, fühlen wir uns angenehmer – bis wir, wie mein Freund, noch mal hinsehen und sagen: »Moment mal. Etwas ist schrecklich unklar. Die Welt ergibt überhaupt keinen Sinn!« So schaffen wir unwissentlich Duhkha. Wir müssen uns damit abfinden, daß wir nicht wissen – jedenfalls nicht so, wie wir uns das Wissen gewöhnlich vorstellen. Sieh dir die folgende Figur an: 73
Ist sie konkav oder konvex? Wenn wir sagen, sie ist konkav, haben wir uns eine Meinung gebildet. Und weil wir eine Meinung haben, haben wir etwas ausgelassen – die Tatsache, daß die Figur genauso leicht als konvex angesehen werden kann. Und wenn wir sagen, die Figur ist konvex, haben wir genau den gleichen Fehler gemacht. Wir haben nur die gegensätzliche, ebenso unvollkommene Stellung bezogen. Ebenso können wir sagen, sie ist beides – aber natürlich ist sie das ebenfalls nicht (Schließlich ist die Figur überhaupt nicht konkav oder konvex, sondern nur eine zweidimensionale Zeichnung.) So gehen wir für gewöhnlich mit der Welt um. Allein schon durch unseren Versuch, eine Erklärung zu erhalten, lassen wir Dinge weg. So bedeutet jede starre Ansicht, daß wir ein Stück Realität weglassen. Was wir immer wieder übersehen, ist die Tatsache, daß es niemals ein statisches Objekt zu beobachten gibt – und was das anbetrifft, auch keinen statischen, klar abgegrenzten Beobachter.
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Was es tatsächlich gibt, ist vollkommene Unbeständigkeit. Wenn wir das klar sähen, würden wir aufhören, die Dinge beharrlich in Schubladen, Definitionen und Ansichten zu stecken. Unser Geist würde beweglich und sich nicht ständig in Widersprüchen verfangen. Wir wären frei von dogmatischen Behauptungen, Intoleranz und Arroganz und würden nicht auf bestimmten Ergebnissen beharren. Wir würden uns mit der Unbeständigkeit aller Dinge abfinden. Tatsächlich würden wir sogar selbst zu dieser Unbeständigkeit werden. Wir würden das Unvorstellbare akzeptieren. Rechte Erkenntnis läßt nichts aus, hebt nichts besonders hervor. Statt dessen zielt sie direkt auf tatsächliche Erfahrung in jedem Augenblick. Die einzige Möglichkeit, in jedem Augenblick frei zu sein, besteht darin, zu dem Augenblick selbst zu werden. Gewöhnlich haben wir eine starre Meinung von uns selbst und auch von der Welt außerhalb von uns. Wir glauben, wir seien tatsächlich etwas Bestimmtes. Wir geben uns das Etikett: »Ich bin ein nervöser Typ«, »Ich bin schüchtern und introvertiert«, »Ich rede immer mit den Händen, so bin ich eben«. Kurz, wir identifizieren uns mit Typen, Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Überzeugungen. Ich selbst zum Beispiel wuchs wegen eines ausgeprägten Sinns für die Herkunft meiner Familie mit der Überzeugung auf, ich sei Norweger. Ich war wohl schon in der High-School, als ich erkannte: »Moment mal! Ich bin kein Norweger. Ich bin in Minnesota geboren und aufgewachsen. Ich spreche nicht Norwegisch. Ich war nie in Norwegen. Wie kann ich da Norweger sein?« Wenn die Leute hören, daß ich ein ordinierter buddhistischer Priester bin, haben sie häufig eine Vorstellung davon, wie ich sein müßte – auch wenn sie nur wenig über den Buddhismus wissen. Zum Beispiel nehmen sie oft an, ich sei strikter Vegetarier. Ich koche und esse zu Hause kein Fleisch, aber ich 75
habe keine Probleme, wenn ich anderswo zu Gast bin und man mir Fleisch vorsetzt. (Buddha pflegte Fleisch zu essen, wenn es ihm serviert wurde. Er lehnte Fleisch nur ab, wenn ein Tier extra für ihn geschlachtet wurde.) Manche Leute sagen mir: »Ich bin auch Buddhist« und erwarten, daß ich darüber hoch erfreut bin. Doch noch nach dreißig Jahren Studium von Buddhas Lehre, nach der Ordination zum Priester, nach klösterlichen und anderen Studien halte ich mich tatsächlich nicht für einen Buddhisten. Obwohl ich Studierender und Lehrer des Buddha-Dharmas bin, identifiziere ich mich nicht damit. Hin und wieder gibt es ein Ereignis, bei dem ich gezwungen bin, als Priester in Erscheinung zu treten – oder als Mann oder Buddhist oder Sohn oder Freund. Aber die meiste Zeit ist es nicht nötig, irgendeine bestimmte Rolle zu verkörpern. Wenn wir uns selbst eine feste Identität geben, können wir leicht gekränkt werden. Aber wir kränken uns selbst. Wir schließen uns selbst in eine sehr starre Art, zu sehen und zu denken, zu fühlen und zu reagieren, ein. So muß es nicht sein. Tatsächlich bin ich nichts Besonderes. Auch du nicht. Niemand. Eine andere Art Fessel, die wir uns anlegen, ist die Meinung »A bedeutet B«. Es ist eine prägnante Art, die Welt zu verpacken. Aber ist es je möglich, daß »dies« wirklich »das« bedeutet? Dieses Einfrieren und Zerteilen der Welt in begriffliche Pakete versorgt uns mit unzähligen Erklärungen, aber keine kann die Wirklichkeit angemessen ersetzen – und keine kann den Schmerz im Herzen stillen. Tatsache ist, daß die Wirklichkeit nicht erklärt zu werden braucht. Vielmehr ist sie das einzige, was keine Erklärung nötig hat. Wahrheit und Wirklichkeit sind offensichtlich. Was gibt es an dem »So!« zu erklären – an der Welt, wie sie tatsächlich ist? 76
Was können wir über »So!« sagen, ohne daß es uns von ihm entfernt? In dem Augenblick, wo wir die Wahrheit einzupacken versuchen, haben wir Paradoxa, Verwirrung, Zank, Zweifel und Streit. Wir begehen diesen Fehler immer wieder – und merken es nur selten. Statt dessen suchen wir nach einer immer detaillierteren, komplexeren und »genaueren« Form der Verpackung. Aber welchen Zweck hat es, tatsächliche Erfahrungen zu leugnen, nur um mit einer Idee in Einklang zu sein? Wir können die Wirklichkeit mit unserem Intellekt nicht erfassen. Wir können sie nicht in einer statischen Sicht der Dinge einfangen. Alle unsere Erklärungen sind notgedrungen provisorisch. Sie sind nur starre Bilder dessen, was tatsächlich Bewegung und Veränderlichkeit ist. Mit anderen Worten: Wenn wir in der Lage sind, uns vorzustellen, wie die Wirklichkeit ist, dann können wir sicher sein, daß sie so nicht ist. Die Wirklichkeit kann nicht in eine begriffliche Form gebracht werden – auch nicht durch Analogien, denn nichts ist so wie sie. Die Wirklichkeit paßt einfach nicht in Begriffe. Trotzdem ist die Wirklichkeit etwas, das wir sehen können. Wir können sie uns nicht vorstellen, doch wir können sie wahrnehmen. Wenn ich zum Beispiel auf ein Bild von dir deute, auf dem du zwei Jahre alt bist, und frage: »Bist du das?«, was würdest du antworten? Wenn du sorgfältig hinsiehst, wirst du sehen, daß du keine klare begriffliche Antwort auf meine Frage finden kannst, ohne dich gründlich in Widersprüche zu verheddern. Ich habe diese Frage über die Jahre Hunderten von Studenten in meinen Seminaren vorgelegt und festgestellt, daß die Antwort fast immer voraussehbar war. Die meisten Leute werden, ohne zu zögern, erklären: »Ja, das bin ich.« Wenn ich dann darauf hinweise, daß sie keine Kleinkinder 77
mehr sind, entsteht im Seminarraum tiefes Schweigen. Nach einer Pause wird eine einsame Stimme unweigerlich ausrufen: »Das war ich.« Doch wie kannst du dich verändern (etwas anderes werden, als du bist) und doch noch du sein? Worauf, glauben wir, bezieht sich das Wort »ich«? Wie sehr wir uns auch bemühen, wir werden in der direkten Erfahrung keine brauchbare, genau definierbare Entsprechung für das »Ich« finden, auf die wir uns beziehen können. Die Tatsache ist einfach, daß ein Widerspruch entsteht, sobald wir irgend etwas in eine begriffliche Verpackung stecken. Trotzdem können wir immer sehen, was geschieht. Solange wir die Frage nicht stellen, ist alles vollkommen klar. Was in diesem Augenblick existiert, ist das Bild eines kleinen Kindes und ein Erwachsener, der darüber nachdenkt, wie das eine das andere sein kann. Gewöhnlich merken wir nicht, daß durch das Festhalten an einer Vorstellung – in diesem Fall des »Ich« – sich die direkte Wirklichkeit unserem Griff entzieht. Wann immer wir etwas begrifflich fassen, schaffen wir Widersprüche, denen wir nicht entkommen können. Aber die Wirklichkeit ist gar nicht widersprüchlich, sie paßt nur nicht in einen begrifflichen Rahmen. Ideen sind natürlich nicht die einzige Art von begrifflichen Objekten. Ein Begriff ist alles, was eine Schale um sich hat, eine Art von Begrenzung, die das eine vom anderen abtrennt. Auch was wir für physische Gegenstände halten, sind in Wirklichkeit Begriffe. Zum Beispiel betrachtest du gerade etwas, das ein Buch genannt wird. Du kannst es für ein Buch halten, weil du es dir als von anderen Dingen getrennt vorstellst. In Wahrheit ist es jedoch mit allem anderen im Universum aufs engste verbunden. Thich Nhat Hanh, der große vietnamesische Zen-Meister, 78
würde uns daran erinnern, daß dieses Buch nicht nur dieses Buch ist, es ist auch die Sonne. Denn wenn die Sonne nicht wäre, würden keine Bäume wachsen, die die Papiermasse liefern, um Papier zu machen. Und wir dürfen Ts’ai Lun nicht vergessen, der im zweiten Jahrhundert das Papier erfand, oder Johannes Gutenberg, der im 15. Jahrhundert den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand, oder all die Leute, die meinen Computer erfanden und programmierten, oder die Leute, die deren Lehrer lehrten. Und verwoben mit den Bäumen und der Sonne und dem schöpferischen menschlichen Geist sind noch andere Dinge. Wir dürfen nicht die Sprache vergessen, die Zeit, die Erde, die Pflanzen, die Tiere, die Emotionen und Gedanken. Wir dürfen den Regen nicht vergessen und die Sterne oder die Galaxien von Sternen. Tatsächlich können wir auf nichts deuten und uns nichts vorstellen, das nicht in dieses Buch Eingang gefunden hätte, als Gedanke oder als Material. Was ist das also, was wir »Buch« nennen? In einer berühmten Zen-Geschichte fragt Kaiser Wu von China den buddhistischen Lehrer Bodhidharma: »Wer bist du?« »Weiß nicht«, antwortete Bodhidharma. Es gibt keine Identität. Bodhidharma sieht die Wirklichkeit, nicht ein Ding mit einem Namen. Mit anderen Worten, rechte Erkenntnis liegt nicht in den Augen des Betrachters. Es gibt keinen Betrachter von rechter Erkenntnis. Rechter Entschluß, das zweite Glied des Achtfachen Pfades, ist der Aspekt, der einen Buddha von uns, die wir nicht erwacht sind, am meisten unterscheidet. Warum? Weil wir im Augenblick des Erwachens keine Absichten oder Entschlüsse im üblichen Sinne mehr haben. Wir könnten sagen, daß der Entschluß eines erwachten Menschen einfach nur darin besteht, 79
wach zu sein. Wenn wir die Kette von Leid und Verwirrung zerbrechen wollen, sollten wir uns nur dazu entschließen zu erwachen. Wenn es bei unserem Entschluß zum Teil darum geht, durch das Erwachen etwas zu bekommen, ist dies bereits Täuschung. Wir haben nichts vom Erwachen. Wenn wir erwacht sind, sind wir einfach erwacht. Und wenn wir erwacht sind, handeln und sprechen wir so, daß wir weder uns selbst noch anderen schaden. Natürlich müssen wir schon im nächsten Moment wieder erwachen. Wir müssen immer wieder zu diesem Augenblick zurückkehren. »So ist rechter Entschluß einfach der Entschluß, zu diesem Augenblick zurückzukehren – nur ganz gegenwärtig zu sein, ohne Vorstellungen, daß man irgend etwas davon haben könnte. Wir können nicht hier sein und gleichzeitig den Gedanken an Gewinn haben. Allein zum Hier und Jetzt zu werden genügt. Es gibt eine Zen-Geschichte von einem Mönch, der still dasaß und meditierte, um ein Buddha zu werden – keine ungewöhnliche Absicht bei Zen-Schülern. Sein Lehrer kam vorbei und fragte: »Was machst du?« »Ich meditiere, damit ich ein Buddha werde«, erwiderte der Schüler. Der Lehrer hob einen Ziegel auf und begann, ihn zu polieren. »Was machst du da?« fragte der Mönch. »Ich poliere den Ziegel, damit er ein Spiegel wird.« »Da kann man noch soviel polieren – aus dem Ziegel wird kein Spiegel.« »Du kannst noch soviel meditieren, aus dir wird kein Buddha«, sagte der Lehrer. Wir dürfen die Meditation nicht als Mittel zu irgendeinem 80
Zweck betrachten. Tatsächlich können wir sagen, daß die Meditation nichts anderes ist, als der Entschluß zu erwachen. Es ist wichtig, daß wir bestimmte Meditationszeiten haben, aber wir sollten nicht glauben, daß wir meditieren, nur weil wir zu einem bestimmten Ort kommen, wo Meditation geübt wird und wir darauf warten, daß die Glocke zum Anfang läutet. Es ist nicht so, als würden wir dann meditieren, und wenn die Glocke wieder läutet, damit fertig sein. Das ist nicht Meditation. Sie beginnt nicht und endet nicht. Zumindest nicht mit einer Glocke. Die Meditation beginnt und endet mit deinem Entschluß. Wenn du deinen Entschluß, erwacht zu sein, aus den Augen verlierst, ist die Meditation vorbei. Wenn du beschließt zu meditieren, mußt du es jetzt tun. Meditation bedeutet einfach, hier zu sein, jetzt. Wenn du meditieren möchtest, meditiere jetzt – auch während du dieses Buch liest. Wenn dein Entschluß ist, einfach erwacht zu sein, aber du weißt nicht, was das ist, was wirst du tun? Du kannst dir nicht irgendeine Vorstellung von der Erleuchtung machen und dann losziehen, um sie dir zu holen. So ist das Erwachen nicht. Wenn du erwachen willst, mußt du jetzt erwachen, in diesem Augenblick sein, dir bewußt sein, was vor sich geht. Sei dir deines Entschlusses genau jetzt bewußt. Wenn du in diesem Augenblick sein möchtest, dann sei in diesem Augenblick erwacht. Das ist alles. Es ist sehr einfach. Wenn du eine Vorstellung davon hast, was es ist und was es dir bringt, ist das bereits Täuschung, Annahme, das übliche, alltägliche Zeug, der ganz normale Wahnsinn. Rechter Entschluß ist beinahe wie gar kein Entschluß. Du hast nicht die Absicht, rechten Entschluß für etwas anderes zu benützen. Du könntest es auch gar nicht. Der einzige Grund, erwacht zu sein, ist, erwacht zu sein.
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Wenn wir nicht erwarten, irgend etwas vom Erwachen zu haben, was für einen Grund gibt es zu erwachen? Es gibt keinen Grund. Du weißt bereits, was Nicht-erwacht-Sein ist. Es ist Verwirrung, Schmerz, Leid, Duhkha. Wenn du das alles satt hast, warum hörst du nicht damit auf? »Aber bedeutet das nicht, daß wir etwas haben wollen?« fragen wir. Wenn wir so fragen, haben wir nicht wirklich damit aufgehört. Wir sind wie der Mann in einem alten Witz, der zum Arzt geht. Er langt mit der rechten Hand auf den Rücken, um seinen linken Ellenbogen zu berühren und sagt: »Wenn ich das mache, habe ich Schmerzen, Doktor.« Der Arzt sieht ihn an und erwidert: »Dann tun Sie’s eben nicht.« Niemand verlangt von uns, etwas zu tun, das schmerzt. Wir tun es nur aus Unwissenheit und Gewohnheit. Sobald wir sehen, was wir tun, können wir damit aufhören. Rechter Entschluß bedeutet einfach, daß dein Geist ohne Neigung ist. Dein normaler Verstand nimmt an, daß außerhalb von dir, »dort draußen«, etwas ist. Entweder möchtest du es haben und bemühst dich, es zu bekommen, oder es mißfällt dir, und du versuchst, es abzuwehren. In dem Ausmaß, wie dein Geist sich bestimmten Dingen zuneigt oder sich von ihnen abwendet, sind auch Zuneigung und Abneigung vorhanden. Diese Neigungen enthüllen deinen Geisteszustand. Der Geist neigt sich nicht nur dem Offensichtlichen zu – Ruhm, Geld, Sex oder ähnlichem –, er kann sich allem zuneigen. Er kann auch dazu neigen, allen Neigungen ein Ende zu bereiten. »O ja, ich möchte die Erleuchtung!« Aber das ist natürlich schon wieder eine Neigung. In Wirklichkeit möchtest du, daß dein Geist keine Neigungen hat. Was wirst du deswegen unternehmen? Vielleicht sagst du: »Okay, ich bringe meinen Geist in Ordnung!« Und dann 82
bemühst du dich angestrengt, deinen Geist in Ordnung zu bringen. Aber dadurch neigt er sich wieder nur einer Sache zu. Der Geist läßt sich nicht beherrschen. Wenn du dir Mühe gibst, daß er sich den Dingen weniger zuneigt, tut er es nur um so mehr. Wie können wir also unseren Geist je dazu bringen, daß er sich den Dingen nicht zuneigt? Kümmere dich einfach nur darum, was du tust. Durch das Achten auf diesen Augenblick, achtest du auch auf deinen eigenen Geist. Du beobachtest, wie dein Geist sich den Dingen zuneigt. Sieh, wie dieses Zuneigen entsteht. Wenn du damit vertraut geworden bist, was Neigung wirklich ist, wirst du erkennen, daß der Versuch, deinen Geist davon abzuhalten, bedeutet, sie zu verstärken. Andererseits wird dein Geist, während du beobachtest, was tatsächlich passiert, anfangen, weniger Neigungen zu haben. Du kannst deinen Geist nicht veranlassen, keine Neigungen zu haben – zumindest nicht direkt. Aber wenn du beobachtest, was Augenblick für Augenblick tatsächlich geschieht, wird sich der Geist von selbst in Ordnung bringen.
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7 Moral Samuel Johnson sagte, wir müßten häufiger erinnert als belehrt werden. Buddhas Worte über das Üben von rechter Rede – dem dritten Glied des Achtfachen Pfades – sind eine Erinnerung an das, was wir bereits wissen: Diejenigen, die die rechte Rede üben, sprechen die Wahrheit, lieben die Wahrheit, sind zuverlässig und unseres Vertrauens wert … Sie täuschen wissentlich nie jemanden um des eigenen Vorteils willen … Was sie an einem Ort hören, wiederholen sie nicht an einem ändern, um dort Zwietracht zu säen … Sie einen jene, die uneins sind, und ermuntern jene, die geeint sind. Eintracht macht sie froh, sie sind erfreut und jubeln über die Eintracht. Es ist die Eintracht, die sie mit ihren Worten verbreiten. Sie vermeiden eine grobe Sprache und sprechen Worte, die dem Ohr freundlich klingen, tröstlich, liebevoll, zu Herzen gehend, höflich und teuer und vielen angenehm. Sie vermeiden leeres Gerede und sprechen zur rechten Zeit, im Einklang mit den Tatsachen, sprechen, was nützlich ist, sprechen über, rechte Weisheit und rechte Lebensführung. Ihre Sprache ist wie ein Schatz und im richtigen Augenblick begleitet von Argumenten, die vernünftig und sinnvoll sind. Tatsächlich ist der Buddha-Dharma in vielen Teilen so. Er macht den Eindruck, als sei er einem äußerst vertraut. Trotzdem müssen die meisten von uns an das erinnert werden, was sie bereits wissen. Was ist das Wichtigste an rechter Rede? Sie soll uns erinnern, 84
daß wir immer wieder zum gegenwärtigen Augenblick zurückkehren – nicht nur uns, sondern auch andere. Sie soll uns dazu bringen, uns aus Verwirrung und Fesseln zu befreien. Sie soll uns sehen helfen, was wirklich geschieht. Buddha hat keine Gebote erlassen. Wenn wir sagen: »Du sollst nicht lügen«, und uns dies zur Regel machen, was werden wir tun, wenn die Gestapo an unsere Tür hämmert und wir auf dem Dachboden eine unschuldige Flüchtlingsfamilie beherbergen? Wenn das Gebot, nicht zu lügen, ein Lebensgesetz für uns wäre, hätten wir große moralische Probleme. Trotzdem ist es nicht so, daß Buddhas nur gemäß ihrer eigenen individuellen Wahrheit leben. Der Buddha-Dharma bezieht sich nicht auf Buddhas Wahrheit oder deine Wahrheit oder meine Wahrheit oder die Wahrheit eines anderen Menschen. Der Buddha-Dharma – das, was der Erwachte lehrt – meint das direkte Sehen der Wahrheit, ehe wir uns eine Vorstellung von ihr machen, das Reagieren auf jede einzelne Situation, wenn sie entsteht, nicht gemäß einem festgelegten Programm von Ja und Nein. Wir können keine starre Regel verwenden, um mit den Problemen, Unsicherheiten und Zweideutigkeiten des Lebens fertig zu werden. Eine Regel – jede Regel – würde nur der Relativität und Widersprüchlichkeit Tür und Tor öffnen. Trotzdem – wir können sehen, was in jeder Situation moralisch richtig ist. Wir können leicht sehen, welche Handlungen und Worte bei uns und anderen Haß, Verwirrung, Schwierigkeiten und Leid verursachen. Und wir können sehen, welche Taten und Worte so etwas nicht bewirken. Das alles hat mit unserer Absicht zu tun. Ist es unsere Absicht, andere zu hintergehen und irrezuführen, ihnen zu schmeicheln und sie zu täuschen – oder wollen wir, daß wir und sie erwachen? Dies ist der zentrale Punkt von rechter Rede. In jedem gegebenen Augenblick müssen unsere Augen offen sein, um unsere Situation so zu sehen, wie sie ist. Unsere Absicht – und die Handlungen, Worte und Gedanken, die daraus entstehen – 85
ist, daß wir alle von unserer Verwirrung befreit werden. Dafür ist es nicht nötig, daß wir die Dinge gegeneinander ausspielen. Rechte Rede läßt nichts aus. Sie schließt das ganze Bild ein: die Gestapo, die Flüchtlingsfamilie, uns und die Welt, in der wir leben. Rechte Rede verläßt sich nicht auf Beurteilung und unterscheidendes Denken. Wenn wir urteilen, wägen wir alles gegeneinander ab. Wir stellen unsere Rede auf ein begriffliches Fundament, das uns geeignet erscheint, uns eine Meinung zu bilden – wie zum Beispiel die Idee, daß die Gestapo von Natur aus böse und die Leute auf dem Dachboden von Natur aus gut sind. Das ist genau die Denkungsart, die uns überhaupt in diese Schwierigkeiten gebracht hat. Tatsächlich ist es nämlich unser Denken, das die Gestapo und die Flüchtlinge entstehen läßt. Wir müssen einfach die Situation mit all ihrem Leid, dem Konflikt, der Schwierigkeit und dem Widerspruch sehen und erkennen, wie es dazu kommt, daß wir so verwirrt werden. Dann, und nur dann, können wir auf eine Weise sprechen und handeln, die zum Erwachen beiträgt. Wir müssen auch unsere eigene Absicht beobachten, damit wir erkennen, wann wir aus einer Neigung des Geistes heraus sprechen oder handeln, aus dem Verlangen heraus, ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Bei rechter Rede geht es um unsere Absicht. Benutzen wir die Sprache, weil wir die Welt und andere Menschen manipulieren wollen? Oder sprechen wir, um uns und anderen zu helfen zu erwachen? Wenn du selbst der Zuhörer bist, bleibt das Anliegen dasselbe: zu erwachen. Aber wie machst du das als Zuhörer? Laß uns Buddhas Erklärung über rechte Rede noch einmal betrachten: Was sie an einem Ort hören, wiederholen sie nicht an einem ändern, um dort Zwietracht zu säen … Sie einen jene, die uneins 86
sind, und ermuntern jene, die geeint sind. Eintracht macht sie froh, sie sind erfreut und jubeln über die Eintracht. Es ist die Eintracht, die sie mit ihren Worten verbreiten. Jetzt stell dir vor, du bist der Zuhörer. Peter erzählt dir etwas über Marlene. Was hörst du nun als Zuhörer? Was nimmst du tatsächlich wahr, im Gegensatz zu dem, was du denkst oder glaubst oder beschließt? Was für eine Information hast du wirklich erhalten? Du hast Informationen über Peter bekommen – nicht über Marlene. Wir tendieren jedoch dazu, dies nicht zu erkennen. Wir gehen vielleicht weg in der Überzeugung, daß wir klare Informationen über Marlene haben. Aber die haben wir nicht. Wir haben nur Peters Worte über sie. Andererseits haben wir sehr klare Informationen über Peter empfangen, weil wir seine Worte und den Tonfall gehört haben, wir haben seine Gesten, seine Haltung und sein Verhalten gesehen. Wir müssen auf unsere tatsächliche Lage achten – auf die Situation, in der wir uns wirklich befinden. Und der, mit dem wir es tatsächlich zu tun haben, ist Peter. Ein Buddha erkennt, daß alles, was in Sprache ausgedrückt wird, niemals vollkommen zuverlässig ist. Was immer jemand über eine andere Person zu dir sagt, ist von Anfang an verdreht. Es wird beeinflußt von seiner Sichtweise, seinen Vorlieben und Abneigungen, von Erziehung, Ehrgeiz und den Neigungen seines eigenen Geistes. Vielleicht hast du Marlene nie kennengelernt. Wenn du klug bist, hältst du dich mit deinem Urteil über sie zurück, weil du über Marlene bestenfalls nur weißt, was Peter von ihr denkt. Bist du nicht klug, akzeptierst du Peters Worte als Wirklichkeit und machst seine Ansichten und geistigen Neigungen zu deinen eigenen. Wenn du dann Marlene schließlich triffst, bringst du 87
eine vorgefaßte Meinung mit – und nicht einmal deine eigene. Fritz Pfeffer, der Zahnarzt, der sich zusammen mit Anne Frank und ihrer Familie vor den Nazis versteckte, wird von zahllosen Menschen in einem schlechten Licht gesehen, einfach weil alles, was die meisten von uns über ihn gehört haben, aus den Schilderungen eines jungen, unerfahrenen – wenn auch brillanten und phantasievollen – Mädchens stammt, Anne Frank. Ein anderes Bild erhalten wir von Miep Gies, die die Franks beherbergte und Annes Tagebuch rettete. Sie nannte Pfeffer einen »sehr reizenden Mann«. In Kurosawas Film Rashomon erzählen verschiedene Leute unterschiedliche Versionen derselben Geschichte. Zuerst sehen wir die Ereignisse mit den Augen eines Holzfällers und glauben, daß wir wissen, was geschah. Doch im Verlauf der Geschichte begegnen wir allen anderen Mitspielern, und jeder erzählt seine Fassung der Ereignisse. Und jeder Beteiligte erzählt eine andere Geschichte. Eines der Dinge, die in diesem Film offensichtlich werden, ist die Erkenntnis, wie leicht die erste Fassung einer Geschichte bei uns hängenbleibt. Dies ist auch die Situation, der wir uns im Leben gegenübersehen. Als kleine Kinder akzeptieren wir bereitwillig die erstbeste Geschichte, die man uns zu Hause oder in der Schule oder in der Kirche erzählt. Man erzählt uns Geschichten über Nationalismus, Religion, Rassismus, Politik und Familie. Nur zu häufig akzeptieren wir sie, ehe wir lernen, sie gegen andere Ansichten abzuwägen. Und nur zu oft neigen wir dazu, diese (oder andere) starre Meinungen hinzunehmen, statt jede Situation so zu sehen, wie sie ist. Rechte Rede schließt also rechtes Hören mit ein – und das heißt, die Dinge so zu betrachten, wie sie sind, und keine fertig verpackten, leicht zu schluckenden Geschichten zu akzeptieren.
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Wenn wir von anderen reden, sollten wir unser Motiv dabei sehr genau betrachten – vor allem, wenn wir über eine Person sprechen, die nicht anwesend ist. Versuchen wir, diese Person klein und uns groß zu machen? Oder versuchen wir, die andere Person in den Himmel zu heben und ihr zu schmeicheln? Beide Male reden wir nicht auf eine Weise, die zum Erwachen beiträgt, weil wir den Neigungen unseres Geistes folgen und nicht dem, was wir sehen. Außerdem, wenn wir aufgrund dessen, was wir denken, fühlen oder hoffen, über Leute reden, statt zu beobachten und zu erleben, berauben wir sie ihrer Menschlichkeit. Wir ersetzen das, was sie in all ihrer unbeständigen Vitalität sind, durch unsere eigenen, festgefügten Vorstellungen, Meinungen und Überzeugungen. Kurz gesagt, wenn wir nicht darauf achten, was wir sehen und erkennen, sondern uns an unsere Einbildung halten, schaffen wir Probleme. In vieler Beziehung schaffen wir sogar ein größeres Problem, wenn wir die Leute mit unseren Worten auf einen Sockel stellen, als wenn wir sie herabsetzen. Wann immer wir jemanden – einen Minister, einen Lehrer, einen Athleten, ein Genie, unsere Vorfahren, Buddha – überlebensgroß darstellen, fällt es sowohl uns als auch unserem Zuhörer leicht zu vergessen, daß die Person, über die wir sprechen, ein Mensch ist. Und mit der Zeit wird dieser Mensch nur noch größer, bis er, wie Paul Bunyan, sechzig Axtstiele groß ist. Wir neigen dazu, die Menschen, die wir bewundern, zu idealisieren. Aber dies ist sehr gefährlich – vor allem, wenn dein Held dein Lehrer des Buddha-Dharmas ist. Du vergißt dann, daß du aus genau dem gleichen Stoff gemacht bist wie er. Du vergißt, daß du, wie er, vollkommen dafür ausgerüstet bist, die Wahrheit genau hier, gleich jetzt, zu sehen. Wenn du einen erleuchteten Menschen (oder genauer, deine 89
Vorstellung davon) auf einen Sockel stellst, wirst du diesen wichtigen Punkt übersehen und in Verwirrung geraten. Solange du die Erleuchtung für etwas Besonderes hältst, wirst du nicht erwachen. Eines der Dinge, die mein eigener Zen-Lehrer mich lehrte, war (wie er es ausdrückte): »Letzer Job des Lehrers: den Schüler vom Lehrer befreien.« Wie willst du denn deinen Lehrern ermöglichen, ihre Arbeit zu beenden, wenn du sie ständig idealisierst? Du verwandelst deine Lehrer in etwas Grandioses und Übersteigertes. Um deinen Lehrer in Ehren zu halten, brauchst du nur von ihm zu lernen, seine Lehre respektvoll mit deiner Erfahrung zu vergleichen und mit einem dankbaren Herzen zu leben. Ich erinnere mich, wie ein Mann im Radio über die Naziärzte sprach. Er beschrieb sie als Monster und Unmenschen. Es stimmt natürlich, daß es Menschen gibt, die entsetzliche Dinge getan haben. Aber niemand von uns ist etwas anderes als menschlich. Gerade weil wir Menschen sind, sind wir zu solchen ungeheuerlichen Taten fähig. Wenn wir das nicht erkennen – daß jeder sadistische Mörder ein Mensch ist wie wir –, übersehen wir die Tatsache, daß auch wir die Fähigkeit haben, so zu handeln wie sie. Wir müssen erkennen, was wir sind. Die Reichweite dessen, was menschlich ist, ist ungeheuer groß. Sie geht vom Heiligen bis zum Ungeheuer. Wenn wir von anderen Menschen sprechen, als würden sie irgendwie nicht zu unserer Spezies gehören, ignorieren wir damit die Realität unserer Natur. Mein Zen-Lehrer pflegte zu sagen: »Freundliche Rede ist nicht immer freundlich.« Im allgemeinen fördert natürlich ein freundliches Wort oder Kompliment Heiterkeit, guten Willen und Erwachen. Aber genau wie du eine Impfung deines Kindes nicht ablehnen würdest, weil sie schmerzt, so gibt es manchmal 90
einen flüchtigen Augenblick, wo das Beste, was du für einen anderen tun kannst, darin besteht, ein ernstes Wort oder eine genaue Beobachtung zu äußern, die weh tun kann. Will man ein Kind davor bewahren, auf eine belebte Straße zu laufen, ist manchmal ein scharfes Wort erforderlich. Ehe du sprichst, mußt du deinen eigenen Geist und dein Motiv prüfen. Wenn du jemanden fertigmachen oder aus Bosheit oder Groll sprechen willst, dann sage lieber gar nichts. Aber wenn du in einem bestimmten Augenblick jemandem sagen mußt: »Ich bin traurig darüber, wie du heute morgen Tim behandelt hast. Ich glaube, du solltest dich bei ihm entschuldigen«, dann tu es. Oder vielleicht ist es für Gesundheit und Wohlbefinden eines Freundes notwendig, daß du ihm erklärst: »Ich glaube, du hast Probleme mit dem Alkohol. Wenn du weiter soviel trinkst wie jetzt, wirst du kaum noch etwas erreichen. Und deine Familie wird auch darunter leiden.« Das könnte weh tun. Das könnte in jenem Augenblick, von außen betrachtet, sehr verletzend sein. Aber es bedeutet nicht notwendigerweise, daß es nicht freundlich ist. Es hängt von deinem Motiv ab. Überzeuge dich vorher, in welcher geistigen Verfassung du bist. Es ist unmöglich, eine bestimmte Antwort schon vorher festzulegen. Von Fall zu Fall muß jede Situation anders behandelt werden. Für das Erwachen sind nicht die tatsächlichen Worte, die du sprichst, wichtig oder gar ihr Ton. Das wichtigste ist, daß du dein eigenes Herz und deinen Geist beobachtest. Dann sprich aus der Bewußtheit dessen heraus, was du beobachtest – in deinem Herzen, im Geist, in der Situation. Die Worte, die du wählst, und ihr Ton folgen automatisch. Und du wirst mit Weisheit und Mitgefühl sprechen und zuhören. Wenn du versuchst, von der Wahrheit oder der Wirklichkeit zu sprechen, wirst du feststellen, daß du nicht erklären kannst, was sie sind, weil sie sich nicht in Worte oder Begriffe fassen lassen. Das ist der Grund, warum uns die Erleuchtung frustriert. Wir 91
können nicht den Finger auf sie legen. Wir können sie nicht festnageln. Wir sind gewöhnt, uns eine begriffliche Vorstellung von den Dingen zu machen. (Andernfalls befassen wir uns meist gar nicht weiter mit ihnen.) Aber die Wahrheit läßt sich nicht in Begriffe zwängen. Wir können sie uns nicht als Idee vorstellen. Wir können die Wahrheit buchstäblich nicht zu fassen bekommen. Wenn wir die Wirklichkeit sehen, befinden wir uns weit über dem Reich der Worte und Begriffe. Wir erfahren, was Worte nicht ausdrücken können, was Ideen nicht beinhalten können, was die Sprache nicht mitteilen kann. In gewissem Sinn gibt es also nichts zu sagen. Stell dir einen Ahornbaum im Spätherbst vor. Die meisten Blätter sind abgefallen. Nur ein paar hängen noch an den Zweigen. Du sitzt in einem Park. Es ist ein herrlicher Tag – für die Jahreszeit sehr warm. Der Himmel ist ein leuchtendes, tiefes Blau. An der Spitze des Baumes siehst du ein einziges Blatt, das sich gegen den Himmel abzeichnet. Es ist leuchtend orangerot. Während du das Blatt betrachtest, zittert es und beginnt herabzufallen. Es schwebt über den Himmel und taumelt zu Boden. Du wendest etwas den Kopf, um seinen Weg zu verfolgen. Es sinkt langsam herab und landet auf dem Boden, wo schon viele andere Blätter liegen. Du betrachtest das Muster, das die Blätter auf der Erde gebildet haben. Du stellst fest, daß in der Nähe des Baums mehr Blätter liegen als weiter entfernt von ihm. Während dein Blick über das Gras zum nächsten Baum gleitet, siehst du dort wieder viele Blätter auf dem Boden. Du hebst die Augen etwas und blickst über den Rasen. Du siehst Stellen, an denen mehr Blätter liegen, und andere, an 92
denen weniger sind. Doch wohin du auch schaust, überall entdeckst du herrliche Muster in verschiedenen Farben. Wer oder was kann solche Muster machen? Ryokan, ein japanischer Zen-Dichter des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, schrieb folgendes einfaches Gedicht: Ahornblatt fällt herab, zeigt sich von oben, zeigt sich von unten. Das Herabfallen des Ahornblatts, während es seine Oberseite und seine Unterseite zeigt, die Art, wie es herabsinkt, wenn es vom Baum fällt, wo es landet – all dies ist ein Beispiel für rechtes Handeln. Wie verschieden doch diese Art des Herabfallens von unserem willentlichen, zielstrebigen Handeln ist, an das wir so gewöhnt sind! Stell dir ein Ahornblatt vor, das mitten im Sommer sagt: »Ich hau’ ab. Ich lass’ mich von diesem Baum fallen.« Und da flattert es hin und schwebt, noch grün, hinunter. Oder stell dir das Blatt vor, das nicht loslassen will. Es bleibt den ganzen Winter hängen, will nicht herunterfallen oder sich verändern, bis die Knospen ihm im nächsten Jahr einen Tritt geben. Dann gibt es das Blatt, das nicht einfach »ein Blatt im Wind« sein möchte. Wenn es sich vom Zweig löst, rollt es sich zusammen und saust wie eine Kanonenkugel zu Boden. Was für ein Muster würden diese Blätter auf dem Boden machen? Es wäre ganz anders, als Ryokan es in seinem Gedicht beschreibt. Natürlich haben Blätter kein Motiv. Wir Menschen gehen jedoch in all diesen drei Fällen nach einem bestimmten Grundprinzip vor. Indem wir versuchen, über Menschen, Dinge und Ereignisse Kontrolle auszuüben, laufen wir weg, klammern uns an oder machen den anderen eine lange Nase und tun, was 93
uns paßt. Das langsame Herabschweben von Ryokans Ahornblatt – natürlich absichtslos – demonstriert rechtes Handeln. Das Fallen der anderen Blätter, das ich scherzhaft dargestellt habe, ist gewollt. Diese zwei Handlungsweisen führen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Gewöhnlich entfernen sich Diskussionen über Moralität nie allzuweit von Regeln und Vorschriften, von dem Du-sollst und dem Du-sollst-nicht. Erinnerst du dich an die buddhistischen Prinzipien aus dem 5. Kapitel? Sogar sie werden häufig als Regeln gelehrt und gelernt. Aber beim Buddha-Dharma geht es nicht um Regeln und Vorschriften. Regeln und Vorschriften sind nur nützlich, wenn wir nicht sehen. Das Wichtigste bei den Prinzipien ist es, zu sehen, in Einklang mit der Wirklichkeit zu leben und nicht Regeln blindlings zu folgen. Wenn wir sehen, brauchen wir keine Regeln. Sie werden dann sogar zu einem Hindernis. Sie fesseln die natürliche Freiheit des Geistes. Durch das Sehen werden unsere Taten wie Blätter, die an ihrem natürlichen Platz auf dem Rasen landen. In Zen-Geist, Anfänger-Geist legt Zen-Meister Shunryu Suzuki dar, daß es gar nicht so leicht ist, Punkte in »künstlerischer Unordnung« aufs Papier zu malen, wie wir vielleicht glauben. Während wir einen Punkt nach dem anderen auf das Blatt malen, möchten wir, daß sie dort landen wie die Blätter auf dem Rasen. Aber es wird schnell schwierig, ein wirklich zufälliges Muster entstehen zu lassen. Das hat mit dem Unterschied zwischen rechtem Handeln einerseits, und Regeln, Prinzipien und Geboten andererseits zu tun. Wir neigen dazu, unseren Geist in feste Formen des Wollens zu pressen. Wir folgen unbewußt verborgenen, verinnerlichten Regeln, die sich in Gewohnheitsmustern von Gedanken und 94
Verhaltensweisen zeigen. Solches Handeln ist nicht aus dem Sehen des Ganzen geboren. Und gerade dieses Sehen, das unbehinderte Denken und Tun, brauchen wir, wenn wir die Punkte in einem wirklich zufälligen Muster aufs Papier bringen wollen. Statt dessen ähneln wir mehr dem Blatt, das beschließt, sich zusammenzurollen und wie eine Kanonenkugel zu Boden zu schießen. Wir singen »I’ll do it my way« und halten das für ein Zeichen von Freiheit. Das ist ein völliges Mißverständnis. Wir entgegnen vielleicht: »Was soll ich denn sein? Nur ein Blatt im Wind? Das finde ich nicht gut!« Aber Tatsache ist, daß wir genau das sind. Tatsächlich sind wir vom Wind selbst nicht zu unterscheiden. Doch wir sind widerspenstig. Wir lassen nicht zu, daß wir am natürlichen Ort landen oder das natürliche Muster werden. Wir versuchen vielmehr, die Situation zu beherrschen. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist Duhkha – Begehren, Habenwollen, Verlangen, Leid und Verwirrung. Wenn wir uns als getrennte Wesen mit einem Namen betrachten, sehen wir uns wie einen Korken in einem Fluß. Wir erkennen nicht, daß es nur den Fluß gibt. Was wir als getrennt ansehen, ist von Anfang an nur Bewegung, Veränderung und Fließen. Dies als unsere tatsächliche Erfahrung zu erkennen ist die höchste Befreiung von Duhkha. Schon das Sehen allein bringt uns zu höheren Ebenen der moralischen Entwicklung. Durch das Sehen brauchen wir nach und nach nicht mehr nur mit Regeln zu leben. Um als Mensch moralisch wirklich erwachsen zu sein, müssen wir lernen, von einem Ort aus zu handeln, an dem Regeln häufig nicht genügen. 95
Der Heilige lebt einfach durch das Sehen. Manche Buddhisten bezeichnen einen solchen Menschen als Bodhisattva. Wenn wir ihm begegnen, werden wir manchmal von großer Ehrfurcht ergriffen. Wir sehen, was er tut, und dann fangen wir an, Regeln aufzustellen, die sein Verhalten beschreiben sollen. Es scheint, daß wir nicht lügen sollten, nicht stehlen, nicht töten und so weiter. Ja, der Heilige lügt nicht, das haben wir festgestellt. Aber warum tut er es nicht? Weil er meint, es sei gegen die Regeln? Weil er meint, es sei böse? Weil er Bestrafung fürchtet? Weil er in den Augen der anderen nicht schlecht dastehen möchte? Nein, keineswegs. Er vermeidet es zu lügen, zu stehlen und zu töten, weil er die natürlichen Auswirkungen dieses Verhaltens sieht. Er sieht, daß es zu Verwirrung und Leid führt – zu Duhkha. Er tut es nicht, weil er die Situation als Ganzes sieht. Im allgemeinen nähern wir uns der Frage des rechten Handelns wie fast allen anderen Fragen: Wir wollen die richtige Antwort haben, eine, die wir in einen praktischen Merksatz verpacken können. Doch so sehr wir uns auch bemühen – Moralität trotzt jedem unserer Versuche, sie zu fassen zu bekommen, obwohl sie gesehen werden kann. Betrachten wir zum Beispiel die Goldene Regel, die weit und breit als das beste aller Moralgesetze gilt: »Alles, was du von anderen erwartest, das tu auch ihnen.« Diese Regel taucht praktisch in allen Kulturkreisen auf. Wenn es eine universale Lebensregel gäbe, wäre es sicherlich diese. In Wirklichkeit ist sie jedoch zutiefst fehlerhaft. Wir können das ohne große Schwierigkeiten sehen. Wahrscheinlich hast du es schon selbst gesehen. Angenommen ich bin ein grober, streitsüchtiger Kerl, der nichts mehr genießt, als in einen Faustkampf verwickelt zu werden. Ich gehorche immer der Goldenen Regel, denn ich tue 96
den anderen das an, was ich von ihnen erwarte. Wo ich also auch bin, ich gerate immer in Schlägereien. Hier liegt eindeutig ein Problem. Wegen dieses Fehlers haben Moralphilosophen versucht, die Goldene Regel neu zu formulieren, damit sie in allen Fällen funktioniert. Eine allgemein beliebte Neuformulierung war die sogenannte Umkehrung der Goldenen Regel. Sie lautet: »Alles, was die anderen von dir erwarten, das tu auch ihnen.« Aber selbst das ist noch problematisch. Wenn die Person, mit der du es zu tun hast, ein Kind ist, das am Eßtisch sitzt, und schreit: »Ich will meine Erbsen nicht essen, ich will Bonbons«, wärst du gezwungen, dem Kind Süßigkeiten zu geben statt eine nahrhafte Mahlzeit. Es ist offensichtlich, daß deine moralische Verpflichtung gegenüber dem Kind nicht nur von den Wünschen und Forderungen des Kindes diktiert werden kann. Es muß etwas Grundlegenderes geben. Aber was? Anscheinend können wir ohne Moralität nicht zufriedenstellend leben, aber es ist offensichtlich auch wahr, daß wir keine eindeutige Basis für sie haben. W. M. Dixon drückt dies so aus: Wahrscheinlich hat es über kein Thema, das je überall in der Welt diskutiert wurde, ein größeres Durcheinander von Stimmen gegeben als über dieses – die Grundlagen der Moralität. »Warum soll ich Gott bitten, mich brav zu machen, wenn ich ungezogen sein möchte?« fragt das kleine Mädchen. Alle Weisen der Welt werden durch diese kindliche Frage zum Schweigen gebracht. Ein Parlament von Philosophen wird keine Lösung finden. Wenn wir ausziehen, um eine Antwort zu suchen, werden wir uns verirren. Wir brauchen keine Regeln, wir müssen nur sehen. Der Bodhisattva lebt entsprechend dem, was er sieht, nicht nach 97
Regeln. Man muß das Ganze sehen. Das Sehen ermöglicht eine Neuformulierung der Goldenen Regel, ohne daß Probleme wie die oben beschriebenen entstehen. Natürlich ist diese Neuformulierung gar keine Regel, keine starre Vorschrift mehr. Zufällig ist jedoch die Art, wie der Erwachte es ausdrücken würde, eine Formulierung, die auch bei uns in sprichwörtlicher Form bekannt ist: »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem ändern zu.« Diese Formulierung wurde gewöhnlich von der Philosophie des Westens beiseite geschoben, weil man die positive Formulierung als … nun als positiver betrachtete. Die positive Formulierung veranlaßt uns, hinzugehen und etwas zu unternehmen, während die negative Formulierung passiv erscheint. Doch bei dieser üblichen Reaktion übersehen wir die Tatsache, daß die positive Formulierung uns immer mit unlösbaren Problemen konfrontiert, Problemen, die bei der negativen Formulierung gar nicht auftreten. Warum? Was ist der Unterschied? Es hat mit Willen, Motiv und Absicht zu tun. Diese sind zutiefst mit der positiven Formulierung verflochten. Die positive Formulierung sagt uns, was wir tun sollen. Die negative Formulierung schreibt nichts Bestimmtes vor. Das ist der springende Punkt bei dem Problem. Es kann keine letzte moralische Instanz geben, die uns vorschreibt, was wir tun sollen, denn keine solche Instanz kann außerhalb unseres eigenen Willens liegen. Mit anderen Worten: Um ein moralisch Handelnder zu sein, müssen wir selbst die letzte Autorität sein. Und das sind wir auch. Denn eben weil wir diese Entscheidungsfunktion haben, müssen wir unser absichtsvolles Handeln in Betracht ziehen. Es ist unser absichtsvolles Handeln, das uns an Duhkha bindet, an Leid und Verwirrung. Die negative Formulierung der Goldenen Regel ist eigentlich keine Regel, sondern mehr ein Prinzip. Sie verwickelt uns nicht 98
in unlösbare Schwierigkeiten, weil sie sich nicht an unseren Willen wendet. Die negative Formulierung wendet sich nur an unsere gezielte Absicht zu erwachen. Das Handeln wird durch das Sehen eingeleitet, nicht durch Vorschriften. Es ist einfach eine Tatsache, daß wir keine Regel brauchen können, die festlegt, was wir tun oder wie wir es tun sollten. In dem Augenblick, wo wir uns an eine solche Regel binden, haben wir genau das, was wir nicht wollen – eine engstirnige, brüchige, vorgefertigte, unerbittliche Moralität. Und wieder haben wir eine Tür geöffnet, die zur Aufgabe der unmittelbaren Wirklichkeit führt, zugunsten unserer Meinungen und Ideen von der Wirklichkeit. Wenn wir uns – wie der Bodhisattva – auf keine feste Regel verlassen, sehen wir bereits die Ursache des Leids. Was wir tun sollen, wird nur durch Sehen offensichtlich und läßt sich immer nur von Fall zu Fall entscheiden. Es gibt keine Regel dafür. Das ist die Basis für rechtes Handeln: alles zu unterlassen, was Trennung und Streit schafft, und alles zu tun, was Harmonie und Einheit fördert – kurz gesagt: Wir sehen das Ganze und handeln entsprechend. Es bedeutet, wie ein fallendes Blatt zu leben – wie der wehende Wind selbst. Das ist keine vorgeschriebene Geistesverfassung. Es ist keine Geistesverfassung, die fordert: »Ich muß gut sein.« Dieser Denkansatz funktioniert einfach nicht. Wir neigen dazu, gut als Gegensatz zu böse zu sehen. Aber das ist nur unsere Vorstellung von gut. Es ist ein erstarrtes gut. Es erzeugt Arroganz und Feindseligkeit. Auf eine Weise zu handeln, die wirklich gut ist, ist von unserer gewöhnlichen Art grundlegend verschieden. Dann handelt man mit einem Geist, der weder vorprogrammiert noch behindert oder beunruhigt ist. Dann handelt man auf eine Weise, die dem Ganzen entspricht. Wie ein fallendes Blatt. 99
Man kann rechtes Handeln auch verstehen, wenn man es als selbstloses Tun, als ein Handeln frei vom Selbstgefühl definiert. Ein Handeln, bei dem wir uns nicht als von anderen Dingen getrennt betrachten. Dies heißt nicht, daß das Bewußtsein dabei ausgeschaltet wird und nichts mehr passiert. Natürlich ist die Wahrnehmung immer noch da. Es gibt immer noch Gefühle, einschließlich Leid und Freude. Es ist nur so, daß »ich« nicht da bin. Und da das Selbstgefühl verschwunden ist, werden »meine« Handlungen unberechnend und frei. Dies geschieht, wenn unser Wille sich auf einen einzigen Punkt zugespitzt hat. Unsere einzige Absicht ist, wach zu sein, dazusein. Unser Handeln ist angemessen und frei, wie ein Blatt, das ganz natürlich vom Baum fällt. Das ist totale Freiheit des Geistes. Wenn wir darauf beharren, an unserem Zweig hängenzubleiben, bilden wir uns in unserer Unwissenheit ein, daß dies Freiheit ist. »Ich kann tun, was ich will, und wenn ich Lust habe, mitten im Sommer abzufallen, tue ich das. Und wenn ich wie eine Kugel zur Erde sausen will, ist das meine Angelegenheit.« Wir sehen nicht, daß das, was wir Freiheit nennen, in Wirklichkeit Fesseln sind. Handeln wir auf diese Weise, werden wir zu Gefangenen unserer Launen und Wünsche. Als Ergebnis sind wir unfähig, gemäß der Situation zu handeln, wie wir sie sehen, Augenblick für Augenblick. Wir können nur entsprechend unseren Begierden handeln. Wir denken, daß die Freiheit darin liegt, aufgrund unserer Wünsche zu entscheiden. Aber wenn wir die Umstände sehen, sehen wir viel mehr als nur unser Verlangen. Wir sehen, wie die augenblickliche Situation entstanden ist. 100
Wahre Freiheit liegt nicht in der Möglichkeit zu wählen. Wir haben nie eine andere Wahl, als zu handeln. Selbst wenn wir beschließen, nicht zu handeln, handeln wir doch – und treffen immer noch eine Wahl. Entscheidend ist nur, ob wir wählen, erwacht zu sein oder nicht. Rechter Lebenserwerb, das fünfte Glied des Achtfachen Pfades, bezieht sich darauf, wie wir uns unseren Lebensunterhalt verdienen, ohne uns selbst oder anderen zu schaden. Es gibt ein paar Artikel, die eindeutig als dem Erwachen nicht förderlich identifiziert werden können – Drogen-, Waffen- oder Menschenhandel, für repressive Regierungen Propaganda machen usw. Und es gibt viele Wege, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, die nicht eindeutig moralisch oder unmoralisch zu sein scheinen. Was ist nun rechter Lebenserwerb in einem Leben, das sozial und wirtschaftlich so vernetzt ist? Es ist schwierig, irgendeine Möglichkeit zu finden, die absolut niemandem schadet. Da alles, was wir tun könnten, so eng mit allem anderen verwoben ist. Wie steht es zum Beispiel mit dem Beruf des Juristen? Natürlich hätten wir als Anwalt die Möglichkeit, etwas Nützliches zu tun. Zum Beispiel könnten wir einen Unschuldigen verteidigen oder Einwände gegen ein unvernünftiges und repressives Gesetz erheben. Aber man könnte uns auch bitten, jemanden zu verteidigen, von dem wir genau wissen, daß er schuldig ist, oder für eine Organisation oder Firma einzutreten, die sich für das Wohlergehen der Menschen absolut nicht interessiert. Vielleicht haben wir ja auch eine Familie zu ernähren. Wenn wir den Weg des Erwachens gehen, werden wir dazu eingeladen, diese Frage des Lebenserwerbs sehr sorgfältig zu betrachten. Wir können sie nicht umgehen, denn dieses Thema wird uns fast ein ganzes Leben lang ernsthaft beschäftigen. 101
Eindeutige Regeln dazu gibt es nicht. Wir müssen einfach die Situation sehen, in der wir uns befinden. Wenn du einen Beruf hast, der eindeutig dazu beiträgt, Menschen zu schädigen, solltest du ihn vielleicht aufgeben. Oder vielleicht solltest du weiter auf diesem Gebiet arbeiten und dein möglichstes tun, um die Sache humaner zu gestalten. Oder vielleicht ist es das beste, nach einem ähnlichen Job in einer humaneren Firma zu suchen, auch wenn dies weniger Einkommen bedeutet. Du mußt deine eigenen persönlichen Lebensumstände sorgfältig betrachten und dann handeln. Beobachte dein Verhalten bei der Arbeit. Sieh, was Verwicklungen, Begehren, Leid verursacht. Sieh, was Harmonie, Freude, guten Willen, Zusammenarbeit und geistigen Frieden bewirkt. Wenn du nachts nicht schlafen kannst, sieh dir genau an, wie du dir deinen Lebensunterhalt verdienst. Häufig liegt dort das Problem für die Schlafstörung. Du mußt lernen, klar zu sehen und dann das tun, was dem Erwachen am förderlichsten ist. Wir können über andere nicht urteilen, sondern jeder von uns muß sein eigenes Leben überprüfen. Der Buddha-Dharma handelt vom Überprüfen unseres Lebens, unseres Verhaltens, unserer Sprache und der Mittel, mit denen wir unseren Lebensunterhalt auf dieser Erde verdienen – und davon, wie alle diese Aktivitäten miteinander verbunden sind. Wir haben nur eine einzige Wahl – entweder wir erwachen, oder wir erwachen nicht.
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8 Praxis Setz dich mal einen Augenblick einfach hin und entspann dich. Atme ein paarmal tief ein und aus. Und jetzt versuche, nicht an einen Elefanten zu denken. Hier ist noch etwas, was du versuchen kannst: Stell dir einen eckigen Kreis vor. Bemüh dich noch mehr! Streng dich an! Wahrscheinlich hast du inzwischen erkannt, daß beide Übungen ihrem Wesen nach unmöglich sind. Häufig stecken wir jedoch unsere Energien in Aufgaben, die diesen beiden Übungen sehr ähneln. Wir lenken unsere Anstrengungen auf Ziele, die unmöglich sind oder bei denen die Mittel, sie zu erreichen, nicht in unserer Hand liegen. Für uns ist Anstrengung oft eine Art Anspannung oder Zwang oder Druck. Doch bei der rechten Anstrengung, wie Buddha es bezeichnete – dem sechsten Glied des Achtfachen Pfades –, gibt es keine Anspannung, keinen Zwang oder Druck, zum Teil deshalb, weil rechte Anstrengung auf rechter Erkenntnis aufbaut. Wenn du tatsächlich erkannt hast, daß es weh tut, die Hand ins Feuer zu halten, dann brauchst du dich nicht anzustrengen, um dich davon abzuhalten. Rechte Anstrengung bedeutet einfach, dazusein. Es bedeutet, hier zu sein, hier zu bleiben und zu sehen, was in diesem Augenblick passiert. Es geht nicht darum zu versuchen, Kontrolle auszuüben und irgend etwas zustande bringen zu wollen – wie zum Beispiel sich anzustrengen, die Erleuchtung zu erreichen. Das ähnelt sehr dem Versuch, nicht an einen Elefanten zu denken. Rechte Anstrengung ist Natürlichkeit – Natürlichkeit der Bewegung, Natürlichkeit des Denkens. Es ist die Natürlichkeit, dieser Augenblick zu werden. 103
Gewöhnlich fassen wir Anstrengung nicht so auf. Normalerweise strengen wir uns an, um zu kontrollieren oder anders zu sein oder etwas Neues auszuprobieren oder unsere Lage zu verbessern oder uns selbst zu verbessern. Die menschliche Geschichte ist voll von dieser Art von Anstrengung. Und da haben wir nun unsere verbesserte menschliche Welt, auf die wir soviel Zeit und Energie und Arbeit verwendet haben. Wir haben die Flüsse und die Seen verbessert und das Land und unsere Gesellschaft und unsere Lebensweise und sind nun an einem Punkt, wo wir uns fragen, ob die menschliche Rasse überhaupt noch überleben wird. Rechte Anstrengung besteht vor allem darin, die geteilten, fragmentierten Zustände des Geistes aufzuheben, die bereits in uns entstanden sind. In diesen üblichen Bewußtseinszuständen erscheint die Welt »dort draußen« auf verschiedene Weisen geteilt, und eins steht gegen das andere. Wenn wir uns in einem solchen Bewußtseinszustand befinden, glauben wir, daß es notwendig ist, die Dinge zu manipulieren und zu kontrollieren. Buddha nannte einen solchen Geisteszustand »ungesund«, denn wir erfassen dabei nicht die ganze Situation, die sich uns bietet. Wir müssen sehen, wo wir unsere Kräfte wirkungsvoll einsetzen können und wo nicht. Wenn wir dies nicht sehen, stecken wir die meiste, wenn nicht alle Energie in Ziele, auf die wir keinen Einfluß haben. Wir bemühen uns, Situationen, Leute und Dinge zu ändern, über die wir in Wirklichkeit wenig oder gar keine Kontrolle haben. Manchmal versuchen wir, unsere eigenen Neigungen und Impulse zu kontrollieren. Aber das alles ähnelt sehr dem Versuch, nicht an einen Elefanten zu denken. Wir müssen zuerst sehen, was wir kontrollieren können und was nicht. Sonst verschwenden wir unsere Bemühungen mit 104
dem Versuch, das Unmögliche zu tun, wobei wir übersehen, was in bequemer Reichweite liegt. Die meiste Zeit funktioniert unser Verstand teilend und trennend. Unser Geist ist angefüllt mit Gedanken wie »Ich werde aus der Situation herausholen, was ich kann« oder »Ich muß was für diese Leute tun« oder »Ich wünschte, mein Verstand wäre nicht so konfus« oder mit einer der anderen zahllosen Arten, wie wir ein Ding gegen das andere ausspielen. Aber wie sollten unsere Anstrengungen aussehen? Wir wissen schon, daß sie nicht zu verjagen sind. Je mehr wir sie verjagen wollen, desto mehr verstärken wir sie, und desto kraftvoller und hartnäckiger werden sie. Wenn wir statt dessen unseren desintegrierten Geisteszustand einfach so sehen, wie er ist, statt ihn zu stärken – indem wir ihn beurteilen, uns ihm hingeben oder versuchen, ihn zu verscheuchen –, dann sammelt sich der Geist von selbst und wird voll bewußt. Das Bemühen, einen zerstreuten Geist zu sammeln, ist nicht eine Anstrengung, bei der wir unsere Willenskraft auf eine bestimmte Situation ausrichten. Es ist nicht die Folge des Gedanken: »Ich sehe meinen ungesunden Geisteszustand. Ich muß ihn jetzt abstellen.« Das funktioniert nicht. Einfach durch das Sehen unseres Geisteszustands, durch das Sehen unserer Vorliebe für dies und unserer Abneigung gegen das, können wir erwachen. Das einzige, was wir tun müssen, ist, uns immer wieder zum Sehen zurückzuholen. Dieses Sehen bedeutet, einen desintegrierten Geist zu heilen und weitere Zerstreuung zu verhindern. Rechte Anstrengung schafft und bewahrt bewußte, gesammelte, ganzheitliche und integrierte Geisteszustände. Wir alle kennen den Spruch: »Du kannst ein Pferd zum 105
Wasser führen, aber du kannst es nicht zwingen zu trinken.« Weil wir wollen, daß das Pferd trinkt, werden wir frustriert, denn es liegt buchstäblich nicht in unserer Macht, das zu erreichen, was wir uns vorgenommen haben. Wir bestehen so häufig auf einem bestimmten Ergebnis. Wir erwarten, daß wir unser Ziel erreichen, wenn wir die Aufgabe direkt, ernsthaft und mit genügend Willenskraft angehen. Wir wollen, daß jemand sich bessert, daß die Regierung Steuern erläßt, die Umwelt sauberer wird und alle Kriege aufhören. Aber wenn du erwachen willst, denk nicht an Ergebnisse. Beobachte statt dessen deine eigenen geistigen Neigungen. Was den Buddha-Dharma betrifft, so sind wir tatsächlich das Pferd, das zum Wasser geführt wird. Die Erwachten führen uns zum Wasser. Sie zeigen uns den Weg. Aber wir müssen selbst trinken. Das ist unsere eigene Aufgabe. Die Dinge können uns gezeigt werden, aber wenn wir sie nicht beherzigen – sie sorgfältig untersuchen, sie respektvoll prüfen, sie gründlich verdauen und sie in unserem Leben lebendig werden lassen –, werden wir nicht erwachen. Diese Anstrengung müssen wir selbst übernehmen. In dem Pferdebeispiel steckt noch mehr. In Wirklichkeit ist das Pferd durstig. Und wenn das Pferd merkt, wie durstig es ist, wird es trinken. Aber erst muß es erkennen, daß es das Wasser ist, was es braucht, und daß es direkt in Reichweite ist, sonst wird es immer elender, obwohl es am Wassertrog steht. In unserer Unwissenheit erkennen wir gar nicht, daß wir durstig sind. Oder, falls wir es merken, suchen wir am falschen Ort nach Wasser. Wir suchen kühle Erfrischung am Feuer. Und häufig wissen wir in unserer Verwirrung nicht, wonach es uns dürstet.
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Wenn uns etwas wertvoll erscheint, haben wir gewöhnlich das Gefühl, daß wir hart arbeiten müssen, um es zu bekommen oder um uns ihm anzunähern. Im Fall des Erwachens funktioniert dies nicht. Tatsächlich entfernt uns ein solches Verhalten immer mehr vom Reich des Erwachens. Ein junger Mann ging zu einem Zen-Meister und sagte: »Wenn ich mich sehr bemühe – wie lange wird es dauern, bis ich erleuchtet werde?« Der Zen-Meister betrachtete ihn von oben bis unten und antwortete: »Zehn Jahre.« Der junge Mann sagte: »Nein, nein, ich meine, wenn ich wirklich hart dran arbeite, wie lange …« Der Zen-Meister unterbrach ihn. »Entschuldigung. Ich habe mich geirrt. Zwanzig Jahre.« »Halt!« rief der junge Mann. »Sie verstehen mich nicht! Ich …« »Dreißig Jahre«, sagte der Zen-Meister. Der junge Mann drückt unsere üblichen Reaktionen sehr beredt aus. Aber hier handelt es sich nicht um das normale Verhalten. Auf diesem Weg kommen wir nicht weiter, wenn unser Ziel ein freier Geist ist. Unsere Bemühungen zu erwachen ähneln dem Zielen auf eine in ihr Gegenteil verkehrte Zielscheibe. Wie bei allen Zielscheiben wollen wir ins Schwarze treffen. Aber jetzt ist das Ziel die Erleuchtung. Und wenn wir darauf zielen, dürfen wir es nicht mit einem begehrlichen Geist tun. Wir können Erleuchtung nicht haben wollen wie andere Dinge. Es gibt absolut nichts, um das wir uns bemühen müssen. Wie erlangen wir sie dann? Wie erwachen wir? Bei einer Zielscheibe ist es gewöhnlich so, daß wir immer mehr Punkte erhalten, je näher wir dem Schwarzen kommen. 107
Aber bei der Zielscheibe der Erleuchtung ist es umgekehrt. Der große schwarze Punkt im Zentrum bedeutet null Punkte. Der kleine Ring, der ihn umgibt, zehn Punkte. Der nächste weiter außen 25. Und der Hundertpunktering ist weit außerhalb der Zielscheibe. Wenn du Punkte sammeln willst, schießt du besser weit daneben. Aber wenn du wirklich erwachen willst, mußt du mitten ins Zentrum des Schwarzen treffen. Je näher du dem Schwarzen kommst, ohne in seine Mitte zu treffen, desto weiter weg bist du vom Erwachen. Mit anderen Worten, wenn du nur auf besondere Kleidung, Sutragesang, Rituale oder einen buddhistischen Namen scharf bist, triffst du viel mehr daneben, als wenn du niemals mit dem Studium des Buddha-Dharmas begonnen hättest. Diese Dinge sind kulturelle Zusätze, die sich über Jahrtausende angesammelt haben. Sie haben mit dem Erwachen nichts zu tun und werden dich vermutlich von der dringenden Aufgabe, die du hast, nur ablenken. Im Gegensatz zum Bogenschießen erfordert das Treffen des schwarzen Punkts der Erleuchtung keine Geschicklichkeit im üblichen Sinn. Bemüh dich nur, in diesem Augenblick zu sein. Erinnere dich einfach, was deine Aufgabe auf diesem Weg ist – zu erwachen –, und dann kehr ins Hier und Jetzt zurück. Die meiste Zeit sind die meisten Leute, denen wir begegnen, bestenfalls nur teilweise auf den gegenwärtigen Augenblick ausgerichtet. Und häufig entdecken wir, daß die Leute (oder wir selbst) in Gedanken oder Träumen verloren und kaum hier sind. Es war an einem Frühlingsmorgen. Ich war auf meinem täglichen Spaziergang an einem nahe gelegenen See. Das Licht war strahlend. Die Blumen fingen an zu blühen. Es duftete betäubend. Plötzlich hörte ich das laute Krächzen von Wildgänsen. Ich blickte auf und sah einen Schwarm von zwanzig oder mehr 108
Vögeln, die in Formation fast in Augenhöhe flogen und direkt auf mich zukamen. Sie flogen schnell, es war, als ob eine Decke über meinen Kopf gezogen würde. Während sie über mich hinwegsausten, konnte ich ihre Flügel rauschen hören. Im selben Augenblick kam auch eine Joggerin mit Kopfhörern auf mich zu. Immer noch laut krächzend rauschten die Gänse über den Kopf der Joggerin hinweg – einige mußten sogar etwas ausweichen, um sie nicht zu treffen. Erstaunlicher als die Wildgänse war die Tatsache, daß die Frau weiterjoggte. Sie bemerkte die Gänse überhaupt nicht. Ich wollte dieses bemerkenswerte Ereignis mit ihr teilen, und sei es auch nur durch einen Blick oder ein Lächeln. Aber die Frau war gar nicht da. Wie oft versäumen wir einen Augenblick, weil wir einfach nicht da sind. Wir schalten die Welt zum großen Teil ab – und uns selbst zum großen Teil auch –, genau wie die Joggerin. Und gewöhnlich merken wir nicht einmal, wie weit wir von dem entfernt sind, was tatsächlich passiert. Buddha wies ständig auf die Gefahr dieses Zustandes hin. Der Erwachte sieht, daß die Folgen tödlich sein können. »Die bewußt sind«, sagte er, »sterben nicht. Die Unwissenden sind bereits so gut wie tot.« Das Leben wird nur in diesem Augenblick gelebt, der flüchtig ist und sich ständig verändert. Wir können ihn nicht halten. Wenn wir nur aufhörten, das Leben in Schubladen zu packen, es in Ansichten einzufrieren, würden wir es erleben, wie es ist, in seiner ganzen Fülle. Die Bedeutung von rechter Achtsamkeit, dem siebten Glied des Achtfachen Pfades, ist, daß sie alle sieben anderen Aspekte des Pfades verknüpft und uns zur Wirklichkeit zurückbringt, zum Hier und Jetzt. Achtsamkeit des Körpers bedeutet, daß wir uns dessen bewußt sind, wie er sich bewegt: die Lage von Hand, Kopf oder Zunge 109
wahrnehmen; unsere Haltung; unseren Atem; die Berührung des Grases, des Sandes, des Holzes oder des Steines unter unseren Füßen; den Geschmack und Geruch des Augenblicks. Thich Nhât Hanh schlägt in einer seiner Gehübungen vor, sich vorzustellen, wir seien Astronauten, die auf dem Mond notgelandet sind. Wir sind gestrandet. Wir blicken zum Himmel auf und sehen die herrliche blaue Erde, aber wir können nicht zu ihr zurückkehren, weil unser Raumschiff defekt ist. Wir können nur diese leuchtendblaue Kugel an dem kalten schwarzen Himmel betrachten und uns danach sehnen, wieder zu Hause zu sein. Aber angenommen, es gelingt uns, das Raumschiff schließlich doch zu reparieren, und wir landen wieder auf der Erde. Was würden wir empfinden, wenn wir den ersten Schritt auf der Erde machen? Was würden wir beobachten und riechen? Wie intensiv würden wir die Gerüche und Düfte erleben, den sanften Regen oder den warmen Sand unter den Füßen? Genauso, sagt Thich Nhât Hanh, sollten wir jeden Schritt auf Erden tun. Ebenso wie wir auf unseren Körper und unsere physische Umgebung achten, können wir auch den augenblicklichen emotionalen Zustand unseres Geistes beobachten. Indem wir einfach feststellen, wie wir uns fühlen, ohne unsere Gefühle beurteilen oder ändern zu wollen, können wir erkennen, daß es keine wirkliche Unterscheidung gibt zwischen dem Selbst und dem anderen. Wenn es im Inneren ein grauer Tag ist, ist es auch draußen ein grauer Tag. Mit der Zeit werden wir vielleicht erkennen, daß jedes Gefühl, das wir empfinden, flüchtig und unbeständig ist. Durch einfaches Beobachten werden unsere Gefühle schließlich weniger drängend, obwohl sie nicht weniger lebendig sind, und hören auf, solche Macht über unsere Emotionen und 110
Handlungen zu haben. Wir werden sehen können, wie jedes Gefühl entsteht, ohne daß wir gezwungen sind, danach zu handeln. Falls beim Beobachten deiner Gefühle ein innerer Kommentar beginnt – »dies ist nicht gut«, »dies ist schlecht«, »das gefällt mir nicht« –, dann sei dir einfach bewußt, daß solch ein Kommentar da ist. Du brauchst ihn nicht weiter zu kommentieren: »Ich sollte beobachten und keine Kommentare abgeben.« Achte einfach auf dein Gefühl im Hintergrund. Versuch nicht, es zu ändern, stell einfach fest, daß es da ist. Es gibt auch eine Achtsamkeit des Geistes. Solange wir nicht absichtlich hinhören, achten wir gewöhnlich wenig auf die Tatsache, daß in unserem Geist ständig das Geplapper eines – oft sinnlosen – Monologs abläuft. Wenn wir ganz darin aufgehen, machen wir sogar manchmal einen Dialog daraus. Unser Geist schwatzt die meiste Zeit mit sich selbst. Wenn du das nicht glaubst, setz dich einfach einen Augenblick ruhig hin und versuche, dir deines Atems bewußt zu bleiben. Stell fest, wann du einatmest und wann du ausatmest. Wenn du dies auch nur fünf Minuten lang tust, wirst du wahrscheinlich entdecken, daß dein Geist während der ganzen Zeit mit unzähligen Gedanken, Gefühlen und Phantasievorstellungen beschäftigt war. Unser unbeobachteter Geist ist die Quelle eines großen Teils unserer Verwirrung und unseres Leids. Gewöhnlich handeln wir aus Gedanken und Annahmen heraus, die wir meistens nur vage wahrnehmen und nicht aus dem vollen Dasein im Augenblick. Um die Sache noch zu verschlimmern, identifizieren wir uns oft mit unseren Gedanken, als könnte in dem, was wir denken oder glauben, irgendwie etwas Greifbares gefunden werden. Wenn wir unseren Geist sorgsam beobachten, können wir nicht umhin, festzustellen, daß unsere Gedanken und unsere geistige 111
Verfassung ebenso flüchtig sind wie die Empfindungen unseres Körpers. Schließlich gibt es noch eine Achtsamkeit des Duhkha selbst: wie und warum Duhkha auftritt und wie man Duhkha beenden kann. Wir müssen achtsam werden, was die Unordnung im menschlichen Leben betrifft. Es ist notwendig zu sehen, daß dieses Ungleichgewicht in unserem eigenen Herzen und Geist entsteht. Schließlich können wir sehen und erkennen, daß es möglich ist, Duhkha durch die Übung des Achtfachen Pfades zu beenden. Ein wesentlicher Punkt beim Üben der Achtsamkeit ist, sich niemals selbst zu bestrafen. Wenn du entdeckst, daß du nicht achtsam warst, schimpf nicht mit dir. Es besteht kein Grund dazu – es ist dir sogar hinderlich. Es ist nur wichtig festzustellen, daß du nicht achtsam warst, und damit bist du natürlich wieder achtsam. Beobachte einfach deinen Geist. Wenn du zu sehen lernst, was leidvoll ist und nicht zum Erwachen führt, hörst du ganz natürlich auf, diese Dinge zu tun. Während rechte Achtsamkeit bedeutet, zur augenblicklichen Erfahrung zurückzukehren, handelt es sich bei rechter Sammlung, dem achten Glied des Achtfachen Pfades, einfach darum, bei unserer unmittelbaren Erfahrung zu bleiben, Augenblick für Augenblick. Bei der Sitzmeditation (japanisch Zazen) sammeln wir unsere Aufmerksamkeit auf das reine Minimum der Aktivität von Körper, Geist und Atem. Wenn irgend möglich, ist es besser, Anweisungen über die Sitzmeditation von einem erfahrenen Zen-Lehrer zu bekommen und sie sich nicht aus einem Buch zu holen. Es ist auch am besten, zusammen mit anderen zu 112
meditieren. Um aber doch in diesem Buch eine recht genaue schriftliche Anweisung zu geben, möchte ich aus der »Allgemeinen Darlegung der Prinzipien des Zazen« (Fukan Zazengi) von Zen-Meister Dogen zitieren: Für die Meditation ist ein ruhiger und sauberer Ort am besten. Iß und trink mäßig. Lege alle Verpflichtungen beiseite und höre mit allen Geschäften auf. Denk nicht an gut oder schlecht, überlege kein Für und Wider. Beende alle Bewegungen des bewußten Geistes, das Abschätzen von Gedanken und Meinungen. Versuche nicht, ein Buddha zu werden. Zu meditieren hat absolut nichts mit sitzen oder hinlegen zu tun. Breite an dem Ort, an dem du regelmäßig sitzt, eine dicke Matte aus und lege ein Kissen darauf. Sitz mit gekreuzten Beinen, wobei deine Knie die Matte berühren. Deine Kleidung und dein Gürtel sollten locker und ordentlich sein. Dann lege die rechte Hand auf das linke Bein und die linke Hand mit der Handfläche nach oben in die rechte Hand, so daß sich die Daumenspitzen berühren. Sitz aufrecht in korrekter Körperhaltung, weder nach links noch nach rechts geneigt, weder vorgebeugt noch zurückgelehnt. Überzeuge dich, daß die Ohren in einer Linie mit den Schultern sind und die Nase in einer Linie mit dem Nabel. Lege die Zunge vorne an den Gaumen, die Zähne berühren sich, die Lippen sind geschlossen. Halte die Augen leicht geöffnet, und atme sanft durch die Nase. Wenn du die richtige Körperhaltung eingenommen hast, atme einige Male tief ein und aus, pendle einmal mit dem Körper nach rechts und links, um die optimale Mitte zu finden und bleibe dann in einer festen unbeweglichen Haltung sitzen. Diese Anweisung bezieht sich auf das Meditieren im Sitzen auf dem Boden, doch du kannst auch auf einem Stuhl meditieren. Stell deine Füße nebeneinander auf den Boden. Falls notwendig, 113
gleiche die Höhe des Stuhls mit einem Kissen oder einer Decke aus, damit du so sitzt, daß die Schenkel parallel zum Boden sind. Halte den Rücken gerade: lehn dich nicht gegen die Rückenlehne des Stuhls. Falls du auf einem Kissen am Boden sitzen willst, passe die Kissenhöhe so an, daß deine Knie auf der Matte ruhen. Wenn du lieber eine kniende Haltung einnimmst, kannst du ein Kissen zwischen deine Beine legen, um bequemer zu sitzen. Nachdem du den Körper kurz eingependelt hast, nimmst du deine endgültige Sitzposition ein und sammelst deine Aufmerksamkeit auf den Atem. Du sitzt aufrecht und atmest tief und voll von deinem Zwerchfell, also vom Zentrum deines Körpers aus. Atme natürlich und ruhig. Zwing den Atem in keiner Weise – folge ihm einfach. Während du einatmest, sei dir bewußt, daß du einatmest. Während du ausatmest, sei dir bewußt, daß du ausatmest. Da es im Anfangsstadium schwierig ist, beim Atem zu bleiben, kann das Zählen der Atemzüge dir helfen, die Konzentration aufrechtzuerhalten. Zähle eins, wenn du einatmest, und zwei beim Ausatmen. Weiter so bis zehn, dann wieder von vorn. Wieder folgst du nur dem Atem. Dabei werden Gedanken auftauchen. Laß dich von ihnen nicht stören. Denk nicht, sie seien schlecht oder du solltest sie nicht haben. Versuch nicht, sie zu verscheuchen. Wenn du sie in Ruhe läßt, werden sie von selbst verschwinden. Das ist das »Beenden aller Bewegungen des bewußten Geistes«. Durch direkte Anwendung deines Willens kannst du dies nicht erreichen. Stellst du fest, daß du durch Gedanken und Gefühle abgelenkt worden bist und du deinen Atem vergessen hast, kehr einfach zur Atmung zurück. Es besteht keine Notwendigkeit, dich selbst zu tadeln, weil du abgeschweift bist. Sich zu tadeln ist schon wieder abschweifen. Fang wieder bei eins zu zählen an. 114
Während des Meditierens können alle Arten von Selbstbeurteilung auftreten: »Jetzt fängt das wieder an« oder »ich kann das nicht« oder »ich bin darin nicht sehr gut« oder sogar »ich bin nicht sicher, ob ich’s richtig mache.« Diese Kommentare sind ganz normal. Beobachte sie und laß sie los – sie werden verschwinden, wenn du es zuläßt. Bemüh dich nicht um einen besonderen Geisteszustand. Es gibt keinen. Wenn du nach einem besonderen Geisteszustand strebst, wirst du nur deinen Geist stören. Diese Sitzmeditation ist keine Trance. Sie ist auch kein Ausruhen und keine Entspannung. Sie ist einfach das Gewahrsein des Atems, mehr nicht. Wenn deine Konzentration zunimmt, kannst du dazu übergehen, nur das Ausatmen zu zählen, dann nur das Einatmen. Bist du in der Lage, ziemlich regelmäßig beim Atem zu bleiben, kannst du mit dem Zählen aufhören und folgst nur noch dem Atem. Über diese einfache Anweisung hinaus wird die Meditation selbst dich lehren, was sie ist. Allmählich wirst du lernen, wie ein Berg zu sitzen. Obwohl Gedanken auftauchen, sind sie nur Wolken, die am Berg vorbeiziehen. Der Berg wird von Wolken nicht gestört. Die Wolken ziehen weiter, und der Berg sitzt weiter – er sieht alles und hält nichts fest. Die Leute fragen mich oft, wie lange und wie oft sie meditieren sollten. Das hängt von dir ab. Der frühe Morgen, ehe die Welt so unruhig wird, ist eine gute Zeit. Oder der Abend. Fang mit einer Meditation von fünf Minuten an. Allmählich kannst du sie verlängern. 20 oder 30 Minuten sind gut. Aber was dabei am wichtigsten ist – viel wichtiger als die Länge –, das ist die Regelmäßigkeit. Deine Meditation sollte eine Tätigkeit sein, die du so regelmäßig ausübst wie das Essen oder das Schlafen. 115
Wenn es Zeit zu essen ist, dann iß einfach. Wenn es Zeit ist zu schlafen, dann schlaf einfach. Wenn es Zeit ist zu atmen, dann atme einfach. Wenn es Zeit ist zu meditieren, dann meditiere. Dies ist wichtiger als festzulegen, wie lange. Mit anderen zu meditieren ist hilfreich, weil sie dich spiegeln. Sie helfen dir, dich selbst zu sehen. Aber darüber hinaus bietet die Meditation mit anderen auf die Dauer auch Unterstützung und Ermutigung. Es ist nicht immer leicht, allein regelmäßig zu meditieren. Wie Shunryu Suzuki in Zen-Geist, Anfänger-Geist schreibt, sollst du bei der Meditation nicht versuchen, dein Denken abzustellen. Achte auf diesen gegenwärtigen Augenblick, bleib beim Atem und laß das Denken von selbst aufhören. Verbiete dir die Gedanken nicht. Wenn du durch deine Gedanken gestört wirst, neigen sie dazu, sich zu vermehren und schneller und lauter zu werden. Je mehr du versuchst, sie zu kontrollieren, desto stärker werden sie. Gib deinem Geist eine Menge Raum, und er wird still; versuche, ihn zu kontrollieren, zu beruhigen oder einzuengen, und er dreht durch. Wir brauchen nur festzustellen, was geschieht, und loszulassen. Laß zu, daß das Denken von selbst aufhört. Das geschieht, wenn du es in Ruhe läßt. Gedanken, Gefühle und Empfindungen kommen und gehen im Geist. Aber sie bleiben nicht. Wenn du mit ihnen spielst oder sie anspornst oder sie weiterverfolgst, bleiben sie da und bringen neue Gedanken hervor. Das ist das Verhalten des Geistes, wenn man nicht auf ihn achtet. Wenn du sitzt und deinem Atem folgst, wirst du sehen, wie geschäftig dein Geist wirklich ist. Dein Atem ist ein einzigartiger Meditationsgegenstand, weil er sich genau an der Grenze zwischen innen und außen, zwischen 116
dir und der Außenwelt befindet. Wenn du einen anderen Meditationsgegenstand wählst – ob einen sichtbaren Gegenstand, einen Ton oder einen Gedanken –, wirst du an der Dualität, die dem allen zugrunde liegt, nicht vorbeikommen. Es ist immer noch alles wie gewöhnlich. Es gibt immer noch das Ding »dort draußen« und dich. Es gibt immer noch Neigungen des Geistes. Es gibt immer noch Begehren und Abneigung, Leid und Verwirrung. Es gibt immer noch Duhkha. Durch das Lenken deiner Aufmerksamkeit auf diese angenommene Grenze kannst du sehen, wie sich diese Grenze allmählich auflöst. Tatsächlich wirst du sehen, daß es von Anfang an gar keine Grenze gab zwischen innen und außen, dem Selbst und dem anderen. Du darfst mit der Meditation nicht umgehen, als sei sie eine Aktivität wie viele andere. In der Meditation, wenn es wirklich eine ist, tun wir nichts um irgendeines Zweckes willen. Die Meditation wird nur um ihrer selbst willen geübt. Mit anderen Worten, sie ist nutzlos. Beim gewöhnlichen, »nützlichen« Handeln spielen Berechnung und Abwägen, Bewerten und Einschätzen eine große Rolle. Die Meditation hat mit diesen Dingen nicht das Geringste zu tun. Erwarte nicht, daß dir das Meditieren etwas bringt – auch keine Erleuchtung. Wenn du wirklich erleuchtet werden willst, dann stell einfach fest, was der Geist tatsächlich ist und wie er es ist: So! Erkenne, daß ein verlangender Geist die Antithese dessen ist, wonach du strebst. Wenn die Meditation nur einfach eine andere Aktivität wäre – der übliche Versuch, etwas zu bekommen, zu verändern, zu kontrollieren, zu erreichen –, was hätte es dann für einen Sinn zu meditieren? Sie wäre dann nur noch mehr von dem, was wir immer tun und unter dem wir immer wieder leiden. Meditieren heißt, nicht zu versuchen, irgend etwas zu tun. Dogen schreibt 117
über die Praxis der rechten Sammlung: Du läßt ab von einem Handeln, das auf intellektuellem Verstehen, dem Verfolgen von Worten und dem Hören einer Sprache besteht, und lernst den Schritt zurück zu tun, der dein Licht nach innen wendet, um dein Selbst zu erhellen. Körper und Geist fallen von selbst weg, und dein ursprüngliches Gesicht zeigt sich. Wenn du Sosein erreichen willst, solltest du unverzüglich Sosein üben. Wenn wir die Wirklichkeit schmecken wollen, müssen wir uns unmittelbar auf sie einlassen – nicht nur über sie nachdenken, spekulieren, theoretisieren oder diskutieren. Der Buddha-Dharma ist keine theoretische Philosophie, sondern durch und durch Praxis. Es hat keinen Sinn zu meditieren, nur um eine Vorstellung vom Buddhismus zu bekommen. So nutzlos rechte Sammlung ist, ist sie gerade die Aktivität, die den tiefen, schmerzenden Bedürfnissen des Herzens entgegenkommt. Übe die rechte Sammlung, auch wenn sie nutzlos ist. Übe sie ohne Grund. Übe sie um ihrer selbst willen. Tatsächlich gibt es keinen anderen Weg. Wenn du auch nur das geringste Gewinnstreben damit verbindest, bist du nicht voll bei der Sache. Dann übst du nicht rechte Sammlung. Bei rechter Sammlung ist alles lebendig – wir erschaffen weder, noch manipulieren wir, weder besitzen wir, noch werden wir besessen, weder bemühen wir uns, noch versagen wir.
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9 Erkenntnis Es gibt zwei Arten von Wissen und Erkenntnis. Die eine Art besteht aus Ansichten, Meinungen, Mutmaßungen – man hat eine Vorstellung von etwas. Das ist ein intellektuelles Anhaften von Begriffen. Gewöhnlich ist das unsere Art von Wissen. Aber dies ist nicht wahres Wissen der Erkenntnis. Wenn man sich auf begriffliches Wissen verläßt, sind viel mehr Angst, Unbehagen und Verwirrung die natürliche Folge – kurz, Duhkha. Wir glauben, wir könnten uns darauf verlassen, daß Ansichten und Vorstellungen uns Befriedigung verschaffen. Doch wenn wir die Wirkung untersuchen, die sie auf uns haben, werden wir entdecken, daß sie uns bestenfalls nur vorübergehend zufriedenstellen. In Wahrheit sind sie die Hauptquellen von Angst und Sorge, weil sie immer zu Widersprüchen und Zweifeln führen. Schon ihrem Wesen nach sind alle unsere Ansichten und Vorstellungen starr – Fragmente der Wirklichkeit, getrennt von dem Ganzen. Mit anderen Worten: Da wir uns auf das verlassen, was wir denken (Vorstellung), und nicht auf das, was wir sehen (Wahrnehmung), entsteht Unruhe in unserem Geist. Unter all dem fühlen wir uns unbehaglich – und obendrein wissen wir das. Tatsache ist, daß wir bereits erleuchtet sind, sogar jetzt. Wir kennen die Wahrheit. Wir überlagern gewöhnlich unsere direkte Erfahrung der Wahrheit nur mit Gedanken – mit Ansichten und Meinungen und Ideen. Wir packen sie alle in unseren begrifflichen Rahmen und erkennen nicht, was für Folgen dies hat. 119
Daß wir dies tun, ist nicht so sehr das Problem. In Wirklichkeit können wir gar nicht anders, als alles begrifflich zu fassen. Ich könnte dieses Buch nicht schreiben, und du könntest es nicht lesen, wenn wir dies nicht täten. Das eigentliche Problem ist, daß unsere Begriffe uns gefangenhalten. Wir dürfen ihnen nicht mehr Macht oder Richtigkeit oder Gleichgültigkeit zuschreiben, als sie haben. Wir brauchen nur zu erkennen, daß unsere Vorstellungen nicht die Wirklichkeit sind. Wieder und wieder machen wir den Fehler, daß wir automatisch etwas in unsere Gedanken investieren, ohne zu merken, was wir getan haben. Und dann laufen wir mit unserer Vorstellung herum und glauben, einen Aspekt der Wirklichkeit eingefangen zu haben. Wir übersehen, daß unter dem Boden unserer Überzeugungen, Meinungen und Ansichten ein grenzenloses Meer von Ungewißheit liegt. Die Vorstellungen, an die wir uns klammern, sind wie winzige Boote, die steuerlos mitten auf einem riesigen Ozean treiben. Wir stehen auf unseren Überzeugungen und Ideen, als seien sie fester Boden, aber in Wirklichkeit sind sie (und wir) sich bewegende Wellen. Alle Vorstellungen und Überzeugungen, die wir in unserem Geist aufbauen, stehen gezwungenermaßen anderen Vorstellungen und Überzeugungen gegenüber. Und so können wir nicht umhin, Zweifel zu verspüren. Das ist der tiefste Grund von Duhkha – Existenzangst. Es ist die Erkenntnis, daß unter all unseren Vorstellungen ein großer beharrlicher Zweifel liegt. In dem Augenblick, in dem wir unsere tatsächliche, direkte Erfahrung mit einem begrifflichen Gedanken überlagern, ist auch schon der Zweifel da und bleibt auf ewig mit ihm verbunden. Getrennte, einzelne Formen zu sehen bedeutet, in Begriffen zu 120
denken. Dies bezieht sich nicht nur auf Vorstellungen und Gedanken. Auch physische Gegenstände – eine Tasse, ein Buch, sogar das Licht, das auf diese Seite fällt – sind begrifflich. Sie sind immer noch Dinge, die wir in unserem Geist geformt, von dem Ganzen getrennt und gegen alles andere abgegrenzt haben. Wir können über sie sprechen; wir können sie benützen; wir können sie manipulieren. Wir können sie auswählen, sie haben wollen oder sie wegstoßen. Aber wir sollten diese in Begriffe gefaßten, erstarrten, getrennten Objekte nicht für die Wirklichkeit halten. Da irren wir uns, und daraus entsteht Duhkha. Den größten Fehler, den wir bei der Verwechslung von Begriff und Wirklichkeit machen, ist jene liebste und teuerste und tiefste Unterscheidung, daß das Selbst von allem anderen getrennt ist. »Ich bin hier, und dort ist eine Welt, die außerhalb von mir ist.« Da wir diese Sichtweise nicht hinterfragen, sind wir überzeugt, daß dies eine volle und genaue Beschreibung der Wirklichkeit ist. Wir übersehen dabei die unmittelbare Erfahrung und suchen nach Dingen wie Trost, Glück, Sinn »dort draußen«. »Hol es dir«, sagen wir. (Auch wenn wir solche Dinge »hier drin«, in unserem Inneren, suchen, bleibt unsere Verwirrung gleich groß.) Sogar die Erleuchtung machen wir zu solch einem Objekt. Dabei erkennen wir nicht, daß wir sie auch wieder nur in einen Begriff, eine Vorstellung verwandeln. In ein anderes Ding, dem wir nachjagen – in etwas ganz Gewöhnliches und Illusorisches. Doch wenn wir unsere direkte Erfahrung genau betrachten, können wir eine solche Teilung einfach nicht entdecken. Eine solche Unterscheidung wird sogar um so absurder und unmöglicher, je genauer wir hinsehen. Wie wir gesehen haben, gibt es eine zweite Art von Wissen oder Erkenntnis, die Buddha rechte Erkenntnis nannte. Rechte Erkenntnis ist kein Konzept oder Glaube. Tatsächlich ist sie 121
überhaupt keine bestimmte Sache. Rechte Erkenntnis bedeutet einfach, die Wirklichkeit zu sehen, wie sie ist, hier und jetzt, Augenblick für Augenblick. Sie beruht auf reiner Aufmerksamkeit – nackter Bewußtheit dessen, was ist, ehe begriffliche Gedanken entstehen. Sie verläßt sich auf das, was wir tatsächlich erfahren, und nicht auf das, was wir denken. Wenn wir je Gewißheit erlangen wollen – wirkliches Wissen, das jenseits von allen Zweifeln und Mißverständnissen ist –, wird dies eindeutig nicht aus unseren konkurrierenden Begriffen und Vorstellungen stammen. Wahres Wissen muß vielmehr vor allen Ideen und Meinungen entstehen. Mit anderen Worten ist es nichts anderes als unmittelbare, direkte Erfahrung der Welt an sich. Wahres Wissen heißt so-sehen. Das So-Sehen ist der unerschütterliche Boden, nach dem wir uns sehnen, einfach weil es nicht angezweifelt werden kann. Das ist die Freiheit des Geistes. Und daraus entsteht auch Furchtlosigkeit. Mit den zwei Arten von Wissen sind auch zwei Arten von Geist verbunden. Als Menschen haben wir alle, was wir als gewöhnlichen Verstand bezeichnen könnten – den Geist, den wir immer als vorhanden angesehen haben. Es ist ein berechnender Geist, ein unterscheidender Geist, ein desintegrierter Geist. Es ist der Geist des gewöhnlichen Bewußtseins, der Geist, der das Selbst mit dem anderen unterscheidet. Im allgemeinen stellen wir ihn uns als »meinen Verstand« vor. Doch es gibt noch einen anderen Geist, der ungeboren, nicht gewachsen und nicht bedingt ist. Im Gegensatz zu »meinem Verstand« ist er grenzenlos, denn außer ihm ist nichts. Für diesen Geist gibt es keinen »anderen Geist«. Dieser Geist ist nichts anderes als der Geist der Ganzheit. Er ist einfach das So, der Stoff der Welt selbst – das ständige 122
Werden und Vergehen, der Materie, der Energie und der Ereignisse. Der große chinesische Zen-Meister Huang-po sagt über diesen Geist: Alle Buddhas und gewöhnlichen Menschen sind nur ein Geist … Dieser Geist liegt jenseits aller Maße, Namen, Gegensätze: Dieses Sein ist er. Sobald du deinen Geist erregst, wendest du dich von ihm ab. Dieser Geist ist aus sich selbst heraus evident – er ist sozusagen immer eingeschaltet. Wir können ihn in jedem Augenblick sehen und tun es tatsächlich auch. Wenn wir aufhören könnten, unseren Geist zu erregen (unseren Stirnlappen beruhigen, wie mein Zen-Lehrer zu sagen pflegte) und wenn unser begriffliches Denken verebbte wie die kleinen Wellen auf einem See, nachdem der ruhelose Wind sich gelegt hat, würden wir den Geist direkt erkennen. Wir würden wissen. Wir brauchen nur zu beschließen, erwacht zu sein. Doch dies darf kein Ziel sein, wie wir uns das gewöhnlich vorstellen. Es ist kein Eindruck, um den wir uns bemühen oder auf den wir hinarbeiten sollten (wir können es gar nicht). Deshalb ist diese Praxis so grundlegend verschieden von allem, was wir tun oder tun könnten. Wenn wir die Wirklichkeit sehen, so wie sie ist, können wir nicht mehr so tun, als spielten wir noch immer die Spiele von Begehren, Bemühen und Erreichen. Wir können das Sehen nicht erreichen. Ganz in diesem Augenblick dazusein, ist das Sehen. Da gibt es keinen Zweifel, keine Furcht, keine Existenzangst mehr und keine niederdrückenden Fragen wie »Wohin gehe ich, wenn ich gestorben bin?«, denn es wird klar, daß solche Fragen, Zweifel, Befürchtungen und Ängste darauf beruhen, sich eine Illusion zu schaffen – das Selbst. 123
Heutzutage fällt es uns immer schwerer, im Leben einen Sinn zu finden. Wir haben zu viele alte Geschichten durchschaut. Die Religion hält die Menschen nicht mehr fest wie einst. Obwohl noch immer viele Leute von ihr reden und sich verzweifelt an sie klammern, scheint für viele von uns »Gott« nicht mehr die endgültige Antwort zu sein. Wir leben nicht wirklich so, als glaubten wir an Gott. In unserer Verzweiflung schwanken wir zwischen den beiden Gefahren des Zynismus und des Dogmatismus hin und her. Wir laufen weiter hierhin und dorthin, um Sinn in unser Leben zu bringen. Wir erkennen nicht so leicht, daß wir dieses Problem der Sinnlosigkeit durch unser illusionäres Denken selbst erschaffen. Wenn wir den Augenblick einfach sehen könnten, wie er ist, würde die Sinnlosigkeit gar nicht erst entstehen. Gerade durch unseren Versuch, die Dinge zu definieren, zu arrangieren, zu identifizieren und sie mit Bedeutung zu versehen, kommt es dazu, daß wir eine Welt erschaffen, die letzten Endes sinnlos ist. Was immer wir als »Sinn des Lebens« hinstellen, wird sich schließlich von selbst als hohl oder falsch oder widersprüchlich erweisen. Doch wir kramen weiter in derselben Handtasche herum und fahren mit der vergeblichen Suche fort, eine begriffliche Erklärung zu finden. Entweder das, oder wir geraten in Verzweiflung. Wir haben dies versucht, wir haben das versucht, wir haben noch vieles andere versucht. Wir haben dabei unsere Natürlichkeit verloren und sind abgestumpft. Nach all unserem Forschen, aller Philosophie und Wissenschaft, die wir jahrhundertelang betrieben haben, ist es sehr schwierig geworden, eine Erklärung zu finden, die wir glauben können. Durch die Befreiung des Geistes erkennen wir, daß wir gar keine Erklärung brauchen. Wir kennen, daß vor den wirren 124
Gedanken tatsächlich die Wirklichkeit liegt. Wir können sie sehen. Wir brauchen nur zu lernen, uns voll und ganz auf den Augenblick einzulassen, wie er jetzt da ist. Und dafür weist der Achtfache Pfad den Weg. Der tiefe, hohle Schmerz im Herzen entsteht durch ein Leben auf der Suche nach dem Sinn. Doch gerade durch das Verlangen, einen Sinn zu finden, erschaffen wir Sinnlosigkeit. Denn schon die Idee, nach Sinn und Bedeutung zu suchen, entsteht aus unseren wirren Gedanken. Wenn wir die Wirklichkeit tatsächlich sehen, so wie sie ist, werden alle Sinnfragen transzendiert, dann sind wir frei und können die Welt annehmen, wie sie tatsächlich ist. Joseph Campbell sagte einmal, wir würden religiöse Erfahrungen verhindern, weil wir sie in Begriffe fassen. Es stimmt: Viele religiöse Lehren sind auf einen begrifflichen Rahmen genagelt. Dies gilt für den Buddhismus genauso wie für jede andere Religion. Aber wenn wir erwachen, werden wir das Gestell bemerken, an dem alles festgemacht ist. Letzten Endes sollten wir, wenn wir wirklich einen freien Geist suchen, auch nicht an diesem Achtfachen Pfad haftenbleiben – nicht einmal am Buddhismus selbst. Wir sollten den Buddha-Dharma nicht zu etwas Heiligem machen, zu etwas, das wir an einem besonderen Ort auf einen vergoldeten Sockel stellen. Dieser Pfad erinnert uns einfach daran, wie sehr wir in der Welt verfangen sind. Er ist wie das Floß, das uns zum anderen Ufer bringt. Wir verwenden es bis zu einem bestimmten Punkt, dann lassen wir es hinter uns. Wenn der Strom durchquert ist, lassen wir das Floß für jemand anderen zurück. Wir brauchen es nicht mitzuschleppen, es würde uns nur behindern.
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TEIL III DER BEFREITE GEIST
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10 Was wir sind Zu Buddhas Zeiten herrschte ein großes philosophisches Durcheinander, ähnlich wie heute. Viele verschiedene religiöse Ideen und Systeme wurden angeboten, erörtert und fanden ihre Anhänger. Eine Idee, die sich seit Jahrhunderten entwickelt hatte, war die Vorstellung von der Existenz eines metaphysischen Selbst, des sogenannten Atman. Der Atman wurde für ewig gehalten. Die Leute, die dieser Idee von einem ewigen Selbst oder einer ewigen Seele anhingen, könnte man als »Idealisten« bezeichnen. Ihre Theorie besagt, daß es in jedem von uns einen unvergänglichen Kern gibt, der vorübergehend in einem Körper wohnt. Der Körper ist Tod und Vergehen unterworfen. Dieses ewige Selbst überlebt den vergänglichen Körper über den Tod hinaus. Im Zusammenhang mit dieser Seelentheorie tauchten noch andere Vorstellungen auf, unter anderem die Idee eines Schöpfergottes. Bald entstand eine Gegenströmung, um diese Atman-Theorie zu widerlegen. Eine Gruppe von Philosophen des alten Indiens, die man als »Materialisten« bezeichnen könnte, erklärte, daß es eine solche Wesenheit wie den Atman – ein ewiges Selbst oder eine ewige Seele – überhaupt nicht gäbe. Der Tod des Körpers ist der Tod des psycho-physischen Wesens, behaupteten sie. Der ganze Mensch stirbt und zerfällt mit dem Körper, und nach dem Tod bleibt nichts als Materie zurück, ein funktionsloser Körper, der rasch zerfällt. Die Materialisten hatten die Vorstellung, daß die Materie ewig ist, es aber kein bleibendes Selbst gibt. Ebenso wie vor langer Zeit in Indien über diese Theorien debattiert wurde, wird auch heute noch über dieselben Ideen gestritten. Nach Jahrtausenden voller ernsthafter Debatten und 127
großem Tamtam ist der Streit weiter in vollem Gang. Und dieselben ewigen Fragen werden gestellt: Was bin ich? Warum bin ich hier? Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Wie bin ich entstanden? Was passiert mit mir, wenn ich sterbe? Existiere ich nach dem Tod weiter? Werde ich je überzeugende Antworten auf diese Fragen finden? Dies ist das Problem des Menschen – das Problem des Seins. Es verursacht uns, jedem von uns, einer Generation nach der anderen, Leid und Kummer. Dies ist das wirkliche Problem, das all unserem Leid zugrunde liegt, ein Problem, das wir nicht loswerden können. Das Unbehagen über diese Ungewißheit, die Qual und das Entsetzen, weil wir intelligent genug sind zu wissen, daß wir sterben werden, die Erkenntnis, daß alle Ideen, an die wir glauben, und alle Menschen, die wir kennen, vergehen werden – wie können wir damit fertig werden? Wie können wir mit diesem großen Problem des Seins fertig werden, ohne unsere Zuflucht zu Spekulationen und Vermutungen zu nehmen? Wir wissen nicht, was wir von dem Selbst halten sollen. Wie stellen wir uns zu dieser Idee des ewigen Atman, des unvergänglichen Selbst oder der unsterblichen Seele? Haben wir ein solches Selbst oder nicht? Ob wir uns für ein »Ja« oder »Nein« oder »Ich weiß nicht« entscheiden – die Sache beunruhigt uns, milde gesagt, weiter. Versuchen wir, eine dieser Ansichten zu verteidigen, werden wir feststellen, daß es unmöglich ist. Keine der Antworten, die wir finden, kann den tiefen, bohrenden Schmerz des Herzens stillen. Jede der drei Meinungen führt vielmehr unvermeidlich zu noch mehr erschreckenden und verwirrenden Möglichkeiten. Sagen wir »ja«, dann setzen wir alles auf die Überzeugung, daß das Selbst oder der Atman das Zentrum der Wirklichkeit ist. Wenn wir dann solch ein ewiges Selbst glauben, läuft dies auf die Behauptung hinaus, daß wir schon existierten, ehe alles andere geschaffen wurde. Wir können uns genausogut einbilden, die Ursache aller Schöpfung zu sein. 128
Vielleicht meinen wir dies nicht mit »ewig«, sondern glauben nur, daß das Selbst jetzt existiert und nichts sterben wird. Aber wie wurde dieses Selbst dann geschaffen, wann und von wem? Existierte es vor dem Urknall? (Gab es einen Urknall?) Wird es erlöschen, wenn die menschliche Rasse ausgestorben ist? Oder wenn die Erde in ein paar Milliarden Jahren in die Sonne stürzt? Oder wenn sich das ganze Universum zu einem winzigen, unglaublich heißen, dichten Punkt zusammenzieht? Oder wenn sich das ganze Universum ausdehnt und den »Wärmetod« stirbt? Wenn wir darüber hinaus die Vorstellung eines Schöpfers akzeptieren, haben wir – abgesehen von dem Streit, der über diesen Punkt unweigerlich entstehen wird – das Problem, herauszufinden, was solch ein Wesen von uns erwarten könnte, falls es überhaupt etwas von uns erwartet, und damit noch eine Streitfrage. Wir haben auch das Problem, ständig unsere Wünsche befriedigen und uns schützen zu müssen, und das in einer Welt, die uns mit solch enormen, drängenden und doch unbeantwortbaren Fragen allein läßt. Mit anderen Worten – wir stehen noch immer demselben unlösbaren Problem gegenüber. Wenn wir erklären: »Nein, es gibt kein Selbst«, fängt unser Geist an, sich andersherum zu drehen. Wenn es kein Selbst gibt, wer oder was lebt dann unser Leben? Was ist das, das es spürt und fühlt und ausdrückt? Wenn alles nur Materie und Energie ist, wie können wir uns Wahrnehmung und Bewußtsein erklären? Warum ist das ganze Universum nicht ohne Leben und ohne Bewußtsein? Wer oder was stellt denn all diese Fragen? Was fühlt diesen tiefen Schmerz im Herzen, diese Verwirrung? Wenn wir »nein« sagen, sehen wir uns dem Problem gegenüber, daß wir intelligente Geschöpfe in einem sinnlosen Universum sind. Was könnte noch verwirrender sein als diese Vorstellung? Wenn wir in aller Offenheit erklären: »Ich weiß es nicht« – wie lange können wir ohne eine definitive Antwort auf diese entscheidende Frage weitermachen? Wie lange wird es dauern, bis unser ständiges Herzweh, unsere existentielle Verwirrung 129
und unsere Verzweiflung unerträglich werden? Und wenn wir uns von der Frage einfach abwenden – wie lange wird es dauern, bis unsere Verweigerung unter dem Gewicht von Duhkha zusammenbricht? Werden wir die Frage auf unserem Sterbebett weiter ignorieren oder ableugnen können? Abgesehen davon, daß diese Fragen uns tief beunruhigen, bleibt die Tatsache bestehen, daß es in unserer direkten Erfahrung keine Beweise gibt, die einen dieser Standpunkte erhärten könnten – »Ich weiß es nicht« eingeschlossen. Wenn wir uns für eine der drei Ansichten entscheiden, ist das ein Akt des Glaubens, eines Glaubens, der in sich selbst höchst beunruhigend wie auch sehr anfällig für Zweifel ist. Dieses Problem war es, das Buddha klären und beseitigen wollte. Und er hat es beseitigt – vollkommen und ohne Fragen zu hinterlassen. Die Lösung liegt weder bei »ja« noch bei »nein« und auch nicht bei »weiß nicht«, denn die Wahrheit ist, daß wir wissen. Wir sind nur nicht besonders geschickt darin zu erkennen, was wir wirklich wissen. Buddha durchschaute diese anscheinend unlösbare Frage. Er fand eine Sichtweise, die keinen Widerspruch hat, eine Sichtweise, die für alle, die sehen, die gleiche ist. Dadurch erkannte er, daß beide Anschauungen – es gibt ein Selbst, und es gibt kein Selbst – nur extreme und unbewiesene Darstellungen der Wirklichkeit waren. Die Anhänger eines unvergänglichen Selbst leugnen, daß alle Dinge ein Ende haben. Buddha, der sich nur auf die direkte Erfahrung verließ, fand nicht nur keinen Beweis für Anfang oder Ende, er konnte auch keinen Beweis für ein getrenntes, dauerhaftes Ding finden, das einen Anfang oder ein Ende besaß. Doch dies bedeutet nicht, daß es keine Erfahrung gibt, sondern nur Materie, wie die Materialisten behaupten. Buddha verwarf 130
auch diese nihilistische Meinung. Er hielt sie für extrem, denn sie ließ das Vorhandensein des Bewußtseins außer acht, ein Vorhandensein, das aus sich selbst heraus evident ist. Der Buddha-Dharma wird als der Mittlere Weg bezeichnet, weil er alle extremen Sichtweisen verwirft. Buddha nannte sie »erstarrte Sichtweisen«. Es sind Ansichten, die die Wirklichkeit in nette, saubere Pakete verschnüren wollen. Wir neigen stark dazu, an gewissen Ansichten festzuhalten, weil sie uns das Gefühl von festem Boden unter den Füßen verleihen. Leider können sie der Wirklichkeit nicht standhalten, und daher lassen sie uns immer mit Zweifeln und Unsicherheit zurück – Duhkha. Die meisten Ansichten, die wir haben, scheinen uns auf den ersten Blick nicht extrem zu sein, doch je genauer wir sie prüfen, desto extremer (und absurder) werden sie. Alle Meinungen, die wir haben (und schätzen), erscheinen zu zweit oder zu mehreren. Am häufigsten tauchen sie als gegensätzliches Paar auf: pro und kontra, Westen und Osten, liberal und konservativ, dualistisch und nichtdualistisch. Zum Beispiel: Der Satz »Im Grunde sind die Menschen gut« nimmt eine grundlegende Qualität des Gutseins an und schreibt diese Eigenschaft dann jedem Artgenossen zu. Sobald diese Behauptung aufgestellt wird, lädt sie jedoch zur gegenteiligen Ansicht ein: »Im Grunde sind die Menschen schlecht.« Dies ist im wesentlichen dieselbe Art von Ansicht, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Kannst du allein dank deiner direkten Erfahrung sehen, daß keine dieser Ansichten der Wirklichkeit entspricht? Beide sind Begriffe – Versuche, die Wirklichkeit zu etwas Festem, Sicherem, Solidem, Verpacktem erstarren zu lassen. Betrachte deine eigenen Erfahrungen. Findest du eine bestimmte Eigenschaft, genannt Gutsein, die bei allen 131
Menschen, denen du begegnet bist, das Urmotiv ihres Handelns war? Wie steht’s mit dem Bösen? Kannst du feststellen, daß das Böse als eine bestimmte Eigenschaft existiert und im Leben jedes Menschen die größte Antriebskraft darstellt? Alles als prinzipiell gut oder böse anzusehen sind zwei erstarrte Sichtweisen. Sie beziehen sich auf keine tatsächliche Erfahrung. Damit will ich nicht sagen, daß die Menschen nicht auf eine Weise handeln, die als gut oder böse bezeichnet werden kann, sondern nur, daß das prinzipiell Gute oder das prinzipiell Böse Begriffserfindungen sind – philosophische Gegenstände, die wir selbst geschaffen haben. Beide Ansichten verweisen nicht auf die Wirklichkeit, denn die Wirklichkeit ist weit fließender, als diese extremen Ansichten aufzeigen können. Tatsächlich ist jede erstarrte Ansicht von Natur aus bereits extrem – und kann deshalb die Wirklichkeit nicht widerspiegeln. Im allgemeinen sind wir nicht imstande zu erkennen, daß gerade durch unser Festhalten an einer bestimmten Sichtweise – indem wir an sie glauben, uns auf sie verlassen und uns an sie klammern – diese starr und extrem wird. Buddha lehnte alle solchen Ansichten ab. Da sie von Natur aus begrifflich sind, wollen sie die Welt in solide, getrennte Einheiten verpacken, ob diese Einheiten nun Gutsein, Schlechtsein, Selbst, Nicht-Selbst, Bücher, Licht, Erleuchtung, Buddhismus oder irgend etwas anderes sind. Natürlich scheitern alle diese Versuche. Die Welt der Erfahrung ist einfach nicht starr. Die Wirklichkeit läßt sich nicht in Begriffen einfangen. Unsere unmittelbare, direkte Erfahrung bestätigt das. Stell dir vor, daß jemand zu dir kommt und fragt: »Sind die Menschen im Grunde gut?« »Nein, meiner Erfahrung nach nicht«, antwortest du vielleicht. »Aha, ich verstehe«, sagt der andere. »Die Leute sind also im Grunde genommen schlecht.« 132
Was würdest du nun antworten? Du müßtest wieder antworten: »Nein, meiner Erfahrung nach nicht.« Jetzt stell dir vor, daß der Frager sich aufregt: »Was soll das heißen? Du kannst nicht beides haben. Wenn der Mensch nicht im Grunde gut ist, muß er im Grunde schlecht sein! Du widersprichst dir!« Aber natürlich widersprichst du dir nicht. Du siehst einfach über die Dualität hinaus, in der dein Gesprächspartner befangen ist. Du kannst sehen, daß der Mensch zu komplex und veränderlich ist, um grundlegend gut oder schlecht zu sein. Er ist vielmehr so komplex und veränderlich, daß er gar nichts Grundlegendes sein kann. Du kannst die Wirklichkeit hinter dem Denken in Begriffen sehen, hinter der starren Meinung des Fragenden. Genau das tat Buddha in bezug auf den Begriff des Selbst. Buddha sah, daß sowohl die Bejahung eines ewigen Selbst (Atman) als auch die Leugnung eines solchen Selbst (Anatman) starre Ansichten sind, die nicht der tatsächlichen Erfahrung entsprechen. Es sind nur Begriffe, die wir uns aus unserem Verlangen, unserer Abneigung und unserer Unwissenheit erschaffen. Viele Leute meinen, daß Buddha die Existenz eines ewigen, unveränderlichen Selbst geleugnet hat. Und sie haben recht. Buddha erkannte diese extreme Ansicht der Idealisten als irreal. Weniger bekannt ist jedoch, daß Buddha auch die entgegengesetzte extreme Ansicht der Materialisten oder Nihilisten ablehnte. Deshalb denken leider viele Leute: »Buddha hat gesagt, es gibt kein Selbst. Also ist der Buddhismus eine Religion des Nihilismus.« Ebensogut könnte man sagen: »Da du nicht an Gott als einen gutaussehenden älteren Herrn glaubst, der einen langen weißen Bart hat und über den Wolken 133
thront, mußt du Atheist sein.« Man verfängt sich sehr leicht in solchen Dualismen, ohne zu merken, was eigentlich geschieht. Einen Begriff abzulehnen bedeutet nicht, das Gegenteil zu akzeptieren. Wenn du die Frage »Versteckt sich das Gespenst immer noch in deinem Kleiderschrank?« verneinst, gibst du damit nicht etwa zu, daß es gestern noch darin war. Du lehnst die Gültigkeit der Frage selbst ab. Genauso lehnte Buddha die Frage »Gibt es ein Selbst oder nicht?« ab. Buddha sah, daß keine der beiden Möglichkeiten – kein Extrem – die tatsächliche Erfahrung widerspiegelt. Schon die Frage selbst entspricht so wenig der Wirklichkeit wie die Frage: »Versteckt sich das Gespenst immer noch in deinem Kleiderschrank?« Beide Male handelt es sich um völlig unbegründete Vermutungen über die Wirklichkeit. Wenn wir fragen, auf was sich der Ausdruck »Selbst« eigentlich bezieht, entsteht sofort Verwirrung. Und wenn wir das Wort »Selbst« in einem Lexikon nachschlagen, stellen wir fest, daß es im allgemeinen als »nicht der andere« definiert wird. Aber was ist dann »der andere«? »Nicht das Selbst.« So kommen wir nicht weiter. Wir können erkennen, daß der Ausdruck »Selbst« auf die angenommene Existenz einer Wesenheit verweist, die sich nicht ändert. Wenn du sagst: »Mit sechs war ich in der ersten Klasse«, bezieht sich das »Ich« auf etwas, das im Alter von sechs Jahren dasselbe gewesen sein muß wie heute. Wenn es nicht dasselbe ist, worauf bezieht sich dann in aller Welt das »Ich«? Und wenn die Wesenheit dieselbe ist, was an ihr ist dasselbe? Ihr Aussehen? Ihre Erinnerung? Die Zellen, die ihren Körper bilden? (Und worauf bezieht sich das »ihr«?) Dies alles hat sich mit den Jahren drastisch verändert und ändert sich noch weiter. Die Existenz eines Selbst, eines »Ich« anzunehmen bedeutet, die 134
Existenz von etwas vorauszusetzen, das sich nicht verändert hat, das in all den dazwischenliegenden Jahren dasselbe geblieben ist. Und falls sich dieses Ding – das »Ich« – verändert hat, wie kann es dann noch es selbst sein? Veränderung bedeutet, daß es zu etwas anderem geworden ist. Es ist unmöglich, daß etwas gleich bleibt und sich doch verändert. Aber genau das können wir nicht finden – ein Selbst, das sich nicht verändert. Tatsächlich haben wir gesehen, daß wir überhaupt nichts Festes oder Unveränderliches finden können. Auf was du auch zeigen magst – ein physisches Objekt, eine Person, einen Gedanken, eine Emotion –, alles ist ohne Selbst. Alles verändert sich. Selbst die Erinnerung zeigt nichts als Fluß und Veränderung. Es gibt nichts, keinen Bestandteil des Geistes oder des Körpers, der nicht in ständigem Wandel wäre. Ob wir von unserem physischen Körper oder den Körpern der natürlichen Welt sprechen – Tiere, Pflanzen, Steine, Seen, Regentropfen, Sterne – oder von Gegenständen unserer zweckdienlichen Welt – Stühle, Fenster, Milchkartons und Nähnadeln –, wir finden nichts als Wechsel und Veränderung. Jedes Atom, jeder winzige Teil des Universums ist nichts anderes als Bewegung und Veränderung. Das gleiche gilt auch für unsere mentalen Erfahrungen, für unsere Gefühle, Gedanken und Bilder. Es ist eine unbestreitbare Tatsache der Erfahrung – unserer direkten, unmittelbaren Wahrnehmung –, daß alle Dinge ohne Selbst sind. Und doch denken, glauben, handeln und hoffen wir etwas anderes. Durch das Festhalten und Festklammern an dieser Vorstellung von einem Selbst leben wir im Gegensatz zur Wirklichkeit. Und dadurch leiden wir, denn es tut weh, der Wirklichkeit Widerstand entgegenzusetzen, sehr weh. Aber brauchen wir nicht die Vorstellung von einem Selbst, um 135
Erfahrung zu erklären? Wie kann es Erfahrung geben ohne ein Selbst, das diese Erfahrung hat? In Wahrheit brauchen wir keine solche Erklärung, und das Selbst ist nichts anderes als das: eine Erklärung der Erfahrung. Die Wirklichkeit braucht keine Erklärung. Tatsache ist, daß gerade die Wirklichkeit keinerlei Erklärungen braucht, denn jede Erklärung nimmt uns die direkte Erfahrung und befördert uns ins Reich der Begrifflichkeit. Die Wirklichkeit ist einfach so – unmittelbare, direkte Erfahrung, die vor jeder Idee oder Erklärung da ist. Die Wirklichkeit erklären heißt, sie in Schachteln zu verpacken und abzutransportieren. Es bedeutet, die Landkarte für das Land zu halten. Buddha erkannte, daß die Vorstellung von einem Selbst nicht notwendig ist, um eine tatsächliche Erfahrung zu machen. Er sah, daß das Selbst nur ein Begriff ist, den wir erfunden haben, um die Dinge in den Griff zu bekommen, statt unsere Erfahrung als real, aber nicht greifbar zu akzeptieren. Natürlich kann – und muß – der Terminus »Ich« im Alltag verwendet werden, damit wir miteinander sprechen können und Bücher schreiben und lesen können und so weiter. Aber es ist keine sehr genaue Bezeichnung. Wenn Buddha von einem einzelnen Menschen sprach, benutzte er häufig den Ausdruck »Strom«. Stell dir einen Fluß vor, der dahinfließt – er bewegt und verändert sich ständig. Die meisten von uns sehen sich als Korken, die auf einem Strom schwimmen, als Dinge von Dauer, die sich mit dem Strom der Zeit fortbewegen. Doch dies ist nur eine weitere starre Ansicht. Nach dieser Sichtweise verändert sich im Strom alles außer dem Korken. Obwohl wir im allgemeinen zugeben, daß unser Körper, unser Geist, unsere Gedanken, unsere Gefühle sich ändern, glauben wir trotzdem: Ich selbst verändere mich nicht. 136
Ich bin immer noch ich. Ich bin ein unveränderlicher Korken auf einem sich ständig verändernden Strom. Genauso sehen wir unser Selbst – als etwas, das sich nicht verändert. Tatsache ist aber, daß es keine Korken auf dem Strom gibt. Es gibt nur den Strom. Was wir uns als »Korken« vorstellen, ist auch Strom. Wir sind die Musik – und sie ist schließlich auch eine Art von Strom und existiert nur als ständiges Fließen und Strömen und Verändern. Hört die Bewegung auf, ist auch die Musik nicht mehr da. Sie existiert nicht als ein bestimmtes Ding, sondern als reines Kommen und Gehen, ohne eine Wesenheit, die kommt und geht. Sieh es dir genau an! Wenn dies alles so ist – wie ein Strom existiert, wie Musik existiert und wie wir existieren –, dann sieh, was geschieht, wenn wir die Vorstellung von einem »Ich« hinzufügen. Wir postulieren damit eine kleine, feste Wesenheit, die nicht als Strom dahinfließt, sondern die wie ein Korken auf dem Strom schwimmt. Wir sehen uns als feste Korken, nicht als den Strom, der wir tatsächlich sind. Wenn wir der Strom sind, wer oder was erlebt dann das Fließen, das Strömen, das Verändern? Buddha sah, daß es kein bestimmtes Ding gibt, das eine Erfahrung macht. Es gibt Erfahrung, aber keinen Erfahrenden. Es gibt Wahrnehmung, aber keinen, der wahrnimmt. Es gibt Bewußtsein, aber kein Selbst, das lokalisiert oder identifiziert werden kann. Wir erfahren Duhkha, weil wir die wahre Natur der Dinge nicht sehen und uns deshalb nach etwas Dauerndem sehnen, nach etwas, das sich nicht verändert. Doch unsere tatsächliche Erfahrung zeigt nichts als Veränderung. Wegen dieses grundlegenden Mißverständnisses sehnen wir uns nach etwas, das wir greifen können. Wir wollen es halten, uns daran klammern. Was wir lieben, soll dauern. Was wir nicht mögen, wollen wir für immer loswerden. Doch aufgrund der ständigen Veränderung können wir das, 137
was wir hassen, nicht ewig fernhalten; es kehrt zurück. Aufgrund der Veränderung bleibt das, was wir lieben, nicht bestehen, sondern muß vergehen. Wenn wir uns nur entspannten, würden wir merken, daß durch die Veränderung das, was wir lieben, immer wieder auftaucht, und das, was wir nicht leiden mögen, niemals ewig dauert. Wir würden dann auch feststellen, daß es kein beständiges Selbst gibt, das entweder erfreut oder geschädigt werden kann. Was wir sehen müssen, ist dies: Alles ist Fluß und Strom und Bewegung. Weil wir glauben, daß es im Zentrum ein statisches Wesen gibt – etwas, das wir uns als dauerhaft vorstellen, also das Ich –, erleiden wir Duhkha. Wenn die Leute diese Lehre zum erstenmal hören, haben sie manchmal ein Gefühl des Unbehagens oder der Furcht. Für manche von ihnen ist es die schrecklichste Sache, über die sie je nachgedacht haben. »Soll das heißen, daß ich gar nicht existiere? Dieses Gefühl von einem Ich ist Einbildung? Ich bin gar nicht wirklich hier?« Es klingt wie ein Todesurteil. Noch schlimmer – es klingt, als seien wir bereits tot und wüßten es nicht einmal. Warum sollte jemand erwachen wollen und erkennen, daß er überhaupt nicht da ist? Diese Angst entsteht durch eine extreme Sichtweise, die Kehrseite zu der Ansicht »Ich habe ein Selbst«. Hier wird zuerst die Existenz eines Selbst angenommen, und dann zittert man bei der Vorstellung, diese mutmaßliche Wesenheit könnte einem weggenommen werden. Wir sollten erkennen, daß gar nichts vorhanden ist, das weggenommen werden könnte, wenn es von vornherein nur angenommen war. Das Selbst, das wir nicht haben, ist wie das Gespenst, das gar nicht in deinem Kleiderschrank ist. Nicht, daß es verschwunden wäre. Es war von Anfang an nicht darin.
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Unsere Situation gleicht der eines kleinen Jungen, bei dem eine Röntgenuntersuchung gemacht werden sollte, weil er sich den Arm gebrochen hatte. Eine Röntgenassistentin führte ihn in den Raum mit dem großen Röntgengerät, das mitten im Zimmer stand. Als die Assistentin die Tür öffnete, sah der kleine Junge das große Gerät und schreckte zurück. Wahrscheinlich hatte er gerade schon einiges mitgemacht – und jetzt stand er diesem großen, schrecklichen Gerät gegenüber. Die Assistentin bemerkte das Unbehagen des kleinen Jungen und fragte freundlich: »Hast du vor dem großen Gerät Angst?« Der kleine Junge nickte scheu. Um ihn zu beruhigen, sagte sie: »Na, es wird dir nicht weh tun. Es fotografiert dich nur.« Wir haben eine ganz ähnliche Angst wie dieser kleine Junge. Wir wissen nicht, was Bewußtsein ist, ganz wie der Junge nicht wußte, was das für ein Gerät war. Natürlich haben wir Angst davor, daß das, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen, weh tun wird. Aber ich übernehme jetzt die Rolle der Röntgenassistentin und sage dir, daß es nicht weh tun wird. Tatsache ist nämlich, daß nicht das Erwachen und das Erkennen der Wahrheit schmerzt – ganz im Gegenteil. Es ist unsere Verachtung der Wirklichkeit, verursacht durch das Ignorieren unserer eigenen direkten Erfahrung der Wirklichkeit, die Schmerzen verursacht. Um unsere Angst aufzuheben, brauchen wir uns nur darüber klarzuwerden, daß die Wirklichkeit bereits ist, was sie ist. Wenn es so ist, daß alle Dinge ohne ein innewohnendes Selbst sind, was ist dann der Unterschied zwischen dieser Tatsache und dem Jetzt? Mit anderen Worten, wovor sollten wir Angst haben? Es ist nicht so, daß die Welt sofort verschwindet, sobald du siehst. Die Wirklichkeit wird durch deine Wahrnehmung von ihr nicht verändert. Wirklichkeit bleibt Wirklichkeit; du siehst sie nur einfach so, wie sie ist – und sie ist nichts Besonderes. Der 139
Wahrheit zu begegnen ist nicht schmerzhaft. Wenn wir leiden, dann weil wir die Wirklichkeit mißverstehen, nicht durch die Wirklichkeit selbst. Obwohl die nächstliegende Wesenheit, deren beständige Existenz wir annehmen, unser eigenes Selbst ist, kann man jedem Ding oder Gedanken eine Individualität oder eine Art Selbst verleihen. Nimm zum Beispiel dieses Buch. Wir stellen es uns als einen einzelnen isolierten Gegenstand vor, der ganz allein für sich existiert. Wir denken, es ist ein bestimmtes Ding, das in der Vergangenheit in einem bestimmten Moment entstand, jetzt noch weiterbesteht und irgendwann in der Zukunft zu Staub zerfallen und zu existieren aufhören wird. Und dann sagen wir: »Das ist das Ende des Buchs.« Doch wie wir bereits festgestellt haben, können wir keinen bestimmten Anfang und kein bestimmtes Ende dieses Buches finden – so wenig wie von irgend etwas anderem. Falls wir doch glauben, es könnte möglich sein, dann klammern wir uns an die Vorstellung eines beständigen, gleichbleibenden Dinges. Auch jetzt, in diesem Augenblick, wenn du dir der direkten Erfahrung ganz bewußt bist, kannst du kein beständiges Ding finden, das du als »dieses Buch« bezeichnen könntest. Wie alle Dinge besteht auch das, was wir »dieses Buch« nennen, nur aus Wechsel und Veränderung. Zum Beispiel gleicht das Buch, das du jetzt in den Händen hältst, in keiner Weise dem geschlossenen Buch, das du vor einer Weile in die Hand genommen hast, um es zu lesen. »Das liegt daran«, wirst du sagen, »daß ich es geöffnet habe.« Aber das ist Veränderung. Die Frage ist, worauf sich das »es« in dem Satz, »daß ich es geöffnet habe« bezieht. Hier gibt es überhaupt nichts Statisches und Veränderliches, auf das Bezug genommen wird – mit anderen Worten nichts, das bleibt, wie es ist. Das »es«, das wir voraussetzen und auf das wir uns beziehen, ist nur eine mentale 140
Konstruktion. Wir wissen durch die moderne Naturwissenschaft, daß der dynamische Prozeß, den wir provisorisch als »dieses Buch« bezeichnen, eine Ansammlung von sich schnell bewegenden Molekülen ist. Jedes von ihnen verändert sich, und alle diese Moleküle tauschen ihre Elektronen ständig mit anderen Molekülen und Atomen. Kurz gesagt, dieses Buch ist selbst nichts anderes als ständige Veränderung. Es ist ein fließender Strom, kein fester Korken. Genau wie »dieses Buch« nur eine mentale Konstruktion ist, eine Vorstellung, so sind es auch alle anderen Dinge, von denen wir glauben, daß sie selbständig existieren. Wenn wir uns das Universum als eine Ansammlung von getrennten, unveränderlichen, beständigen Dingen vorstellen (wie es unsere Gewohnheit ist), dann schaffen wir damit zugleich die Vorstellung, daß jedes Ding in irgendeinem Augenblick der Vergangenheit angefangen haben muß. Und so denken wir notwendigerweise auch, daß jedes Ding eines Tages vergehen muß. Und wenn das fragliche Ding unser gedachtes »Ich« ist, entsetzt uns diese Aussicht natürlich. Aber wenn wir sehr genau auf unsere tatsächliche Erfahrung achten, stellen wir fest, daß nichts Derartiges geschieht – niemals. Wir finden nur das Entstehen und Vergehen der Welt, wie sie in diesem Augenblick gerade geworden ist. Wenn wir mit den Fingern schnalzen, ist sie schon anders. Und was bleibt, ist das Sosein. Das Sosein ist kein Gegenstand des Geistes, sondern der Geist selbst. Es gibt nur dieses ewige Entstehen und Vergehen – aber es gibt kein Ding, das kommt oder geht. Dies ist unsere tatsächliche Erfahrung, in jedem Augenblick. Wenn wir uns nur auf das Sehen verließen, nur auf die Wahrnehmung allein, würden wir das ständige Werden und Vergehen der Welt, wie sie gerade geworden ist, sehen – und alle Verwirrung über 141
das Wesen unserer Existenz würde sofort verschwinden. Unsere einzige Hoffnung, Duhkha schon an der Wurzel abschneiden zu können, besteht nicht darin, noch mehr zu forschen, zu theoretisieren oder darüber zu reden, sondern darin, direkt sehen zu lernen, wie verwirrt wir ständig sind.
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11 Das Ich läßt sich nicht finden Offenbar war es immer unser Schicksal, Duhkha zu erleben. Als Menschen drücken wir unsere Erfahrung gewöhnlich in Begriffen aus, mit denen wir ein Selbst erschaffen. Die Tatsache, daß dieses Selbst erstens nicht zu lokalisieren ist, zweitens direkter Erfahrung widerspricht und drittens buchstäblich unmöglich ist, wirkt sich nicht weiter auf das Gefühl aus, das wir im allgemeinen haben, wonach dieses Selbst irgendwo in uns existiert, wenn nicht in unserem Körper, dann zumindest in unserem Geist. Wir sollten uns jedoch klarmachen, daß der feste Glaube an ein Selbst sich nicht mit unserer tatsächlichen Erfahrung vereinbaren läßt, wobei auch das Bewußtsein etwas völlig Mysteriöses bleibt. Außerdem haben wir dadurch große Existenzangst, weil wir die tatsächliche Erfahrung falsch deuten. Statt uns einfach um das zu kümmern, was wir wirklich erfahren, erschaffen wir ein Selbst und zittern dann vor Angst, weil es uns genommen, verletzt oder unglücklich werden könnte. Natürlich können wir unsere Vorstellung von einem Selbst nicht einfach ablegen wie ein Kleidungsstück, das man auszieht. Sie ist eine sehr überzeugende Illusion. Die einzige Möglichkeit zu sehen, wie trügerisch sie ist, besteht darin, auf unsere tatsächliche Erfahrung zu achten und zu sehen, wie verschieden sie von unseren Gedanken und Vorstellungen ist, die wir uns über diese Erfahrung machen. Wenn wir erst einmal gesehen haben, daß das »Ich« oder »Selbst« nicht gefunden werden kann, ist der Geist frei und fürchtet sich nicht mehr. Der Vorgang ist ähnlich wie bei dem Gespenst, vor dem man sich nicht mehr fürchtet. In der Kindheit war unsere Angst vor ihm vielleicht sehr stark und real. Dann wurden wir erwachsen, 143
und die Angst verschwand. Nicht etwa, weil wir Wege fanden, das Gespenst durch Bittgesänge und Rituale aus dem Kleiderschrank zu verbannen, auch nicht, weil wir wirksame Methoden erfanden, um den Schrank am Abend zu verbarrikadieren, und auch nicht, weil wir lernten, uns abzulenken und den ganzen Tag bis zum Abend zu amüsieren, und dadurch nicht mehr an es dachten. Es verschwand, weil wir erwachten und die Wirklichkeit erkannten. Das Gespenst hatte nie existiert. Wir erkannten, daß das Gespenst, vor dem wir jahrelang Angst gehabt hatten, nur in unserer Phantasie bestanden hatte. So ist es auch mit unserem Selbstgefühl. Die Fragen, was das Selbst ist, wie lange es besteht, was passiert, wenn unser Körper stirbt und zerfällt und unser Bewußtsein erlöscht, beruhen alle nicht auf dem, was wir tatsächlich sehen, sondern auf dem, was wir uns vorstellen. Es stellt sich heraus, daß die schrecklichen Probleme, vor denen wir immer Angst haben, nur in unseren Gedanken, Vorstellungen und Phantasien existieren und nicht in der Wirklichkeit. Durch das sorgfältige Achten auf unsere tatsächliche, direkte Erfahrung kann dies jeder von uns unmittelbar sehen. Und wenn wir dies wirklich sehen, sind wir von viel mehr erlöst als den irrationalen Ängsten unserer Kindheitsphantasien. Wir sind dann frei von den tiefen Ängsten und dem großen Schrecken, die die Menschheit erbarmungslos quälen. Jeder von uns kann aus diesen Ängsten erwachen, ohne Zuflucht zu Geschichten und Tricks zu nehmen. Endlich können wir dann sehen, daß es nur eine Illusion war, die uns beunruhigt und verängstigt hat. Wir haben also gesehen, daß das bleibende Selbst oder die Seele, die wir im allgemeinen zu sein glauben, eine Illusion ist, ein Produkt unserer Phantasie. Vielleicht können wir nun auch 144
verstehen, daß wir all die unzähligen Aspekte der Welt auf die gleiche Weise wahrnehmen. Statt den Wind oder die Wellen – oder einen Bach, eine Tasse, ein Buch – als ständigen Fluß zu sehen, der sie sind, stellen wir sie uns als feste, dauerhafte, getrennte, unveränderliche Dinge vor. Wir statten sie auf die gleiche Weise mit einer »Dinghaftigkeit« aus, mit der wir dem Menschen eine Individualität geben. Statt die alles durchdringende Bewegung, den Lauf und das Fließen der Erfahrung zu sehen, stellen wir uns eine riesige Ansammlung von unzähligen getrennten Dingen vor. Kurz gesagt, wir statten alles, was wir außerhalb von uns finden, mit einem Selbst aus. Dann verfallen wir einem weiteren Irrtum. Genauso wie wir uns ein Selbst erschaffen und diesem Begriff ein Nicht-Selbst gegenüberstellen, genauso nehmen wir noch ein anderes Paar von gegensätzlichen Begriffen für bare Münze – Existenz und Nicht-Existenz. Wir werden immer wieder in diesen Gegensatz verwickelt, weil wir nicht bereit sind zu sehen, daß er, genau wie Selbst und Nicht-Selbst, ein Phantom ist, das unser Bewußtsein erschaffen hat. Diese Begriffe (wie alle anderen Begriffe) können die Wirklichkeit einfach nicht einfangen. Buddha drückte dies sehr überzeugend aus: Im allgemeinen neigt die Welt zu zwei Sichtweisen: Existenz und Nicht-Existenz. Für die, die das Entstehen der Welt, wie sie gerade geworden ist, mit rechter Weisheit wahrnehmen, gibt es den Begriff der Nicht-Existenz in der Welt nicht … Für die, die das Vergehen der Welt, wie sie gerade geworden ist, mit rechter Weisheit wahrnehmen, gibt es den Begriff der Existenz in der Welt nicht. Wenn wir einfach nur sehen – wenn wir uns nur auf die Wahrnehmung verlassen, so wie sie ist, ehe irgendeine Vorstellung von einem dauerhaften, unveränderlichen Selbst, 145
das getrennt von allem anderen ist, erscheint –, dann taucht der Begriff der Nicht-Existenz nicht auf. Unser Glaube an die NichtExistenz entsteht nur als Ergebnis des Festhaltens an dem Begriff der Existenz. Nur weil wir so durchdrungen sind von einem Gefühl des »Ich« und der »von mir getrennten Welt« und nur weil wir so sehr daran glauben, erleben wir Verwirrung, Angst und Schrecken. Wenn wir umgekehrt das Vergehen der Welt, wie sie in diesem Augenblick gerade geworden ist, mit rechter Weisheit wahrnehmen, wenn wir die flüchtige Natur aller Dinge sehen, ohne das Gesehene mit Begriffen zu überlagern, dann taucht die Vorstellung von einem fortdauernden Selbst gar nicht auf. Obwohl immer noch Gedanken und Gefühle vorhanden sind, gibt es keine Vorstellung von einem andauernden Selbst – nur geistigen Frieden und Furchtlosigkeit. Es ist gleich, ob wir vom Werden und Vergehen des »Ich« oder der »Welt« sprechen, denn beide Illusionen entstehen gleichzeitig. Wenn wir einfach nur wahrnehmen – ohne Begriffe zu formulieren –, tritt die Vorstellung von einem Selbst oder einer Welt außerhalb des »Ich« nicht auf. Nur wenn wir den Begriff der Existenz akzeptieren, werden wir zu einem der beiden unseligen Extreme vom Glauben an die Ewigkeit oder an das Nichts getrieben oder schwanken zwischen beiden hin und her. Wie Buddha darlegte, kann keine dieser beiden Sichtweisen von tatsächlicher Erfahrung abgeleitet werden. Buddha sagte: »… mit rechter Weisheit wahrnehmen …«, und wir sollten uns klarmachen, daß diese Wahrnehmung uns allen zugänglich ist, gleich jetzt, sofort. Wir nehmen alle das gleiche wahr, ob wir ein Buddha sind oder nicht. Wir alle nehmen Wahrheit und Wirklichkeit jetzt, in diesem Augenblick, wahr. Wenn dies nicht so wäre, würde es keine Hoffnung auf 146
Erwachen geben. Ein gewöhnlicher Mensch ist einfach der, der in diesem Augenblick nicht erwacht ist. Ein Buddha ist ein Mensch, der erwacht ist. Das ist alles. Bei der Sinneswahrnehmung, unserer sinnlichen Erfahrung der Welt, gibt es zwischen einem Buddha und allen anderen keinen Unterschied. Was ist dann der Unterschied zwischen einem Buddha und einem gewöhnlichen Menschen? Er liegt nicht in der Wahrnehmung, sondern im Erkennen. Bei einem Buddha – einem Menschen mit rechter Weisheit – gibt es kein gewohnheitsmäßiges Überlagern der wahrgenommenen Erfahrung mit Begriffen, Ideen, Überzeugungen, Vorstellungen, vorgefaßten Meinungen, mit denen man die Erfahrung erklären will. Wir alle haben die Fähigkeit zu erwachen. Es ist unsere Gewohnheit, die sinnliche Erfahrung – die Wahrnehmung – sofort, ehe wir überhaupt wissen, was wir tun, in Begriffe zu zerteilen. Dann kennzeichnen wir diese Begriffe, sortieren sie und bringen sie in einem ausgeklügelten Gestell unter, an dem wir lange mit Fleiß und Hingabe gearbeitet haben. Ein Buddha dagegen läßt sich auf so etwas nicht ein. Wenn Buddhas etwas in Begriffe fassen (und sie tun das durchaus), dann wissen sie, was sie tun, und lassen sich von ihnen nicht täuschen. Schließlich ist nicht das begriffliche Denken das Problem, sondern unser Hängen daran, wodurch wir unsere Begriffe fälschlicherweise für die Wirklichkeit halten. Die Erwachten haben Gedanken und Vorstellungen, genau wie alle anderen Menschen auch. Im Unterschied zu diesen sind sie sich aber bewußt, daß das, was sie tatsächlich sehen, sich von dem unterscheidet, was sie denken. Buddha nannte diese Bewußtheit rechte Weisheit.
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12 Die Wirklichkeit In unserer Verwirrung könnten wir leicht denken, daß alles, über das ich bis jetzt gesprochen habe, abstrakt und hypothetisch ist und mit dem wirklichen Alltag des Lebens wenig zu tun hat. Das ist ein großer Irrtum, denn es ist genau umgekehrt. Wenn wir die Wahrheit und die Wirklichkeit sehen – das Entstehen und Vergehen der Welt in jedem Augenblick –, dann erkennen wir sofort, daß unser gewöhnliches Denken abstrakt, begriffsbeladen und fern der Wahrheit ist. Die Dinge, die wir gewöhnlich für wirklich halten – wie zum Beispiel das »Ich« –, sind rein begriffliche Vorstellungen und daher von der Wirklichkeit getrennt. Was wirklich und wahr ist, kann ohne irgendwelche abstrakten Gedanken – oder irgendwelche Begriffe – direkt wahrgenommen werden. Wie können wir mit unserer tatsächlichen Erfahrung umgehen, ohne durch sie verwirrt zu werden? Das ist keine rein akademische Frage. Sie hat einen direkten, praktischen Wert, denn was aus unserer Verwirrung entsteht, beeinflußt unser Verhalten gegenüber unseren Mitmenschen, der Erde und uns selbst. Der Buddha-Dharma läßt uns erkennen, daß die Sichtweise unseres normalen Menschenverstandes, unsere grundlegende Vorstellung von uns und der Welt, auf einer großen Illusion beruht. Und er kann uns helfen, genau festzustellen, was das für eine Illusion ist. Es ist wie beim Betrachten des Bildes der Kuh auf Seite 43. Zuerst sieht es nur wie eine merkwürdige Anordnung von weißen und schwarzen Flächen aus; es ergibt überhaupt keinen 148
Sinn. Aber wenn man es weiter betrachtet oder später wieder darauf zurückkommt, erkennt man mit einemmal, was es ist. »He! Ich sehe, was es ist! Es ist eine Kuh!«1 Das ist Sehen. Das ist es, was wir hier lernen. Doch statt das Bild einer Kuh zu erkennen, wollen wir die Wirklichkeit sehen. Das Bewußtsein ist nichts anderes als das Aufteilen der Wirklichkeit in dies und das. Bewußtsein bedeutet, zu unterscheiden und Trennungslinien zu ziehen. Das andere ist »dort«, und ich befinde mich getrennt davon »hier«. Das Bewußtsein teilt die direkte Erfahrung eines nahtlosen Ganzen in die Welt der Vielfalt, in die Welt von Zeit und Raum. (Natürlich scheint es nur so, als würde das Ganze aufgeteilt, denn das Ganze bleibt immer das Ganze.) Aufgrund des Bewußtseins scheint das Universum »dort« zu sein, vollgestopft mit Dingen. Und aufgrund des gleichen Bewußtseins bin ich »hier«. Wir lassen uns auf das begriffliche Denken ein, um die Dinge zu erklären, zu verstehen und Sicherheit zu finden. Vergebens versuchen wir, die Wahrheit irgendwie in Worten auszudrücken. Wir denken, wenn wir sie festnageln können, dann haben wir sie. Doch das, was wir dadurch erlangen wollen – geistigen Frieden, Freiheit von Verwirrung –, geht gerade durch den Versuch, es zu erfassen, verloren. Wie lange werden wir brauchen, um zu sehen, daß wir mit diesem Verfahren nicht weiterkommen? Es ist das ewige Problem – wir lehren unsere Kinder Unsicherheit, Zweifel und Sinnlosigkeit, und das alles im Namen der Wahrheit. So entsteht 1
Die weißen Flächen sind Körper und Kopf, die tiefschwarzen die Ohren und das Maul. 149
Duhkha für uns selbst und für die anderen. Und so geht es weiter, von Generation zu Generation, das Fortbestehen von Gier, Zorn und Unwissenheit. Wir haben unsere Gedanken und Ansichten schön verpackt und umgepackt und wieder neu verpackt und organisieren und ordnen sie ständig um. Aber inzwischen wissen wir, daß wir die Wirklichkeit auf diese Weise niemals berühren dürfen. Die Wirklichkeit erfahren wir im Sehen, in der direkten Wahrnehmung allein. Es sind keine Mittel dazu notwendig. Wahrheit und Wirklichkeit sind durch unsere Gedanken nicht zu finden, gleichgültig, was wir denken. Je mehr wir zwischen unseren Gedanken und Ansichten nach der Wahrheit suchen, desto mehr zweifeln wir daran. Was uns zu schaffen macht, ist gerade dieses Besitzen- und Festhaltenwollen, unser Wunsch, alle Dinge und Gedanken in einen begrifflichen Rahmen einzupassen – und die Begierde und Abwehr, die mit diesem Habenwollen verbunden ist. Alles, was wir begrifflich festhalten können, ist in seiner Gültigkeit von anderen Dingen abhängig, und deshalb sind alle Dinge zweifelhaft und verwirrend. Zweifel ist die Kehrseite von Glauben. Sobald es Glauben gibt, taucht auch der Zweifel auf. Die beiden sind so unzertrennlich wie die Dualität von Selbst und anderen, von Existenz und Nicht-Existenz. In dem Augenblick, da wir eine feste Vorstellung von der Wirklichkeit haben – statt uns auf die direkte Wahrnehmung der Welt zu verlassen –, erzeugen wir unweigerlich Furcht und Angst. Kurz gesagt – Duhkha wird uns nicht aufgezwungen. Wir erschaffen uns unser eigenes Leid und unsere eigene Verwirrung. Wenn wir aufhören, uns von unseren Begriffen und Ansichten, unserem Anhaften und unseren geistigen Neigungen tyrannisieren zu lassen, hören auch unsere Zweifel auf, weil 150
unser Erkennen von nichts anderem mehr abhängt als von unmittelbarer, direkter Erfahrung. Das Sehen erfordert kein Begreifen, keine Sprache und kein Gedächtnis. »Hierin«, sagte Buddha, »ist Erkennen von nichts anderem abhängig.« Hierin liegt die Freiheit. Es kann keine Geheimlehre über Wahrheit und Wirklichkeit geben. Die Wahrheit können alle sehen. Wir sind mit allem Rüstzeug ausgestattet, um zu sehen, gleich jetzt. Der glänzende buddhistische Philosoph Nagarjuna, der im zweiten Jahrhundert in Indien lebte, schrieb: Wer den Unterschied zwischen den beiden Wahrheiten nicht versteht, versteht die tiefe Wahrheit nicht, die in Buddhas Botschaft enthalten ist. Diese beiden Wahrheiten sind die relative Wahrheit und die absolute Wahrheit. Relative Wahrheiten sind die alltäglichen Dinge und Gedanken, die wir bequem besprechen, lehren, verkaufen und in Begriffe packen können. Hierzu gehören auch einfache Tatsachen – ein Meter hat hundert Zentimeter, Orangen enthalten Vitamin C, Mount McKinley liegt in Nordamerika. Aber Maße, Orangen, Felsen, Vögel, Gefühle und Gedanken sind selbst auch relative Wahrheiten. Alle hängen von einer riesigen Vielzahl von anderen Dingen, anderen Begriffen, anderen relativen Wahrheiten ab, um existieren zu können – und diese Existenz ist natürlich eine rein begriffliche. Relative Wahrheiten sind die Vorstellungen, die wir benutzen, um mit der Welt bequem umgehen zu können. Sie helfen uns im täglichen Leben bei einer großen Menge von praktischen Angelegenheiten. Aber je genauer wir sie betrachten, um so 151
weniger real erscheinen sie uns. Trotzdem sind relative Wahrheiten nicht zu vermeiden. Sie sind nicht notwendigerweise böse, schädlich oder falsch, sondern in vielen Fällen sogar sehr nützlich. Um das Tagespensum zu bewältigen, müssen wir Dinge kennen – Telefonnummern, Ladenzeiten, Kartoffelsorten, Saatzeiten, Bruchzahlen, Liebe, Geschwindigkeitsbegrenzungen, wie man die Schuhe bindet. Problematisch wird es nur, wenn wir vergessen, daß alle diese Dinge, Gedanken und Gefühle relativ sind und keine reale, unabhängige Existenz haben. Sie existieren nur im Zusammenhang mit anderen Dingen, Gedanken und Gefühlen. Wenn wir »dieses Buch« sagen, ist das eine relative Wahrheit. Und wie wir bereits gesehen haben: Je genauer wir »dieses Buch« untersuchen, desto weniger bekommen wir es zu fassen, und desto mehr verschwindet die »Wahrheit« dieses Buches wie Morgennebel nach dem Sonnenaufgang. Relative Wahrheiten sind die Ursache, warum wir Kriege führen, warum wir vor Leuten Angst haben, die nicht so sind wie wir, und warum wir über das Problem der Abtreibung debattieren, ohne seiner Lösung näher zu kommen. Die absolute Wahrheit dagegen ist direkte Wahrnehmung und direkt wahrgenommen (im Gegensatz zu vorgestellt) wird, daß kein getrenntes, einzelnes Ding an sich existiert. Es gibt nichts zu erfahren als diese nahtlose, kompromißlose Relativität, dieses Fließen. In anderen Worten, es gibt keine Einzeldinge, sondern nur das Sosein. Die absolute Wahrheit kann nicht in Begriffe gefaßt oder vorgestellt werden. Man kann die absolute Wahrheit überhaupt nicht in seinem Geist festhalten. Man kann sie sehen, aber man kann sie nicht in einen Gedanken verwandeln. Die absolute Wahrheit ist für alle gleich, die sie sehen. Ihr kann nicht widersprochen, sie kann nicht angezweifelt oder 152
herabgesetzt werden, weil sie unmittelbare, direkte Erfahrung ist. Sie hängt von nichts anderem ab. Sie hat kein »anderes«. Was absolut wahr ist, kann nicht im Gegensatz zu irgend etwas anderem stehen. Das können wir tatsächlich sehen. Wir können die absolute Wahrheit und die Wirklichkeit selbst sehen, und tun es faktisch auch, und zwar jetzt in diesem Augenblick. Unser einziges Problem ist, daß wir nicht beachten, was wir sehen. Unwissenheit ist nicht die Unfähigkeit zu sehen, sondern die Nichtbeachtung dessen, was wir wirklich sehen zugunsten dessen, was wir uns vorstellen. Das ist das Wesen der Unwissenheit. Betrachte einmal diese konkave Linie:
Du hältst sie wahrscheinlich für konkav, weil ich sie so bezeichnet habe – und vielleicht auch wegen der Form, die sie hat. Aber an sich ist sie gar nicht konkav, ja man könnte sie ohne weiteres auch als konvex betrachten. Dreh einfach das Buch um, dann erscheint sie konvex. Wenn man eine konkave Linie zeichnet, hat man gleichzeitig auch eine konvexe Linie gezeichnet. Unser Zustand der Unwissenheit ähnelt dem, der nur das Konkave sieht, ohne das Konvexe miteinzubeziehen. Wir vergessen oder übersehen die Tatsache, daß wir in dem Moment, in dem wir einen Begriff erschaffen, auch gleichzeitig einen oder mehrere gegensätzliche Begriffe in die Welt setzen. Jede relative Wahrheit erzeugt gegensätzliche relative Wahrheiten. 153
Und wenn wir die Gegensätze für Wirklichkeit nehmen, verursachen sie unweigerlich Schmerz. Sieh dir die folgende bekannte Zen-Geschichte an: Ein Mönch fragte Tung-Shan: »Wenn Kälte und Hitze kommen, wie können wir sie vermeiden?« »Warum gehst du nicht dorthin, wo es keine Kälte oder Hitze gibt?« fragte Tung-Shan. »Wo gibt es denn keine Kälte oder Hitze?« fragte der Mönch. Tung-Shan sagte: »Wenn es kalt ist, laß die Kälte dich töten. Wenn es heiß ist, laß die Hitze dich töten.« Wenn du das eine anziehst, ziehst du auch das andere an. Wenn du das eine fühlst, fühlst du auch das andere. Wenn du das eine identifizierst, identifizierst du auch das andere – und die ganze äußere Welt, die damit in Verbindung steht. Die Wirklichkeit ist natürlich weder konkav noch konvex, weder kalt noch heiß, weder das Selbst noch das andere. Nur wenn wir die Kälte als getrennt von der übrigen Wirklichkeit auffassen – nicht nur getrennt von der Hitze, sondern auch getrennt von uns selbst –, leiden wir unter ihr. Wir beachten die Ganzheit nicht, weil wir so auf unseren Gegenstand fixiert sind – das Ding, das wir angezogen haben, das Ding, das wir fühlen, das Ding, das wir identifiziert haben. Doch wir erkennen nicht, daß auch das gegenwärtig ist, was unser Gegenstand ist. Durch das Zerstückeln der Wirklichkeit in Teile und das darauffolgende Konzentrieren auf einen einzelnen Teil blenden wir das Ganze aus – und stürzen uns selbst in Verwirrung und Verzweiflung. In einem Bassin oder einer Badewanne, in der das Wasser vor und zurück schwappt, bilden sich gegenläufige Wellen. Diese 154
Art von Bewegung findet ständig in unserem Geist statt, wenn er mit begrifflichen Definitionen beschäftigt ist. Wir schwanken endlos zwischen Verlangen und Abwehr hin und her. Unser verlangender Geist, unsere Einstellungen und Absichten schicken uns hierhin und dorthin, bis wir in Gedanken und Taten von Verhaltensmustern blockiert sind. Das ist Knechtschaft, das ist Duhkha. Wir neigen dazu, nicht zu erkennen, bis zu welchem Ausmaß wir uns sie sogenannte Welt, das Reich der relativen Wahrheiten, zurechtzimmern. Wir legen die Grenzen fest, wir bestimmen die Definitionen. Wir entscheiden, was gut ist, was böse ist, was sein sollte und was nicht sein sollte – und alles gemäß den Neigungen unseres Geistes. Aber wir erkennen selten die völlige Relativität – die totale Sinnlosigkeit – all unserer Definitionen. Wir sehen nicht, daß es gerade unsere Sinnbesessenheit ist, durch die wir Sinnlosigkeit erzeugen. Doch die Verwirrung, die wir in der Welt vorfinden, ist nicht tatsächlich in der Welt. Vielmehr erscheint sie nur als Ergebnis der Mißachtung unserer eigenen tatsächlichen Erfahrung zugunsten der relativen Wahrheit. Was können wir gegen all das tun? Wir können sehen, wie unser Geist schwankt. Und durch das Sehen können wir damit aufhören. Wenn Buddhas die Welt betrachten, sehen sie nichts Festes. Sie sehen kein Selbst. Sie sehen nur ständigen Wechsel. Das heißt nicht, daß die Erwachten keine Form mehr sehen, wie der Rest von uns. Das tun sie sehr wohl. Aber sie sehen, daß die Form – oder besser das »Formhafte« – trügerisch ist. Sie sehen, daß alle Dinge zusammen entstehen. Sie sehen, daß die sichtbare Existenz eines Dings von all dem abhängt, was es nicht ist. Und sie sehen, daß diese Abhängigkeit nichts anderes ist als wieder Veränderung und Bewegung. 155
Buddha nannte dieses Phänomen das »bedingte Entstehen«. Bedingtes Entstehen könnte man auf die Formel bringen: Wenn dies entsteht, entsteht auch jenes. Wenn die Tage länger werden, blühen die Frühlingsblumen. Wenn die Tage kürzer werden, erscheinen die Herbstfarben, und die Blätter fallen von den Bäumen. Die Frühlingsblumen sind von den länger werdenden Tagen nicht zu trennen. Herbstfarben sind von den Tagen mit immer weniger Licht nicht zu trennen. Tatsächlich sind die Frühlingsblumen die längeren Tage. Herbstfarben sind die kürzeren Tage. In Wirklichkeit wirken alle Phänomene zusammen als ein nahtloses Ganzes. Das bedingte Entstehen hat nichts Vages, Mystisches, Abgehobenes, Intellektuelles an sich. Der Buddha-Dharma ist sehr praktisch und nüchtern. Achte einfach sehr genau auf deine tatsächlichen Erfahrungen, und du wirst es selbst sehen. Obwohl die Welt anscheinend mit einer Vielzahl von Formen angefüllt ist, hat sie als Ganzes keine Absichten, keine Neigungen, keine Vorlieben wie wir. Das Ganze erzeugt die sichtbaren Formen und Muster auf eine Weise, wie es unser gewolltes Tun nicht kann. Das Fallen eines Blattes vom Baum, das Fließen eines Baches, das Geräusch und die Bewegung des Windes – all dies ist natürlich, mühelos, wunderbar, zutiefst lebendig. Und all das ist absichtsloses Tun. Absichtsloses Tun wird mit der Zeit ein natürliches Muster von Blättern auf dem Gras erzeugen. Gewolltes Tun nicht. Gewolltes Tun – Handlungen, die von unserem gewöhnlichen, verlangenden und abwehrenden Geist ausgeführt werden –, beruht auf Illusionen, auf Begriffen. Es entsteht durch den Glauben, daß »dies« und »jenes« real, fest und prinzipiell getrennt ist – eine Annahme, die den Weg für den Einsatz des Willens ebnet. Aber das Ganze hat keinen Willen. Es hat keine Vorlieben und 156
Abneigungen. Dies bedeutet nicht, daß wir unfähig sind, auf natürliche Weise zu handeln. Wir alle sind dazu fähig. Und genau das ist es, was ein Buddha tut – er handelt aus dem Ganzen heraus. Unser chronisches Problem hat mit Absicht zu tun. Da wir das Ganze nicht beachten, beeindrucken uns nur die Teile. Wir werden von den Gegenständen unseres Bewußtseins – unseren Vorstellungen – verlockt, und durch Begehren und Abwehren, durch Gier und Zorn beginnt unser Geist, sich den Dingen zuzuneigen oder sich von ihnen abzuwenden. Das ist Duhkha. Es gibt einen Ausweg aus diesem Dilemma. Es handelt sich einfach darum, den eigenen Geist zu beobachten und zu erkennen, wann er anfängt, etwas zu verlangen oder abzulehnen. Weiter vorn haben wir uns vorgestellt, wie ein Blatt von einem Baum fällt. Wir sahen, wie es in einem Muster von Blättern auf dem Boden landete. Während dies ein Muster ist, das wir nicht durch einen einfachen Willensakt wiederholen können, hat die Natur überhaupt keine Schwierigkeiten, zufällige Muster zu erschaffen. Wer kontrolliert das Legen der Blätter auf eine äußerst zufällige Art und Weise und erschafft ein Muster, das so auffallend schön ist? Das Ganze natürlich. Wir können nicht alle Einzelheiten des Ganzen kennen. Wenn wir zum Beispiel alles über das Wettersystem auf der Erde wüßten, wären wir in der Lage, das Wetter für einen längeren Zeitraum genau vorauszusagen. Aber dazu müßten wir jedes kleinste Detail wissen, bis hinunter zur Position und Bewegung jedes Atoms – und natürlich ist das unmöglich. Natürliche Systeme wie das Wetter unseres Planeten sind immer eine Funktion des absichtslosen Ganzen, und werden es immer sein. Obwohl wir die Einzelheiten des Ganzen nicht kennen können, steht doch fest, daß wir – jeder von uns – bereits das Ganze an sich kennen. Es ist nichts Geheimnisvolles an der Wirklichkeit – dem Sosein –, in keiner Weise. Es ist immer gegenwärtig, klar 157
und offensichtlich. Statt daß wir versuchen, zu verstehen, zu sehen und uns mit dem Ganzen wiederzuvereinigen, brauchen wir nur zu beobachten, ob in unserem Geist Verlangen oder Ablehnung entstehen. Wenn du feststellst, daß dein Geist sich in Verlangen und Ablehnung verwickelt – sich den Dingen zuwendet oder sich von ihnen abwendet –, dann versuch nicht, ihn davon abzubringen. Wie wir gesehen haben, ist der Versuch, einen verlangenden oder ablehnenden Geist daran zu hindern, Verlangen oder Ablehnung zu zeigen, nur eine andere Form von Verlangen. (»Ich möchte wirklich keinen verlangenden Geist haben.«) Sei dir einfach bewußt, daß dein Geist etwas verlangt oder ablehnt, und erkenne, was das Verlangen des Geistes wirklich ist. Durch Übung und das Achten auf den gegenwärtigen Augenblick wird sich dein Geist wie von selbst den Dingen weniger zuneigen. So natürlich wie ein Blatt in den Garten fällt, so natürlich wird sich dein Geist aufrichten und mit dem universalen Geist harmonisieren – das heißt mit dem Ganzen. Zu sehen bedeutet nicht ein Programm der Untätigkeit zu beginnen. Die Leute verstehen das oft falsch. Zu handeln oder nicht zu handeln – das ist nicht die Frage. Die Frage ist, ob wir erwacht sind oder nicht. Wir können nur folgendes tun: sehen, was in jedem Augenblick geschieht, und unsere Handlungen nach dem ausrichten, was wir sehen, und nicht nach dem, was wir denken. Wie Huang-po sagte: Die Dummen verwerfen, was sie sehen, nicht was sie denken. Die Klugen verwerfen, was sie denken, nicht was sie sehen.
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Wenn wir tatsächlich sehen, was geschieht, wenn wir die natürliche Ordnung der Dinge sehen – wie die Dinge untereinander verbunden sind und wie sich die Ereignisse entfalten –, werden wir aufhören, unter Mißachtung der Wirklichkeit zu handeln. Vergiß dich selbst. Erkenne, wohin dein Geist sich neigen will. Alles, was wir brauchen, ist schon da. Wir müssen nur aufhören, in schmerzhafter Unwissenheit darüber zu leben. Vergiß diese Worte und fang an zu beobachten, wohin dein Geist sich wendet – ob er Vorlieben zeigt, Berechnungen anstellt, etwas erreichen oder etwas abwehren will. Die Befreiung des Geistes entsteht nicht durch ein Handeln aus dem Verlangen, es richtig zu machen oder Gutes zu tun. Das ist nur wieder ein neuer Weg zu Duhkha. Unsere Handlungen sollten vielmehr nur durch unser Verlangen, wach zu sein, entstehen. Unser Leben ist wie ein schiefes Rad. Es befriedigt uns nicht. »Es gibt da etwas, das ich unbedingt haben muß. Und dann ist da noch etwas, das ich unbedingt von mir fernhalten muß.« Das ist Knechtschaft – dieses Habenwollen, dieses Verlangen, dieses Sehnen nach etwas außerhalb von uns. Sie entsteht durch die trügerische Vorstellung, daß unser Selbst getrennt und real ist. Wir haben im Leben nur die Wahl, wach zu sein oder nicht. Unsere Aufgabe ist es zu sehen, wo die Dinge keinen Sinn ergeben, wann die Dinge nicht funktionieren, wo das Leben äußerst verwirrend ist. Wir müssen den tiefen Schmerz, den wir im Herzen spüren, beachten und feststellen, was es ist, das wir nicht wissen. Wir müssen unsere Unwissenheit und Verwirrung erkennen. »Dort draußen« gibt es nichts, was uns letzten Endes befriedigt. »Dort draußen« gibt es nichts, was wir haben oder 159
zurückweisen müssen. Tatsächlich gibt es überhaupt kein »dort draußen«. Nichts tritt in den Geist ein oder verläßt ihn. Wenn wir einmal erkannt haben, was in einem verlangenden oder ablehnenden Geist wirklich vor sich geht, sehnen wir uns nicht länger nach den Dingen, die für uns in unserer Unwissenheit eine so große Anziehungskraft besaßen. Wir hören auf, in Duhkha zu stürzen, mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, mit der wir auch die Hand nicht in eine Flamme halten. Wir hören auf, etwas zu tun, das schmerzlich ist, weil wir es sehen. Wenn dein Geist nicht mehr voll Verlangen oder Abneigung ist, ist er nichts anderes als der universale Geist. Achte auf die unmittelbare Erfahrung. Übe deinen Geist in Meditation. Werde vertraut mit dem Funktionieren, mit dem Verlangen und Ablehnen deines eigenen Geistes. So wird dir eine große Menge Elend erspart bleiben, und schließlich wirst du wahre Freiheit erfahren. Öffne dein Auge der Weisheit und sieh einfach die Wirklichkeit.
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EPILOG SEID EUCH SELBST EIN LICHT Als der Tod nahte, sagte Buddha zu den um ihn Versammelten: Jeder von euch sei sich selbst ein Licht. Sucht eure Rettung nicht in einer äußeren Zuflucht. Haltet an der Wahrheit fest. Sucht bei niemandem Zuflucht außer bei euch selbst. Du wirst das, was den Herz-Geist befriedigt, in keinem Buch finden, in keiner Lehre. Du wirst es nicht einmal in dem finden, was Buddha lehrte. Du wirst die Wahrheit nicht von Buddha bekommen oder von einem ehrwürdigen Zen-Meister oder Lama, von einem Priester, einem Mönch oder einer Nonne, von einem Lehrer oder Guru. Du wirst die Wahrheit – die den tiefsten Schmerz des Herzens stillt – nicht von irgend jemand anderem erhalten. Der einzige Weg, die Wahrheit zu sehen, ist festzustellen, ob es Verlangen oder Ablehnung in deinem Geist gibt. Wenn dein Geist voll Verlangen oder Ablehnung ist, liegt der Grund darin, daß du »dort draußen« irgend etwas siehst, das von dir getrennt ist. Er verliert sich in Gedanken und Vorstellungen. Er wird von der direkten Erfahrung abgelenkt. Stell fest, was dein Geist jetzt tatsächlich tut. Es erfordert keinen besonderen Aufwand, dies zu tun. Du bist bereits mit allem Notwendigen dazu ausgerüstet. Du brauchst nicht irgendwohin zu gehen oder irgend etwas Besonderes zu tun. Es genügt, wenn du die Absicht hast, einfach zu sehen. Das ist alles. 161
Zu erwachen bedeutet nicht, eine Vorstellung vom Erwachen zu haben. Du kannst das Erwachen nicht üben. Und du kannst es nicht vortäuschen oder imitieren. Du mußt tatsächlich erwachen wollen. Du bist derjenige, auf den du zählen kannst. Du bist nicht von anderen abhängig. Alles, was du brauchst, ist jetzt da. Verlaß dich nur auf das So – die unmittelbare, direkte Erfahrung. Du bist die letzte Autorität. Ob du erwachst oder nicht, hängt allein von dir ab.
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ANHANG BEDINGTES ENTSTEHEN Buddhas Lehre darüber, wie Unwissenheit und Absicht durch eine zwölffache Kette mit Duhkha verbunden sind, wird bedingtes Entstehen (Pratitya-Samutpada) genannt. Buddha sagte: Bedingt durch Nicht-Wissen entstehen Tatabsichten; bedingt durch Tatabsichten entsteht Bewußtsein; bedingt durch Bewußtsein entstehen Geist und Körper; bedingt durch Geist und Körper entstehen die sechs Sinne; bedingt durch die sechs Sinne entsteht Berührung; bedingt durch Berührung entsteht Empfindung; bedingt durch Empfindung entsteht Gier; bedingt durch Gier entsteht Ergreifen; bedingt durch Ergreifen entsteht Sein; bedingt durch Sein entsteht Geburt; bedingt durch Geburt entstehen Alter und Tod, Kummer, Klage, Leid, Schwermut und Verzweiflung. So entsteht die ganze Ansammlung von Leid. Durch das vollständige Verblassen und Aufhören von NichtWissen hören jedoch die Tatabsichten auf; durch das Aufhören von Tatabsichten hört Bewußtsein auf; durch das Aufhören von Bewußtsein hören Geist und Körper auf; durch das Aufhören von Geist und Körper hören die sechs Sinne auf; durch das Aufhören der sechs Sinne hört die Berührung auf; durch das Aufhören von Berührung hört das Empfinden auf; durch das Aufhören von Empfinden hört die Gier auf; durch das Aufhören der Gier hört das Ergreifen auf; durch das Aufhören von Ergreifen hört das Sein auf; durch das Aufhören von Sein hört die Geburt auf; durch das Aufhören von Geburt hören Alter und Tod, Kummer, Klage, Leid, Schwermut und Verzweiflung auf. Und so hört die ganze Ansammlung von Leid auf, Buddha beschrieb diese Kette in Ausdrücken von Bindung und 163
Befreiung. Bindung ist das Festhalten an irgendeinem Glied dieser Kette (und damit an der ganzen Kette); Befreiung ist das Loslassen der Kette. Dieses Loslassen geschieht durch Sehen. Mit dieser Lehre zeigt Buddha auf, was unsere tatsächliche Erfahrung ist – daß alle Dinge zusammen entstehen oder abhängig voneinander sind. Nichts erscheint allein; alles, was wir erfahren, erscheint im Zusammenhang mit anderen Dingen und vor dem Hintergrund anderer Dinge, die voneinander abhängig sind und einander bedingen. Eine wörtliche Übersetzung von Buddhas Worten wäre: »Wenn dieses wird, wird das.« Anders ausgedrückt: Buddha sprach nie von den Dingen, wie sie sind, da dies gerade die Täuschung ist, an der wir in erster Linie leiden. Er sprach von den Dingen, wie sie werden, in diesem Augenblick, abhängig von anderen Dingen. Wenn die Sonne aufgeht, wird es Tag. Buddha würde uns auch daran erinnern, daß diese beiden Dinge immer zusammen auftreten. Sonnenaufgang und Tagesbeginn sind nicht zwei einzelne Phänomene, sondern unlösbar miteinander verbunden. Im täglichen Leben ist jedoch die Vorstellung, daß alle Dinge eng miteinander verbunden sind, für uns ganz und gar nicht offensichtlich. Diese Unwissenheit ist es, die uns in Knechtschaft hält. Die zwölffache Kette, von der Buddha sprach, ist keine Progression durch Zeit oder Raum, als ob Glied eins zu Glied zwei führte und so weiter. Wenn man irgendein Glied ergreift, hat man vielmehr die ganze Kette – nicht in einer zeitlichen Folge, sondern alle auf einmal. In der Tabelle auf Seite 217 ff. wird die Kette als eine gerade Linie dargestellt, die von Glied eins bis Glied zwölf reicht. Ich habe sie auf diese Weise dargestellt, um sie leichter lesbar und verständlich zu machen. Aber ein wirklich genaues Bild würde die zwölf Glieder in einem Kreis anordnen, wie die Zahlen auf 164
dem Zifferblatt einer Uhr. Sehen wir uns diese Kette im einzelnen an. Wir fangen mit Nicht-Wissen an, das als erstes Glied betrachtet wird. NichtWissen ist wie ein schwarzes Loch, das alles in sich einsaugt, sogar die Helligkeit. Deshalb können wir es nicht sehen, zumindest nicht direkt. Eines der charakteristischen Merkmale von Nicht-Wissen ist daher, daß wir von unserem Nicht-Wissen nichts wissen. Dies verschlimmert unsere mißliche Lage noch. Es gibt zwei Arten von Nicht-Wissen: Blindheit und Selbsttäuschung. Blindheit ist das Nicht-Wissen der grundlegenden Tatsachen der Existenz: Unbeständigkeit, Leiden (Duhkha) und Selbstlosigkeit. (Buddha nannte dies die »drei Merkmale der Existenz«.) Selbsttäuschung ist unser Glaube, daß wir intellektuell wissen können, was die Dinge sind. »Oh! Das ist Wasser«, sagen wir, »Wasserstoff und Sauerstoff.« Und damit geben wir schon die direkte Erfahrung des Augenblicks auf. (Aber wenn du wirklich wissen willst, was Wasser ist, trink es einfach oder mach im Regen einen Spaziergang oder geh schwimmen.) Kurz gesagt, wir sind einfach verwirrt über den jetzigen Augenblick. Wie Huang-po sagte, verwerfen wir in unserer Unwissenheit die tatsächliche Erfahrung zugunsten dessen, was wir denken. Dadurch bauen wir in unserem Denken ein Selbst auf und sehen Beständigkeit, wo keine ist. Wenn wir statt dessen auf den Augenblick selbst achteten, würden wir sehen, daß nichts als getrennte Einheit entsteht, andauert oder vergeht. Das können wir wirklich wissen – aber wir achten nicht darauf und leiden dadurch sehr. Jeder Augenblick ist in sich selbst vollkommen. Nichts fehlt in diesem Augenblick. Wenn wir jeden Augenblick tatsächlich so sehen könnten, wie er ist, dann würden wir allen Raum und alle Zeit als nichts anderes als das Hier und Jetzt sehen. 165
Durch die Nichtbeachtung des Soseins – unserer tatsächlichen Erfahrung –, ruht der Geist nicht länger still in der Ganzheit, sondern beginnt zu verlangen. Buddha nannte das Tatabsichten. Sie bilden das zweite Glied der Kette. Jede Handlung, die aus solchem Geist kommt, ist gewollt. (Siehe auch rechte Seite, »Die Absicht bei einer Handlung«.) Die Absicht bei einer Handlung Um die Natur der gewollten Handlung zu verstehen und zu erkennen, wie sie uns an Duhkha bindet, müssen wir zuerst das Wesen der Handlung oder ihre Bewegung im allgemeinen betrachten. Wenn ich einen Ball werfe, wird er sich mit derselben Geschwindigkeit und in derselben Richtung weiterbewegen, in der ich ihn geworfen habe, ohne seine Flugbahn zu ändern oder innezuhalten, außer eine andere Kraft wirkt auf ihn ein. Dies wäre offensichtlich, wenn wir uns im Weltraum befänden. Aber auf der Erde fällt der Ball natürlich einfach auf den Boden und rollt aus. Der Grund ist die Kraft der Erdanziehung, die auf ihn einwirkt. Das ist einfache Physik. Wenn wir sehen, wie der Ball aufprallt und ausrollt, neigen wir jedoch dazu zu glauben, daß die Bewegung zu Ende ist. Aber nur der Ball liegt ruhig da. Die Aktion, die wir unternahmen, hat ganz und gar nicht aufgehört. Beim Aufschlagen stieß der Ball auf die Erde und das Gras und verwandelte seine Bewegungsenergie in Wärme. Obwohl der Ball nun ruhig daliegt, ist die Energie, die ihn bewegt hat, noch da. Sie ist in Wärme verwandelt worden und hat sich zerstreut. Sie wird sich weiter zerstreuen, aber nicht verschwinden. Der springende Punkt ist, daß Energie oder Aktion überhaupt nicht aufhört. Niemals. In zahllosen Verwandlungen besteht sie einfach immer weiter und weiter. So sind alle Dinge. Nichts hört auf. Das ist das 166
Wesen der Wirklichkeit. Das ist tatsächlich das Wesen des ganzen Geistes – reine, endlose Bewegung. Aber das ist der Punkt, an dem es kritisch wird. Wir könnten glauben, daß wir mit dem Werfen eines Balles eine Handlung anfangen, aber dies ist nur ein willkürlicher Punkt in einem Handlungsablauf ohne Anfang. Es ist wichtig zu verstehen, daß ein Handlungsablauf oder eine Bewegung oder Energie, die sich vorübergehend manifestiert wie zum Beispiel in einem geworfenen Ball, keinen erkennbaren Anfang hat. Erkennbar ist allerdings, wenn die Absicht in einen Handlungsablauf eingreift. Für einen Erwachten verändert sie das Bild qualitativ, und diese Veränderung ist total. Das ist der Unterschied zwischen Freiheit und Knechtschaft, wie sie Buddha definiert. Einfach ausgedrückt, ist gewolltes Handeln von ungewolltem oder natürlichem Handeln radikal verschieden. Wir handeln gewohnheitsmäßig mit Absicht, aufgrund eines verlangenden oder ablehnenden Geistes. Die Natur, die aus dem Ganzen heraus handelt, tut dies nicht. Gewöhnlich sehen wir die Dinge außerhalb von uns und versuchen, sie zu bekommen. Unser Geist ist deshalb charakterisiert durch Teilung und Trennung. Aber das Ganze funktioniert anders. Für den Geist des Universums gibt es »dort draußen« nichts, dem er sich zuneigen oder von dem er sich abwenden könnte. Deshalb sind die Handlungen des universalen Geistes – des Ganzen oder der Natur – dem Wesen (wenn auch nicht immer dem Anschein) nach von den Taten des menschlichen Willens verschieden. Die Natur handelt aus dem Ganzen heraus, ohne jede Anstrengung oder Absicht. Durch unzählbare Umwandlungen besteht das Ganze fort als Aktion und Reaktion ohne Anfang 167
und Ende. Die Absicht mischt sich in den natürlichen Fluß der Handlung ein und versucht, sie zu kontrollieren. Dies ist die Quelle von Duhkha. Wenn ein Geist in seiner Unwissenheit sich etwas »dort draußen« vorstellt, neigt er sich ihm zu oder wendet sich davon ab. Diese Tendenz des Geistes schließt Unterscheidung mit ein, das nächste Glied der Kette. Dieses dritte Glied ist auch bekannt als Bewußtsein. Das Bewußtsein spaltet die Wirklichkeit. Es faßt sie in Begriffe, verpackt sie und erklärt sie sich selbst. Dann glauben wir in unserer Unwissenheit, daß es die Dinge »dort draußen« deutet. Manchmal wird das Bewußtsein im Buddhismus als Affe in einem Baum voll Blüten dargestellt. »Oh! Ich pflücke die und die und die auch.« Beim Bewußtsein gibt es dies und jenes und dann das nächste. Die Welt wird ständig in verschiedenster Weise aufgeteilt. Entsprechend unserer alltäglichen Sichtweise glauben wir, daß die Welt dort draußen ist, getrennt und dauerhaft, und wir halten das Bewußtsein für eine Art von vereinender Kraft, eine Verbindung der Stücke oder Teile. Mit einer solchen Sichtweise nimmt dein Bewußtsein dieses Buch auf – visuell, greifbar und sogar hörbar, wenn du eine Seite umblätterst. Bei erwachten Menschen ist das Bild genau umgekehrt. Was tatsächlich erfahren wird, ist immer das nahtlose Ganze. Das Bewußtsein unterteilt es. Und natürlich ist die grundlegendste Teilung die in »ich« und »alles andere«, in Selbst und anderes. Das Bewußtsein unterteilt die Welt nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich. Deshalb stellen wir uns Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor und die Beharrlichkeit von getrennten Objekten. Bewußte Erfahrung ähnelt sehr einem Film. Sie ist nur ein Augenblick – ein statisches Bild, eins nach dem anderen. Doch 168
da sich diese Bilder in rascher Folge abzuspielen scheinen, kommen wir zu der in sich widersprüchlichen Überzeugung, daß es dort draußen einzelne beständige Dinge gibt, die sich trotzdem verändern. Aus diesem Grund nannte Buddha dieses Glied auch das »Wiedergeburtsbewußtsein«, denn es gibt uns das Gefühl, daß Gegenstände beständig sind und Augenblick für Augenblick wiedergeboren werden. Glied vier, Geist und Körper, und Glied fünf, die sechs Sinne, umfassen die Täuschung, daß wir selbst einzelne, beharrliche Dinge sind. Jeder von uns begreift sich als einen einzelnen Körper und stellt sich dann vor, daß dieser Körper ein besonderes Bewußtsein trägt. Dazu gehören die Sinne und die Organe, die mit ihnen verbunden sind. Gemäß den buddhistischen Lehren gibt es sechs Sinne: die fünf, die wir bereits kennen, und den Geist. Jeder Sinn ist mit einem Sinnesorgan verbunden: die Augen mit dem Sehen, die Ohren mit dem Hören, die Nase mit dem Geruch, die Zunge mit dem Geschmack, der Körper mit dem Berühren und der Geist mit den Gedanken. Wenn wir uns die Dinge als »dort draußen« vorstellen und dazu einen dauernden Körper und Geist als »hier« und eine Reihe von Sinnesorganen, um die Kluft zwischen den beiden zu überbrücken, haben wir die Illusion eines Kontakts oder einer Verbindung. Dies ist Glied sechs, die Berührung. Von unserem gewöhnlichen, verblendeten Standpunkt aus glauben wir, daß wir mit einer Welt »dort draußen« verbunden sind. Der große Zen-Meister Pai-chang sagte: »Wenn du erkennst, daß es keine Verbindung zwischen deinen Sinnen und der äußeren Welt gibt, wirst du auf der Stelle erleuchtet sein.« Es kann keine Verbindung geben, weil es keine getrennten Dinge gibt, die verbunden werden müssen. Es ist möglich, direkt zu erfahren, was Pai-chang hier beschreibt. Auf diese Weise zu sehen ist äußerst befreiend. 169
In unserer Verblendung – unserem Gefühl, daß wir mit den Dingen dort draußen verbunden sind – reagieren wir emotional. Das ist das siebte Glied, die Empfindung. Bedingt durch unsere Gefühle entstehen Glied acht und neun, Gier und Ergreifen. Dies ist das Bedürfnis, gewisse Gegenstände »dort draußen« zu ergreifen und näher herzuholen und andere auf Entfernung zu halten oder wegzuschieben. Mit der Gier kommt das Ergreifen, das neunte Glied der Kette. Wir wollen behalten, was wir lieben, aber auch das ergreifen, was wir nicht mögen und es von uns wegschleudern. Es gibt zwei Formen des Ergreifens. Die eine ist das Ergreifen von sinnlichen Objekten. Man sieht den Gegenstand des Verlangens und ergreift ihn. Die andere Art des Ergreifens ist das Festhalten an einem Glauben. Buddha erkannte drei übliche Arten des Glaubens: Bei dem ersten handelt es sich darum zu glauben, daß es etwas außerhalb von uns gibt, das alles in Ordnung bringen und alles perfekt machen wird – ein Himmel oder Paradies. Selbst die nihilistische Sichtweise, daß »nachdem ich tot bin, alles vorbei ist«, ist immer noch eine Form von Anhaften an solch einem Glauben. Das Hängen an einem Gedanken oder einer Meinung paßt in diese Kategorie, da dieses Ergreifen ein Versuch ist, unserer Existenz einen Sinn zu geben. Eine zweite Art des Glaubens ist die Überzeugung, daß Rituale oder Zeremonien uns irgendwie vor Leid, Verwirrung und Nicht-Wissen bewahren können. Nur indem wir lernen, jeden Augenblick so zu sehen, wie er ist und wie er geworden ist, geschieht Befreiung – nicht, indem wir Roben tragen oder Rituale ausführen. Der dritte Glaube, an den wir uns klammern, ist der Glaube an ein Selbst, eine permanente Existenz. Dies ist der Glaube, der am tiefsten in uns verwurzelt ist und am meisten Leid verursacht. 170
Jetzt kommen wir zum zehnten Glied, dem Sein oder der beharrenden Existenz. Dies wiederum verbindet uns mit NichtWissen, da in Wirklichkeit nichts beharrt. Aber mit dem Sein erscheint Geburt, das elfte Glied, und mit der Geburt kommt der Tod, das zwölfte Glied. Auf diese Weise sind Geburt und Tod, die großen Fragen, denen wir uns alle gegenübersehen, mit dem Ergreifen des Selbst verbunden. Das ist Duhkha in seiner bittersten und universellsten Form. Doch Duhkha muß uns nicht in seiner Gewalt behalten. Zu sehen, wie dieser Augenblick entsteht – zu sehen, daß alles unbeständig ist, daß nichts Getrenntes geboren wird und nichts stirbt –, bedeutet, die Kette der Knechtschaft zu zerreißen.
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TABELLE: ZWEI SICHTWEISEN DER KETTE DES BEDINGTEN ENTSTEHENS
Gefangenschaft Das Nicht-Erkennen des gegenwärtigen Augenblicks. Blindheit gegenüber der direkten Wahrnehmung, daß dieser Augenblick weder entsteht, bleibt noch vergeht.
Labilität des Geistes, verursacht durch Nicht-Wissen, so daß Verlangen des Geistes entsteht. Alle Handlungen, die durch einen solchen Geist entstehen, sind gewollt.
1 Nicht-Wissen
2 Tatabsichten
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Befreiung Das Sehen des gegenwärtigen Augenblicks. Die direkte Wahrnehmung, das der gegenwärtige Augenblick weder entsteht, beharrt noch vergeht.
In keinem Objekt des Geistes wird Substanz gesehen. Daher neigt der Geist sich weder den Dingen zu, noch wendet er sich von ihnen ab. Alle Handlungen, die durch einen solchen Geist entstehen, sind
Der Geist nimmt die Objekte als getrennt wahr und sieht sie als von Augenblick zu Augenblick weiterbestehend.
3 Bewußtsein
Gefangenschaft Als Träger des Bewußtseins werden ein getrennter, beständiger Geist und Körper gesehen. Dadurch wird zwischen Subjekt und Objekt unterschieden.
ungewollt. Alle Gegenstände des Geistes werden als vorübergehend und bedingt erkannt.
Befreiung Es wird kein 4 beständiger Geist Geist und oder Körper Körper - kein Subjekt – gesehen, da es in der Wahrnehmung keine getrennten und dauerhaften Objekte des Geistes gibt. Die Die Welt der Objekte 5 des Geistes wird als Die sechs Sinneswahrnehmu ngen werden Sinne außerhalb von Körper allein als Funktion und Geist gesehen, des Geistes aufgenommen durch erkannt. Die die Fenster der Sinne. Gegenstände des Geistes sind niemals außerhalb des Geistes, sondern sind immer der Geist selbst. Es herrscht die Vorstellung, Es wird erkannt, 6 daß das Subjekt durch Berührung daß es weder eine 173
Sinneswahrnehmungen Kontakt mit einer objektiven, äußeren Welt aufnimmt. Man reagiert emotional auf die Objekte des Geistes und bleibt isoliert von ihnen.
Gefangenschaft Es wird Verlangen und Ergreifen erlebt, da die Gegenstände des Geistes als getrennt vom »Ich«, dem Subjekt, erfahren werden.
Man ergreift, was »dort draußen« erscheint. Es ist der hoffnungslose Wunsch, daß der gegenwärtige Augenblick entweder verschwindet oder andauert.
7 Empfindung
8 Gier
9 Ergreifen
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Verbindung noch eine Trennung zwischen den Sinnen und einer Welt außerhalb des Geistes gibt. Man wird von den Emotionen nicht überwältigt. Da nichts als außerhalb des Geistes wahrgenommen wird, kommt das Empfinden immer vom Innersten her. Befreiung Man will nichts. Da nichts als außerhalb wahrgenommen wird, gibt es nicht das Gefühl, daß etwas fehlt. Man erkennt, daß alle Erfahrungen äußerst unbeständig sind. Sie können daher nicht ergriffen oder besessen werden und flößen keine Angst ein.
10 Man hat die Vorstellung, daß das Selbst und das andere Sein beständig sind, und glaubt an ihre Existenz. Man hat die Vorstellung und 11 den Glauben, daß alle Wesen Geburt geboren werden. Man hat die Vorstellung und 12 den Glauben, daß alle Wesen Tod sterben werden. Duhkha
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Man sieht alles als Strom.
Man erkennt, daß nichts geboren wird. Man sieht, daß und nichts stirbt.