Gabriele Faßauer Arbeitsleistung, Identität und Markt
Gabriele Faßauer
Arbeitsleistung, Identität und Markt Eine Ana...
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Gabriele Faßauer Arbeitsleistung, Identität und Markt
Gabriele Faßauer
Arbeitsleistung, Identität und Markt Eine Analyse marktförmiger Leistungssteuerung in Arbeitsorganisationen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Bettina Endres VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15950-8
Inhalt
Abbildungsverzeichnis ..................................................................................... 9 1 Einleitung .................................................................................................. 11 1.1 Problemskizze ........................................................................................ 11 1.2 Zielstellungen und Aufbau der Arbeit .................................................... 21 2 Subjektive Identität, Anerkennung und Anomie ................................... 25 2.1 Einordnung und wesentliche Facetten subjektiver Identität ................... 25 2.2 Die Konstitution subjektiver Identität - theoretische Grundlagen .......... 2.2.1 Die Sozialpsychologie von George Herbert Mead ........................... 2.2.2 Symbolvermittelte Interaktion und Entwicklung von Identität ........ 2.2.2.1 Erwerb von Selbstbewusstsein ................................................... 2.2.2.2 Die Sozialisationsstufen von „play“ und „game“ ....................... 2.2.2.3 „I“ und „Me“ als Dimensionen der subjektiven Identität ........... 2.2.2.4 Anerkennung als Medium einer gelingenden Identitätsbildung . 2.2.3 Subjektive Identität und moderne Gesellschaftsform ....................... 2.2.3.1 Individualisierung durch gesellschaftliche Differenzierung ....... 2.2.3.2 Individualisierung und Meads Identitätskonzeption ...................
30 30 32 32 34 38 41 44 45 50
2.3 Zusammenfassende Darstellung ............................................................. 52 2.3.1 Identitätskonzeption nach George Herbert Mead ............................. 53 2.3.2 Definition von Identität und Identitätsbildung ................................. 55 2.4 Identitätsbedrohende Anerkennungsmuster und Anomie ....................... 2.4.1 Veränderte, unbestimmte und rigide Anerkennungsmuster ............. 2.4.2 Der Charakter anomischer Anerkennungsmuster ............................. 2.4.2.1 Anomie - Hintergrund und Abriss zur Forschungstradition ....... 2.4.2.2 Durkheims und Mertons Konzeptualisierung von Anomie ........ 2.4.2.3 Kritik und identitätstheoretische Verknüpfung ..........................
57 58 65 66 68 73
2.5 Zusammenfassung .................................................................................. 79 5
3 Leistung in modernen Gesellschaften - Charakteristika und Bedeutung für Identität ........................................................................... 83 3.1 Wesentliche Facetten des Leistungsbegriffes ......................................... 83 3.1.1 Der „schillernde“ Leistungsbegriff ................................................... 84 3.1.2 Die formalen Elemente von Leistung ............................................... 87 3.2 Leistung - Medium der Anerkennung in modernen Gesellschaften ....... 93 3.2.1 Moderne Gesellschaften als Leistungsgesellschaften ....................... 93 3.2.1.1 Merkmale von Leistungsgesellschaften ...................................... 94 3.2.1.2 Historische Impulse der Entwicklung ........................................ 95 3.2.1.3 Leistung in Organisationen - Entwicklung zur Kollektivnorm .. 98 3.2.2 Die Bedeutung des Leistungsprinzips ............................................ 101 3.2.2.1 Allgemeine Funktionen des Leistungsprinzips ......................... 102 3.2.2.2 Organisationsbezogene Funktionen .......................................... 103 3.2.2.3 Funktionen für das Organisationsmitglied ............................... 104 3.2.3 Leistung und Leistungsprinzip - Bedeutung für Identitätsbildung . 106 3.2.3.1 Leistung und Identitätsbildung im Spiegel der soziologischen Anthropologie ........................................................................... 106 3.2.3.2 Leistung in der Erwerbsarbeit und Identitätsbildung ................ 113 3.3 Zusammenfassung ................................................................................ 130 4 Neue Formen der Leistungssteuerung in Organisationen .................. 135 4.1 „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz) oder die Erosion des fordistischen Produktionsmodells ..................................... 136 4.2 Perspektiven einer neuen Leistungssteuerung in Organisationen ......... 4.2.1 Subjektorientierter Zugriff auf Arbeitskraft ................................... 4.2.2 Marktorientierte Prozessgestaltung und Dezentralisierung ............ 4.2.2.1 Die Logik der marktförmigen Leistungssteuerung ................... 4.2.2.2 Marktförmige Leistungssteuerung durch personelle Rationalisierungsstrategien ...................................................... 4.2.2.3 Subjektivierung bei verschiedenen personellen Rationalisierungsstrategien ...................................................... 4.2.2.4 Formen der Subjektivierung in unterschiedlichen personellen Rationalisierungsstrategien ...................................................... 4.2.3 Veränderungen bei Indikation und organisationaler Wertschätzung von Leistung .......................................................... 4.2.3.1 Entwicklungen bei Systemen der Grundlohndifferenzierung ... 4.2.3.2 Entwicklungen bei Systemen der leistungsbezogenen Lohndifferenzierung ................................................................. 6
141 143 145 149 155 161 164 168 169 172
4.3 Zusammenfassung – Entwicklung eines neuen Leistungsbegriffes ..... 182 5 Paradoxien der neuen Leistungssteuerung - Darstellung und Konsequenzen aus anomie- und identitätstheoretischer Perspektive.. 189 5.1 Soziale Ausweitung und Aushöhlung des Leistungsprinzips ............... 191 5.2 Entwicklungen im leistungsbezogenen Verhältnis von Individuum und Organisation .................................................................................. 5.2.1 Anreicherung und Verengung des Verständnisses von Leistung ... 5.2.1.1 Mehr Vorleistung für eine unsichere Zukunft .......................... 5.2.1.2 Nur der Output zählt, aber unter Vorbehalt .............................. 5.2.1.3 Auf die Präsentation kommt es an! .......................................... 5.2.1.4 Neue Leistung, aber „unsichtbar“ ............................................. 5.2.2 Betonung und Vernachlässigung des Leistungsvollzuges bei qualitativer Flexibilisierung ........................................................... 5.2.2.1 Betrachtung des Leistungsvollzuges aus anomietheoretischer Perspektive ............................................................................... 5.2.2.2 Typen von Anomie bei qualitativer Flexibilisierung ................ 5.2.2.3 Überlegungen zu Reaktionstypen als Lösung des anomischen Drucks ...................................................................................... 5.3 Neue Bedingungen der Anerkennung von Leistung als anomische Konstellation für Individuum und Organisation ................................... 5.3.1 Neue Leistungssteuerung in Organisationen als Veränderung von Anerkennungsmustern - Hinterfragung, Erosion und Verteidigung von Identität ................................................................................... 5.3.1.1 Bruch, Verengung und Unsicherheit von Anerkennung ........... 5.3.1.2 „Substanzlose“ Anerkennung in Organisationen ...................... 5.3.2 Veränderte Anerkennungsmuster als anomische Konstellation in Organisationen ............................................................................... 5.3.3 Anomie in der Leistungsgesellschaft? ............................................
195 197 198 201 203 207 208 210 211 215 221
222 224 227 231 237
6 Fazit ......................................................................................................... 241 6.1 Zielstellung und Problemhintergrund ................................................... 241 6.2 Aufbau und Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse ................. 244 6.3 Perspektiven für Wissenschaft und Praxis ........................................... 256 6.3.1 Wissenschaftliche Perspektiven ..................................................... 257 6.3.2 Konsequenzen für das Management von Arbeitsorganisationen .... 259 Literatur ........................................................................................................ 267 7
Abbildungsverzeichnis
Argumentative Zusammenhänge der vorliegenden Arbeit ............... 20 Aufbau der Arbeit ............................................................................. 24 Betrachtungsweisen von „Identität“ ................................................. 27 Kohärenz und Konsistenz von (Selbst)Erfahrungen ......................... 28 Identitätsbildung ............................................................................... 54 Makro- und Mikroebene in der Anomiekonzeption nach Merton .... 71 Reaktionstypen nach Merton ............................................................ 72 Rekursiver Zusammenhang von Arbeitsorganisation und Identitätsbildung unter Einbezug anomietheoretischer Überlegungen ................................................................................... 81 Abb. 9: Zweidimensionalität und korrespondierende Perspektiven von Leistung ............................................................................................ 90 Abb. 10: Formale Merkmale des Leistungsbegriffes ...................................... 92 Abb. 11: „Weiter“ und „enger“ Leistungsbegriff sowie „formalisierte“ und „nicht-formalisierte“ Leistung ........................................................ 112 Abb. 12: Anerkennungsformen und Vergesellschaftungsdimensionen der Erwerbsarbeit (Fokus der vorliegenden Arbeit hervorgehoben) .... 124 Abb. 13: Übersicht über Freie Berufe ........................................................... 130 Abb. 14: Wesentliche Funktionen und Charakteristika des Leistungsprinzips ........................................................................... 133 Abb. 15: Bereiche der Thematisierung der „Subjektivierung von Arbeit“ .... 144 Abb. 16: Gestaltung betriebsübergreifender Wertschöpfungsketten über elektronischen Datenverkehr .......................................................... 148 Abb. 17: Formen der Vermarktlichung ......................................................... 152 Abb. 18: Indikatoren zur Bestimmung individueller und kollektiver Leistungszulagen in verschiedenen Unternehmen .......................... 159 Abb. 19: Quantitatives und qualitatives Potential personeller Rationalisierungsstrategien, Form der Steuerung und Beschäftigtengruppen ..................................................................... 161 Abb. 20: Formen der Subjektivität in Prozessen der „Subjektivierung von Arbeit“ ............................................................................................ 164 Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8:
9
Abb. 21: Heuristik zu Personaleinsatz und Grad der Anforderungen (+ Anforderungen steigen, - Anforderungen sinken) and die Subjektivität ................................................................................... Abb. 22: Auswahl der ausgewerteten Studien zur leistungsbezogenen Lohndifferenzierung ....................................................................... Abb. 23: Zusammenfassende Darstellung zur marktförmigen Leistungssteuerung ......................................................................... Abb. 24: Veränderung von Anerkennungsmustern für Leistung und mögliche Konsequenzen ................................................................. Abb. 25: Bezugsrahmen zum Zusammenhang von marktförmiger Leistungssteuerung, subjektiver Identität der Organisationsmitglieder und Konsequenzen für Arbeitsorganisationen ..................................................................... Abb. 26: Ansätze für das Management marktförmiger Leistungssteuerung .
10
168 174 187 227
236 262
1 Einleitung
Im Folgenden wird eine strukturierte Einführung in das Thema der vorliegenden Arbeit gegeben. Es erfolgen die Darstellung der Zielstellungen und die Offenlegung des Untersuchungsganges. Im ersten Teil der Einleitung geht es darum, die generelle Problemstellung der Arbeit her zuleiten und diese in der aktuellen (Forschungs-)Realität zu positionieren. Des Weiteren werden die in der Arbeit zu behandelnden Untersuchungsbereiche der „marktförmigen Leistungssteuerung“, der „Identität“ und der „Anomie“ kurz vorgestellt sowie in ihrem zu analysierenden Zusammenhang erläutert. Im zweiten Teil der Einleitung werden die sich hieraus ergebenden Zielstellungen spezifiziert und der Aufbau der Arbeit erklärt. 1.1 Problemskizze Gegenwärtig lassen sich in Arbeitsorganisationen wesentliche Veränderungen bei der Steuerung menschlicher Leistung verzeichnen. Arbeitsorganisationen sind dabei solche organisationalen Gebilde, in denen die Mitgliedschaft und der Beitrag der Mehrheit der beteiligten Akteure nicht auf inhaltlich geteilten Motivlagen beruhen, wie z.B. bei politischen Parteien, Vereinen etc., sondern im Tausch gegen organisationale Gegenleistungen gewährt werden (vgl. Schimank 2005). Unternehmen und öffentliche Verwaltungen zählen beispielsweise zu dieser Kategorie von Organisationen. Der Fokus der vorliegenden Arbeit wird auf aktuelle Tendenzen der Leistungssteuerung in erwerbswirtschaftlichen Organisationen gerichtet. Unter Leistungssteuerung können alle organisationalen Aktivitäten der Schaffung und der Anwendung von Rahmenbedingungen und Instrumenten verstanden werden, die der Anpassung des Verhaltens und der Handlungen der Organisationsmitglieder an die Ziele der Organisation dienen und in der Weise „Leistung“ definieren. Im Folgenden sollen zunächst Erläuterungen zur „marktförmigen Leistungssteuerung“ vorgenommen und Schnittmengen zu entsprechenden Forschungsfeldern dargestellt werden (1). Hiervon ausgehend wird weiterhin das in der Arbeit zu behandelnde Grundproblem dieser Steuerungslogik hergeleitet (2). Anschließend soll begründet werden, warum identitäts- als auch anomietheoreti11 G. Faßauer, Arbeitsleistung, Identität und Markt, DOI 10.1007/978-3-531-91040-6_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
sche Überlegungen für die Bearbeitung der Fragestellung interessant sind und um welche spezifischen Konzeptualisierungen es sich dabei handelt (3). 1) „Marktförmige Leistungssteuerung“ - Hintergrund und Charakteristika In der gegenwärtigen betriebswirtschaftlichen und industriesoziologischen Fachdiskussion werden die Veränderungen der Leistungssteuerung auf organisationaler Ebene aus verschiedenen Perspektiven thematisiert und z.B. unter Stichworten wie „Dezentralisierung“ (z.B. Faust 1995 et al.; Drumm 1996; Faust et al. 2000), „Modularisierung“ (z.B. Child/McGrath 2001; Picot et al. 2001; Picot/Neuburger 2004), „Prozessorientierung“ (z.B. Osterloh/Frost 1996), „Vermarktlichung“ (z.B. Voswinkel 2005) oder Bildung „interner Märkte“ (z.B. Frese 2004) behandelt. Der relativ junge Forschungsansatz der „Subjektivierung von Arbeit“ (z.B. Moldaschl/Voß 2002) oder der des „Arbeitskraftunternehmers“ (Pongratz/Voß 2003) richten ihre Aufmerksamkeit u.a. auf die möglichen Auswirkungen dieser organisationalen Veränderungen auf die individuelle Ebene. Aus dezidiert soziologischer Perspektive wird in diesem Zusammenhang auch die sich womöglich wandelnde soziale Sinngebung von „Leistung“ (vgl. Neckel/Dröge 2002; Neckel et al. 2004) untersucht und werden die entsprechenden Auswirkungen in gesellschaftlicher Hinsicht diskutiert. Die organisationalen Veränderungen der Leistungssteuerung lassen sich wesentlich auf eine in den letzten Jahrzehnten wachsende Marktorientierung von Unternehmen zurückführen. Das Hauptaugenmerk liegt hierbei auf einer stärker am Kunden bzw. am Markt ausgerichteten Wertschöpfung, was neben der Flexibilisierung der organisationalen Strukturen wesentlich durch eine erhöhte Service- bzw. Dienstleistungsorientierung von Unternehmen und Unternehmensteilen erreicht werden soll. Generell wird der Fokus auf die marktorientierte, effiziente und zeitökonomische Optimierung der Leistungserstellungsprozesse bzw. Wertschöpfungsketten innerhalb der Organisation und zwischen verschiedenen Organisationen gerichtet. Die Orientierung und strukturelle Ausrichtung an den Leistungserstellungsprozessen, d.h. an Ketten zusammenhängender Aktivitäten zur Erstellung eines Produktes bzw. einer Dienstleistung, kennzeichnet dabei einen wesentlichen Gegensatz zur überwiegend funktionalen bzw. verrichtungsorientierten Arbeitsteilung bisheriger unternehmerischer Produktionsmodelle. Diese zielten vorrangig auf eine Produktivitätsoptimierung der einzelnen Unternehmensteile durch funktionale Spezialisierung. Demgegenüber erfolgt die Optimierung nun durch die Integration von (Teil-)Funktionen in (stärker) selbstbestimmte und ergebnisverantwortliche Einheiten (Dezentralisierung) und deren flexible prozess- bzw. marktorientierte Verknüpfung (Prozess12
orientierung). Das heißt, die funktionsspezifische Arbeitsteilung zwischen einzelnen Abteilungen wird aufgehoben, indem bestimmte, miteinander integrierte Funktionen in einer organisatorischen Einheit zusammengefasst werden. Die Einheiten erfüllen damit eine nach außen hin abgrenzbare bzw. abgeschlossene Funktion im gesamten Wertschöpfungsprozess. Hierbei agieren die Einheiten im Rahmen vorgegebener Kontextbedingungen relativ selbstständig und sind zumeist ergebnisverantwortlich. Sie werden häufig über nicht (vollständig) hierarchische Mechanismen miteinander koordiniert. Das heißt, es werden marktähnliche Steuerungsformen in den Organisationen etabliert, so dass beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen einzelnen Segmenten über interne Angebotspreise und entsprechende Nachfrage geregelt wird (interne Märkte). Zugleich ermöglicht moderne IuK-Technologie eine informationstechnische Standardisierung der Abwicklung von Austauschprozessen zwischen den Einheiten. Ziel ist das Erreichen einer hohen, am Markt ausgerichteten Flexibilität bei gleichzeitiger Minimierung der Koordinationskosten (Abstimmungskosten usw.) zwischen den Einheiten. Dezentralisierung und Prozessgestaltung können sich dabei sowohl auf eine einzelne Organisation (Modularisierung) als auch auf die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Organisationen erstrecken. So kann es sich z.B. um die Kooperation rechtlich selbstständiger Unternehmen unterschiedlicher Wertschöpfungsstufen (z.B. zwischen Einzelhändler und Produzent) als auch um das Outsourcing und die flexible Inanspruchnahme unternehmensspezifischer Dienstleistungen (z.B. Callcenter oder Softwaredienstleister vgl. Kleemann/Matuschek 2003; Boes 2003) handeln. Diese Entwicklungen beinhalten eine veränderte Steuerung der individuellen und kollektiven Arbeitsleistung von Organisationsmitgliedern und induzieren einen neuartigen Zugriff auf Arbeitskraft in Form einer stärker „subjektivierten“ Inanspruchnahme und Definition von Leistung. Subjektivierung bedeutet, dass subjektive, also organisational schwer determinierbare, persönliche Fähigkeiten und Potentiale zunehmend im Leistungserstellungsprozess bzw. für dessen Gewährleistung organisational nutzbar (gemacht) werden. In Organisationen geschieht dies zum einen wesentlich über Veränderungen der organisationalen Rahmenbedingung der Leistungserbringung (z.B. Konzernmanagement durch Kontextsteuerung vgl. Naujoks 1994), zum anderen über Veränderungen der hierauf z.T. aufbauenden Systeme der Grund- und Leistungslohndifferenzierung. Die Gestaltung einzelner Arbeitsplatzzuschnitte im Rahmen der angesprochenen Veränderungen und die entsprechenden Ansprüche an die Subjektivität der Organisationsmitglieder können dabei sehr unterschiedlich ausfallen. Die im Rahmen der marktorientierten Prozessorganisation durchgeführte Dezentralisierung von Organisationen erstreckt sich nämlich nicht notwendig auf alle (Ar13
beitsplatz-)Ebenen der Organisation. So veranlasst die hinzugewonnene Verantwortung nun dezentraler Organisationseinheiten zwar deren Suche nach personellem Rationalisierungspotential bzw. zu erschließender subjektiver Potentiale der Mitarbeiter, zieht aber dabei nicht notwendig inhaltlich angereicherte bzw. inhaltlich dezentralisierte Tätigkeitszuschnitte nach sich. In diesem Sinne kann „Dezentralisierung“ auf Arbeitsplatzebene z.B. auch „nur“ in der Übertragung unternehmerischen Risikos auf die Beschäftigten bestehen. Zur Umsetzung einer effizienten marktorientierten Prozessorganisation bieten sich aus unternehmerischer Perspektive demnach unterschiedliche Personaleinsatzstrategien an, die je nach Tätigkeitszuschnitt und Subjektivitätsbedarf der Arbeitsaufgabe unterschiedlich effizient sein können. Je nach Personaleinsatzstrategie werden also wiederum unterschiedliche Ansprüche an die Subjektivität der Beschäftigten gestellt. Trotz dieser unterschiedlichen Realisierungsformen der neuen Marktorientierung von Organisationen, sind sie alle einer gemeinsamen Leistungssteuerungslogik verbunden. Diese neue Logik kann als „marktförmige Leistungssteuerung“ bezeichnet werden und bedeutet vereinfacht, dass die Steuerung der Leistungserbringung von Organisationsmitgliedern zunehmend über die Vorgabe und Kontrolle der marktlich bewerteten Outputgrößen ihrer Leistung erfolgt. Die Leistung von Organisationsmitgliedern wird somit in wachsendem Maße vorrangig als Beitrag zum ökonomisch bewerteten Gesamtergebnis einer Organisation definiert, gesteuert und wertgeschätzt. War dies bisher eher in höheren Hierarchieebenen der Fall, bewirkt die organisationsweite Dezentralisierung und marktliche Prozessorientierung die Steuerung der Organisationseinheiten über die Vorgabe jeweils einheitsspezifischer Funktionsbeiträge zum gesamten Leistungserstellungsprozess und die Forcierung personellen Rationalisierungspotentials in und durch die Einheiten. Die Steuerung über die Vorgabe der funktionsspezifischen Beiträge schlägt sich dabei idealtypisch in der zunehmenden Vorgabe von zu erreichenden Zielen bzw. Kennziffern für die Einheiten bzw. dann - je nach Größe und Tätigkeitszuschnitt der Einheiten und deren Beschäftigten unterschiedlich - für einzelne Mitarbeiter nieder. Die Ziele und Kennziffern sollen dabei über die kaskadenförmige Ableitung von den unternehmerischen Oberzielen der Gesamtorganisation entwickelt werden. Diese Tendenzen werden durch die wachsende informationstechnische Durchdringung und Verflechtung der Leistungserstellungsprozesse in und zwischen Organisationen unterstützt, welche die zusammenhängende Abbildung und Erfüllung einzelner Leistungsindikatoren sichtbar und damit auch bewertbar machen sollen. Die spezifischen organisationalen Mechanismen zur Umsetzung der marktförmigen Leistungssteuerung im Rahmen von Prozessorientierung, Dezentrali14
sierung und Entgeltsystemen sind dabei sehr vielfältig, reichen unterschiedlich weit und setzen auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich an. So kann sich marktförmige Steuerung von menschlicher Arbeit auf der individuellen Arbeitsplatzebene sowohl im verstärkten Einsatz atypischer Beschäftigungsverhältnisse als auch in der am kalkulierten Verkaufspreis unmittelbar orientierten Zielvorgabe eines einzuhaltenden Projektbudgets und der entsprechenden Entgeltung der jeweiligen Mitarbeiterleistung niederschlagen. In diesem Zusammenhang spielen z.B. Formen der „simulierten“ und „echten“ Vermarktlichung als Schaffung eines unternehmensinternen, kontrollierten quasi „künstlichen“ Marktes bzw. als tatsächliche „Freisetzung“ einzelner Organisationseinheiten auf dem Markt (vgl. Moldaschl/Sauer 2000, vgl. Kap 4) sowie die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Bildung interner Märkte (vgl. z.B. Frese 2001, 2004) als auch unterschiedlich weitgehende Formen der Abbildung marktlicher Dynamiken im individuellen Entgelt eine Rolle. 2) Herleitung des Grundproblems Generell implizieren die Tendenzen der marktförmigen Leistungssteuerung in Organisationen eine Erosion des „normativen Kerns“ des sozialen Verständnisses von Leistung (vgl. Neckel/Dröge 2000; Neckel et al. 2004) und des Leistungsprinzips als Fundamentalnorm distributiver Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften. Sind Märkte gegenüber dem Zustandekommen von „Leistungsbeiträgen“ gleichsam blind - also ausschließlich an ökonomischen Ergebnissen interessiert, richtet sich das Leistungsprinzip hinsichtlich der Gewährung von Leistung und Gegenleistung nach der Wünschbarkeit des Ergebnisses und vor allem nach der Mühe, die zu dessen Erreichung im Allgemeinen erforderlich ist (Neckel/Dröge 2002, S. 104 ff.). Das Leistungsprinzip folgt Normen der Gegenseitigkeit, der Äquivalenz und hat immer auch eine Kompensationsfunktion für aufgewandte Anstrengung und Mühe. Arbeitsorganisationen stellen die historisch gewachsenen Orte der gesellschaftlichen Realisierung des Leistungsprinzips dar. Mit der formalen Gewährleistung der Äquivalenz von individueller Leistung und organisationaler Gegenleistung stabilisiert das Leistungsprinzip das Austauschverhältnis zwischen Individuum und Organisation und damit die soziale Legitimation und Funktionsfähigkeit von Arbeitsorganisation. Es gewährleistet Teilnahme- und organisationsnützliche Beitragsentscheidungen, schafft relative Handlungssicherheit auf individueller Ebene und beeinflusst wesentlich - zumindest in formaler Hinsicht - den sozialen Status des Einzelnen. In diesem Zusammenhang und darüber hinaus haben die Erbringung von Leistung und deren organisationale Anerkennung über die Gewährung einer entspre15
chenden Gegenleistung einen wesentlichen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung des Einzelnen und dessen Identitätsbildung. Vor diesem Hintergrund ist anzunehmen, dass die wachsende Marktförmigkeit der Leistungsteuerung in Organisationen nicht reibungslos stattfinden wird. Jene Reibungen beziehen sich dabei auf die individuelle als auch auf die organisationale Ebene. Auf beiden, wechselseitig verknüpften Ebenen scheint die stabilisierende Funktion des Leistungsprinzips zur Disposition zu stehen. Auf individueller Ebene kann sich dies z.B. in tiefen Eingriffen in das persönliche Identitätsverständnis von Organisationsmitgliedern und einer damit verbundenen Unsicherheit über eigene Verhaltensweisen und Handlungen oder auch deren aktiver Verteidigung äußern. Auf organisationaler Ebene schlagen sich eben jene schwer antizipierbaren und mehrheitlich organisational nicht intendierten, identitätsbezogenen Verhaltensweisen im individuellen und kollektiven Leistungserstellungsprozess nieder und können auf diese Weise zu einer Destabilisierung organisationaler Abläufe führen, die stärker als geplant ausfällt. Vor diesem Hintergrund wird der Fokus der vorliegenden Arbeit auf die mit der marktförmigen Leistungssteuerung zusammenhängenden Konsequenzen für das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Individuum und Organisationen gerichtet (vgl. Abb. 1). Das generelle Grundanliegen der Arbeit ist es daher, einen umfassenden Bezugsrahmen zu erstellen, der die skizzierten Zusammenhänge strukturiert abbildet und zugleich analysierbar macht (vgl. Kubicek 1977; Becker 2004; Joas/Knöbl 2004). So wird der Versuch unternommen, empirische Phänomene zu ordnen und zu deuten, indem Zusammenhänge postuliert werden, die einer empirischen Überprüfung unterzogen werden können und müssen. Zugleich erhebt die vorliegende Untersuchung nicht den Anspruch, selbst eine empirische Untersuchung zu sein. Indem sie jedoch aktuelle Entwicklungen in Arbeitsorganisationen diagnostiziert und postuliert, setzt sie sich selbstverständlich der Möglichkeit empirischer Überprüfung und Kritik aus (vgl. Rosa 2005, S. 56). Wesentliche Bausteine des zu erstellenden Bezugsrahmens sind identitäts- und anomietheoretische Überlegungen. Marktförmige Leistungssteuerung und ihre möglichen Auswirkungen auf die persönlich wahrgenommene Identität der Organisationsmitglieder sowie der entsprechenden Konsequenzen für die Funktionsweise der Organisation sollen so differenziert dargestellt und in ihrem Zusammenhang für empirische Untersuchungen strukturiert werden. Die Erfassung des wechselseitigen Verhältnisses von Individuum und Organisation vor dem Hintergrund der organisationalen Leistungssteuerung und die entsprechende Verwendung identitäts- als auch anomietheoretischer Erkenntnisse ist in der bisherigen Forschungslandschaft noch nicht vorgenommen worden. Doch gerade eine solche Perspektive erscheint insbesondere bei der aktuellen Problematik marktförmiger Leistungssteuerung neue Erkenntnisse über bisher nicht antizi16
pierte und schwer erklärbare Konsequenzen dieser Steuerungslogik generieren zu können. 3) Identitäts- und anomietheoretische Überlegungen Das Verhältnis von Individuum und Organisation wird in der Arbeit grundsätzlich als ein wechselseitiges verstanden und konzeptualisiert. Es wird demnach davon ausgegangen, dass die individuelle und organisationale Ebene in einem gegenseitigen Konstitutionsverhältnis zueinander stehen. Die Organisationsmitglieder werden durch Veränderungen auf organisationaler bzw. struktureller Ebene beeinflusst und beeinflussen durch ihre Reaktionen bzw. Handlungen wiederum die organisationale Ebene. Dieses Grundverständnis bedingt eine Konzeptualisierung der Individuums- und Organisationsebene, die jeweils die wechselseitige Einflussnahme abbildbar und analysierbar macht. Im Folgenden soll zunächst auf die Individuumsebene und anschließend auf die entsprechende Konzeptualisierung der Organisationsebene eingegangen werden. Auf individueller Ebene wird mit dem Grundverständnis von Identität operiert, das George Herbert Mead (1973 orig. 1934) als ein Begründer der Handlungstheorie des Symbolischen Interaktionismus entwickelt hat und das heute insbesondere im industriesoziologischen Bereich wieder aufgegriffen wird (z.B. Holtgrewe et al. 2000). Identität wird hier als subjektiv wahrgenommene Einheit der lebenslangen Erfahrungen über einen selbst verstanden, wobei jene Erfahrungen notwendig an die soziale Interaktion mit dem sozialen Umfeld geknüpft sind. Identitätsbildung erfolgt durch den lebenslangen Prozess der wechselseitigen Perspektivenübernahme zwischen Interaktionspartnern bzw. zwischen dem Einzelnen und größeren Gruppen. Von Identität kann dann gesprochen werden, wenn der Einzelne die über sich gesammelten Erfahrungen in eine kohärente und konsistente Einheit synthetisieren kann. Der Aufbau einer Identität und deren subjektiv befriedigende Fortentwicklung kann dabei nur durch wechselseitige Anerkennung zwischen den Interaktionspartnern gewährleistet werden (vgl. Honneth 1994). Identität stellt damit die Basis für subjektiv sinnhafte Verhaltensweisen und Handlungen sowie für die Formulierung subjektiv relevanter Anerkennungsansprüche an das soziale Umfeld dar. Im Falle einer veränderten Leistungssteuerung und damit veränderten „Anerkennungsmustern“ in Organisationen kann Identität somit den „Stoff“ liefern, diese neu angetragene Anerkennung im Sinne des Schutzes oder der subjektiv gewollten Fortentwicklung der eigenen Identität abzulehnen oder abzuwandeln bzw. entsprechend zu reagieren. Generell lässt sich Identität somit sowohl als vom sozialen Umfeld bzw. von der Organisation beeinflusste als auch die Organisation beeinflussende 17
Größe darstellen. Darüber hinaus ist, mit Ausnahme der Führungsforschung, die subjektiv wahrgenommene Identität als handlungsrelevante Größe in der betriebswirtschaftlichen Forschung bisher kaum eingehender beleuchtet worden (aktuell Lührmann (2006); Schreyögg/Lührmann (2006) zum Zusammenhang von Identität und Führung).1 Nicht zuletzt deswegen erscheint es lohnenswert, sich tiefer mit entsprechenden Erkenntnissen aus anderen Forschungsbereichen auseinanderzusetzen und für die vorliegende Fragestellung aufzubereiten. Hiermit wird der bisherigen, eher geringfügigen Untersuchung von „Identität“ im hier verstandenen Sinne in organisationstheoretischen als auch betriebswirtschaftlichen Fragestellungen Rechnung getragen (vgl. Nord/Fox 1996) und gleichzeitig der lauter werdenden Forderung nach einer stärkeren Beachtung dieses Konzeptes entgegengekommen (z.B. Wiesenfeld 1997; Young 2000; Holtgrewe et al. 2000; Turnbull 2001; Thomas/Linstead 2002; Ogbonna/Wilkinson 2003; Tengblad 2004; Thomas/Davies 2005; aktuell in Bezug auf die Konzeptualisierung von Führung z.B. Lührmann 2006). Demgegenüber werden zur Konzeptualisierung der Organisationsebene und deren akteursvermittelten (!) Betroffenheit durch neue Leistungssteuerung soziologisch klassische Vorstellungen über die Beschaffenheit und die Bedingungen „stabiler“ Institutionen herangezogen. Mit der Verwendung des anomietheoretischen Ansatzes nach Merton (orig. 1938) soll keine reine Wiedererweckung strukturfunktionalistischer soziologischer und organisationstheoretischer Überlegungen vollzogen werden (vgl. Joas/Knöbl 2004). Vielmehr wird versucht, die anomietheoretischen Überlegungen über die Destabilisierung von Organisationen durch die schwache Wirksamkeit von Normen mit identitätstheoretischen Vorstellungen zu verknüpfen. Mertons Konzeption von Anomie bietet in dieser Hinsicht besonders gute Anknüpfungspunkte, da die Ausprägung gesellschaftlicher bzw. organisationaler Normen und Strukturen in eine explizite Verbindung zu Reaktionsweisen auf individueller Ebene gesetzt werden. Sein Anomieansatz scheint daher besonders gut geeignet die - in der Anomietheorie traditionell vernachlässigte - Verknüpfung zwischen Individuums- und Organisationsebene zu leisten. Auch vor dem Hintergrund identitätstheoretischer Überlegungen ist es unrealistisch, anzunehmen, dass alle Akteure in gleicher Weise auf Normenwandel reagieren. Mit dem Mertonschen Konzept der „Reaktionstypen“ auf Normenwandel wird eine brauchbare Systematisierung angeboten, um unterschiedliche Reaktionen von Akteuren und die Wirkungen ihres Handelns in Organisationen auch empirisch zu erfassen. Diese Überlegungen erlauben also einerseits die Einnahme einer institutionellen Sichtweise auf veränderte Leis1
Wobei auch Lührmann hervorhebt, dass die Analyse der eigentlichen Interaktion zwischen Geführten und Führungsperson und die entsprechende Rolle von Identität im Rahmen dieser Forschung zu wenig Beachtung findet.
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tungssteuerung, d.h. es lassen sich Aussagen über die Konsequenzen auf organisationaler Ebene treffen. Andererseits ermöglichen sie systematische Überlegungen in Bezug auf die Konsequenzen auf individueller Ebene. In dieser Hinsicht können die Veränderung von organisationalen Normen der Leistungssteuerung als veränderte Anerkennungsmuster gelesen werden, die entsprechende identitätsbezogene Reaktionen auf Individuumsebene nach sich ziehen, welche die neu vorgegebenen Normen reproduzieren oder auch untergraben (vgl. Abb. 1). Letzteres würde dann einen anomischen, also instabilen Zustand der Organisation kennzeichnen. Die Betrachtung organisationaler Leistungssteuerungssysteme aus anomietheoretischer bzw. institutioneller Perspektive, also mit der einhergehenden Frage nach den Auswirkungen auf die Organisation als Ganzes, ist in der betriebswirtschaftlichen Forschung bisher vernachlässigt worden. Hier hat man sich bisher stärker mit der individuellen Motivations- und Anreizwirkung der neuen Leistungssteuerung, also mit den Effekten auf die individuelle Leistungsanstrengung der Organisationsmitglieder, beschäftigt (z.B. Frey/Osterloh 1997, 2000). Die Verknüpfung von organisationaler Leistungssteuerung, Identität und Anomie in einem Bezugsrahmen (vgl. Abb. 1) ist dabei in mehrfacher Hinsicht von aktueller Relevanz, so dass hiermit zugleich mehrere Zielstellungen verbunden sind. Diese Aspekte und der Aufbau der Arbeit werden im folgenden Abschnitt kurz aufgezeigt.
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20
Abbildung 1:
Argumentative Zusammenhänge der vorliegenden Arbeit
1.2 Zielstellungen und Aufbau der Arbeit Wie bereits erläutert, ist es das grundlegende Ziel der Arbeit, einen konzeptionellen und auch empirisch anschlussfähigen Bezugsrahmen zur Darstellung und Analyse der Konsequenzen marktförmiger Leistungssteuerung auf die Identität der Organisationsmitglieder und die akteursvermittelten (Rück-)Wirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Organisation zu erstellen (vgl. Abb. 1). Mit diesem Grundanliegen sind weitere Zielstellungen verbunden, die oben bereits angedeutet wurden und sich gemäß dem Aufbau der Arbeit folgendermaßen darstellen lassen:
Hervorhebung und differenzierte Darstellung der in der betriebswirtschaftlichen Forschung bisher vernachlässigten Identitätskonzeption nach G.H. Mead (1975 orig. 1938) (Kap. 2) Darstellung der klassischen organisationstheoretischen bzw. soziologischen Theorie der Anomie und Verknüpfung mit identitätstheoretischen Überlegungen (Kap. 2) differenzierte Aufbereitung, Darstellung und Hervorhebung des normativen Kontextes der Leistungssteuerung in Organisationen in Form des Leistungsprinzips und dessen Funktionen für das wechselseitige Verhältnis von Individuum und Organisation (Kap. 3) differenzierte Aufbereitung wesentlicher Facetten marktförmiger Leistungssteuerung und der Bedingungen ihrer unterschiedlichen Realisierung auf Arbeitsplatzebene (Erstellung einer entsprechenden Heuristik) (Kap. 4) Darstellung der aus den identitätstheoretischen Überlegungen ableitbaren Idee der „wechselseitigen Anerkennung“ (Honneth 1994) zwischen Organisationsmitglied und arbeitgebender Organisation und deren anomietheoretische Rahmung und Anwendung für das Problem der marktförmigen Leistungssteuerung in Organisationen (Kap.5)
Die Arbeit ist in vier größere Kapitel geteilt (vgl. Abb. 2). Im zweiten Kapitel erfolgt zunächst eine ausführliche Darstellung und Erläuterung des identitätstheoretischen Ansatzes nach George Herbert Mead. So werden u.a. die für den Ansatz wesentliche Idee des „taking the role of the other“ als auch die zu unterscheidenden Identitätskomponenten „I“ und „Me“ erklärt. Besonderes Augenmerk wird auf „Anerkennung“ als wesentlichem Medium der gelingenden Identitätsbildung gerichtet. Nach Ausführungen zur Identitätsbildung in modernen Gesellschaften und einer zusammenfassenden Darstellung zum verwendeten Identitätsverständnis wird letztlich auf verschiedene, soziostrukturell bedingte Identitätsbedrohungen eingegangen. Da soziale Zustände der Anomie als eine 21
solche Identitätsbedrohung gelesen werden können, wird an dieser Stelle der soziologische Ansatz der Anomie ausführlicher vorgestellt und die identitätstheoretische Verknüpfung hergestellt. Im dritten Kapitel geht es um die Charakteristika von „Leistung“ in modernen Gesellschaften und die Erläuterung der Bedeutung von in Arbeitsorganisationen erbrachter Leistung für die Identitätsbildung des Einzelnen. So werden z.B. die historische Entwicklung der europäischen „Leistungsgesellschaft“ und die entsprechende Herausbildung von Arbeitsleistung zur sozial geteilten Kollektivnorm skizziert. In diesem Zusammenhang werden im letzten Teil dieses Kapitels die unterschiedlichen Bezugsbereiche und auch Formen der identitätsrelevanten Anerkennung erläutert, welche über die Erbringung von Leistung in Arbeitsorganisationen erworben werden kann, sowie die entsprechenden Besonderheiten der Erbringung professioneller Leistung vorgestellt. Das vierte Kapitel beinhaltet die Auseinandersetzung und Darstellung mit den neuen Formen der Leistungssteuerung bzw. der marktförmigen Leistungssteuerung in Arbeitsorganisationen. Nach der Gegenüberstellung des fordistischen und postfordistischen Produktionsmodells wird auf verschiedene Perspektiven neuer Leistungssteuerung und deren Zusammenhang eingegangen, wie z.B. der stärker subjektorientierte Zugriff auf Arbeitskraft, marktorientierte Prozessgestaltung und Dezentralisierung, „Flexibilisierung“ des Personaleinsatzes oder entsprechende Veränderungen bei Entgeltsystemen. Letztlich wird die vereinende Logik dieser Veränderungen im Sinne von wachsender „Marktförmigkeit“ der Leistungssteuerung und dem damit transportierten neuen Verständnis von „Leistung“ herausgearbeitet. In Kapitel fünf werden die bisherigen Erkenntnisse zusammengeführt, indem die verschiedenen Facetten der marktförmigen Leistungssteuerung aus identitäts- und anomietheoretischer Perspektive analysiert werden. Im ersten großen Teil des Kapitels werden verschiedene Tendenzen im leistungsbezogenen Verhältnis von Individuum und Organisation dargestellt, die sich vor dem Hintergrund des normativen Kontextes des Leistungsprinzips als Paradoxa lesen lassen. Hier geht es beispielsweise um Formen der gleichzeitigen Anreicherung und Verengung des Leistungsverständnisses und die Betonung des Leistungsvollzuges bei dessen gleichzeitiger Vernachlässigung. Im zweiten Teil des Kapitels werden die sich verändernden Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung zwischen Individuum und Organisation dargestellt, indem die herausgefilterten Paradoxa als „Bruch“, „Verengung“ und „Unsicherheit“ von Anerkennungsmustern erläutert werden, welche wiederum zur „Verteidigung“, „Erosion“ oder „Hinterfragung“ von Identität führen können. Aus diesen Gedanken werden anschließend anomietheoretische Überlegungen entwickelt. Die Konsequenzen der marktförmigen Leistungssteuerung auf Individuumsebene werden 22
hier an Überlegungen hinsichtlich eines anomischen Zustandes auf organisationaler Ebene angeschlossen (Mehrebeneanalyse). In diesem Zusammenhang erfolgen zudem Schlussfolgerungen über entsprechende Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit von Arbeitsorganisationen. Letztlich werden Vermutungen über entsprechende Wirkungen in gesellschaftlicher Hinsicht getroffen sowie ein Fazit hinsichtlich des Managements von Arbeitsorganisationen gegeben.
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Abbildung 2:
Aufbau der Arbeit 1 Einleitung - Problemskizze - Zielstellung und Aufbau der Arbeit
2 Subjektive Identität, Anerkennung und Anomie als Identitätsbedrohung
3 Leistung in modernen Gesellschaften – Charakteristika und Bedeutung für Identität
- Grundlagen zur Konstitution subjektiver Identität (G.H. Mead) - anomische Anerkennungsmuster als Identitätsbedrohung
- Grundlagen des Leistungsbegriffes - Bedeutung und Funktionen des Leistungsprinzips in Arbeitsorganisationen - Leistung als Medium der Anerkennung
4 Neue Formen der organisationalen Leistungssteuerung - subjektorientierter Zugriff auf Arbeitskraft - marktorientierte Prozessgestaltung und Dezentralisierung sowie korrespondierende personelle Rationalisierungsstrategien - marktorientierte Indikation und Wertschätzung von Leistung 5 Paradoxien der neuen Leistungssteuerung – Darstellung und Konsequenzen aus anomie- und identitätstheoretischer Perspektive - Ausweitung und Aushöhlung des Leistungsprinzips - paradoxe Entwicklungen im leistungsbezogenen Verhältnis von Individuum und Organisation - neue Bedingungen der Anerkennung als anomische Konstellation für Individuum und Organisation
6 Fazit - Zusammenfassung und Forschungsausblick - Empfehlungen für das Management
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2 Subjektive Identität, Anerkennung und Anomie
In Anbetracht der mit dem Terminus „Identität“ verbundenen Bedeutungsvielfalt wird das Kapitel mit einer Einordnung und einer Darstellung der wesentlichen Facetten des hier vertretenen Begriffes von subjektiver Identität eröffnet. Im zweiten Abschnitt werden die entsprechenden theoretischen Grundlagen zum Bildungsprozess subjektiver Identität und den Bedingungen „gelingender Identitätsbildung“ ausführlich erläutert. Dabei wird auf die Theorie der Symbolischen Interaktion von George Herbert Mead zurückgegriffen und die Bedeutung der wechselseitigen Anerkennung für Identitätsbildung hervorgehoben. Unter ergänzender Einführung von Überlegungen Erving Goffmans wird anschließend auf die Bedingungen und die Art und Weise der Identitätsbildung in modernen Gesellschaften eingegangen. Im dritten Abschnitt erfolgt eine Zusammenfassung und wird die entsprechende Definition des in der Arbeit gebrauchten Identitätsbegriffes vorgenommen. Das Kapitel wird mit einem Abschnitt zu „Identitätsbedrohungen“, welche sich aus dem sozialen Umfeld des Einzelnen ergeben können, abgeschlossen. Besonderes Augenmerk wird hier auf den identitätsbedrohenden Charakter anomischer Anerkennungsmuster gerichtet. Daher werden theoretische Grundlagen als auch die Kritik am soziologischen Ansatz der Anomie erläutert und anschließend mit identitätstheoretischen Überlegungen verknüpft. 2.1 Einordnung und wesentliche Facetten subjektiver Identität So geläufig Vorstellungen über „Identität“ am alltagssprachlichen Bereich sein mögen, so schwierig gestaltet es sich, eine allgemein akzeptierte, sozialwissenschaftliche Definition zu finden (vgl. Frey/Haußer 1987; Leary/Tangney 2003). Will man am Begriff der Identität festhalten, ist es daher notwendig, dessen vielfältige Bedeutung in den „diffusen Schnittmengen diverser Fach- und Alltagsdiskurse“ (Keupp et al. 2002, S. 7) zu klassifizieren und das eigene Begriffsverständnis darin zu verorten. Eine solche Klassifikation erscheint anhand zweier Merkmalskategorien sinnvoll (vgl. Abb. 3): Zum einen nach der Art des zu „identifizierenden“ Objektes. So wird Identität einerseits zur Kennzeichnung einzelner Individuen, andererseits zur Kenn25 G. Faßauer, Arbeitsleistung, Identität und Markt, DOI 10.1007/978-3-531-91040-6_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
zeichnung sozialer Systeme, wie Gruppen oder Organisationen, gebraucht (vgl. Frey/Haußer 1987, S. 4). Zum Beispiel bezeichnet der Begriff der „organizational identity“ nach Albert/Whetten (1985) das Bild, das Organisationsmitglieder von „ihrer“ Organisation haben („Who are we anyway, as an organization?“ Gioia 1998, S. 21) und kennzeichnet somit die Identität eines sozialen Systems. Zum anderen lässt sich die Bedeutung von Identität danach klassifizieren, aus welcher Perspektive ein Objekt „identifiziert“ wird. Hier lässt sich nach Innen- und Außenperspektive unterscheiden (vgl. Daniels 1981, S. 20; Frey/Haußer 1987, S. 4). Nimmt eine Person die Innenperspektive ein, identifiziert sie sich selbst, indem sie ihre Erfahrungen über sich selbst verarbeitet. Subjekt und Objekt der Identifizierung sind also in der Person vereint. Ein geläufiger Begriff für diese Kategorie von Identität ist der der „Ich-Identität“ nach dem Psychoanalytiker Erikson (1973) (vgl. Türk 1976, S. 54ff.; Schimank 1981; Keupp et al. 2002, S. 25ff.). In der Außenperspektive hingegen wird die Person durch andere identifiziert, etwa durch die Zuschreibung von Charakterzügen oder eines bestimmten Status. Subjekt und Objekt der Betrachtung treten demnach auseinander. Die Kategorien von „sozialer“ und „persönlicher Identität“ nach Goffman (1992, S. 10 bzw. 73ff.) sind z.B. dieser Perspektive von Identität zuzuordnen, da diese eine allgemeinere oder speziellere Einordnung bzw. Kennzeichnung eines Individuums durch andere darstellen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der „Selbstidentifikation“ von Individuen in einer Organisation. Das heißt, „Identität“ bezieht sich im Folgenden auf einzelne Individuen, die sich selbst zum Objekt der Identifikation machen, also die Innenperspektive einnehmen. Im Fortgang der Arbeit wird der Begriff der „subjektiven Identität“ verwendet. Zudem wird zu zeigen sein, dass Innen- und Außenperspektive in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander stehen. Nach dieser grundlegenden Einordnung werden im Folgenden wesentliche Facetten von subjektiver Identität vorgestellt. Dabei beinhalten diese „Facetten“ notwendige Bedingungen bzw. Merkmale von „subjektiver Identität“ als auch zu beachtende methodologische Aspekte bei der Untersuchung von Identität. Die Facetten sollen also zunächst wesentliche „Fakten“ in Bezug auf das hier vertretene Verständnis von „subjektiver Identität“ auf einen Punkt bringen. Diese Facetten lassen sich auch mit Lührmann (2006, S. 143ff.) im Bereich der aktuellen Identitätsforschung verorten bzw. spiegeln den wesentlichen Grundkonsens sozialpsychologischer Identitätsforschung wider. Anschließend wird der Identitätsbildungsprozess näher betrachtet.
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Abbildung 3:
Betrachtungsweisen von „Identität“ Art des zu identifizierenden Objektes Individuum
Perspektive der Identifizierung
Innenperspektive
subjektive Identität
Außenperspektive
z.B. „Soziale Identität“ (Goffman 1992)
Gruppen / Organisationen z.B. „organizational identity“ (Albert/Whetten 1985)
Quelle: eigene Darstellung Reflexivität und soziale Interaktion Die Fähigkeit, sich selbst zum Objekt der Betrachtung zu machen bzw. ein Bewusstsein über sich selbst zu entwickeln, ist durch die „humanspezifische Grundtatsache“ (Frey/Haußer 1987, S. 5) der Reflexivität bedingt. Hierzu formuliert Geulen: „Im Selbstbewusstsein (…) werde ich mir als von der Umwelt unterschiedenes Individuum, ja als „Subjekt“, bewusst, das heißt, ich richte mein Bewusstsein intendiert auf mich und meine Bewusstseinsakte selber; dieser Prozess ist (...) ein reflexiver. (Geulen 1989, S. 115, H.i.O.).2
Reflexivität als „...capacity to think about oneself...“(Leary/Tangney 2003, S. 4) ist damit als grundlegendes Merkmal subjektiver Identität bzw. als erste notwendige Bedingung für deren Konstitution zu betrachten (vgl. Daniels 1981, S. 12f.; Frey/Haußer 1987, S. 5ff.). Die zweite notwendige Bedingung für die Entwicklung von Identität stellt die soziale Interaktion eines Individuums dar. Das heißt, es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass die Reflexion über sich selbst und die Konstitution subjektiver Identität aus der sozialen Erfahrung in der Interaktion mit anderen bzw. in der Auseinandersetzung mit einem sozialen Umfeld entsteht (vgl. Habermas 1968; Keupp 2002; siehe für den Bereich der Psychologie: Mischel/Morf 2003). Ein Individuum ist demnach in seiner subjektiven Identitäts2 Im Quellentext befinden sich augenscheinlich zwei Druckfehler: statt „mir“ „mit“ und statt „bewusst“ „gewusst“. Diese wurden hier entsprechend verbessert.
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bildung gezwungen, sich mit den Erfahrungen, die es über sich in der Interaktion mit anderen sammelt, auseinanderzusetzen und diese Erfahrungen in ein für sich nachvollziehbares Bild zu bringen. Dies widerspricht z.B. klassischen, „existentialistischen“ Vorstellungen von Identität als inhärent vorhandene „Substanz“ (vgl. anschaulich Lührmann 2006, S. 148 ff.). Kontinuität und Kohärenz Allgemein wird davon ausgegangen, dass die Selbstidentifikation dann gelingt, wenn das Individuum die durch andere Individuen gewonnenen Erfahrungen über sich selbst in eine für sich sinnhafte Einheit synthetisieren kann. Dieser Prozess wird von Keupp et al. als „Identitätsarbeit“ bezeichnet (Keupp et al. 2002, S. 9). In der Identitätsarbeit muss das Individuen seine Erfahrungen miteinander in Einklang bringen, die es sowohl im zeitlichen Verlauf seines Lebens, z.B. als Jugendlicher oder Erwachsener, als auch in verschiedenen sozialen Bereichen, z.B. Erwerbsarbeit oder Familie, über sich gesammelt hat (vgl. Abb. 4). Abbildung 4:
Kohärenz und Konsistenz von (Selbst)Erfahrungen
Synthese von Erfahrungen über die Zeit hinweg (Kohärenz)
Synthese von Erfahrungen über verschiedene soziale Interaktionsbereiche
Quelle: in Anlehnung an Lührmann (2006, S. 219) sowie Keupp et al. (1999, S. 191)
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In dem Sinne stellen Kontinuität als empfundene Einheit des eigenen Selbst über die Zeit und Kohärenz als empfundene Einheit des eigenen Selbst über verschiedene Interaktionsbereiche grundlegende Merkmale einer gelungenen Selbstidentifikation und damit subjektiven Identität dar (vgl. Shibutani 1961, S. 214ff.; Baumeister 1986, S. 18; Habermas 1988; Krappmann 2000, S. 7ff.; Keupp et al. 2002, S. 25ff.). So schreibt Daniel: „»Identität« meint das »Mit- Sich- Selbst- Gleichsein« in oder trotz der Mannigfaltigkeit der teilweise sehr verschiedenen und widersprüchlichen Taten, die man im Verlauf seines Lebens vollbringt oder die andere von einem erwarten.“ (Daniel 1981, S.10)
Soziohistorische Dimension Anhand der bisherigen Erläuterungen wird offensichtlich, dass sozialwissenschaftliche Untersuchungen über Identität immer eine soziohistorische Dimension aufweisen (vgl. Tatschmurat 1980, S. 23ff.; Baumeister 1986; Keupp et al. 2002, S. 25ff.). Das heißt „Identitätsarbeit“ und die Ausprägung von Identität ist von der jeweiligen Beschaffenheit des sozialen Umfeldes und dessen Veränderungen im Zeitverlauf abhängig (vgl. z.B. die Studie von Krömmelbein 1996). So beeinflusst etwa das Maß der Fragmentierung von Interaktionsbereichen in einer Gesellschaft oder deren Veränderungsdynamik die Vielfalt an Selbsterfahrungen für Individuen und damit deren subjektive Identitätsbildung. Vor diesem Hintergrund ist auch zu sehen, dass das Phänomen der menschlichen Identität vornehmlich aus der Perspektive der gesellschaftlichen Entwicklung zur Moderne thematisiert und problematisiert wurde (vgl. Baumeister 1986; Habermas 1988; Zima 2000; Zima 2001, S. 47ff.; Keupp et al. 2002; Lührmann 2006, S. 148ff.). Die Entwicklung zur Moderne wird in der Soziologie zumeist sowohl durch den Aspekt der wachsenden gesellschaftlichen Differenzierung, z.B. als Ausdifferenzierung einzelner gesellschaftlicher Teilbereiche, wie z.B. Wirtschaft, Politik oder Wissenschaft, als auch durch den Aspekt der Endtraditionalisierung der Lebenswelt, gekennzeichnet der sich z.B. in der Zersetzung gemeinschaftlich bindender religiöser Weltbilder zeigt (vgl. Habermas 1988, S. 234ff.).3 In diesem Zusammenhang wird davon ausgegangen, dass es zu einer wachsenden Individualisierung des Einzelnen kommt (vgl. Schimank
3
Eine umfassende Darstellung der Problematik „Moderne“ findet sich in Zima 2001.
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1996, S. 44ff.).4 Auch heute werden Fragen bezüglich Identität und Identitätsbildung im sozialwissenschaftlichen Bereich häufig vor diesem Hintergrund thematisiert (z.B. Gergen 1996; Sennett 2000; Beck 2003). 2.2 Die Konstitution subjektiver Identität - theoretische Grundlagen Im folgenden Abschnitt werden die theoretischen Hintergründe zu den eben dargestellten Facetten von Identität beleuchtet. Hierzu wird auf die wesentlichen Erkenntnisse der Sozialpsychologie von George Herbert Mead und deren aktueller sozialwissenschaftlicher und -philosophischer Interpretation zurückgegriffen (insbes. durch Honneth 1994; 2004). Des Weiteren werden die spezifischen Bedingungen der Identitätsarbeit in „modernen“ Gesellschaften vorgestellt. Der Abschnitt schließt mit der Definition des in der Arbeit gebrauchten Identitätsbegriffes. Bevor in die Theorie zur Identitätsbildung eingestiegen wird, soll die Auswahl des Meadschen Ansatzes noch kurz begründet werden. 2.2.1 Die Sozialpsychologie von George Herbert Mead Die Konstitution und Formung der subjektiven Identität eines Menschen steht in einem notwendigen Zusammenhang mit dessen sozialen Umfeld. In Bezug auf die Vorstellung von Identität bedingt dies eine Forschungskonzeption, die das Potential bietet, diese beiden Dimensionen gemeinsam zu erfassen. Tatschmurat drückt dieses Erfordernis folgendermaßen aus: „Das Wesentliche bei der wissenschaftlichen Bearbeitung des Problems menschlicher Identität ist, dass es gelingen muss, in zwei theoretischen Systemen oder auf zwei Ebenen gleichzeitig zu denken und zu argumentieren: auf der Ebene der objektiven, natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen des menschlichen Lebensraumes und auf der Ebene der subjektiven Verarbeitung der wahrgenommenen und emotional bewerteten Umweltgegebenheiten.“ (Tatschmurat 1980, S. 12)
Berger/Luckmann schreiben: „Sobald man spezifisch menschliche Phänomene untersucht, begibt man sich in den Bereich gesellschaftlichen Seins. Das spezifisch menschliche des Menschen und 4
Vor diesem Hintergrund sind auch häufig angeführte Merkmale von subjektiver Identität wie z.B. „Differenz“ (Baumeister 1986, S. 18) oder „Individualität“ einzuordnen (Schimank 1981, S.13ff.; Frey/Haußer 1987, S. 9ff.).
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sein gesellschaftliches Sein sind untrennbar miteinander verschränkt. Homo sapiens ist immer und im gleichen Maßstab auch Homo Socius.“ (Berger/Luckmann 2000, S. 54; H.i.O.).
Wenn man sich mit Identitätsbildung befasst, ist es also notwendig, sowohl die subjektive als auch die soziale Ebene in den Blick zu bekommen. Nur auf diese Weise lässt sich der Identitätsbildungsprozess - als subjektive Verarbeitung von in sozialen Interaktionen gemachten Erfahrungen - verfolgen. In der vorliegenden Arbeit wird diesem Anspruch durch die Verwendung der Sozialpsychologie von G. H. Mead nachgekommen. In dieser werden Selbstbewusstsein und Identität erstmalig als genuin soziale Phänomene aufgefasst und als solche auch beschreibbar (vgl. Tatschmurat 1980, S. 26ff.; Habermas 1988; Geulen 1989, S. 115). So formuliert z.B. Zijderveld: „Mead ist es in seinem zuerst 1934 erschienenen Buch Mind, Self and Society mit einer vorher noch nie erreichten Deutlichkeit gelungen, die Analyse der Gesellschaftsstruktur mit der Analyse des individuellen Erlebens zur Deckung zu bringen.“ (Zijderveld 1972, S. 26f)
Meads grundlegender Ansatz der symbolisch vermittelten Interaktion5 als notwendiger Bedingung von Reflexion, Selbstbewusstsein und Identität stellt daher bis heute grundlegende Ansatzpunkte für eine wissenschaftliche Durchdringung der Identitätsproblematik dar (vgl. z.B. Krömmelbein 1996 zur Transformation des Erwerbsarbeitssektors in Ostdeutschland und deren identitätsbezogene Auswirkungen; Dunn 1997 zum Vergleich der Meadschen Überlegungen und deren Potentiale in Bezug auf poststrukturalistische Identitätsvorstellungen am Beispiel von Judith Butlers Ausführungen zur Gender Problematik; Holtgrewe et al. 2000 zum Zusammenhang von Anerkennung und Identität mit dem Fokus auf den Erwerbsarbeitssektor; Keupp et al. 2002 zur Identitätskonstruktion ostdeutscher Jugendlicher mit Hinblick auf die Erwerbsarbeit; Lührmann 2006 zu einer Identitätstheorie der Führung).6
5 So gilt Mead als Mitbegründer der Handlungstheorie des Symbolischen Interaktionismus (Stryker 1980; Weiss 1993, S. 65ff.; Joas/Knöbl 2004, Lührmann 2006, S. 94ff.). 6 Für einen Gesamtüberblick über die Entwicklung des Meadschen Werkes und zu den Schwierigkeiten der entsprechenden Rezeption vgl. Joas (2000).
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2.2.2 Symbolvermittelte Interaktion und Entwicklung von Identität Vor diesem Hintergrund werden in den nächsten Abschnitten die folgenden zentralen Punkte der Meadschen Sozialpsychologie vorgestellt. So leitet Mead, auf Basis anthropologisch - biologischer Theorien sowie psychologischer und philosophischer Ansätze (Stryker 1980; Honneth 1994; Joas 2000, S. 91ff.) ab, wie Individuen über die symbolische bzw. sprachlich vermittelte Interaktion mit anderen zu Selbstreflexion und Selbstbewusstsein gelangen (2.2.2.1). Darauf aufbauend entwirft er die zwei Sozialisationsstufen von „play“ und „game“, die ein Individuum zur Selbstidentifikation innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung notwendig durchlaufen muss (2.2.2.2). Diese Selbstidentifikation bzw. die subjektive Identität erklärt Mead des Weiteren als das Zusammenspiel zweier Identitätskomponenten. Dabei stellt die Identitätskomponente „Me“ die am sozialen Umfeld orientierte, also historisch bedingte Dimension von Identität dar, wohingegen die Komponente „I“ die jeweils individuell einzigartige, spontane bzw. nicht berechenbare, also eigensinnige Identitätsdimension eines Individuums bezeichnet (2.2.2.3. Aus der Gesamtheit dieser Erkenntnisse ergibt sich der grundlegende Ansatz, die „wechselseitige Anerkennung“ zwischen Individuen als notwendigen Faktor „gelingender“ Identitätsbildung zu betrachten (2.2.2.4). 2.2.2.1 Erwerb von Selbstbewusstsein Meads sozialpsychologischer Ansatz ist von der Idee geleitet, die sozialen Bedingungen und Funktionen der Selbstreflexivität von Individuen aufzuklären (vgl. Joas 2000, S. 92).7 Dabei geht er zunächst grundsätzlich davon aus, dass Menschen nur in der sozialen Interaktion mit anderen ein Bewusstsein über ihre eigene Subjektivität entwickeln (vgl. auch Wagner 2004, S. 57ff.). Die Begründung hierfür liegt in der potentiellen Wahrnehmung eines wechselseitigen Einflusses durch die Interaktionspartner, welche in der Auseinandersetzung von Individuen mit z.B. materiellen Gegenständen so nicht gegeben ist.8 Joas beschreibt diesen Gedanken folgendermaßen:
7
Zum einen bezieht sich Mead in seinen Erklärungen auf die evolutionäre Entwicklung menschlicher Sozialformen. Zum anderen überträgt er die auf dieser Basis generierten Erkenntnisse auf das Heranwachsen von Kindern in bereits entwickelten Gesellschaften (vgl. Mead 1973, S. 81ff., 194ff.). 8 Vgl. hierzu und zum Folgenden insbes. das 2. und 3. Kapitel in Meads Geist, Identität und Gesellschaft (1973).
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„Nur in der Interaktion von Handelnden (...) wird das eigene Verhalten von unmittelbaren Reaktionen der anderen so beantwortet, dass dies zur selbstreflexiven Aufmerksamkeit zwingt. Nur wenn wir selbst Reiz für die Reaktion eines anderen sind, welche für uns wieder Reize darstellen, müssen wir uns auf unseren Charakter als Reizquelle selbst konzentrieren.“ (Joas 2000, S. 104)
Der Erwerb von Selbstbewusstsein begründet sich nach Mead, als Pragmatisten, dabei schlicht aus der damit verbundenen Funktionalität bzw. Vorteilhaftigkeit für die Bewältigung sozialer Prozesse (vgl. Mead 1973, S. 299ff.; Habermas 1988, S. 214f; Honneth 1994, S. 116f.; Joas 2000, S. 104f.). So formuliert Mead: „Reagiert jemand auf die Wetterverhältnisse, so hat das auf das Wetter selbst keinerlei Einfluss. Für den Erfolg seines Verhaltens ist nicht von Bedeutung, dass er sich seiner eigenen Handlungen und Reaktionsgewohnheiten bewusst wird, sondern der Anzeichen von Regen oder schönem Wetter. Erfolgreiches Sozialverhalten dagegen führt auf ein Gebiet, in dem das Bewusstsein eigener Haltungen zur Kontrolle des Verhaltens anderer verhilft.“ (entnommen aus Honneth 1994, S. 117)
In sozialen Interaktionen setzt die „Kontrolle des Verhaltens anderer“ voraus, dass der jeweilige Interaktionspartner die Bedeutung seiner Handlung für den anderen Interaktionspartner kennt - also Wissen über die intersubjektive Interpretation seiner eigenen Handlung hat. Die Kenntnis von der intersubjektiv geteilten Bedeutung einer Handlung ist demnach Voraussetzung für zielgerichtetes, koordiniertes Handeln zwischen zwei oder mehreren Interaktionspartnern. Die Frage nach der Entwicklung eines solchen intersubjektiven Wissens bildet nun den Ausgangspunkt für die Überlegungen Meads zur symbolisch bzw. sprachlich vermittelten Interaktion (vgl. Honneth 1994, S. 117; Joas 2000, S. 105). Mead geht also davon aus, dass ein Individuum notwendig in der Lage sein muss, seine Handlungen aus der Sicht des Interaktionspartners wahrzunehmen und zu bewerten, um sozial erfolgreich zu agieren. Mit den Worten von Honneth muss ein Individuum demnach „...die Fähigkeit zur Selbstauslösung des im Anderen bewirkten Reaktionsverhaltens...“ haben (1994, S. 116). In diesem Zusammenhang betrachtet Mead die Entwicklung und Verwendung der „Lautgebärde“ bzw. der Sprache9 als entscheidenden Schritt für die gegenseitige Per9 Eine anschauliche Erläuterung der Meadschen Konzeption der evolutionären Entwicklung von der noch instinktgesteuerten, gestenvermittelten Interaktion zur sprachlichen Interaktion findet sich in Habermas 1999, S. 23ff. Mead hält die Lautgebärde dabei zwar für die phylogenetisch grundlegende, aber ontogenetisch nicht einzige Möglichkeit zum Aufbau von Selbstbewusstsein (Joas 2000, S. 108; Mead 1973, S. 137).
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spektivenübernahme der Interaktionspartner. Nur die Lautgebärde kann durch ihre akustische Aufnahme von den beteiligten Interaktionspartnern gleichzeitig wahrgenommen werden. Dadurch, dass der sich mit einer Lautgebärde äußernde Interaktionspartner auf den anderen einwirkt und dabei zugleich sich selbst hört, lernt er über die Reaktion des anderen den eigenen Äußerungen eine unmittelbare Folgereaktion bzw. eine bestimmte Bedeutung zuzuordnen. Das Individuum lernt demnach, seine Äußerungen aus der Sicht seines Interaktionspartners zu interpretieren. Auf diese Weise wird das Individuum schrittweise in die Lage versetzt, die sozialen Reaktionen auf seine Äußerungen bzw. Handlungen zu antizipieren bzw. in sich selbst zu erzeugen und dadurch abzuwägen - sich also reflexiv auf sich selbst zu beziehen. Habermas erläutert: „Nur indem sich der Aktor die objektive Bedeutung seiner nach beiden Seiten gleichermaßen stimulierenden Lautgebärde zu eigen macht, nimmt er sich selbst gegenüber die Perspektive eines anderen Interaktionsteilnehmers ein und wird seiner selbst als soziales Objekt ansichtig.“ (Habermas 1988, S. 216)
Die Einnahme der Perspektive des anderen ist demnach notwendige Bedingung für die Kenntnisnahme des eigenen Selbst und die Entwicklung von Selbstbewusstsein. So formuliert Mead, dass Selbstbewusstsein auf die Fähigkeit verweist, „...in uns selbst definite Reaktionen auszulösen, die den anderen Mitgliedern der Gruppe eignen.“(1973, S. 206). Dieser Vorgang wird von ihm als „taking the role of the other“ bezeichnet (Mead 1973, S. 192ff. oder 299ff.). „Taking the role of the other“ beinhaltet also die Antizipation des Verhaltens des anderen Interaktionspartners auf eigene Verhaltensweisen und Handlungen, nicht etwa die Einnahme seiner Stellung in einem organisierten sozialen Zusammenhang (vgl. Zijderveld 1972, S. 30; Geulen 1989, S. 116; Joas 2000, S. 116). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Mead den Erwerb von Selbstbewusstsein grundlegend aus der sozialen Interaktion und hier insbesondere aus der Entwicklung und dem Gebrauch der Sprache erklärt. Dabei wird das Entstehen von Selbstbewusstsein durch die gegenseitige Perspektivenübernahme der Interaktionspartner bewirkt. Ein Individuum erlangt demnach nur dann ein selbstreflexives Bewusstsein, wenn es lernt, sein Verhalten und seine Handlungen aus der Sicht anderer zu interpretieren. 2.2.2.2 Die Sozialisationsstufen von „play“ und „game“ Die wechselseitige Perspektivenübernahme zwischen Interaktionspartnern ist nach Mead der grundlegende Mechanismus zum Erwerb von Selbstbewusstsein. 34
„Taking the role of the other“ drückt aus, dass sich das Selbstbild eines Individuums aus dessen innerer Repräsentation der Reaktionen seiner Interaktionspartner auf seine eigenen Verhaltensweisen ergibt (vgl. Joas 2000, S. 109). Ein einfaches Beispiel soll den oben bereits erklärten Vorgang nochmals illustrieren: Ein kleines Kind lernt über die Interaktion mit den Eltern schrittweise, bestimmten eigenen Handlungen korrespondierende Reaktionen zuzuordnen. So lernt es z.B., dass das mutwillige Verschütten der Mahlzeit negative, bzw. für es selbst eher unerfreuliche Reaktionen der Eltern nach sich zieht. Das bedeutet, das Kind ist zunehmend in die Lage versetzt, Reaktionen der Eltern auf eigene Handlungsweisen zu antizipieren, also ihre Perspektive auf sich selbst einzunehmen und sich dementsprechend zu verhalten. Das bedingt zugleich, dass das Kind einen normativen Bezugsrahmen dafür verinnerlicht, eigenes Verhalten als „gut“, „artig“, „quengelig“ usw. zu beurteilen. Nur in Anwendung eines solchen Bezugsrahmens auf sich selbst erwirbt das Kind schrittweise Erkenntnisse über sich und kann eine subjektive Identität aufbauen (Bin ich ein artiges Kind?). Dieser Grundgedanke bildet den Ansatzpunkt für die Meadsche Erklärung der menschlichen Identitätsbildung. Er entwirft eine Konzeption, die die Entwicklung von Identität als schrittweise Auseinandersetzung mit einer wachsenden Zahl von Interaktionspartnern bzw. Bezugsgruppen auffasst und auf diese Weise einen zunehmenden gesellschaftlichen Einfluss auf die subjektive Identitätsbildung annimmt. Joas formuliert dazu: „Mead sieht eine kontinuierliche Entwicklung, die von der unmittelbar dialogischen Struktur des kindlichen Selbstbewusstseins, das zu sich selbst in den Worten der Eltern spricht, bis zu den abstraktesten Denkprozessen reicht.“ (Joas 2000, S. 110)
So verbleibt das Kind aus dem obigen Beispiel im Verlaufe seines Heranwachsens nicht im Umkreis seiner Eltern, sondern besucht ab einem bestimmten Alter z.B. die Schule, lernt Spielkameraden kennen, engagiert sich für eine politische Partei, wird Mitglied in einem Sportverein usw. - wird also kurzum mit verschiedensten sozialen Interaktionsbereichen bzw. sozialen Institutionen (vgl. z.B. Krömmelbein 1996 zur „Institution Erwerbsarbeit“) konfrontiert. Damit sich das Individuum hier einordnen kann, ist es notwendig, dass es lernt, die Perspektive der jeweiligen Bezugsgruppen auf sich selbst einzunehmen. Nur auf diese Weise schafft es für sich einerseits die Möglichkeit, in dem sozialen Kontext koordiniert zu handeln und andererseits sein eigenes Verhalten zu bewerten und damit eine subjektive Identität zu entwickeln. Mead veranschaulicht das Prinzip des immer umfangreicher werdenden Prozesses des „taking the role of the other“, indem er diesen in zwei Stufen teilt. Diese Stufen kennzeichnen bestimmte Phasen des kindlichen Spiels und können 35
auch als Sozialisationsstufen aufgefasst werden, da sie entsprechende Ebenen der Auseinandersetzung eines Individuums mit dem sozialen Umfeld umschreiben (vgl. Geulen 1989, S. 11; Weiss 1993, S. 69). Die erste Stufe des „play“ ist dadurch gekennzeichnet, dass das Kind einfache Rollenspiele imaginiert, welche es in seinem sozialen Umfeld wahrnimmt. Es imitiert das Verhalten eines konkreten Interaktionspartners, um dann darauf selbst zu reagieren. Auf diese Weise übt sich das Kind in der einfachen Verhaltensantizipation bzw. darin, die durch eine eigene Handlung intendierte Reaktion eines vorgestellten Interaktionspartners in sich selbst zu erzeugen (vgl. Mead 1973, S. 191ff.; Honneth 1994, S. 124ff.; Joas 2000, S. 117ff.). Mead erläutert: „Es spielt zum Beispiel, daß es sich etwas anbietet, und kauft es; es gibt sich selbst einen Brief und trägt ihn fort; es spricht sich selbst an - als Elternteil; als Lehrer; es verhaftet sich selbst - als Polizist.“ (1973, S. 193).
An diese Stufe des „play“ schließt sich die des „game“ an, in der der Heranwachsende die Fähigkeit zur Teilnahme an Gruppenspielen erwirbt. Der Unterschied zur Stufe des „play“ besteht darin, dass das Individuum nicht nur die Perspektive eines einzelnen Interaktionspartners einnimmt. Vielmehr müssen die Perspektiven mehrerer Interaktionspartner übernommen und organisiert werden, um sich selbst im Gruppenspiel sinnhaft verhalten zu können, bzw. die eigenen Verhaltensweisen bewerten zu können (Mead 1973, S. 194). Honneth formuliert in Bezug auf „play“ und „game“: „…im ersten Fall ist es das konkrete Verhaltensmuster einer konkreten Bezugsperson, im zweiten Fall sind es die sozial generalisierten Verhaltensmuster einer ganzen Gruppe, die als normative Erwartungen kontrollierend in das eigene Handeln miteinbezogen werden müssen.“ (Honneth 1994, S. 124)
Mead schreibt beispielhaft: „Macht es (das Kind, Anm. d. V.) beim Baseball einen bestimmten Wurf, so muss es die Positionen jeder betroffenen Position in seiner eigenen Position angelegt haben. Es muss wissen, was alle anderen tun werden, um sein eigenes Spiel erfolgreich spielen zu können. Es muss alle diese Rollen einnehmen.“ (Mead (1973, S. 193)
Diese Erläuterung der Entwicklung des kindlichen Spiels dient Mead als Vorlage, um den generellen Sozialisationsprozess des Menschen herzuleiten (vgl. Honneth 1994, S. 125). So lässt sich das Prinzip der Sozialisation in der Darstellung des kindlichen Gruppenspiels auch auf andere Gruppen oder Gemeinschaf36
ten übertragen, in denen ein Individuum bestimmte Funktionen einnimmt oder einnehmen soll. Um sich subjektiv sinnhaft in solchen Interaktionsbereichen bewegen zu können, muss das Individuum lernen, die gemeinschaftlich geteilte Perspektive der entsprechenden Gemeinschaft zu übernehmen bzw. sich als Orientierungsrahmen anzueignen - ansonsten wäre eine Bewertung der eigenen Handlungen und damit die subjektive Einordnung des eigenen Selbst in die Gemeinschaft und Identitätsbildung nicht möglich. Mead bezeichnet eine solche Gemeinschaft in diesem Zusammenhang als generalisierten bzw. „verallgemeinerten Anderen“ (Mead 1973, S. 196). So formuliert er: “The attitude of the generalized other is the attitude of the whole community. Thus, for example, in the case of such a social group as a ball team, the team is the generalized other in so far as it enters - as an organized process or social activity - into the experience of any one of the individual members of it.” (Mead 1934, S. 154).
Geulen erläutert dazu: „Im generalisierten Anderen sind also nicht nur die puren Attitüden der Anderen gegeben, sondern auch ihr systematischer Zusammenhang, genauer: der Zusammenhang aller Positionen, aus dem Ego dann auch seine eigene Position ablesen kann.“ (Geulen 1989, S. 118)
Der verallgemeinerte Andere drückt in dem Sinne also die normativ generalisierten Werte und Normen eines bestimmten sozialen Interaktionsbereiches aus (vgl. Habermas 1988, S. 219).10 Es lässt sich zusammenfassen, dass der Erwerb von Kenntnissen über sich selbst nach Mead notwendig soziale Interaktion voraussetzt und insbesondere an den Prozess des „taking the role of the other“ gebunden ist. Erst die Einnahme der Perspektive des oder der anderen Interaktionspartner auf sich selbst ermöglicht die subjektive Beurteilung und Einordnung des eigenen Verhaltens und damit den Aufbau einer subjektiven Identität. Mead konzeptualisiert den Vorgang der Perspektivenübernahme in den aufeinander folgenden Stufen von „play“ und „game“. Dabei lernt das Individuum schrittweise, sich aus einer sozial immer umfassender werdenden Perspektive zu betrachten, um schließlich eine Identität als Mitglied einer Gesellschaft zu entwickeln.
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Mead selbst bezieht diesen Gedanken auf die gesamte gesellschaftliche Ebene, die sich so für jedes Gesellschaftsmitglied als generalisierter Anderer darstellen würde.
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2.2.2.3 „I“ und „Me“ als Dimensionen der subjektiven Identität Der sozialisationsbedingte Prozess des „taking the role of the other“ hat zur Folge, dass sich in jedem sozialisierten Individuum zwei identitätsbildende Dimensionen entwickeln (vgl. Geulen 1989, S. 117; Joas 2000, S. 116). Dies lässt sich folgendermaßen erklären: Kern des „taking the role of the other“ ist es, sich im Rahmen eines wechselseitigen sozialen Prozesses aus der Perspektive der jeweiligen Interaktionspartner betrachten zu lernen - sich also reflektierend auf sich und seine Verhaltensweisen zu beziehen. Dies zieht den Schluss nach sich, dass es eine vorgängige Instanz des Selbst geben muss, die über eine andere wahrgenommen und beurteilt wird. Diese Schlussfolgerung soll an dem schon angeführten Beispiel des kleinen Kindes nochmals vereinfacht illustriert werden: Das Kind erwirbt erst über die Reaktion der Eltern auf seine Handlungen einen Orientierungs- bzw. Bewertungsrahmen seines Verhaltens. So lernt es schrittweise, zu antizipieren, welche Verhaltensweisen auf Zustimmung oder Ablehnung durch die Eltern stoßen. Indem es sich in der Weise die elterliche Perspektive auf sich selbst zu eigen macht, vollzieht es den Prozess des „taking the role of the other“. Hierdurch entwickelt das Kind in sich selbst eine bewertende Instanz in Bezug auf die eigenen Wünsche und Einfälle oder spontanen oder mutwilligen, intendierten oder bereits vollzogenen Verhaltensweisen und Handlungen. Diese stellt sich demnach als die andere, beurteilende Instanz dar. Nascht das Kind z.B. trotz elterlichen Verbots zuviel Süßigkeiten, könnte es hierüber ein schlechtes Gewissen entwickeln oder stolz auf sich sein, ein Verbot umgangen zu haben. Joas formuliert zu diesem Vorgang: „Neben die Dimension der Triebimpulse tritt jetzt also eine Instanz zu deren Bewertung, die aus den Erwartungen der Reaktionen auf die Äußerung dieser Impulse hin besteht.“ (Joas 2000, S. 117)
Mead nimmt vor diesem Hintergrund eine Teilung in die identitätsbildenden Dimensionen des „I“ und „Me“ vor (1973, S. S. 216ff.).11 Das „Me“ stellt dabei die Gesamtheit der durch den Prozess des „taking the role of the other“ erworbenen Kenntnisse eines Individuums über sich selbst dar. Es handelt sich demnach um Selbsterfahrungen und -bewertungen, die sich notwendig - in welcher Art und Weise auch immer - über das Raster der Normen des sozialen Umfeldes ausdrücken. In dem obigen Beispiel könnte das Kind z.B. die Kenntnis erworben haben, ein „liebes“ Kind zu sein, weil es das Bedürfnis nach Süßigkeiten nicht ohne elterliche Erlaubnis stillt. So schreibt Joas: 11 In der hier verwendeten deutschen Übersetzung von Mind, Self and Society wird für „I“ und „Me“ die Bezeichnung „Ich“ und „ICH“ verwendet.
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„Das „Me“ als Niederschlag einer Bezugsperson in mir ist sowohl Bewertungsinstanz für die Strukturierung der spontanen Impulse wie Element eines entstehenden Selbstbildes.“ (Joas 2000, S. 117).
Allgemein stecken demnach im „Me“ die über Sozialisation („game“) erworbenen Kenntnisse über die Normen und Werte sozialer Interaktionsbereiche und die eigene Position darin. Das „Me“ als kontrollierende und bewertende Instanz der eigenen Verhaltensweisen macht in dem Sinne sozial sinnhaftes Handeln für das Individuum möglich (Mead 1973, S. 236ff.). So erklärt Mead: „Das „ICH“ (Me, Anm. d. V.) ist ein von Konventionen und Gewohnheiten gelenktes Wesen. Es ist immer vorhanden. Es muss jene Gewohnheiten, jene Reaktionen in sich haben, über die auch alle anderen verfügen; der einzelne könnte sonst nicht Mitglied einer Gesellschaft sein.“ (Mead 1973, S. 241).
Das „Me“ spiegelt also die Lebensformen und Institutionen, die in einer Gesellschaft eingespielt und anerkannt sind, wider (Habermas 1988, S. 220). Obwohl bei Mead nur am Rande betont, stellt das „Me“ zugleich auch die potentielle Substanz einer individualisierten, sich von anderen unterscheidenden Identität dar. Antriebskraft einer sich solchermaßen individualisierenden Identität ist die Identitätskomponente „I“ (vgl. Honneth 1994; Hartz/Faßauer 2006). Das „I“ steht zum einen für die vorsozialen Triebe eines Individuums, dessen Spontaneität von Verhaltensweisen, Einfällen, Wünschen und Gefühlen. (vgl. Honneth 1994, S. 120; Habermas 1999, S. 66f; Joas 2000, S. 117). Mead führt in diesem Zusammenhang wieder das Beispiel des Baseballspielers an und beschreibt, wie der Spieler sich einerseits der Perspektiven und damit Erwartungen seiner Mitspieler bewusst ist, seine genaue Reaktion andererseits jedoch auch für ihn selbst nicht vorhersehbar ist: „Vielleicht wird er gut spielen, vielleicht einen Fehler begehen. Die Reaktion auf diese Situation, so wie sie in seiner unmittelbaren Erfahrung aufscheint, ist unbestimmt - und das macht das „Ich“ („I“, Anm. d. V.) aus.“ (Mead 1973, S. 218f).
Das „I“ ist demnach dafür verantwortlich, dass dem menschlichen Handeln immer das Potential der Unbestimmtheit innewohnt. In diesem Sinne bildet das „I“ zum anderen das Potential zur kreativen Beantwortung von Handlungsproblemen und kann damit auch Motor sozialer Veränderungen sein (Mead 1973, S. 240ff.). Stryker formuliert hinsichtlich dieses Potentials:
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„…according to Mead, the self continuously reacts (through an „I-me“ dialectic) to the society that shapes the self. Through this process, society is continuously being created and recreated; it is never fixed.” (Stryker 1980, S. 39)
Diesen Aspekt der dialektischen Konstitution von Subjekt und Objekt hebt Dunn (1997) als wesentliche Stärke der Meadschen Überlegungen hervor: “The “I” of Mead´s self is an interpretive figure, opening the door to an continuous process of interpretation and reinterpretation of the social meaning of objects and events. On both objective and subjective levels, then, meaning is drawn into a dialectical process of problematization and reconstruction as a means of moving action forward.” (Dunn 1997, S. 703)
So bietet sich jedem Individuum über das „I“ die Möglichkeit, die im „Me“ organisierten externen Perspektiven in einer neuen Form auszudrücken und bei entsprechender sozialer Beachtung dem „Me“ eine neue Facette zu verleihen bzw. eine neue Erkenntnis über sich zu erwerben - also eine individualisierte Identität zu entwickeln. Habermas (1999, S. 66f) und Honneth (1994, S. 139) sprechen in diesem Zusammenhang auch vom Potential zur „Selbstverwirklichung“ des Individuums.12 Generell kann sich das Individuum dabei also nur über das „Me“ bewusst werden und in den Blick bekommen, denn sobald es über die Impulse des „I“ reflektiert, muss es sich ja auf die über das „Me“ gehaltenen Erfahrungen beziehen (Mead 1973, S. 216ff.). „Selbstverwirklichung“ stellt sich demnach als die immer umfassendere Ausprägung des „Me“ dar, indem immer mehr Facetten des „I“ positiv sozial validiert bzw. anerkannt werden. Mit Mead lässt sich zusammenfassend formulieren: “Both aspects of the “I” and “me” are essential to the self in its full expression. One must take the attitude of the others in a group in order to belong to a community; he has to employ that outer social world taken within himself in order to carry one thought. (...) On the other hand, the individual is constantly reacting to the social attitudes, and changing in this co-operative process the very community to which he belongs.” (Mead 1934, S. 199).
12 Zum Zusammenhang von Selbstverwirklichung und Gesellschaftswandel vgl. Honneth (1994); Wagner (2004).
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2.2.2.4 Anerkennung als Medium einer gelingenden Identitätsbildung Um die Bedeutung der Anerkennung für eine „gelingende“ Identitätsbildung darzustellen, ist es sinnvoll, den Abschnitt mit einer kurzen Zusammenfassung der bisher erläuterten theoretischen Grundlagen zu eröffnen. Anschließend erfolgt die Erläuterung von Anerkennung und deren grundlegendem Zusammenhang mit Identität. Es wurde gezeigt, dass der individuelle Erwerb von Selbstbewusstsein und die Bildung einer subjektiven Identität notwendig an die soziale Interaktion mit anderen Individuen geknüpft sind. In der Meadschen Konzeption wird dies durch den Prozess des „taking the role of the other“ und die entsprechende Ausbildung des „Me“ als Identitätskomponente beschrieben. Das heißt, es erfolgt zum einen die Übernahme der normativen Perspektive der jeweiligen Interaktionspartner, bzw. des „generalisierten Anderen“ auf sich selbst, und zum anderen die Speicherung und Organisation dieser Perspektiven in der reflexiv zugänglichen Identitätskomponente „Me“. Dabei steht dem „Me“ die zweite Identitätskomponente des „I“ gegenüber, welche das Potential spontaner oder neuartiger Handlungen eines jeden menschlichen Individuums verkörpert. Die jeweiligen Reaktionen und die darin eingebetteten normativen Bewertungen der Interaktionspartner auf individuelle Handlungen, die je nach Interaktionssituation mehr oder weniger durch das „I“ bestimmt sein können, fließen also als Erfahrungen über einen selbst in die Identitätskomponente „Me“ ein und erlauben damit die Genese von subjektiver Identität („taking the role of the other“). Ein Individuum kann seine Identität somit nur anhand der im „Me“ gesammelten, vom sozialen Umfeld übernommenen normativen Bewertungen wahrnehmen. Die Perspektive der Anerkennung lässt sich nun folgendermaßen in die Argumentation einbringen: Wie erläutert, kann sich ein Individuum in seiner Identität nur dann erfassen, wenn es die sozialen Normen bzw. Bewertungskriterien des sozialen Umfeldes kennt bzw. als solche akzeptiert13 und auch auf sich anwendet. In der Meadschen Konzeption wird grundlegend angenommen, dass ein Individuum nur dann dauerhaft eine Identität erhalten und diese im Rahmen seiner Selbstverwirklichung fortentwickeln kann, wenn es damit auch auf die Akzeptanz des jeweils subjektiv relevanten Umfeldes stößt. Ein Individuum muss sich demnach als akzeptiertes Mitglied einer bestimmten Gruppe bzw. eines bestimmten Interaktionsbereiches fühlen können. So formuliert Mead: „...nur insoweit er (das Individuum Anm. d. V.) die Haltungen der organisierten gesellschaftliche Gruppe, zu der er gehört, gegenüber der organisierten, auf Zusam13 Ein Individuum muss sich dabei nicht ausschließlich an seinem unmittelbaren sozialen Umfeld orientieren. Es könnte sich auch um einen abstrakten Dialogpartner, wie z.B. eine Religion, handeln.
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menarbeit beruhenden gesellschaftlichen Tätigkeiten, mit denen sich diese Gruppe befasst, annimmt, kann er eine vollständige Identität entwickeln und die, die er entwickelt hat, besitzen.“ (Mead 1973, S. 197)
In diesem Zusammenhang schreibt er weiter: „Das ist jene Identität, die sich in der Gemeinschaft halten kann, die in der Gemeinschaft insoweit anerkannt wird, als sie die anderen anerkennt.“ (Mead 1973, S. 249).14
Eine so verstandene, wechselseitige Anerkennung lässt sich als „Medium sozialer Integration“ (Holtgrewe et al. 2000, S. 9) beschreiben und wird - wie bereits einer langen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Tradition folgend als notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung und Fortentwicklung einer subjektiv akzeptierbaren Identität betrachtet (vgl. Hösle 1988; Honneth 1994; Taylor 1995; Wagner 2004). So schreibt Taylor: „Die These lautet, unsere Identität werde teilweise von der Anerkennung oder Nicht-Anerkennung, oft auch von der Verkennung durch die anderen geprägt, so dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen.“ (Taylor 1993, S. 13f, H.i.O.)
Meads eigene Ausführungen zum Wesen der wechselseitigen „Anerkennung“ sind nicht besonders ausführlich. Zuweilen entsteht der Eindruck einer eher einseitigen „Anpassung“ des Einzelnen an vorhandene Anerkennungsstrukturen.15 Die Gründe hierfür liegen wesentlich in der zwar vorhandenen, aber geringen Betonung eines nach Individualität und somit nach entsprechender Aner14 In diesem Zusammenhang kann auch von unterschiedlichen Foren der Anerkennung bzw. Ebenen der Anerkennung gesprochen werden, in denen unterschiedliche Standards der Anerkennung gelten und die im Sinne des Ausmaßes der gesellschaftlichen Anerkennung auch zueinander über- bzw. untergeordnet sind. So lässt sich z.B. in Bezug auf den Interaktionsbereich Arbeit Anerkennung sowohl horizontal, etwa im Sinne einer gleichwertigen Anerkennung in unterschiedlichen beruflichen Interaktionsbereichen (z.B. Arzt und Rechtsanwalt), als auch vertikal im Sinne unterschiedlicher Chancen auf gesellschaftliche Anerkennung, z.B. Arbeit im Schlachthaus („dirty work“ vgl. Ashforth/Kreiner 1999) vs. Arbeit als Arzt, unterteilen (vgl. z.B. Holtgrewe/Voswinkel/Wagner 2000, S. 17ff.; Wagner 2004). 15 Dies liegt sicherlich in der Forschungstradition des Pragmatismus begründet, der Mead wesentliche inhaltliche Impulse verdankt (z.B. John Dewey) und der er sich auch selbst zurechnet (für eine kurze Übersicht vgl. Stryker 1980).
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kennung strebenden „I“ („Selbstverwirklichung“) sowie in der Nichtbeachtung potentieller Konflikte, die durch die Verkennung oder gar Missachtung der im „Me“ gehaltenen Erfahrungen über einen selbst entstehen können. Diesbezüglich betont Honneth (2004) z.B., dass die Anerkennung aus bestimmten Interaktionsbereichen vom Einzelnen auch zurückgewiesen werden kann, wenn diese bisherigen subjektiven Identitätsvorstellungen zuwiderläuft bzw. auch eine bestimmte Anerkennung vom Einzelnen eingefordert werden kann. Generell korrespondiert mit der Erfahrung der wechselseitigen Anerkennung ein Modus der praktischen Selbstbeziehung, indem das Individuum sich des sozialen Wertes seiner Identität versichern kann (Honneth 1994, S. 127). Dabei wird der überwiegend positive Bezug zum eigenen Selbst als Voraussetzung für die Aufrechterhaltung und Fortentwicklung der eigenen Identität, also „gelingender“ Identitätsbildung, bzw. der oben angesprochenen „Selbstverwirklichung“ betrachtet. So spiegeln sich „Identitätsstörungen“ bzw. „narzisstische Störungen“ auch aus psychoanalytischer Perspektive als „schwere Störungen in der Einstellung zum Selbst und in der Regulierung des Wohlbefindens und der Selbstachtung wieder“ (Volmerg 1976a, S. 130). Dabei wird eine hohe Selbstachtung bzw. ein positives Selbstwertgefühl ebenfalls dann angenommen, wenn das „affektive Bild vom Selbst mit einer Dominanz positiver und lustvoller Affekte verbunden ist“ (ebenda). Mead spricht in diesem Zusammenhang von dem „Selbstrespekt“ eines Individuums (Mead, 1973, S. 248f.) und geht davon aus, dass der Grad dieses Selbstrespektes daran gebunden ist, bis zu welchem Maße die Eigenschaften oder Fähigkeiten, in denen das Individuum Anerkennung durch seine Interaktionspartner findet, jeweils individualisiert16 sind (vgl. Mead 1973, S. 248ff.; Honneth 1994, S. 127ff.).17 Das heißt, ein Individuum empfindet einen umso höheren Selbstrespekt, desto mehr es sich in seinen Unterschieden gegenüber anderen Individuen anerkannt fühlt. Mead (1973, S. 248f) formuliert dazu: „Es ist sehr interessant in das eigene innerste Bewusstsein zurückzugreifen und das zu suchen, wovon die Aufrechterhaltung unseres Selbstrespektes abhängt. Natürlich 16
„Individualität“ stellt dabei, wie zu Beginn des Kapitels zur soziohistorischen Dimension von Identität ausgeführt, einen modernen Anspruch an Identität dar (Schimank 1996, S. 44ff.). 17 Honneth legt in diesem Zusammenhang in seiner frühen Arbeit eine umfangreiche Analyse zu unterschiedlichen Stufen der Anerkennung (Liebe, Recht, Solidarität) und den korrespondierenden Modi des Selbstbezuges vor (Honneth 1994, S. 126ff.). Später wendet er sich von den Meadschen Grundlagen zur Identitätsbildung ab, da diese für sein Vorhaben nicht ausreichend normativ gefüllt bzw. begründet seien (vgl. das Nachwort in Honneth 2003). Hiermit ist insbesondere die bei Mead wenig spezifizierte Rolle und Richtung des „I“ gemeint („Selbstverwirklichung“). Meiner Ansicht nach bietet Honneth jedoch keine befriedigende Erklärung für den gänzlichen Verzicht auf die Meadschen Ideen, denn diese bieten durchaus Ansatzpunkte für die oben dargestellten Gedanken, bzw. lassen sich in der Form entsprechend anreichern.
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gibt es tiefe und solide Grundlagen. Man hält sein Wort, erfüllt seine Verpflichtungen. Das gibt bereits eine Basis für den Selbstrespekt. Doch handelt es sich hier um Eigenschaften, die den meisten Mitgliedern unserer Gemeinschaft zuzuschreiben sind. Wir alle versagen gelegentlich, aber im großen und ganzen stehen wir zu unserem Wort. Wir gehören zu einer Gemeinschaft und unser Selbstrespekt hängt davon ab, dass wir uns als selbstbewusste Bürger sehen. Doch genügt uns das nicht, da wir uns in unseren Unterschieden gegenüber anderen Personen erkennen wollen.“(Mead 1973, S. 248f) (“But that is not enough for us, since we want to recognize ourselves in our difference from other persons.” Mead 1934, S. 205).
So lässt sich Anerkennung mit Holtgrewe et al. (2000, S. 9) allgemein verstehen „...als Element sozialer Reziprozität, als Grundlage der Identitätsbildung und des Selbstwertes und als Medium der Moral verstanden als Achtungskommunikation.“ 2.2.3 Subjektive Identität und moderne Gesellschaftsform Die sozialwissenschaftliche Thematisierung und Konzeption individueller Identität als auch die alltagsweltlichen Vorstellungen über Identität sind zumeist durch grundlegende Vorstellungen über die Beschaffenheit moderner Gesellschaftsformen geprägt (vgl. Baumeister 1986; Keupp et al. 2002). So ist die Vorstellung, dass jede Person über eine individuelle - also einzigartige und selbstbestimmte - Identität verfügt bzw. verfügen sollte, als normativer Anspruch der Moderne zu begreifen (vgl. Frey/Haußer 1987, S. 9; Schimank 1996, S. 46). Schimank schreibt entsprechend: „Die Mitglieder moderner Gesellschaften sind es gewohnt, sich als Individuen zu begreifen. (...) Einem mittelalterlichen Menschen wäre das damit heute von uns gemeinte Selbstverständnis ganz fremd gewesen.“ (Schimank 199, S. 44f)
Ein solches Verständnis von Identität resultiert aus dem soziostrukturellen und kulturellen Zuschnitt moderner Gesellschaften. Diese sind durch eine hohe Differenzierung sozialer Interaktionsbereiche gekennzeichnet, in denen das Individuum mit unterschiedlichen, z.T. widersprüchlichen Erwartungen bzw. Bedingungen der Anerkennung konfrontiert wird und diese im Sinne der eigenen Identitätsbildung verarbeiten muss. In dieser Hinsicht erscheint es problematisch, dass die Bildung von Identität in der Meadschen Konzeption relativ bruchlos aus den Erwartungen bzw. normativen Bewertungen der jeweiligen Interaktionsbereiche abgeleitet wird (Geulen 1989, S. 120). Mead geht dabei vom „normalen“ Zustand einer „ein44
heitlichen“, „vollständigen“ oder „kompletten“ Identität aus, welche in der Form von der Einheit des sozialen Umfeldes bzw. der relativ unproblematischen Synthese sozialer Verhaltensanforderungen im generalisierten Anderen abhängig ist: „Die Einheit und Struktur der kompletten Identität spiegelt die Einheit und Struktur des gesellschaftlichen Prozesses als Ganzen.“ (Mead 1973, S. 186). Laut Stryker (1980, S. 38) spiegelt sich hierin Meads generelle, sicherlich durch das Studium der philosophischen Schriften von Hegel beeinflusste „…vision of mankind as an ultimate member of a „single universe“ in which all participated cooperatively in moving mankind to higher evolutionary levels.” (vgl. auch Honneth 1994, Hartz/Faßauer 2006). Ist die Einheit des gesellschaftlichen Prozesses als Ganzen nicht gegeben, entsteht gemäß Mead für den Einzelnen der pathologische Zustand der „Persönlichkeitsspaltung“ (Mead 1973, S. 186). Auch in diesen Zusammenhang wird wieder Meads geringes „Vertrauen“ in das eigentliche Potential, das die subjektive Identität dem Einzelnen in Hinsicht auf Entscheidungsfähigkeit und Konfliktbereitschaft bieten kann, deutlich. Das heißt, der Einfluss bisher gemachter Anerkennungs- bzw. Identitätserfahrungen auf zukünftige Entscheidungen in Hinsicht auf die Wahl bestimmter sozialer Interaktionsbereiche bzw. Anerkennungspartner oder auch die Bereitschaft zur Verteidigung und Fortentwicklung der eigenen Identität werden von Mead nicht in Betracht gezogen. Demnach kommt die Meadsche Identitätskonzeption einer Vorstellung von Individualisierung als Konfrontation mit und Verarbeitung von vielen unterschiedlichen, spannungsreichen sozialen Verhaltenserwartungen kaum entgegen und wirft die Frage auf, wie man sich eine Identität vorstellen kann, die sich unter einer großen Vielfalt des sozialen Umfeldes bildet (vgl. Geulen 1989, S. 119ff.). Aus diesem Grunde werden im folgenden Abschnitt ausgewählte Aspekte des Zuschnittes moderner Gesellschaftsformen vorgestellt. Anschließend wird auf die in diesen Kontext einordbaren identitätstheoretischen Erkenntnisse von Erving Goffman eingegangen, da durch diese die Meadsche Identitätskonzeption entsprechend spezifiziert werden kann. 2.2.3.1 Individualisierung durch gesellschaftliche Differenzierung Moderne Gesellschaften sind durch eine hohe Differenzierung sozialer Interaktionsbereiche gekennzeichnet (vgl. Habermas 1988; Türk 1995, S. 155ff.; Schimank 1996; Willems/Hahn 1999). Die Entwicklung zur „modernen“ Gesellschaftsform wird demnach häufig anhand der Tendenz der gesellschaftlichen
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Differenzierung, als „zunehmende Ungleichartigkeit der Bausteine“ einer Gesellschaft, diagnostiziert18 (Schimank 1996, S. 10). Der Beginn der Moderne wird in unterschiedlichen Zeiträumen verankert. Zumeist werden die Anfänge im beginnenden 16. Jahrhundert gesehen und auf unterschiedliche, sich gegenseitig beeinflussende Faktoren, wie z.B. sich wandelnde religiöse Orientierungen oder Innovationen im wissenschaftlichen und technologischen Bereich, zurückgeführt (vgl. Arzberger 1988; Bohn/Hahn 1999). Schimank betrachtet insbesondere die Differenzierungserscheinungen infolge der industriellen Revolution des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts als wesentlich und thematisiert diese auf zwei Ebenen: auf der Ebene gesellschaftlicher Teilbereiche und auf der Ebene sozialer Rollen. Die erste Ebene kennzeichnet die zunehmende Ausdifferenzierung und Spezialisierung einzelner gesellschaftlicher Bereiche mit entsprechend spezifischen gesellschaftlichen Handlungslogiken. So differenziert sich z.B. der „Bereich der Politik für das Streben nach Macht, die Wirtschaft für das Streben nach Gewinn, die Wissenschaft für das Streben nach Wahrheit und die Jurisprudenz für das Streben nach Recht“ heraus, wie Schimank (1996, S. 59) am Beispiel der Ausführungen Max Webers (1988) zur Rationalisierung gesellschaftlicher „Wertsphären“ formuliert. Dabei wird in der Soziologie insbesondere die Ausdifferenzierung und Dominanz des wirtschaftlichen Teilbereiches als marktwirtschaftlich-kapitalistisches System, als zentral in Bezug auf die gesellschaftlichen Auswirkungen betrachtet (vgl. Türk 1995, S. 186ff.; Zima 2001, S. 47f.). Hierfür beispielhaft steht nach Schimank insbesondere die Analyse der kapitalistischen Ökonomie nach Karl Marx (1962) als auch die Arbeit Georg Simmels (1999) über die Rolle des Geldes in der modernen Wirtschaft (Schimank 1996, S. 69ff.). Auch Max Webers (1988) Analyse über die Auswirkungen des Protestantismus auf die Entfaltung der kapitalistischen Rationalität ist hier als grundlegend zu betrachten (vgl. Schluchter 1979; Arzberger 1988; Zima 2001). Diese Spezialisierung und Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche wird dabei durch deren zunehmende „Organisierung“ begleitet bzw. getragen. Das heißt, es entsteht eine zunehmend arbeitsteilige, planmäßig koordinierte soziale Interaktion in den Teilsystemen. Beispielhaft hierfür steht das Aufkommen zunehmend bürokratisch organisierter, staatlicher Verwaltungen oder die Entwicklung hoch arbeitsteiliger bzw. fabrikförmig organisierter Produktionsunternehmen. Vor diesem Hintergrund können moderne Gesellschaften auch als „Organisationsgesellschaften“ bezeichnet werden (vgl. Türk et al. 2002; Schimank 2005). 18
Eine umfassende und differenzierte Darstellung der Problematik „Moderne“ findet sich in Zima 2001.
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Die Ebene der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche und deren korrespondierende zunehmende „Organisierung“ überwölbt die zweite Ebene, auf der Differenzierung von Schimank betrachtet wird. Es handelt sich hierbei um die Ebene der sozialen Rollen, auf der eine wachsende Rollendifferenzierung festzustellen ist (Schimank 1996, S. 10). Das heißt, es kommt zu einer Vervielfältigung der sozial standardisierten Verhaltenserwartungen, denen Personen in einer Gesellschaft potentiell unterliegen können. Diese Rollendifferenzierung entwickelt sich aus der wachsenden Arbeitsteilung und beruflichen Speziali-sierung innerhalb und zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen bzw. deren Organisationen. So erlauben technische Entwicklungen ein weitaus höheres Niveau der Zerlegung von Arbeitstätigkeiten im Produktionsprozess bzw. eine zunehmend fabrikförmige Arbeitsorganisation und die korrespondierende Trennung von „Hand- und Kopfarbeit“ (z.B. Arbeiter und Angestellte) in Unternehmen. Auf diese Weise entwickeln sich je nach Arbeitsaufgabe notwendigerweise unterschiedliche Rollenerwartungen an die Organisationsmitglieder, die sich auch gesellschaftlich ausprägen (vgl. z.B. Kracauer 1971). Diese Differenzierungserscheinungen bedingen zugleich eine sich notwendig wandelnde Art und Weise der Integration des Einzelnen in sein soziales Umfeld bzw. die Gesellschaft. Zur Veranschaulichung dieses Zusammenhanges ist es hilfreich, sich die entsprechende Theorie zur Entwicklung moderner Gesellschaften nach Emile Durkheim (1992 orig. 1893) zu vergegenwärtigen: Durkheim betrachtet die Arbeitsteilung als grundlegenden Faktor der gesellschaftlichen Differenzierung. Dementsprechend trifft er eine Unterscheidung zwischen „einfachen Gesellschaften“ und „höheren bzw. modernen Gesellschaften“ anhand des Ausmaßes der vorliegenden Arbeitsteilung. „Einfache Gesellschaften“ bestehen aus vielen kleinen autarken Segmenten. Das heißt, zwischen diesen Segmenten besteht eine geringe soziale Interdependenz und Arbeitsteilung. Auch innerhalb der Segmente findet Arbeitsteilung weitgehend nur nach Alter und Geschlecht statt. Der soziale Zusammenhalt solcher Segmente beruht auf der allen Mitgliedern gemeinsamen Gesamtheit von Werten, Verhaltensnormen, Wissensgehalten und Meinungen und basiert somit auf der Ähnlichkeit der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Mitglieder. Die soziale Integration des Einzelnen beruht damit auf der mit den anderen Segmentmitgliedern geteilten, gleichen kulturellen Orientierung, welche sich über die soziale Nähe entwickelt und durch die entsprechende soziale Kontrolle innerhalb des Segmentes aufrechterhalten wird. Durkheim bezeichnet diese Integrationsform als „mechanische Solidarität“. „Höhere Gesellschaften“ weisen demgegenüber ein hohes Maß an gesellschaftlicher Arbeitsteilung zwischen den Gesellschaftsmitgliedern auf. Die auf der Arbeitsteilung basierende Rollendifferenzierung impli47
ziert eine Pluralisierung individueller Wahrnehmungs- und Deutungsmuster. Dementsprechend ist eine soziale Integration des einzelnen Menschen, die auf dessen Ähnlichkeit mit den anderen Gesellschaftsmitgliedern beruht, nicht mehr möglich. Vielmehr wird die „mechanische Solidarität“ gemäß Durkheim nun durch eine andere Integrationsform überwölbt, die sich aus den, durch die Arbeitsteilung entstandenen Abhängigkeiten der Gesellschaftsmitglieder entwickelt - also auf deren Unähnlichkeit und Ergänzung beruht. Die Integration des Einzelnen erfolgt also nun über die Erfüllung der arbeitsteilig bedingten Verhaltenserwartungen im Leistungsaustausch mit den anderen Gesellschaftsmitgliedern. Die Mechanismen der Integration erwachsen demnach aus der Arbeitsteilung selbst und werden von Durkheim als „organische Solidarität“ bezeichnet. Die in der Form entstehenden Normen, die sich über die gesamte Gesellschaft erstrecken, finden ihre formale Manifestation etwa in rechtlichen Grundsätzen. (vgl. Schimank 1996, S. 27ff.; Kippele 1998, S. 84ff.; Habermas 1999, S. 118ff.). Die Durkheimschen Vorstellungen über die Entwicklung von einfachen zu höheren Gesellschaften zeigen anschaulich die zwei wesentlichen Merkmale, die dem Vorgang der gesellschaftlichen Differenzierung grundlegend zugeschrieben werden: Zum einen liegt eine gesellschaftliche Differenzierung auf funktionaler Ebene vor. Zum anderen ist hiermit die Zersetzung traditioneller, sozialer Integrationsformen, wie traditioneller Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge und traditioneller Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen,19 wie sie z.B. in der Durkheimschen Konzeption innerhalb eines Segmentes zu finden waren, verbunden (vgl. Beck 1986, S. 206ff.; Habermas 1988, S. 234; Willems/Hahn 1999). Die so verstandene Differenzierung einer Gesellschaft wird dabei als eine grundlegende Quelle einer zunehmenden Individualisierung von Gesellschaftsmitgliedern betrachtet (Geulen 1989, S. 108 ff.; Schimank 1996; Wagner 2004, S. 28ff., S. 63ff.). Individualisierung bezeichnet in diesem Zusammenhang die wachsende Einzigartigkeit und Selbstbestimmung von Identität. Dieser Individualisierungsvorgang ist folgendermaßen zu erklären: Die Herausbildung gesellschaftlicher Teilbereiche, die zunehmende Rollendifferenzierung und die hiermit einhergehende Auflösung traditioneller Einbindungsformen bedingen eine zunehmende Vervielfältigung von Interaktionsbereichen und sozialen Verhaltenserwartungen für den Einzelnen. Dies bewirkt eine entsprechende Vervielfältigung der sozialen Erfahrungen des Einzelnen, welche im Rahmen der Iden19 Hieran schließt sich in den Theorien der gesellschaftlichen Differenzierung die unmittelbare Frage nach neuen sozialen Integrationsmechanismen an (Schimank 1996). Vor diesem Hintergrund sind auch Ausführungen in Bezug auf die negativen Folgeerscheinungen der gesellschaftlichen Desintegration (Entfremdung, Anomie) einzuordnen.
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titätsarbeit subjektiv verarbeitet und in Einklang gebracht werden müssen (vgl. z.B. Schäfer 1998; Bohn/Hahn 1999). Aufgrund der hohen Anzahl möglicher Erfahrungskombinationen und der subjektiven Verarbeitung und Aneinanderreihung von Erfahrung bewirkt gesellschaftliche Differenzierung damit eine zunehmende Einzigartigkeit der Identität des Einzelnen, wie Schimank (1996, S. 46ff.) unter beispielhaftem Bezug auf die Arbeit Georg Simmels (1992) über gesellschaftliche Differenzierung und Individualisierung zeigt. Neben dem Merkmal der Einzigartigkeit betrachtet Schimank dabei das der Selbstbestimmung als zweites Merkmal von Individualität. Selbstbestimmung äußert sich in dem mehr oder weniger großen Spielraum in Bezug auf Wahl und Umgang mit den sozial vorgegebenen Rollen und ermöglicht in der Form erst die Einzigartigkeit von Identität. So formuliert Habermas: „Was sich historisch als gesellschaftliche Differenzierung darstellt, spiegelt sich ontogenetisch im Zuge einer immer differenzierteren Wahrnehmung von, und Konfrontation mit, vervielfältigten und spannungsreichen normativen Erwartungen. Die internalisierende Verarbeitung dieser Konflikte führt zu einer Autonomisierung des Selbst: das Individuum muss sich gewissermaßen als selbsttätiges Subjekt selber erst setzen. Insofern wird Individualität nicht in erster Linie als Singularität, nicht als askriptives Merkmal, sondern als Eigenleistung gedacht - und Individuierung als eine Selbstrealisierung des Einzelnen.“ (Habermas 1988, S. 190, H.i.O.)
Einzigartigkeit und Selbstbestimmung und somit die Individualität von Identität stellen sich dabei als parallel erwachsendes Erfordernis für die Entstehung und Aufrechterhaltung moderner Gesellschaften dar. Schimank (1996, S. 46) bezeichnet sie demnach als Wollens-, aber zugleich auch Sollensprinzipien moderner Gesellschaften, wodurch zugleich die Ambivalenz von Individualisierung deutlich wird20 (vgl. Habermas 1988; Schäfer 1998; Hitzler 1999; Honneth 2002; Keupp 2002). Einerseits hat der Einzelne größere Spielräume, die eigene Identität zu entfalten, andererseits besteht der gesellschaftlich funktional bedingte Zwang zu dieser Entfaltung - also ein „Individualitätszwang“ - und dies notwendigerweise ausschließlich in Auseinandersetzung mit dem Rollenrepertoire der Gesellschaft.
20
Vgl. Gesellschaftshistorische Analysen, die auf den Zwangscharakter dieses „Individualisierungsprozesses“ hinweisen, z.B. Negt/Kluge (1993) oder die Perspektiven der Kritischen Theorie, z.B. Marcuse (1998), Adorno (1995a, b).
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2.2.3.2 Individualisierung und Meads Identitätskonzeption In diesem Abschnitt geht es um die Frage, wie die Erkenntnisse Meads über den grundlegenden Charakter der Identitätsbildung mit den Einsichten über die gesellschaftliche Differenzierung und der hiermit implizierten Individualisierung von Identität zusammengebracht werden können. Die Kritik an Meads Ansatz, die „einheitliche“ Identität aus der Einheit des sozialen Umfeldes abzuleiten, kann unterschiedlich gesehen werden. Einerseits kann Mead durchaus zugestimmt werden, dass eine hoch diversifizierte Umwelt, d.h. hoch differenzierte, voneinander abweichende Anerkennungsbereiche, mit denen der Einzelne konfrontiert werden kann, dessen Identitätsbildung erschweren können. Andererseits erweckt Meads Aussage den Eindruck, dass der Einzelne kaum Spielraum für die subjektive Genese der eigenen Identität hat, also vollkommen abhängig vom sozialen Umfeld ist. Dies reibt sich jedoch mit seinen eigenen Ideen in Bezug auf die Beschaffenheit des „I“ oder den Gedanken der individualisierten Anerkennung. Die Kritik an der Ableitung einer einheitlichen Identität aus einer einheitlichen Umwelt kann gut mit der entsprechenden Kritik und den Weiterführungen der frühen Rollentheorie verknüpft werden (vgl. Geulen 1989, S. 120; Schimank 2000, S. 55ff.). So lassen sich die in verschiedenen sozialen Interaktionsbereichen an den Einzelnen gestellten und anzuerkennenden Verhaltenserwartungen in der Meadschen Konzeption soziologisch als Rolle definieren, was schon begrifflich im Prozess des „taking the role of the other“ angedeutet ist (vgl. Dahrendorf 1977; Stryker 1980; Schimank 2000, S. 44). Die nun schon mehrfach angesprochenen Prozesse der Selbstverwirklichung stellen sich so als Versuche des „role making“ im Sinne der Kreation und Modifikation der vorgegebenen Rollen dar (vgl. z.B. Ansätze von Ralph H. Turner und George McCall zur Verknüpfung von Rolle und „Selbst“, vgl. übersichtsartig Stryker 1980; Schimank 2000, S. 55ff.). In der Meadschen Konzeption ist der Einzelne jedoch, wie gezeigt, auf die generelle Einheit der sozialen Rollen angewiesen, um eine „einheitliche“ Identität aufrechtzuerhalten. Die entsprechende Identitätsarbeit des Einzelnen unterliegt in der Meadschen Konzeption damit zwei wesentlichen Voraussetzungen:
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Die Erwartungen verschiedener Bezugsgruppen in Bezug auf eine einzunehmende Rolle sind ohne Weiteres miteinander vereinbar (kein IntraRollenkonflikt). Die Erwartungen, denen die Person in einer Rolle genügen muss, sind problemlos mit denen anderer Rollen der Person vereinbar (kein Inter-
Rollenkonflikt). (vgl. zu weiteren kritischen Aspekten der frühen Rollentheorie Schimank 2000, S. 55ff.) Diese Voraussetzungen sind in modernen Gesellschaften längst nicht immer gegeben. Vielmehr hat man es mit einer hohen Vielfalt von möglichen Verhaltenserwartungen für den Einzelnen zu tun, die sich zueinander durchaus spannungsreich verhalten können. Vor diesem Hintergrund bedarf die Meadsche Identitätskonzeption also einer entsprechenden Erweiterung, mit der die Annahme, dass eine „einheitliche“ Identität lediglich das Spiegelbild einer einheitlichen sozialen Umwelt darstellt, durchbrochen werden kann. Ansätze hierfür finden sich nach Geulen (1989, S. 120ff.) vornehmlich in den Arbeiten Erving Goffmans (1973; 1992; 1999; 2003). Goffman begreift den Begriff der Rolle in seinem ursprünglichsten Sinne und geht davon aus, dass Individuen bewusst ihre sozialen Rollen „spielen“ bzw. „inszenieren“ - also nicht gänzlich in einer Rolle aufgehen, sondern eine bewusste Rollendistanz entwickeln (vgl. Krappmann 1969, S. 133ff.; Goffman 1973; Weiss 1993, S. 80ff.). Dabei signalisiert das Individuum den anderen Interaktionspartnern aktiv seine Distanzierung von der sozial aufgedrängten Identität, indem es bestimmte Techniken anwendet, wie z.B. geringstmögliche Involvierung in die Situation, wohldosierte Abweichungen von den Normen, Persiflage des korrekten Rollenverhaltens, Gebrauch bestimmter Gesten, Späße, Faxen und anderes mehr (vgl. Geulen 1989, S. 123; Goffman 1973 S. 121; 2003). Um den Kooperations- und Interaktionszusammenhang zwischen den Beteiligten nicht zu gefährden, ist die Demonstration der Rollendistanz jedoch nur bis zu einem Grad möglich, der je nach Situation variieren kann (vgl. Geulen 1989, S. 123; Goffman 1992, S. 136ff.). So zitiert Goffman in seiner Arbeit über Stigmatisierte einen an Kinderlähmung erkrankten Mann, der in bestimmten Situationen die Rolle des Behinderten spielt und auf sichtbare Rollendifferenzierung verzichtet: „Wenn meine Nachbarn an einem schneereichen Tag bei mir klingeln, um zu erfragen, ob ich etwas aus dem Laden brauche, versuche ich, auch wenn ich auf schlechtes Wetter vorbereitet bin, mir lieber irgendeinen Artikel auszudenken, als ein großzügiges Angebot zurückzuweisen. Es ist liebenswürdiger, Hilfe zu akzeptieren, als sie in einer Bemühung, Unabhängigkeit zu beweisen, abzulehnen.“ (Goffman, 1992, S. 148)
Wird Rollendistanz jedoch inszeniert, dient sie der Demonstration des über die Rolle hinausgreifenden subjektiven Selbstbildes und hat zum Ziel, „die Sicht des Anderen von Ego so zu beeinflussen, dass sie Egos Selbstbild angemessener wird.“ (Geulen 1989, S. 123). Dabei ergibt sich diese Identität bzw. das Selbstbild bei Goffman aus der Gesamtheit aller Rollen, die das Individuum beklei51
det.21 Rollendistanz soll also zum Ausdruck bringen, dass der Betreffende noch andere Rollen einnimmt und welche diese sind. So verlangt jede Situation ein Ausbalancieren der Identität mit den von außen herangetragenen Rollen (Weiss 1993, S. 81). Im Unterschied zur Meadschen Konzeption bildet sich die Gesellschaft also nicht harmonisch in der Identitätsstruktur des Einzelnen ab. Vielmehr betont Goffman, dass die Identität des Einzelnen auf mehreren, z.T. widersprüchlichen Rollen beruht, die je nach Situation zueinander ausbalanciert werden müssen.22 Role making resultiert hiernach nicht wie bei Mead ausschließlich aus dem Trieb eines auf Anerkennung und Selbstverwirklichung strebenden „I“, sondern aus der Verschiedenartigkeit der Rollen, die der Einzelne einnimmt also aus seiner sozialen Bedingtheit. Goffman entwickelt in diesem Zusammenhang jedoch keine Vorstellung hinsichtlich der individuellen Quelle der Rollendistanzierung bzw. über die Entwicklung einer subjektiv wahrgenommenen Identität, die einen Referenzpunkt für den Umgang mit Rollen darstellen könnte. In dieser Hinsicht lässt sich wieder auf Meads Vorstellungen über „I“ und „Me“ sowie die Idee der wechselseitigen Anerkennung zurückgreifen. So kann ein subjektiv relativ stabiles „Me“ als Einheit von in Prozessen der wechselseitigen Anerkennung gemachten Erfahrungen eine sich stetig fortentwickelnde Ausgangsbasis für aktuelle und zukünftige Verhaltensweisen, Entscheidungen und Handlungen sein. Hervorzuheben ist, dass die Einheit der Erfahrungen nicht allein von der Einheit des sozialen Umfeldes abhängt (Mead), sondern vom Einzelnen - natürlich in einem gewissen Rahmen - selbst aktiv hergestellt werden kann, indem ausgehend von bisher gemachten Erfahrungen Entscheidungen in Bezug auf Rollendistanz, Rolemaking getroffen werden. Auf diese Weise lässt sich der Ansatz der Meadschen Identitätskonzeption als Prozess des „taking the role of the other“ unter den Bedingungen der gesellschaftlichen Differenzierung denken und erfassen (Geulen 1989, S. 124). Vor diesem Hintergrund vollzieht sich die Bildung von subjektiver Identität über die Perspektivenübernahme in unterschiedlichen sozialen Interaktionsbereichen und deren je individuelle Synthese in ein subjektiv als konsistent und kohärent empfundenes Selbst. 2.3 Zusammenfassende Darstellung Dieser Abschnitt dient zum einen dazu, die wesentlichen Erkenntnisse dieses Kapitels zur Beschaffenheit und Bildung von subjektiver Identität zusammen21
Zur Vertiefung und Kritik des Goffmanschen Identitätsbegriffes vgl. Daniels 1981, S. 167ff.; Weiss 1993, S.80ff. 22 Weitere Unterschiede zur Meadschen Identitätskonzeption vgl. Weiss 1993, S. 82ff.
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fassen. Hierauf basierend soll zum anderen die Definition und Erläuterung des in der Arbeit verwandten Identitätskonzeptes vorgenommen werden. 2.3.1 Identitätskonzeption nach George Herbert Mead Auf der Basis der Sozialpsychologie G.H. Meads lässt sich zeigen, dass die Konstitution der selbst wahrgenommenen bzw. subjektiven Identität des Einzelnen an die soziale Interaktion mit anderen gebunden ist. Erst über die Interaktion mit anderen ist der Einzelne veranlasst und in die Lage versetzt, über sich zu reflektieren, Erfahrungen über sich zu sammeln und darüber ein Bild über sich selbst bzw. eine subjektive Identität aufzubauen. Mead konzeptualisiert diesen Prozess als „taking the role of the other“ und Herausbildung und Zusammenspiel von zwei Identitätskomponenten. „Taking the role of the other“ beschreibt den Prozess der wechselseitigen Perspektivenübernahme zwischen Interaktionspartnern. Das heißt, der Einzelne lernt, sich aus der Perspektive seines Interaktionspartners zu betrachten bzw. dessen Sicht auf sich selbst einzunehmen. Dies geschieht, indem der Einzelne über die Reaktionen seiner Interaktionspartner Erfahrungen darüber sammelt, wie seine Verhaltens- und Handlungsweisen sozial bewertet werden. Auf diese Weise eignet er sich einen Bewertungsrahmen in Bezug auf seine vollzogenen oder intendierten Verhaltens- und Handlungsweisen an und ist damit in die Lage versetzt, sich als selbst Akteur in einem bestimmten sozialen Kontext betrachten zu können bzw. eine Identität aufzubauen. Mead beschreibt diesen Prozess als Sozialisationsvorgang, in dem der Einzelne schrittweise in einen immer größeren Kreis von Interaktionspartnern, bzw. in soziale Interaktionsbereiche, wie Familie, Schule, Beruf, Freizeit hineinwächst, um schließlich ein Bild von sich als Mitglied einer Gesellschaft zu entwickeln. Der Einzelne lernt sich also aus der normativen Perspektive eines immer größer werdenden sozialen Umfeldes zu betrachten bzw. sich selbst in ein größer werdendes soziales Gefüge sinnhaft einzuordnen. Das bedeutet zugleich, dass der Einzelne sich nur als jemand erfahren kann, der die Erwartungshaltungen seiner sozialen Umwelt in einer bestimmten Art und Weise erfüllt oder nicht erfüllt. „Taking the role of the other“ impliziert somit, dass der Einzelne seine Identität ausschließlich anhand des normativen Rasters seiner sozialen Umgebung festmachen kann. Die über dieses normative Raster strukturierten Selbsterfahrungen des Einzelnen werden in der Identitätskomponente „Me“ gespeichert. Das „Me“ wird demnach im Sozialisationsprozess sukzessive aufgebaut und beinhaltet die über den Vorgang des „taking the role of the other“ gewonnenen Erfahrungen über sich selbst (Welche Erwartungen haben meine Interaktionspartner an mich? Wie bin ich diesen 53
Erwartungen bisher nachgekommen und wofür werde ich dementsprechend besonders geschätzt? - Wer bin ich also?). Dem „Me“ ist das „I“ als zweite Komponente von Identität gegenübergestellt. Das „I“ ist somit die eigensinnige, also im weitesten Sinne spontane, kreative, sich des sozialen Einflusses entziehende Komponente von Identität. Das „I“ prägt die Gedanken, Verhaltensweisen und Handlungen des Einzelnen und kann ausschließlich über die unmittelbar erfahrenen oder die, aufgrund bisheriger Erfahrungen, antizipierbaren Reaktionen des sozialen Umfeldes subjektiv wahrgenommen bzw. bewertet werden. Das „I“ dringt demnach nur über die Brechung im „Me“ in das Bewusstsein des Einzelnen vor. Die Komponente „I“ ist der treibende, dynamische Faktor der Identitätsbildung. Das „Me“ beinhaltet demgegenüber die erfahrenen Kommentierungen über eigene Gedanken, Verhaltensweisen und Handlungen und stellt so die reflexiv zugängliche Komponente von Identität dar (vgl. zusammenfassend Abb. 5). Abbildung 5:
Identitätsbildung „Anerkennung“
„Anerkennung“ / Reaktionen des „signifikanten“ oder „generalisierten Anderen“
„I“ 2
„Me “ „I“ /“Eigensinn“ „Me“
Gesamtheit der bisherigen Erfahrungen
Gegenwärtige Erfahrung
Zukünftige Erfahrung
Quelle: eigene Darstellung Mead geht dabei generell davon aus, dass der Einzelne erst dann eine stabile Identität aufbauen bzw. einen positiven Bezug zu sich selbst bzw. seinem „Me“ entwickeln kann, wenn er sich in seinen Gedanken, Verhaltens- und Handlungsweisen sozial anerkannt fühlt. Facetten des „I“, die z.B. auf einhellige soziale Missachtung stoßen und negativ sanktioniert werden, sind nicht geeignet, einen befriedigenden Bezug zu sich selbst bzw. Selbstrespekt zu gewähr54
leisten, da der Einzelne gemäß der Logik des „taking the role of the other“ das normative Raster seiner Umwelt notwendig auf sich selbst anwenden muss, um überhaupt eine Identität aufzubauen. So lässt sich formulieren, dass der Einzelne erst dann eine subjektiv befriedigende und stabile Identität aufbauen kann, wenn er sich als anerkanntes Mitglied eines bestimmten Interaktionsbereiches bzw. der gesamten Gesellschaft fühlen kann, also grundlegende soziale Normen akzeptiert und auf sich anwendet. Meads Ausführungen erwecken in dieser Hinsicht häufig den Eindruck, dass es sich hierbei um einen sehr einseitigen Prozess handelt, d.h., dass das Individuum sich einseitig an soziale Verhältnisse anpasst. Die Betonung liegt also weniger auf dem nach Fortentwicklung strebenden „I“, der eigentlichen Wechselseitigkeit von Anerkennung und dem selbstreflexiven Potential eines sich entwickelnden individuellen „Me“, welches zu Rollendistanz, role making und aktiver Verteidigung der eigenen Identität befähigen kann. Für diese Interpretation von Identität bietet Meads Konzeptualisierung zwar durchaus Anknüpfungspunkte, diese werden jedoch von ihm selbst kaum behandelt oder spezifiziert. Hiermit mag auch zusammenhängen, dass Mead von der Idee einer einheitlichen, normativ widerspruchslosen Gesellschaft als Voraussetzung für eine einheitliche bzw. in sich widerspruchsfreie Identität eines jeden Gesellschaftsmitgliedes ausgeht. Unter Verweis auf den Vorgang der gesellschaftlichen Differenzierung und Anleihen bei der Rollentheorie wurde in Abschnitt 2.2.3 jedoch darauf hingewiesen, dass der Einzelne eher mit unterschiedlichen, nicht in einem allumfassenden gesellschaftlichen Rahmen auflösbaren, normativen Erwartungen bzw. Rollen konfrontiert ist. Diese Rollenerwartungen und entsprechenden Selbsterfahrungen müssen vom Einzelnen in seiner Identitätsarbeit notwendig in eine subjektiv nachvollziehbare Einheit synthetisiert werden. Aufgrund der potentiellen Vielfalt der Selbsterfahrungen aller Mitglieder einer differenzierten Gesellschaft wird in diesem Zusammenhang auch von der Individualisierung von Identität gesprochen. 2.3.2 Definition von Identität und Identitätsbildung In der vorliegenden Arbeit wird eine Definition23 von subjektiver Identität verwendet, die auf den entsprechenden Erkenntnissen von Mead aufbaut und die wesentlichen Facetten von Identität beinhaltet. Eine Definition, die dem schon sehr nahe kommt, ist jene nach Geulen. Hiernach ist subjektive Identität: 23
Zu weiteren konzeptionellen Ansatzpunkten der Definition von Identität, etwa nach qualitativen (Inhalt von Identität) oder formalen Gesichtspunkten (Herstellung von Identität) vgl. Frey/Haußer 1987, S. 11ff.; Keupp et al. 2002, S. 32.
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„...das in der Selbstreflexion gegebene Subjekt, soweit dieses unvertretbar die Synthese der gegebenen Mannigfaltigkeit in der biographischen Zeit (persönliche Identität) und im sozialen Raum (Rollen) leistet und daher Einheit ist.“ (Geulen 1989, S. 133)
In dieser Definition tauchen bereits wesentliche, bisher erläuterte Aspekte subjektiver Identität auf, die noch einmal kurz hervorgehoben werden sollen: Wie zu Beginn eingeleitet, beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit der subjektiv wahrgenommenen Identität des Einzelnen. Dies beinhaltet, dass der Einzelne also das Subjekt - über sich selbst nachdenkt, sich selbst zum Objekt der eigenen Betrachtung macht. Subjektive Identität entsteht demnach immer in Selbstreflexion. Dieser Aspekt und die entsprechende Entwicklung von Selbstbewusstsein und Reflexion konnte auf Basis des Meadschen Ansatzes der symbolisch vermittelten Interaktion in Abschnitt 2.2.2 dieser Arbeit hergeleitet werden. Der Sachverhalt, dass subjektive Identität ausschließlich vom in Selbstreflexion gegebenen Subjekt hergestellt werden kann, impliziert zugleich, dass das Subjekt in diesem Prozess unvertretbar - also subjektiv immer „Ich“ ist. Zwei wesentliche Facetten subjektiver Identität stellen Kontinuität als subjektiv empfundene Einheit über die Zeit und Kohärenz als empfundene Einheit des selbst über verschiedene Interaktionsbereiche dar. Kontinuität bedeutet also, dass Selbstidentifikation bzw. die Konstitution von subjektiver Identität dann gelingt, wenn der Einzelne seine Erfahrungen, die er im zeitlichen Verlauf seines Lebens über sich gesammelt hat, in eine subjektiv nachvollziehbare Einheit bringen kann bzw. sich immer als dasselbe, unvertretbare Subjekt mit eigener Lebensgeschichte empfinden kann („Ich war immer ich.“). Geulen bezeichnet diesen Aspekt der subjektiven Identitätsbildung als Synthese in der biographischen Zeit und den betreffenden Teil von Identität als persönliche Identität. In diesem Sinne kann für den Begriff der persönlichen Identität der Meadsche Begriff des „Me“ verwendet werden, wie in Abschnitt 2.2.2.3 nachzuvollziehen ist. Dabei ist die Einheit der persönlichen Identität bzw. des „Me“ zugleich an den Aspekt der Kohärenz gebunden. Kohärenz beinhaltet, dass der Einzelne die Erfahrungen, die er über sich in verschiedenen sozialen Räumen bzw. Interaktionsbereichen, wie z.B. Erwerbsarbeit, Familie, Freizeit, in eine subjektiv nachvollziehbare Einheit synthetisieren können muss. Geulen spricht an dieser Stelle von der notwendigen Synthese der unterschiedlichen Rollenerwartungen, die an den Einzelnen herangetragen werden. Dieser Punkt wurde unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Differenzierung und unter Rückgriff auf die Erkenntnisse Goffmans in Abschnitt 2.2.3 dieser Arbeit behandelt und als Ergänzung zur Meadschen Identitätskonzeption vorgestellt. 56
Geulen benennt in seiner Definition wesentliche Bausteine des in der vorliegenden Arbeit verwendeten Identitätsbegriffes, unterlässt es jedoch, explizit auf die notwendige Funktion der Interaktion bzw. der Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld und damit auch auf die Funktion der wechselseitigen Anerkennung für die Bildung von Identität einzugehen. Da wechselseitige Anerkennung jedoch notwendige Bedingung für die subjektiv befriedigende Identitätsbildung bzw. für den Aufbau eines positiven Selbstbezuges ist, wird folgende Definition des subjektiven Identität bzw. des Identitätsbildungsprozesses vorgeschlagen: Subjektive Identität ist die subjektiv empfundene Einheit (Kontinuität, Kohärenz) der lebenslangen und notwendig in sozialer Interaktion erworbenen Erfahrungen über sich selbst. Gelingende Identitätsbildung bzw. ein positiver Selbstbezug zur eigenen Identität ist dabei an die wechselseitige soziale Anerkennung in mindestens einem, subjektiv signifikanten Interaktionsbereich gebunden. 2.4 Identitätsbedrohende Anerkennungsmuster und Anomie Der letzte Abschnitt dieses Kapitels beschäftigt sich mit verschiedenen Möglichkeiten der Bedrohung subjektiv empfundener Identität durch mögliche Wechselwirkungen mit dem sozialen Umfeld. Eine Bedrohung oder gar Krise der eigenen Identität kann sich z.B. ergeben, wenn bisherige identitätsstiftende Erfahrungen radikal in Frage gestellt werden oder die Entfaltung einer subjektiv befriedigenden Identität durch überreglementierte oder gar gewalttätige Formen24 des sozialen Umganges verhindert wird (vgl. z.B. Schimank 1981; Frey/Haußer 1987). Hervorzuheben ist, dass „Bedrohungen für Identität“ im Folgenden in der Beschaffenheit und möglichen Dynamik sozialer Anerkennung - also auf der soziostrukturellen Seite des Identitätsbildungsprozesses - gesucht werden. Das heißt, der Fokus wird auf Merkmale des sozialen Umfeldes gerichtet, welche die subjektive Identitätsbildung des Einzelnen beeinflussen und so Identitätskrisen auslösen können (vgl. z.B. Zoll 1984). Aus dieser Perspektive kommen Identitätsbedrohungen in Form von psychopathologischen Zuständen, deren Ursachen auch physisch bedingt sein können, hier nur als Konsequenz sozialer Einflussnahme ins Blickfeld. Die auf Meads Ansatz aufbauenden Annahmen über die Beschaffenheit von Identität und die Bedingungen gelingender Identitätsbildung erlauben 24
In diesem Zusammenhang kann etwa auf die Ausführungen Honneths (1994) hingewiesen werden, der die Erfahrung von physischer Misshandlung und Vergewaltigung als einschneidende Bedrohung für das „Selbstvertrauen“ der betroffenen Person ansieht.
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grundlegende Aussagen über den Charakter einer potentiell identitätsbedrohenden sozialen Einflussnahme. In diesem Sinne werden im Folgenden bestimmte Charakteristika der den Einzelnen umgebenden sozialen Struktur in den Fokus genommen, die vor dem Hintergrund identitätstheoretischer Erkenntnisse identitätsbedrohend wirken. So werden in 2.4.1 das identitätsbedrohende Potential sich 1) radikal verändernder, 2) unbestimmter und 3) rigider Muster sozialer Anerkennung erläutert. Da in der Arbeit insbesondere das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Individuum und Organisation von Interesse ist, sollen die identitätstheoretischen Ableitungen aus 2.4.1 in 2.4.2 in einen konzeptionellen Rahmen gegossen werden, welcher sowohl Aussagen über die entsprechenden Auswirkungen auf die Individuumsebene als auch über die (Rück-)Wirkungen auf die soziostrukturelle Ebene erlaubt. Die soziologische Forschungstradition bietet dabei unterschiedliche Ansätze zur konzeptionellen Bündelung der in 2.4.1 getroffenen Aussagen über identitätsbedrohende Merkmale sozialer Verhältnisse. Einen anregenden Ansatz zur Analyse und Darstellung entsprechender sozialer Muster stellt der Ansatz der Anomie dar. Anomietheoretische Überlegungen bieten interessante Möglichkeiten zur systematischen Verknüpfung von individueller und soziostruktureller Ebene. In 2.4.2 wird daher spezifischer auf den identitätsbedrohenden Charakter anomischer Anerkennungsmuster eingegangen. 2.4.1 Veränderte, unbestimmte und rigide Anerkennungsmuster Generell kann subjektive Identität als die empfundene Einheit der über das Leben hinweg gesammelten Erfahrungen über einen selbst betrachtet werden. Die Entwicklung von Identität ist dabei notwendig an den Vorgang der wechselseitigen Anerkennung in sozialen Interaktionsprozessen und hinreichend an den empfundenen Grad der Individualisierung dieser Anerkennung gebunden. Abgesehen von allein physiologisch bedingten Faktoren sind die Ursachen für Identitätsbedrohungen bzw. -krisen als subjektiv empfundene Destabilisierung oder gar Zerfall der eigenen Identität demnach im Charakter der vom Einzelnen wahrgenommenen Anerkennungsverhältnisse zu suchen. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen, lassen sich drei wesentliche Ansatzpunkte für die Unterteilung von Anerkennungsmustern mit identitätsbedrohendem Charakter finden. Es handelt sich dabei um die radikale Veränderung oder den „schockartigen“ Zusammenbruch bisheriger Anerkennungsmuster, die ständige Unbeständigkeit bzw. Unsicherheit von Anerkennungsmustern und die rigide, „unterdrückende“ Beschaffenheit von Anerkennungsmustern.
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1) Radikale Veränderung von Anerkennungsmustern Schockartige Hinterfragung von Identität Wenn sich Anerkennungsmuster inhaltlich und in relativ kurzer Zeitspanne radikal verändern kann der Fall eintreten, dass die bisherige, subjektiv empfundene Einheit identitätsstiftender Erfahrungen nicht mehr gewährleistet werden kann. Frey/Haußer erklären hierzu: „Wir stellen uns nicht jeden Tag vor den Spiegel mit der Frage „Wer bin ich?“ Wenn aber ein Ereignis bestimmte Aspekte unserer bisherigen Identität erschüttert, dann kann diese Frage, in Abhängigkeit der Qualität des Ereignisses durchaus zwingend werden. Die Person muss demnach prüfen, ob sie noch dieselbe ist, was sich möglicherweise geändert hat, ob sie diese Änderung als Teil ihrer neuen persönlichen Identität akzeptieren will und wie sie ihre neue Identität nach außen vertreten und darstellen will.“ (Frey/Haußer 1987, S. 13)
Auslösende Ereignisse könnten der Eintritt in die Arbeitslosigkeit, eine Scheidung, der Verlust einer nahestehenden Person, eine Beförderung oder auch ein Lottogewinn sein.25 So untersucht Krömmelbein (1996) beispielsweise die Auswirkungen der Transformation des Charakters der Erwerbsarbeit auf die Identität von Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung (vgl. auch Hackel 1995; Hahn/ Schön 1996; Kudera 2001) und schreibt: „Die bisherige Erwerbsarbeitsorientierung kann sich entwerten, es können Diskrepanzen zwischen objektiven Anforderungen der Erwerbsarbeit und dem subjektiv gemeinten Sinn von Erwerbsarbeit im bisherigen Lebenslauf auftreten.“ (Krömmelbein 1996, S. 64)
In eine ähnliche Richtung wie Krömmelbeins Studie deuten Untersuchungen über die Bedrohung von Identität durch Arbeitslosigkeit (z.B. Neumann et al. 1984; Rademacher 2003) oder über die Infragestellung beruflicher oder professioneller Identitäten, z.B. durch Einführung betriebswirtschaftlicher Managementmethoden in öffentlichen Organisationen (z.B. Hutter 1992; Henkel 2000; von Engelhardt el al. 2001; Doolin 2002). Generell impliziert die plötzliche Infragestellung der eigenen Identität und eine dadurch ausgelöste Identitätskrise, dass die Erfahrungen über sich selbst bzw. ein gewichtiger Teil von diesen Erfahrungen keine oder nur unsichere subjektive Anknüpfungspunkte bzw. Orientierungen in Bezug auf sozial aner25
Hierzu könnten auch Situationen gezählt werden, die von Frey/Haußer (1987) als gesellschaftlich periodisierte Krisenlagen bezeichnet werden, sich letztlich jedoch in individuellen Sinnkrisen niederschlagen können, wie z.B. die Pensionierung oder der Übergang von der Schule in den Beruf.
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kannte Handlungen und die Gestaltung der eigenen Zukunft liefern. Das mögliche „ritualistische“ Festhalten an sozial entwerteten Erfahrungen über sich selbst und hierauf basierende Handlungen stellen sich je nach Interaktionsbereich als mehr oder weniger sozial konflikthaft dar und erschweren somit die langfristige Aufrechterhaltung der subjektiv bedeutsamen („alten“) Identität, da Anerkennung vorenthalten wird und der positive Selbstbezug zur eigenen Identität so ständig hinterfragt wird. Ein positiver Selbstbezug kann ebenfalls auch dann nicht aufgebaut werden, wenn neue soziale Anerkennungs- und entsprechende Identitätsmuster zwanghaft übernommen werden. Hier ist die Notwendigkeit der Wechselseitigkeit im Anerkennungsprozess nicht gegeben, d.h. der Einzelne kann keine befriedigende Anerkennung erfahren, wenn er die anerkennende Instanz bzw. die neuen Inhalte der Anerkennung aufgrund seiner bisherigen identitätsstiftenden Erfahrungen selbst nicht anerkennt. Handlungsfähigkeit ist in dieser Situation zwar gegeben, es ist jedoch fraglich, wie lange der Einzelne einen solchen Konflikt ertragen kann.26 2) Unbeständigkeit von Anerkennungsmustern - Erosion, Entfaltung oder Befreiung von Identität Neben der radikalen Veränderung bisheriger identitätsstiftender Anerkennungsmuster kann deren ständige Unbestimmtheit, d.h. deren ständige hohe zeitliche und inhaltliche Veränderlichkeit, als zweite Möglichkeit einer soziostrukturell bedingten Identitätsbedrohung identifiziert werden. Unbestimmte, schwer antizipierbare Anerkennungsmuster können den Aufbau kohärenter und konsistenter Erfahrungen über einen selbst und die Entwicklung eines positiven Selbstbezuges erschweren sowie subjektive Handlungssicherheit schwächen. Wagner schreibt zu dieser Perspektive der „Erosion“ von Identität im Zusammenhang mit dem entsprechenden Formwandel der Erwerbsarbeit: „Die Multiplikation einander widersprechender, inkonsistenter Perspektiven, die sich in der Zeitdimension als rascher Wechsel diskontinuierlicher Fragmente darstellt, untergräbt die Fähigkeit der Subjekte, Erlebnispartikel und Erfahrungsbruchstücke auch nur ansatzweise in einer biographischen Gestalt integrieren zu können.“ (Wagner 2000, S. 147). 26
In diesem Zusammenhang wird häufig auf die Entwicklung von „Rollendistanz“ als wirksamer Mechanismus zur Handhabung dieses Konfliktes hingewiesen (vgl. z.B. Krappmann 2000). Um jedoch Rollendistanz entwickeln zu können, muss der Einzelne „wenigstens in einem gewissen Ausmaß“ eine subjektive Identität entwickelt haben (ebenda S. 137f). D.h. im vorliegenden Fall müssten andere Anerkennungsverhältnisse als das erschütterte eine gewisse subjektive Signifikanz besitzen.
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Beispielhaft kann hier die ständige Beschäftigung in wechselnden, zeitlich befristeten Arbeitsverhältnissen genannt werden, die immer wieder unterschiedliche Anerkennungsmuster aufweisen. So beschäftigt sich z.B. Wohlrab-Sahr (1993) mit dem Zusammenhang von Identität und „biographischer Unsicherheit“ bei weiblichen Zeitarbeiterinnen (vgl. auch Sennet 1998 zum Phänomen des „Drift“; Keupp et al. 2002). Soziale Unbestimmtheit und die Annahme der dadurch bedingten „Erosion von Identität“ ist auch mit Schimanks (1981, S. 27ff.) Ausführungen zur identitätsbedrohenden Wirkung sozialer Unterstrukturierung vergleichbar. Das Problem sozialer Unterstrukturierung besteht hiernach darin, dass nicht ausmachbar ist, was langfristig überhaupt als („echte“) soziale Bestätigung erlebbar sein könnte. In gravierenden Fällen resultiert soziale Unterstrukturierung in persönlicher Sinnleere, „einem Verlust des eigenen Standortes in der Welt.“ Etliche Autoren sehen in diesem Zusammenhang die Gefahr, dass die stärker werdenden Imperative des Arbeitsmarktes in wachsendem Maße zum alleinigen Orientierungs- und Anerkennungsfeld für den Einzelnen avancieren. Auf diese Weise würde die persönliche Identität nahezu restlos in der sozialen Identität bzw. Rolle übergehen, die sich aus den Anforderungen der Erwerbsarbeit bzw. der arbeitgebenden Organisation ergibt. So entstehen „stromlinienförmige, mobile und sozial entwurzelte Funktionsträger“ (Deutschmann et al. 1995, S. 448). Das Subjekt verliert demnach seine „biographische Autorenschaft“ und wird zum Objekt marktlicher Relationalisierung (vgl. Wagner 2000, S. 148). Aufgrund der marktlich bedingten und damit individuell schwer antizipierbaren, abstrakten sowie obendrein wenig individualisierten Anerkennung erscheint der Aufbau einer subjektiv befriedigenden Identität und der entsprechende Gewinn von umfassender Handlungsorientierung aus dieser Perspektive nahezu unmöglich. Neben dieser Gefahr der „Erosion von Identität“ durch Flexibilisierung und Differenzierung von Arbeits- und Lebensformen wird in der sozialwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Fachwelt zum einen auch die hierdurch bedingte Möglichkeit zur positiven Entfaltung von Identität oder zum anderen gar „Befreiung von Identität“ diskutiert (vgl. übersichtsartig Wagner 2000). Die erste Perspektive bezieht sich in erster Linie auf die Zunahme gesellschaftlicher Differenzierung und verwendet eine ähnliche Argumentationsfigur wie jene zum Zusammenhang von Individualisierung und der Entwicklung moderner Gesellschaften. Die Konfrontation mit unterschiedlichsten Anerkennungsmustern erlaubt dem Einzelnen hiernach erst einen selbstreflexiv kritischen Umgang mit entsprechenden Erfahrungen:
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„Die Vielfalt von Anerkennungserfahrungen, die ihrerseits auf heterogene, nicht ineinander abbildbare Anerkennungsordnungen verweisen, ermöglicht es den Subjekten, eine kritisch reflektierte Distanz gegenüber partikularen Anerkennungszumutungen aufzubauen und aus dieser Distanz heraus die unterschiedlichen Anerkennungsformen, -foren und -erfahrungen mit je eigensinnigen Wertindizes zu versehen.“ (Wagner, 2002, S. 144).
Aus der identitätstheoretischen Perspektive der vorliegenden Arbeit ist anzumerken, dass die Basis für eine solche Entfaltung von Identität nur in der subjektiven Sicherheit über die Bewertung bisheriger Erfahrungen - also in einer bisherigen relativ stabilen subjektiven Identität - liegen kann. In diese Richtung deuten auch die theoretischen Ausführungen über die in diesem Zusammenhang häufig diskutierte Fähigkeit zur Rollendistanz als der kritischen Reflexion und dem spielerischen Umgang mit Rollen (orig. Goffman 1973).27 Auch für die Entwicklung von Rollendistanz wird die Notwendigkeit einer „wenigstens in gewissem Ausmaß“ vorhandenen subjektiven Identität gesehen (Krappmann 2000, S. 137f.). In diesem Sinne muss der Einzelne also Sicherheit über bestimmte, subjektiv relevante Anerkennungsmuster besitzen, um seine Identität gegenüber neuen Identitätsangeboten kritisch distanziert fortentwickeln zu können, beispielsweise hinsichtlich der beruflichen Identität in professionalisierten Berufen. Hier gehört die Bewältigung von Unsicherheit zur beruflichen Identität, wobei die Basis für die Bewältigung dieser Unsicherheit in den verinnerlichten Standards der eigenen Profession zu suchen ist (Gildemeister 1987; vgl. auch Beyer/Hannah 2002). Wird diese Basis durch einschneidende Ereignisse erschüttert oder durch fortwährende Konfrontation mit widersprechenden Erfahrungen konterkariert, erscheint die positive Entfaltung von Identität erschwert. Die zweite, oben benannte Perspektive der „Befreiung von Identität“ durch soziale Differenzierungsprozesse betrachtet die Bildung von Identität als Ausdruck gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse und Identität entsprechend als Zwangsgehäuse der eigenen Subjektivität, das dem Einzelnen von außen auferlegt wird (z.B. in Hinsicht auf Geschlechtertypisierungen). Hier wird z.T. in eine ähnliche Richtung argumentiert, wie sie oben im Zusammenhang mit der zunehmenden Unsicherheit und der Gefahr der alleinigen Orientierung an Imperativen der Erwerbsarbeit bzw. an Imperativen der arbeitgebenden Organisation vorgestellt wurde (vgl. auch Alvesson/Willmott 2002). Kontinuität und Kohärenz von Erfahrungen erscheinen in dieser Perspektive als von außen zugemutete, einengende Ideologie bzw. als Kontrollmodus. Aus dieser Perspektive ist das Ziel, sich von „Identität“ zu befreien, vollkommen nachvollziehbar. Aus 27 Über den Begriff der „Entfremdung“ erarbeitet Schuller (1991) meines Erachtens einen sehr anregenden Zugang zu dieser Frage.
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identitätstheoretischer Perspektive stellt sich dabei jedoch die Frage, ob der Begriff der Identität hier nicht vorschnell aufgegeben wird. So erscheint die Sichtweise auf den eigentlichen Charakter von Identität, deren zeitlicher Bezug (Biographie) und deren handlungsorientierende Wirkung sowie deren inhärent angelegter Druck nach subjektiv positiver Entfaltung bzw. „echter“ wechselseitiger Anerkennung (vgl. Dunn 1997; Honneth 2004; Hartz/Faßauer 2006) unterbeleuchtet. Dieser letzte Punkt kommt auch in der folgenden Erläuterung des identitätsbedrohenden Charakters rigider Anerkennungsverhältnisse zum Ausdruck. 3) Rigide Anerkennungsmuster - Unterdrückung gelingender Identität Ausgehend von dem hier vertretenen, identitätstheoretischen Ansatz kann nur dann von gelingender Identitätsbildung gesprochen werden, wenn der Einzelne einen positiven Selbstbezug zur eigenen Identität entwickeln kann. Dieser positive Selbstbezug kann nur generiert werden, wenn der Einzelne in seinen Verhaltensweisen und Handlungen auf eine positive soziale Anerkennung in mindestens einem subjektiv relevanten Interaktionsbereich trifft. Der mit dem positiven Selbstbezug korrelierte Aufbau von „Selbstrespekt“ (Mead) ist dabei umso höher, je individualisierter die jeweilige Anerkennung für den Einzelnen ist - je höher der Grad ist, in dem sich der Einzelne in positiver Weise seiner Individualität versichern kann. Unter rigiden Anerkennungsmustern werden im Folgenden solche verstanden, die keinen oder nur geringsten Spielraum für die subjektiv positiv besetzte Entfaltung von Individualität bieten. Dies ist einerseits in der Form denkbar, dass der Einzelne gar nicht zum Bewusstsein über die eigene Individualität gelangt - also nahezu sein gesamtes Leben in einem in sich geschlossenen, rigiden Anerkennungsverhältnis zubringt. Zum anderen kann der Fall auftreten, dass der Einzelne seine bereits subjektiv wahrgenommene Individualität in einem gegenwärtig dominanten Anerkennungsfeld nicht positiv validiert bekommt bzw. dafür sogar negativ sanktioniert wird. Beide Fälle wären z.B. in Goffmans (1973) „totalen Institutionen“ denkbar. Diese weisen folgende Merkmale auf: 1) Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle, unter ein und derselben Autorität statt. 2) Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus, wobei allen die gleiche Behandlung zuteil wird und alle die gleiche Tätigkeit gemeinsam verrichten müssen. 3) Alle Phasen des Arbeitstages sind exakt geplant, eine geht zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt in die nächste über, und die ganze Folge der Tätigkeiten wird von oben durch ein System expliziter formaler Regeln und durch einen 63
Stab von Funktionären vorgeschrieben. 4) Die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten werden in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen. (vgl. Goffman 1973, S. 17). Generell wird der „Insasse“ „totaler Institutionen“ also nicht oder kaum mit inhaltlich differenzierten und darüber hinaus stark reglementierten Anerkennungsverhältnissen konfrontiert, was die Entfaltung bzw. Fortentwicklung von Identität nahezu unmöglich macht. Schimank schreibt entsprechend: „Je (zeitlich) dauerhafter, (sachlich) universaler und (sozial) generalisierter die Machtunterwerfung ist, desto mehr widerspricht sie der Prämisse individualistischer Identität, dass die Person ihr Handeln selbst bestimmt.“ (Schimank 1981, S. 30)
Goffman (1973) beschäftigt sich in diesem Zusammenhang mit dem Zustand von Patienten in psychiatrischen Heilanstalten und zählt aber auch Gefängnisse, Kasernen oder Internate zu solchen Institutionen. Bemerkenswert ist, dass seine Beobachtungen und Studien zeigen, dass selbst die Insassen totaler Institutionen versuchen, sich nicht vollkommen von der Institution vereinnahmen zu lassen und ihre Individualität nach außen hin zu entfalten. Selbst die winzigen institutionellen Spielräume der totalen Institution werden ausgenutzt, um sie individuell auszufüllen bzw. sich von anderen abzuheben. Neben Goffmans „totalen Institutionen“ lässt sich auch der Zustand von Organisationen der Erwerbsarbeit aus der Perspektive rigider Anerkennungsmuster beleuchten (z.B. Schimank 1981). Insbesondere hoch arbeitsteilige, tayloristische Arbeitsformen mit hoher Aufgabenrestriktivität wurden häufig als identitätsbedrohend gekennzeichnet (z.B. Schimank 1981, S. 30ff.; Geisler et al. 1984; S. 20f.). Die Aufhebung dieser Arbeitsformen wurde in diesem Zusammenhang häufig als ein Mittel zur positiven Entfaltungsmöglichkeit von Subjektivität und der „Humanisierung“ von Arbeit gesehen (vgl. z.B. Kern/Schumann 1984; Baethge 1991; übersichtsartig zur kritischen Diskussion um „Subjektivierung von Arbeit“ Kleemann et al. 2002). Mit Verweis auf die oben beschriebene Sichtweise der Vereinnahmung des Einzelnen durch die Anforderungen der arbeitgebenden Organisation muss in diesem Zusammenhang jedoch konstatiert werden, dass auch dezentralisierte, also wenig tayloristische Arbeitsformen, rigide Anerkennungsverhältnisse beschreiben können (vgl. generell Wolf 1999). Stichworte der gegenwärtigen Diskussion sind etwa „Herrschaft durch Autonomie“ oder „Arbeitskraftunternehmer“ (vgl. Moldaschl 2001; Voß/Pongratz 2003). Diese Entwicklung wirkt sich vor allem dann kritisch auf Identität aus, wenn die arbeitgebende Organisation die dominierende Instanz der Anerkennung für den Einzelnen darstellt, also „Rollendistanz“ im Sinne Goffmans nicht hergestellt werden kann. 64
Die Bedrohung von Identität durch die radikale Veränderung und Unsicherheit (lesbar als anomische Konstellationen) sowie die Rigidität von Anerkennungsmustern stellen unterschiedliche Zustände der soziostrukturellen Seite der subjektiven Identitätsbildung dar. Da der Fokus der vorliegenden Arbeit nicht einseitig auf die Auswirkungen der sozialen Struktur auf Identitätsbildungsprozesse, sondern auch auf entsprechende (Rück-)Wirkungen auf eben jene soziale Struktur gerichtet werden soll - also die Wechselseitigkeit der beiden Ebenen in den Blick genommen werden soll - erscheint die Auseinandersetzung mit entsprechenden, diese Wechselseitigkeit abbildenden Konzepten sinnvoll. In der soziologischen Forschungstradition existieren unterschiedliche Konzeptualisierungen für die (In)Stabilität sozialer Strukturen und deren Zusammenhang bzw. Auswirkungen auf die Individuumsebene. Wohlrab-Sahr (1993) beschäftigt sich in diesem Zusammenhang z.B. mit Simmels Figur des „Fremden“ (1992 orig. 1908), Parks Typus des „Marginal Man“ (1928), strukturfunktionalistischen Ansätzen in der Tradition Gehlens (1986 orig. 1956) sowie den breit rezipierten Ansätzen über Anomie in der Tradition Durkheims (1992, 1983, orig. 1893 sowie 1897) und Mertons (1975 orig. 1938). Da anomietheoretische Überlegungen in der Tradition von Merton miteinander verknüpfte Ansatzpunkte für eine Analyse moderner Leistungssteuerung aus institutioneller und individueller Perspektive bieten, erscheinen sie besonders interessant für die vorliegende Fragestellung. Ohne die Tradition der funktionalistischen Theorie wieder beleben zu wollen (vgl. Joas/Knöbl 2004), soll die Anomietheorie hier als analytisches Instrument verstanden werden, das ein Raster bietet, moderne Leistungssteuerung aus einer institutionellen Perspektive zu analysieren und sie auf ihre Konsequenzen in Bezug auf individuelle Reaktionsweisen zu überprüfen. In dieser Hinsicht bieten insbesondere die anomietheoretischen Überlegungen von Merton (1975 orig. 1938) einen gut systematisierten Untersuchungsrahmen, welcher auch für empirische Untersuchungen interessant ist. 2.4.2 Der Charakter anomischer Anerkennungsmuster Der folgende Abschnitt beginnt mit einleitenden Hinweisen zur Verwendung und Forschungstradition des anomietheoretischen Ansatzes (2.4.2.1). Anschließend werden die klassischen theoretischen Grundlagen der Anomie in der Tradition Durkheims und Mertons vorgestellt (2.4.2.2). Letztlich werden wesentliche Kritikpunkte am Mertonschen Anomieansatz benannt und erfolgt die Übertragung der anomietheoretischen Interpretation auf identitätsbedrohende Anerkennungsmuster (2.4.2.3). 65
2.4.2.1 Anomie - Hintergrund und Abriss zur Forschungstradition Allgemein bezeichnet Anomie (griech.: nomós = Regel) einen Zustand sozialer Regellosigkeit bzw. das Fehlen von Normen für das gesellschaftliche Handeln eines Individuums (vgl. Esser 1999, S. 422ff.; Boudon/Bourricaud 2000; Lamnek 2001, S. 108; Stock 2004). Normen können dabei als soziale Verhaltensforderungen in regelmäßig auftretenden Situationen definiert werden (vgl. Lamnek 2001, S. 16ff.). Normen drücken soziale Wertorientierungen aus und liefern die Referenzpunkte für die Bewertung individuellen und kollektiven Verhaltens bzw. machen dieses bewertbar. Boudon/Bourricaud (1992, S. 355) bezeichnen Normen entsprechend als sozial definierte und sanktionierte Handlungs-, Seinsund Denkweisen, wobei mit Lamnek (2001) differenzierend angemerkt werden kann, dass unterschiedliche gesellschaftliche Normen auch unterschiedliche soziale Geltungs- und Wirkungsgrade, Sanktionsbereitschaften und wahrscheinlichkeiten sowie unterschiedliche Toleranzbereiche und Verhaltenstransparenz in Bezug auf ihre Einhaltung aufweisen können. So besteht z.B. ein Unterschied zwischen einer sogenannten „Idealnorm“ und einer „informellen Norm“. Bei der Idealnorm ist der Geltungs- und Wirkungsgrad, als Grad der Akzeptanz und Realisation bei Normsendern bzw. -empfängern, nahezu 100% und die Abweichung von der Norm wird hoch sanktioniert. Die „informelle Norm“ weist demgegenüber einen hohen Wirkungsgrad auf, d.h. ist sozial weithin akzeptiert, wird entsprechend hoch sanktioniert, hat aber einen geringen Geltungsgrad, d.h. z.B., dass die Norm kaum sozial formalisiert ist (siehe zur weiteren Unterscheidung von Pseudonormen, Residualnormen, informellen Normen usw. Lamnek 2001, S. 22ff.). In der Denktradition der Anomietheorie wird die Akzeptanz und Einhaltung von grundlegenden sozialen Normen als Notwendigkeit für die Stabilität und Funktionsweise einer Gesellschaft betrachtet (vgl. Durkheim 1992, 1983; Merton 1975). Ist diese gesamtgesellschaftliche Sichtweise später auch häufig kritisiert und differenziert worden, besteht in den Sozialwissenschaften weitgehende Einigkeit darüber, dass über wechselseitig akzeptierte Normen eine relative Sicherheit über das wechselseitige Verhalten in Interaktionsprozessen hergestellt werden kann (vgl. z.B. den einflussreichen wissenssoziologischen Ansatz bei Berger/Luckmann 2000 orig. 1969; Schimanks (2000) Auffächerung der Akteurskonzeptionen in der Soziologie oder die Übertragung auf Gruppenarbeit in Organisationen vgl. Stock 2004). Insbesondere in komplexen sozialen Einheiten dient die Institutionalisierung von Normen der Verhaltenssicherheit, „weil solche institutionalisierte Normen durch Sozialisation allgemein und jedem Mitglied des sozialen Systems vermittelt werden können und Standardisierungen von Situationen, Positionen und Verhaltensweisen unabhängig von den 66
Personen und Persönlichkeiten schaffen, die ein quasi „schematisiertes“ Verhalten erlauben“ (Lamnek 2001, S. 28f). Auf individueller Ebene schaffen institutionalisierte Normen demnach eine relative Sicherheit über die soziale Beurteilung eigener Verhaltensweisen, erlauben die potentiell kritische Reflexion der eigenen und fremden sozialen Positionen und sind damit Ausgangspunkt von Identitätsbildung (vgl. Mead 1973; Berger/Luckmann 2000). Eine anomische Gesellschaft bzw. Institution bietet in dieser allgemeinen Lesart somit keine Orientierung in Bezug auf angemessenes soziales Verhalten sowie die Selbsteinschätzung des Einzelnen und ist damit zugleich in ihrer eigenen Funktionsfähigkeit bedroht. Die sozialwissenschaftlichen Wurzeln der Theorie über Anomie liegen in den Arbeiten Emile Durkheims „Über die soziale Arbeitsteilung“ (1992 orig.1893) und „Der Selbstmord“ (1983 orig. 1897) sowie Robert K. Mertons Beitrag über „Sozialstruktur und Anomie“ (1975 orig. 1938). Insbesondere Mertons Arbeit inspirierte zahlreiche Erweiterungen, Differenzierungen und entsprechende Diskussionen in der sozialwissenschaftlichen Fachwelt (z.B. Parsons 1951; Cloward/Ohling 1960; Cohen 1965; Merton 1970; zusammenfassend Fischer 1970; Dreitzel 1972; Bohle 1975; Ortmann 2000; Lamnek 2001; Passas/Agnew 2001). Neben der ursprünglichen soziologischen Verwendung und Beforschung des Begriffes wurde der Begriff der Anomie (dann häufig als „anomia“ bezeichnet) auch zur Beschreibung bestimmter psychischer Zustände verwendet bzw. als Merkmal personaler Charakterstrukturen empirisch erhoben (vgl. z.B. McClosky/Schaar 1965; Srole 1956). Ausgehend von dieser Ausdifferenzierung unterscheiden Dreitzel (1972) und Passas/Agnew (2001) zwischen einem soziologischen und einem psychologischen Anomiebegriff bzw. einer Makro- und einer Mikro-Anomietheorie. Beide summieren die Beschäftigung mit anomischen Zuständen von Gesellschaften und sozialen Institutionen bzw. die Auseinandersetzung mit soziostrukturellen Aspekten unter die Makrotheorie bzw. den soziologischen Ansatz der Anomie. In dieser Lesart kennzeichnet Anomie einen bestimmten Zustand einer Gesellschaft bzw. einer Institution und ist traditionsgemäß stark in strukturfunktionalistischen Denkweisen aufgegriffen worden (z.B. Parsons 1951; Joas/Knöbl 2004). Demgegenüber fassen Passas/Agnew (2001) unter die Mikrotheorie solche Untersuchungen und Fragestellungen, die sich mit Erfahrungen und Reaktionen des Individuums unter sozio-strukturell anomischen Bedingungen auseinandersetzen. Dreitzel (1972) ordnet unter seinen „psychologischen“ Anomiebegriff solche Untersuchungen, die Anomie als psychischen Zustand begreifen, ohne dabei differenzierter auf die Merkmale des sozialen Umfeldes einzugehen (z.B. Srole 1956).
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In der vorliegenden Arbeit erfolgt keine eingehende Beschäftigung mit diesem „psychologischen“ Begriff der Anomie. Vielmehr interessiert hier die anomietheoretische Betrachtung des Charakters und der Auswirkungen aktuell vorgenommener Veränderungen in erwerbswirtschaftlichen Organisationen. Im folgenden Abschnitt wird daher auf wesentliche Grundlagen der klassischen Makro- und Mikrotheorie von Anomie eingegangen. 2.4.2.2 Durkheims und Mertons Konzeptualisierung von Anomie Der wissenschaftliche Begriff der Anomie als Zustand der Regel- oder Normlosigkeit wurde erstmals von Durkheim in die soziologische Forschung eingeführt. Zunächst verwendet er den Begriff zur Erklärung sozialer Desintegrationserscheinungen infolge wachsender gesellschaftlicher Arbeitsteilung (1992 orig. 1893). Die mit der Arbeitsteilung verbundene Differenzierung einzelner Funktionen und Rollen geht nach Durkheim mit der Gefahr der Erosion des gesellschaftlichen „Kollektivbewusstseins“ als Solidarität zum Ganzen einher. Die Funktionsdifferenzierung bringt demnach - abgesehen von der reinen funktionalen Ergänzung - weniger Gemeinsamkeiten und weniger gegenseitige Verständnismöglichkeiten mit sich, so dass soziale Beziehungen problematischer werden, weniger befriedigend oder gar verhindert werden können (vgl. Lamnek 2001, S. 108ff.). Diesen gesellschaftlichen Zustand bezeichnet Durkheim im Beitrag über die Arbeitsteilung als anomisch. Einen spezifischeren inhaltlichen Anstrich erhält der Begriff der Anomie in Durkheims Arbeit über den Selbstmord (1983 orig. 1897). Durkheim versucht hierin, die empirische Regelmäßigkeit des Anstieges der Selbstmordrate sowohl in Zeiten wirtschaftlicher Depression als auch in Zeiten der Hochkonjunktur zu erklären. Wieder hervorzuheben ist, dass er den wesentlichen Erklärungsgehalt für dieses Phänomen in der gesellschaftlichen Struktur bzw. in den „sozialen Tatsachen“ sucht, nicht in spezifischen menschlichen Individuallagen. Generell geht Durkheim davon aus, dass der Mensch keinerlei natürliche Grenzen seiner Bedürfnisse besitzt (vgl. Durkheim 1983, S. 279ff.). Deshalb würde er ständig in einem unbefriedigten Zustand leben müssen, würde die Gesellschaft als äußere moralische Macht nicht mäßigend auf den Menschen einwirken und ihm z.B. entsprechende Positionen zuweisen (vgl. ebenda S. 282ff.). Dabei ist eine so verstandene gesellschaftliche Einordnung unterschiedlicher Gesellschaftsklassen nicht unabänderlich, sondern abhängig von den geltenden Moralauffassungen der Gesellschaft (ebenda, S. 284). In diesem Sinne besitzt die Gesellschaft nach Durkheim nur dann eine richtungsweisende Autorität für die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder bzw. wird anerkannt, wenn sie als gerecht empfunden wird. Durkheim argumentiert, 68
dass die Erosion bzw. der Zusammenbruch der gesellschaftlichen Struktur, z.B. durch „Störungen“ oder „Wandlungen“, wie wirtschaftliche Depression oder auch Hochkonjunktur, zu einer Infragestellung dieser Autorität führen kann. Damit ginge dann zugleich eine Erosion der gesellschaftlichen Regulation der individuellen Ansprüche und Bedürfnisse von Gesellschaftsmitgliedern einher (ebenda, S. 287ff.). Dies betrifft dann sowohl die durch die gestörte Ordnung „deklassierten“ Menschen, welche lernen müssen, ihre Bedürfnisse entsprechend einzuschränken, aber vor allem die positiv Betroffenen, deren Ansprüche kein angemessenes Maß mehr kennen und die dadurch ebenso unbefriedigt bleiben (vgl. Durkheim 1983, S. 288 ff.). „Die Individuen stehen in diesem Fall ständig in der Gefahr, sich unerreichbare Ziele zu setzen, sich von Begierden und Leidenschaften fortreißen zu lassen, sich in Hybris zu verlieren.“ (Boudon/Bourricaud 1992, S. 29, H.i.O.).
Aus dem Ungleichgewicht zwischen Bedürfnis und faktischer Bedürfnisbefriedigung kann sich nach Durkheim eine verstärkte Tendenz zur Schwächung des Lebenswillens und zum Selbstmord entwickeln. Diesen Selbstmord-Typ bezeichnet er als „anomischen Selbstmord“ und den Zustand der gestörten gesellschaftlichen Ordnung als „Anomie“ (ebenda S. 296). Lamnek schreibt zusammenfassend: „Sozial instabilen Verhältnissen (als Gemeinsamkeit von Prosperität und Depression) fehlt also die Sicherheit über Inhalt und Ausmaß der Normgeltung, die für die Kanalisierung der menschlichen Bedürfnisse notwendig ist. Instabile Verhältnisse wirken sich auf die Normgeltung aus, so dass der Zustand der Anomie eintritt, eine allgemeine Schwächung des Kollektivbewusstseins, der allgemein moralischen Überzeugungen und Handlungsmaximen.“ (Lamnek 2001, S. 112)
In jedem Fall muss nach Durkheim eine den veränderten Strukturen angemessene „moralische Erziehung“ durch die Gesellschaft erfolgen, müssen also neue Normen entwickelt werden. Der Begriff der Anomie impliziert deshalb eine dynamische Gesellschaft. Das Vorhandensein von Anomie ist also ein Indiz dafür, dass sich eine Gesellschaft im Wandel befindet (vgl. Fischer 1970, S. 20). Im Gegensatz zu Durkheim erfasst Merton (1975) soziale Zustände von Anomie über sozial „nicht konformes“ Verhalten von Individuen und Gruppen bzw. deren „Anpassungsverhalten“ an die sozialen Strukturen. In seinem Aufsatz über „Sozialstruktur und Anomie“ formuliert er: „Es ist unser vornehmliches Ziel festzustellen, auf welche Weise einige soziostrukturelle Gegebenheiten auf bestimmte Personen in der Gesellschaft einen deut-
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lichen Druck dahingehend ausüben, dass sie sich eher auf nichtkonformes als auf konformes Verhalten einlassen.“ (Merton 1975, S. 339)
Dabei führt er - in Absetzung von Durkheim - diese Verhaltensweisen nicht auf (eigentlich zu zügelnde) „biologische Triebe“ der Menschen zurück, sondern versucht, deren „normale Reaktionen“ in bestimmten sozialen Situationen zu erfassen (vgl. auch Dreitzel 1972, S. 44ff.). Eine stabile soziale Struktur ist nach Merton wesentlich durch die soziale Akzeptanz und Einhaltung der „kulturell“ vorgegebenen Ziele und Mittel für die Zielerreichung gekennzeichnet. Die kulturellen Ziele und Mittel werden gemäß Merton von der so genannten „kulturellen Struktur“ der Institution vorgegeben und kennzeichnen deren normative Ebene. Eine stabile Sozialstruktur bleibt nach Merton demnach solange erhalten, „als die Individuen, die sich beiden kulturellen Anforderungen beugen, eine doppelte Befriedigung finden: nämlich einmal eine in dem Erreichen der Ziele selbst liegende Befriedigung, die unmittelbar aus der Verwendung institutionell gelenkter Verfahrensweisen beim Streben nach diesen Zielen entsteht.“ (Merton, 1975, S. 343). Soziale Institutionen befinden sich dann in einem anomischen Zustand, wenn Institutionsmitglieder eine geringe bzw. unausgeglichene Akzeptanz dieser Ziele und Mittel aufweisen. So führt nach Merton insbesondere die starke Betonung und soziale Akzeptanz institutionell vorgegebener Ziele (z.B. finanzieller Erfolg) bei gleichzeitig gering akzeptierten institutionellen Vorgaben hinsichtlich der zur Zielerreichung anzuwendenden Mittel (z.B. Erwerbsarbeit) dazu, dass Institutionsmitglieder „abweichende“, mitunter die Institution schädigende Mittel (z.B. kriminelle Handlungen) anwenden, um die allgemein anerkannten Ziele zu erreichen. Die Gründe für die geringe oder unausgeglichene Akzeptanz der kulturellen Struktur können unterschiedlich sein. Nach Merton kann der schwache Wirkungsgrad kultureller Mittel insbesondere aus dem für Institutionsmitglieder beschränkten faktischen Zugang zu diesen Mitteln herrühren (z.B. durch beschränkten Zugang zu Erwerbsarbeit) und liegt damit in der „Sozialstruktur“ einer Institution begründet. Institutionelle Anomie wäre demnach das Ergebnis des Auseinanderklaffens von allgemein verbindlichen, kulturellen Zielen und der sozialstrukturell determinierten Verteilung der legitimen Mittel, die zur Zielerreichung dienen sollen (vgl. Lamnek 2001, S. 114). Merton schreibt: „Anomie wird so verstanden als ein Zusammenbruch der „cultural structure“, der besonders dann auftritt, wenn ein scharfer Bruch zwischen den kulturellen Normen und Werten einerseits und andererseits den sozial strukturierten Möglichkeiten der Gruppenmitglieder, ihnen entsprechend zu handeln, entsteht.“ (Merton 1970, S. 138)
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Eine solche Diskrepanz erzeugt eine Desorientierung der Institutionsmitglieder und übt zugleich einen Druck zur individuellen Lösung dieses Konfliktes aus. Vor diesem Hintergrund entwirft Merton bestimmte Typen der Anpassung bzw. typische Reaktionsweisen als Lösungsformen dieser Desorientierung und verlässt damit notwendig die Makro-Perspektive der Anomie- Theorie (vgl. Bohle 1975, S. 15; Boudon/Bourricaud 1992, S. 30; Ortmann 2000, S. 76ff.; vgl. Abb. 6). Abbildung 6:
Makro- und Mikroebene in der Anomiekonzeption nach Merton
Diskrepanz in der Kulturstruktur (Reduktion im Wirkungsgrad kulturell vorgegebener Ziele und Mittel) zeigt
sich in
führen
zu
Anpassungs- bzw. Reaktionstypen (Akzeptanz/Nichtakzeptanz kulturell vorgegebener Ziele und Mittel
Quelle: eigene Darstellung Die Anpassungstypen unterscheiden sich nach der jeweiligen Akzeptanz gegenüber den vorgegebenen Zielen eines sozialen Interaktionsbereiches bzw. einer sozialen Institution und den vorgegebenen Mitteln der Zielerreichung (vgl. Abb. 7). So könnte z.B. eine Akzeptanz von Zielen und Mitteln oder nur eine Akzeptanz von Zielen vorliegen usw. Die Anpassungstypen stellen Modi überdauernder Reaktionen von Individuen oder Gruppen in bestimmten sozialen Situationen bzw. Interaktionsbereichen, nicht aber Persönlichkeitstypen dar. Das bedeutet, dass Individuen ihren Anpassungsmodus in Abhängigkeit des sozialen Interaktionsbereiches auch wechseln können. Auch können entsprechende Erfahrungen Individuen dazu bewegen, ihren bisherigen Anpassungsmodus in derselben sozialen Situation zu ändern (vgl. zum Folgenden Merton 1975, S. 345ff.). Verbleibt man als Betrachter in der Makro-Perspektive, kann das jeweilige Auftreten der Reaktionstypen in einer sozialen Institution als Resultat (vgl. Ortmann 2000, S. 85) bzw. Gradmesser anomischer sozialer Strukturen betrachtet werden und ist je nach Ausmaß Indiz für deren Instabilität. 71
Abbildung 7:
Reaktionstypen nach Merton
Reaktionstypen I. II. III. IV. V.
Konformist Rebellion Ritualismus Rückzug Innovation
kulturell vorgegebene Ziele kulturell vorgegebene Mittel + +/+
+ +/+ -
Quelle: in Anlehnung an Merton 1975, S. 346 (+ Akzeptanz, - Nicht-Akzeptanz, +/- Aktivität richtet sich auf Ziele und Mittel, die außerhalb der bestehenden kulturellen Struktur liegen) Anpassungsmodus Konformität Bei diesem Anpassungsmodus werden die kulturellen Ziele als auch die institutionalisierten Mittel zur Zielerreichung angenommen. Konformität ist nach Merton der am häufigsten vorkommende Anpassungsmodus. Wäre dies nicht der Fall, könnten Stabilität und Bestand der Gesellschaft nicht aufrechterhalten werden. Konformität stellt in diesem Sinne kein Indiz für anomische Strukturen dar. Anpassungsmodus Rebellion Zum Anpassungsmodus Rebellion schreibt Merton: „Diese Anpassung führt die Individuen aus der sie umgebenden Sozialstruktur hinaus und lässt sie eine neue, d.h. eine im Wesentlichen modifizierte Sozialstruktur ins Auge fassen bzw. versuchen, sie zu verwirklichen.“ (Merton, 1975, S. 356).
Die Ziele und institutionalisierten Mittel der gegenwärtigen Gesellschaft werden bei diesem Anpassungstyp nicht akzeptiert. Voraussetzung dieses Anpassungstyps ist die Vorstellung eines Alternativmodells zur gegenwärtigen Gesellschaft. Gesellschaftliche Situationen, die zu Rebellion führen können, sind nach Merton vielfältig, als Beispiel führt er solche „Massenfrustrationen“ an, wie sie etwa bei Massenarbeitslosigkeit entstehen. Anpassungsmodus Ritualismus Der ritualistische Typ der Anpassung zeichnet sich durch die Aufgabe bzw. verringerte Akzeptanz hoher kultureller Ziele (z.B. schneller sozialer Aufstieg) bei gleichzeitigem Festhalten und Befolgen der institutionalisierten Mittel aus (der Funktionär, der seine „Pflicht“ tut und ansonsten „den lieben Gott einen guten Mann sein lässt“ (Boudon/Bourricaud 1992, S. 30). Merton zufolge resultiert dieser Anpassungstyp aus hoher Statusunsicherheit, welche sich aus dem in einer Gesellschaft hohen Konkurrenzkampf ergibt. Ein Weg, dieser Unsicher72
heit zu entgehen, ist der, die eigenen Ansprüche zu senken und zugleich streng nach den vorgegebenen Mitteln zu handeln (in Routinen zu handeln). Anpassungsmodus Rückzug Der Anpassungsmodus Rückzug ist dadurch gekennzeichnet, dass sowohl die kulturell vorgegebenen Ziele als auch Mittel abgelehnt werden. Rückzug tritt nach Merton dann ein, wenn Individuen in einer sehr stark verinnerlichten Erwartung, die kulturellen Ziele mit den kulturell vorgegebenen Mitteln zu erreichen, schwer enttäuscht werden und ihnen zugleich ein Ausweichen auf verbotene Mittel durch die selbst verinnerlichten kulturellen Werte verwehrt wird. Rückzug ist somit ein Ausweg „...der aus ständigen Fehlschlägen, das Ziel mit legitimen Mitteln zu erreichen, und aus einer Unfähigkeit entsteht, illegitime Mittel zu verwenden, und zwar auf Grund von innerpersönlichen Verboten...“ (Merton, 1975, S. 355). Mit einem Rückzug „entflieht“ man sozusagen allen Ansprüchen der Gesellschaft. Anpassungsmodus Innovation Die Reaktion der Innovation tritt dann ein, wenn sich ein Individuum die kulturelle Betonung des Ziels zu eigen gemacht hat, ohne in gleicher Weise die Normen internalisiert zu haben, welche die Mittel für das Erreichen der Ziele bestimmen. Der Innovator wendet also institutionell verbotene, aber wirksame Mittel an, um sozial anerkannte Ziele zu erreichen. Nach Merton tritt dieser Anpassungstyp insbesondere in solchen Gesellschaften auf, in denen das Erfolgsziel (Wohlstand, Macht) zum einen stark betont und als für alle Gesellschaftsmitglieder erreichbar postuliert wird, dies jedoch zum anderen mit einer sozialen Struktur einhergeht, welche die Wirksamkeit der legitimen Mittel nicht für alle, eigentlich befähigten Individuen gewährleistet (z.B. bei ethnischer oder geschlechtsspezifischer Diskriminierung) (vgl. Merton, 1975, S. 348). Merton schreibt hierzu: „In Gesellschaften, wie in unserer eigenen, etablieren die große kulturelle Betonung des finanziellen Erfolges für alle und eine Sozialstruktur, die für viele in unangemessener Weise die Zuflucht zu gebilligten Mitteln einschränkt, eine Spannung in Richtung innovierender Verfahrensweisen, die sich von den institutionalisierten Verfahren entfernen.“ (Merton, 1975, S. 351).
2.4.2.3 Kritik und identitätstheoretische Verknüpfung Die Mertonsche Konzeptualisierung von Anomie erfuhr seit ihrem Erscheinen 1938 bis in die 70er Jahre hinein einen großen Widerhall sowohl in den amerikanischen als auch in den europäischen Sozialwissenschaften. Das theoretische Gerüst fand damit einerseits eine sehr breite Rezeption und wurde andererseits 73
im Zuge dessen vielfach kritisiert, differenziert als auch entsprechend empirisch untersucht. In diesem Abschnitt sollen zunächst die wesentlichsten Kritikpunkte und Erweiterungsvorschläge zum Mertonschen Ansatz der Anomie vorgestellt werden. Abschließend geht es um die Zusammenführung des anomietheoretischen Gedankens, als „Störung“ des normativen Gerüsts einer Institution, und der Idee der menschlichen Identitätsbildung. Kritische Aspekte und Vorschläge zur Erweiterung Kritik am Mertonschen Ansatz bezieht sich wesentlich 1) auf die Trennung und Konzeptualisierung der „Kultur- und Sozialstruktur“, 2) den Inhalt und die Lesbarkeit des Schemas der Anpassungstypen und 3) die eher lückenhaften Erklärungen in Bezug auf das Zustandekommen der Reaktionstypen (vgl. übersichtsartig Bohle 1975, S. 10ff.; Lamnek 2000, S. 123ff.). Zu 1) Die Trennung und begriffliche Abgrenzung zwischen Kultur- und Sozialstruktur wird häufig als etwas willkürlich betrachtet, zumal Merton den Begriff der Sozialstruktur in seinem ursprünglichen Aufsatz nicht näher erläutert (z.B. Dreitzel 1972, S. 45). Generell kann man sagen, dass Merton damit eine offiziell normative von einer faktischen Ebene der Gesellschaft absetzt. Gravierender ist demgegenüber der Einwand, dass die Konzeption einer homogenen kulturellen Struktur, welche allgemeinverbindliche Ziele und Mittel vorgibt, ungeeignet für die genauere Untersuchung pluralistischer Gesellschaften erscheint. Einflussreiche Erweiterungen beziehen z.B. bezugsgruppentheoretische Aspekte (Cohen 1965) oder Überlegungen hinsichtlich verschiedener Subkulturen (Cloward/Ohlin 1960) in den anomietheoretischen Ansatz ein, was Merton (1970) später selbst als wichtige Weiterführung betrachtet hat. Weiterhin kritisch ist, dass die „Kulturstruktur“ im Mertonschen Konzept als abstrakte Entität erscheint, die menschliches Verhalten regelt und kontrolliert. Diese eher der struktur-funktionalistischen Theorie zuzuordnende Perspektive läuft Gefahr, Kultur als eine Instanz zu betrachten, die nicht selbst Ergebnis sozialer Interaktionsprozesse bzw. menschengemacht ist. Sicherlich tritt „Kultur“ - auch in der hier vertretenen Perspektive von Identitätsentwicklung - dem Einzelnen im Rahmen seiner Sozialisation, z.T. sogar „übermächtig“, entgegen. Dennoch entsteht sie auf Basis sozialer Interaktionsprozesse und kann hierüber auch verändert werden. Dieser Gedanke der prozesshaften, wechselseitigen Konstitution wurde z.B. prägnant von Cohen (1965) vertreten als auch von Short/Strodtbeck (1964) aufgegriffen, indem sie für den Einbezug sozialpsychologischer Kenntnisse über Gruppenprozesse in die anomietheoretischen Überlegungen plädieren. 74
Zu 2) Kritik am Schema der Anpassungstypen wird häufig in der Hinsicht geübt, dass Merton hiermit weniger konkrete Verhaltensweisen beschreibt als vielmehr zwei Dimensionen definiert, um die sich das Verhalten bewegen kann. Die Reaktionstypen werden dabei aus der Logik des Schemas abgeleitet und zugleich hierüber bestimmt. Zudem erscheint unklar, ob es sich bei den Anpassungstypen um frei wählbare Möglichkeiten der Bewältigung einer bestimmten Situation handelt oder ob das Verhalten des Einzelnen von der Situation determiniert ist. Darüber hinaus ist die Trennung zwischen Zielen und Mitteln in der praktischen Vergegenwärtigung schwierig. Differenzierungen am Schema selbst, etwa durch die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Ablehnung von Mitteln u.a., sowie die Einführung einer neuen Symbolik (+,-,0) wurden z.B. von Dubin (1959) und Harary (1966) vorgenommen. Zu 3) Am schwerwiegendsten und als größte Herausforderung ist der Einwand zu betrachten, dass Merton kaum Erklärungen für das Zustandekommen der einzelnen Reaktionstypen anbietet. Zum einen erläutert er vordringlich die soziostrukturellen Entstehungsbedingungen für den Reaktionstyp der Innovation und des Rückzuges, indem er das Auseinanderklaffen von Kultur- und Sozialstruktur als Hauptargument für das Zustandekommen von Anomie begreift. Die soziostrukturellen Bedingungen für Rebellion und Ritualismus bleiben demgegenüber eher im Dunkeln. Zum anderen bietet Merton keine konsistenten Erklärungen über die Wahl des jeweiligen Reaktionstyps in bestimmten Situationen bzw. die Möglichkeit zu einer solchen Wahl an. Was führt dazu, dass eine Person in derselben Situation zum Rückzügler oder zum Innovator wird? Mertons Erklärungen über die soziostrukturellen Bedingungen des Zustandekommens dieser beiden Reaktionstypen differieren kaum. Vielmehr führt er den Unterschied auf die unterschiedlich starke Verinnerlichung kultureller Vorgaben und damit auf unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen zurück. In diesem Zusammenhang führt Merton also sozialisationsbedingte Einflussfaktoren von Seiten der betroffenen Akteure ein, baut diese Erklärungen jedoch nicht konsistent aus. Dieser Gedanke des Hinzudenkens von Persönlichkeitsstrukturen, Akteurskonstellationen und sozialisierenden Interaktionsprozessen ist - wie sich oben in 1) und 2) schon andeutete - vielfach aufgegriffen worden. Die Arbeiten von Parsons (1951), Short/Strodtbeck (1964), Cohen (1965), Cloward/Ohlin (1960) als auch Opp (1968) können als Beispiele für solche wesentlichen Erweiterungen betrachtet werden. Insbesondere Albert Cohen (1965) plädierte heftig für den Einbezug von Erkenntnissen des Meadschen Symbolischen Interaktionismus über den Prozess sozialer Dynamiken, Identitätsbildung und deren Wechselseitigkeit mit sozialer Strukturbildung. So hob er u.a. hervor (S. 12ff.), dass gesellschaftlich nicht-konformes Verhalten nicht unbedingt Ausdruck soziostrukturell bedingter Diskrepanzen sein muss, sondern vielmehr zur Darstellung 75
der eigenen sozialen Identität dienen kann (z.B. Mitglied einer bestimmten Jugendbewegung zu sein). Auch gab er zu bedenken, dass anomische Entwicklungen in Gesellschaften wahrscheinlich nicht den Charakter eines Bruches oder einer einschneidenden Diskontinuität im Verhalten des Einzelnen haben, sondern es sich eher um längerfristige Prozesse handelt: „People taste and feel their way along.“ (S. 8). Im folgenden Abschnitt wird kurz die Bedeutung dieser Kritikpunkte für die vorliegende Arbeit geklärt, um anschließend die Übertragung auf identitätstheoretische Kenntnisse zu leisten. Soziologischer Anomiebegriff und subjektive Identität - Klärung der Untersuchungsperspektive Auch wenn dem Plädoyer für den stärkeren Einbezug akteurs- bzw. identitätstheoretischer Erkenntnisse in anomietheoretische Überlegungen in der vorliegenden Arbeit ohne Umschweife gefolgt wird, ist zugleich darauf zu achten, den Kern der ursprünglichen soziologischen Anomiekonzeption nicht über Bord zu werfen. Dieser besteht darin, einen regel- bzw. normlosen Zustand von Gesellschaften oder sozialen Institutionen zu beschreiben. Auch in der vorliegenden Arbeit wird ausdrücklich einem eher institutionenzentrierten Begriff der Anomie gefolgt, ohne dabei in eine funktionalistische Perspektive verfallen zu wollen. Anomie wird hier als Zustand einer sozialen Institution bzw. einer Organisation begriffen, der über das wechselseitige Zusammenwirken beteiligter Akteure entsteht. Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung sind gegenwärtige Veränderungen organisationaler Leistungssteuerungssysteme und deren (wiederum) akteursvermittelte Auswirkungen auf die Organisation. In dieser Hinsicht wird ausdrücklich von einer reinen akteurszentrierten Erfassung von Anomie - etwa als individuelle Verhaltensunsicherheit - abgesehen. Eine solche Untersuchungskonzeption setzt zwei Grundgedanken voraus: Erstens wird davon ausgegangen, dass in Organisationen bzw. sozialen Institutionen normative Strukturen existieren, die bis zu einem bestimmten Grad kollektiv geteilt und verhaltenswirksam sind. Das heißt, trotz aller individuellen Unterschiede in Sozialisation und Identität existieren Werte und Normen, die für eine Mehrheit von Akteuren verhaltensorientierend wirken und deren zunehmende Destabilisierung die bisherige Funktionsweise einer Institution in Frage stellt. Um hierbei der berechtigten Kritik der Vorstellung einer einheitlich akzeptierten „Kulturstruktur“ zu entgehen, ist es jedoch notwendig zu spezifizieren, um welche Normen und welche Institutionen es sich inhaltlich handelt. In der vorliegenden Arbeit wird das „Leistungsprinzip“ als eine solche grundle76
gende Norm in (Arbeits)Organisationen begriffen. Das Leistungsprinzip erfüllt eine wesentliche Stabilisierungsfunktion für Organisationen in den modernen Industrieländern. Dementsprechend kann angenommen werden, dass die bewusste und tiefgreifende Veränderung organisationaler Leistungssteuerungssysteme bisher verhaltensorientierende Normen und dahinterstehende Wertorientierungen von Organisationsmitgliedern konterkarieren und auf diese Weise zu einer gewollten oder ungewollten Destabilisierung der organisationalen Abläufe führen kann. Dreh- und Angelpunkt bzw. „Anfangs- und Endpunkt“ solcher Prozesses sind dabei menschliche Akteure. Dennoch tritt zweitens die soziale Struktur bzw. das Werte- und Normengefüge, als Ergebnis menschlicher Handlungen bzw. kollektiver Interaktionsprozesse, dem Einzelnen in vielen Situationen und Lebenslagen als gegeben und relativ gering beeinflussbar gegenüber und führt zu bestimmten Reaktionen, die den Zustand der betreffenden Institution beeinflussen können. Hiermit kommen insbesondere solche Organisationen ins anomietheoretische Blickfeld, die die soziale Position des Einzelnen wesentlich bestimmen, jedoch aufgrund von Machtasymmetrien von diesem zumeist nur geringfügig offiziell und aktiv veränderbar sind (z.B. Schule, öffentliche Verwaltung, arbeitgebendes Unternehmen). Beispielsweise besteht zumeist ein Unterschied in der subjektiv wahrgenommenen Chance zur aktiven Veränderung von Normen im eigenen Sportverein und der arbeitgebenden Organisation. So schreibt z.B. Stryker zur Veränderlichkeit von sozialen Rollen durch den Einzelnen: „…the degree to which roles can be made rather than simply played is variable in part as a function of social structure. There is very little room for improvisation in the context of a prison ; there is, presumably, a great deal more room for the creative construction of roles in the early stages of a newly formed voluntary association.” (Stryker (1980 S. 71)
Auch in der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass es sich bei der Veränderung von Leistungssteuerungssystemen in arbeitgebenden Organisationen um eher einseitige Normveränderungen handelt, mit denen der Einzelne konfrontiert wird. Es handelt sich um Normveränderungen, die der Einzelne in den wenigsten Fällen selbst initiiert, sondern die eher bestimmte Reaktionen bei ihm auslösen (vgl. auch Giddens 1997). Die Grundannahmen der soziologischen Vorstellung von Anomie lassen sich dabei mit dem hier vertretenen Verständnis von Identitätsbildung in Einklang bringen. Gemäß Mead ist die Identitätsbildung des Einzelnen an die interaktive Auseinandersetzung mit normativen Erwartungshaltungen des eigenen sozialen Umfeldes geknüpft. Dabei wird auch hier von einzelnen Interaktionsbereichen mit kollektiv geteilten Normen ausgegangen, mit denen der Einzelne in 77
seiner Sozialisation konfrontiert wird und die er mehr oder weniger verändern kann. Identitätsbildung besteht dabei grundlegend in der selbstreflexiven Stellungnahme zum Normengefüge des sozialen Umfeldes und der entsprechenden subjektiven Positionierung und Bewertung in diesem Gefüge. Kernidee ist, dass gelingende Identitätsbildung an die wechselseitige Anerkennung in Interaktionsprozessen gebunden ist. Das heißt, der Einzelne benötigt die subjektiv empfundene Anerkennung durch wenigstens einen subjektiv signifikanten bzw. subjektiv anerkannten Interaktionsbereich, um einen positiven Bezug zur eigenen Identität aufbauen zu können. In modernen Gesellschaften spielt z.B. häufig der Bereich der Erwerbsarbeit eine wesentliche Rolle bei der Identitätsbildung des Einzelnen. Identität stellt sich dabei als subjektiv empfundene Einheit (Konsistenz, Kohärenz) der lebenslangen Erfahrungen (von Anerkennung, Missachtung, Nicht-Wahrnehmung) über einen selbst dar, welche in der Weise auch verhaltens- und handlungswirksam werden. Vor diesem Hintergrund wird offensichtlich, dass die einseitige Veränderung von signifikanten Anerkennungsstrukturen bzw. von identitätsstiftenden Normen des sozialen Umgangs die subjektive Identität in Frage stellen kann. Institutionelle Zustände von Anomie können Identitätsbildungsprozesse demnach wesentlich tangieren und wirken sich entsprechend auf die Handlungsfähigkeit und Handlungsrichtung des Einzelnen aus. Diese Perspektive ermöglicht es darüber hinaus, die von Merton nur angedeuteten Erklärungen zur Entstehung der verschiedenen Reaktionstypen um eine wesentliche Facette anzureichern. Von den oben identifizierten Identitätsbedrohungen lassen sich die schockartige Hinterfragung von Identität durch den Zusammenbruch subjektiv signifikanter Anerkennungsmuster und die Identitätsbedrohung durch die ständige Unbestimmtheit von Anerkennungsmustern in die anomietheoretische Lesart einbinden. Beide Identitätsbedrohungen entwickeln sich aus dem Zusammenbruch bisher geltender Normen der Anerkennung bzw. der Dynamik und Intransparenz solcher Normen. Wie von Merton vorgeschlagen, kann sich der Zusammenbruch bisheriger Normgefüge etwa aus deren faktischer Unbrauchbarkeit entwickeln. Beispielsweise führte nach der deutschen Wiedervereinigung die Anwendung herkömmlicher Mittel in der Erwerbsarbeit oftmals nicht mehr zur Erreichung der persönlich verfolgten und weiterhin sozial anerkannten Karriereziele. Auch die ständige Unklarheit über sozial anerkannte Ziele und vor allem über die Mittel zur Zielerreichung lässt sich als Zustand der institutionellen Anomie interpretieren. Die Identitätsbedrohung durch rigide Anerkennungsmuster, wie sie etwa in den Goffmannschen „totalen Institutionen“ anzutreffen sind, kennzeichnet demgegenüber die Einengung von subjektiver Identitätsbildung durch eine starke soziale Reglementierung in Form gesetzter Nor-
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men. Setzt man voraus, dass die hier vorgegebenen Normen auch erfüllbar sind, besteht keine Anknüpfung an anomieartige Strukturen. Im fünften Kapitel wird der Ansatz der Anomie wieder aufgenommen, um die Trends der Leistungssteuerung in Organisationen aus dieser Perspektive zu interpretieren und Zusammenhänge in Bezug auf Identitätsbildungsprozesse herzustellen. Um jene Entwicklungen der Leistungssteuerung in ihrem Bedeutungsgehalt einordnen zu können, erfolgt im folgenden Kapitel eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Leistung, dem Leistungsprinzip und dessen Funktionen sowie mit dem Zusammenhang von Identität und Leistung. 2.5 Zusammenfassung Das Kapitel wurde mit einer generellen Einordnung der identitätstheoretischen Untersuchungsperspektive und der Benennung sowie einer kurzen Erläuterung der wesentlichen Facetten des hier vertretenen Identitätsverständnisses eröffnet. Es wurde deutlich gemacht, dass die vorliegende Arbeit die subjektiv empfundene Identität des Einzelnen zum Thema hat (Subjektive Identität), welche sich durch die menschliche Grundtatsache der Reflexion über sich selbst auszeichnet. Des Weiteren wird generell davon ausgegangen, dass Selbstreflexion und Identitätsbildung als das Sammeln von (Selbst)erfahrungen notwendig an soziale Interaktionsprozesse gebunden sind. Identitätsbildung besteht dabei darin, jene, in sozialer Interaktion und über das gesamte Leben hinweg gemachten Erfahrungen in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht in eine subjektiv empfundene Einheit zu synthetisieren (Identitätsarbeit). Dementsprechend sind subjektiv empfundene Kohärenz und Konsistenz der Erfahrungen über sich selbst konstitutive Merkmale von subjektiver Identität. Da Identitätsbildung an soziale Interaktionsprozesse geknüpft ist, besteht zugleich eine untrennbare Verbindung zwischen der Ausprägung von Identität und der jeweiligen Beschaffenheit des sozialen Umfeldes (z.B. hinsichtlich der Fragmentierung des gesellschaftlichen Umfeldes usw.). Das bedeutet, dass Untersuchungen von menschlicher Identität immer auch eine soziohistorische Dimension aufweisen, die besonders dadurch deutlich wird, dass Fragen zur menschlichen Identität insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung moderner Gesellschaften gestellt und diskutiert wurden. Zur genaueren Erläuterung des Identitätsbildungsprozesses wurde auf das theoretische Fundament von George Herbert Mead als Mitbegründer des Symbolischen Interaktionismus zurückgegriffen. Meads Erkenntnisse bilden bis heute den Kern aktueller Identitätsforschung im sozialpsychologischen Bereich. Der Vorgang der wechselseitigen Perspektivenübernahme (taking the role of the 79
other) zwischen Interaktionspartnern und die dadurch bedingte Herausbildung zweier Identitätskomponenten in Form von Me und I im Zuge der schrittweisen Sozialisation (play und game) in die Gesellschaft (generalisierter Anderer) lässt sich dabei als dialektische Verknüpfung der Fortentwicklung der Identität des Einzelnen und der Beschaffenheit des sozialen Umfeldes lesen. Wie insbesondere Honneth (1994) verstärkt herausarbeitet, ist der Kern dieser Grundidee der Aspekt der wechselseitigen Anerkennung zwischen den Interaktionspartnern. Mead und Honneth gehen dementsprechend davon aus, dass der Aufbau einer subjektiv befriedigenden Identität (positiver Selbstbezug, Selbstachtung bzw. Selbstrespekt) erst dann gelingt, wenn der Einzelne in mindestens einem subjektiv signifikanten Interaktionsbereich Anerkennung erfährt und umso befriedigender ist, je individualisierter die erfahrene Anerkennung durch die Interaktionspartner ist. Zusammenfassend wurde subjektive Identität für die vorliegende Arbeit folgendermaßen definiert: Subjektive Identität ist die subjektiv empfundene Einheit (Kontinuität, Kohärenz) der lebenslangen und notwendig in sozialer Interaktion erworbenen Erfahrungen über sich selbst. Gelingende Identitätsbildung bzw. ein positiver Selbstbezug zur eigenen Identität ist dabei an die wechselseitige soziale Anerkennung in mindestens einem subjektiv signifikanten Interaktionsbereich gebunden. Die notwendige Bedingung der sozialen Anerkennung für Identitätsbildung impliziert zugleich, dass die Quelle für Identitätsbedrohungen wesentlich in der Beschaffenheit jener Anerkennungsverhältnisse liegt. Die radikale Veränderung bisheriger Anerkennungsmuster kann beispielsweise zur schockartigen Hinterfragung der bisherigen Identität führen. Auch die ständige Unbestimmtheit von Anerkennungsmustern resultiert möglicherweise in der Erosion subjektiver Identität. Die Unterdrückung gelingender Identität durch rigide Anerkennungsmuster, wie sie beispielsweise in Goffmans „totalen Institutionen“ anzutreffen sind, wurde als dritte Möglichkeit für identitätsbedrohende Anerkennungsmuster vorgestellt. Die radikale Veränderung als auch die ständige Unbestimmtheit von Anerkennungsmustern lassen sich zugleich als Figuren anomischer sozialer Zustände lesen. Anomie bezeichnet im Allgemeinen einen Zustand sozialer Regellosigkeit bzw. das wahrgenommene Fehlen von Normen für das gesellschaftliche Handeln eines Individuums. Da der Identitätsbildungsprozess gemäß Mead notwendig an die interaktive Auseinandersetzung des Einzelnen mit normativen Erwartungen des sozialen Umfeldes geknüpft ist, bzw. Normen der soziale Referenzpunkt für die Beurteilung eigener Verhaltensweisen und damit Identität sind, stellt die Anomie sozialer Strukturen eindeutig eine Identitätsbedrohung dar.
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Insbesondere Merton entwickelte eine wohlstrukturierte Vorstellung über die Anomie bzw. „Instabilität“ institutioneller Strukturen in Form der unausgeglichenen Akzeptanz institutionell vorgegebener Ziele und den vorgegebenen Mitteln der Zielerreichung. Hervorzuheben ist, dass er diese Instabilität als Resultat der quasi dialektischen Verknüpfung von individueller Handlungs- und organisationaler Strukturebene begreift. So entwirft er verschiedene Reaktionstypen (Rebellion, Ritualismus, Rückzug, Innovation), die sich je nach Akzeptanz von institutionellen Zielen und Mitteln unterscheiden und in der Form die Instabilität der jeweiligen Institution abbilden. Im Sinne der Zielstellung der vorliegenden Arbeit bietet Mertons Konzeption einen strukturierten und auch empirisch anschlussfähigen Rahmen für die Analyse und Abbildung des identitätsbedrohenden Charakters moderner Leistungssteuerungssysteme und die entsprechenden (akteursvermittelten) Rückwirkungen auf die Funktionsweise der Organisation. So lässt sich formulieren, dass die einseitige Veränderung organisationaler Anerkennungsmuster über die „Abarbeitung“ im Identitätsverständnis (Identitätsbedrohung) des einzelnen Organisationsmitgliedes zu entsprechenden Reaktionsweisen führt, welche die Instabilität organisationaler Strukturen und Abläufe hervorrufen bzw. befördern können (vgl. Abb. 8). Abbildung 8:
Rekursiver Zusammenhang von Arbeitsorganisation und Identitätsbildung unter Einbezug anomietheoretischer Überlegungen
Arbeitorganisation
Reaktionstypen: - Rebellion - Ritualismus - Rückzug - Innovation
Veränderte Anerkennungsmuster bzw. veränderte Normen der Anerkennung (Anomie) als Identitätsbedrohung
Individuum / Organisationsmitglied - Identitätsbildung über Anerkennung von „Leistung“ - Identität als empfundene Kohärenz und Konsistenz von Erfahrungen über einen selbst
Quelle: eigene Darstellung Diese Zusammenhänge sollen in der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die organisationale Einführung marktförmiger Leistungssteuerung dargestellt und inhalt81
lich untersetzt werden. Im folgenden Kapitel wird daher zunächst gezeigt, dass es sich bei den Normen der Anerkennung für Leistung um wesentliche, identitätsrelevante Anerkennungsmuster handelt, deren Veränderung durchaus anomische Tendenzen in Organisationen hervorrufen können.
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3 Leistung in modernen Gesellschaften Charakteristika und Bedeutung für Identität
Im folgenden Kapitel werden die Grundlagen zum hier verwendeten Begriff der „Leistung“ und die Bedeutung von Leistung für die Konstitution von subjektiver Identität in modernen Gesellschaften erläutert. Dementsprechend werden zunächst wesentliche Facetten des Leistungsbegriffes dargestellt. Anschließend wird ausführlicher auf die gesellschaftshistorische Entwicklung von Leistung als grundlegendem Medium der sozialen Integration bzw. Anerkennung in modernen Gesellschaften eingegangen. In diesem Zusammenhang werden die wesentlichen, historisch gewachsenen Merkmale jener „Leistungsgesellschaften“ (McClelland 1966) vorgestellt und die entsprechend herrschende Dominanz von in Erwerbs- bzw. Berufsarbeit erbrachter Leistung und deren Bedeutung für die soziale Anerkennung des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes herauskristallisiert. Dies impliziert zugleich die Erläuterung des Leistungsprinzips als normativem Rahmen für die Verteilung sozialer Anerkennung und dessen entsprechenden Funktionen für Organisation und Individuum. Hieran schließt sich ein Abschnitt an, der die Grundlagen zu Identitätsbildung aus dem vorangegangenen Kapitel und die dargestellten Erkenntnisse über das Wesen und die Bedeutung menschlicher Leistung zusammenführt und entsprechende Zusammenhänge aufzeigt. Letztlich wird das Kapitel mit einer Zusammenfassung abgeschlossen. 3.1 Wesentliche Facetten des Leistungsbegriffes Um den Facettenreichtum des Leistungsbegriffes zu illustrieren, wird in wissenschaftlichen Publikationen über Leistung häufig folgendes Zitat nach Dreitzel (1974, S. 31) verwendet: „Der Begriff der Leistung ist mit so vielen Äquivokationen behaftet, dass sich seine wissenschaftliche Verwendung fast verbietet.“ Auch in dieser Arbeit wird zunächst auf die hiermit anklingende Vieldimensionalität und schwere Erfassbarkeit des Leistungsbegriffes eingegangen. Anschließend soll jedoch gezeigt werden, dass „Leistung“ als eine bestimmte Form der menschlichen Tätigkeit im Verständnis moderner Gesellschaften bestimmte, gesellschaftshistorisch gewachsene Merkmale aufweist. 83 G. Faßauer, Arbeitsleistung, Identität und Markt, DOI 10.1007/978-3-531-91040-6_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
3.1.1 Der „schillernde“ Leistungsbegriff Der Begriff der Leistung weist eine sehr hohe Vielfalt an möglichen Bedeutungen auf. So formulieren Neckel/Dröge: „So eindeutig seine Verwendung dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auch erscheinen mag, so widersprüchlich und unscharf nehmen sich seine Konturen aus, wenn das Prädikat „Leistung“ näher definiert werden soll.“ (Neckel/Dröge 2002, S. 93)
Selbst innerhalb der modernen Umgangssprache zeigen sich bei näherer Betrachtung höchst unterschiedliche Bedeutungen von „Leistung“ und „leisten“. Hierüber liefert z.B. die Etymologie des Leistungsbegriffes interessante Einblicke (vgl. Vonessen 1974, S. 57ff.; Schlie 1988; Becker 2003, S. 13ff). Bedeutet das Wort „leisten“ ursprünglich so viel wie „der Spur folgen“ bzw. später ein „Gebot befolgen“ (vgl. Kluge 2002), ist es dann vor allem ein Rechtswort, welches die Bindung einer bestimmten Tätigkeit an eine rechtserhebliche Vorgabe beschreibt, das später jedoch auf zunehmend mehr Tätigkeiten bzw. Bedeutungszusammenhänge ausgedehnt wird. So schreibt Becker in Bezug auf die umgangssprachliche Verwendung des Leistungsbegriffes: „So leistet man einer Einladung Folge, man leistet einen Eid, Gesellschaft, Gefolgschaft, Rechenschaft, Hilfe, aber auch Abbitte, Sühne u.a.m. Leistung wird mit Tüchtigkeit, Anstrengung und/oder bewusstem Streben nach einem nützlichen Ergebnis gleichgesetzt. Das Erreichen von relativ guten Ergebnissen im Sport, beim Spiel, bei der Arbeit u.a. wird als Leistung bezeichnet. Macht man einen Fehler, vergisst man etwas oder arbeitet stümperhaft, kommt eine ironische Bemerkung zum Tragen „Da hat man sich aber was geleistet.“ Leistung ist für viele das stärkste Auto, das schnellste Flugzeug, der größte Tanker, der höchste Fernsehturm usw. Das Wort „Leistung“ riecht nach Schweiß, schwerer Muskelkraft, nach außergewöhnlichen Bemühungen.“ (Becker 2003, S. 11f.)
Obwohl also der zur „kulturellen Selbstverständlichkeit geronnene Leistungsbegriff im Alltag unbekümmert verwendet wird, bleibt er - bei genauerem Hinsehen - schillernd“ (Schettgen 1996, S. 173). Die wissenschaftliche Definition von Leistung erscheint nicht weniger schwierig, da unterschiedliche Wissenschaften, sowohl im natur- als auch sozialwissenschaftlichen Bereich, „Leistung“ je nach ihrem Blickwinkel anders deuten und eine universelle Leistungstheorie bisher nicht existiert (Lenk 1976; S. 25, 1983, S. 13ff.; Schettgen 1996, S. 173ff.; Becker 2003, S. 16ff.). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff der „Leistung“ zunächst grundlegend auf menschliche Handlungen bzw. deren Ergebnisse bezogen (vgl. zu 84
Begriff und Bedeutung von „Handlung“ für den Bereich der Soziologie z.B. Boudon/Bourricaud 1992, S. 192ff. oder Esser 1999; für den Bereich der Psychologie z.B. Kaminski 1981). Das heißt, es geht generell um ein intentionales bzw. zielgerichtetes menschliches Tun und dessen Resultate, die in der Selbstund/oder in der Fremdbewertung als „Leistung“ definiert werden (vgl. Heckhausen 1974, S. 11; Schlie 1988, S. 63; Neckel et al. 2004, S. 142, 2005, S. 370). Dabei sind gerade die Folgen aktuell zu beobachtender Veränderungen dieser Definitions- bzw. Interpretationsmuster in Organisationen von Interesse. Deshalb scheiden zum einen bestimmte Leistungsdefinitionen für die Untersuchung aus, wie beispielsweise die der Physik als Arbeit (Kraft x Weg) pro Zeiteinheit, da mit dieser die beigemessene Sinnhaftigkeit einer Leistung nicht erfasst werden kann (vgl. Lenk 1983, S. 13; Becker 2003, S. 18). Zum anderen wird deshalb auf eine genaue inhaltliche Definition von Leistung (z.B. bestimmte Aufgabe und Kriterien in Bezug auf deren „gute“ Bewältigung) verzichtet. Vielmehr wird ein soziologisches Begriffsverständnis angewandt, welches die Abhängigkeit der Interpretation einer Handlung oder eines Handlungsergebnisses als Leistung von den jeweils geltenden kulturellen Werten und Normen einer Zeitepoche als auch des jeweiligen Interaktionsbereiches betont. So formuliert Braun in Bezug auf die Interpretation von menschlicher Leistung: „Die historische Betrachtung belegt in ihren Ergebnissen, dass heute vieles als Leistung bewertet wird, was zur Zeit seiner Erstellung als Vergeudung, Narretei, Aufsässigkeit oder Widerstand disqualifiziert wurde.“ (Braun 1977, S. 193)
Schettgen schreibt in Bezug auf die Definition von Leistung in unterschiedlichen Interaktionsbereichen: „Was jeweils als Leistung gilt, ist davon abhängig, was die Angehörigen einer Bezugsgruppe (Vorgesetzte, Kollegen, Familie, Betriebsrat etc.) vor dem Hintergrund ihrer Kriterien und Maßstäbe als Leistung bezeichnen, anerkennen und durchsetzen.“ (Schettgen 1996, S. 180)
Dies verdeutlicht, dass die genaue inhaltliche Definition von Leistung sehr unterschiedlich sein kann, dabei jedoch immer von den geltenden Normen des jeweiligen Bezugssystems abhängig ist. So betont auch Heckhausen (1974, S. 48) bei der Abgrenzung seines (psychologischen) Leistungsbegriffes28, dass Leistung nur beurteilt werden kann, wenn ein Gütemaßstab zugrunde liegt. 28
Der Unterschied zwischen dem in der Psychologie vorherrschenden Leistungsbegriff nach Heckhausen (1974) und dem soziologischen Begriffsverständnis liegt in der stärkeren Subjektivierung von Leistung bzw. der Betonung der Aktivierung, Wahrnehmung und Zurechnung der eigenen Leistung (vgl. Heckhausen 1980; Zimbardo/Gerrig 1996).
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Dabei ist ein solcher Gütemaßstab ein Bezugssystem, innerhalb dessen ein Sachverhalt erst seinen Stellenwert, seine Bedeutung erhält, ja „überhaupt erst als Sachverhalt in Erscheinung treten kann.“ Mit Hartfiel lässt sich also zusammenfassend formulieren: „Als Leistung wird aber nur dann ein bestimmtes Verhalten oder ein Verhaltensergebnis anerkannt, wenn es gewissen soziokulturellen Erwartungen über ein solches Verhalten oder Verhaltensergebnis entspricht. Erforderlich ist die Existenz einer Norm der Gesellschaft oder der sozialen Bezugspersonen. (…) Wo keine Normen sind, kann auch nicht über Leistung entschieden werden.“ (Hartfiel 1977, S. 33)
Vor diesem Hintergrund wird in der Soziologie zwischen statischen und dynamischen Definitionen von Leistung unterschieden. Statische Definitionen betonen die notwendige Anpassung einer als „Leistung“ beurteilten Handlung oder eines Handlungsergebnisses an ein geltendes Normsystem. Dynamische Definitionen versuchen hingegen, „Leistung“ auch in Bezug auf zukünftige Standards zu definieren, also die historische Abhängigkeit der Interpretation von menschlicher Aktivität als „Leistung“ zu betonen (Becker 2003, S. 20ff.). Auf denselben Sachverhalt weist auch Braun (1977, S. 202f) hin, wenn er zwischen einer „technisch-funktionalen“, also - vereinfacht ausgedrückt - „angepassten“, statischen Art von Leistung und einer „transgredient-progressiven“, also neuartigen, erst später als „Leistung“ anerkannten Leistungsart unterscheidet. Trotz der Abhängigkeit von den Maßstäben des jeweiligen institutionellen Kontextes ist in modernen Gesellschaften die soziale Definition einer Handlung bzw. eines Handlungsergebnisses als Leistung nicht vollkommen willkürlich. So existieren bestimmte, „unhintergehbare“ oder formale Merkmale (vgl. Braun 1977, S. 190; Schlie 1988, S. 65; Neckel et al. 2004, S. 141), die ihren Ursprung in der historischen Entwicklung moderner Gesellschaften haben und die die Verwendung des Leistungsbegriffes begrenzen. So schreiben Neckel/Dröge: „Akteure verfügen über ein intuitives Wissen der elementaren Merkmale dessen, was eine Aktivität als „Leistung“ erst qualifiziert, und vermögen diese Bezeichnungen von anderen Ausdrücken für die menschliche Praxis sinnhaft zu differenzieren. Rein zufällige Handlungsergebnisse etwa oder passives Zuwarten auf den Eintritt erwünschter Ereignisse kommen danach für das Prädikat „Leistung“ kaum in Betracht.“ (Neckel/Dröge 2002, S. 110f)
Auch Schlie (1988, S. 66) pointiert, dass das zerstreute Blättern in einem Buch oder das Einschlafen über dem Schreibtisch wohl kaum als Leistung interpretiert würde.
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Es ist also davon auszugehen, dass bestimmte formale Elemente in der Sinngebung von Leistung existieren, die trotz ihrer verschiedenartigen, jeweiligen Interpretation bzw. genauen inhaltlichen Füllung und Betonung als auch ihrer z.T. gegebenen Widersprüchlichkeit eine allgemeine Geltung beanspruchen können (vgl. Neckel et al. 2005). Anders lässt sich schwer begründen, warum Begriffe wie „Leistung“, „Leistungsprinzip“ und „Leistungsgerechtigkeit“ bis heute für die Begründung individueller oder kollektiver Ansprüche sowohl innerhalb von Organisationen als auch gesamtgesellschaftlich herangezogen werden. So schreiben Hack et al.: „Die diffus-schillernde Bedeutungsvielfalt des „Leistungs“-begriffes und die in dieser Diffusität zugleich enthaltene strukturelle Identität sind Ausdruck & Voraussetzung der ubiquitären Geltungsansprüche der durch diesen Begriff bezeichneten Wirklichkeitsstrukturen.“ (Hack et al. 1976, S. 27, Fußnote 7):
Neckel/Dröge bekräftigen: „Wäre „Leistung“ in der alltäglichen sprachlichen Verwendung keine Kategorie, die intuitiv bestimmte Abgrenzungen kennt, könnte sie gewiss nicht für allgemein geteilte Normanforderungen kandidieren.“ (Neckel/Dröge 2002, S. 111)
Im folgenden Abschnitt wird auf jene formalen Merkmale von menschlicher Leistung näher eingegangen. 3.1.2 Die formalen Elemente von Leistung Da menschliche Leistung in ihrem genauen Bedeutungsinhalt vom jeweiligen sozialen Funktionszusammenhang bzw. vom jeweiligen institutionellen Kontext und der entsprechenden Bewertung durch die beteiligten Akteure abhängig ist, soll der Leistungsbegriff zunächst als eine „formale Kategorie“ (Braun 1977, S. 190), als ein durch formale oder „vorinstitutionelle“ Kriterien abgrenzbarer Begriff verstanden werden (vgl. Miller 1999, S. 138ff.; Neckel/Dröge 2002, S. 110ff.) Demnach wird im Folgenden ein formales oder analytisches Deutungsmodell von Leistung vorgestellt, das unterschiedliche Leistungsdefinitionen in sich vereint (vgl. Miller 1999, S. 131; Neckel/Dröge 2002, S. 110ff.; Neckel et al. 2004; 2005) und somit erlaubt, die unterschiedlichen Leistungsbegriffe in sozialen Interaktionsbereichen und in verschiedenen Organisationstypen (z.B. Branchen) bzw. auch in verschiedenen Bereichen innerhalb von Organisationen (z.B. Hierarchieebenen) abzubilden. Eine solche Vorgehensweise hat laut Neckel/Dröge (2002, S. 110ff.) zwei wesentliche Vorzüge. Zum einen wird damit 87
die Reflexivität in der gesellschaftlichen Verwendung des Leistungsbegriffes untermauert. Wie oben bereits erläutert, ist die Vorstellung über menschliche Leistung, zumindest in modernen Gesellschaften, durch bestimmte, eben jene formalen bzw. normativen Kriterien geprägt. Das heißt, alle menschlichen Handlungen, die als Leistung interpretiert werden, verbindet trotz ihrer möglichen Unterschiedlichkeit die Gemeinsamkeit bestimmter Merkmale, die diese unterschiedlichen Handlungen für die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder erst als Leistung kennzeichnen. Diese Merkmale werden im Rahmen eines formalen Deutungsmodells von Leistung extrahiert. Zum anderen betonen Neckel/Dröge (2002, S. 111), dass der im Folgenden vorzustellende formale Leistungsbegriff zugleich umfassend wie dezidiert genug ist. So kann er zugleich dem Wandel des Leistungsverständnisses und den verschiedenen Varianten von Leistung Rechnung tragen, die sich z.B. in unterschiedlicher Betonung und/oder differierenden Inhalten der formalen Merkmale äußern, ohne jedoch die Trennschärfe gegenüber grundlegend leistungsfremden Aktivitäten zu verlieren. So lassen sich etwa Annäherungen oder zunehmende Differenzen in den Leistungsverständnissen unterschiedlicher Hierarchieebenen einer Organisation feststellen, indem man die Betonung und Auslegung der einzelnen formalen Kriterien von Leistung im Zeitverlauf untersucht. Jene formalen bzw. normativen Merkmale des Leistungsbegriffes sind nach Neckel et al. (2004, S. 142ff.) zum einen die Zweidimensionalität des Leistungsbegriffes und die hiermit verbundene Ausgewogenheitserwartung. Da die Erbringung einer Leistung in modernen Gesellschaften den Anspruch auf eine gesellschaftliche Gegenleistung begründet (Leistungsprinzip), benennen Neckel et al. (2002, S. 144) unter Bezug auf Millers (1999, S. 131ff.) „concept of desert“29 zum anderen die Äquivalenzerwartung und die vorauszusetzende Chancengleichheit zur Erbringung von Leistung als weitere, formale Merkmale, die mit dem Begriff der Leistung verbunden sind. Diese Merkmale werden nun einzeln vorgestellt. Zweidimensionalität des Leistungsbegriffes Der Begriff der Leistung weist eine Aufwandsdimension und eine Ergebnisdimension auf (vgl. Abb. 9). Das heißt, Leistung „ist nomen actionis und nomen acti zugleich, meint zuerst das Geschehen selbst, den Vorgang, und dann erst das durch das Geschehen erreichte Ergebnis.“ (Vonessen 1974, S. 60). Die Beurteilung von Leistung erfolgt demnach zum einen an der Dimension des intentionalen, individuellen Aufwandes oder Inputs. Das heißt, Leistung wird anhand der „subjektiven Kosten“ (Offe 1970; S. 47), der „Mühe“ oder dem jeweiligen „individuellen Einsatz“ (vgl. Bolte 1979, S. 20f; Schlie 1988, S. 63ff.; Neckel et 29 Miller (1999, S. 131ff.) stellt hier den individuellen, durch „Leistung“ begründeten Verdienst als ein Element sozialer Gerechtigkeitsvorstellungen vor.
88
al. 2004, S. 142) definiert. In dieser Dimension lassen sich wiederum zwei Perspektiven auf Leistung unterscheiden. So kann die Definition bzw. Beurteilung des Aufwandes bzw. Inputs zum einen fähigkeitszentriert und zum anderen anstrengungszentriert erfolgen (vgl. Heckhausen 1974, S. 11ff.; Lenk 1983, S. 13ff.). Voswinkel (2005, S. 292ff.) spricht hier auch von der Leistungsdimension „Ressource“ und der des „Einsatzes“. Dabei meint Ressourcen- oder Fähigkeitszentrierung den Bezug auf ererbte und erlernte, relativ stabile Persönlichkeitsmerkmale, wie z.B. erworbene Qualifikationen (vgl. Lenk 1983, S. 16; Zimbardo/Gerring 1996, S. 34), die u.U. mit „Mühe“ und unter hohen „subjektiven Kosten“ erworben worden sind. Einsatz- oder Anstrengungszentrierung bezieht sich auf die von solchen Fähigkeiten unabhängig zu betrachtende Leistung. So können Menschen mit gleicher Qualifikation unterschiedliche Leistungsergebnisse erzielen, die dann, unter Ausschluss anderer beeinflussender Faktoren, auf ein unterschiedliches Bemühen bzw. unterschiedlichen „Einsatz“ oder unterschiedliche „Anstrengung“ zurückgeführt werden. Neben dieser Aufwands- oder Inputdimension wird bei der Interpretation von Leistung zum anderen auch das hiermit verbundene Ergebnis mitgedacht bzw. berücksichtigt. Die Definition von Leistung innerhalb dieser Ergebnisdimension kann, wie auch schon in der Aufwandsdimension, anhand unterschiedlichster Perspektiven bzw. Maßstäbe erfolgen (z.B. Bolte 1979, S. 23ff.) Voswinkel (2005 b, S. 28ff.; 2005a, S. 292ff.) unterscheidet in dieser Hinsicht einen sachlichen, sozialen und ökonomischen Leistungsbegriff. Der sachliche Leistungsbegriff bezieht sich auf die Beurteilung eines Leistungsergebnisses in Form von Menge und/oder Qualität hergestellter Güter oder absolvierter Dienstleistung. Der soziale Leistungsbegriff meint die erzielte Problemlösung für einen Kunden oder auch die Lösung gesellschaftlicher Probleme, wobei die Beurteilung dessen anhand der beigemessenen sozialen Wertigkeit eines Leistungsergebnisses erfolgt: Wie wichtig erscheint z.B. eine bestimmte Problemlösung, bzw. wie hoch erscheint die damit verbundene soziale Verantwortung. Darüber hinaus ist hiermit auch das Verdienst bezeichnet, das sich Leistungsträger durch ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Wohl erworben haben. Der ökonomische Leistungsbegriff beinhaltet die Beurteilung bzw. Definition eines Leistungsergebnisses anhand dessen marktlicher Verwertbarkeit bzw. am Ausmaß des Markterfolges (Ertrag, Gewinn).
89
Abbildung 9:
Zweidimensionalität und korrespondierende Perspektiven von Leistung
Aufwand
Ergebnis = sozial dienlich
Ressource
Einsatz
sachlich
sozial
Fähigkeit Qualifikation
Bemühen Anstrengung Belastung
Menge Qualität
Problemlösung gesellschaftliches Verdienst
ökonomisch Ertrag Gewinn
Quelle: Voswinkel 2005a, S. 294; 2005b, S. 29 Generell ist, wie mehrfach betont, die Beurteilung der Aufwands- und Ergebnisdimension abhängig von den historisch wandelbaren Zieldefinitionen und Wertpräferenzen des jeweiligen sozialen Umfeldes. Für die vorliegende Arbeit wird vor diesem Hintergrund grundlegend Neckel et al. (2004, S. 143ff.) gefolgt, die in Bezug auf moderne Gesellschaften konstatieren, dass die gesellschaftliche „Erwünschbarkeit“ bzw. soziale „Dienlichkeit“ einer Handlung bzw. eines Handlungsergebnisses konstitutiv für die Interpretation einer Handlung als Leistung ist. Dieser Aspekt kann durch die gesellschaftshistorische Entwicklung moderner Gesellschaften („Leistungsgesellschaften“) begründet werden, die die Zuteilung sozialer Anerkennung und den sozialen Status mit einer den offiziellen gesellschaftlichen Standards entsprechenden Leistung des Einzelnen begründen. So Neckel et al.: „Bestimmte Tätigkeiten, selbst wenn sie aufgrund ihrer Finesse oder Unerschrockenheit Bewunderung erfahren sollten, scheiden (…) immer dann als legitime Basis für sozialen Status aus, wenn ihre gesellschaftliche Folgen - wie beim Bankraub - als schädlich definiert worden sind.“30 (Neckel et al. 2004, S. 145)
Ausgewogenheitserwartung Zunächst ist also festzuhalten, dass Leistung ein mit Aufwand verbundener Prozess und zugleich das Ergebnis dieses Prozesses ist - demnach zweidimensional zu denken ist. Der interne Zusammenhang dieser beiden Leistungsdimensionen wird dabei durch die gesellschaftshistorisch begründete Erwartung der Ausgewogenheit bestimmt (Neckel et al. 2004, S. 143). Das heißt, beide Leistungsdimensionen sollten bei der Beurteilung von Leistung eine gleichgewichti30 Dieser Aspekt wird aber unterschiedlich gehandhabt: vgl. z.B. Miller (1999, S. 135), der über die Zuteilung „leistungsbezogener“ Verdienste bei Bankräubern nachdenkt, oder auch Schlie (1988), der zwischen „moralischen“ und „nicht-moralischen“ Leistungen unterscheidet. Weiterhin: Bolte 1979, S. 23; Becker 2003, S. 110 Fußnote 11).
90
ge Bedeutung haben, also ausgewogen und proportional berücksichtigt werden (Neckel et al. 2005). Dieser „gordische Knoten“ des Leistungsbegriffes (Becker 2003, S. 76) oder - in Offes (1970, S. 47) viel zitierter Formulierung - „unausgetragene Dualismus von Leistungskriterien“ wird dann sichtbar, wenn sich jene gesellschaftliche Erwartung der Ausgewogenheit an der Realität der Leistungserbringung und -bemessung bricht: Soll z.B. eine unter hohem individuellen Einsatz hervorgebrachte Erfindung, die sich jedoch am Markt nicht verkaufen lässt, weniger oder mehr Wert sein als ein am Markt erfolgreiches Produkt, das jedoch durch Produktimitation, also ohne jene vergleichbare große Mühe, entstanden ist? (Neckel et al. 2004, S. 143ff.; vgl. auch Bolte 1979, S. 31). Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung Die historische Entwicklung moderner Gesellschaften ist wesentlich durch die Ausprägung des Leistungsprinzips gekennzeichnet (vgl. McClelland 1966; Offe 1970; Dreitzel 1974; Heckhausen 1974, S. 58ff.; Braun 1977; Steinkamp 1977; Bolte 1979, S. 14ff.; Arzberger 1988; Schettgen 1996, S. 181ff.; Neckel 2002; Becker 2003, S. 107ff.). Das bedeutet, dass die individuelle Leistung als ein allgemein anerkannter Maßstab der Verteilung sozialer Anerkennung (gesellschaftliche Gegenleistung) fungiert. Die Äquivalenzerwartung bezeichnet in dieser Hinsicht die Erwartung, dass die individuelle Leistung und die soziale Gegenleistung in Form sozialökonomischer Statusvorteile in einem äquivalenten Verhältnis zueinander stehen sollen. Status ist dabei ein Attribut sozialer Positionen in Bezug auf Ressourcen, Reichtum, Wissen, Rang und Zugehörigkeit, oder wie Neckel (1991, S. 197) genauer erläutert, ist Status das Attribut sozialer Anerkennung, das mit der jeweiligen sozialen Position verbunden ist, die aus der eigenen Verfügung über Reichtum, Wissen, Rang und Zugehörigkeit resultiert. Die inhaltliche Bestimmung der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung in Form von Statusvorteilen ist - wie nun schon mehrfach in Bezug auf die formalen Kriterien von Leistung hervorgehoben - kontextabhängig. So Neckel et al.: „Nach welchen inhaltlichen Maßstäben diese Äquivalenz zu bestimmen ist, bleibt Gegenstand sozialer Aushandlungsprozesse, die über die Gewichtung des Aufwandes, der Erwünschtheit eines Ergebnisses und den symbolischen Wert verschiedener Formen von Gegenleistungen (etwa materielle Einkünfte oder Prestige) befinden müssen.“ (Neckel et al. 2004, S. 144)
Individuelle Chancengleichheit Im Zusammenhang mit der Entwicklung und normativen Wirkung des Leistungsprinzips ist auch die normative Erwartung der individuellen Chancengleichheit zu sehen (Bolte 1979, S. 30; Becker 2003, S. 109, 115; Neckel et al. 2004, S. 144). Wenn individuelle Leistung als wesentlicher Maßstab für die 91
Positionierung in der gesellschaftlichen Statusordnung angesehen wird, besteht die Erwartung, dass auch jedes Gesellschaftsmitglied die gleichen Möglichkeiten haben sollte, individuelle Leistung zu erbringen und diese anerkannt zu bekommen - jeder sollte diesbezüglich die gleichen Chancen haben. Welchen zentralen Stellenwert die Forderung der Chancengleichheit in modernen Gesellschaften bzw. „Leistungsgesellschaften“ (McClelland 1966) hat, lässt sich z.B. an der öffentlichen Diskussion der internationalen Schulleistungsstudie PISA (Programme for International Student Assessment) ablesen. Diese zeigen für Deutschland u.a., dass Schüler aus unteren Sozialschichten bzw. sozial schlechter gestellten Familien zu signifikant geringerem Maße höhere Bildungsabschlüsse erreichen.31 Dies sorgt regelmäßig für Diskussionen hinsichtlich der Voraussetzungen des Leistungsprinzips und dessen faktischer Wirksamkeit in Deutschland. Die in diesem Abschnitt angesprochenen Erkenntnisse zu den formalen Merkmalen des Leistungsbegriffes werden in der Abbildung 10 zusammenfassend dargestellt. Abbildung 10: Formale Merkmale des Leistungsbegriffes
Cf
Aiz
Ee = L
Sozioökonomis cher Status
Quelle: Neckel et al. 2004, S. 144 Unter der Bedingung formaler Chancengleichheit (Cf) gilt ein intentionaler und individuell zurechenbarer Aufwand (Aiz), der zu einem gesellschaftlich erwünschten Ergebnis (Ee) führt, als Leistung (L). An das Verhältnis von AufEe). wand und Ergebnis richtet sich eine Ausgewogenheitserwartung (Aiz Leistung begründet den Anspruch auf eine äquivalente Gegenleistung in Form von sozial-ökonomischem Status (L sozioökonomischer Status) (Neckel et al. 2004, S. 144).
31
Vgl. www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/PISA_im_Überblick. (S. 19ff) (31.12. 2006).
92
3.2 Leistung - Medium der Anerkennung in modernen Gesellschaften Im vorhergehenden Kapitel wurde die Entwicklung moderner Gesellschaften am Merkmal der zunehmenden Differenzierung festgemacht. Diese Differenzierung wurde zum einen auf die Ebene gesellschaftlicher Teilbereiche und zum anderen - bedingt durch die hiermit korrespondierende, zunehmende Arbeitsteilung und funktionale Spezialisierung - auf die Ebene der sozialen Rollen bezogen. Es wurde erläutert, dass sich im Zuge dieser funktionalen Ausdifferenzierung die traditionelle Form der wechselseitigen sozialen Anerkennung bzw. sozialen Integration in Form von durch Geburt bedingter Gruppenzugehörigkeit und entsprechend geteilter Werte und Normen zu einer, auf dem Austausch funktionaler Beiträge bzw. „Leistungen“ basierenden Anerkennungs- bzw. Integrationsform wandelte. Im Folgenden sollen die Merkmale und die Entwicklung moderner Gesellschaften als „Leistungsgesellschaften“ ausführlicher erläutert werden. Anschließend wird das Leistungsprinzip als normatives konstitutives Element von Leistungsgesellschaften und dessen Bedeutung für Organisationen als Orten der Leistungserbringung und Individuen als Leistungserbringern vorgestellt. Letztlich wird der Zusammenhang von Leistung und Identitätsbildung vertiefend betrachtet. 3.2.1 Moderne Gesellschaften als Leistungsgesellschaften Der Begriff „Leistungsgesellschaft“ geht auf die deutsche Übersetzung von McClellands bekannter Monographie „The Achieving Society“ (1961) zurück. McClelland versucht hier den Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Ausprägung und Verbreitung des „Leistungsmotivs“32 als Bedürfnis oder Streben nach Leistung und dem wirtschaftlichen Wachstum der westlichen Industriegesellschaften nachzuweisen. Unter Bezug auf Webers Analysen zu Entwicklung und Auswirkungen der protestantischen Ethik führt er dabei die Entstehung und Verbreitung des Leistungsmotivs auf die historische Entwicklung und die hiermit zusammenhängenden, nachhaltigen Folgen für die Erziehungspraktiken und -inhalte33 in diesen Gesellschaften zurück. In diesem Zusammenhang definiert McClelland (1966, S. 109) „Leistungsgesellschaften“ als Gesellschaften, 32 So führt McClelland für das Leistungsmotiv auch das Kürzel n Ach („need for achievement“ zu deutsch: Bedürfnis nach Leistung (b Leistung)) ein (vgl. McClelland 1966, S. 80 ff.; Zimbardo/Gerrig 1996, S. 345ff.). 33 Z.B. frühe Erziehung zur Selbstständigkeit, Förderung des eigenständigen Leistungsstrebens über die Vermittlung von Gütemaßstäben für Handlungen.
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„die sich wirtschaftlich rascher entwickelt haben.“ Diese Definition weist zwar schon auf den in modernen Gesellschaften dominanten Stellenwert von Leistung im Bereich der Erwerbsarbeit, des Berufes bzw. der Wirtschaft hin, verrät jedoch nur wenig über den Kern oder die grundlegenden Merkmale von „Leistungsgesellschaften“. Im Folgenden werden moderne Gesellschaften als Leistungsgesellschaften näher vorgestellt. Zunächst werden die grundlegenden Merkmale von Leistungsgesellschaften dargestellt, um anschließend die wesentlichen Impulse für die historische Genese aufzuzeigen. Schlussendlich wird auf die Entwicklung und Bedeutung von Leistung als kollektive Norm eingegangen. 3.2.1.1 Merkmale von Leistungsgesellschaften Im Folgenden wird auf die Ausführungen Boltes (1979, S. 11f.) Bezug genommen, der die wesentlichen, auch heute in der Literatur diskutierten und in dieser Arbeit teilweise bereits erwähnten Aspekte zum Begriff der Leistungsgesellschaft zusammenträgt (vgl. z.B. Arzberger 1988; Becker 2003, S. 109ff.). Zunächst wird es als charakteristisch für Leistungsgesellschaften angesehen, dass viele Mitglieder dieser Gesellschaft Leistung als etwas Schätzens- und Erstrebenswertes empfinden. Das heißt, Leistung ist als ein gesellschaftlicher Wert anzusehen, der in hohem Ausmaß akzeptiert wird - die Gesellschaftsmitglieder zeichnen sich durch eine hohe Leistungsorientierung aus. Des Weiteren wird bezeichnend für Leistungsgesellschaften die Tatsache betont, dass sie im internationalen und historischen Vergleich besondere Leistungen in wirtschaftlicher Hinsicht, also eine relativ hohe Produktivität, aufzuweisen haben. Wie in den Ausführungen zur funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften bereits betont, spielt Leistung im Bereich der Wirtschaft, der Erwerbsarbeit bzw. des Berufes eine besondere Rolle. In Leistungsgesellschaften wirken demnach bestimmte „Kräfte“ darauf hin, alle vorhandenen „Ressourcen“ für eine Steigerung des Wirtschaftswachstums zu erschließen, wodurch historisch ein relativ hoher Lebensstandard für breite Bevölkerungskreise verwirklicht werden konnte. Als typisch für Leistungsgesellschaften wird weiterhin erachtet, dass die individuelle Leistung als Zuteilungskriterium für Status und Lebenschancen gilt - demnach also das Leistungsprinzip (Äquivalenzerwartung) prinzipiell als Verteilungsmechanismus akzeptiert wird. In diesem Sinne werden in historischer Betrachtung „moderne industrielle Leistungsgesellschaften“ häufig abgesetzt von früheren „vorindustriellen Abstammungsgesellschaften“, in denen die Herkunft das entscheidende Zuteilungskriterium für materielle und soziale Chancen war. 94
Letztlich wird als besondere Eigenart von Leistungsgesellschaften genannt, dass in ihnen eine spezifische Art von Zweck-Mittel-Rationalität entfaltet ist, wonach es sowohl als richtig gilt, gesetzte Ziele mit möglichst geringem Aufwand34 zu erreichen (Effizienzprinzip), als auch, dass Wettbewerb in vielen Lebensbereichen vorkommt und als eine wichtige Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet wird. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der hohe Stellenwert von wirtschaftlicher Leistung und die prinzipielle Akzeptanz von individueller Leistung als hauptsächlichem Zuteilungskriterium für gesellschaftliche Anerkennung die wesentlichen Kennzeichen von Leistungsgesellschaften sind. 3.2.1.2 Historische Impulse der Entwicklung Die Triebkräfte der historischen Entwicklung, also jene Impulse und Zeitströme, welche die Entwicklung der westlichen Leistungsgesellschaften hervorbrachten, sind vielfältig und stehen in wechselseitigen Beziehungen zueinander (vgl. z.B. Braun 1977; Arzberger 1988). Jene Triebkräfte lassen sich wesentlich im Aufkommen bestimmter sozialphilosophischer und religiöser Geistesströmungen als auch in der Entwicklung einer zunehmend industriellen Produktionsweise ausmachen. Sie bilden den Hintergrund für die Entstehung „großorganisatorischer“ Unternehmen sowie für die Entwicklung staatlicher Institutionen (Bildungswesen, Rechtswesen, Polizei usw.) mit einem zunehmend bürokratisch organisierten Verwaltungsapparat (vgl. Bendix 1960; Offe 1970, S.44; Steinkamp 1977; Türk 1995, S. 155ff.; Kieser 1999). Wesentliche Zielgruppe und Träger dieser Tendenzen war das aufstrebende, sich gegenüber dem Adel und der traditionellen Ständeordnung emanzipierende Wirtschaftsbürgertum. Jene Kaufleute und Unternehmer waren besonders empfänglich für die neuen Geistesströmungen im sozialphilosophischen und religiösen Bereich, brachten diese doch eine Aufwertung ihres originären Tätigkeitsbereiches mit sich. So stellten die Gedanken der liberalistisch orientierten Gesellschaftstheorie, z.B. von John Locke (1632-1704), und der darauf aufbauenden politischen Ökonomie, z.B. vertreten von Adam Smith (1723-1790) und David Ricardo (17721823), wichtige geistige Impulse im sozialphilosophischen Bereich dar (vgl. Braun 1977, S. 12ff., S. 87ff.; Kiss 1977, S. 60ff.). Diese klassischen Theoretiker der frühen bürgerlichen Gesellschaft entwarfen das Bild einer „gerechten“ gesellschaftlichen Ordnung, die auf dem marktlichen Leistungsaustausch zwi34
Anzufügen ist bei diesem Merkmal, dass auch hier das bereits erwähnte Kriterium der sozialen Erwünschtheit der Art des Aufwandes gilt. Das Erreichen bestimmter Wettbewerbsergebnisse durch Betrug oder Bestechung wird z.B. allgemein als nicht akzeptabel angesehen.
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schen den Gesellschaftsmitgliedern beruht. Hiernach könnten sich die im Menschen verborgenen Kräfte des „Eigeninteresses“ und der „Vernunft“ und das damit verbundene Interesse, für sich selbst zu arbeiten, zum Wohle aller auswirken. So würde jeder die Produkte seiner Arbeit auf dem Markt anbieten und jedem würde nur das abgenommen, was andere gebrauchen können (z.B. über Smiths „invisible hand“). Bolte (1979, S. 17) erklärt den Ansatz: „Um sich selbst zu dienen, muss man also zunächst etwas tun, das anderen nützt; Eigeninteresse setzt sich daher in Gemeinwohl um.“ Hieraus entspringt die grundsätzliche Idee, dass jeder gemäß seiner „Leistung“, also je nach Ausmaß seines - an ökonomischen Kategorien gemessenen - Beitrages zum Gemeinwohl, seinen „gerechten“ Platz in der Gesellschaft selbst bestimmen kann. Dieser Gesellschaftsentwurf bedingte zugleich die Idee der gesellschaftlichen „Chancengleichheit“ und zog politische Forderungen nach sich, die darauf drängten, alle Regelungen und Verhältnisse zu beseitigen, die die wirtschaftliche Aktivität des Einzelnen behinderten. In diesen Kontext können z.B. Entwicklungen wie die Einforderung staatsbürgerlicher Rechte für alle sowie das Recht auf Eigentum und dessen Nutzung35, die Etablierung der Gewerbefreiheit, als auch die öffentliche Förderung des Bildungswesens eingeordnet werden (vgl. Dreitzel 1971, S. 34; Braun 1977; Kiss 1977, S. 60ff.). Das waren Tendenzen, die den Interessen des Bürgertums an der eigenen wirtschaftlichen Entfaltung und gesellschaftlichen Stellung sehr entgegenkamen und die auch andere Gesellschaftsmitglieder aus traditionellen Bindungen herauszulösen vermochten. Neue Strömungen im religiösen Bereich wirkten ebenso als Triebkraft gesellschaftlicher Veränderungen. Luthers (1483-1546) Reformation, die Auseinandersetzung mit dem sich seit dem 15. Jh. entwickelnden Protestantismus (vgl. Oevermann 2001) und die Ausdeutung und Folgen von Calvins (15091564) Prädestinationslehre36 trugen gemäß der Analyse Max Webers (1988) zu einem neuen Verständnis von Arbeit bei (vgl. Schluchter 1979). Insbesondere die calvinistische Lehre führte dazu, dass Arbeit nicht mehr nur als göttliche Strafe für den Sündenfall oder als notwendiges Übel schien, und nicht mehr nur von jedem ehrlichen Christenmenschen verlangt wurde, an seinem Platz seine 35
Zum Zusammenhang der Stellung von Eigentum und der Entstehung von Rechtsnormen als neues Integrations- bzw. Anerkennungsmedium in modernen Gesellschaften vgl. z.B. die Analyse von Habermas zu den Durkheimschen Thesen (Habermas 1999, S. 118ff.) oder seine Auseinandersetzung mit Hegel (Habermas 1968). 36 Gemäß der Prädestinationslehre ist es eigentlich nicht möglich, das eigene ewige Seelenheil im Jenseits durch eine bestimmte Lebensweise im Diesseits zu beeinflussen. Nur eine kleine, vorherbestimmte Anzahl von Menschen, so Calvin, würde von Gott auserwählt, alle anderen hingegen verdammt. Dies führte nach Max Weber gerade dazu, dass sich die Gläubigen durch das eigene „gottgewollte Handeln“ (durch „rastlose Berufsarbeit“ und einen „asketischen“ Lebensstil) ihrer erhofften Auserwähltheit zu versichern suchten (Weber, 1988, S. 102ff.).
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Pflicht zu tun, sondern „Arbeit wurde jetzt als Medium begriffen, durch das der Mensch mitzuwirken hat an der Gestaltung des Reiches Gottes in dieser Welt.“ (Bolte 1979, S. 16). In diesem Sinne förderte gemäß Weber (1988) die Haltung der protestantischen Ethik wie keine andere den Unternehmergeist, das rationale, organisierte und kontinuierliche Streben nach Gewinn und dessen Reinvestition für Produktionszwecke, als auch - basierend auf der Forderung der innerweltlichen Askese - die allgemeine Berufsethik (vgl. Braun 1977, S. 16ff.; Arzberger 1988). Hartfiel schreibt dazu: „Der asketische Protestantismus legitimierte ein Wertsystem und entsprechende (...) Handlungsweisen, die maximale Arbeits- und Sachleistung, Akkumulation von Reichtum und dessen unermüdlichen Einsatz zu Produktionszwecken nicht nur gestattete, sondern ausdrücklich begünstigte, und zwar (...) durch „gottgefällige“, d.h. nicht „unlautere“ Methoden und Mittel.“ (Hartfiel 1977, S. 15)
Leistungsfähigkeit und Leistungsstreben, bemessen in Kapitelvermehrung und Akkumulation von Eigentum, ließen sich somit auf religiöser Basis für die Verteilung sozialer Positionen bzw. sozialer Anerkennung legitimieren und verhalfen dem Bürgertum somit zu Emanzipation und Aufstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie. Dabei war die planmäßige, umfassende und effiziente Organisation des gesamten Produktionsprozesses auf der Grundlage disziplinierter Arbeit unverzichtbare Voraussetzung der bürgerlichen Profitakkumulation (vgl. Braun 1977, 14ff.). Das bedingte einerseits die ständige Integration technischer Innovationen und neuer Erkenntnisse in den Produktionsprozess als auch die Notwendigkeit zur Anstellung und Kontrolle von Arbeitskräften im Rahmen der zunehmend arbeitsteiligen Produktionsweise (vgl. Marx 1962; Dreitzel 1974, S. 34f; Braun 1977, S. 14). Bis die Mehrheit jener Arbeitskräfte jedoch die harten Normen der neuen Arbeitswelt weitgehend verinnerlicht hatte, bedurfte es Jahrhunderte der „Disziplinierung“, „Erziehung“ bzw. Zwang und Not (vgl. Marx 1962; Bendix 1960; Braun 1977, S. 35ff.; Hirschmann, 1987; S. 47ff.; Arzberger 1988; Negt/Kluge 1993; Veblen 2000). Die durch die arbeitsteilige Großorganisation bedingte, neue Aufteilung des Lebens in zeitlicher und räumlicher Hinsicht und die in diesem Ausmaß bisher nicht gekannte Standardisierung und Aufteilung von Arbeit widersprachen vollkommen deren bisherigem Charakter und entsprechenden sozialen Traditionen (Bendix 1960, S. 275). So formuliert Braun: „Für die meisten waren Hunger und Not die einzigen Antriebe, sich dem Fabriksystem zu unterwerfen. Von einer spontanen oder freudigen Leistungsbereitschaft kann zu keiner Zeit die Rede sein.“ (Braun 1977, S. 37)
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Erst der mit der arbeitsteiligen Großorganisation und anderen öffentlichen Institutionen und deren Organisierung (z.B. Bildungswesen) einhergehende Zwang führte zu einem modernen, den unternehmerischen Interessen entsprechenden Leistungsethos bei der Mehrheit der Bevölkerung. Braun beschreibt jenen Ethos im Bereich der fabrikorganisierten Produktionsarbeit: „Privates Interesse an Sorgfalt, Pünktlichkeit und Exaktheit gemäß den Regeln der Organisation in Verbindung mit gleichbleibender Intensität der Arbeit und der Bereitschaft, sich reibungslos in den Produktionsablauf zu integrieren bei gleichzeitiger Unterwerfung unter ein autoritäres Befehlsgefüge.“ (Braun 1977, S. 39)
3.2.1.3 Leistung in Organisationen - Entwicklung zur Kollektivnorm Mit fortschreitender Entwicklung bewirkten das unternehmerische Interesse an einer effizienten Arbeitskräftesteuerung in der hoch arbeitsteiligen Produktion und entsprechende Aushandlungsprozesse zwischen Lohnabhängigen und Unternehmern die - zumindest formale - Etablierung und Umsetzung des Leistungsprinzips für die Organisationsmitglieder (vgl. z.B. Deutschmann 2002, S. 68ff. zu den Bedingungen der Entwicklung der „Ware“ Arbeitskraft). Das heißt, dass die Leistung der Organisationsmitglieder zunehmend über deren Erwartung und die Zuteilung einer äquivalenten Gegenleistung aktiviert und gesteuert wurde. Dieser Prozess war dabei nicht nur für den Bereich der Produktionsarbeit beobachtbar. Auch die Tätigkeiten des bis dahin eher ständisch organisierten Beamtentums in den staatlichen Verwaltungen verloren - nicht zuletzt durch die sich etablierende Bürokratisierung - zunehmend ihren ursprünglich nicht erwerbsorientierten Amtscharakter („Dienst“ vgl. z.B. Voswinkel 2005b, S. 25ff.) und wurden in wachsendem Maße durch das Motiv der organisationalen Gegenleistung angereizt und gelenkt (vgl. Kluth 1977). Die Zulassung zu einer Berufsposition, der Erwerb von Einkommen, der soziale Aufstieg in eine „höhere“ Position derselben Organisation und die Ausstattung mit Anordnungsbefugnis (formale Autorität) entwickelten sich auf diese Weise zu Indizien der eigenen Leistungsfähigkeit (vgl. Offe 1970, S. 45) und wurden somit zum wichtigen Medium der gesellschaftlichen Integration. Leistung als ursprüngliche Individualnorm des Unternehmers entwickelte sich somit über das Aufkommen arbeitsteiliger Produktionsformen und bürokratischer Organisation zur Kollektivnorm, d.h. zur allgemeinen gesellschaftlichen Verhaltenserwartung an den Einzelnen (vgl. Braun 1977, S. 33ff.). Wurde dabei die individuelle Leistung des Unternehmers noch in Relation zum Markt - also über die ökonomische Perspektive von Leistung (Abb. 9) - definiert, machten es die hocharbeitsteiligen Arbeitsorganisationen notwendig, die einzelnen Leistungen der Organisationsmitglieder 98
unabhängig vom Marktmechanismus zu ermitteln (vgl. Offe 1970, S. 44). Diese „preis-unabhängige“ Perspektive auf die individuelle Leistung der Organisationsmitglieder entwickelte sich notwendig auf Grund zweier ineinandergreifender Tendenzen. Einerseits verhinderten die zunehmend komplexen, arbeitsteiligen Strukturen in den Organisationen die jeweilige Zurechnung der individuellen Anteile der Organisationsmitglieder an der organisationalen Gesamtleistung bzw. deren Markterfolg. Andererseits machten es die komplexen Arbeitsstrukturen in wachsendem Maße notwendig, die innere Leistungs- und Kooperationsbereitschaft der Organisationsmitglieder bzw. das „kreative Potential menschlicher Arbeitskraft“ zu motivieren (Deutschmann 2002, S. 71). So schreibt Deutschmann (2002, S. 69): „Ungeachtet aller Machtasymmetrien ist nicht nur der Arbeiter auf das Kapital angewiesen, sondern auch das Kapital auf die Arbeit. Nur wenn auch die Arbeiter sich die ihnen zugedachte wertschöpfende Rolle zu Eigen machen, kann das Geld jenen schlechterdings unüberholbaren Eigenwert gewinnen, der es zum Kapital macht.“ (Deutschmann 2002, S. 69)
Weiter stellt er fest: „Die Arbeit erfüllt (…) gewährleistende Funktionen, die gerade mit wachsender Kapitalintensität des Produktionssystems an Bedeutung gewinnen. Sie ist kreativ, insofern sie neue Produkte und Produktionsmittel erfindet und herstellt, und zugleich zerstörerisch.“ (Deutschmann 2002, S. 71)
Um dieses notwendige Engagement der Beschäftigten dauerhaft und regelmäßig mobilisieren zu können (und nicht zuletzt auch den Absatz der eigenen Produkte zu befördern und zu gewährleisten - man denke z.B. an Henry Fords T-Modell), wurde es notwendig, Gegenleistungen in Form bzw. zum Erwerb eines sozioökonomischen Status (vgl. Neckel 1991, S. 193ff.; Veblen 2000) zu gewährleisten.37 Organisationen, die sich auf der Basis dieser Funktionslogik des Tausches konstituieren, bezeichnet Schimank (2005) als „Arbeitsorganisationen“ und setzt sie von solchen Organisationen ab, welche aufgrund inhaltlich gleich gerichteter Interessen gegründet werden (z.B. Parteien, Gewerkschaften). In Arbeitsorganisationen konnte die über die Tauschlogik bewirkte „homogenisierte 37
Wie oben bereits beschrieben, ist Status laut Neckel (1991, S. 197) ein Attribut sozialer Positionen in Bezug auf Ressourcen, Reichtum, Wissen, Rang und Zugehörigkeit bzw. ist Status das Attribut sozialer Anerkennung, das mit der jeweiligen sozialen Position verbunden ist, die aus der eigenen Verfügung über Reichtum, Wissen, Rang und Zugehörigkeit resultiert. In dieser Weise legt Status Rechte und Pflichten von Akteuren fest, gewährt Vor- und Nachteile in der sozialen Konkurrenz und ist mit einem distinkten Prestige verbunden.
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Mitgliedschaftsmotivation“ der Organisationsmitglieder die Möglichkeit ansonsten nicht gegebener organisatorischer Spezialisierungs- und Wachstumspfade eröffnen (vgl. Schimank 2005, S. 27). Hierin sieht Schimank auch eine Antwort auf die Frage, warum die moderne (Leistungs-)Gesellschaft als „Organisationsgesellschaft“ betrachtet werden kann, welche sich durch die Anspruchsbefriedigung der Gesellschaftsmitglieder konstituieren und langfristig legitimieren konnte: „Fragt man danach, warum sich auf diese Weise zustande kommende Arbeitsorganisationen in der modernen Gesellschaft immer mehr verbreitet haben, lässt sich wiederum jenseits aller historischen Details und Varianten ein Grundmuster klar ausmachen. Arbeitsorganisationen, die so wie dargestellt über ihre Mitglieder verfügen können, verschaffen sich dadurch große Effizienz- und Effektivitätsvorteile ihrer Leistungsproduktion. (…) Förderlich für die „Lebenschancen“ fast aller Gesellschaftsmitglieder ist daran gewesen, dass sich so in einer Reihe von gesellschaftlichen Teilsystemen eine enorme Steigerung ihrer Leistungsproduktion eingestellt hat. Es war ebenfalls Marx, der (…) die schon zu seiner Zeit beispiellose Menge, Qualität, Diversifikation und Verbilligung von Gütern und Dienstleistungen als Errungenschaft der modernen, auf formalen Organisationen beruhenden Wirtschaft hervorhob. Gleiches ließe sich über die Leistungen des modernen Schul- und Hochschulwesens im Bildungssystem, in der modernen Krankenhausorganisation, im Gesundheitssystem sowie über die Leistungsorganisationen der Massenmedien, des Wohlfahrtsstaates, des Rechtswesens oder der Forschung sagen. Sie alle werden durch ihre Form der Mitgliedschaft, also den Tausch von Fügsamkeit gegen Gehalt, zu unübertroffen effizienten und effektiven Arbeitsorganisationen, die stetig mitwachsende Leistungsansprüche der Gesellschaftsmitglieder an die betreffenden Teilsysteme mit historisch beispielloser Zuverlässigkeit befriedigen.“ (Schimank
2005, S. 27f) In dieser wechselseitigen Verflochtenheit sind die Systeme der Leistungsmessung und -beurteilung daher als formale Indizien der Herstellung eines „working consense“ zu betrachten (Bechtle/Sauer 2003, S. 42) und Leistung zugleich als eine, die Organisation stabilisierende Handlungsnorm. Das heißt, dass sich der Leistungsbegriff, insbesondere die „preis- oder marktunabhängige Kategorie von Leistung“ (Offe 1970, S. 44), und die formalen Systeme der Leistungsmessung und -beurteilung zu einem legitimatorischen und konstitutiven Element modernder arbeitsteiliger Organisationen und damit auch zum wesentlichem Medium der sozialen Integration entwickelten (vgl. Braun 1977; Deutschmann 2002, S. 61ff.; Bechtle/Sauer 2003; Schimank 2005). Vor diesem Gesamthintergrund kann einerseits konstatiert werden, dass die profit- und leistungsorientierten „Privatunternehmer einen wesentlichen Beitrag zur leistungsvermittelten Individualisierung der Gesellschaft geleistet“ haben 100
(Braun 1977, S. 15). Andererseits lässt sich damit der hohe soziale Stellenwert von Leistung im Bereich der bezahlten Erwerbsarbeit und wirtschaftlicher Aktivitäten und deren Dominanz über andere gesellschaftliche Leistungsbereiche, wie z.B. den der Erziehungsarbeit, erklären (vgl. Hondrich et al. 1988). So schreibt Braun (1977, S. 54): „Der die moderne Industriegesellschaft bestimmende Leistungsbegriff ist nicht älter als die Industriegesellschaft selbst.“ 3.2.2 Die Bedeutung des Leistungsprinzips Das Leistungsprinzip stellt neben anderen Ordnungsprinzipien wie dem Demokratie-, Rechtsstaats- und Solidaritätsprinzip eine Fundamentalnorm im Selbstverständnis moderner Gesellschaften dar (Neckel 2002, S. 94). Jedes dieser Prinzipien steht für bestimmte Vorstellungen darüber, wie bestimmte Aspekte des gesellschaftlichen Lebens geregelt werden sollen (vgl. Braun 1977, S. 215ff.; Hartfiel 1977, S. 19ff.; Becker 2003, S. 181). Das heißt zugleich, dass jene Prinzipien nicht notwendig eine realistische Beschreibung der Sozialstruktur moderner Gesellschaften widerspiegeln, sondern vielmehr wesentliche, verbindlich akzeptierte bzw. erwünschte und vielfach institutionalisierte soziale Organisationsprinzipien darstellen (vgl. Offe 1970, S. 42). So ändert der berechtigte Zweifel (vgl. z.B. grundlegend Offe 1970) an der realen Wirksamkeit der sozial anerkannten Funktionen des Leistungsprinzips nichts an dessen Status als legitimes, also wünschenswertes oder eigentlich „richtiges“ Prinzip (vgl. Neckel 2002, S. 107). Verbürgen das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip den Anspruch auf politische Gleichheit bzw. unverlierbare persönliche Rechte aller Gesellschaftsmitglieder, beinhaltet das Leistungsprinzip Vorstellungen über die angemessenen und verbindlichen Regeln der Verteilung gesellschaftlicher Positionen. Es wird demnach als verbindlicher und legitimer Mechanismus zur Rechtfertigung sozialer Gleichheit als auch Ungleichheit von Gesellschaftsmitgliedern angesehen. Kern des Leistungsprinzips ist dabei, dass es die selbst erbrachte individuelle Leistung zum Bezugspunkt für die Verteilung gesellschaftlicher Gegenleistungen in Form von finanzieller Vergütung (Lohn, Einkommen), Zuerkennung sozialer Wertschätzung (z.B. soziale Privilegien) und Zulassung zu sozialen Positionen, Berufen oder Ämtern (vgl. Schettgen 1996, S. 181) macht. Das Leistungsprinzip ist in der Weise konstitutiv für die normative Sozialordnung der Moderne.
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3.2.2.1 Allgemeine Funktionen des Leistungsprinzips In differenzierter Form lässt sich die Bedeutung des Leistungsprinzips zeigen, wenn man seine sozialen Funktionen näher betrachtet. In der Literatur wird an dieser Stelle häufig zwischen manifesten und latenten Funktionen unterschieden (vgl. Steinkamp 1977; Becker 2003, S. 113ff.). Manifeste Funktionen sind die offiziell geltenden bzw. allgemein anerkannten Funktionen des Leistungsprinzips. Aus der Vorgabe und dem Anspruch der Erfüllung dieser Funktionen bezieht das Leistungsprinzip seine gesellschaftliche Legitimität. Offe (1970, S. 45ff.) unterscheidet vier offizielle Funktionen: 1) die Entschädigungsfunktion, 2) das Äquivalenzprinzip, 3) das Produktivitätsprinzip und 4) die Allokationsfunktion (vgl. auch Heckhausen 1974, S. 60f.; Hartfiel 1977, S. 18f; Braun 1977, S. 213ff.; Becker 2003, S. 113ff.): 1) Gemäß den formalen Kriterien von Leistung wird angenommen, dass die Leistungserbringung mit einem bestimmten Aufwand einhergeht. Somit ist mit der Verwirklichung des Leistungsprinzips die offizielle Funktion verbunden, die betreffenden Individuum für den vor oder während der Leistungserbringung gemachten Aufwand zu entschädigen. Gemäß den Perspektiven der Aufwandsdimension kann es sich hierbei um Entschädigungen für den Erwerb eines bestimmten Leistungswissens und -könnens (Qualifikation, Fähigkeit) als auch um Entschädigungen für die aufgewandte Arbeitsmühe, belastende Leistungsbedingungen usw. (Anstrengung, Bemühen) handeln. 2) Mit der Äquivalenzfunktion wird versucht, eine anders als durch Leistung begründete Ungleichheit zwischen den Gesellschaftsmitgliedern zu verhindern. Das heißt, es geht darum, z.B. eine geschlechts- oder altersspezifische, ethnisch oder regional begründete Zuweisung von sozial-ökonomischem Status außer Kraft zu setzen und nach dem Grundsatz „gleicher Lohn für gleiche Leistung“ irrationale Diskriminierungen zu verhindern (vgl. Offe 1970, S. 46). Auf diese Weise wird eine spezifische Form der sozialen Gleichheit (Äquivalenz) geschaffen (abweichend zur oben definierten Äquivalenzerwartung: hier bezog sich die Äquivalenz auf Leistung und Gegenleistung). 3) In Bezug auf die Leistungserbringung in arbeitsteiligen Organisationen wird der Verwirklichung des Leistungsprinzips die potentielle Funktion zugeschrieben, soziale Konflikte abzumildern, Ausbeutungsverhältnisse auszuschalten und die „Früchte der Arbeit“ in gerechter Weise zu verteilen (Offe 1970, S. 46). Dies ist nach Offe dann der Fall, wenn die Arbeitenden proportional zum Umfang der organisationalen Produktivität am Wert der geschaffenen Gesamtleistung beteiligt werden. Offe bezeichnet diese Funktion als Produktivitätsprinzip.
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4) Die manifeste Funktion der Allokation wirkt nach Offe auf mikro- und makroökonomischer Ebene. Auf mikroökonomischer Ebene hat die Anwendung des Leistungsprinzips die Funktion, die Leistungsbereitschaft des Einzelnen anzureizen und die Leistung im Rahmen arbeitsteiliger Leistungserstellung so zu verteilen, dass die optimale Produktivität des Gesamtsystems erreicht wird. Auf makroökonomischer Ebene sollen die leistungsbezogenen Mechanismen der Berufswahl und des Arbeitsmarktes eine rationale Zuordnung und Verteilung von gesellschaftlichen Positionen gewährleisten. Von den manifesten Funktionen des Leistungsprinzips lassen sich die latenten Funktionen unterscheiden. Hierbei handelt es sich um öffentlich nicht reflektierte, anerkannte bzw. auch nicht akzeptabel erscheinende Funktionen des Leistungsprinzips. Becker (2003, S. 114) erwähnt in diesem Zusammenhang z.B. dass das Leistungsprinzip auch als Mittel von Zwang und Disziplinierung angesehen werden kann, was im Hinblick auf die historische Entwicklung von Leistungsgesellschaften vollkommen einsichtig ist. Des Weiteren lässt sich mit der offiziellen Präsenz des Leistungsprinzips jede soziale Statusdifferenzierung als leistungslegitimiert darstellen, so dass originär nicht-leistungsbedingte Ungleichheiten in Gesellschaft und Betrieben verschleiert werden.38 Auf diese Weise verdeckt und befestigt die normative Geltung des Leistungsprinzips bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse und erfüllt die Funktion einer Ideologie39 (Offe 1970; Braun 1977, S. 213; Steinkamp 1977; Hack et al. 1979). 3.2.2.2 Organisationsbezogene Funktionen Es wurde bereits angedeutet, dass die Entfaltung von Leistung als kollektiver Handlungsnorm und die notwendig korrespondierende Umsetzung des Leistungsprinzips in einem generellen Zusammenhang mit der Entwicklung arbeitsteiliger Organisationen zu betrachten ist (vgl. Steinkamp 1977; Türk 1995; Schimank 2005) Generell hat sich das Leistungsprinzip zu einem grundlegenden Organisationsprinzip ökonomischer und verwaltungstechnischer Prozesse entwickelt und erfüllt in dieser Weise wichtige Funktionen für die arbeitsteilige Organisation (vgl. Braun 1977, S. 213). Im Folgenden werden diese Funktionen näher erläutert: 38
Vgl. z.B. die Ausführungen von Krell/Winter (2001) oder Krell/Tondorf (2001) zu geschlechtsspezifischen Unterschieden von Arbeits- und Leistungsbewertung. 39 „Ideologien sind dadurch definiert, dass sie einen gegebenen gesellschaftlichen Zustand einerseits durch interne Rechtfertigungen konsolidieren, ihn andererseits gegen seine historischen Alternativen verwahren und abschirmen, ja die historische Begrenztheit eines bestehenden Zustandes leugnen.“ (Offe 1970, S. 9, H.i.O.)
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Die für den Bestand arbeitsteiliger Organisationen grundlegend notwendige Funktion des Leistungsprinzips ist dessen Stabilisierungswirkung. Das heißt, die formelle Umsetzung des Leistungsprinzips für die Organisationsmitglieder in Form der Zurechnung, Bewertung und entsprechenden Honorierung der „preisbzw. vom Markt unabhängigen“, individuellen Leistung kann als wesentlicher Integrationsmodus in arbeitsteiligen Organisationen betrachtet werden (vgl. Deutschmann 2002; Schimank 2005). Wie bereits erläutert, wird über die normative Geltung des Leistungsprinzips und der korrespondierenden Wirkung von Leistung als gesellschaftlicher Kollektivnorm die Möglichkeit eröffnet, sich sehr weitgehend über die konkreten und individuellen Motivlagen der Organisationsmitglieder hinwegzusetzen und die bereits zitierte „homogenisierte Mitgliedschaftsmotivation“ zu erzeugen (Schimank 2005, S. 27). Die formelle Umsetzung des Leistungsprinzips erlaubt demnach die Verfügung über die Organisationsmitglieder und gewährleistet somit erst die Ausschöpfung von Effizienz- und Effektivitätsvorteilen einer arbeitsteiligen Leistungsproduktion (vgl. Deutschmann 2002; Schimank 2005). Mit der Wirkung der Stabilisierungsfunktion hängen unmittelbar weitere Funktionen des Leistungsprinzips für die Organisation zusammen (vgl. Braun 1977, S. 214; Schettgen 1996, S. 191):
die Mobilisierung der Leistungsanstrengungen der Organisationsmitglieder die Wirkung als Orientierungsmarke für die gewünschten Verhaltensweisen die Funktion der Begründung jeweils zugeteilter Sanktionen und Ungleichheiten die Forcierung des ökonomischen Ressourceneinsatzes, indem eine leistungsbezogene Zuteilung an Mitteln an die qualifizierteren bzw. „leistungsstärkeren“ Organisationsmitglieder prinzipiell ermöglicht wird die Wirkung als Disziplinierungsinstrument für die an positiven Sanktionen interessierten Mitarbeiter.
Diese Funktionen zeigen die hohe Wichtigkeit der normativen Gültigkeit des Leistungsprinzips für die Stabilität und den Leistungserstellungsprozess in arbeitsteiligen Organisationen und deren generelle soziale Legitimation. 3.2.2.3 Funktionen für das Organisationsmitglied Die organisationsbezogenen Funktionen des Leistungsprinzips können nur erfüllt werden, wenn mit diesen zugleich bestimmte Funktionen für das Organisa104
tionsmitglied verbunden sind. So entfalten sich die organisationsbezogenen Funktionen nur dann, wenn die Organisationsmitglieder Leistung als Mittel zur Verwirklichung eigener Interessen und Ziele akzeptieren und zugleich die Wirksamkeit des Leistungsprinzips in der Organisation unterstellen. Das impliziert also, dass die über Leistung zu erwerbenden organisationalen Gegenleistungen als erstrebenswert empfunden werden und Leistung als Mittel zum Erwerb der Gegenleistungen akzeptiert ist. Zugleich sollte die Erwartung bestehen, auf die selbst erbrachte und den geltenden organisationalen Kriterien entsprechende Leistung auch die entsprechende organisationale Gegenleistung zu erhalten. Nur unter diesen Bedingungen kann das Leistungsprinzip seine integrative Wirkung entfalten und wird Leistung als Norm des Handelns in Organisationen reproduziert. Dies verdeutlicht den unauflösbaren Zusammenhang zwischen Organisationsmitgliedern und Organisation in der Form, dass das Leistungsprinzip sowohl eine Stabilisierungswirkung in Bezug auf die Organisation als auch die Organisationsmitglieder ausübt, indem es Erwartungssicherheiten in Bezug auf die Akzeptanz und den Inhalt von Handlungen gibt. Funktionen des Leistungsprinzips, die auf das Organisationsmitglied bezogen werden, beschreiben in dem Sinne Funktionen der organisationalen und damit auch wesentlich gesellschaftlichen Integration. So benennen Braun (1979, S. 214) und Steinkamp (1977, S. 122) die Funktion der Allokation und die der Gewährleistung von Äquivalenz als „Individualfunktionen“ bzw. „Personenbezogene Funktionen“ des Leistungsprinzips. Im Sinne der Allokation wirkt das Leistungsprinzip als wesentlicher Mechanismus der Zuteilung der in der Gesellschaft vorhandenen und sozial unterschiedlich bewerteten Berufspositionen bzw. Arbeitsplätze. Das heißt, die Rekrutierung und der Aufstieg in Organisationen wird für das einzelne Organisationsmitglied über den Modus der eigenen Leistung und die formale Anwendung des Leistungsprinzips geregelt. So entscheidet z.B. die Höhe der erworbenen Qualifikation, als eine Aufwandsdimension von Leistung (vgl. Abb. 9) über die Einstiegsposition und das entsprechende Einkommen des Einzelnen in Organisationen. Auf diese Weise determiniert die Anwendung des Leistungsprinzips wesentlich die Lebenschancen und das „soziale Schicksal“ des Einzelnen (Steinkamp 1977, S. 122) und wirkt zugleich als Kriterium und Legitimation für die differentielle Verteilung des sozioökonomischen Status zwischen den Organisations- bzw. Gesellschaftsmitgliedern. Das Leistungsprinzip ist in diesem Sinne ein normativer Rahmen der Gewährleistung einer bestimmten Form von sozialer Gleichheit bzw. Äquivalenz (Jeder nach seiner Leistung.) als auch Ungleichheit (Jeder nach seiner Leistung.). Zusammenfassend ist also nochmals zu betonen, dass Allokations- und Äquivalenzfunktion offensichtlich bestimmte, für den Einzelnen in modernen Gesellschaften sehr wichtige Funktionen der sozialen Integration erfüllen. 105
3.2.3 Leistung und Leistungsprinzip - Bedeutung für Identitätsbildung Im folgenden Abschnitt soll die Bedeutung der selbst erbrachten Leistung und des hiermit zusammenhängenden Leistungsprinzips für die subjektive Identität beleuchtet werden. Die Betrachtung erfolgt aus drei Perspektiven: Da Leistung allgemein als Form der Handlung zu begreifen ist, wird zunächst im Rahmen einer soziologisch anthropologischen Perspektive die wesentliche Funktion des Handelns für die menschliche Sozialität und damit auch Identitätsbildung vorgestellt. In einer zweiten Perspektive wird auf die subjektive Bedeutung der in Erwerbsarbeit erbrachten Leistung eingegangen. Das heißt, dass der in modernen Gesellschaften vorherrschende hohe Stellenwert von in Erwerbsarbeit erworbener Anerkennung für die Entwicklung und Aufrechterhaltung der eigenen Identität betrachtet wird. Auf einer dritten Ebene wird schließlich der spezifische Stellenwert der „professionellen Leistung“ für die Definition der Identität betroffener Individuen untersucht. 3.2.3.1 Leistung und Identitätsbildung im Spiegel der soziologischen Anthropologie Eine Grundannahme der soziologischen Anthropologie besteht darin, dass der Mensch sowohl das Potential als auch die existentielle Notwendigkeit zur zielgerichteten Anpassung an die Umwelt besitzt. In diesem Zusammenhang wird davon ausgegangen, dass diese Anpassung über Handlungen in sozialen Interaktionsprozessen erfolgt. Verbirgt sich hierunter zum einen der treibende Prozess der menschlichen Identitätsbildung („taking the role of the other“), erscheint es in Bezug auf den Begriff der Leistung zum anderen interessant, dass einige Soziologen hinsichtlich dieser Anpassungsprozesse bzw. Handlungen bereits von menschlichen „Leistungen“ sprechen. Der folgende Abschnitt dient demnach zunächst dazu, diese grundlegende bzw. „weite“ Verwendung des Leistungsbegriffes etwas zu erhellen und in Zusammenhang mit dem Prozess der Identitätsbildung zu stellen. Anschließend wird auf die Unterscheidung zwischen der formalisierten und nicht-formalisierten Leistung eingegangen. Beide weisen wesentliche Bezüge zur Identitätsbildung auf, haben jedoch einen unterschiedlichen Charakter sowie unterschiedliches Gewicht für die in der Arbeit zu untersuchende Fragestellung.
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Der Mensch als handelndes Wesen Der Fokus der soziologischen Anthropologie richtet sich insbesondere auf den wechselseitigen Zusammenhang zwischen den biogenetischen Merkmalen des Menschen (z.B. physiologische Merkmale, wie Entwicklung von Sinnesorganen etc.) und dessen kultureller bzw. gesellschaftlicher Entwicklung. Entsprechende Vertreter versuchen demnach, empirische Erkenntnisse der biologischen Anthropologie (Evolutionstheorie) als auch der Kulturanthropologie (z.B. Ethnologie) für die Erklärung der Entwicklung und Beschaffenheit menschlicher, gesellschaftlicher Strukturen nutzbar zu machen (vgl. Esser 1999, S. 143ff.).40 So fußt z.B. Mead, als ein Vertreter der soziologischen Anthropologie, seine Annahmen über die Entwicklung der symbolischen Interaktion (Kap. 2) auf eine „anthropologische Kommunikationstheorie“ (Joas 1989, S. 92). Diese basiert wesentlich auf der evolutionstheoretischen Analyse von Charles Darwin zum tierischen Ausdrucksverhalten (vgl. Mead 1973, S. 53ff.), der Gebärden- und Sprachkonzeption des Psychologen Wilhelm Wundt (ebenda S. 81ff.) sowie auf Erkenntnissen zu den besonderen physiologischen Voraussetzungen des Menschen (z.B. Beschaffenheit des Nervensystems bzw. des menschlichen Gehirns oder die Entwicklung der menschlichen Hand, ebenda S. 273ff.) (vgl. Joas 1989, S. 91ff.). Ähnlich wie Mead sehen weitere Vertreter41 der soziologischen Anthropologie in den besonderen biogenetischen Voraussetzungen des Menschen den wesentlichen Ursprung für dessen Fähigkeit als auch dessen Angewiesenheit auf soziale Interaktion bzw. den Aufbau gesellschaftlicher Struktur (vgl. Esser 1999, S. 148ff.). Demnach führt der besonders leistungsfähige HomöostaseMechanismus des Menschen (Ausprägung und Abstimmung von Sinnesorganen, Gehirn sowie Sprechapparat und Händen) und die sich daraus ergebenden intellektuellen und kulturellen Fähigkeiten (z.B. Fähigkeit des Lernens oder der Tradierung von Wissensbeständen) zur Ablösung der genetischen bzw. instinkthaften Verhaltenssteuerung und damit zugleich zur wesentlichen Besonderheit
40 Von einigen Vertretern der soziologischen Anthropologie wird die Erklärung gesellschaftlicher Ordnungen z.T. auch mit philosophischen Annahmen begründet. So ist die soziologische Anthropologie nach Esser (1999, S. 147) „…immer ein wenig durch ein hybrides Schwanken zwischen der strikten Beschränkung auf die Annahme empirischer Erkenntnisse und dem Festhalten an apriorischen Annahmen über das („eigentliche“) Wesen des Menschen und der darauf aufbauenden Konstruktion von Entwürfen gesellschaftlicher Ordnung gekennzeichnet gewesen.“ In der vorliegenden Arbeit wird jedoch auf die Annahmen dieser Vertreter der soziologischen Anthropologie (z.B. Max Scheler) nicht eingegangen. 41 Esser führt neben Mead insbesondere Karl Marx, Arnold Gehlen als auch die hierauf z.T. aufbauenden Ausführungen von Peter L. Berger und Thomas Luckmann an.
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des homo sapiens: der Fähigkeit als auch Notwendigkeit zur zielgerichteten Anpassung an die Umwelt.42 In diesem Zusammenhang besteht eine Grundannahme der soziologischen Anthropologie darin, dass eine solche Anpassung notwendig durch Handlungen, also durch ein subjektiv sinnhaftes Verhalten, in sozialen Interaktionen mit anderen Menschen erfolgt - Menschen demnach notwendig gesellschaftliche Verhältnisse eingehen müssen, um existenzfähig zu sein (vgl. Esser 1999, S. 161ff.). Dies lässt sich mit zwei wesentlichen Bedingungen der menschlichen Reproduktion begründen: Zum einen kann durch die zielgerichtete Interaktion mit anderen die materielle Reproduktion bzw. Aufrechterhaltung der eigenen physischen Funktionsfähigkeit besser bzw. überhaupt gewährleistet werden. Dieses Argument lässt sich sowohl auf die phylogenetische, also evolutionäre Entwicklung früher menschlicher Gesellschaftsformen als auch auf das Heranwachsen eines Menschen in gegenwärtigen Gesellschaften beziehen. Im ersten Fall lässt sich eine erfolgreiche Reproduktion der eigenen Spezies eher gewährleisten, wenn z.B. gemeinsam auf Jagd gegangen wird - also eine Arbeitsteilung vorgenommen wird. Im zweiten Fall kann das Kind und später auch der Erwachsene die eigenen Bedürfnisse besser bzw. überhaupt erfüllen, wenn eine erfolgreiche Behauptung in sozialen Interaktionen mit anderen Menschen stattfindet. Die hiermit zusammenhängende zweite Begründung für die oben aufgezeigte Annahme, dass menschliche Anpassung wesentlich über Handlungen in sozialen Interaktionen mit anderen erfolgt, wird in der für den Menschen bestehenden Notwendigkeit zu einer sozial vorgegebenen Verhaltensorientierung gesehen. Begründung hierfür ist die fehlende Instinktsteuerung des Menschen und die dadurch bedingte Offenheit zur Selektion möglicher eigener Verhaltensweisen. Wie anhand des Meadschen Ansatzes in Kapitel 2 der Arbeit bereits gezeigt, kann eine zielgerichtete Selektion der eigenen Verhaltensweisen, z.B. im Sinne eines erfolgreichen Verhaltens gegenüber den eigenen Eltern, beim Menschen nur durch eine sozial bedingte Verhaltensselektion erfolgen („taking the role of the other“). „Und diese“, so formuliert Esser (1999, S. 162, H.i.O.), „wird nur durch soziale Kontrolle, durch soziale Anerkennung, nur durch soziale Normierungen und nur durch soziale Verhaltensbestätigung möglich.“ Vor diesem Hintergrund kann in Bezug auf die Funktion sozialer Institutionen für den Menschen erneut konstatiert werden: „Von daher sind die Leistungen von Institutionen nicht nur in der kooperativen Produktion von materiellen Gütern, sondern auch in der Produktion des immateriel-
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Hierbei eröffnet sich natürlich die Frage nach Ursache und Wirkung. Vorstellbar ist ein eher wechselseitiger Prozess.
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len, aber höchst lebenswichtigen Gutes der Verhaltensbestätigung zu sehen.“ (Esser 1999, S. 163).
Leistung als anerkannte Handlung - Medium der Identitätsbildung Der Mensch hat demnach die Möglichkeit und damit zugleich den Zwang zur sozialen Anpassung. Versteht man darunter allgemein eine mit Aufwand oder Anstrengung verbundene Ausrichtung des eigenen Verhaltens an sozialen Vorgaben, kann Anpassung grundlegend als sich über Handlung realisierende Leistung definiert werden. (vgl. z.B. Becker 2003, S. 20f.). So schreibt Braun (1977, S. 198) in diesem Zusammenhang: „In diesem Sinne ist Leistung erfolgreiches Handeln.“ Das heißt, dass die Normen und Werte eines sozialen Interaktionsbereiches bis zu einem bestimmten Grad anerkannt werden müssen, um „Leistung“ zu erbringen und sich somit selbst anerkannt zu wissen. Wie in Kapitel 2 gezeigt, ist diese „wechselseitige Anerkennung“ zugleich notwendige Bedingung für die gelingende Identitätsbildung eines Menschen. Allgemein lässt sich demnach formulieren, dass die Erbringung von „Leistung“ treibende Kraft der Entstehung, Aufrechterhaltung und Fortentwicklung von Identität ist. So konstatiert z.B. Lenk: „Der Mensch ist das leistende Wesen: Homo performator (…). Er bildet und versteht sich durch Formen („per formas“) - durchaus im doppelten Sinne, er orientiert sich an den Formen und durch das Formen: An und durch Strukturen kann er sich selbst - und nur so kann er sich - individualisieren und deuten.“ (Lenk 1983, S. 40)
Dieser allgemeine Zusammenhang zwischen „Leistung als anerkannter Handlung“ und Identitätsbildung soll auf Basis des vorangegangenen Kapitels noch einmal kurz zusammengefasst und verdeutlicht werden: Anpassung erfolgt über Handlungen, also einem zielgerichteten bzw. subjektiv sinnhaften Verhalten im Rahmen sozialer Interaktion. Die Kenntnis von der „Sinnhaftigkeit“ bzw. die Möglichkeit zur normativen Bewertung des eigenen intendierten oder vollzogenen Verhaltens wird dabei durch die fortwährende Auseinandersetzung mit dem normativen Raster des entsprechenden sozialen Interaktionsbereiches erreicht. Wie in Kapitel 2 ausführlich gezeigt, geschieht dies, indem der Mensch entsprechende soziale Reaktionen auf eigene Verhaltensweisen verarbeitet und auf diese Weise schrittweise Erfahrungen über soziale Normen und die eigene Position zu diesen aufbaut. Diese Erfahrungen dienen wiederum als Orientierung in Bezug auf die Entwicklung der eigenen, hierüber erst subjektiv sichtbar werdenden Identität. Subjektiv sinnhaftes Verhalten bzw. 109
Handlungen oder auch „Anpassungsleistungen“ können in dieser Form einerseits als ein Resultat jener, über die Interaktion aufgebauten und in Synthese gebrachten Selbsterfahrungen - also der eigenen Identität - betrachtet werden. Andererseits bilden sie zugleich die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung bzw. Fortentwicklung, Bestätigung oder Nicht-Bestätigung der eigenen Identität durch die Reaktionen des sozialen Umfeldes. So schreibt z.B. Krömmelbein : „In der Identität sind unterschiedliche Erfahrungen und daraus resultierende Interpretations- und Handlungsmuster in einem biographischen Sinnzusammenhang verarbeitet, mit dem sich das Individuum in der Gesellschaft zurechtfindet, sich darin verortet und seine Selbst- und Lebensentwürfe beständig anhand neuer Erfahrungen und Interaktionen mit der Umwelt überprüft.“ (Kömmelbein 1996, S. 16)
Identitätsstörungen können sich vor diesem Hintergrund z.B. durch den Wegfall von sozial vorgegebenen Handlungsorientierungen bzw. von Normen der „Anpassung“, etwa durch die Beseitigung bisher bestimmte Handlungsweisen anerkennende soziale Instanzen, und einer sich hieraus ergebenden Desorientierung und Handlungsunfähigkeit des betroffenen Individuums zeigen (vgl. ebenda S. 62ff.). Schimank (1981; S. 27) spricht in diesem Zusammenhang z.B. von der „sozialen Unterstrukturierung“ als eine Form der „Identitätsbedrohung“ (vgl. Kap. 2, Abschn. 2.4). „Enge“ und „weite“ sowie „formalisierte“ und „nicht-formalisierte“ Leistung Zur besseren Veranschaulichung des Zusammenhangs von Leistung und Identitätsbildung und im Sinne einer analytisch eindeutigeren Verfolgung der Fragestellung empfiehlt es sich, vier Formen der Anpassung bzw. Leistung zu unterscheiden: einen weiten und einen engen Leistungsbegriff sowie die formalisierte und die nicht-formalisierte Leistung (vgl. zum Folgenden zusammenfassend Abb. 11). Als Leistung im weiten Sinne wird hier die Anpassung an grundlegende und allgemeine Standards des gesellschaftlichen Zusammenlebens bezeichnet. Die soziale Definition dieser Leistung erfolgt zumeist ohne explizit skalierte bzw. explizit formal festgelegte Gütekriterien. Es handelt sich hierbei um die Anpassung eines Menschen, die wesentlich in der frühen primären Sozialisation erlernt wird (vgl. Berger/Luckmann 2000, S. 139ff.).43 Wie bereits angespro-
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Berger/Luckmann (2000, S. 141) bezeichnen die primäre Sozialisation als „die erste Phase, durch die der Mensch in seiner Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird.“ Die sekundäre Sozialisation
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chen, lernt der Mensch früh, sein Verhalten an sozialen Vorgaben bzw. Standards auszurichten, lernt z.B. unter relativ großer Anstrengung eigene Triebe oder spontane Impulse zu unterdrücken, zu kanalisieren, sich z.B. an bestimmte Regeln des Gebrauchs von Messer und Gabel anzupassen, bestimmte Vorgaben hinsichtlich der Zeiteinteilung des Tages zu akzeptieren oder auch seine Sprachfähigkeit auszubilden. Dabei können diese, in der frühen Sozialisation erlernten und später z.T. unbewusst erbrachten Leistungen zugleich als Voraussetzung für die in Organisationen zu erbringende und zumeist anhand formalisierter Maßstäbe definierten Arbeitsleistung betrachtet werden, welche als Leistung im engeren Sinne definiert werden kann (vgl. Volmerg 1976b).44 Im Gegensatz zum weiten Verständnis von Leistung erfolgt die Definition von Leistung im engeren Sinne demnach anhand von Gütekriterien, die in einem bestimmten sozialen Interaktionsbereich oder gesellschaftlichen Teilbereich gelten und in dieser Form einen spezifischeren Charakter haben (sportliche Leistung, schulische Leistung usw.). Leistung im engeren Sinn lässt sich nochmals in formalisierte und nicht-formalisierte Leistung unterscheiden. Nichtformalisierte Leistung wird zwar anhand von spezifischen Gütekriterien eines bestimmten Leistungsbereiches bewertet, jedoch formal unabhängig von spezifischen Institutionen erbracht. Das heißt, der Einzelne erbringt seine Leistung unabhängig von der formalen Mitgliedschaft in einer bestimmten Organisation bzw. unabhängig von einer vertraglichen Verbundenheit mit dieser.45 Das impliziert zumeist auch eine fehlende, extern formalisierte Vorgabe der Leistungskriterien. Beispielhaft für diese Form der Leistung stehen z.B. solche im Bereich des Freizeitsportes, der „Hausmusik“ oder anderer Hobbys. Wie bereits angesprochen, wird formalisierte Leistung demgegenüber im Rahmen der formalen Mitgliedschaft in einer Organisation bzw. auf der Basis eines bestimmten vertraglichen Verhältnisses erbracht. Es besteht hiermit also die formale Verpflichtung zur Leistungserbringung und die mehr oder weniger spezifizierte, jedoch explizite formale Definition der zu erbringenden Leistung. Herausragendes Beispiel für formalisierte Leistung ist das der modernen Erwerbsarbeit. Grundlage für diese Form der Leistungserbringung ist zumeist ein Arbeitsvertrag oder eine andere vertragliche Gestaltung, die den Austausch von Leistung und Geist demgegenüber „jeder spätere Vorgang, der eine bereits sozialisierte Person in neue Ausschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist.“ 44 Negt/Kluge (1993) sprechen in diesem Zusammenhang z.B. vom Prozess der „ursprünglichen Akkumulation“. 45 In diesen Zusammenhang könnte - wenn auch nicht ganz deckungsgleich - Lenks (1983) Begriff der „Eigenleistung“ gebracht werden, die selbstinitiiert ist, selbstbestimmt erbracht wird und wesentliche Grundlage für die subjektive Identifikation ist. Lenk - selbst ehemaliger Leistungssportler bezieht sich in seinen entsprechenden Erklärungen insbesondere auf den Leistungsbereich des Sportes.
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genleistung, etwa in Form von Geldeinkommen und einem damit ermöglichten Status, formal regelt (vgl. Ganßmann 1996). Die Beurteilung der Arbeitsleistung erfolgt anhand formalisierter Kriterien. Abbildung 11: „Weiter“ und „enger“ Leistungsbegriff sowie „formalisierte“ und „nicht-formalisierte“ Leistung
weiter Leistungsbegriff
- Anpassung an allgemeine Standards des menschlichen Zusammenlebens - primäre Sozialisation/später z.T. „unbewusst“ vollzogen - ohne explizit skalierte Gütekriterien - nicht formalisiert z.B. Unterdrückung körperlicher Triebe, Anpassung an übliche Zeitstrukturen
enger Leistungsbegriff
- Anpassung an spezifische Standards eines bestimmten sozialen Interaktionsbereiches - eher bewusst vollzogen - Bewertung anhand spezifischer, z.T. skalierbarer Gütekriterien - formalisiert und nicht formalisiert
nicht-formalisiert
formalisiert
- nicht auf Basis eines formalisierten Verhältnisses zu einem Leistungsempfänger
- auf Basis eines formalisierten Verhältnisses zu einem Leistungsempfänger
z.B. hobbymäßig erbrachte und bewertete Leistung in einer Sportart, hobbymäßiges Erlernen eines Musikinstrumentes
z.B. auf Basis eines Arbeitsvertrages
Quelle: eigene Darstellung Es ist hervorzuheben, dass mit den bisherigen Unterscheidungen der Leistungsbegriffe keine Aussage zu Aspekten der extrinsisch oder intrinsisch motivierten Leistung oder der externen und subjektiven Leistungsbeurteilung getroffen werden soll. So kann z.B. auch formalisierte Leistung intrinsisch motiviert sein und subjektiv beurteilt werden. 112
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit geht es generell um die Untersuchung einer veränderten organisationalen Steuerung der dort erbrachten menschlichen Leistung. Das heißt etwas spezifischer, Fokus der Arbeit ist „formalisierte Leistung“ im Bereich der Erwerbsarbeitssphäre. 3.2.3.2 Leistung in der Erwerbsarbeit und Identitätsbildung Im Folgenden wird zunächst das, für die verfolgte Fragestellung relevante Verhältnis von Arbeit und Leistung geklärt. Anschließend werden die wesentlichen Funktionen, welche die Erwerbsarbeit für den Einzelnen erfüllt allgemein vorgestellt, um letztlich die Bedeutung der Anerkennung für die eigene Arbeit in Bezug auf die Identitätsbildung des Einzelnen zu verdeutlichen. Das Verhältnis von Leistung und Erwerbsarbeit Wie gezeigt wurde, verbergen sich im Terminus „Leistung“ verschiedene Bedeutungen und korrespondierende Untersuchungsperspektiven. Ebenso verhält es sich mit dem Begriff der „Arbeit“ als „Dreh- und Angelpunkt“ sowohl klassischer Gesellschaftstheorien (z.B. Marx 1962; Weber 1988; Durkheim 1992) als auch gegenwärtiger soziologischer Betrachtungen von Arbeit (vgl. z.B. Wolf 1999; Kocka/Offe 2000; kritisch: Offe 1983). Aus diesem Grunde wird an dieser Stelle auf eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Terminus „Arbeit“ (vgl. z.B. Ganßmann 1996; Hartz 2008) verzichtet, sondern vielmehr die inhaltliche Überschneidung von Arbeits- und Leistungsbegriff in den Fokus genommen, welche für die hier verfolgte Fragestellung relevant ist. Diese inhaltliche Schnittmenge ist auszumachen, wenn man beide Begriffe auf bestimmte Untersuchungsbereiche bzw. Facetten eingrenzt und damit andere notwendig außen vor lässt. Wesentliches Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, einen Analyserahmen zu erarbeiten, mit dem sich die Wechselwirkungen zwischen der organisationalen Steuerung menschlicher Leistung und der identitätsbezogenen Betroffenheit und Reaktion der Organisationsmitglieder abbilden lassen. Aus diesem Grund erfolgt an dieser Stelle die Konzentration auf den Bereich der bereits beschriebenen „formalisierten Leistung“ und eine entsprechende Eingrenzung von „Arbeit“ auf die Sphäre der „Erwerbsarbeit“. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass beide Begriffe als inhaltlich synonym betrachtet werden können. Generell wird Arbeit mit Mühe und Anstrengung konnotiert. Dabei wird Erwerbsarbeit, im Gegensatz zu einem sehr weiten Verständnis von Arbeit als „jede menschliche Tätigkeit, die um der Herstellung zweckdienlicher Situationen und Gegenstände willen ausgeführt wird“ (und die damit auch reiner Selbst113
zweck sein kann), nicht auf jedes zweckrational deutbare Herstellungshandeln bezogen (vgl. Mittelstraß 2004; auch Bahrdt 1983). Vielmehr bezeichnet Erwerbsarbeit eine Tätigkeit, die im Tausch für ein Geldeinkommen „geleistet“ wird und damit dem letztlichen Zweck dient, Mittel zur eigenen bzw. familiären materiellen Existenzsicherung bereitzustellen (vgl. Ganßmann 1996, S. 95ff.; Kocka/Offe 2000, S. 9). Erwerbsarbeit ist damit ein Produkt moderner Gesellschaften und auch noch gegenwärtig als Norm und Realität zentral für deren Kultur und Zusammenhalt (vgl. Kocka/Offe 2000, S. 10). Wie bereits beschrieben, wird in modernen Gesellschaften - im Gegensatz zu vorindustriellen bzw. ständisch aufgebauten Gesellschaften - die individuelle Arbeitskraft vornehmlich in arbeitsteilig organisierten Unternehmen und Verwaltungen bzw. in „Arbeitsorganisationen“ erbracht. Die Motivation und Steuerung der Arbeitskraft wird dabei über die Zuteilung entsprechender „Gegenleistungen“, wie Lohn oder Aufstieg in der organisationalen Hierarchie, vorgenommen. Erwerbsarbeit muss demnach generell den Standards bzw. der Zielstellung der Organisation bzw. des Auftraggebers genügen, um für den Erwerb von Gegenleistungen geeignet zu sein. Das heißt, Erwerbsarbeit ist immer eine an spezifischen, extern gesetzten Gütekriterien ausgerichtete und beurteilte Tätigkeit und damit immer „Leistung im engeren Sinne“. Die gegenseitige Verpflichtung zu Leistung und Gegenleistung (Leistungsprinzip) bei Einhaltung jener gesetzten Gütekriterien erfolgt dabei im Regelfall über eine bestimmte vertragliche Regelung (z.B. Arbeitsvertrag, Werk- oder Dienstvertrag), was bedeutet, dass Erwerbsarbeit für den Einzelnen generell den Charakter einer „formalisierten Leistung“ hat (vgl. z.B. Deutschmann (2002) zur Bewältigung des Transformationsproblems). Vor diesem Hintergrund können „formalisierte Leistung“ und „Erwerbsarbeit“ als inhaltlich deckungsgleich betrachtet werden. Diese Sichtweise widerspricht der in Betriebs- und Personalwirtschaft gebräuchlichen Handhabung des Leistungsbegriffes. Begriffe wie „Leistungslohn“, „leistungsbezogene Vergütung“, „leistungsbezogenes Anreizsystem“, „Leistungszulage“ o.ä. bezeichnen zumeist die individuellen Leistungsunterschiede zwischen Personen und eine entsprechend variable Gestaltung von Anreizsystemen. Ausgehend von der historischen Entwicklung von Leistungsgesellschaften erscheint es jedoch angebracht, den Begriff auf die gesamte Erwerbsarbeit auszudehnen. Im Folgenden soll dies durch den Begriff der „Arbeitsleistung“ ausgedrückt werden. Vergesellschaftungsdimensionen der Erwerbsarbeit Die Bedeutung, welche die Erwerbsarbeit in modernen Gesellschaften für den Einzelnen besitzt, lässt sich anhand verschiedener Dimensionen analytisch auf114
fächern und zeigen (vgl. z.B. Jahoda et al. 1975; Wacker 1976; Hack et al 1979; Kieselbach/Wacker 1987; Kronauer et al. 1993; Krömmelbein 1996; Voswinkel 2005b). Generell kann dabei davon ausgegangen werden, dass Erwerbsarbeit als normative Orientierung und faktische Gegebenheit eine wesentliche, „vergesellschaftende Kraft“ auf den Einzelnen ausübt (Kronauer et al. 1993, S. 23).46 So verbringen gegenwärtig die meisten Menschen in modernen Gesellschaften einen großen Teil und eine wichtige Phase ihres erwachsenen Lebens in verschiedenen Formen von Erwerbsarbeit (vgl. z.B. Kohli 2000). Des Weiteren findet z.B. bereits vor dem Eintritt in ein formalisiertes Arbeitsverhältnis - etwa über die Schul- und Lehrausbildung bzw. über den Erwerb anderweitiger Bildungszertifikate - eine entsprechende Ausrichtung in Bezug auf das zukünftige Erwerbsleben statt (vgl. Heinz 1987; Fobe/Minx 1996; Keupp et al. 2002; S. 109ff.). So formulieren Kocka/Offe: „Erwerbsarbeit und das durch sie erzielte Einkommen spielen eine zentrale Rolle für das materielle Wohlergehen, das Selbstverständnis, die Lebenschancen, die Anerkennung und die gesellschaftliche Einbindung der meisten Individuen.“ (Kocka/Offe 2000, S. 9)
Im Folgenden wird der Ansatz von Kronauer et al. (1993) verwendet, um einen analytisch strukturierten Zugang zu den Bedeutungsdimensionen von Erwerbsarbeit zu schaffen (vgl. auch Krömmelbein 1996). In kritischer Anlehnung an Jahodas Unterscheidung von subjektiv beabsichtigten und nicht beabsichtigten Funktionen der Erwerbsarbeit (vgl. Jahoda 1983, S. 136ff. (vgl. auch die hierfür zugrundeliegende, sehr einflussreiche empirische Untersuchung zu den Arbeitslosen von Marienthal (erstmals 1933): Jahoda et al. 1975) wird nach Kronauer et al. (1993, S. 23ff.) die Vergesellschaftung des Einzelnen wesentlich über folgende „Erfahrungskategorien“ der Erwerbsarbeit geleistet: 1) über den Verkauf der Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt und das Merkmal der Bezahlung; 2) in der Arbeit selbst; 3) über die Teilnahme am Markt der Güter und Dienstleistungen, die sie ermöglicht; 4) über die soziale Organisation der Zeit- und Sinnstruktur des Alltags; 5) durch die soziale Vorgabe von Mustern der Erwerbsbiogra46
An dieser Aussage ändern z.B. auch die gegenwärtig hohen Arbeitslosenquoten in der Bundesrepublik Deutschland nichts. Die vergesellschaftende Kraft der Erwerbsarbeit zeigt sich hier z.B. in ihrem Fehlen und entsprechend auftretenden Problemen auf individueller als auch sozialer Ebene. Vgl. z.B. Schweer et al. (1996) zu Arbeitslosigkeit und Sucht; Harych/Harych (1997) zum Zusammenhang Arbeitslosigkeit bzw. subjektiv empfundener Arbeitsplatzunsicherheit und subjektiven wie objektiven gesundheitlichen Folgen in Ostdeutschland; Adamy/Steffen (1998) zu Arbeitslosigkeit und finanziellen Auswirkungen für die Betroffenen; Kieselbach/Wacker (Hg.)(1987) zu Betrachtungsweisen und Konsequenzen von Arbeitslosigkeit auf psychologischer Ebene und deren Auswirkungen.
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phie. Diese Wirkungen sind zwar miteinander verschränkt, können jedoch gemäß Kronauer et al. (1993, S. 26) analytisch einzeln betrachtet werden: 1) Vergesellschaftung durch den Verkauf von Arbeitserzeugnissen und Arbeitskraft Im Gegensatz zu privaten bzw. dem Selbstzweck dienenden Tätigkeiten ist es das wesentliche Kennzeichen von Erwerbsarbeit, dass sie im Tausch gegen ein Geldeinkommen geleistet wird. Dieser Tausch wird in modernen Gesellschaften über den Markt, also über die wettbewerbliche Abstimmung von Angebot und Nachfrage, reguliert (wie oben dargestellt, natürlich über Arbeitsorganisationen „gefiltert“). So werden sowohl die in selbstständiger Erwerbsarbeit hergestellten Produkte auf dem Markt angeboten als auch die eigene, in abhängige Erwerbsarbeit zu stellende Arbeitskraft. Der geglückte Tausch, bzw. die Bezahlung dieser Produkte oder Handlungen bestätigt dabei deren gesellschaftliche Nachfrage bzw. soziale „Nützlichkeit“. Geldeinkommen als allgemeingültige Form sozialer Gegenleistung enthält somit immer auch ein Moment „gesellschaftlicher Anerkennung“ und vermittelt denjenigen, die ihrer zuteil werden, das Gefühl, vollwertige Mitglieder der Arbeits- (bzw. Leistungs-) Gesellschaft zu sein. So formulieren Kronauer et al. in Bezug auf abhängige Erwerbsarbeit: „Auf dem Arbeitsmarkt eine Anstellung zu finden bedeutet, über den Kreis persönlicher Verpflichtungen hinaus gesellschaftlich tätig und gebraucht zu werden.“ (Kronauer et al. 1993, S. 27)
Neben dem Aspekt der Bezahlung trägt auch der Umstand, dass der Kauf und Verkauf der Arbeitskraft bzw. eines entsprechenden Produktes mehrheitlich auf Basis einer rechtlichen Regelung durchgeführt wird („formalisierte Leistung“), zur subjektiven Empfindung gesellschaftlicher Anerkennung bei. Die am Tausch Beteiligten unterliegen formal gleichen Rechten und Pflichten - treten sich also auf rechtlicher Basis als Gleichgestellte gegenüber. Jeder kann sich demnach als ein mit gleichen Rechten und Pflichten ausgestattetes und damit anerkanntes Gesellschaftsmitglied begreifen. 2) Vergesellschaftung in der Arbeit Kronauer et al. (1993, S. 30ff.) identifizieren zwei wesentliche Aspekte in Bezug auf vergesellschaftende Erfahrungen innerhalb der Erwerbsarbeit. Zum einen handelt es sich dabei um die mehr oder weniger hohe Verwirklichung des individuellen Arbeitsvermögens. So entwickeln die Erwerbstätigen notwendig spezifische Fertigkeiten und Fähigkeiten im Umgang mit bestimmten Arbeitsanforderungen. Zum anderen ermöglicht die zumeist arbeitsteilig organisierte Erwerbsarbeit, die eigenen fachlichen und sozialen Qualifikationen an denen anderer zu messen, bzw. bringt Erwerbsarbeit sogar die Notwendigkeit mit sich, 116
eigene Kompetenzen und Handlungen von anderen, z.B. auch von Kunden, beurteilen zu lassen - also der „eigenen Arbeit einen sozialen Spiegel vorzuhalten“ (ebenda S. 31). Kronauer et al. betonen hiervon ausgehend: „In diesem wechselseitigen Beurteilen, soweit es ein Anerkennen einschließt, kann das Selbstwertgefühl als Produzentenstolz, Leistungsbewusstsein oder berufliche Identität Gestalt annehmen.“ (Kronauer et al. 1993, S. 31)
Neben der Wichtigkeit dieser beiden Aspekte spielen auch kollegiale Beziehungen eine große Rolle in Bezug auf vergesellschaftende Erfahrungen in der Arbeit. 3) Vergesellschaftung über den Kauf von Gütern und Dienstleistungen für den Konsum Die Ausprägung und entsprechende Bezahlung der eigenen Erwerbsarbeit bestimmt die Vergesellschaftung über den Kauf von Gütern und Dienstleistungen in dreierlei Hinsicht: Erstens wird durch das in Erwerbsarbeit erworbene Geldeinkommen das jeweilige Wohlstandsniveau des Einzelnen bzw. auch der versorgungsabhängigen Haushaltsangehörigen wesentlich beeinflusst.47 Das Einkommen bildet zweitens die Voraussetzung dafür, als Konsument am Markt mit einer gewissen Unabhängigkeit auftreten und Entscheidungen treffen zu können (vgl. Kronauer et al. 1993, S. 33). Dabei erlaubt die Möglichkeit, am Markt als Konsument aufzutreten, sowohl die soziale Angleichung an andere als auch die Differenzierung von anderen bzw. die eigene „Individualisierung“: Einerseits hat man mehr oder weniger Anteil am gesellschaftlich vorgegebenen Warenangebot, andererseits „erlaubt es die potentielle Individualität der Kaufakte, diese gesellschaftliche Angleichung in Varianten eigener Wahl zu vollziehen und auf diese Weise als Verwirklichung persönlicher Vorlieben zu erleben.“ (ebenda S. 34). Diese zwei Aspekte, das über die Erwerbsarbeit bestimmte Einkommen und die dadurch bedingten Konsequenzen in Bezug auf Konsumentscheidungen, beeinflussen drittens wesentlich die Grenzen der eigenen sozialen Reichweite. Kronauer et al. argumentieren diesbezüglich, dass die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte in der Regel Geldausgaben erfordert (wechselseitige Einladungen, Geschenke usw.; vgl. auch die Ergebnisse zum Freizeitverhalten von Arbeitslosen in Harych/Harych 1997). Sie formulieren:
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Dies wird gemäß Kronauer et al. (1993, S. 32ff.) auch durch solche Phänomene wie Schwarzarbeit wenig tangiert, da z.B. für die Ausübung von Schwarzarbeit Ressourcen benötigt werden, die zumeist über formale Erwerbsarbeit erworben werden (Werkzeuge, Arbeitsmaterialien).
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„Das Recht, sich unter seinesgleichen zu bewegen, ist leicht verwirkt, wenn die Mittel ausgehen, symbolisch oder materiell >mitzuhalten<.“ (Kronauer et al. 1993, S. 35)
4)Vergesellschaftung durch die soziale Organisation der Zeit- und Sinnstruktur des Alltags Das individuelle Erleben von Zeit ist in Leistungsgesellschaften wesentlich durch Erwerbsarbeit organisiert und in ihrer Bedeutung bestimmt. Kronauer et al. schreiben: „Es bedurfte historischer Kämpfe und Zwangsmaßnahmen, unter ihnen der gesetzlichen Definition und Regelung der Arbeitslosigkeit, um die strikte Zeitdisziplin und Regelmäßigkeit des industriellen Arbeitstages durchzusetzen. Inzwischen gehört es für die meisten Menschen in hoch industrialisierten kapitalistischen Gesellschaften zu den unhinterfragten Tatbeständen der >natürlichen Einstellung<, in der sie ihren Alltag erleben, dass abhängige Erwerbsarbeit diesem Alltag ihren Rhythmus aufprägt und ihn auf diese Weise in den Rhythmus der Gesellschaft einbindet.“ (Kronauer et al. 1993, S. 36)
Dabei handelt es sich zum einen um die zeitliche Strukturierung des eigentlichen Vollzuges der Erwerbsarbeit am Arbeitsplatz. Zum anderen unterteilt die Erwerbsarbeit den Tag in die unterschiedlichen Sinnregionen Arbeit und Freizeit, das Jahr in Arbeits- und Urlaubstage, die Lebenszeit in die Phase der Vorbereitung auf das Erwerbsleben, des Erwerbslebens selbst und des Ruhestandes („Normalbiographie“). 5) Vergesellschaftung über die soziale Vorgabe von Mustern der Erwerbsbiographie Diese Dimension der Vergesellschaftung durch Erwerbsarbeit steht in Verbindung mit der zuletzt angesprochenen Dimension der Organisation von alltäglichen Zeit- und Sinnstrukturen. „Muster der Erwerbsbiographie“ meint hier die typische zeitliche und inhaltliche Abfolge der durch die Erwerbsarbeit geprägten Lebensphasen. Neben der Vorgabe zeitlicher Orientierungen sind an die Vorstellung der so genannten „Normalbiographie“ jedoch auch wesentliche institutionelle Regelungen, z.B. im Bereich der Sozialversicherungssysteme, geknüpft. Insbesondere in Deutschland sind die derzeitigen Regelungen in Bezug auf Arbeitslosengeld, Rentenanspruch usw. an der idealtypischen Vorstellung eines kontinuierlichen und längerfristigen Erwerbslebens orientiert. Dies ist dabei unabhängig davon zu betrachten, ob das „Normalarbeitsverhältnis“ bzw. die „Normalbiographie“ tatsächlich noch die überwiegende Realität heutiger Erwerbsbiographien ausmacht (vgl. hierzu z.B. Kocka 2000).
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Bezugsbereiche und Formen der Anerkennung in der Erwerbsarbeit Wie gezeigt, ist Erwerbsarbeit ein gewichtiger, andere Lebensbereiche wesentlich prägender sozialer Interaktionsbereich. Die Sphäre der Erwerbsarbeit eröffnet und begrenzt demnach in einem erheblichen Maße die Möglichkeiten des Einzelnen, positive Selbsterfahrungen zu sammeln und hierüber eine subjektiv befriedigende Identität zu entwickeln (z.B. Tatschmurat 1980; Schimank 1981; Krömmelbein 1996; Holtgrewe 2000; Holtgrewe et al. 2000; Keupp et al. 2000). Die Bezugsbereiche und Formen dieser Selbsterfahrungen im Erwerbsarbeitsbereich können dabei für den Einzelnen sehr unterschiedlich sein und sich in ihren „Botschaften“ auch widersprechen (vgl. Holtgrewe et al. 2000; Wagner 2004; Voswinkel 2005b). Im Folgenden wird daher zunächst auf 1) die Bezugsbereiche der Anerkennung und 2) anschließend auf unterschiedliche Formen der Anerkennung in Erwerbsarbeit eingegangen. Letztlich erfolgt 3) die entsprechende Eingrenzung des für die Arbeit relevanten Untersuchungsbereiches. 1) Bezugsbereiche der Anerkennung von Erwerbsarbeit In Bezug auf unterschiedliche Bezugsbereiche der Selbsterfahrungen kann sich der Einzelne z.B. für seine Leistung am Arbeitsplatz von Kollegen und Vorgesetzten durchaus positiv anerkannt fühlen und zugleich eine soziale Missachtung seines Berufsstandes wahrnehmen (z.B. „dirty work“). Holtgrewe et al. (2000) sprechen in diesem Zusammenhang z.B. von der vertikalen und horizontalen Abstufung bestimmter Anerkennungsarenen. Die vertikale Abstufung drückt aus, dass bestimmte Erwerbsarbeitsbereiche mit unterschiedlichen Chancen auf soziale Anerkennung ausgestattet sind, also in Bezug auf ihren sozialen Status zueinander über- bzw. untergeordnet stehen können und in der Form auch soziale Ungleichheiten spiegeln (Wagner 2004, S. 128ff.). Ein Indiz hierfür könnten z.B. unterschiedliche Einkommensklassen sein. Die horizontale Abstufung bezeichnet den Umstand, dass auch auf vertikal gleicher Ebene unterschiedliche Lebensformen und -praktiken anzutreffen sind, die ihrerseits unterschiedliche und potentiell konkurrierende Bezüge der Anerkennung haben (vgl. z.B. Billerbecks (2000) Untersuchung zu Anerkennungsbezügen bei Müllwerkern). Diese unterschiedlichen, vertikal und horizontal gestaffelten Bezugsbereiche von Anerkennung in der Erwerbsarbeit sind zugleich von unterschiedlichen Formen der wechselseitigen Anerkennung durchdrungen, die unterschiedliche Auswirkungen auf die subjektive Identitätsbildung haben (vgl. Kap. 2). Im Anschluss an Honneth (1994, S. 148ff.), der seinen Ansatz auf Basis der frühen Hegelschen Philosophie und deren „naturalistischer Transformation“48 durch 48 Nach Honneth vermochte Mead in seinem Ansatz der symbolischen Interaktion und der korrespondierenden Idee der wechselseitigen Anerkennung, den zentralen Gedankengang Hegels zum
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Mead (1973) aufbaut, lassen sich drei Formen der Anerkennung unterscheiden: Liebe, Recht und Solidarität (vgl. komprimiert Wagner (2004); Voswinkel 2005b). Im Folgenden werden diese drei Formen kurz erläutert, um anschließend den für die vorliegende Arbeit relevanten Untersuchungsbereich abzugrenzen. 2) Unterschiedliche Formen der Anerkennung in der Erwerbsarbeit Die Liebe bezeichnet eine Anerkennungsform des Angenommenseins und des Annehmens als Person. Diese Anerkennung äußert sich durch wechselseitige, emotionale Zuwendung, Anteilnahme und Fürsorge. Sie entwickelt sich in engen Beziehungen und beruht auf starken Gefühlen der Verbundenheit. Freundschaften, Eltern-Kind-Beziehungen als auch Intimbeziehungen basieren idealtypisch auf dieser Anerkennungsform. Dabei ist diese nur zwischen einzelnen oder einer kleinen Zahl von Subjekten möglich. In der grundlegenden Erfahrung der emotionalen Bejahung in der Liebe wurzelt nach Honneth die „Grundschicht der emotionalen Sicherheit“ des Einzelnen in Bezug auf die Erfahrung und Äußerung eigener Bedürfnisse und Empfindungen und damit zugleich das „elementare Vertrauen in sich selbst“ (1994, S. 172). Gelingende Anerkennungsverhältnisse der Liebe begründen demnach in den Individuen ein grundlegendes Selbstvertrauen in die Authentizität und Legitimität ihrer Bedürfnisse und Gefühle (vgl. Holtgrewe et al. 2000, S. 14), sind dabei jedoch immer partikular. Im Bereich der Erwerbsarbeit kann sich diese Form der Anerkennung z.B. über intensive kollegiale Beziehungen entwickeln, die über den eigentlichen Inhalt des Arbeitsverhältnisses weit hinausreichen und vielmehr eine Anerkennung der Person in ihren ganz persönlichen Qualitäten beschreibt. Die Anerkennungsform des Rechts bezeichnet die rechtliche Anerkennung zwischen Subjekten und beschreibt auf dieser Basis deren Recht und Pflicht, sich als gleiche Individuen anzuerkennen und zu respektieren. Diese - insbesondere an die Entwicklung moderner bzw. demokratischer Rechtsverhältnisse gebundene - Anerkennungsform ist im Gegensatz zur Anerkennungsform der Liebe universell, da sie auf allgemeine Eigenschaften und Fähigkeiten abstellt, die allen Rechtssubjekten ohne Ansehen der Person zukommen. In der wechselseitigen rechtlichen Anerkennung wird es möglich, dass sich die Subjekte als autonome, moralisch zurechnungsfähige Personen ansehen können (vgl. Honneth 1994, S. 174 ff.; hier insbes. S. 178) und sich damit die gegenseitige Anerkennung als vollwertiges und zugehöriges Mitglied einer bestimmten Gemeinsittlichen Bildungsprozess der menschlichen Gattung (über Stufen des Konflikts und deren Auflösung über wechselseitige Anerkennung) von seinen metaphysischen Prämissen zu lösen und damit eine Brücke zu den heutigen Erfahrungswissenschaften bzw. den empirisch arbeitenden Sozialwissenschaften zu schlagen (z.B. über die Ermöglichung einer empirisch kontrollierbaren Phänomenologie von Anerkennungsstufen und –formen (vgl. insbes. Kap. II in Honneth (1994)).
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schaft signalisieren.49 Gegenüber der Anerkennungsform der Liebe beschreibt die rechtliche Anerkennung demnach keine wechselseitige emotionale Zuwendung zwischen Individuen, sondern deren wechselseitige, auf kognitiver Basis entgegengebrachte Achtung. Dieses hierdurch bewirkte Zugehörigkeitsgefühl zu einer bestimmten Gruppe bzw. der Status eines „akzeptierten Mitglieds“ wurde bereits mit Mead (1973) als Basis für die Ausbildung einer subjektiv befriedigenden Identität (vgl. Kap. 2, Abschn. 2.2.2.4) betrachtet. In Bezug auf die Sphäre der Erwerbsarbeit zeigt sich die Ausprägung der rechtlichen Anerkennung in der Formalisierung von gegenseitigen, einklagbaren Rechten und Pflichten bzw. in der formalisierten Regelung von Leistung und Gegenleistung. Die Ausgestaltung von Arbeits- und Dienstverträgen usw. steht hierfür beispielhaft. Auch Kronauer et al. (1993, S. 27) benennen die rechtliche Ausgestaltung von Erwerbsverhältnissen als eine Basis für das Empfinden der sozialen Integration des Einzelnen und dessen gesellschaftlicher Anerkennung über Erwerbsarbeit. Die Anerkennungsform der Solidarität (vgl. Honneth 1994, S. 196ff.) bezeichnet die Anerkennung eines Individuums für seine spezifischen Beiträge zur Realisierung der Werte und Ziele eines bestimmten Interaktionsbereiches bzw. einer bestimmten Wertegemeinschaft (vgl. Voswinkel 2005b, S. 18) und beschreibt demnach Anerkennung für Leistung im weiteren und insbesondere im engeren Sinne (vgl. Kap. 3, Abschn. 3.2.3.1). In Absetzung zur Wahrnehmung und Verarbeitung affektiver Zuwendung (Liebe) und kognitiver Achtung (Recht) bezeichnet die Anerkennungsform der Solidarität somit die soziale Wertschätzung spezifischer, konkreter Eigenschaften, Fähigkeiten und entsprechender Handlungen, die bedeutsam für die gemeinsame Praxis einer bestimmten Gemeinschaft erscheinen bzw. zur Verwirklichung der geteilten Ziele dienen. Diese Form der Anerkennung ist in dieser Ausprägung ebenso wie die des Rechts an Bedingungen moderner Gesellschaften gebunden (vgl. Honneth 1994, S. 207ff.). In diesen eröffnet die hohe funktionale Differenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme die wesentlich über die hohe Arbeitsteilung hervorgerufene Differenzierung von sozial möglichen Rollen.50 Der Einzelne kann sich in 49 Das ist an wesentliche Merkmale moderner bzw. demokratischer Rechtsverhältnisse geknüpft. Diese gelten nur dann als öffentlich legitim, wenn sie für sich reklamieren können, dass ihnen alle betroffenen Rechtssubjekte auf der Grundlage einer rationalen Übereinkunft prinzipiell zustimmen könnten (im Gegensatz zum mittelalterlichen Ständerecht z.B.) (vgl. Honneth 1994, S. 178 ff.; vgl. auch Wagner 2004, S. 96f.). 50 In diesem Sinne schreibt Honneth (1994, S. 209f) genauer zur Herleitung des Begriffes der Solidarität: „Solidarität ist unter den Bedingungen moderner Gesellschaften (...) an die Voraussetzungen von sozialen Verhältnissen der symmetrischen Wertschätzung zwischen individualisierten (und autonomen) Subjekten gebunden; sich in diesem Sinne symmetrisch wertzuschätzen heißt, sich reziprok im Lichte von Werten zu betrachten, die die Fähigkeiten und Eigenschaften des jeweils
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modernen Gesellschaften - in höherem Ausmaß als in ständisch organisierten Gesellschaften - seiner spezifischen Fertigkeiten und Fähigkeiten bewusst werden. Dabei liegt es in der historischen Entwicklung moderner Gesellschaften begründet, dass die Entfaltung des Einzelnen vordringlich über den Bereich der Erwerbsarbeit und der Anerkennung bzw. sozialen Wertschätzung der eigenen Arbeitsleistung in entsprechenden Organisationen möglich wird. Bis heute lässt sich deshalb eine über andere Leistungsbereiche dominierende soziale Wertschätzung für die Leistung in Erwerbsarbeit ausmachen, bzw. beeinflusst die konkrete Ausprägung der Anerkennungsform der Solidarität in der Erwerbsarbeitssphäre wesentlich die konkrete Vergesellschaftung des Einzelnen, z.B. in Hinsicht auf seinen sozioökonomischen Status (vgl. Hondrich et al. 1988; Kronauer et al. 1993). Die Anerkennungsform der Solidarität bzw. die soziale Wertschätzung des Einzelnen ist damit ein integrierender und zugleich differenzierender Modus der Anerkennung. Er wirkt wie der Modus des Rechts integrierend, weil die soziale Anerkennung individueller Besonderheiten einen geteilten Werthorizont bzw. gemeinsame Beurteilungsmaßstäbe voraussetzt und damit individuelle Ansprüche auf soziale Anerkennung in dem jeweiligen Interaktionsbereich auch nur bei Akzeptanz dieser Werte und Maßstäbe erhoben werden können (notwendige Instanz des Meadschen „Me“ vgl. Kap. 2). Mit anderen Worten heißt dies, dass subjektiv empfundene Ansprüche auf die soziale Wertschätzung eigener Arbeitsleistung nur dann entstehen können und auch nur dann als befriedigend empfunden werden können, wenn der Einzelne die normative Vorstellung der Gemeinschaft teilt - also soweit in diese integriert ist - dass Arbeitsleistung etwas Positives und damit überhaupt anerkennungswürdig ist. Die Anerkennungsform Solidarität wirkt im Gegensatz zur der des Rechts zugleich differenzierend, weil es dabei nicht um die abstrakte Anerkennung von Differenz schlechthin geht, sondern darum, individuelle, lebensgeschichtlich entfaltete Differenzen in Bezug auf die Leistungserbringung sozial sichtbar zu machen und zu bewerten (vgl. Wagner 2004, S. 122). Mit Mead (1973) konnte bereits gezeigt werden, dass diese spezifische Form der Anerkennung sehr wichtig für den Aufbau einer subjektiv befriedigenden Identität ist. So gehen sowohl Mead (1973) als auch Honneth (1994) davon aus, dass der Einzelne einen umso positiveren Bezug zu sich selbst ent-
anderen als bedeutsam für die gemeinsame Praxis erscheinen lassen. Beziehungen solcher Art sind „solidarisch“ zu nennen, weil sie nicht nur passive Toleranz gegenüber, sondern affektive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person wecken: denn nur in dem Maße, in dem ich aktiv dafür Sorge trage, dass sich ihre mir fremden Eigenschaften zu entfalten vermögen, sind die uns gemeinsamen Ziele zu verwirklichen.“
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wickeln kann, je mehr er sich in seinen Unterschieden gegenüber anderen Individuen anerkannt fühlt. Honneth formuliert: „...als „wertvoll“ vermag eine Person sich nur zu empfinden, wenn sie sich in Leistungen anerkannt weiß, die sie gerade nicht mit anderen unterschiedslos teilt.“ (Honneth 1994, S. 203)
Mead (1973, S. 248f) spricht in diesem Zusammenhang vom Ausmaß des „Selbstrespektes“, während Honneth (1994, S. 209) auf das umgangssprachlich verwendete „Selbstwertgefühl“ hinweist und selbst den Begriff der „Selbstschätzung“ gebraucht. Wie oben bereits erwähnt, ist die Erwerbsarbeit ein Interaktionsbereich, in dem die Anerkennungsform der Solidarität eine große Rolle spielt. So macht es z.B. die arbeitsteilige Wertschöpfung in einer Organisation notwendig, die einzelnen Leistungsbeiträge der Organisationsmitglieder im Hinblick auf die organisationalen Ziele abzustimmen, einzustufen bzw. zu bewerten und entsprechende Gegenleistungen anzubieten, die das Ausmaß der organisationalen bzw. gesellschaftlichen Wertschätzung abbilden. In Organisationen zeigt sich dies konkret in der Ausprägung und Anwendung formalisierter Leistungsbeurteilungsverfahren und in der entsprechenden Gestaltung von Entlohnungssystemen. Die hiermit verbundene Stabilisierungsfunktion für die Organisation wurde bereits im Zusammenhang mit den Funktionen des Leistungsprinzips angesprochen. Mit Kotthoff lässt sich dies hinsichtlich des Aspekts der Anerkennung der Organisationsmitglieder nochmals pointieren: „Auch wenn der primäre Zweck des Betriebes nicht Anerkennung, sondern Geldvermehrung ist, so ist er doch immer dann, wenn das Geldvermehren zu einer Dauerveranstaltung werden soll, auf Anerkennungsbeziehungen angewiesen, weil (…) Dauer ohne Anerkennungspflicht nicht denkbar ist. Denn wenn der Betrieb sich der Welt der Moral und der Anerkennung verschließt, hat er ein Kontrollproblem, das seinen Fortbestand unterminiert.“ (Kotthoff 2000, S. 34)
3) Eingrenzung des Untersuchungsbereiches Das Interesse der vorliegenden Arbeit besteht wesentlich darin, einen Analyserahmen zu schaffen, mit dem die gegenwärtig zu beobachtenden Trends der Steuerung menschlicher Leistung in Organisationen auf ihre Auswirkungen in individueller und organisationaler Hinsicht untersucht werden können. Dabei stehen der Zusammenhang zwischen der Anerkennung von Leistung durch die Organisation und der subjektiv empfundenen Identität der Organisationsmitglieder sowie deren entsprechendes und auf die Organisation rückwirkendes Leistungshandeln im Fokus der Untersuchung. Dieser Untersuchungsfokus legt im 123
Interesse der analytischen Klarheit eine Konzentration auf ausgewählte Vergesellschaftungsdimensionen der Arbeit, auf Bezugsbereiche und auch auf Formen der Anerkennung nahe (vgl. Abb. 12). Abbildung 12: Anerkennungsformen und Vergesellschaftungsdimensionen der Erwerbsarbeit (Fokus der vorliegenden Arbeit hervorgehoben) Anerkennungsform (vgl. Honneth 1994) „Liebe“ (affektive Zuwendung) „Recht“ (kognitive Achtung) „Solidarität“ (soziale Wertschätzung)
„Vergesellschaftung in der Arbeit“ (in Anlehnung an Vogel/Kronauer/Gerlach 1993) Persönliche, enge Beziehungen zu Kollegen formalisierte Rechte und Pflichten in der Organisation (z.B. Regeln der Partizipation) empfundene Wertschätzung der eigenen Arbeitsleistung durch die Organisation (z.B. Leistungsbewertung, Entgeld)
Quelle: eigene Darstellung Da es um die potentiellen Konsequenzen von Veränderungen in den bisherigen Formen des wechselseitigen Leistungsaustauschs zwischen Organisationsmitglied und Organisation geht, sind insbesondere die subjektiven Erfahrungen von Organisationsmitgliedern im Rahmen der Erwerbsarbeit von Interesse - also Erfahrungen, die am Arbeitsplatz in direkter Auseinandersetzung mit der arbeitgebenden Organisation gemacht werden.51 Die einzelnen Erfahrungskategorien in dieser Vergesellschaftungsdimension der Arbeit teilen sich gemäß Kronauer et al. (1993) in Erfahrungen durch die Verwirklichung des eigenen Arbeitsvermögens, Erfahrungen über die soziale Beurteilung der eigenen Arbeitsleistung und Erfahrungen über persönliche kollegiale Beziehungen. Der Bezugsbereich der sich durch neue Trends der Leistungssteuerung verändernden Anerkennung ist demnach der Raum der Organisation selbst, so dass vertikale und horizontale Abstufungen von verschiedenen gesellschaftlichen Anerkennungsarenen bzw. Erwerbsarbeitssphären und deren identitätsbezogene Auswirkungen direkt keine Rolle für die Untersuchung spielen. Da es weiterhin um veränderte Bedingungen der organisationalen Wertschätzung von individueller Leistung geht, steht die Anerkennungsform der Solidarität und deren spezifische Funktion für die subjektive Identitätsbildung im Mittelpunkt des Interesses. Hiermit sind also 51
Dabei ergeben sich natürlich Überschneidungen mit den anderen Vergesellschaftungsdimensionen (z.B. Vergesellschaftung durch den Kauf von Gütern und Dienstleistungen), die sich in der Identitätsbildung niederschlagen.
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wiederum die Selbsterfahrungen angesprochen, die sich aus der organisationalen Beurteilung der eigenen Arbeitsleistung ergeben und in dieser Weise die subjektiv empfundene Identität potentiell tangieren. Beruf, „Profession“ und „professionelle Leistung“ Da Erwerbsarbeit in modernen Gesellschaften mehrheitlich über die Ausübung eines Berufes realisiert wird, erfolgt in diesem Abschnitt eine kurze Auseinandersetzung mit der sozialen Kategorie des Berufes und deren Bedeutung für die subjektive Identitätsbildung. Generell kann man davon ausgehen, dass unterschiedliche Berufe auch berufsspezifische inhaltliche Standards der Anerkennung aufweisen, unterschiedliche Möglichkeiten zur Fortentwicklung der eigenen Identität über die Ausübung von Erwerbsarbeit eröffnen und in dieser Weise die Identität des Einzelnen wesentlich prägen können. In diesem Zusammenhang wird häufig angenommen, dass die berufliche Tätigkeit in einer „Profession“ bzw. die Erbringung „professioneller Leistung“ eine besondere Relevanz für die Wahrnehmung der eigenen Identität besitzt (z.B. Gildemeister 1987). Daher wird im Folgenden nach der Beschäftigung mit der Kategorie des Berufes auch auf den Aspekt der „Profession“ und den der „professionellen Leistung“ eingegangen. In modernen Gesellschaften stellt der Beruf die zentrale soziale Organisationsform der Erwerbsarbeit dar (vgl. z.B. Kurtz 2002). Die verschiedenen Berufe bilden die historisch gewachsene und bestehende Arbeitsteilung der modernen Gesellschaft ab (vgl. Beck/Brater 1978, S. 74ff.) und kennzeichnen in diesem Sinne spezifizierte, standardisierte und institutionell fixierte Fähigkeitsmuster der Gesellschaftsmitglieder bzw. „spezifische Kombinationen von Fähigkeitselementen, die als institutionalisierte und damit über-individuelle Vorgaben von Individuen erworben werden und das jeweilige Arbeitsvermögen prägen.“ (Gildemeister 1987, S. 72). Der Beruf stellt damit in mehrfacher Hinsicht einen zentralen Definitionsraum für die subjektive Identität des Einzelnen dar. So werden dessen Arbeitsfähigkeiten über die beruflichen Sozialisationsprozesse geformt und anhand der sozialen Maßstäbe des jeweiligen Berufsfeldes beurteilt. Im Zusammenhang mit der zentralen Bedeutung der Erwerbsarbeit bedeutet dies, dass der Beruf ein sozial „abgestecktes“ Feld zur Verwirklichung eigener Fähigkeiten bildet und zugleich eine normative „Schablone“ für die soziale Anerkennung des Einzelnen darstellt. Dabei beschränken sich diese „Schablonen“ nicht nur auf die unmittelbare Beurteilung der jeweilig erbrachten Arbeitsleistung am Arbeitsplatz, sondern beschreiben auch darüber hinaus gehende soziale Stereotypen und Rollenerwartungen (z.B. stereotype Vorstellungen über 125
Buchhalter, Immobilienmakler etc.). Der Beruf entwickelt sich auf diese Weise zum Filter, durch den hindurch eine Person wahrgenommen, beurteilt und taxiert wird (vgl. Beck/Brater 1978, S. 53ff.; Gildemeister 1987, S. 73). Im Rahmen der subjektiven Identitätsbildung kommt der Einzelne nicht umhin („taking the role of the other“, vgl. Kap. 2), sich mit diesen engeren und weiteren sozialen Schablonen bzw. Rollenerwartungen auseinanderzusetzen und sich entsprechend zu positionieren. Darüber hinaus entscheidet der gesellschaftliche Stellenwert des eigenen Arbeitfeldes, also die vertikale bzw. hierarchische Positionierung des eigenen Berufes in der Reihe möglicher Berufe, wesentlich über den sozialen Status bzw. die materielle Lebenslage des Einzelnen. So betonen Beck/Brater: „Die sich auf die berufliche Kompetenz gründende Identitätszumutung gewinnt für die Person selbst in dem Maße Verbindlichkeit, wie sie in Gestalt faktischer Chancenzuweisungen, Verhaltensbeschneidungen und persönlicher Äußerungsmöglichkeiten in die Lebensverhältnisse des Arbeitenden real und subjektiven Zugriffen entzogen eingreift…“. (Beck/Brater 1978, S. 55; Herv. d.V.)
Nicht zuletzt in dieser Hinsicht wirkt der Beruf als ein Modus der gesellschaftlichen Integration und damit der Identitätsbildung. Gemäß dem Merkmalskatalogverfahren der Professionssoziologie (vgl. Schmeiser 2006, S. 301ff.) unterscheidet sich der Begriff der Profession von dem des Berufes in der Hinsicht, dass er sich nur auf Berufsgruppen mit spezifischen Merkmalen bezieht.52 Wesentliche Merkmale sind 1) die hohe Wissensintensität der beruflichen Tätigkeit, 2) deren Ausrichtung am gesellschaftlichen Gemeinwohl, 3) die relativ hohe Autonomie in der Ausführung der Tätigkeit und 4) die gegenüber anderen Berufsgruppen relativ hohe Autonomie in der Kontrolle und Verwaltung des eigenen Berufsstandes (vgl. hierzu und zum folgenden Gildemeister 1987, S. 74ff.; Kurtz 2002, S. 49ff.; Mieg 2003, S. 12ff.; Schmeiser 2006). Im amerikanischen als auch europäischen Sprachgebrauch versteht man unter „Profession“ allgemein einen Beruf, der mit hohem Sozialprestige verbunden ist und auf einer spezifischen, zumeist in akademischer Ausbildung erworbenen Qualifikation aufbaut (1). Die berufliche Tätigkeit im Rahmen einer Profession ist dabei zumeist auf die Bewältigung von Aufgaben gerichtet, die gesellschaftlich als besonders wichtig gelten bzw. zentrale gesellschaftliche Werte repräsentieren (z.B. Gesundheit, Gerechtigkeit, Erziehung und Ausbildung etc., vgl. Abb. 13 zu den hiermit wesentlich angesprochenen „freien Berufen“ im 52
Zum theoretisch differenzierten Feld der Professionssoziologie vgl. z.B. Combe/Helsper 1996; Kurtz 2002; Mieg/Pfadenhauer 2003; Schmeiser 2006.
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deutschsprachigen Bereich53). In diesem Sinne wird entsprechenden Berufsrollenträgern auch häufig eine eher altruistische Arbeitsmotivation bzw. eine Orientierung am Allgemeinwohl angetragen (2). Die hohe Spezifik und Systematik des professionseigenen Wissens bringt es darüber hinaus mit sich, dass Professionsangehörige gegenüber ihren Auftraggebern bzw. „Klienten“ als Experten fungieren und im Rahmen ihrer Tätigkeit weitgehend autonom entscheiden und gestalten. Idealerweise genießen sie in diesem Sinne eine hohe fachliche Autorität gegenüber ihren Auftraggebern (3).54 Die Professionsangehörigen sind zumeist in einem selbst verwalteten Berufsverband organisiert, welcher spezifische Regeln des Verhaltens in Form einer Berufsethik aufstellt, an die die Professionellen in ihrer Praxis gebunden sind. Darüber hinaus haben Berufsverbände auch erheblichen Einfluss auf die professionsspezifische Leistungsdefinition und -kontrolle, z.B. im Hinblick auf berufliche Zugangsbedingungen (4). Mieg schreibt: „So gehört es zur Leistung von Professionen, Kriterien für professionelle Leistung zu definieren. Ob bei Ärzten, Steuerberatern oder Kulturschaffenden, fast immer richtet sich die Leistungsbewertung weitgehend nach professionellen Standards. In der professionalisierten akademischen Wissenschaft erfolgt die Leistungsbewertung ganz über Peer Reviews.“ (Mieg (2003, S. 26)
Der Begriff der professionellen Leistung lässt sich somit zum einen auf die in einem professionalisierten Beruf erbrachte Leistung beziehen. Er wird zum anderen aber auf Tätigkeiten erweitert, die zwar gleiche tätigkeitsbezogene Merkmale aufweisen, wie z.B. hohe Qualifikation und Autonomie, jedoch nicht im Rahmen einer solch´ starken Institutionalisierung durchgeführt werden (vgl. Kurtz 2002, S. 63ff.). Besondere Merkmale professioneller Leistung im engeren als auch weiteren Verständnis sind der problemlösende Charakter und die hiermit verbundene professionsspezifische Wissensintensität. So besteht professionelle Leistung nicht in der technisch-instrumentellen Anwendung wissenschaftlichen Regel- oder Rezeptwissens, sondern vielmehr in der situations- und prob53 Die vom Bundesverband der Freien Berufe (BFB) entsprechend verwandte Definition lautet: "Angehörige Freier Berufe erbringen auf Grund besonderer beruflicher Qualifikation persönlich, eigenverantwortlich und fachlich unabhängig geistig-ideelle Leistungen im gemeinsamen Interesse ihrer Auftraggeber und der Allgemeinheit. Ihre Berufsausübung unterliegt in der Regel spezifischen berufsrechtlichen Bindungen nach Maßgabe der staatlichen Gesetzgebung oder des von der jeweiligen Berufsvertretung autonom gesetzten Rechts, welches die Professionalität, Qualität und das zum Auftraggeber bestehende Vertrauensverhältnis gewährleistet und fortentwickelt." (BFBMitgliederversammlung 1995; www.freie-berufe.de/Definition.212.0.html. 54 Kurtz 2002, S. 60f. beschreibt aktuelle Tendenzen, die den derzeitigen sozialen Stand von Professionen beeinflussen können. So sind derzeit Tendenzen zu beobachten, die z.B. auch die Autorität des Professionellen untergraben könnten (Ratgeberliteratur, Teleanwälte im Internet usw.).
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lemspezifischen Anpassung und Verknüpfung von Fachwissen. So muss z.B. ein Jurist sein Fachwissen auf verschiedenste soziale Situationen übertragen können, ein Arzt seine Behandlung patientenspezifisch ausrichten oder ein Ingenieur sein Fachwissen auf immer wieder anders geartete Problemstellungen zuschneiden. Gildemeister pointiert dies: „Die das Arbeitsfeld von Professionellen geradezu konstituierende „Ungewissheitssituation“ zu bewältigen ist die eigentliche „Kunst“ des Professionellen.“ (Gildemeister 1987, S. 76)
Der Tätigkeitsvollzug in professioneller Leistung ist demnach nie vollständig standardisierbar und routinisierbar, bewegt sich dabei jedoch immer im Handlungsfeld der jeweiligen professionellen Wissens- und Leistungsstandards.55 Eine entsprechende Über- oder Unterbestimmung der Tätigkeit würde demgemäß zur Deprofessionalisierung führen. In diesem Sinne enthält „professionelles Wissen“ immer einen auf seine Anwendung bezogenen Unbestimmtheitsbereich (Gildemeister 1987, S. 76) und kann für professionelle Leistung schwer eine erfolgreiche Problemlösung vorhergesagt werden (vgl. Mieg 2003, S. 29). Es lassen sich mehrere Aspekte anführen, die indizieren, dass der Vollzug von professioneller Leistung im Rahmen der beruflichen Tätigkeit eine besondere Bedeutung für die Identitätsbildung des Einzelnen besitzt (vgl. Gildemeister 1987). So bietet die relativ hohe Autonomie in der beruflichen Tätigkeit und die Herausforderung der situationsspezifischen Problemlösung große Chancen zur Verwirklichung und Vergegenwärtigung des eigenen Leistungsvermögens und könnens. Gildemeister schreibt diesbezüglich: „In diesem „Gefühl des eigenen Könnens“ liegt die Basis der professionellen Identität: Es ermöglicht den „Schöpfungsakt“ der Identität über den kompetenzgeleiteten Bezug zum Gegenstand und „Produkt“. (Gildemeister 1987, S. 76f.)
Hierfür sprechen auch die empirischen Ergebnisse von Baethge et al. (1995, S. 46ff.) als auch die Kotthoffs (1997, S. 165ff.), die zeigen, dass professionell orientierte Ingenieure bzw. hochqualifizierte Angestellte eine vergleichbar starke Identifikation mit ihrem jeweiligen inhaltlichen Arbeitsfeld aufweisen. Dabei hängt die Identifikation mit dem Beruf und über den Beruf wesentlich mit dem Erwerb und der Anwendung des professionsspezifischen Wissens und der entsprechenden beruflichen Handlungskompetenz zusammen. Deren Aufbau beginnt in der Regel in den entsprechenden Ausbildungsprozessen, die als Kombi55 Dieser Aspekt steht nach der Systematik von Schmeiser (2006, S. 303ff.) vor allem im Mittelpunkt der strukturtheoretischen Perspektive der Professionssoziologie.
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nation der Vermittlung von Fachwissen und Generalisierungskompetenz, Kontrolle, Eigenverantwortung und Autonomie angelegt sind (vgl. Gildemeister 1987, S. 76). Die Identifikation mit dem eigenen Beruf und damit auch die „Innenverpflichtung“ gegenüber den jeweiligen professionellen Standards wird demnach bereits wesentlich vor der eigentlichen beruflichen Tätigkeit erworben, durch die Auseinandersetzung mit anderen Professionsangehörigen am Arbeitsplatz vertieft und bewirkt zugleich eine potentielle Distanzierung gegenüber typischen organisationalen Normen, wie z.B. bürokratische Koordinationsmechanismen (vgl. Türk/Stolz 1992; Baetghe et al. 1995, S. 47f.; Kadritzke 1997, S. 134). Letzteres zeigt sich in der Befragung von Baethge et al. (1995, S. 47f) z.B. auch an der Kritik der Professionellen hinsichtlich der wahrgenommenen Überformung des eigenen „schöpferischen Leistungsprozesses“ durch die ökonomischen Interessen der arbeitgebenden Organisation. Die Selbstbestätigung und Motivation bezieht der Professionelle somit wesentlich aus dem eigenen, den professionellen Standards genügenden Leistungsvollzug. Doch trotz dieser hohen intrinsischen Motivation und der Anerkennungsmöglichkeiten durch Kunden und Kollegen kann davon ausgegangen werden, dass die innere Befriedigung des Professionellen auf Dauer nur durch die Anerkennung durch die Organisation aufrechtzuerhalten ist. So konnte Baethge et al (1995, S. 107ff.) z.B. zeigen, dass Professionelle ein hohes Bedürfnis nach inhaltlicher Anerkennung ihrer Tätigkeit durch die Organisation aufweisen. Das heißt, dass kommunikative Formen der Anerkennung, wie sie z.B. in Mitarbeitergesprächen möglich werden, einen relativ hohen Stellenwert gegenüber materiellen Anreizen bei den Professionellen genießen. Letztlich ist die berufliche Tätigkeit im Rahmen eines professionalisierten Berufsstandes gesellschaftlich zumeist positiv stereotypisiert. Der jeweilige professionelle Leistungsbeitrag wird aufgrund seiner Gemeinwohlorientierung zumeist mit hoher gesellschaftlicher Wertschätzung versehen. Auch in Baethges et al. (1995, S. 49) Untersuchung genoss die soziale Nützlichkeit der eigenen Tätigkeit eine subjektiv hohe Relevanz bei den Professionellen. Nicht zuletzt hierdurch wird der Aufbau eines positiven Selbstbezuges durch die Ausübung einer professionellen Tätigkeit ermöglicht.
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Abbildung 13: Übersicht über Freie Berufe Heilkundliche Berufe
Rechts- und wirtschaftsberatende Berufe
Technische- und naturwissenschaftl. Berufe
Kulturberufe
Ärzte Zahnärzte Tierärzte Apotheker Psychotherapeuten Physiotherapeuten Ergotherapeuten Logopäden Motopäden Kranken/Altenpfleger Berufsbetreuer
Rechtsanwälte Notare Patentanwälte Steuerberater Wirtschaftsprüfer Buchprüfer Unternehmensberater Wirtschaftsberater Rentenberater Versicherungsmathematiker Psychologen
Architekten Landschaftsarchitekten Innenarchitekten Ingenieure Vermessungsingenieure Vereidigte Sachverständige See- /Hafenlotsen Chemiker Biologen Umweltgutachter Informatiker
Künstler Journalisten Diplompädagogen Dolmetscher Übersetzer Schriftsteller Designer Restauratoren Yogalehrende Tanztherapeuten Okularisten
Quelle: Bundesverband der Freien Berufe, www.freie-berufe.de (28.11.2005) 3.3 Zusammenfassung Zu Beginn des Kapitels wurde gezeigt, dass der Begriff der „Leistung“ in der allgemeinen sozialen Sinngebung vielfältige Assoziationen in Hinblick auf seine soziale Bedeutung hervorruft. Abgesehen von der unterschiedlichen umgangssprachlichen Verwendung operieren auch die verschiedenen Fachdisziplinen, wie z.B. die Natur- und Sozialwissenschaften, mit unterschiedlichen Definitionen von Leistung. In der vorliegenden Arbeit interessiert „Leistung“ und „leisten“ als eine bestimmte Art des menschlichen Tätigseins bzw. als Resultat dieser Tätigkeit. Das heißt, es geht um menschliches Tun, das als „Leistung“ wahrgenommen oder definiert wird. Diese Sichtweise impliziert, dass die jeweils geltenden Normen einer Gesellschaft oder Institution über die Bewertung einer Tätigkeit als „Leistung“ entscheiden. Dennoch ist die soziale Wahrnehmung einer Tätigkeit als Leistung in modernen „Leistungsgesellschaften“ nicht vollkommen flexibel. Es existieren bestimmte „vorinstitutionelle“ Charakteristika, die menschliches Tun erst zu „Leistung“ werden lassen. In der sozialen Sinngebung ist „Leistung“ immer mit der Vorstellung eines zu erbringenden Aufwandes (Input) und einem damit verbundenen Ergebnis (Output) verbunden (Zweidimensionalität). Darüber hinaus erhalten Tätigkeiten nur dann das sozial positiv sanktionierte Prädikat „Leistung“, wenn sie sozial 130
erwünschbar erscheinen. Dies ist durch die gesellschaftshistorische Entwicklung moderner Gesellschaften begründet, die die Zuteilung sozialer Anerkennung und sozialen Status mit einer den offiziellen gesellschaftlichen Standards entsprechenden Leistung des Einzelnen begründen (Leistungsprinzip). Hieran knüpfen dann die Ausgewogenheitserwartung (gleichgewichtige Beurteilung von Aufwand und Ergebnis), Äquivalenzerwartung (die soziale Gegenleistung sollte der individuellen Leistung entsprechen) und die Erwartung der Chancengleichheit (jeder in der Gesellschaft sollte die gleichen Möglichkeiten zur Erbringung von Leistung haben, Voraussetzung zur Wirksamkeit des Leistungsprinzips) an (vgl. hierzu und zum Folgenden Abb. 14). Im Zuge der Entwicklung der Leistungsgesellschaft avancierte die Erbringung von Leistung im Rahmen der „Erwerbsarbeit“ zur gesellschaftlichen Kollektivnorm, d.h. zur allgemeinen Verhaltenserwartung an den Einzelnen, und die entstehenden arbeitsteiligen Organisationen zu den vordringlichen Orten der Leistungserbringung und Leistungsdefinition. Die Erwerbsarbeit stellt daher einen Interaktionsbereich dar, der eine nahezu dominierende vergesellschaftende Kraft auf den Einzelnen ausübt. So beeinflusst Erwerbsarbeit wesentlich den sozialen Status des Einzelnen oder organisiert soziale Zeit- und Sinnstrukturen, etwa in Bezug auf die eigene Biographie (z.B. „Arbeitsleben“ und „Rentnerdasein“). Auch innerhalb der Erwerbsarbeit finden sich potentiell alle Formen der sozialen Anerkennung, welche nach Honneth (1994) eine wesentliche Rolle für die soziale Integration und das eigene Selbstverständnis spielen („Liebe“ als affektive Zuwendung, „Recht“ als kognitive Achtung, „Solidarität“ als soziale Wertschätzung). Angefangen von der sozialen Integrationswirkung, welche durch die affektive Zuwendung in freundschaftlicher Beziehung zu Kollegen erfahren wird, über die formal rechtliche Anerkennung des Einzelnen (Arbeitsvertrag) bis zur wahrgenommenen Wertschätzung der individuellen Leistung durch die arbeitgebende Organisation (Leistungsbewertung, Entgelt), hat Erwerbsarbeit und die hier erbrachte Leistung wesentlichen Einfluss auf die Identitätsbildung des Einzelnen. Insbesondere bei Professionellen erscheinen die leistungsbezogene Entfaltung innerhalb der Erwerbsarbeit und die entsprechende soziale Wertschätzung von großer Wichtigkeit für die Identitätsbildung. Generell bleibt die stabilisierende Wirkung des Leistungsprinzips nicht auf die individuelle Ebene beschränkt. Auch die Stabilität und „Funktionsfähigkeit“ von arbeitsteiligen Organisationen hängt in dieser Hinsicht notwendig mit der formalen Etablierung und Einhaltung des Leistungsprinzips zusammen. So bewirkt die formale Gültigkeit des Leistungsprinzips ja erst die Stabilisierung der organisationalen Erwartungshaltung in Bezug auf die zu erbringende Arbeitsleistung und entsprechende Koordination der einzelnen Organisationsmitglieder. Das Leistungsprinzip erzeugt eine „homogenisierte Mitgliedschaftsmotivation“ 131
(Schimank 2005, S. 27), welche erlaubt, sich über konkrete und individuelle Motivlagen der Organisationsmitglieder hinwegzusetzen und die somit erst die Ausschöpfung von Effizienz- und Effektivitätsvorteilen einer arbeitsteiligen Leistungsproduktion ermöglicht. Die Mobilisierung der Leistungsanstrengungen der Organisationsmitglieder oder die ermöglichte Steuerung der Verhaltensweisen in der Organisation sind hiermit zusammenhängende Funktionen, welche das Leistungsprinzip für Organisationen erfüllt. Es kann festgestellt werden, dass die Vorstellung von Leistung und das damit zusammenhängende Leistungsprinzip grundlegende Normen der Anerkennung in unserer Gesellschaft repräsentieren. Sie stellen unabhängig von ihrer faktischen Realisierung etwas „Wünschenswertes“ dar. Das heißt, sie bilden Referenzpunkte für die Beurteilung der eigenen Situation bzw. der gemachten Erfahrungen in der Erwerbsarbeit und beeinflussen auf diese Weise auch das Leistungsverhalten in Organisationen. Die Erosion oder Destabilisierung dieser grundlegenden Normen kann demnach wesentlichen Einfluss auf das Selbstverständnis bzw. die Identität des Einzelnen haben als auch Organisationen in ihrer Funktionsweise wesentlich tangieren. Derzeitige Trends der Leistungssteuerung in Organisationen lassen jedoch die Vermutung aufkommen, dass eine solche Destabilisierung im Gange ist - mit möglicherweise nicht intendierten Konsequenzen. Anomietheoretische Überlegungen eignen sich in diesem Zusammenhang (Kap. 2) sehr gut, um entsprechende Zusammenhänge und potentielle Konsequenzen auf individueller und organisationaler Ebene analytisch zu erfassen. Sie erlauben einerseits die Einnahme einer institutionellen Sichtweise auf jene Veränderungen, d.h. es lassen sich Aussagen über die Konsequenzen auf organisationaler Ebene treffen. Andererseits ermöglichen sie systematische Überlegungen in Bezug auf die Konsequenzen auf individueller Ebene.
132
Abbildung 14: Wesentliche Funktionen und Charakteristika des Leistungsprinzips
Arbeitsorganisation
Individuum / Organisationsmitglied
Organisationsbezogene Funktionen des Leistungsprinzips
Individuumsbezogene Funktionen des Leistungsprinzips
(„homogenisierte Mitgliedschaftsmotivation“, Stabilität und Legitimation von Arbeitsorganisationen)
(grundlegende Handlungssicherheit, soziale Integration, Anerkennung in Form von „Recht“ und „Solidarität“, Identitätsbildung)
Leistungsprinzip Normative Charakteristika des Leistungsprinzips bzw. Bedingungen der gelingenden Reziprozität zwischen Individuum und arbeitgebender Organisationen -
soziale Erwünschtheit der Leistung (Definition) Chancengleichheit zur Erbringung von Leistung Zweidimensionalität von Leistung (Input/Output) Ausgewogenheitserwartung Ä
Quelle: eigene Darstellung Im folgenden Kapitel wird es darum gehen, die wesentlichen Trends in der Leistungssteuerung darzustellen und zu systematisieren. Im Anschluss werden die anomietheoretischen Anschlussmöglichkeiten spezifiziert und wird die entsprechende Analyse vorgenommen.
133
4 Neue Formen der Leistungssteuerung in Organisationen
In diesem Kapitel werden die derzeitig zu beobachtenden Entwicklungen der Steuerung von menschlicher Leistung in Organisationen aufgezeigt. Diese Veränderungen werden in den Sozialwissenschaften häufig unter dem Siegel der Ablösung des fordistisch geprägten Wirtschaftsmodells durch das neue Paradigma des Postfordismus verhandelt. Deshalb wird der Abschnitt mit einem komprimierten Einblick in diesen Themenbereich eröffnet. Anschließend sollen die Perspektiven einer entsprechend „modernen“ Leistungssteuerung in Organisationen erläutert werden. Diese drücken sich wesentlich in einer wachsenden Marktorientierung aus, welche durch veränderte Formen der Organisation der Leistungserstellung, also veränderte organisationale Rahmenbedingungen der individuellen und kollektiven Leistungserbringung, als z.T. auch „modernisierte“ Systeme der Grund- und Leistungslohndifferenzierung umgesetzt wird. Mit diesen Entwicklungen korrespondiert eine neue Logik der organisationalen Leistungssteuerung und damit auch ein neuer Zugriff auf die Leistung von Organisationsmitgliedern. Dieser „moderne Zugriff“ auf Arbeitskraft kann als Vorgang der „Subjektivierung“ gekennzeichnet werden. Der zweite Teil des Kapitels ist entsprechend folgendermaßen aufgebaut: Zunächst wird der Begriff der „Subjektivierung“ geklärt. Anschließend werden die Veränderungen der organisationalen Rahmenbedingungen in Form der marktorientierten Prozessgestaltung und strategischen sowie operativen Dezentralisierung sowie die entsprechenden Zusammenhänge mit „Subjektivierung“ vorgestellt. Die veränderten Methoden und Inhalte der „Grund- und Leistungslohnsysteme werden anschließend in vergleichbarer Weise thematisiert. Nach dieser Darstellung erfolgt eine pointierte Zusammenfassung der aktuellen Prognosen bzw. sich abzeichnenden Entwicklungen des organisationalen Managements von Leistung. In diesem Zusammenhang wird gezeigt, dass jene Entwicklungen eine Neudefinition des herkömmlichen Leistungsbegriffes indizieren.
135 G. Faßauer, Arbeitsleistung, Identität und Markt, DOI 10.1007/978-3-531-91040-6_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
4.1 „Der kurze Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz) oder die Erosion des fordistischen Produktionsmodells Grundsätzlich basiert die sozialwissenschaftliche Diskussion über den Übergang vom Wirtschaftsmodell des „Fordismus“ zum „Postfordismus“ auf der Annahme, dass die Entwicklung der industriell-kapitalistischen Gesellschaften keinem linearen Verlauf folgt (vgl. Lutz 1984; Piore/Sabel 1985; Hirsch/Roth 1986; Altvater/Mahnkopf 1997, S. 77ff.). So gehören zu dieser Entwicklung nach Altvater/Mahnkopf (1997, S. 81) „auch die kleinen Unfälle“ auf einer Trajektorie und jene Brüche, die dazu veranlassen, die „Bahn zu wechseln.“ Wesentlich ist dabei die Vorstellung und Beobachtung aufeinanderfolgender Entwicklungsmodelle bzw. -stufen der kapitalistischen Formation. Die historische Abfolge dieser Modelle bzw. Stufen kennzeichnet dabei nicht einen „natürlichen“, immanent vorbestimmten und immer „fortschrittlicher“ ausgeprägten Verlauf der kapitalistischen Wirtschaftsweise. So hat man es vielmehr mit einer historischen Folge spezifischer Konstellationen zu tun, die ihre Ausprägung aus der jeweiligen Entwicklung und dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren gewinnen. Mit diesen Faktoren sind die Ausprägungen der politischen, sozialen und ökonomischen Verhältnisse in einer Gesellschaft angesprochen sowie deren Interdependenz mit entsprechenden Entwicklungen in anderen Regionen. Die längerfristige Stabilität eines bestimmten Entwicklungsmodells setzt dabei nach Altvater/Mahnkopf (1997, S. 81) ein kohärentes Gefüge dieser Verhältnisse voraus (z.B. ein kohärentes Verhältnis von sozialen und politischen Formen der Regulation, der sozialen Organisation der Arbeit, Qualifikationen, technischen Standards, Normen des Alltagslebens). In diesem Sinne formulieren sie in Bezug auf die Transformation der ost- und mitteleuropäischen Länder : „Der Übergang vom Plan zum Markt erfordert also über die wirtschaftlichen Änderungen hinaus auch Anpassungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Diese sind umso schwieriger, als die Zeiten der Transformation in einzelnen gesellschaftlichen Bereichen höchst verschieden sind. Dadurch entstehen Reibungen, die die Herausbildung eines kohärenten Entwicklungsmodells erschweren und entgegen dem Bestreben nach Beschleunigung von Anpassungsprozessen diese sogar verlangsamen.“ (Altvater/Mahnkopf 1997, S. 81)
Der Übergang von einer Konstellation zur anderen ist nicht zuletzt deswegen auch innerhalb der kapitalistischen Welt stets mit einer „tiefen Krise“ verbunden. In diesem Sinne begreift auch Lutz (1984) die Entwicklung der industriellmarktwirtschaftlichen Gesellschaften als eine Aufeinanderfolge von wirtschaftlichen Wachstumsschüben, zwischen denen jeweils längere Phasen der Stagna136
tion liegen, und spricht in Bezug auf das für die Wachstumsphase notwendig kohärente Gefüge der gesellschaftlichen Subsysteme von spezifischen „Prosperitätskonstellationen“ (S. 20). Auch Piore/Sabel schreiben hinsichtlich der wandelbaren Organisation der Produktion: „Nach dieser Konzeption folgen auf einige wenige Durchbrüche beim Einsatz von Arbeitskraft und Maschinerie Perioden der Expansion, die schließlich in Krisen kulminieren, welche die Grenzen der bestehenden institutionellen Arrangements sichtbar machen.“ (Piore/Sabel 1985, S. 12)
Auch ein großer Teil der gegenwärtigen Entwicklungen der Leistungssteuerung in Organisationen lässt sich als eine solche krisengetriebene Ablösung des fordistischen Entwicklungsmodells und als Übergang zum Postfordismus lesen. Die großindustrielle, tayloristisch geprägte, auf Massenproduktion ausgerichtete Wirtschaftsweise des Fordismus sorgte seit dem zweiten Weltkrieg für eine ausgeprägte Prosperität in weiten Teilen Europas, stieß jedoch nach Meinung vieler Autoren mit Beginn der 70er Jahre an ihre Grenzen. So prognostiziert Lutz 1984 das „Ende vom kurzem Traum der immerwährenden Prosperität“ für die damalige BRD, Piore/Sabel (1985) veröffentlichen ihr Buch vom „Ende der Massenproduktion“ und Hirsch/Roth (1986) sprechen vom „Neuen Gesicht des Kapitalismus“. Die bisherige Stabilität der fordistischen Formation wurzelte in einem Produktionssystem, das wesentlich auf folgenden Basisprinzipien beruhte: Es verfolgte 1) die Reduktion und Rationalisierung operativer Zeit durch die Aufspaltung von Arbeitsaufgaben und deren Technisierung; es umfasste 2) eine strikt hierarchische Organisation von Konstruktion, Entwicklung, Produktion und Vertrieb; es realisierte 3) den Primat der Produktions- über die Marktökonomie, wobei unterstellt wurde, dass niedrigpreisige Waren immer einen Käufer finden und es nutzte 4) den Dualismus von Großindustrie und Kleinbetrieben, indem große Firmen stabile Massenbedürfnisse befriedigten, während kleinbetriebliche Produktion die variable Nachfrage bediente (vgl. Dörre 2001/02. S. 10). Diese Prinzipien korrespondierten positiv mit einer keynesianischen Nachfragesteuerung, die zur Gewährleistung des Massenkonsums beitrug (vgl. auch die Übersicht in Altvater/Mahnkopf 1997, S. 84 sowie Schumann 2000). Für die sich zu Beginn der 70er Jahre abzeichnende Krise des Fordismus in Form von abnehmenden Zuwachsraten der Arbeitsproduktivität, zunehmender Arbeitslosigkeit, der entsprechenden „Krise der Staatsfinanzen“ und korrespondierenden Einschränkungen des Massenkonsums werden unterschiedliche Erklärungsmuster diskutiert (vgl. zur Diskussion der folgenden Punkte Lutz 1984, S. 186ff.; Piore/Sabel 1985, S. 18ff.; Hirsch/Roth 1986, S. 78ff.). Neben externen Einflussgrößen, wie z.B. die Ölkrisen in den 70er Jahren, wird zum einen die zuneh137
mende Marktsättigung (Abschluss der „inneren Landnahme“, Lutz 1984) in den westlichen Industrieländern als wesentlich für die wirtschaftliche Stagnation betrachtet. Des Weiteren geht man von einer wachsenden Differenzierung des Konsumentengeschmacks aus, welcher mit standardisierter Massenware nicht mehr zu befriedigen war und entsprechende Konkurrenz aus den weniger großindustriell geprägten Sektoren der westlichen Wirtschaft mit sich brachte. Auch auf dem internationalen Markt verschärfte sich der Wettbewerb durch die zunehmende wirtschaftliche Konkurrenz durch bisher wirtschaftlich eher schwache Staaten (z.B. in der Stahlindustrie, im Textilbereich oder Schiffbau). Letztlich wird der bis dahin betriebene Raubbau an natürlichen Ressourcen und deren wahrgenommene Verknappung als ein weiterer Faktor betrachtet, der zur Eindämmung der wirtschaftlichen Prosperität beitrug. Die auf diese Krisensituation folgenden, wettbewerbsstrategischen Reaktionen der großindustriellen Unternehmen können aus verschiedenen Perspektiven diskutiert werden, indizieren jedoch wesentlich eine Abkehr von den Basisprinzipien des fordistischen Produktionsmodells. Folgende Aspekte erscheinen wesentlich und werden anschließend eingehender illustriert: Es kommt zu einer Zurücknahme der Arbeitsteilung und zu einem Abbau hierarchischbürokratischer Organisationsstrukturen durch das Eingehen von Unternehmensverbünden und die Bildung flexibler, operativ und z.T. strategisch relativ selbstständiger sowie z.T. geographisch verteilter Unternehmenseinheiten, in die bisher übergeordnete Aufgaben und Verantwortlichkeiten integriert bzw. zusammengefasst werden. Des Weiteren wird das fordistische Primat der Produktionsökonomik und die einhergehende Abschirmung der Produktion gegenüber Marktschwankungen durch die entsprechende Beförderung der flexiblen Anpassung an Marktbedingungen und die Internalisierung marktlicher Koordinationsformen in die Unternehmen aufgeweicht. Der Dualismus zwischen Klein- und Großbetrieben bzw. die getrennte Bearbeitung differenzierter Kundenwünsche auf der einen und standardisierter Massenbedürfnisse auf der anderen Seite wird dadurch verringert. Generell setzen entsprechende Reaktionen an unterschiedlichen unternehmerischen Faktoren und Ebenen der Unternehmensorganisation an und reichen von verschiedenen Formen der Internationalisierung der Produktion, unterschiedlichen Strategien zum Erschließen neuer regionaler als auch produktspezifischer Absatzmärkte über das vehemente Ausnutzen technischer Flexibilisierungs- und Rationalisierungspotentiale, wie z.B. dem Computer Integrated Manufactoring (CIM) (vgl. z.B. Piore/Sabel 1985, S. 217ff.; Hirsch/Roth 1986, S. 104ff.; Altvater/Mahnkopf 1997, S. 336ff.). Auf der Ebene des Gesamtunternehmens lassen sich neben defensiven Rationalisierungsmustern, die vordergründig auf Kostenminimierung durch die räumliche Verlagerung der Produkti138
on und technische Rationalisierung zielen (vgl. Altvater/Mahnkopf 1997, S. 350; beispielhaft Bender 1997, S. 93ff.), neue Muster finden, welche auf die organisations- und z.T. grenzüberschreitende Integration der unternehmerischen Produktion setzen. Hierbei geht es um die flexible Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Unternehmen bzw. Unternehmensteilen, mit dem Ziel, möglichst effizient neue Geschäftsfelder und Kunden zu erschließen und möglichst flexibel auf Marktveränderungen zu reagieren (zu „Unternehmensnetzwerken“ vgl. Sydow 1993). Diese neue, wesentlich auf den Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnik basierende Zusammenarbeit von Unternehmen erstreckt sich dabei über verschiedene Formen der Kooperation (z.B. von gleichgewichtigen strategischen Allianzen bis zu ökonomisch einseitigen Abhängigkeitsverhältnissen wie z.B. die Quasi - Integration eines Zulieferers). Auch der Begriff der „virtuellen Organisation“, als Kennzeichnung der Zusammenarbeit räumlich entfernter Unternehmen auf Basis moderner Informationsund Kommunikationstechnologie, lässt sich in diesen inhaltlichen Kontext einordnen (vgl. klassisch Davidow/Malone 1993). Generell soll die flexible Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen bzw. auch zwischen einzelnen, in sich integrierten und abgeschlossenen Teilen von Unternehmen eine effiziente Flexibilisierung der eigenen Wertschöpfung erzielen. Dies soll durch die marktgerechte Kombination unternehmensspezifischer Kompetenzen und die Dezentralisierung von Verantwortung und unternehmerischem Risiko zwischen den unterschiedlichen Unternehmen bzw. Unternehmensteilen realisiert werden. Wesentliches Merkmal dieser Strategie ist dabei die Zerlegung der bisher stark hierarchisch geprägten Strukturen der großindustriellen Unternehmen und die Bildung flexibler, in Bezug auf die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe funktionsintegrierter Unternehmensteile die operativ und z.T. auch strategisch weitgehend selbstständig agieren und über nicht-hierarchische bzw. marktähnliche Koordinationsformen miteinander interagieren (vgl. Child/McGrath 2001; Picot et al. 2001; Picot/Neuburger 2004; Frese 2004). Findet diese Zerlegung innerhalb einer Organisation statt, wird auch häufig der Begriff „Modularisierung“ (Bildung von „Modulen“) verwendet (Picot et al. 2001, S. 227 ff.). Die Bildung dieser Einheiten ist dabei zumeist mit der „Verschlankung“ der Organisationsstruktur bzw. dem Abbau bisheriger Hierarchieebenen sowie Stabsabteilungen und der Verlagerung der entsprechenden Steuerungs- und Kontrollverantwortung in die Einheiten selbst verbunden (vgl. klassisch zum Begriff des „lean management“ bzw. „lean production“ Womack et al. 1990). Boes schreibt zu entsprechenden Entwicklungen in der IT-Industrie: „Die Unternehmen reagieren darauf, indem sie das vertikal integrierte fordistische Organisationsmodell ausdifferenzieren und die einzelnen Organisationseinheiten so
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aufstellen, dass spezifische Marktsegmente differenziert bedient werden können und die einzelnen Unternehmenseinheiten flexibel in dynamisch wechselnden Leistungsketten mit anderen Unternehmen integriert werden können.“ (Boes 2003, S. 142f)
Weiter stellt er zur zunehmend marktförmigen Steuerung der Einheiten fest: „Die einzelne Organisationseinheit erhält durch diese modulare Ausdifferenzierung etwas Austauschbares. Passt die Produkt- und Leistungspalette nicht mehr in das Portfolio des Unternehmens oder wird eine bestimmte Gewinnmarge unterschritten, so lassen sich die einzelnen organisatorischen Module leicht aus der Gesamtorganisation ausgliedern.“ (Boes 2003, S. 142 f)
Diese Entwicklungen zur marktorientierten Prozessgestaltung und Dezentralisierung werden in Abschnitt 4.2.2 dieses Kapitels noch eingehender erläutert. Die Untersuchungen zur Ablösung des fordistischen Produktionsmodells konzentrieren sich naturgemäß auf Veränderungen in großindustriellen Unternehmen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Dienstleistungsunternehmen und der öffentliche Sektor von hiermit thematisierten Veränderungen ihrer relevanten Umwelt nicht betroffen wären und entsprechende Rationalisierungsmuster nicht auch auf diese Bereiche angewendet würden. Im Gegenteil, der Dienstleistungssektor, insbesondere im hochqualifizierten Bereich, kann zum einen als Vorreiter für moderne, marktorientierte Arbeitsformen betrachtet werden. Zum anderen wird dessen wachsende moderne „Industrialisierung“, z.B. durch die z.T. technologisch ermöglichte Standardisierung von Produkten und Verfahren, konstatiert (vgl. Lehndorf 2003, S. 161; Sauer 2003, S. 21) und werden Begriffe aus dem industriellen Fertigungsbereich dienstleistungsspezifisch übersetzt (vgl. z.B. „lean retailing“ Voss-Dahm 2003 oder „lean banking“ vgl. Haipeter 2002). Schumann (2000, S. 112) formuliert: In Dienstleistungsökonomie und „selbst in die Reorganisation der Hochschulen schleichen sich die neuen Handlungsanforderungen ein.“ (vgl. z.B. kritisch Liessmann 2006 oder Klein/Rosar (2006) zur Validität von studentischen Lehrevaluationen als potentiellen Leistungsindikatoren). So reagieren auch Dienstleistungsunternehmen auf verschärfte Konkurrenz und veränderte Marktbedingungen und öffentliche Organisationen sehen sich der Forderung nach Entbürokratisierung und Kostensenkung gegenüber (kritisch: Göbel 2003). Die verschärfte Dezentralisierung von unternehmerischem Risiko auf einzelne Beschäftigte im Dienstleistungsbereich, die Dezentralisierung von Verantwortung durch Gruppenarbeitskonzepte in der Verwaltung oder die Einführung von Konkurrenz zwischen öffentlichen und privaten Anbietern sozialer Dienstleistungen sind dabei Anzeichen für die Entwicklung entsprechender Rationalisierungsformen (z.B. Born 2000; Lehndorf 2001/02 und 2003; 140
Pohlmann et al. 2003). So formuliert Siegel am Beispiel der öffentlichen Debatte des lean production - Leitbildes: „’Schlank’ ist zur Devise nicht nur der industriellen Rationalisierung geworden, sondern auch der Reorganisation der öffentlichen und privaten Verwaltung und Dienstleistungsunternehmen. Das uralte Argument der Effizienz scheint (...) zu genügen, um die alten Rationalisierungsmuster und Organisationsformen für gescheitert zu erklären und die neuen schlanken zu legitimieren.“ (Siegel 1995, S. 178)
4.2 Perspektiven einer neuen Leistungssteuerung in Organisationen Mit der „Erosion des fordistischen Produktionsmodells“ und den hieraus abgeleiteten Anforderungen ist allgemein eine stärkere Marktorientierung von Organisationen verbunden. Neben ausschließlich defensiven Strategien, die vornehmlich auf Kostensenkung abzielen, wird dabei die flexible, differenzierte und zugleich effiziente Marktbearbeitung angestrebt. Im Folgenden wird thematisiert, welche Veränderungen sich aus dieser Marktorientierung für die Leistungssteuerung in Organisationen und den entsprechenden Zugriff auf Arbeitskraft ergeben. Dieser veränderte Zugriff auf Arbeitskraft bzw. deren veränderte Inanspruchnahme durch neue Formen der Leistungssteuerung wird im Folgenden über die Diskussion zur „Subjektivierung von Arbeit“ thematisiert und den Ausführungen über die Tendenzen in der Leistungssteuerung vorangestellt. Unter „Leistungssteuerung“ werden dabei alle organisationalen Aktivitäten der Schaffung und Anwendung von Rahmenbedingungen und Instrumenten verstanden, die der Anpassung des Verhaltens und der Handlungen der Organisationsmitglieder an die Ziele der Organisation dienen und in der Weise „Arbeitsleistung“ definieren (vgl. i.w.S. ähnlich zu den Dimensionen des Personalmanagements Berthel/Becker 2003, S. 7 ff.). In Anbetracht des breiten Spektrums der möglichen Dimensionen und der entsprechenden „Instrumentarien“ der Leistungssteuerung bzw. der Erzeugung von „Verhaltenskonformität“ in Organisationen (vgl. z.B. Türk 1981; Neuberger 1990, S. 436 ff.) werden im Folgenden solche herausgegriffen und thematisiert, welche offensichtlich Gegenstand aktueller geplanter Veränderungsbestrebungen sind und entsprechend breit diskutiert werden. So wird der Fokus z.B. stärker auf die strukturellen, indirekt wirkenden Komponenten der Leistungssteuerung gerichtet, weniger auf den Aspekt der direkten, persönlichen bzw. interaktiven Verhaltensbeeinflussung zwischen Mitarbeitern und Vorgesetzten. In diesem Sinne interessieren hier also bestimmte Ausschnitte organisationaler Rahmenbedingungen der Leistungserbringung und bestimmte Instrumente der Leistungssteuerung. Dabei fallen unter „Rahmenbedingungen“ allgemein die organisationalen 141
Strukturen, in die der Arbeitsplatz eingebettet ist. Hiermit sind sowohl die Stellung in der organisationalen Aufbau- und Ablauforganisation gemeint als auch der hierdurch z.T. bedingte Zuschnitt der jeweiligen Arbeitsform (z.B. vorgegebene Arbeitsteiligkeit, Grad der Entscheidungsautonomie, vertragliche Gestaltung, vgl. z.B. Staehle 1999; Steinmann/Schreyögg 2005). Veränderungen in diesem Bereich werden im Folgenden über die Tendenzen der marktorientierten Prozessgestaltung und Dezentralisierung sowie den damit korrespondierenden personellen Rationalisierungsstrategien aufgezeigt. Unter „Instrumente“ werden diejenigen Mittel verstanden, die im Kontext der jeweiligen Rahmenbedingungen zum einen zur inhaltlichen und wertmäßigen Klassifikation, Eingruppierung und entsprechenden Vergütung der Arbeitsleistung in der Organisation dienen (vereinfacht zusammengefasst unter: „Systeme der Grundlohndifferenzierung“ vgl. Schettgen 1996; Berthel/Becker 2003). Zum anderen werden hierzu die Instrumente gezählt, die unmittelbar zur Kontrolle, Beurteilung und Vergütung der individuellen Arbeitsleistung eingesetzt werden (zusammengefasst unter: „Systeme Leistungslohndifferenzierung“ vgl. z.B. Schettgen 1996; Berthel/Becker 2003) bzw. in diesem Zusammenhang unmittelbar zu einer erhöhten Leistungserbringung motivieren sollen. Veränderungen in diesem Bereich werden hier über die aktuellen Entwicklungen bei Indikatoren, Verfahren und Lohnformen sowie den sich abzeichnenden Formen der marktbezogenen Wertschätzung von Leistung thematisiert. Das Kapitel ist demnach folgendermaßen aufgebaut: Da die gegenwärtigen Entwicklungen in der Leistungssteuerung einen zunehmend subjektorientierten Zugriff auf die Arbeitskraft von Organisationsmitgliedern indizieren, wird zunächst kurz auf die Diskussion um die „Subjektivierung von Arbeit“ eingegangen. Anschließend werden die Veränderungen der Leistungssteuerung über die veränderten organisationalen Rahmenbedingungen der individuellen und kollektiven Leistungserbringung in Form von marktorientierter Prozessgestaltung und Dezentralisierung thematisiert. Diese korrespondieren mit einer zunehmend marktförmigen Leistungssteuerung in Organisationen, deren Logik anschließend nochmals gesondert aufgezeigt wird, um dann deren Umsetzung über verschiedene personelle Rationalisierungsstrategien und letztlich wiederum deren Zusammenhang mit verschiedenen Formen des subjektiven Zugriffs auf Arbeitskraft zu erläutern. Im letzten Teil wird es schließlich um Veränderungen der Leistungssteuerung bei Systemen der Grund- und Leistungslohndifferenzierung gehen. Das Kapitel schließt mit einer kurzen Zusammenfassung, in der die wesentlichen Entwicklungen in Bezug auf die Veränderung des Verständnisses von Leistung zusammengetragen werden.
142
4.2.1 Subjektorientierter Zugriff auf Arbeitskraft Trotz großer Unterschiede in den arbeitsplatzbezogenen Konsequenzen der neuen, „post-fordistischen“ Marktorientierung von Organisationen und der damit zusammenhängenden strategischen und operativen Dezentralisierung lassen sich bestimmte Gemeinsamkeiten eines „neuen“ Zugriffs auf Arbeitskraft und der entsprechenden Leistungssteuerung in Organisationen herausfiltern. In der industriesoziologischen und auch personalwirtschaftlichen Forschung wird in diesem Zusammenhang häufig von der „Subjektivierung“ von Arbeit bzw. vom „subjektorientierten“ Zugriff auf Arbeitskraft gesprochen (vgl. Conrad/Manke 2002; Kleemann et al. 2002; Moldaschl 2002). Mit Kleemann et al. lässt sich der Begriff allgemein klären: „Unter „Subjektivierung“ verstehen wir (...), dass historisch konkrete subjektive also individuell je verschiedenartige - Leistungen bzw. Handlungen gesellschaftlich zunehmend funktional werden.“ (Kleemann 2002, S. 57, H.i.O.)
Im Rahmen dieser Arbeit sind Subjektivierungsvorgänge interessant, die im Zusammenhang mit der Erbringung formalisierter Leistung bzw. von Erwerbsarbeit stehen. In diesem Sinne bezeichnet Subjektivierung ganz allgemein eine Intensivierung von „individuellen“, d.h. Subjektivität involvierenden Wechselverhältnissen zwischen Person und Betrieb bzw. betrieblich organisierten Arbeitsprozessen. Das kann einerseits bedeuten, dass Beschäftigte von sich aus potentiell mehr Subjektivität in die Arbeit hineintragen und einfordern, aber andererseits auch, dass die Arbeit mehr Subjektivität von dem Einzelnen abverlangt (Vorgang der „doppelten Subjektivierung“, z.B. im Umgang mit moderner Informationstechnik anschaulich: Schönberger 2004). Diese vieldiskutierte „Zweiseitigkeit“ oder „Janusköpfigkeit“ von Subjektivierung, also die Frage nach „Entfaltung“ oder „Unterwerfung“ von Subjektivität durch Subjektivierungsprozesse in Organisationen, wird im Folgenden nicht vordergründig thematisiert (vgl. z.B. Holtgrewe 2003). So geht es vielmehr um die, sich aus Prozessorientierung und Dezentralisierung ergebenden „subjektorientierten“ Anforderungen in Bezug auf die Leistungserbringung der Organisationsmitglieder. Generell werden in der Literatur unterschiedliche Bündel von Faktoren diskutiert, die zur (doppelten) Subjektivierung in der Arbeit beitragen (vgl. zur Übersicht Kleemann et al. 2002, vgl. Abb. 15). Exemplarisch genannt sei hier etwa die Annahme, dass die wachsende Technisierung von Leistungserstellungsprozessen, die z.B. die raum-zeitliche Flexibilisierung von Büroarbeit ermöglicht (Telearbeit) und somit dem Beschäftigten potentiell mehr Freiheiten, aber auch den Zwang der eigenen Arbeitsstrukturierung und -einteilung aufer143
legt, ein Grund für Subjektivierung in der Arbeit darstellt (vgl. zur Entfaltung von Telearbeit z.B. Goldmann/Richter 1991; Winker 2001; Büssing et al. 1996, 2003). Ebenso wird die z.B. die Annahme vertreten, dass der reibungslose Ablauf zunehmend hochtechnisierter Leistungserstellungsprozesse im Fertigungsbereich im wachsenden Maße durch subjektive bzw. gering planbare, wenig routinisierbare Leistungen vom Beschäftigten gewährleistet werden muss (etwa i.S.v. „regulativen“ und „extrafunktionalen“ Qualifikationen nach Offe 1970). Des Weiteren werden die hiermit z.T. im Zusammenhang stehenden - und auch hier interessierenden - „postfordistischen“ Arbeitsformen als eine wesentliche Basis für den subjektorientierten Zugriff auf Arbeit thematisiert. Auch der bereits vor mehreren Jahrzehnten konstatierte und zugleich umstrittene Wandel von gesellschaftlichen Arbeitswerten (klassisch: Klages 1984; kritisch z.B.: Behrens 1984) in Form der wachsenden Einforderung von Sinn- und Selbstverwirklichungsansprüchen durch die Beschäftigten („normative Subjektivierung“ vgl. Baethge 1991 und später kritisch: Baethge 1999) wird ebenso als ein möglicher Einflussfaktor für die Subjektivierung in der Arbeit gesehen. In allen Fällen ist der zunehmende Stellenwert von Subjektivität mit einem - betrieblich nicht immer unmittelbar intendierten - relativen Rückgang von eindeutig vorstrukturierten, Subjektivität beschränkenden Situationen im Leistungsprozess verbunden (vgl. Kleemann et al. 2002, S. 58). Abbildung 15: Bereiche der Thematisierung der „Subjektivierung von Arbeit“ Teilbereiche der Thematisierung einer „Subjektivierung von Arbeit“ -
subjektivierendes und subjekthaftes Arbeitshandeln als notwendige Komplemente technisierter Arbeit
-
subjektive Leistungen und Potentiale als Voraussetzung für post-tayloristische Arbeits- und Betriebsorganisation
-
erweitere Anforderungen an subjektive Gestaltungsleistungen im Zuge einer gesellschaftlichen Neustrukturierung des Verhältnisses von „Arbeit“ und „Leben“
-
steigende Erfordernisse an eine eigenlogische Gestaltung der Erwerbsbiographie infolge von Prozessen einer De-Institutionalisierung des Lebenslaufes
-
besondere Anforderungen der Gestaltung der Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse von Frauen
-
normative Subjektivierung von Arbeit infolge des Wandels von Arbeitswerten
Quelle: nach Kleemann et al. (2002, S. 59ff.) Im Folgenden soll dargestellt werden, dass sich der subjektorientierte Zugriff auf Arbeitskraft wesentlich auf der Basis der marktorientierten Prozessgestal144
tung und Dezentralisierung in und von Organisationen entfaltet. In diesem Zusammenhang wird gezeigt, dass die hiermit notwendigen,, je nach Dezentralisierungsreichweite unterschiedlichen Leistungssteuerungsmaßnahmen einer gemeinsamen Logik verbunden sind, welche wesentliche Veränderungen für das herkömmliche kollektive Verständnis von Leistung beinhalten. 4.2.2 Marktorientierte Prozessgestaltung und Dezentralisierung Marktorientierte Prozessgestaltung und Dezentralisierung verfolgen wesentlich das Ziel, eine effiziente und flexible Marktanpassung der organisationalen Leistungserstellung zu erreichen (vgl. Picot et al. 2001). Beide gehen in diesem Sinne Hand in Hand. Das Hauptaugenmerk liegt auf einer stärker am Kunden bzw. am Markt ausgerichteten Wertschöpfung, was neben der Flexibilisierung der organisationalen Strukturen wesentlich durch eine erhöhte Service- bzw. Dienstleistungsorientierung von Unternehmen und Unternehmensteilen erreicht werden soll (zu „industriellen Dienstleistungen“ z.B. im Maschinenbau vgl. Grewer/Reindl 2003). Generell wird der Fokus auf die marktorientierte, effiziente und zeitökonomische Optimierung der Leistungserstellungsprozesse bzw. Wertschöpfungsketten innerhalb der Organisation und zwischen verschiedenen Organisationen gerichtet (vgl. z.B. Hammer/Champy 1993; Osterloh/Frost 1996; Drumm 1996; Töpfer 1996; Gaitanides 1998 zusammenfassend: Staehle 1998, S. 749 ff. oder Picot et al. 2001). Die Orientierung und strukturelle Ausrichtung an den Leistungserstellungsprozessen, d.h. an Ketten zusammenhängender Aktivitäten zur Erstellung eines Produktes bzw. einer Dienstleistung, kennzeichnet dabei einen wesentlichen Gegensatz zur überwiegend funktionalen bzw. verrichtungsorientierten Arbeitsteilung fordistisch geprägter Produktionsmodelle. Diese zielten vorrangig auf eine Produktivitätsoptimierung der einzelnen Unternehmensteile durch funktionale Spezialisierung. Demgegenüber erfolgt die Optimierung nun durch die Integration von (Teil) Funktionen in (stärker) selbstbestimmte und ergebnisverantwortliche Einheiten (=Dezentralisierung) und deren flexible, prozess- bzw. marktorientierte Verknüpfung (=Prozessorientierung). Das heißt, die funktionsspezifische Arbeitsteilung zwischen einzelnen Abteilungen wird aufgehoben, indem bestimmte, miteinander integrierte Funktionen in einer organisatorischen Einheit zusammengefasst werden. Die Einheiten erfüllen damit eine nach außen hin abgrenzbare bzw. abgeschlossene Funktion im gesamten Wertschöpfungsprozess. Hierbei agieren die Einheiten im Rahmen vorgegebener Kontextbedingungen relativ selbstständig und sind zumeist ergebnisverantwortlich. Sie werden häufig über nicht (vollständig) hierarchische Mechanismen 145
miteinander koordiniert. Das heißt, es werden marktähnliche Steuerungsformen in den Organisationen etabliert, so dass beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen einzelnen Segmenten über interne Angebotspreise und entsprechende Nachfrage geregelt wird. Zugleich ermöglicht moderne IuK-Technologie eine informationstechnische Standardisierung der Abwicklung von Austauschprozessen zwischen den Einheiten. Burr (2004) spricht in diesem Zusammenhang von standardisierten Schnittstellen zwischen den Einheiten und meint damit z.B. einheitliche Berichts- und Controllingsysteme. Ziel ist das Erreichen einer hohen, am Markt ausgerichteten Flexibilität bei gleichzeitiger Minimierung der Koordinationskosten (Abstimmungskosten usw.) zwischen den Einheiten (vgl. Frese 1995, S. 282 ff.). Dezentralisierung und Prozessgestaltung können sich dabei auf eine einzelne Organisation als auch auf die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Organisationen erstrecken. So kann es sich z.B. um die Kooperation rechtlich selbstständiger Unternehmen unterschiedlicher Wertschöpfungsstufe (z.B. zwischen Einzelhändler und Produzent) als auch um das Outsourcing und die flexible Inanspruchnahme unternehmensspezifischer Dienstleistungen (z.B. Callcenter oder Softwaredienstleister vgl. Kleemann/Matuschek 2003; Boes 2003) handeln. In dieser Hinsicht lässt sich zwischen „strategischer und operativer Dezentralisierung“ unterscheiden (Faust et al. 1995; vgl. hierzu und zum folgenden auch die Fälle in Kotthoff 1997 oder die kritische Perspektive von Kieser 2002). Strategische Dezentralisierung umfasst dabei „…alle Formen, bei denen Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortlichkeiten auf neu definierte Unternehmenseinheiten oder im Rahmen der bestehenden Unternehmensgliederung an marktnahe Organisationseinheiten verlagert oder aus dem Unternehmen bzw. Unternehmensverbund ausgelagert werden (Externalisierung). Der Begriff strategische Dezentralisierung meint Reorganisationsvorhaben, die sich auf die größere Konfiguration von Unternehmen oder Unternehmensteilen und das assoziierte Netzwerk von Zulieferern und Kooperationspartnern beziehen. Diese Form der Dezentralisierung kann durchaus auch mit Zentralisierung von (strategischen) Kompetenzen einhergehen, mit einem Neuzuschnitt von Zentralisierung und Dezentralisierung zu Lasten mittlerer Ebenen und zentraler Dienstleistungsstäbe.“ (Faust et al. 1995, S. 24)
Die strategische Dezentralisierung kann demnach auch grundlegende Veränderungen der Arbeitsformen, Arbeitsplatzgestaltung sowie Arbeits- bzw. Leistungsanforderungen des einzelnen Organisationsmitgliedes implizieren. Insbesondere die Verlagerung von Verantwortung aus der Hierarchie „nach unten“ und die Schaffung ganzheitlicher Aufgabenzuschnitte in neu geschaffenen Segmenten einer Organisation (z.B. Arbeitsgruppen) bedeuten einen wesentlichen 146
Unterschied zum fordistischen Produktionsmodell. Faust et al. bezeichnen diese Entwicklungen innerhalb von Organisationen als „operative Dezentralisierung“: „Versuche von Unternehmen, operative Kontrolle, Kompetenzen, Verantwortlichkeiten aus der Hierarchie bzw. den indirekten Abteilungen und Stäben nach „unten“, zu den ausführend Beschäftigten bzw. in operative Einheiten zu verlagern. Mit operativer Dezentralisierung sind damit alle Formen von Gruppenarbeit, „selbstständige Produktionseinheiten“, Qualitätszirkel und „kontinuierliche Verbesserungsprozesse“ begrifflich erfasst, die gegenwärtig unter dem Stichwort Lean Production verstärkt propagiert und umgesetzt werden.“ (Faust et al. 1995, S. 23)
Ansätze solcher Veränderungen werden in der deutschen Industriesoziologie (z.B. Kern/Schumann 1984) als auch in der Betriebswirtschaftslehre (z.B. Bleicher 1966; im Zusammenhang mit der technologischen Entwicklung Scholz et al. 1992, insbes. der Aufsatz von Staudt; Picot/Reichwald 1984; Drumm 1996) zunehmend mit Beginn der 80er Jahre intensiv untersucht, beschrieben und diskutiert. Zentriert um Begriffe wie „neue Produktionsformen“ (Kern/Schumann 1984) oder „neuer Rationalisierungstyp“ (Altmann et al. 1986) wurde in der industriesoziologischen Forschung zunächst die Abkehr von der tayloristisch geprägten Produktion in der großindustriellen Fertigung prognostiziert. Heute geht man davon aus, dass sich verschiedene Rationalisierungspfade in industriellen Großorganisationen ausdifferenzieren und partiell sogar eine ReTaylorisierung stattfindet (z.B. Springer 1998; Schumann 1998, 2000). Trotz dieser Beobachtungen findet - selbst dort wo tayloristische Managementprinzipien auf Arbeitsplatzebene revitalisiert oder sogar verschärft worden sind keine lineare Rückkehr oder Beibehaltung der alten Verhältnisse statt. Denn abgesehen von grundlegenden Veränderungen der Arbeitsorganisation stellt die Logik marktorientierter Prozessgestaltung und die Internalisierung marktlicher Leistungssteuerungsmechanismen in Organisationen eine neue Qualität gegenüber der fordistischen Formation dar (z.B. Bender 1997; Dörre 2001/02). Die strategische, organisationsübergreifende Prozessorientierung zeigt sich dabei anschaulich in der wachsenden Anwendung elektronischer Warenwirtschaftssysteme. Diese zielen auf die prozessorientierte Verknüpfung von Einzelhandel, Industrie und industriellem Zulieferer ab (ECR - Electronic Consumer-Response-Systeme). Diese Systeme erfassen Warenbewegungen im gesamten Wertschöpfungsprozess und liefern einem Produzenten z.B. unmittelbar Informationen über den Verkauf eines bestimmten Produktes beim Einzelhändler. Dies ermöglicht die zeitnahe Anforderung notwendiger Vorprodukte vom Zulieferer und eine flexible Herstellung und Nachlieferung jenes Produktes (vgl. Christopherson 2001; Voss-Dahm 2003). Auf diese Weise kommt es zu Einsparungen von Lagerhaltungskosten bei Beibehaltung der eigenen Lieferfähigkeit. 147
Dies illustriert die Rationalisierungslogik der Prozessorientierung in Form der Reduktion und effizienten Gestaltung von Schnittstellen im Wertschöpfungsprozess und das Ziel einer flexibilisierten und zugleich kosteneffizienten Marktanpassung der organisationalen Leistungserstellung (z.B. Reduktion von Durchlaufzeiten, Verringerung von Änderungskosten). Die Prozessorganisation wird demnach wesentlich durch moderne Informationstechnologie unterstützt bzw. getragen. So schreibt Boes über den Stand der Informatisierung und die entsprechende Umgestaltung der Wirtschaft u.a.: „Ein aussagekräftiger Indikator für das Ausmaß der auf Informatisierungsbestrebungen basierenden Möglichkeiten zur Reorganisation der unternehmensinternen und -externen Beziehungen ist die Ausbreitung von Softwarelösungen zur Geschäftsprozessintegration, namentlich Supply-Chain-Management-Systemen (SCM), Customer-Relationsship-Management-Systemen (CRM) und EnterpriceRessource-Planning-Systemen (ERP). Deren Verbreitung in den Unternehmen in der Bundesrepublik wird in der aktuellen Studie „The European e-business market watch“ (European Commission 2003) nachgewiesen. Demnach beläuft sich im Jahre 2003 die Durchdringung mit ERP in den Unternehmen (nach Beschäftigten gewichtet) auf 39%.“ (Boes 2005, S. 26)
Des Weiteren trägt Boes (2005) Daten zur wachsenden Verbreitung des OnlineDatenaustauschs zwischen Unternehmen (Abwicklung, Einkauf und Beschaffung) zusammen, die ebenfalls einen wichtigen Indikator für die Reorganisation von betriebsübergreifenden Wertschöpfungsketten darstellen (vgl. Abb. 16). Abbildung 16: Gestaltung betriebsübergreifender Wertschöpfungsketten über elektronischen Datenverkehr Art des elektronischen Datenverkehrs Online Datenaustausch (z.B. zwischen Zulieferer und Geschäftskunde) Online Abwicklung von Geschäftsverfahren Online Beschaffung (Vorprodukte, Produktionsmittel, Dienstleistungen)
1999
2001
22%
28%
15%
19%
26%
49%
Quelle: Empirica 2001, entnommen aus Boes (2005, S. 26) 148
Die Unterscheidung von strategischer und operativer Dezentralisierung sowie die hiermit implizierten, unterschiedlichen organisationalen Reichweiten einer marktorientierten Prozessorganisation verdeutlichen, dass die „postfordistisch“ geprägten Organisationsstrukturen sehr unterschiedliche Konsequenzen für Arbeitsplatzzuschnitte und Leistungsanforderungen der betroffenen Organisationsmitglieder haben können (vgl. Picot et al. 2001, S. 214 ff.). So wird bei der Durchsetzung einer marktorientierten Prozessorganisation die Dezentralisierung, allgemein zu verstehen als Funktionsintegration und Übertragung von Verantwortung, nicht notwendig auf allen (Arbeitsplatz-) Ebenen einer Organisation durchgeführt. So kann Dezentralisierung z.B. in Form der Ausgründung eines Callcenters stattfinden, was nicht bedeutet, dass sich die Dezentralisierung bis auf alle personellen Ebenen des Callcenters fortsetzt und sich etwa in offiziell angereicherten Aufgabenzuschnitten für die Mitarbeiter an der „front-line“ niederschlägt. Im Gegenteil: im Interesse der geforderten Wirtschaftlichkeit des gesamten Callcenters liegt es näher, leicht ersetzbare Aufgaben wie die an der „front-line“ eher durch quantitativ als durch qualitativ flexibilisierten Personaleinsatz zu rationalisieren (beispielhaft für den Bankenbereich: Gilbert 2001). In diese Richtung argumentiert auch Frese (2004), wenn er eine Möglichkeit zur Steigerung der Kosteneffizienz in Unternehmen in der Etablierung eines fiktiven oder realen Wettbewerbs zwischen Unternehmensteilen sieht (vgl. zur Funktionslogik des „internen“ Marktes Frese 2004). In diesem Sinne kann Dezentralisierung auf Gesamtunternehmensebene bzw. die Übertragung von Profit- oder Kostenverantwortung auf vorher hierarchisch integrierte Unternehmensteile auch die Forcierung tayloristischer Arbeitsformen in diesen Unternehmensteilen nach sich ziehen. Dezentralisierung im Sinne von Funktionsintegration wird also nur dort bzw. nur auf den personellen Ebenen stattfinden, wo das entsprechende Rationalisierungspotential durch ganzheitliche Aufgabenzuschnitte jenes einer hohen Arbeitsteilung übersteigt. 4.2.2.1 Die Logik der marktförmigen Leistungssteuerung Wie schon erwähnt, korrespondieren die aktuellen organisationsstrukturellen Entwicklungen mit einer neuartig marktförmigen Steuerung menschlicher Leistung. Dieser neuartige Steuerungsmodus wird in der Literatur unter unterschiedlichen Begriffen gehandelt. „Indirekte Steuerung“ oder „berührungslose Steuerung“ (Hack 1988) seien hier als Beispiele genannt (vgl. stellvertretend Bender 1997; vgl. auch Bahnmüller 2001, S. 12 ff.; grundlegend zur unpersönlichen Dimension organisationaler Kontrolle Türk 1981). Mit Kratzer lässt sich diese Problematik zunächst auf den Punkt bringen: 149
„Das „Neue“ dabei ist zum einen die stärkere Ausrichtung am marktbewerteten Ergebnis bzw. Erfolg, d.h. an marktorientierten Kennziffern und damit eine tendenzielle Abkehr von den produktionsorientierten Kennziffern der fordistischen Zeitund Produktionsökonomie bzw. Leistungspolitik. Zum anderen besteht das „Neue“ in der forcierten informatorischen Durchdringung der Prozesse und Funktionen, die somit in weitergehender Weise für die zentrale Steuerung auch dezentraler Strukturen anschlussfähig und „bewertbar“ gemacht werden.“ (Kratzer 2005, S. 257)
Generell lässt die Funktionsintegration in einzelne organisationale Einheiten und deren flexible prozessorientierte Verknüpfung eine Form der zentralen Leistungssteuerung ineffizient werden, die vornehmlich an der zentralen Vorgabe und direkten Kontrolle einzelner Arbeitsschritte für die Organisationsmitglieder in den Einheiten ansetzt. Vielmehr geht es um die zentrale Optimierung und flexible sowie effiziente Einpassung der jeweiligen Segment- oder Modulfunktion in den gesamten Leistungserstellungsprozess. Die zentrale Steuerung erfolgt somit nicht direkt über die Vorgabe und zentrale Optimierung einzelner Leistungserstellungsverfahren, sondern vornehmlich über die Vorgabe entsprechender prozessspezifischer Outputgrößen. Die in sich geschlossene bzw. integrierte Leistung des betreffenden Segmentes wird also in Bezug auf den spezifischen Beitrag zum gesamten, z.T. unternehmensübergreifenden Leistungserstellungsprozess gesetzt und über die Vorgabe entsprechender Größen gesteuert. Generell geht es dabei um die Optimierung des gesamten Leistungserstellungsprozesses in Hinblick auf die Anforderungen des Leistungsabnehmers bzw. Kunden. Bender (1997, S. 25) spricht in diesem Zusammenhang vom „Denken vom Ende der betrieblichen Prozesskette“ und der Entwicklung eines „funktionalen Leistungsbegriffes“ (S. 222). Mit letzterem soll ausgedrückt werden, dass der Beitrag eines Segmentes nur in Bezug auf seine Funktion zum gesamten Wertschöpfungsprozess als „Leistung“ definiert wird (vgl. Parallelen zu Burrs (2004) Entwurf einer modularen Dienstleistungsarchitektur). Bender schreibt: „Kennzeichnend für die dem zugrundeliegende Konzipierung betrieblicher Abläufe ist, dass zu produzierende Leistungen aus der Perspektive potentieller oder aktueller Nachfrager nach dieser Leistung - also vom Ende her - in Begriffen wie Qualitätsanforderung, Preis oder Termintreue beurteilt und dementsprechend „dosiert“ werden. Die einzelnen Arbeitsprozesse werden also, in Abstraktion von der konkreten Form der Ablauforganisation, als Teile eines zu optimierenden Gesamtprozesses gedacht, und die konkrete Steuerung von Arbeitsvollzügen, durch die ein solcher Arbeitsprozess erst konstituiert wird, erhält ihre Kriterien vom geforderten Resultat, nämlich der Funktion der Teilprozesse her.“ (Bender 1997, S. 25, H.i.O.)
150
Um die effiziente Leistungserstellung in den Segmenten und deren optimale Abstimmung untereinander, also eine effiziente und effektive Gestaltung der Schnittstellen im Leistungserstellungsprozess zu erreichen, bedient man sich marktlich ausgerichteter Steuerungsmechanismen („Vermarktlichung“, vgl. Abb. 17). Diese können in Abhängigkeit vom Dezentralisierungsgrad unterschiedliche inhaltliche Ausprägungen erfahren. Moldaschl/Sauer unterscheiden z.B. zwischen „realer“ und „simulierter“ Vermarktlichung von Organisationen: „Werden im Falle „simulierter“ Märkte die quasi-marktlichen Handlungsbedingungen vom Management gestaltet (Kontextsteuerung), so stehen im anderen Fall die Organisationseinheiten, z.B. Business Units, unmittelbar dem externen Markt gegenüber (Ergebnissteuerung).“ (Moldaschl/Sauer 2000, S. 215)
Aus der Sicht einer sich dezentralisierenden Organisation findet reale Vermarktlichung bei strategischer Dezentralisierung Anwendung. Simulierte Vermarktlichung bezieht sich zumeist auf die Steuerung dezentraler Einheiten innerhalb von Organisationen und betrifft somit vornehmlich die Ausgestaltung operativer Dezentralisierung. Moldaschl/Sauer (2000) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Tendenzen der Vermarktlichung keine Einbahnstraße darstellen, sondern auch umgekehrt ehemals reale Marktbeziehungen zwischen Organisationen zu simulierten Marktbeziehungen werden können. Das ist etwa bei der Entstehung von Unternehmensnetzwerken der Fall, welche als „hybride Koordinationsformen“ zwischen Markt und Hierarchie bzw. „quasi firm“ angesehen werden können (vgl. Picot/Dietl 1990; Sydow 1993, S. 98 ff.). Moldaschl/Sauer formulieren: „Einerseits finden marktliche Prinzipien Eingang in die planwirtschaftliche Binnenstruktur der Unternehmen (Internalisierung des Marktes). Andererseits werden in den sich herausbildenden Produktions- und Dienstleistungsnetzen,die bislang zwischen den Unternehmen vorherrschenden externen, marktförmigen Austauschbeziehungen von hierarchisch strukturierten Formen der Steuerung und Kontrolle überformt.“ (Moldaschl/Sauer 2000, S. 206)
Simulierte Vermarktlichung innerhalb von Organisationen kann unterschiedliche Gestaltungsformen annehmen. Frese (2004) spricht in diesem Zusammenhang z.B. von „fiktiven“ und „realen“ internen Märkten. Hiernach handelt es sich um einen realen internen Markt, wenn intern ausgehandelte Preise eine tatsächliche Koordinationsfunktion zwischen den dezentralisierten Unternehmenssegmenten erfüllen und für die Segmente Verhandlungsspielräume in Bezug auf die Festlegung bestimmter Leistungsmerkmale (Art, Qualität, Menge, Ort und Zeit) bestehen. Frese illustriert: 151
„Ein Beispiel für einen realen internen Markt bildet die Inanspruchnahme einer zentralen Marktforschungsabteilung durch interne Preise. Die Unternehmensbereiche entscheiden unter eigenständiger Verfolgung ihrer bereichsindividuellen Zielfunktion, ob die Marktforschungskosten geringer sind als der erwartete Nutzen der Dienstleistung.“ (Frese 2004, S. 557)
Oftmals hat man es dabei mit einer Vermischung von echter und simulierter Vermarktlichung zu tun, da unternehmensinterne Dienstleister sich häufig auch am externen Markt profilieren müssen (z.B. Personalberatungsdienstleistungen). In fiktiven internen Märkten erfüllt der Preis keine Koordinationsfunktion zwischen den betroffenen Unternehmenssegmenten (z.B. wie bei der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalt ZDF vgl. Frese 2001). Der Transaktionsprozess wird hier nach wie vor durch zentrale Planung gestaltet, d.h. es existieren keine Spielräume hinsichtlich der flexiblen Inanspruchnahme eines Segmentes. Die Festlegung interner Preise bzw. der Ausweis monetärer Bereichserfolge erfüllt hier vor allem die Funktion eines einzuhaltenden bzw. anzustrebenden Standards und zielt somit auf die Anreizwirkung hinsichtlich einer effizienten Selbststeuerung der Segmente, da an die Einhaltung der Vorgaben zumeist bestimmte „leistungsvariable“ Budgetzuteilungen geknüpft sind (vgl. Abb. 17). Abbildung 17: Formen der Vermarktlichung Reale Vermarktlichung: Organisationen/Organisationseinheiten agieren unmittelbar am Markt Simulierte Vermarktlichung: Organisationseinheiten agieren unter quasi-marktlichen Handlungsbedingungen, die von der Organisationsleitung innerhalb der Organisation gestaltet werden („interne Märkte“) Möglichkeiten der simulierten Vermarktlichung: a) fiktive interne Märkte: interne Preise haben keine unmittelbare Koordinationsfunktion zwischen den Organisationseinheiten, keine Spielräume für die Inanspruchnahme einer Organisationseinheit bzw. deren Leistung durch eine andere b) reale interne Märkte: intern ausgehandelte Preise haben eine tatsächliche Koordinationsfunktion zwischen den Organisationseinheiten, Verhandlungsspielräume in Bezug auf die Festlegung bestimmter Leistungsmerkmale (Art, Qualität, Menge, Ort und Zeit) und die Inanspruchnahme einer anderen Organisationseinheit bestehen
Quelle: nach Moldaschl/Sauer (2000) sowie Frese (2004)
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Im Rahmen von Prozessorientierung und Dezentralisierung erfolgt die zentrale Leistungssteuerung in Organisationen demnach wesentlich über die Vorgabe bzw. marktliche Aushandlung und Bewertung der jeweiligen Beiträge bzw. Leistungen der einzelnen Segmente zum gesamten Wertschöpfungsprozess. Die traditionelle Leistungssteuerung in Form der Vorgabe und Kontrolle von Verfahrensgrößen bzw. von Inputgrößen des Leistungsprozesses wird somit zunehmend durch die Vorgabe und z.T. marktliche Aushandlung von Outputgrößen abgelöst (z.B. Voswinkel 2000). Generell hat man es somit mit einer wachsenden „Explikation“ von quantifizierten Leistungsvorgaben zu tun. Diese Vorgaben können sich dabei für den Einzelnen - je nach Stellung und Einbindung im jeweiligen Segment - zum einen auf die zu erreichenden Ergebnisse des Leistungsprozesses richten (sachlich, sozial, ökonomisch vgl. Kap. 3) zum anderen auch auf Größen des Leistungsvollzuges bzw. -prozesses beziehen. Ersteres zeigt sich z.B., wie oben schon angedeutet, in der Vorgabe betriebswirtschaftlicher Kennzahlen, wie Umsatzbeitrag der eigenen Abteilung, Anteil der Finanzierung am externen Markt, Projekteinwerbung oder Qualität und Menge von im Segment produzierten Gütern (vgl. Bender 1997; Faust et al. 2000; Bahnmüller 2001). Vorgaben in Bezug auf den Leistungsprozess sind z.B. Größen für die kooperative und flexible Zusammenarbeit in Fertigungsgruppen (z.B. Bender 1997), Größen der Maschinenauslastung im Fertigungsprozess (z.B. Moldaschl 1994), Vorgaben in Bezug auf kundenfreundliche Beratung oder hinsichtlich der Länge der Gesprächsdauer im Callcenter (vgl. Holtgrewe 2002; Knights/McCabe 2003). Diese Größen beziehen sich weniger auf Menge, Qualität oder Markterfolg des eigentlichen Leistungsergebnisses in sachlicher, sozialer oder ökonomischer Hinsicht, sondern versuchen vielmehr zu definieren, in Bezug auf welche Ziele der eigentliche Leistungsvollzug auszurichten ist (Worauf soll im Leistungsvollzug (im Sinne der Marktorientierung) geachtet werden?). Lehndorf schreibt zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Steuerung im Dienstleistungsbereich: „Marktsteuerung per Kennziffern kann je nach Dienstleistungsbranche, aber auch je nach Unternehmen die unterschiedlichsten Formen annehmen. In vielen ITUnternehmen, deren Dienstleistungen projektförmig erbracht werden, wird für bestimmte Servicepakete ein Festpreis mit dem Kunden ausgehandelt, der auf der Basis des für die Leistung erforderlichen Arbeitsvolumens kalkuliert wurde. Diese Stundenzahl wird dann - möglicherweise mit anderen Zielwerten wie z.B. dem Anteil indirekter Kosten - zur zentralen Größe des Controlling. Im großflächigen Einzelhandel geben die Zentralen vieler Unternehmen den einzelnen Geschäften oder Abteilungen beispielsweise maximale Personalkosten im Verhältnis zum Umsatz als Benchmark vor …“ (Lehndorf 2003, S. 163)
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Mit der empirisch indizierbaren Explikation von Leistungsvorgaben (z.B. Bullinger et al. 2000; Franz et al 2000; Bahnmüller 2001) ist häufig zugleich eine Dynamisierung der Leistungssteuerung verbunden. Diese kann einerseits in der marktlich begründeten, flexibilisierten Festlegung der jeweiligen Größen liegen. Das heißt, je nach Situation werden entsprechende Größen relativ dynamisch vereinbart (z.B. in halb- oder vierteljährlichen Zielvereinbarungen). Zum anderen handelt es sich häufig um Größen, die selbst einen dynamischen Charakter haben bzw. keine feststehenden oder objektiven Obergrenzen aufweisen. So erscheint „kundenfreundliches Verhalten“ stetig steigerbar (ähnlich z.B. Blutner et al. 2002) bzw. kann es sich auch bei „Umsatzbeiträgen der eigenen Abteilung“ um eine relative Größen handeln. Generell werden die Vorgaben dabei von den Zielgrößen eines optimalen Leistungserstellungsprozesses bzw. vom generell zu erreichenden Unternehmensziel auf die einzelnen Einheiten heruntergebrochen („funktionaler Leistungsbegriff“ von Bender 1997). Exemplarisch für diese Grundidee steht z.B. die Balanced Scorecard als ein derzeit modernes Steuerungsinstrument der organisationalen Leistung (vgl. Kaplan/Norton 1997; hinsichtlich entsprechender Implementierungsprobleme vgl. Hirsch 2006). Ausgehend von den zu erreichenden finanziellen Zielen einer Organisation werden über die Identifikation von Ursache-Wirkungs-Beziehungen wiederum Ziele für die hierfür notwendigen Leistungserstellungsprozesse festgelegt. Besonders wichtig ist dabei die kennzahlenmäßige Erfassung und Messbarkeit der entsprechenden Größen, die Soll-Ist Vergleiche und damit gezielte Steuerungseingriffe ermöglichen sollen. Wie oben im Zusammenhang mit den elektronischen Warenwirtschaftssystemen angedeutet, werden solche Steuerungsformen wesentlich durch moderne Informationstechnologie unterstützt. Die informationstechnische Durchdringung, etwa in vereinheitlichten Berichts- und Controllingsystemen, ermöglicht die kennzahlenmäßige Abbildung der Leistungsbeiträge einzelner Segmente und erlaubt neben der unmittelbaren Steuerung auch deren spezifische Bewertung und liefert somit auch Ansatzpunkte für die Gewährung entsprechender Gegenleistungen an die Beschäftigten (vgl. Boes 2003). Dabei soll die Funktionsintegration, die Übertragung von Ergebnisverantwortung in die Segmente und deren entsprechende Kontrolle und Bewertung anhand ihrer prozessspezifischen Beiträge, zugleich eine an den zentralen Unternehmenszielen ausgerichtete Selbstorganisation und -rationalisierung bezwecken. Dies impliziert auch neue Anforderungen an die Beschäftigten, welche sich in wachsendem Maße mit den ökonomischen Rahmenbedingungen ihrer Erwerbsarbeit konfrontiert sehen und auseinandersetzen müssen (vgl. Lehndorf 2001/02, S. 42; Lehndorf 2003). Wie dies aussehen kann, soll in den folgenden Abschnitten näher beleuchtet werden.
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4.2.2.2 Marktförmige Leistungssteuerung durch personelle Rationalisierungsstrategien Die Dezentralisierung von Organisationsstrukturen und die Vermarktlichung der organisationalen Steuerungsformen (zusammengenommen: „ökonomische Dezentralisierung“, Moldaschl/Sauer 2000, S. 207) kann mit neuen inhaltlichen Anforderungen der Arbeitsaufgabe und neuen Arbeitsformen für die Beschäftigten einhergehen. Das potentielle Ausmaß und der Inhalt neuer Aufgabeninhalte und somit zugleich der spezifische Zuschnitt der Leistungssteuerung ist dabei davon abhängig, in welcher Form das Prinzip der ökonomischen Dezentralisierung für den Einzelnen entfaltet wird. So veranlasst die hinzugewonnene Kosten- oder Profitverantwortung der dezentralisierten Organisationseinheiten generell deren Suche nach personellem Rationalisierungspotential, wobei dies sich nicht zwangläufig in funktional angereicherten Arbeitsformen niederschlägt. Im Rahmen marktorientierter Prozessorganisation kann Dezentralisierung auf unterschiedlichen (Arbeitsplatz-)Ebenen einer Organisation durchgeführt werden und muss sich dementsprechend nicht für alle Beschäftigten in gleicher Ausprägung ergeben. Verbleibt der Dezentralisierungsvorgang z.B. auf der Makroebene einer Organisation bzw. hat die Gestalt einer strategischen Dezentralisierung, z.B. die Ausgründung eines Callcenters, ist anzunehmen, dass die Mitarbeiter der Managementebene im Callcenter nun einen höheren Verantwortungsbereich als vorher innehaben. Eine ähnliche Verantwortungs- oder Aufgabenerweiterung für die Beschäftigten auf der operativen Ebene des Callcenters ist in Anbetracht des spezifischen personellen Rationalisierungspotentials bei leicht substituierbaren Tätigkeiten im Callcenter (z.B. Outbound Callcenter vgl. Strawe 2001; Brasse et al. 2002; Kleemann/Matuschek 2003) jedoch nicht zu erwarten. Eher gegenteilig verhält es sich bei der Ausgründung von Software und ITDienstleistungen. Die hochqualifizierten und kreativen Leistungen werden hier vorrangig in projektförmiger Arbeitsorganisation erbracht (vgl. Boes 2003). In diesem Sinne kann strategische Dezentralisierung also mit operativer Dezentralisierung für alle Beschäftigten der Organisationseinheit verbunden sein, muss es aber nicht. Generell soll im Folgenden gezeigt werden, dass die ökonomische Dezentralisierung von Organisationen die Forcierung und Abschöpfung personellen Rationalisierungspotentials verstärkt bzw. diesen Bestrebungen einen anderen Charakter als im fordistischen Modell verleiht (vgl. z.B. auch die Thematisierung der „Individualisierung“ der Personalwirtschaft und ihrer Instrumente Drumm 1989; Scholz 1997 oder der Ansatz eines ressourcenorientierten Personalmanagements vgl. Ridder et al. 1999). Dabei wirkt die „Durchinformatisierung“ bzw. differenzierte informationstechnische Durchdringung und kennzah155
lenmäßige Abbildung der Leistungserstellungsprozesse und auch deren dadurch z.T. ermöglichte Standardisierung als wesentlicher Einflussfaktor für die Umsetzung stärker dezentralisierter als auch stärker standardisierter Arbeitsformen (vgl. z.B. zur Einschränkung der Gestaltungsspielräume von Beschäftigten im Einzelhandel durch elektronische Warenwirtschaftssysteme Voss-Dahm 2003). Trotz unterschiedlicher personeller Rationalisierungsstrategien geht es bei diesem „modernen Zugriff“ auf menschliche Arbeitskraft (Conrad/Manke 2002) darum, die Selbstmanagementfähigkeiten und das Flexibilisierungspotential der Beschäftigten aufzuschließen. Diese Intention wird im Rahmen der ökonomischen Dezentralisierung durch das Prinzip der formalen und informalen Delegation von Aufgaben, Kompetenzen und/oder Verantwortung auf die „unteren Ebenen“ widergespiegelt, wobei die Form, der Inhalt und das Ausmaß dieser Delegation jedoch sehr unterschiedlich ausfallen können. In Bezug auf die Delegationsform lassen sich die „fremdorganisierte“ bzw. „abhängige“ und „unabhängige Selbstorganisation“ der Arbeit (vgl. Pongratz/Voß 1997; Conrad/Manke 2002) unterscheiden. Diese beziehen sich auf unterschiedliche vertragliche Bindungsstrategien des Personaleinsatzes. Fremdorganisierte Selbstorganisation kennzeichnet Dezentralisierung im Rahmen unselbstständiger Erwerbsarbeit. Diese Form zeichnet sich durch erweiterte, aber über Organisation und Führung „fremd“ vorgegebene Autonomiechancen aus: „Die erheblich erweiterten Handlungsspielräume bleiben in den arbeitsvertraglich typischen Weisungs- und Unterordnungszusammenhang eingebunden.“ (Conrad/Manke 2002, S. 178). Dagegen verwandelt sich das hierarchische Weisungs- und Kontrollverhältnis beim zweiten Typ in eine vertragliche Beziehung mit befristeter Dauer, in der Zusammenarbeit und Leistungsbeziehung fallweise geregelt und das Ergebnis nach Art, Menge, und Fertigstellungszeitpunkt genau festgelegt wird - der Leistungserbringer ist nun unternehmerisch selbstständig (z.B. im Zusammenhang mit Telearbeit vgl. Goldmann/Richter 1991 Huws 2001; zunehmende „Prekarisierung“ im Journalismus und in Kulturberufen vgl. Gottschall 1999 und Gottschall/Schnell 2000; speziell in der Film- und Fernsehbranche vgl. Marrs/Boes 2003 oder Erkenntnisse zu „Freelancern“ z.B. in der IT-Branche vgl. z.B. Süß 2006). Formal bleibt diese Form der „Selbstständigkeit“ dann, wenn sie mit großer wirtschaftlicher Abhängigkeit vom Auftraggeber verbunden ist. Generell kann die unabhängige Selbstorganisation der Arbeit als prototypische Form der Dezentralisierung und marktförmigen Steuerung menschlicher Leistung betrachtet werden - quasi als „strategische Dezentralisierung auf Mikroebene“ (vgl. generell zu neuen Beschäftigungsformen: Martin/Nienhüser 2002; Mayrhofer/Meyer 2002; Moldaschl 2003; Nienhüser 2006).
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Neben dem vertraglichen Kriterium lassen sich personelle Rationalisierungs- bzw. Flexibilisierungsstrategien auch nach dem spezifischen Flexibilisierungspotential oder -inhalt unterscheiden. Kreimer (1998) unterscheidet in diesem Sinne zwischen numerischer und funktionaler Flexibilisierung. Numerische Flexibilisierung bezieht sich auf die flexible quantitative Anpassung des Personalbestandes an die Dynamik des Marktes, z.B. in Bezug auf Nachfrageschwankungen im Einzelhandel bzw. an die Auftragslage oder finanzielle Situation der jeweiligen Organisation(seinheit). Diese Anpassung wird z.B. über befristete Arbeitsverhältnisse, Teilzeitbeschäftigung als auch formale Selbstständigkeit erreicht und ermöglicht ebenso wie die „Flexibilisierung über Selbstständigkeit“ die flexible Gestaltung des Kostenfaktors Personal (vgl. Voss-Dahm 2003 zur Situation im Einzelhandel oder Trautwein-Kalms/Ahlers 2003 zur Arbeitszeitflexibilisierung bei IT-Dienstleistern). Funktionale Flexibilisierung beinhaltet demgegenüber Formen der operativen Dezentralisierung, setzt auf die formale inhaltliche Anreicherung von Arbeitsaufgaben für den Beschäftigten und zielt somit auf die Erschließung der subjektiven Potentiale der aufgabenbezogenen Selbstorganisation. Wie oben angedeutet, fand diese funktionale Flexibilisierung insbesondere im Fertigungsbereich besondere Aufmerksamkeit in Industriesoziologie und Arbeitswissenschaften (z.B. kritisch: Moldaschl 2002a). Die verschiedenen vertraglichen Bindungsstrategien und die unterschiedlichen Flexibilisierungsstrategien in Bezug auf Qualität und Quantität des Personals können in unterschiedlichen Kombinationen auftreten. So impliziert die Forcierung vertraglicher Selbständigkeit zugleich Möglichkeiten der numerischen als auch der funktionalen Flexibilisierung. Formal abhängige Selbstorganisation kann ebenfalls sowohl mit numerischer (KAPOVAZ = kapazitätsorientierte variable Arbeitszeit, BAVAZ = bedarfsorientierte variable Arbeitszeit) als auch mit funktionaler Flexibilisierung einhergehen (teilautonome Gruppenarbeit, angereicherter Einzelarbeitsplatz). Welcher Kombinationsbereich sich für den einzelnen Beschäftigten ergibt, hängt wesentlich von dessen Tätigkeit und Qualifikation ab bzw. von der Frage, wie unternehmensspezifisch nutzbringend dessen einzubringende, subjektiven Kompetenzen und Potentiale für den jeweiligen Leistungsprozess eingeschätzt werden (vgl. Ridder et al. 2001, S. 25ff.) also mit welchem Subjektivitätsbedarf die jeweilige Tätigkeit verbunden ist, um die Anforderungen des marktorientierten Leistungsprozesses zu erfüllen. Hiernach richten sich der Inhalt und das Ausmaß der abzuschöpfenden subjektiven Potentiale des Einzelnen und dementsprechend auch die Anwendung bestimmter Personaleinsatzstrategien. Je höher z.B. dieses Potential in Bezug auf die inhaltliche Bewältigung der Tätigkeit eingeschätzt wird, desto höher ist das Ausmaß der funktionalen Flexibilisierung bzw. operativen Dezentralisierung für 157
den Beschäftigten anzunehmen. Weiterhin kann aus vertragstheoretischer Perspektive (vgl. Williamson 1975; 1985; Picot/Dietl 1990) angenommen werden, dass hoch unternehmensspezifische Tätigkeiten, welche zudem kontinuierlich im Leistungserstellungsprozess benötigt werden, eher in fremdorganisierter bzw. abhängiger Selbstorganisation als in Selbstständigkeit erbracht werden (vgl. z.B. Mayer-Ahuja/Wolf 2004, S. 85ff.). Das jeweilige Ausmaß der funktionalen Dezentralisierung und deren vertragliche Gestaltung entscheiden dabei auch über den Charakter der entsprechenden Leistungsvorgaben. Wie oben festgestellt, kann generell von einer wachsenden Explikation von Leistungsvorgaben ausgegangen werden. Diese Vorgaben können sich dabei auf den Leistungsvollzug als auch auf das Leistungsergebnis beziehen. Die Leistungserbringung in selbstständiger Selbstorganisation wird dabei größtenteils über die Merkmale des Leistungsergebnisses definiert (z.B. Termin- und Finanzvorgaben bei IT-Projekten) und weniger über die Erfüllung von Vorgaben zum Leistungsprozess selbst (z.B. Indikatoren der individuellen Arbeitszeit, vgl. Lehndorf 2003; Kalkowski 2004). Der Abbau von Hierarchieebenen und die Übertragung von Kompetenzen und Verantwortung auf die unteren Ebenen im Rahmen der operativen Dezentralisierung führt zu einem erhöhten Entscheidungsspielraum vor Ort und macht den „traditionellen, auf detaillierte und direktive Verhaltensvorgaben setzenden Steuerungsmodus obsolet.“ (Bahnmüller 2001, S. 13). Auch in unabhängiger Selbstorganisation wird ein hohes Ausmaß funktionaler Integration daher eine eher outputorientierte Leistungssteuerung bedeuten. Entsprechende Ausprägungen für abgestuftere Grade der funktionalen Dezentralisierung und Formen der numerischen Flexibilisierung müssten demgegenüber stärker kontextspezifisch betrachtet werden (vgl. z.B. Schmierl 1995; Bender 1997). Ein wesentlicher Anhaltspunkt für bestimmte Unterschiede in der Gewichtung dieser Vorgaben kann z.B. im Ausmaß der individuellen Zurechenbarkeit eines Ergebnisses gesehen werden. Empirische Befunde weisen z.B. darauf hin, dass in operativ dezentralisierten Arbeitsformen im Fertigungsbereich, z.B. im Maschinenbau und in der Automobilproduktion, die bereits vorherrschende Leistungsdefinition über Ergebnisgrößen (klassisch: individueller Zeit- oder Mengenakkord) zwar spezifisch angepasst, aber prinzipiell beibehalten (Gruppenergebnis in Menge und Qualität), jedoch um prozess- bzw. inputbezogene Vorgaben ergänzt wird. Diese Vorgaben beziehen sich wesentlich auf die effiziente Zusammenarbeit und das jeweils individuelle Verhalten in den funktional angereicherten bzw. neu etablierten Gruppenarbeitsformen (vgl. Moldaschl 1994; Schmierl 1995; Bender 1997; vgl. Abb. 18).
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Abbildung 18: Indikatoren zur Bestimmung individueller und kollektiver Leistungszulagen in verschiedenen Unternehmen Automobilproduzent Individuelle Leistungszulage im Produktionsbereich: - Bezugspunkt der Beurteilung sind die „besonderen Erwartungen“ des Automobilproduzenten an die Mitarbeiter: Zusammenarbeit, Qualitätsbewusstsein, Flexibilität und Initiative - diese Erwartungen werden anhand eines Kriterienkataloges spezifiziert und in jeweils vier Einzelmerkmale aufgeschlüsselt (individuelles Verhalten kann also an 12 Kriterien beurteilt werden)
Chemische Industrie I Individuelle Leistungszulage: - Beurteilung erfolgt anhand eines Formulars mit 7 Beurteilungskriterien: Quantitatives Arbeitsergebnis, Qualitatives Arbeitsergebnis und Termineinhaltung, Selbstständigkeit, Initiative und Motivation, Flexibilität und Belastbarkeit, Denkvermögen und Kreativität, Kostenbewusstsein und Zusammenarbeit - für Funktions- und Führungskräfte kommen hinzu: Organisation, Einsatz, Delegation, Förderung, Motivierung, Information
Chemische Industrie II Individuelle Leistungszulage: - Leistungsbeurteilung nach den Kriterien: Arbeitsquantität und –qualität, Arbeitseinsatz, Arbeitssorgfalt, betriebliches Zusammenwirken Leistungszulage auf Gruppenbasis: - Beurteilung des Gruppenverhaltens durch „Arbeitsbewertungskommission“ (Vertreter aus Personalbereich, Qualitätssicherung, Vorgesetzte der Antriebsgruppe, Vertreter des Betriebsrates, Gruppensprecher): - Kriterien: Sauberkeit, Umgang mit Betriebsmitteln vorbeugende Instandhaltung, Weiterbildungsmaßnahmen der MA, Qualitätsverhalten und Zusammenarbeit in der Gruppe
Quelle: Bender 1997 Auch in den numerischen Flexibilisierungsformen kann je nach Kontext und Tätigkeit eine Mischung aus Leistungsvollzugs- und Ergebnisgrößen angenommen werden. Ein wichtiges Kriterium für die Gewichtung der Vorgaben kann auch hier in der individuellen Zurechenbarkeit eines Leistungsergebnisses gesehen werden. So wird bei gering qualifizierten Tätigkeiten im interaktiven Dienstleistungsbereich - und somit schwer vom Beschäftigten allein kontrollierbarem Leistungsprozess (shop floor im Einzelhandel, front line im Callcenter, front office im Bankbereich) - bei numerischer Flexibilisierung z.B. häufig über 159
Vorgaben zum Leistungsvollzug gesteuert (z.B. Holtgrewe 2002; Voss-Dahm 2003). Ausgehend von diesen konzeptionellen, z.T. empirisch stützbaren Überlegungen lassen sich zusammenfassend folgende Schlussfolgerungen treffen: Die qualitative Flexibilisierung von Personal wird eher auf hoch- und unternehmensspezifisch qualifizierte Beschäftigtengruppen Anwendung finden, deren Arbeitskraft kontinuierlich im Arbeitsprozess benötigt wird. Der Leistungsvollzug dieser Beschäftigten wird dabei stärker über Vorgaben zum Leistungsergebnis gesteuert werden. Die qualitative und parallele quantitative Flexibilisierung wird demgegenüber auch auf hoch-, jedoch weniger unternehmensspezifisch qualifizierte Personen zutreffen, deren Arbeitskraft nicht kontinuierlich benötigt wird. Die Leistungssteuerung wird dabei ebenfalls eher über Vorgaben zum Leistungsergebnis stattfinden. Die geringe qualitative als auch quantitative Flexibilisierung des Arbeitskrafteinsatzes wird stärker auf Beschäftigte zutreffen, die in mittlerem bis geringem sowie zu geringem Grad unternehmensspezifisch qualifiziert sind, deren Arbeitskraft kontinuierlich benötigt wird. Es ist anzunehmen, dass hier stärker als in den vorhergehenden Fällen über Prozessbzw. Leistungsvollzugsvorgaben gesteuert wird. Gering qualitative, jedoch hoch quantitative Flexibilisierung wird eher auf Teile des Personals zutreffen, die eine hohe und mittlere bis geringe Qualifikation mit extrem geringer Unternehmensspezifik aufweisen und deren Arbeitskraft nicht kontinuierlich benötigt wird. Die Steuerung erfolgt eher über Vorgaben zum Ergebnis. In Bezug auf diesen letzten Fall unterscheidet sich der zweite, hohe qualitative und quantitative Flexibilisierung, darin, dass hier eher quantitative Flexibilisierung in Form von formaler Selbstständigkeit stattfindet und daher, wenn auch mglw. kritische „Qualifizierung“ der Tätigkeit eintritt. Abbildung 19 gibt einen Überblick über idealtypische Ausprägungen von Rationalisierungsstrategie, Beschäftigungsgruppe und die Ausprägung von Leistungsvorgaben. Obwohl die ökonomische Dezentralisierung über unterschiedliche Personaleinsatzstrategien realisiert werden kann und somit auch unterschiedliche Arbeitszuschnitte für die Beschäftigten beinhaltet, wird im folgenden gezeigt, dass hiermit in allen Fällen ein - zwar unterschiedlicher - aber verstärkt subjektivierter Zugriff auf Arbeitskraft stattfindet.
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Abbildung 19: Quantitatives und qualitatives Potential personeller Rationalisierungsstrategien, Form der Steuerung und Beschäftigtengruppen
Qualitativ (Zunahme der inhaltlichen/ funktionalen Flexibilität der Inanspruchnahme von Arbeitskraft)
- Hoch- und eher unternehmensspezifisch qualifiziert - kontinuierliche Arbeitskraftnutzung - Steuerung über Vorgaben zum Leistungsergebnis
- Hoch- , aber gering unternehmensspezifisch qualifiziert - nicht-kontinuierliche Arbeitskraftnutz. - Steuerung über Vorgaben zum Leistungsergebnis
- Mittel bis gering und z.T. stärker unternehmensspezifisch qualifiziert - kontinuierliche Arbeitskraftnutzung -Steuerung über Prozessvorgaben (und Leistungsergebnis)
- Mittel bis gering und eher gering unternehmensspez. qualifiziert - nicht-kontinuierliche Arbeitskraftnutz. - Steuerung über Leistungsergebnis (und Prozessvorgaben)
Quantitativ (Zunahme der numerischen Flexibilität der Inanspruchnahme der Arbeitskraft, z.B. Formen „atypischer Beschäftigung“ bis hin zur (formalen) Selbstständigkeit)
Quelle: eigene Darstellung 4.2.2.3 Subjektivierung bei verschiedenen personellen Rationalisierungsstrategien Gemäß Moldaschl/Voß meint „Subjektivierung“ zunächst eine „…infolge betrieblicher Veränderungen tendenziell zunehmende Bedeutung von „subjektiven“ Potentialen und Leistungen im Arbeitsprozess - und zwar in zweifacher Hinsicht: einmal als wachsende Chance, „Subjektivität“ in den Arbeitsprozess einzubringen und umzusetzen, zum anderen aber auch als doppelter Zwang, nämlich erstens, mit „subjektiven“ Beiträgen den Arbeitsprozess auch unter „entgrenzten“ (i.w.S. dezentralisierten, Anm.d.V.) Bedingungen im Sinne der Betriebsziele aufrecht zu erhalten; und zweitens, die eigene Arbeit viel mehr als bisher aktiv zu strukturieren, selbst zu rationalisieren und zu „verwerten“.“ (Moldaschl/Voß 2002, S. 14 H.i.O.)
Im Folgenden geht es um die verschiedenen Anforderungen an die Subjektivität der Arbeitenden, die sich im Rahmen der oben aufgestellten Heuristik der personellen Rationalisierungsstrategien jeweils ergeben. Es soll also eine analytische Zuordnung von verschiedenen Formen von Subjektivität zu entsprechenden Strategien des Personaleinsatzes vorgenommen werden. Für die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Subjektivierung bedeutet dies zweierlei: Erstens, wird die wichtige Diskussion und Analyse der Frage, 161
inwieweit Vorgänge der Subjektivierung jeweils als positive Möglichkeit der Entfaltung oder als Zwang empfunden werden, hier nicht vordergründig durchgeführt oder vorgestellt (z.B. übersichtsartig Holtgrewe 2003). Zweitens, werden hier auch Subjektivierungsvorgänge thematisiert, welche sich nicht vordergründig aus einem organisational strategischen Kalkül der Arbeitskraftnutzung ergeben, sondern sich eher als Konsequenz einer bestimmten Personaleinsatzstrategie entwickeln. Das heißt z.B., dass neben der offiziell eingeforderten Subjektivierung von Arbeitsvorgängen durch operative Dezentralisierung, häufig thematisiert über Managementleitbilder wie „internes Unternehmertum“, „intrapreneurship“ u.ä., auch Formen der Subjektivierung angesprochen werden, welche sich im Rahmen marktorientierter Prozessgestaltung in stärker „arbeitskraft-objektivierenden“ Arbeitsformen ergeben (vgl. die Übersicht bei Moldaschl 2002, S. 29). Hiermit sind also wenig dezentralisierte, höher und hoch standardisierte Arbeitsformen gemeint, die eher einer quantitativen Flexibilisierung unterliegen und je nachdem unterschiedlich gewichtet über Vorgaben zum Leistungsprozess als auch -ergebnis gesteuert werden (vgl. Abb. 19). Im Folgenden wird auf die analytische Unterscheidung von Erscheinungsformen der Subjektivität nach Kleemann et al. (2002) zurückgegriffen. In Bezug auf sich faktisch ergebende Handlungsanforderungen56 aus der Arbeitsorganisation trennen Kleemann et al. (2002, S. 84ff.) nach „kompensatorischer“ und „strukturierender“ Subjektivität in der Arbeit. Die kompensatorische Erscheinungsform von Subjektivität bezeichnet den reaktiven Einsatz subjektiver Potentiale und Leistungen in der Arbeit. Das heißt, es erfolgt eine einseitige Anpassung der Person an arbeitsorganisationale Vorgaben. Der Gegenstand subjektiver Leistungen ist hier das Arbeitshandeln von Personen als Folge zunehmend komplexer technischer bzw. organisatorischer Vorgaben in zunehmend formalisierten Arbeitsabläufen (z.B. hochtechnisierte Arbeit in mittel- bis gering qualifizierten Tätigkeiten). Kleemann et al. schreiben: „Kompensatorische Subjektivität dient dazu, explizit oder implizit regulierend einzugreifen, um Störungen des formalisierten Arbeitsprozesses flexibel zu bewältigen bzw. deren Entstehung zu verhindern. Den Arbeitenden sind betriebliche Anforderungen und Strukturen relativ starr vorgegeben. Daher sind die regulierenden Eingriffe (von den betrieblichen Strukturen aus betrachtet) als einseitige Anpassungsleistungen der Individuen im Rahmen ihres Tätigkeitsvollzuges zu interpretieren.“ (Kleemann et al. 2002, S. 84f)
56 Kleemann et al. (2002) unterscheiden neben der Ebene der faktischen Handlungsanforderungen noch eine diskursive Ebene. Diese bezeichnet verschiedene Formen der sinnhaften Verarbeitung bzw. Interpretation von Subjektivierungsvorgängen („reklamierende“ und „ideologisierte“ Subjektivität).
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Demgegenüber meint strukturierende Subjektivität den Einsatz subjektiver Potentiale in Bezug auf die Organisation der Arbeitstätigkeit selbst, die Gestaltung der alltäglichen Lebensführung sowie des Lebensverlaufs. Dabei sehen Kleemann et al. (2002, S. 84f.) die Ursache für die wachsende Notwendigkeit strukturierender Subjektivität im Rückgang bzw. in der Flexibilisierung von eindeutigen Strukturvorgaben aller Art. Die Funktion strukturierender Subjektivität ist, zur Sicherung eines effizienten Ablaufs der Arbeit in geeigneter Weise selbst also aktiv - Strukturen zu schaffen und seine Arbeitskraft dadurch in die betrieblichen Erfordernisse einzupassen. Kleemann et al. formulieren: „In die betrieblichen Strukturen bzw. in das Beschäftigungssystem sind Freiräume eingelassen, die die Individuen in aktiver Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Bedingungen ausgestalten können (und müssen), um eine funktionale „Passung“ zwischen Subjekt und Betrieb bzw. Beschäftigungssystem herzustellen.“ (Kleemann et al. 2002, S. 85)
Hiervon ausgehend soll in der folgenden Darstellung eine Unterscheidung hinsichtlich verschiedener Bezüge strukturierender Subjektivität getroffen werden. Zum einen kann sich diese auf die Strukturierung des Zusammenhangs und die Integration von „Arbeit und Leben“ bzw. „Produktions- und Reproduktionssphäre“ und die Einbindung der Erwerbsarbeit in den gesamten Lebenslauf (Biographie) beziehen. Diese Form wird im Folgenden als „integrative strukturierende Subjektivität“ bezeichnet. Zum anderen kann strukturierende Subjektivität auch vordergründig auf den Arbeitsvollzug an sich bezogen werden - also auf die praktische Organisation der Arbeitstätigkeit selbst gerichtet sein. Dieser Aspekt gewinnt insbesondere im Zuge von Dezentralisierungsprozessen große Bedeutung: Hier werden Arbeitende zunehmend in Situationen gestellt, in denen formale Strukturvorgaben für ihr Arbeitshandeln in wichtigen Dimensionen (zeitlich, räumlich, sachlich, sozial usw.) mehr oder weniger weitreichend ausgedünnt und damit „entgrenzt“ sind. „Im Gegenzug müssen Arbeitskräfte aufgrund der dabei geforderten „Selbstorganisation“ nun immer mehr selbstständig Strukturen für ihre Arbeit schaffen, um ihre Aufgaben effizient erfüllen zu können...“ (Kleemann et al. 2002, S. 67).
Diese Erscheinungsform von Subjektivierung soll im Folgenden als „arbeitsbezogene strukturierende Subjektivität“ bezeichnet werden. Die verschiedenen Formen des Einsatzes von Subjektivität werden in Abbildung 20 graphisch veranschaulicht.
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Abbildung 20: Formen der Subjektivität in Prozessen der „Subjektivierung von Arbeit“ Formen der Subjektivität reaktiv
Kompensatorische Subjektivität
aktiv
Strukturierende Subjektivität a) „integrativ“ b) „arbeitsbezogen“
Quelle: in Anlehnung an Kleemann et al.(2002, S. 86) 4.2.2.4 Formen der Subjektivierung in unterschiedlichen personellen Rationalisierungsstrategien In diesem Abschnitt werden die eben beschriebenen Formen der Subjektivität in der Arbeit den unterschiedlichen personellen Rationalisierungsstrategien zugeordnet. Diese Zuordnung erfolgt auf der Basis konzeptioneller Überlegungen und ist als idealtypische und stark vereinfachende Einordnung zu betrachten. Diese Vereinfachung liegt in der hohen Vielfalt der tatsächlichen Inhalte eines qualitativ als auch quantitativ veränderten Personaleinsatzes und dem entsprechend variierenden Gegenstandsbezug von Subjektivität begründet. So kann sich eine qualitative Anreicherung des Personaleinsatzes z.B. einerseits auf die umfassende Übertragung indirekter und dispositiver Aufgaben, andererseits auf die alleinige Übertragung der Verantwortung für die eigene Arbeitszeit beziehen (vgl. zu empirischen Belegen z.B. Faust et al. 1995; Kadritzke 1997; Faust et al. 2000; Haipeter 2002; Schumann et al. 2004). Schon eine ausschnitthafte Analyse empirischen Materials zeigt in dieser Hinsicht eine sehr ausgeprägte Heterogenität in den Erscheinungsformen des Personaleinsatzes (vgl. z.B. nur für die IT-Industrie Boes 2003; Mayer-Ahuja/Wolf 2004). Weiterhin indiziert das empirische Material häufig Inkonsistenzen und Widersprüche in Bezug auf die formale und faktische Realisierung des neuen Zugriffs auf Arbeitskraft sowie der betrieblich eingeforderten und tatsächlichen Entfaltung(smöglichkeit) von Subjektivität durch die betroffenen Beschäftigten (vgl. z.B. Moldaschl 1994; Kadritzke 1997; Faust et al. 2000; Boes 2003; VossDahm 2003). Dies liegt z.B. an den veränderten Systemen der Leistungsbewertung bzw. an den Formen der Kontextsteuerung des Leistungsvollzuges, welche sich z.T. durchaus widersprüchlich darstellen und der aktiven Entfaltung von Subjektivität implizite Schranken setzen können. In diesem Zusammenhang 164
steht z.B. das vielfach zu beobachtende Phänomen, dass Ressourcen, die für den Vollzug der Arbeit in größerer Eigenregie notwendig wären, im Zuge von marktorientierter Prozessgestaltung entzogen, reduziert oder nicht gewährt werden. Dies betrifft etwa die Reduktion von Personal, welche durch neue Leistungsziele wie z.B. die Verringerung des „Personalkostenanteils am Umsatz“ (Verkaufsarbeit im Einzelhandel vgl. Voss-Dahm 2003) oder gezielte Kostensenkungsprogramme durch die dezentralen Einheiten forciert werden soll (vgl. auch Moldaschl 1994 („Unterbesetzungssyndrom“); Kotthoff 1997). Darüber hinaus verfügen die Beschäftigten oftmals nicht über das Ausmaß an Informations- und Partizipationsbefugnissen, um wirklich aktiv ihre Subjektivität in den Arbeitsprozess einzubringen (vgl. Kadritzke 1997; Kotthoff 1997; Faust et al. 2000; Haipeter 2002). Generell lässt sich konstatieren, dass der aktiven Entfaltung von Subjektivität in mehr oder weniger funktional angereicherten Arbeitszuschnitten mehr oder weniger Schranken durch die Gestaltung der jeweiligen Kontextbedingungen (vgl. auch Stewart 1982) gesetzt werden und sich Subjektivität nur in diesem Rahmen entfalten kann und muss. Auf diese Weise kann die formal einräumte Möglichkeit zur aktiven, arbeitsbezogenen Subjektivierung auch in die implizite Anforderung zur stärkeren reaktiven, kompensierenden Subjektivität umschlagen. Trotz der großen Vielfalt der Arbeitsformen und der Diskrepanzen innerhalb und zwischen formaler Anforderung und faktischer Realisierung lassen sich grundlegende konzeptionelle Zusammenhänge zwischen Personaleinsatz und Subjektivitätsform ableiten. So ist anzunehmen, dass mit zunehmender qualitativer Flexibilisierung des Personaleinsatzes, also mit wachsender operativer Dezentralisierung, die Anforderungen an die strukturierende, arbeitsbezogene Subjektivität der Organisationsmitglieder steigen, während die Anforderungen an die kompensatorische Form der Subjektivität sinken (vgl. z.B. zur Projektarbeit in der IT-Branche Mayer-Ahuja/Wolf 2002; Boes 2003; Lehndorf 2003; Trautwein-Kalms/Ahlers 2003 oder zur Gruppenarbeit im Produktionsbereich Faust et al. 1995; Bender 1997; Schumann et al. 2004). Der umgekehrte Fall ist bei verstärkter Taylorisierung der Arbeitskraftnutzung anzunehmen. Hier werden die Anforderungen an die arbeitsbezogene Subjektivität der Beschäftigten sinken, während jene an die kompensatorische Subjektivität steigen. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der ökonomischen Funktionslogik dezentralisierter Arbeitsformen: Den Organisationsmitgliedern werden formal bewusst mehr Spielräume geöffnet, um den eigenen Arbeitsvollzug zu gestalten und somit einen flexiblen und zugleich effizienten Leistungsprozess zu gewährleisten. Die Steuerung des Verhaltens erfolgt dabei stärker über Vorgaben zum Output der Leistung, weniger über die Vorgabe einzelner Arbeitsschritte. Je größer die arbeitsbezogenen Spielräume des Einzelnen sind und desto stärker demnach 165
über outputbezogene Kennziffern bzw. Ziele des Leistungsoutputs gesteuert wird, desto größere Anforderungen werden an die aktive, arbeitsbezogene Subjektivität des Einzelnen gestellt. Da Vorgaben in Bezug auf den Leistungsvollzug bzw. die (technologisch bedingte) Formalisierung und Standardisierung des Arbeitsvollzuges nicht oder weniger gegeben ist, sinken demgegenüber die Anforderungen an die reaktive, kompensierende Subjektivität. Umgekehrt, geht die zunehmende Standardisierung von Arbeitsaufgaben sowie die parallele technische Durchdringung des Arbeitsalltages für den Einzelnen potentiell mit stärkerer Forderung der kompensierenden Subjektivität und geringerer Forderung der aktiven, arbeitsbezogenen Subjektivität einher (vgl. zur „Gewährleistung“ der zunehmend elektronisch abgewickelten und standardisierten Warenbewegungen im Einzelhandel Voss-Dahm 2003). Die Flexibilisierung des Personaleinsatzes in quantitativer Hinsicht kann demgegenüber im stärkeren Zusammenhang mit Anforderungen an die strukturierende, integrative, also „Arbeit und Leben“ (Arbeit/Familie sowie Arbeit/Biographie) vereinende Subjektivität gesehen werden. Häufig wird davon ausgegangen, dass die Flexibilisierung der Arbeitszeit sich positiv auf die Vereinbarkeit von Privat- bzw. Familienleben und Arbeit auswirkt. Die scheint am besten im Rahmen quantitativer Flexibilisierung der Fall zu sein, da hier von vornherein häufig mit einer reduzierten Erwerbsarbeitszeit zu rechnen ist, so dass mehr Zeit für Familienarbeit bleibt. Allerdings sind auch hier die spezifischen Ausprägungen der quantitativen Flexibilisierung in Betracht zu ziehen. Handelt es sich z.B. ausschließlich um arbeitgeber- oder kundenseitig und dabei sehr kurzfristig bestimmte Entscheidungen über den Arbeitseinsatz (z.B. Arbeit auf Abruf), kann die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durchaus erschwert werden und stärkere Anforderungen an die integrative Subjektivität stellen (vgl. z.B. zur Teleheimarbeit in der Druckindustrie Goldmann/Richter 1991 oder generell zu Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit durch Telearbeit vgl. Faßauer 2006). Die Frage der besseren Integration von Erwerbs- und Familienarbeit richtet sich demnach danach, ob über die „flexible“ Arbeitszeit selbst bestimmt werden kann. Vielfach zeigt sich diese Schwierigkeit für die Vereinbarkeit von „Arbeit und Privatleben“ auch im hochqualifizierten, (formal) arbeitszeitflexiblen Bereich (vgl. Kadritzke 1997; Faust et al. 2000; MayerAhuja/Wolf 2002; Boes 2003). Kurzfristig auftretende Kundenanfragen, z.B. bei IT-Dienstleistern, können hier die Planung der formal flexiblen Arbeitszeit nahezu unmöglich machen. In Bezug auf die Anforderungen der subjektiven Integration von Arbeit in den eigenen Lebenslauf ist anzunehmen, dass insbesondere bestimmte Formen der atypischen Beschäftigung (z.B. Befristung, Leiharbeit) als auch Formen der innerbetrieblichen quantitativen Flexibilisierung Einfluss auf die Integrations166
leistungen haben (z.B. interne Personalvermittlung im IT-Bereich vgl. Trautwein-Kalms/Ahlers 2003). So ist zu vermuten, dass die Anforderungen an subjektive Integrationsleistungen steigen, je häufiger die eigene Erwerbssituation (Aufgabe, Arbeitsort, soziales Umfeld) verändert wird. Bei stetiger Tätigkeit in formaler Selbstständigkeit (als „höchste Form“ der quantitativen Flexibilisierung) ist dies wiederum nicht zu erwarten. Im Gegenteil ist vorstellbar, dass entsprechende Integrationsleistungen bezüglich des eigenen Lebenslaufs relativ problemlos bewältigt werden können („Man ist selbstständig.“ Oder „Man ist Unternehmer“ oder „Freiberufler“). Zusammenfassend lassen sich in Bezug auf den Zusammenhang von personeller Rationalisierungsstrategie und der Inanspruchnahme von Subjektivität also vorerst folgende Heuristik aufstellen bzw. Schlussfolgerungen treffen: Mit steigender qualitativer Flexibilisierung nehmen die Anforderungen an die strukturierende arbeitsbezogene Subjektivität zu, während jene an die kompensatorische Subjektivität abnehmen. Der umgekehrte Fall trifft demnach auf die Abnahme oder geringe Ausprägung qualitativer Flexibilisierung zu. Das Anwachsen der quantitativen Flexibilisierung kann demgegenüber mit unterschiedlich großen Anforderungen an die strukturierend integrative Subjektivität verbunden sein. Je nach Ausmaß der selbstbestimmten Arbeitszeitflexibilität können die Anforderungen an die strukturierend integrative Subjektivität hinsichtlich „Arbeit und Familie“ steigen oder abnehmen. Hinsichtlich der subjektiven Inanspruchnahme zur gelingenden Synthese von „Arbeit und Biographie“ ist anzunehmen, dass diese bei geringer quantitativer Flexibilisierung weniger in Anspruch genommen wird. Das impliziert jedoch nicht zwangsläufig, dass jene Anforderungen bei wachsender quantitativer Flexibilisierung langfristig ansteigen, dies kann je nach Tätigkeitszuschnitt unterschiedlich sein. (vgl. hierzu zusammenfassend Abbildung 21) Insgesamt sollte mit diesem Abschnitt verdeutlicht werden, dass sich der verstärkte „subjektorientierte Zugriff“ auf Arbeitskraft im Rahmen von marktorientierter Prozessgestaltung und Dezentralisierung und der jeweiligen Personaleinsatzstrategie in unterschiedlicher Art und Weise entfalten kann. Im Folgenden soll auf die hierauf häufig aufbauenden, veränderten Instrumente der Leistungssteuerung in Organisationen und deren Beitrag zur Subjektivierung des Arbeitsvollzuges eingegangen werden. So spiegeln die Veränderungen in diesen Systemen ebenso wie die prozessorientierte und dezentralisierte Organisation der Arbeitsvollzuges eine zunehmend marktorientierte Indikation und Wertschätzung von Leistung wider.
167
Abbildung 21: Heuristik zu Personaleinsatz und Grad der Anforderungen (+ Anforderungen steigen, - Anforderungen sinken) and die Subjektivität
+
-
-
strukturierend integrativ
(+ Arbeit und Familie +/-) (-Arbeit und Biographie-/+)
kompensatorisch
strukturierend arbeitsbezogen
Qualitativ (Zunahme der inhaltlichen/ funktionalen Flexibilität der Inanspruchnahme von Arbeitskraft) -
+
Quantitativ (Zunahme der numerischen Flexibilität der Inanspruchnahme der Arbeitskraft, Formen „atypischer Beschäftigung“ bis hin zur (formalen) Selbstständigkeit)
Quelle: eigene Darstellung 4.2.3 Veränderungen bei Indikation und organisationaler Wertschätzung von Leistung In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, dass auch die Indikation und die Wertschätzung von Leistung in Organisationen Veränderungen erfahren, welche sich z.T. in die Entwicklungen einer stärkeren Marktorientierung und Dezentralisierung sowie Tendenzen eines subjektivierten Zugriffs auf Arbeitskraft einordnen lassen. Unter Indikation von Leistung wird die organisationale Definition und Bewertung einer Tätigkeit als „Arbeitsleistung“ verstanden. Gemäß der in Kapitel 3 dieser Arbeit vorgestellten Anerkennungsformen nach Honneth (1994) und den Vergesellschaftungsdimensionen von Arbeit nach Kronauer et al. (1993) wird unter der organisationalen Wertschätzung von Leistung u.a. die auf dieser Leistungsdefinition und Bewertung beruhende Zuteilung des Entgelts verstanden. Die Indikation von Arbeitsleistung in Organisationen erfolgt wesentlich auf Basis zweier Systeme. Zum einen wird Arbeitsleistung mehrheitlich über die 168
Festlegung der mit einer Arbeitsstelle verbundenen „objektiven Arbeitsanforderungen“ zum anderen ergänzend und in wachsendem Maße über die Feststellung der „interindividuellen Differenzen bei der Erfüllung gegebener Anforderungen“ definiert (vgl. Schettgen 1996, S. 99ff.; Berthel/Becker 2003, S. 430ff.). Ersteres bestimmt wesentlich die Höhe und die arbeitsplatzspezifische Differenzierung des sogenannten Grundentgeltes. Das Zweite hat wesentlichen Einfluss auf Höhe und Differenzierung des „leistungsvariablen Entgeltbestandteils“. In der Personalwirtschaft wird der Begriff der Leistung ausschließlich im Zusammenhang mit der zweiten Kategorie, also der Feststellung individueller Differenzen, gebraucht („Leistungsbeurteilung“, „leistungsvariabler Lohn“). In Anbetracht der im dritten Kapitel dieser Arbeit vollzogenen Herleitung des organisationsbezogenen Leistungsbegriffes erscheint diese Trennung jedoch unangebracht, da Erwerbsarbeit gemäß der historischen Entwicklung der westlichen Gesellschaften („Leistungsgesellschaften“) insgesamt als „Leistung“ definiert werden kann. Dies ist zu beachten, wenn im Folgenden die Veränderung der Indikation und Wertschätzung von Arbeitsleistung über Veränderungen in den Systemen der Grundentgeltbestimmung und anschließend über entsprechende Entwicklungen bezüglich der Bestimmung des leistungsvariablen Lohnbestandteils, also in Bezug auf die Systeme zur Feststellung der individuellen Unterschiede in der Erfüllung der Anforderungen, skizziert wird. Hierauf aufbauend werden im zweiten Teil des Abschnittes wesentliche Entwicklungslinien von Indikation und Wertschätzung zusammenfassend dargestellt. 4.2.3.1 Entwicklungen bei Systemen der Grundlohndifferenzierung Gegenüber den Veränderungen der organisationalen Rahmenbedingungen und der Bestimmung der leistungsvariablen Lohnbestandteile zeigen die empirischen Studien ein vergleichsweise geringes, quantitatives Ausmaß von Veränderungen der Grundentgeltsysteme. Bahnmüller (2001, S. 137) führt dies u.a. darauf zurück, dass die bisherigen tariflichen Regelungen bereits ausreichend Spielraum für die Flexibilisierung der Systeme beinhalten und sich eher der Umgang mit den Regelungen wandelt, als dass grundlegende Veränderungen vorgenommen würden. So schreibt Bahnmüller (2001, S. 135; vgl. weiterhin Bispinck 2000; vgl. Kohaut/Schnabel 2003 zu übertariflichen Lohnbestandteilen) in Bezug auf seine empirischen Ergebnisse: „Wie dargestellt, nutzen die Betriebe die Spielräume, indem sie übertarifliche Lohn- und Gehaltsbestandteile abbauen, Eingruppierungen überprüfen, Absenkungen vornehmen und (…) die Leistungsanforderungen erhöhen sowie eine stärkere Variabilisierung der Entlohnung betreiben. All´ dies ist weitgehend im Rahmen der
169
bestehenden Entgeltsysteme möglich, so dass bislang wenig Veranlassung bestand, sich von diesen Grundlagen der Lohn- und Gehaltsfindung zu verabschieden.“ (Bahnmüller 2001, S. 135)
Zudem bergen systematische Eingriffe in die Systeme der Grundentgeltbestimmung ein erhebliches Konfliktpotential, da hiermit tief sitzende und gesellschaftlich verankerte Vorstellungen und Normen sozialer Differenzierung berührt werden („Leistungsgerechtigkeit“), deren Veränderung zu Auseinandersetzungen führen kann, die einzelne Unternehmen kaum mehr abzufangen in der Lage sind (vgl. Bahnmüller 2001, S. 136f.). Trotz des relativ geringfügigen Umbaus der bestehenden Systeme spiegeln die Veränderungstendenzen auch hier die Forderung nach erhöhter Flexibilisierung des Personaleinsatzes und die überwölbenden Konzepte von Marktorientierung und Dezentralisierung. Entsprechende Tarifabschlüsse, etwa in der Metallindustrie in Baden-Württemberg, zeigen, dass die der Arbeitsbewertung und Entgeltbestimmung zugrunde gelegten Anforderungen nun nicht mehr auf einzelne Tätigkeiten, sondern auf die ganzheitliche, übertragene und ausgeführte Arbeitsaufgabe bezogen werden. Hierdurch soll die Einsatzflexibilität der Beschäftigten erhöht und honoriert werden können, ohne das eine Umgruppierung in der Anforderungsbewertung stattfinden muss (vgl. Bahnmüller 2001, S. 114ff.). Auch die zunehmende Angleichung der Entgeltregelungen bei Angestellten und Arbeitern bildet die mit der operativen Dezentralisierung einhergehende Aufwertung der Arbeitstätigkeiten in der Produktion gegenüber den indirekten Abteilungen und Stäben ab (vgl. Bender 1997, S. 108ff.; Bahnmüller 2001, S. 127ff.). Daneben lässt sich ein Bestreben nach der Absenkung der „festen“ Entgeltbestandteile (z.B. Berufs- oder Altersjahresstaffelungen, 13. oder 14. Monatsgehalt) zugunsten der „leistungsvariablen“ individuell als auch kollektiv bestimmten Entgeltkomponenten feststellen, was ebenfalls auf die Hinwendung zur effizienten Marktorientierung und Flexibilisierung der personellen Leistungssteuerung hinweist (insbesondere im Bankenbereich vgl. den Fall in Bender 1997; Bahnmüller et al. 1999, S. 62; Bahnmüller 2001, S. 98). Neben Diskussionen über den generellen Wechsel von der anforderungsbezogenen zur qualifikationsbezogenen Basis der Grundlohndifferenzierung, der Frage nach der Angemessenheit summarischer oder analytischer Bewertungsmethoden, der zunehmenden Infragestellung von Entgeltdifferenzierungen, welche sich an Lebensalter und Berufserfahrung orientieren, und der zunehmend intendierten Angleichung der Entgeltsysteme von Arbeitern und Angestellten, indizieren auch die veränderten Merkmale der anforderungsbezogenen Eingruppierung von Arbeit und deren Gewichtung eine Veränderung der Definitionsmaßstäbe für Leistung (vgl. die branchenübergreifenden empirischen Er170
gebnisse von Bahnmüller 2001, S. 96ff; die branchenübergreifenden Fallstudien bei Bender (1997) und Schmierls (1995) Untersuchung zu Veränderungen der Entgeltsysteme in der Metallindustrie). Laut Bahnmüllers Befragung stellen Veränderungen bei den Anforderungen die am häufigsten vorgenommene Restrukturierung der Systeme der Grundentgeltfindung dar (Bahnmüller 2001, S. 96ff.; vgl. auch Benders (1997) Studien zu BMW, Hoechst AG und BMW Zulieferer). So gaben 45 % der befragten Manager in der Metall- und Bekleidungsindustrie sowie im Bankbereich in Baden-Württemberg an, hier Veränderungen durchgeführt zu haben. Unter Anforderungen werden die Soll-Vorstellungen über diejenigen Voraussetzungen verstanden, die von einer Aufgabenstellung und der dazugehörigen Arbeitssituation ausgehen und die von einer Person (Arbeitsplatzinhaber) erfüllt sein müssen, die die Aufgabe zureichend bewältigen soll (vgl. Berthel/Becker 2003, S. 128). Die Festlegung der Arbeitsanforderungen wird in Organisationen idealtypisch über die verschiedenen Teilbereiche der Arbeitsplatzanalyse in Form von Aufgaben-, Arbeits-, Rollen- und schließlich Anforderungsanalyse geleistet. Die Bewertung der Anforderungen erfolgt anschließend durch deren zahlenmäßige Gewichtung bzw. durch die quantitative Beimessung des jeweiligen „Schwierigkeitsgrades“ („Arbeitswerte“) (vgl. Berthel/Becker 2003, S. 128ff.). Der Schwierigkeitsgrad bzw. die Anzahl der Arbeitswerte für die Anforderungen eines Arbeitsplatzes bildet wiederum die Grundlage für die, zumeist tarifvertraglich ausgehandelte Höhe des anforderungsbezogenen Lohnbestandteils, der neben der gesetzlich bzw. tarifvertraglich geregelten Mindestvergütung herkömmlich einen wesentlichen Entgeltbestandteil, den „Löwenanteil“, darstellt (im Bankgewerbe z.B. ca. 90 %, in der Maschinen- und Elektrotechnikindustrie ca. 75 % des Jahresverdienstes, vgl. Bahnmüller 2001, S. 96). So schreibt Bahnmüller zu entsprechenden Veränderungen: „Wichtiger noch als der Streit um die Methode (Analytik oder Summarik, Anm. d. V.) ist jener um die Merkmale, die der Arbeitsbewertung zugrunde liegen und ihre Gewichtung. Sie entscheiden, welche Aspekte der Arbeit „Wert“ haben und welche nicht und wie die „Rangfolge“ sowie die Abstände zwischen den verschiedenen „Güteklassen“ von Arbeit ausfallen. Veränderungen, die hier vorgenommen werden, verändern das betriebliche Statusgefüge im Kern.“ (Bahnmüller 2001, S. 121)
Generell indizieren die empirischen Studien zu veränderten Merkmalen der Eingruppierung und deren Gewichtung eine Hinwendung und stärkere Gewichtung qualifikatorischer und sozialer Kompetenzen sowie der Dimension der Verantwortung (vgl. Bahnmüller 2001, S. 121ff.). So einigte man sich z.B. in der Metallindustrie in Baden-Württemberg auf ein neues Bewertungsmodell, das mit den Merkmalen Wissen und Können, Denken, Verantwortung bzw. Hand171
lungsspielraum, Kommunikation und Mitarbeiterführung operiert. Die Gewichtung erfolgt absteigend, d.h. Wissen und Können geht zu 39,4% der maximalen Punktzahl in die Bewertung ein, Mitarbeiterführung zu 7,7%. Anforderungsarten der körperlichen Belastung (Muskeln, Reizarmut etc.), welche traditionell einen hohen Stellenwert innehatten, wurden demgegenüber aus der Grundentgeltfindung herausgenommen. Im privaten Bankbereich erfolgte eine ähnliche, neue Festlegung und Staffelung der Merkmale. Neben Wissensanforderungen, Denkanforderungen, Koordinationsanforderungen und Verantwortung kamen die Merkmale Sozialkompetenz und Belastungen (fremdbestimmte wechselnde Anforderungen und Arbeitstakte, intensive Bildschirmarbeit, Monotonie) völlig neu hinzu. Die stärkere Betonung qualifikatorischer und sozialer Kompetenzen indiziert dabei erneut das Bestreben einer stärkeren Flexibilisierung des personellen Einsatzes und die entsprechende Erschließung subjektiver Potentiale im Leistungserstellungsprozess. 4.2.3.2 Entwicklungen bei Systemen der leistungsbezogenen Lohndifferenzierung Angesichts seiner branchenübergreifenden Untersuchungsergebnisse zu Tendenzen in der Gestaltung von Entgeltsystemen und Entwicklungen in der Lohnpolitik formuliert Bahnmüller: „Die Leistungsentlohnung ist zusammen mit der ertragsabhängigen Gestaltung der Verdienste das lohnpolitische Feld, auf dem sich in den letzten Jahren am meisten bewegt hat.“ (Bahnmüller (2001, S. 147)
Ähnliches indizieren die branchenübergreifende Studie von Bender (1997), die auf die Metallindustrie konzentrierte Untersuchung von Schmierl (1995) als auch die Daten des IAO für Produktionsunternehmen aus dem Jahr 2000. Weiterhin weisen die Studien des WSI, z.B. in Form der Zusammenfassung der tarifpolitischen Entwicklung in 26 Tarifbereichen (Bispinck 2000), sowie die Daten der Betriebs- und Personalräte - Befragung von 2002 (Bispinck/Schulten 2003) auf diese Entwicklungen hin. Auch die Untersuchungsergebnisse zur Verbreitung von Zielvereinbarung, Leistungsbeurteilung und flexibler Vergütung in der Finanz-, Chemie/Pharma- und Energiebranche von Conrad/Manke (2002), die branchenübergreifenden Daten zur Flexibilisierung der Arbeitsentgelte des ZEW (Franz et al. 2000) und die von Lay/Rainfurth (1999) festgestellte, leichte Tendenz vom Akkord- zur Prämienentlohnung im Produktionsbereich 172
untermauern Bahnmüllers Aussage. (vgl. insges. Abb. 22). Hardes/Wickert (2000) und Drees (2002) tragen wiederum Daten zur Verbreitung erfolgsabhängiger Beteiligungsentgelte zusammen, welche die zunehmende Verbreitung dieser Entgeltbausteine dokumentieren. Generell sprechen die Daten für eine Zunahme von leistungsabhängigen Vergütungsbestandteilen und die oben bereits angesprochene Explikation von Leistungskennziffern: „In Branchen, in denen leistungsvariable Entgeltelemente bislang fremd waren, wurden sie eingeführt (öffentlicher Dienst) oder sollen sie eingeführt werden (privates Bankgewerbe, vgl. z.B. Haipeter 2002, Anm. d. V.) und dort, wo sie bereits Tradition haben (Industrie), werden sie an die veränderten Produktions- und Organisationsbedingungen (Prozessorientierung und Dezentralisierung, Anm. d. V.) bzw. Leistungsziele angepasst.“ (Bahnmüller et al. 1999, S. 61; vgl. Bahnmüller 2001, S. 138ff.).
Im Folgenden soll zunächst genauer auf bestimmte Entwicklungslinien im Bereich der Leistungslohndifferenzierung eingegangen werden. Die hiermit z.T. unmittelbar verbundene, marktorientierte Ermittlung und Steuerung von Leistung wird anschließend nochmals gesondert behandelt und in ihren verschiedenen Erscheinungsformen betrachtet.
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Abbildung 22: Auswahl der ausgewerteten Studien zur leistungsbezogenen Lohndifferenzierung Bender (1997): Lohnarbeit zwischen Autonomie und Zwang.
8 Betriebsfallstudien (2x Bekleidungsindustrie, 2x Großchemie, 1x Automobilbauer, 1x Zulieferer, 1x Anlagenbau, 1x Privatbank) Darstellung und Diskussion neuer betrieblicher Vereinbarungen hinsichtlich der Entlohnung (Grundlohn- und Leistungslohngestaltung)
Lay/Rainfurth (1999): Königsweg „Prämie“? (Produktionsinnovationserhebung des Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) von 1997) Franz et al. (2000): Flexibilisierung der Arbeitsentgelte und Beschäftigungseffekte. (Befragung des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH (ZEW), Universität Mannheim, Febr. – Mai 2000) Bullinger /Bauer/Menrad (2000): Entgeltsysteme in der Produktion. (Befragung des Fraunhofer-Institut für Arbeitswissenschaft und Organisation (IAO), Sept. 1999 – Febr. 2000) Bahnmüller (2001): Stabilität und Wandel in der Leistungsentlohnung. Betriebsbefragung des Forschungsinstituts für Arbeit, Technik und Kultur (FATK) von 1998) Bispinck /Schulten (2003): Decentralisation of German Collective Bargaining? (Works and Staff Council Survey des Wirtschafs- und Sozialwissenschaftlichen Instituts, Hans-BöcklerStiftung (WSI) von 2002)
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Befragung von deutschen Unternehmen der Investitionsgüterindustrie (insges. 1.329 befragte Betriebe, davon hauptsächlich: Maschinenbau, Elektrotechnik, Stahlbau, Eisen, Blech- und Metallwarenherstellung) Fokus auf Erhebung des Anteils und der Ausgestaltung der Prämienentlohnung Befragung von Unternehmen aus Chemie-, Metall-, Elektroindustrie sowie Maschinenbau, Handel, Banken, Versicherungen sowie unternehmensnahe Dienstleistungen , 801 verwertbare Fragebögen Fokus u.a. auf rechtlichen Regelungsrahmen der Entlohnung (Tarifbindung etc.), Struktur der Arbeitsentgelte nach Tarifbindung Branchenübergreifende Befragung, überwiegend Maschinenbau, Elektrotechnik, Automobil-, Fahrzeug-, und Flugzeugbau, Metallerzeugung und – verarbeitung, 220 verwertbare Fragebögen Fokus auf Zusammenhang der Gestaltung der Produktionsform (Gruppenarbeit) und Entgeltsystem Schriftliche Befragung von Personalmanagern und Betriebsräten der Metall-, Textil- und Bekleidungsindustrie sowie Bankgewerbe , ca. 500 bzw. 600 verwertbare Fragebögen Fokus auf Verbreitung, Entwicklung und Ausgestaltung der Leistungsentlohnung Branchenübergreifende Befragung öffentlicher Institutionen und privatwirtschaftlicher Unternehmen mit mind. 20 Beschäftigten und entsprechender Interessenvertretung Fokus auf Entwicklung tariflicher Regelungen (z.B. Gebrauch von Öffnungsklauseln), Entlohnungspolitik (z.B. in Hinsicht auf Leistungs- und ertragsabhängiger Entlohnung)
Leistungsindikatoren, Verfahren der Leistungsermittlung und Lohnformen Lässt sich die wachsende Hinwendung zu leistungsvariablen Entgeltkomponenten bzw. Systemen der individuellen und kollektiven Leistungsermittlung, also die generell zunehmende Explikation sowie Differenzierung von Leistungsindikatoren und die Etablierung entsprechender Leistungsfeststellungsverfahren, noch relativ gut empirisch illustrieren und konstatieren, so stellt sich die Darstellung einzelner qualitativer Entwicklungslinien als schwierig dar. In Bezug auf einzelne Leistungsfeststellungsverfahren und die entsprechende Anbindung an die Vergütung ergeben sich im Einzelnen unterschiedliche Ausgestaltungsmöglichkeiten in den Organisationen. Dies wird durch die gegenüber herkömmlichen Verfahren (z.B. Akkordentlohnung) zumeist relativ gering spezifizierten institutionellen Regelungen zwischen den Tarifparteien und die in den letzten Jahren wachsende Verbetrieblichung oder Dezentralisierung von Aushandlungen über die Entgeltgestaltung verstärkt (vgl. Bahnmüller 2001; Bispinck/Schulten 2003). In diesem Abschnitt sollen wesentliche Tendenzen in der Leistungs- und Lohnpolitik von Organisationen aufgezeigt werden. Diese Tendenzen werden im Folgenden anhand der Entwicklungen im Bereich der Leistungsindikatoren, der angewendeten Verfahren zur Leistungsermittlung und der Anwendung bestimmter Lohnformen aufgezeigt. Bei Leistungsindikatoren spielen die herkömmlichen mengen- und qualitätsbezogenen Kennziffern bezüglich des Leistungsoutputs auch bis jetzt eine dominierende Rolle (vgl. Lay/Rainfurth 1999, S. 8; Bahnmüller 2001, S. 161ff.). Wichtig sind überdies nach wie vor Qualifikationsmerkmale und Anwesenheitszeiten des Einzelnen (vgl. ebenda) - also bestimmte Indikatoren zur Bemessung des Leistungsinputs. Neue Entwicklungen zeichnen sich durch die wachsende Ergänzung dieser Kennzahlen um betriebswirtschaftliche und marktbezogene Leistungsindikatoren sowie die Zunahme „subjektbezogener“ Indikatoren, wie verhaltens- und persönlichkeitsbezogene Merkmale ab (vgl. Lay/Rainfurth 1999; Bispinck 2000; Franz et al. 2000; Bahnmüller 2001, S. 161ff.). Erstes bedeutet ein Verschwimmen von leistungs- und ertragsbezogenen Vergütungsformen, da die betriebswirtschaftlichen und marktbezogenen Kennziffern in wachsendem Umfang in Form von Zielvorgaben auf Organisationseinheiten und -mitglieder heruntergebrochen werden. Bender (1997, S. 166ff.) spricht hinsichtlich der entsprechenden Untersuchungsergebnisse im Bankbereich vom „Geschäftserfolg als Leistungsziel“ (vgl. auch Voswinkel 2005 oder Krämer/Nagl 2007 zum neuen Bonussystem bei der Hypovereinsbank). Betriebswirtschaftliche und marktbezogene Kennziffern bzw. Soll-Vorgaben in Form von Renditemargen, Kostendeckungs- oder Wertschöpfungsbeitrag halten also 175
zunehmend Einzug in die Leistungslohnsysteme und indizieren die oben beschriebene Entwicklung zur Vermarktlichung von Organisationen und die Hinwendung zum funktionalen, zunehmend vom Ende der betrieblichen Prozesskette her definierten Leistungsbegriff (vgl. Bender 1997; Voswinkel 2005). Bahnmüller bezeichnet diesen Vorgang als „Finalisierung“ von Leistung und schreibt zusammenfassend: „Unternehmen, die mit Leistungslohnsystemen experimentieren, verzichten meist nicht auf objektivierte Kennzahlen, sondern bauen Systeme mit quantifizierten SollVorgaben eher aus. Das gilt vor allem dort, wo das individuelle, gruppen- oder abteilungsbezogene Arbeitshandeln konsequent auf die betrieblichen Leistungsziele ausgerichtet und der jeweilige Leistungsbeitrag auch in Kennzahlen ausgedrückt werden soll, kurz: wo Zielvereinbarungen konsequent eingesetzt werden. Die Folge ist keine bloße Ausdifferenzierung des Katalogs an Leistungsindikatoren, sondern eine substantielle Veränderung des Leistungsbegriffes selbst. Zunehmend zum Einsatz kommen nun nämlich markt-, rendite- und ertragsorientierte Größen. Leistung wird damit vom Ende der betrieblichen Prozesskette, vom Markt und dessen Bewertungen her definiert. Anders gesagt: Leistung wird finalisiert.“ (Bahnmüller 2001, S. 161ff.)
Vor dem Hintergrund von marktorientierter Prozessgestaltung und Dezentralisierung impliziert die Aufnahme betriebswirtschaftlicher und marktbezogener Kennziffern dabei häufig eine auf ganze Module bzw. eine kollektiv ausgerichtete Leistungsermittlung und entsprechend kollektiv zugeschnittene Budgetierung der Leistungszulagen (vgl. z.B. Bullinger et al. 2000, S. 51). Die jeweiligen individuellen Anteile am kollektiven Output werden dann z.B. über parallele, individuelle Leistungsbeurteilungen ermittelt (Bender 1997; Voswinkel 2005). Häufig wird auch mit individuell und kollektiv variablen Vergütungsbestandteilen und entsprechenden Leistungsermittlungssystemen unabhängig voneinander gearbeitet. Die zweite Tendenz der wachsenden Anwendung „subjektbezogener“ Indikatoren wie soziale und kommunikative Fähigkeiten, Initiative und Kreativität, stellt sich neben der Anwendung outputbezogener Kennzahlen als zweite Komponente zur Umsetzung der marktorientierten Prozessgestaltung dar. Solche subjektiven Potentiale werden im Zuge von operativer Dezentralisierung (Einführung von Gruppenarbeit etc., siehe oben) und wachsender Dienstleistungsorientierung zunehmend abgefragt und sollen neben der Vorgabe quantitativer Leistungszielgrößen durch die Anwendung entsprechend „weicher“ Leistungsindikatoren gefördert werden. Bei der Hoechst AG wurden Mitte der 90er Jahre u.a. Indikatoren wie Selbstständigkeit, Initiative, Flexibilität oder Kreativität
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neu angewandt, um die individuelle Leistung zu beurteilen (vgl. Bender 1997, S. 124ff.) „Honoriert werden soll mit ihnen ein bestimmter Typus von Arbeitnehmer, der bereit und in der Lage ist, diejenigen Lücken auszufüllen, die eine noch so detaillierte Arbeits- und Ablaufplanung nicht oder nur mit großem Aufwand schließen kann.“ (Bahnmüller 2001, S. 162).
Bender resümiert angesichts seiner Untersuchungsergebnisse zur neuen Entgeltregelung bei Einführung von Gruppenarbeit in der Fertigung von BMW: „Mit der Bestimmung von Arbeitspensen, die die Gruppe erfüllen muss, werden ihren Mitgliedern also Spielräume zur selbstständigen Rationalisierung der eigenen Arbeitsprozesse geschaffen. Der individuelle Beitrag zur Nutzung dieser Spielräume wird durch die persönliche Zulage honoriert. Sie gratifiziert Aktivitäten in Dimensionen des Arbeitsprozesses, die planerisch nicht voll erschlossen sind, also eine persönliche Leistung, die gleichsam über die Plandaten hinausgeht.“ (Bender 1997, S. 121, H.i.O.)
Die Kriterien für die Ermittlung der individuellen Leistung werden dabei je nach Gruppenziel situativ neu bestimmt und orientieren sich an den Oberkategorien Zusammenarbeit, Qualitätsbewusstsein, Flexibilität und Initiative. Insgesamt kann das individuelle Verhalten eines jeden Gruppenmitgliedes anhand von 12 Kriterien beurteilt werden. Auch interaktive Dienstleistungsarbeit als Bereich, in dem „soft skills“ eine besondere Rolle spielen, ist prädestiniert für die Vorgabe subjektbezogener Leistungsindikatoren. Insbesondere Kennziffern der „Kundenorientierung“, wie z.B. „freundliches Verhalten“ im Einzelhandel, in der Systemgastronomie oder im Callcenter, spielen hier eine Rolle (vgl. Holtgrewe 2000; Holtgrewe 2002; Voswinkel 2005a)57. Die Ermittlung dieser Leistungen wird häufig mittels Testkunden und Kundenbefragungen durchgeführt und ist dabei häufig nicht direkt an individuelle Vergütungsbestandteile geknüpft. Voswinkel (2005a; 133ff.) zeigt z.B., dass diese Form der Leistungsermittlung häufig für die Vornahme von Vergleichen zwischen Filialen und die gezielte Setzung von Schulungsmaßnahmen eingesetzt wird und in dieser Weise verhaltenssteuernd wirken soll. Die sich abzeichnenden Tendenzen in Bezug auf die Leistungsindikatoren spiegeln sich auch in den Entwicklungen bei Leistungsermittlungsverfahren und Lohnformen wider. Entwicklungen im Bereich der Leistungsermittlungsverfah57
Kundenorientierung wird darüberhinaus jedoch auch an der Erfüllung hochstandardisierter Tätigkeiten bzw. anhand wenig subjektiver Indikatoren, wie z.B. Tragen des Namensschildes, richtige Preisauszeichnung oder Sauberkeit in der Filiale, ermittelt (Voswinkel 2005a, S. 133ff.).
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ren zeigen sich in der wachsenden Anwendung von Zielvereinbarungssystemen und Verfahren der persönlichen Beurteilung. Die hiermit z.T. korrespondierenden Veränderungen der Lohnform können an der leicht abnehmenden Bedeutung von Formen des Akkordlohnes und der zunehmenden Anwendung von Prämienlohnsystemen und anderweitigen Leistungszulagen festgemacht werden (vgl. Schmierl 1994; Lay/Rainfurth 1999; Franz et al. 2000; Bahnmüller 2001; Haipeter 2002). Zielvereinbarungen bilden ein rasch an Bedeutung gewinnendes Instrument bzw. Verfahren zur Festlegung, Überprüfung und Anpassung von individuellen wie betrieblichen Zielen, das (auch) zur Bemessung von Teilen des Entgeltes genutzt wird (vgl. Bispinck 2000, S. 15; Bahnmüller 2001, S. 167ff.). Zielorientierte Beurteilungsverfahren gehen dabei von erwarteten Leistungen bzw. von gestellten Zielen (z.B. spezifische Umsatz-, Kosten- oder Projektziele) sowie den diesbezüglich erreichten Ergebnissen aus. Beurteilungsobjekte sind v.a. der Zielerreichungsgrad eines Geschäftsbereiches, der Abteilung einer Gruppe oder auch der einzelnen Mitarbeiter sowie die Ursachen möglicher Zielabweichungen (vgl. Becker 2003, S. 327ff.). Da die zielorientierte Leistungsbeurteilung das „Element der Beurteilung mit einer Zielkomponente der Unternehmensführung verknüpft“, indem unternehmerische Oberziele kaskadenförmig auf Unterziele und schließlich auf Mitarbeiterziele heruntergebrochen werden und auf diese Weise eine gezielte Optimierung des Gesamtsystems erreicht werden kann, stellt sie im Zusammenhang mit der informationstechnischen Durchdringung der Organisationen ein vordergründig herausragend geeignetes Mittel zur Umsetzung der finalisierten Leistungssteuerung dar (vgl. anschaulich den Fall einer Privatbank bei Bender 1997, S. 166ff.; konzeptionell: Berthel/Becker 2003, S. 166ff.). Voswinkel (2005b) stellt in seiner Untersuchung einer Bank und eines Einzelhandelsunternehmens z.B. die über Zielvereinbarungen realisierte Umsetzung erfolgsbezogenen Entgeltes, also die über Zielvereinbarungen realisierte Anwendung betriebswirtschaftlicher und marktbezogener Indikatoren in der Leistungsermittlung, anschaulich als Vermarktlichung von Organisationen dar (vgl. auch Lang 2003 zur Deutschen Lufthansa). Eine Verbindung hinsichtlich Zielvereinbarung und Vergütung stellt Bahnmüller (2001, S. 173) insbesondere im Bankgewerbe und in der Metallindustrie fest. In der branchenübergreifenden Untersuchung des ZEW indiziert die Aussage einer Mehrheit der Unternehmen, „Zielvereinbarungsprämien“ ausbauen zu wollen, dass die Entgelte zunehmend stärker an die Zielerreichung gekoppelt werden (vgl. Franz et al. 2000). Weiterhin gaben 54 Prozent der von Bahnmüller (2001) befragten Unternehmen gaben, dass die persönliche Beurteilung als Leistungsermittlungsverfahren zunehmend wichtiger würde. Auch die untersuchten Fälle von Bender (1997, z.B. Bayer AG, Hoechst AG, Zulieferer für Straßenfahrzeugbau) spre178
chen für diese Entwicklung. Die stärkere Hinwendung zu (z.T. stark umstrittenen) Verfahren der persönlichen Beurteilung lässt sich mit der zunehmenden Wichtigkeit subjektbezogener Leistungsindikatoren im Rahmen von Dezentralisierung und Dienstleistungsorientierung begründen (vgl. Breisig 1989; Schettgen 1992 und 1996, S. 224ff.; Bahnmüller 2001, S. 167ff.). Bahnmüller schreibt: „Weil dieses gewünschte Arbeitsverhalten im Detail nicht planbar ist, lässt sich die Leistung auch nicht messen, sondern nur beurteilen. Dementsprechend sind Beurteilungsverfahren die angemessene Methode, um diese Seite des Leistungsverhaltens abzubilden. Beurteilt werden in der Regel Eigenschaften und Verhaltenspotentiale.“ (Bahnmüller 2001, S. 162)
In diesem Sinne ergänzt die persönliche Beurteilung die finalisierte Steuerung über quantitativ basierte, also marktbezogene und/oder betriebswirtschaftliche Leistungsindikatoren. Dabei werden ausgewählten Beurteilungsmerkmalen (z.B. Arbeitsqualität, -tempo, -sorgfalt) auf der Basis von Eindrucksurteilen Zahlen zugeordnet, die über die Zuteilung entsprechender Vergütungsbestandteile entscheiden können (vgl. z.B. Bispinck 2000, S, 13ff.). Die der Beurteilung zugrunde liegenden qualitativen Daten werden so in quantitative und oft vergütungsrelevante Indikatoren übersetzt. Zumeist erfolgt die Beurteilung von Seiten des Vorgesetzten oder Gruppenleiters (vgl. die Fälle in Bender 1997, zu weiteren Formen z.B. Berthel/Becker 2003, S. 152ff.). Schließlich spiegeln auch die geringere Bedeutung des Akkordlohnes im Fertigungsbereich und die zunehmende Anwendung des Prämienlohnes und anderer Leistungszulagen (z.B. aufgrund persönlicher Beurteilungen) eine Flexibilisierung der Entgeltssysteme im Leistungslohnbereich wider (z.B. Schmiede/Schudlich 1981; Schmierl 1995; Lay/Rainfurth 1999). So weist der Prämienlohn gegenüber dem Akkord eine weitaus höhere Anpassungsfähigkeit an einzelbetriebliche Bedingungen auf. Gemäß Schmierl (1994, S. 165f) lassen sich qualitative als auch quantitative Vorteile unterscheiden. In qualitativer Hinsicht erlauben die neuartigen Variationen des Prämienlohnes (kombinierte Prämien, Prämienlohn mit Qualifikationszulage) z.B., die Lohnformen durch die Wahl spezieller Leistungsparameter an jede betriebliche Situation anzupassen. So ist prinzipiell die Vereinbarung einer Vielzahl unterschiedlicher Leistungsparameter möglich, die relativ flexibel an die betriebliche Situation angeglichen werden können. In quantitativer Hinsicht stehen den Betrieben eine Vielzahl unterschiedlichster Lohnlinien offen (progressiv oder degressiv, nach unten begrenzt oder nicht usw., vgl. auch Berthel/Becker 2003, S. 433ff.), die dem Management spezifische Steuerungsmöglichkeiten erlaubt. 179
Alle diese exemplarisch dargestellten Entwicklungen in der Leistungslohndifferenzierung in Form von neuartigen, also stärker markt- und zugleich subjektbezogenen Leistungsindikatoren, Tendenzen hin zu Zielvereinbarungsverfahren und persönlicher Beurteilung als auch die flexibleren Lohnformen weisen auf die Intention eines zunehmend flexibilisierten Zugriffs auf Arbeitskraft hin. Im Folgenden soll genauer gezeigt werden, in welchen spezifischen Formen die organisationale Wertschätzung von Leistung im Rahmen der Leistungslohndifferenzierung einer marktbezogenen Flexibilisierung unterliegt. Formen der marktbezogenen Wertschätzung von Leistung Marktbezogene Wertschätzung von Leistung beschreibt - der begrifflichen Logik des oben bereits angesprochenen funktionalen Leistungsbegriffes folgend eine organisationale Anerkennung von Leistung, welche nicht die direkte Leistungsverausgabung des Organisationsmitgliedes (Input) zum Bezugspunkt hat, sondern die Leistung ausgehend vom (zumeist kollektiv erbrachten) marktbewerteten Ergebnis (ökonomischer Output) honoriert. Bender schreibt hierzu: „Das, was als zu honorierende Leistung gilt, wird damit nicht mehr nur subjektiv und konkret bestimmt, sondern abstrakt(er), rückwirkend vom realisierten Marktwert der Waren aus, in denen sich diese Leistung -wie man früher sagte - vergegenständlicht hat.“ „Leistung ist hier keine rein arbeitsprozessual definierte Größe im Sinne von zur Aufrechterhaltung der Produktion zweckdienlich verausgabter Arbeit, sondern als Leistung gilt diese Arbeit - pointiert gesagt - nur, insoweit sie sich auf der AktivaSeite der Bilanz niederschlägt.“ (Bender 1997, S. 146f)
Trotz des relativ zum Grundlohn zumeist geringen quantitativen Anteils dieser derartig bestimmten Entgeltbestandteile ist diese Entwicklung von außerordentlicher systematischer Bedeutung, drückt sich darin doch eine Abkehr von einem Leistungsbegriff aus, der ausschließlich in der konkreten Arbeitskraft fundiert ist (vgl. Bender 1997, S. 144ff. sowie S. 178ff.; Bahnmüller 2001). Neckel/Dröge (2002, S. 100) sprechen in dieser Hinsicht z.B. davon, dass man es mit einer Verschiebung von der Leistungserbringung zum Leistungsverkauf und von Leistungsmaßen zur Leistungsnachfrage zu tun hat. Im Rahmen der Systeme der Leistungslohndifferenzierung wird diese Marktbezüglichkeit in verschiedenen Formen umgesetzt (vgl. Bender 1997; Conrad/Manke 2002). Zum einen wird die Definition von Leistung zunehmend von vornherein marktbezogen vorgenommen. Die oben bereits angesprochene Ergänzung traditioneller Leistungsindikatoren um betriebswirtschaftliche und 180
marktbezogene Kennzahlen entspricht somit unmittelbar einer marktbezogenen Definition von Leistung. Zum anderen wird die Marktbezüglichkeit indirekt über die Festlegung von Budgets für die Leistungszulagen hergestellt, indem einerseits die Höhe des Budgets in Bezug auf die wirtschaftliche Situation der Organisation bestimmt wird und/oder andererseits das Budget gemäß der jeweiligen wirtschaftlichen Positionen einzelner Organisationseinheiten (z.B. Profit Center) auf dem „internen Markt“ verteilt wird. Im ersten Fall wird das Budget also extern marktbezogen und oft vom Vorstand (z.B. bei Hoechst und Bayer, vgl. Bender 1997) bestimmt, im zweiten Fall intern marktbezogen verteilt. Letzteres scheint dabei häufiger im Bankbereich aufzutreten (z.B. Bayerische Vereinsbank, vgl. Bender 1997; Conrad/Manke 2002). Richtungweisend für die Entgeltung der individuellen Leistung ist dabei zumeist der individuelle Beitrag zum Ergebnis der jeweiligen Organisationseinheit, welcher über die entsprechende Erfüllung von Zielvorgaben und/oder die Ergebnisse der persönlichen Beurteilung festgemacht wird. Der Marktbezug zeigt sich in diesem Zusammenhang z.B. daran, dass eine gute individuelle Beurteilung oder auch die Erfüllung der individuellen Zielvorgaben nicht notwendig mit einer entsprechenden Leistungszulage einhergehen muss. Dies liegt darin begründet, dass die Höhe des Budgets für Leistungszulagen je nach Marktlage angepasst wird und/oder je nach Performanz einer gesamten Organisationseinheit zugeteilt wird. In diesem Sinne tritt die Ermittlung der individuellen Leistung und deren organisationale Wertschätzung in Form von Vergütung auseinander: Eine organisational für gut befundene individuelle Leistung muss also nicht mehr zwangsläufig eine entsprechende Wertschätzung oder Gegenleistung erfahren. Bender formuliert hierzu anschaulich: „Mit einer Metapher könnte man das so beschreiben: Die Einheiten produzieren unter Einsatz von Arbeit „Leistung“ und exportieren sie auf die nächsthöhere Organisationsebene, letztlich auf den Markt. Wieviel Geld sie für ihre Leistung bekommen, hängt vom Wechselkurs ab, der sich auf dem Markt bildet und den das Leistungsbonusbudget - dem Anspruch nach reflektiert. Die persönliche Leistung wird somit wie ein Produkt bewertet, genauer: als Ware.“ (Bender 1997, S. 181)
Die marktbezogene Wertschätzung von Leistung führt demnach in zweierlei Hinsicht zur offensichtlichen Entkoppelung bisher - zumindest in formaler Hinsicht - verflochtener Elemente: Erstens kommt es zur Entkoppelung zwischen der eigentlichen, individuellen Leistungsverausgabung (Input) und der organisationalen Wertschätzung von Leistung. Dies liegt in der zunehmenden Orientierung am ökonomisch bewerteten Leistungsergebnis (Output) begründet, welches nur begrenzt durch den individuellen Leistungsprozess beeinflusst werden kann. Zweitens, kommt es zu einer potentiellen Entkoppelung zwischen der organisa181
tionalen Ermittlung von Leistung und der organisationalen Wertschätzung, also Vergütung von Leistung. Dies liegt zum einen in der zunehmend extern marktbezogenen Festsetzung und intern marktbezogenen Verteilung der Leistungslohnbudgets begründet. In vielen Fällen bestehen zum anderen auch keinerlei Verbindungen zwischen der (sich ausdifferenzierenden und subjektorientierten) Leistungspolitik und der Lohnpolitik. So können z.B. regelmäßig individuelle Zielvereinbarungen getroffen werden, ohne dass die Zielerfüllung Einfluss auf die Höhe des individuellen Entgelts hat (vgl. z.B. Blutner 2002, S. 108 ff.; Conrad/Manke 2002). Beide Fälle stellen einen Widerspruch zu der im Leistungsprinzip angelegten Äquivalenzerwartung dar. Diese Entwicklungen werden im folgenden Kapitel vor dem Hintergrund der oben herausgestellten normativen Merkmale des Leistungsbegriffes zusammenfassend dargestellt und auf ihre kritischen Implikationen hinsichtlich der subjektiv empfundenen Identität und des Leistungshandelns von Organisationsmitgliedern untersucht. Zuvor wird das vorliegende Kapitel jedoch mit einer kurzen Zusammenfassung abgeschlossen. 4.3 Zusammenfassung – Entwicklung eines neuen Leistungsbegriffes Den Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung mit neuen Formen der organisationalen Leistungssteuerung bildete die Thematisierung der wachsenden Marktorientierung erwerbswirtschaftlicher als auch öffentlicher Organisationen in den westlichen Industriestaaten. Marktorientierung meint in diesem Zusammenhang das organisationale Ziel und die Umsetzung einer aktiven, differenzierten, flexiblen und zugleich effizienten Marktbearbeitung. Die Ausführungen zur wachsenden Marktorientierung wurden dabei über den in der wirtschaftspolitischen als auch industriesoziologischen Forschung vielfach diskutierten Übergang von der fordistisch zur postfordistisch geprägten Wirtschaftsweise von Organisationen thematisiert. In Bezug auf die Gestaltung organisationaler Strukturen und Strategien beinhaltet dieser Übergang wesentlich die Abkehr von zentralistisch und funktional gegliederten Strukturen, die Abwendung von standardisierter Massenproduktion und eine Hinwendung zu dezentral gestalteten Strukturen, welche eine flexible und zugleich effiziente Gestaltung organisationaler Leistungserstellungsprozesse und damit auch eine marktorientierte Anpassung des Leistungsangebotes erlauben sollen. Anschließend wurde gezeigt, dass diese Entwicklungen eine veränderte Steuerung der individuellen und kollektiven Arbeitsleistung von Organisationsmitgliedern beinhalten. Diese bezeichnen einen neuartigen Zugriff auf Arbeitskraft in Form einer stärker subjektivierten Inanspruchnahme und Definition von Leistung. Subjektivierung bedeutet, dass subjektive, also organisational schwer 182
determinierbare, persönliche Fähigkeiten und Potentiale zunehmend im Leistungserstellungsprozess bzw. für dessen Gewährleistung organisational nutzbar (gemacht) werden. In Organisationen geschieht dies zum einen wesentlich über Veränderung der organisationalen Rahmenbedingung der Leistungserbringung, zum anderen über Veränderungen der hierauf z.T. aufbauenden Systeme der Grund- und Leistungslohndifferenzierung. So wurde gezeigt, dass marktorientierte Prozessgestaltung und Dezentralisierung auf der einen und Veränderungen bei der Grundlohnbestimmung, z.B. bei der Bestimmung der entgeltrelevanten Anforderungsarten sowie der Leistungslohnbestimmung, z.B. bei Leistungsindikatoren, Verfahren der Leistungsermittlung und Lohnformen, auf der anderen Seite einen zunehmend subjektivierten Zugriff auf Arbeitskraft ermöglichen und hervorrufen. Beispielsweise führen die Übertragung von Entscheidungskompetenzen und die Anreicherung von Arbeitstätigkeiten im Rahmen operativer Dezentralisierung sowie deren Niederschlag in Systemen der Leistungsentlohnung, etwa durch die Einführung eines entsprechenden Prämiensystems, zu einer stärkeren Abfrage und Honorierung subjektiver Fähigkeiten (z.B. Selbstorganisation, Entscheidungsfähigkeit) der betroffenen Organisationsmitglieder. In diesem Zusammenhang wurde ausgeführt, dass die Gestaltung einzelner Arbeitsplatzzuschnitte im Rahmen der angesprochenen Veränderungen und die entsprechenden Ansprüche an die Subjektivität der Organisationsmitglieder sehr unterschiedlich ausfallen können. Die im Rahmen der marktorientierten Prozessorganisation durchgeführte Dezentralisierung von Organisationen erstreckt sich nämlich nicht notwendig auf alle (Arbeitsplatz-)Ebenen der Organisation. So veranlasst die hinzugewonnene Verantwortung nun dezentraler Organisationseinheiten zwar deren Suche nach personellem Rationalisierungspotential bzw. nach zu erschließenden subjektiven Potentialen der Mitarbeiter, zieht aber dabei nicht notwendig inhaltlich angereicherte bzw. inhaltlich dezentralisierte Tätigkeitszuschnitte nach sich. Formen der strategischen Dezentralisierung von Organisationen führen also z.B. nicht notwendig zu operativer Dezentralisierung auf Arbeitsplatzebene der jeweiligen Organisationseinheiten. In diesem Sinne kann „Dezentralisierung“ auf Arbeitsplatzebene z.B. auch „nur“ in der Übertragung unternehmerischen Risikos auf die Beschäftigten bestehen. Zur Umsetzung einer effizienten marktorientierten Prozessorganisation bieten sich aus unternehmerischer Perspektive demnach unterschiedliche Personaleinsatzstrategien (funktional, numerisch bzw. quantitativ, qualitativ) an, die je nach Tätigkeitszuschnitt und Subjektivitätsbedarf der Arbeitsaufgabe unterschiedlich effizient sein können. Je nach Personaleinsatzstrategie werden also wiederum unterschiedliche Ansprüche an die Subjektivität der Beschäftigten (aktiv, reaktiv usw.) gestellt. Beispielsweise bietet sich die numerische Flexibilisierung des Personaleinsatzes (z.B. Teilzeit, Arbeit auf Abruf) bei eher gering 183
qualifizierten bzw. leicht ersetzbaren Tätigkeiten an. Die effiziente Marktorientierung soll dabei durch die kostensparende und flexible Inanspruchnahme (z.B. bei Nachfragespitzen im interaktiven Dienstleistungsbereich) von Personal erreicht werden. Ansprüche an die Subjektivität des Beschäftigen zeigen sich dabei in der Anforderung einer aktiven Vereinbarung von privater Lebensführung und Erwerbsarbeit (Subjektivitätsform: aktiv, integrativ). Prozessorientierung, Dezentralisierung und die Veränderungen der Entgeltsysteme können also je nach Arbeitsplatz sehr unterschiedliche Realisierungen erfahren und entsprechend unterschiedliche Auswirkungen auf die arbeitsplatzspezifischen Anforderungen haben. In diesem Zusammenhang, war es besonders wichtig, zu zeigen, dass all´ diese unterschiedlichen Realisierungsformen der neuen Marktorientierung von Organisationen einer gemeinsamen Leistungssteuerungslogik verbunden sind. Diese neue Logik wurde als marktförmige Leistungssteuerung herauskristallisiert, was vereinfacht bedeutet, dass die Steuerung der Leistungserbringung von Organisationsmitgliedern zunehmend über die Vorgabe und Kontrolle der marktlich bewerten Outputgrößen ihrer Leistung erfolgt. Die Leistung von Organisationsmitgliedern wird somit in wachsendem Maße vorrangig als Beitrag zum ökonomisch bewerteten Gesamtergebnis einer Organisation definiert, gesteuert und wertgeschätzt. War dies bisher eher in höheren Hierarchieebenen der Fall, bewirkt die organisationsweite Dezentralisierung, also die Bildung ergebnisverantwortlicher Einheiten, und das Ziel, diese Einheiten im Rahmen einer marktlichen Prozessorientierung flexibel und zugleich effizient zu verknüpfen, die Steuerung über die Vorgabe jeweils einheitsspezifischer Funktionsbeiträge zum gesamten Leistungserstellungsprozess und die Forcierung personellen Rationalisierungspotentials in und durch die Einheiten, welche sich in oben genannten Personaleinsatzstrategien widerspiegeln. Die Steuerung über die Vorgabe der funktionsspezifischen Beiträge schlägt sich dabei in der zunehmenden Vorgabe von zu erreichenden Zielen bzw. Kennziffern für die Einheiten bzw. dann - je nach Größe und Tätigkeitszuschnitt der Einheiten und deren Beschäftigten - für einzelne Mitarbeiter nieder. Die Ziele und Kennziffern entstehen dabei über die kaskadenförmige Ableitung von den unternehmerischen Oberzielen der Gesamtorganisation. Unterstützt wird dies durch die wachsende informationstechnische Durchdringung und Verflechtung der Leistungserstellungsprozesse in und zwischen Organisationen, welche die zusammenhängende Abbildung und Erfüllung einzelner Leistungsindikatoren sichtbar und damit auch bewertbar machen. Die spezifischen organisationalen Mechanismen zur Umsetzung der marktförmigen Leistungssteuerung im Rahmen von Prozessorientierung, Dezentralisierung und Entgeltsystemen sind dabei sehr vielfältig, reichen unterschiedlich 184
weit (i.S. von wirklicher Marktähnlichkeit oder -anbindung) und setzen auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich an. So kann sich marktförmige Steuerung von menschlicher Arbeit auf der individuellen Arbeitsplatzebene in verstärktem Einsatz atypischer Beschäftigungsverhältnisse als auch in der am kalkulierten Verkaufspreis unmittelbar orientierten Zielvorgabe eines einzuhaltenden Projektbudgets und der entsprechenden Entgeltung der jeweiligen Mitarbeiterleistung niederschlagen. In diesem Zusammenhang wurde z.B. auf Formen der simulierten und echten Vermarktlichung von Organisationen, die auf unterschiedliche Möglichkeiten zur Bildung interner Märkte sowie unterschiedlich weitgehende Formen der Abbildung marktlicher Dynamiken im individuellen Entgelt (Formen der marktbezogenen Wertschätzung von Leistung) hingewiesen (vgl. stark zusammengefasst Abb. 23). Generell implizieren die Tendenzen der Vermarktlichung eine Erosion des normativen Kerns von Leistung und Leistungsprinzip. Wie Neckel/Dröge (2002) unter Verweis auf Max Weber erläutern, divergieren Leistungs- und Marktprinzip in ihrer Funktionslogik. Nach Weber honoriert der Markt nicht in erster Linie die materiale Wertrealisierung, sondern funktioniert nach dem Prinzip der Geldrechnung. Sind Märkte gegenüber dem Zustandekommen von „Leistungsbeiträgen“ gleichsam blind - also ausschließlich an ökonomischen Ergebnissen interessiert, richtet sich das Leistungsprinzip hinsichtlich der Gewährung von Leistung und Gegenleistung nach der Wünschbarkeit des Ergebnisses und vor allem nach der Mühe, die zu dessen Erreichung im Allgemeinen erforderlich ist (Neckel/Dröge 2002, S. 104 ff.). Das Leistungsprinzip folgt Normen der Gegenseitigkeit, der Äquivalenz, und hat immer auch eine Kompensationsfunktion für aufgewandte Anstrengung und Mühe. Diese Charakteristika konnten Leistung auch erst von der Individualnorm des Unternehmers zur gesellschaftlichen Kollektivnorm und damit zum konstitutiven Prinzip der Verteilung des sozialen Status werden lassen. Beachtet man die große Bedeutung, welche die organisationale Wertschätzung von Leistung für die Identitätsbildung des Einzelnen besitzen kann (vgl. Kap. 3), ist zu vermuten, dass diese Veränderungen nicht reibungslos stattfinden. Jene Reibungen beziehen sich auf die individuelle als auch auf die organisationale Ebene. Auf beiden, wechselseitig verknüpften Ebenen scheint die stabilisierende Funktion des Leistungsprinzips zur Disposition zu stehen. In Anbetracht der vielfältigen und unterschiedlich weit reichenden Realisierung dieser Entwicklungen in Organisationen ist klar, dass die Auswirkungen auf die Identität und das entsprechende Leistungshandeln von Organisationsmitgliedern nur spezifiziert werden können, wenn zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen, bisher dominierenden Leistungsverständnissen und den spezifischen Veränderungen der Leistungssteuerung unterschieden wird (zu 185
empirischen Ergebnissen zur sozialen Sinngebung von Leistung siehe z.B. Neckel et al. 2004). So wird die Hinterfragung der Äquivalenzerwartung im Bereich junger Softwareentwickler möglicherweise von diesen gar nicht als kritisch empfunden, da hier bereits ein neues Verständnis in Bezug auf die Definition „guter“ bzw. wertzuschätzender Arbeit und damit Leistung vorliegt (Motto: „Was sich am Markt nicht verkauft, ist eben keine Leistung.“). Ganz anders könnte dies bei Mitarbeitern von Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in großen Unternehmen oder bei Mitarbeitern von öffentlichen Bildungseinrichtungen aussehen, die vielleicht eher eine Missachtung oder Entwertung der eigenen Arbeit und eine entsprechende Bedrohung ihrer Identität durch die Definition ihrer Leistung über den (ökonomischen) Output empfinden und ihr Leistungshandeln entsprechend verändern. Die spezifische Herausarbeitung dieser Unterschiede zwischen Branchen und individuellen Befindlichkeiten ist dabei nicht das hervorstechende Interesse dieser Arbeit, stellt jedoch ein lohnendes Feld für zukünftige empirische Forschung dar. Im folgenden Kapitel soll der Blick demgegenüber auf die mit den Veränderungen zusammenhängenden, generellen Paradoxien marktförmiger Leistungssteuerung und auf die Konsequenzen für das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Individuum und Organisationen gerichtet werden. Jene Konsequenzen werden dabei über die anomie- und identitätstheoretische Spiegelung der derzeitigen Entwicklungen in der Leistungssteuerung sichtbar gemacht. Das „Objektiv“ wird sozusagen auf „Weitwinkel“ gestellt, um einen Überblick über die vordergründig schwer sichtbaren und möglicherweise nicht intendierten Auswirkungen marktförmiger Leistungssteuerung für den Wertschöpfungsprozess in Organisationen zu erhalten.
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Abbildung 23: Zusammenfassende Darstellung zur marktförmigen Leistungssteuerung Marktorientierung von Arbeitsorganisationen (Postfordismus) Marktorientierte Prozessgestaltung und strategische sowie operative Dezentralisierung: Dezentrale Einheiten im Wertschöpfungsprozess
Steuerung über Vorgaben zum funktionsspezifischen Beitrag zum gesamten Wertschöpfungsprozess als marktförmige Leistungssteuerung Forcierung personellen Rationalisierungspotentials
Flexibilisierungsstrategien des Personaleinsatzes quantitativ
Veränderung von Entgeltsystemen - Finalisierung und Dynamisierung - marktbezogene Wertschätzung
qualitativ
- Subjektivierter Zugriff auf Arbeitskraft - Steuerung über direkt oder indirekt vom Markt abgeleitete Vorgaben zum Leistungsvollzug bzw. Leistungsergebnis
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5 Paradoxien der neuen Leistungssteuerung Darstellung und Konsequenzen aus anomie- und identitätstheoretischer Perspektive
Im folgenden Kapitel wird das Ziel verfolgt, die sich gegenwärtig abzeichnende paradoxe Erscheinungsweise und Anwendung des Leistungsprinzips herauszuarbeiten, für verschiedene Beschäftigtengruppen bzw. verschiedene aktuelle Formen der personellen Rationalisierung zu spezifizieren und Konsequenzen für die wechselseitige Konstitution von Individuum und Organisation aufzuzeigen. Die heuristische Kategorie der Paradoxie scheint dabei in mehrfacher Hinsicht gut geeignet, jene Entwicklungen zu erfassen und potentiell problematische Aspekte ins Blickfeld zu rücken (vgl. Czarniawska 2005). Im allgemeinen Sprachgebrauch steht „Paradoxie“ bzw. „Paradoxon“ für „widersinnige, nach Methode oder Inhalt den Erwartungen oder den hergebrachten Überzeugungen zuwiderlaufende Aussagen.“ (Mittelstraß 2004). Paradoxe Aussagen oder entsprechende Situationen sind demnach generell durch eine scheinbar unauflösbare Widersprüchlichkeit gekennzeichnet, die „Befremden“ auslöst (vgl. Hartmann 2002, S. 235).58 Im aktuellen Forschungsprogramm des Institut für Sozialforschung (Frankfurt/Main) wird dieser Gedanke aufgegriffen und weiter spezifiziert, indem davon ausgegangen wird, dass widersprüchliche Aspekte dann ein Paradoxon darstellen, wenn sie in einem kausalen Verhältnis zueinander stehen (vgl. Honneth 2002). Das heißt, das „Ineinander von gegenläufigen oder negativen und positiven Momenten“ sind Bestandteile bzw. Effekte ein und desselben Prozesses (Hartmann 2002, S. 234). Honneth (2002, S. 8ff.) deutet darauf hin, dass in Anbetracht des „Verblassens alter Strukturkategorien“, wie dem Marxschen Begriff des „Widerspruchs“ oder der „Krise“, und dem gleichzeitigen emanzipatorischen Anspruch soziologischer Forschung der Begriff der „Paradoxie“ daher gut geeignet sei, die Untersuchung der gegenwärtigen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft voranzutreiben.59 Anstatt durch 58 Vgl. zu unterschiedlichen Arten von Paradoxien (z.B. kosmologischen oder Paradoxien der Implikation) Mittelstraß, 2004; eine anschauliche Auseinandersetzung mit bekannten Paradoxien findet man mit Sainsbury (1993). 59 So schreibt Honneth (2002) zur institutsspezifischen „traditionellen“ Verwendung der Marx´schen Begriffe: „Noch vor aller wirklichen Analyse schien festzustehen, dass die gesellschaftlichen Ent-
189 G. Faßauer, Arbeitsleistung, Identität und Markt, DOI 10.1007/978-3-531-91040-6_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
die Ausprägung zweiseitiger Interessengegensätze sei die soziale Realität heute vielmehr durch soziale Ambivalenzen und Ungleichzeitigkeiten geprägt, scheinen „normative Fortschritte in dem einen Bereich heute mit Rückschritten in anderen Sphären einherzugehen, scheint dem Mehr an Freiheit hier die wachsende Disziplinierung dort auf dem Fuß zu folgen…“ (Honneth 2002, S. 9). Moderne Leistungssteuerung ist ausgehend vom normativen Kern des Leistungsprinzips als paradoxe Figur interpretierbar. Ausgehend von dessen Charakteristika stellt z.B. die Vermarktlichung von Leistung eine in sich widersprüchliche Entwicklung dar, deren praktische Umsetzung in Organisationen wiederum widersprüchliche Zustände im faktischen Leistungsvollzug hervorrufen kann. In diesem Sinne ist das Kapitel folgendermaßen aufgebaut: Im ersten Abschnitt wird das umwölbende Paradoxon der sich gegenwärtig abzeichnenden „Ausweitung“ und gleichzeitigen „Aushöhlung“ des Leistungsprinzips erläutert, welche insbesondere durch eben jene Vermarktlichung hervorgerufen wird. Von dieser paradoxen Gestalt ausgehend, werden im darauf folgenden Abschnitt spezifische Entwicklungen im leistungsbezogenen Verhältnis von Organisationsmitgliedern und Organisation erläutert. Diese Entwicklungen beziehen sich auf die sich widersprüchlich entwickelnde Definition von „Leistung“ in Form einer „Verengung“ und gleichzeitigen „Anreicherung“ sowie auf widersprüchliche Entwicklungen hinsichtlich der organisationalen Behandlung und Steuerung des faktischen Leistungsvollzuges. Jene Steuerungsbemühungen hinsichtlich des Leistungsvollzuges erscheinen insbesondere bei den qualitativen Formen der marktlich getriebenen Dezentralisierung interessant. Hier werden bewusst bestimmte Normen des Leistungsvollzuges verändert bzw. Handlungsspielräume formal geöffnet und in eine marktförmige Steuerungslogik eingebettet. Das heißt, dass individuelle Leistung vorrangig über die Vorgabe von zu erreichenden Zielgrößen, weniger über die Vorgabe und Kontrolle einzuhaltender Prozeduren koordiniert wird. Diese intraorganisationale Eröffnung von Spielräumen wirft zugleich die Frage nach der Stabilität organisationaler Abläufe und Strukturen auf. Um in dieser Hinsicht kritische Entwicklungen sichtbar zu machen, werden anschließend die organisationalen Steuerungsbemühungen in Bezug auf wicklungen im Kapitalismus entweder „widerspruchsvoll“ oder „krisenhaft“ verlaufen müssen; je nach vorherrschender Bewusstseinslage wurde daher reflexhaft nach sozialen Indikatoren gesucht, die eine Entgegensetzung klassenspezifischer Interessen oder eine Zuspitzung der gesellschaftlichen Krise belegen konnten. Solange sich in derartigen Zustandsbeschreibungen noch die Erfahrung zumindest eines Teils der Bevölkerung spiegelten, mögen sie als untersuchungsleitende Hypothese von heuristischem Wert gewesen sein; aber in dem Augenblick, in dem dieses hermeneutische Kontinuum zwischen Theorie und Alltagsdiskursen zerrissen war, büßten auch die Marx´schen Leitbegriffe ihre zentrale Bedeutung für die Forschung ein.“ (ähnlich Hartmann im selben Band). Neckel (1999) weist in aufrüttelnder Form auf eben jene (bedrohliche) Auflösung „alter Protestforderungen“ für viele der heutzutage „Ausgeschlossenen“ und deren Ersatz durch „blinde Wut“ hin.
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den Leistungsvollzug aus der Perspektive anomietheoretischer Ansätze analysiert, welche sich traditionsgemäß mit den Bedingungen der Stabilität von Institutionen beschäftigen. Ausgehend von typischen Ausprägungen der marktförmigen Leistungssteuerung in Organisationen werden spezifische Typen der organisationalen Anomie im Leistungsprozess herauskristallisiert und Überlegungen hinsichtlich bestimmter Reaktionsweisen der betroffenen Organisationsmitglieder angestellt. Im letzten Abschnitt sollen die generellen Konsequenzen der paradoxen Gestaltung der neuen Leistungssteuerung für das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Individuum und Organisation analysiert werden. Die Analyse wird dabei aus der Zusammenführung von anomie- und identitätstheoretischen Erkenntnissen geleistet. Nacheinander wird in dieser Form auf mögliche Konsequenzen für die einzelne Organisation sowie die „Organisationsgesellschaft“ eingegangen. Am Ende des Kapitels wird auf diese Weise ein neues Paradoxon sichtbar - nämlich jenes, dass das Management von Organisationen durch die zielgerichtete Vermarktlichung der Leistungssteuerung die damit angestrebte Effizienz und Effektivität der Leistungserstellung selbst untergräbt. 5.1 Soziale Ausweitung und Aushöhlung des Leistungsprinzips Wie im dritten Kapitel dargestellt wurde, stellt das Leistungsprinzip eine „Fundamentalnorm“ im Selbstverständnis moderner Gesellschaften dar (vgl. aktuell Neckel et al. 2004). Neckel/Dröge bringen auf den Punkt: „In scharfer Abgrenzung zu allen ständischen Herkunftsrechten oder der Wirkungsmacht askriptiver Merkmale, die körperliche Eigenschaften oder kulturelle Besonderheiten diskriminieren, beansprucht das Leistungsprinzip, Einkünfte, Zugänge, Ränge und Ämter allein nach den Maßstäben von Wissen und Können zu vergeben.“ (Neckel/Dröge 2002, S. 94)
Die langlebige konstitutive Wirkung für die Sozialordnung der Moderne konnte das Leistungsprinzip einerseits durch seine interpretative Offenheit hinsichtlich des Verständnisses von „Leistung“ erreichen, welche es erlaubte, sowohl die historische Veränderlichkeit i.S. der „dynamischen“ Definitionen von Leistung (vgl. Kap. 3), als auch zeitgleich bestehende Unterschiede im Leistungsverständnis verschiedener sozialer Gruppen abzubilden. Andererseits besitzt das Leistungsprinzip einen „überzeitlichen“ und über soziale Gruppierungen hinweg geltenden Kern, der Voraussetzung für die allgemeingültige Deutung und Anwendung im sozialen Sinnhorizont ist. Denn: 191
„…wenn ein solcher Kern nicht auffindbar wäre, man also feststellen müsste, dass die variationsreiche Rede von der Leistung gänzlich ohne inneren Zusammenhang ist, gehörte das Leistungsprinzip nicht mehr dem Selbstverständnis der modernen Gesellschaft an.“ (Neckel et al. 2004, S. 141).60
Wie in Kapitel 3 gezeigt, handelt es sich bei diesem Kern um folgende Merkmale: 1) die Zweidimensionalität von Leistung, d.h. Leistung wird in den Dimensionen von Aufwand und Ergebnis gedacht, 2) die damit verbundene Ausgewogenheitserwartung als Vorstellung, dass Aufwand und Ergebnis gleichberechtigt in die Leistungsbeurteilung einfließen sollten, 3) die dem Leistungsprinzip vorstechend innewohnende Charakteristik der Äquivalenz von individuell erbrachter Leistung und sozialer Gegenleistung bzw. Anerkennung und schließlich 4) die Erwartung der individuellen Chancengleichheit zur Erbringung von Leistung als Voraussetzung der Wirksamkeit und Legitimation des Leistungsprinzips. Diese Charakteristika stellen den ureigenen normativen Rahmen für die soziale Beurteilung von „Leistungsgerechtigkeit“ dar und stabilisieren durch ihre - zumindest formale Umsetzung - den Leistungsaustausch zwischen Organisationsmitglied und arbeitgebender Organisation. In diesem Zusammenhang ist nochmals hervorzuheben, dass dieses Verständnis von Leistung und des damit zusammenhängenden Leistungsprinzips der oben beschriebenen, gesellschaftlichen „Kollektivnorm“ entspricht, deren Entstehen unmittelbar mit der Entwicklung von Arbeitsorganisationen verknüpft ist. In diesem Sinne lässt sich vom Leistungsprinzip als gesellschaftliche Fundamentalnorm zugleich vom arbeitsorganisationalen Leistungsprinzip sprechen. Wie im vorangegangenen Kapitel angedeutet, scheinen die Charakteristika des arbeitsorganisationalen Leistungsprinzips in Anbetracht aktueller Entwicklungen in Organisationen und Gesellschaft vielfach untergraben zu werden. So formulieren Neckel et al. als eine Erkenntnis ihres aktuellen Projektes61 über die soziale Sinngebung von „Leistung“: „Gegenwärtige Entwicklungen werfen die Frage nach der tatsächlichen Relevanz von Leistung im Deutungsbestand der modernen Gesellschaft mit besonderer Dringlichkeit auf, weil die Realität des Leistungsprinzips eine zunehmend paradoxe Gestalt annimmt.“ (Neckel et al. 2004, S. 146, H.i.O.)
Paradox erscheinen diese Entwicklungen, weil einerseits beobachtbar ist, dass die soziale Statusverteilung auf eine Weise umgestaltet wird, die sich zu den 60 Wie zum Beispiel in der bekannten Polit-Talk Show „Sabine Christiansen“ vom 29.10. 2006, Thema: „Abstrampeln für Nichts – Lohnt sich Leistung noch?“ 61 Vgl. zum Projekt „Leistung in der Marktgesellschaft“: www.ifs-uni-frankfurt.de/forschung/ leistung/index.htm (04.11. 2006).
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normativen Forderungen des Leistungsprinzips vielfach widersprüchlich verhält, andererseits aber gerade diese Umgestaltung im gesellschaftspolitischen Diskurs häufig durch die Leistungssemantik legitimiert wird (vgl. ebenda). Neckel et al. sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Ausweitung“ des Leistungsprinzips, die zugleich dessen „Aushöhlung“ impliziert. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene konstatieren sie z.B. zum einen die Ausweitung des Leistungsprinzips auf Bereiche, welche bisher nach den Prinzipien von Anrechten oder Bedürftigkeit organisiert worden sind, z.B. die Einführung „leistungsorientierter“ Elemente in Arbeitslosen- und Sozialversicherungssysteme (vgl. Sachweh et al. (2006) u.a. zum Zusammenhang von sozialer Akzeptanz und zugeschriebenen Eigenschaften der Leistungsempfänger (z.B. „Anstrengungsbereitschaft“ zur Überwindung der Situation). Zum anderen werden überproportional hohe Einkommen, die häufig wesentlich durch „leistungsferne“ Faktoren, wie z.B. dem Aktienkurs eines Unternehmens oder der sozialen Herkunft, bestimmt sind (vgl. z.B. Hartmann 2002), durch entsprechende „Leistung“ legitimiert (Top-Manager als „Leistungsträger“ der Gesellschaft). In beiden Fällen wird vom „Prinzip Leistung“ Gebrauch gemacht, ohne dessen Anwendungsbedingungen, wie z.B. die Voraussetzung der Chancengleichheit zur Erbringung von Leistung oder die Charakteristika des „Leistens“, in Betracht zu ziehen. Auf diese Weise hat man es mit der paradoxen Entwicklung einer Ausweitung des Leistungsprinzips bei dessen gleichzeitiger normativer Unterwanderung zu tun. Da das Leistungsprinzip in den westlichen Gesellschaften trotz des scheinbar schwindenden Glaubens an seine soziale Realität (vgl. z.B. Baethge et al. 1995) zur entsprechenden Wahrnehmung von angestellten Hochqualifizierten, Meulemanns (1999) Ergebnisse zur Entwicklung des Wertes „Leistung“ in Deutschland und Lippls (2000) Ergebnisse zur Wahrnehmung und Beurteilung von Einkommensgerechtigkeit in Europa) immer noch als legitimstes Verteilungsprinzip des sozialen Status angesehen wird (Hochschild 1981; Hamann et al. 2001), ist anzunehmen, dass diese Entwicklungen nicht reibungslos ablaufen werden. 62 62
Die öffentlichen Diskussionen um den Fall Mannesmann bzw. um das Verhalten der beteiligten Top-Manager, man denke etwa an das Victory-Zeichen von Josef Ackermann nach Abschluss des ersten Prozesses (vgl. z.B. Neckel in Die Zeit vom 05.02.2004: Schöpferische Zerstörung? Was der berühmte Ökonom Joseph Schumpeter von der heutigen Manager-Elite gehalten hätte), als auch die im Zusammhang mit der von der Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragten Studie „Gesellschaft im Reformprozess“ (2006) ausgelösten Debatte zur Leistungsmotivation und -chance von Angehörigen der „Unterschicht“ (in der Studie als „Abgehängtes Prekariat“ bezeichnet), indizieren z.B., dass der normative Rahmen des Leistungsprinzips durchaus als soziale Reibungsfläche und Argumentationsressource dient (vgl. z.B. Die Welt vom 22.10. 2006: Die abgeschottete Gesellschaft hat ausgedient; Spiegel-Online vom 20.10. 2006: Das Gefühl abgehängt worden zu sein; Die Zeit vom 19.10. 2006: Reden über die Unbenennbaren, Sieben Rezepte gegen die Armut oder Der Tagesspiegel vom 18.10.
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In Bezug auf den Leistungsvollzug in Organisationen stellt die aktuell stattfindende Vermarktlichung von Leistung die zentralste Gefahr der Aushöhlung des Leistungsprinzips dar (z.B. Neckel et al. 2004). Wie in Kapitel 4 erläutert, zeigt sich die Vermarktlichung von Leistung in deren zunehmender Definition, Bewertung und Wertschätzung vom marktbewerteten Ergebnis des gesamten Leistungserstellungsprozesses. In Bezug auf die organisationalen Rahmenbedingungen ist diese Entwicklung einerseits in Tendenzen der marktorientierten Prozessgestaltung und strategischen sowie operativen Dezentralisierung von Organisationen eingebettet. Andererseits indizieren auch entsprechende Veränderungen bei den Systemen der Grund- und Leistungslohnbestimmung eine wachsende marktorientierte Wertschätzung von Leistung. Wie gezeigt, impliziert diese Vermarktlichungslogik auf der individuellen Arbeitsplatzebene je nach Tätigkeitszuschnitt und Qualifikation unterschiedliche Konsequenzen, z.B. in Form unterschiedlicher Personaleinsatzstrategien. Generell transportieren die beschriebenen Veränderungen der organisationalen Leistungssteuerung und die sich hiermit verkörpernde Logik der Marktförmigkeit eine organisationale Definition von „Leistung“, welche dem historisch gewachsenen, idealtypischen Verständnis von Leistung als Kollektivnorm in wesentlichen Merkmalen widerspricht bzw. diesbezüglich bestimmte Veränderungen anzeigt. Die Ausgewogenheitserwartung in Bezug auf die Beurteilung von Aufwand und Leistungsergebnis und auch die hierauf aufbauende Äquivalenzerwartung in Bezug auf Leistung und Gegenleistung wird durch die zunehmende Konzentration auf den ökonomischen Output und die Abkehr von den Inputgrößen sowie die wachsende marktbezogene Wertschätzung von Leistung potentiell herausgefordert und hinterfragt. So formulieren Neckel/Dröge : „Die Bewältigung notwendiger Routinearbeiten, die Last schwerer ermüdender Tätigkeiten und das unauffällige Wirken hinter den Kulissen sieht sich einer materiellen und symbolischen Abwertung ausgesetzt, weil hauptsächlich Ertragsgrößen und keine Prozessleistungen zählen.“ (Neckel/Dröge 2002, S. 99) „Das Verhältnis von Aufwand und Ertrag, das dem Leistungsprinzip seit jeher als eine innere Richtschnur dient, wird dadurch bis auf das äußerste gespannt - und in den heute entscheidenden Bereichen der modernen Ökonomie schließlich restlos entkoppelt.“ (Neckel/Dröge 2002, S. 101)
Markt- und Leistungsprinzip funktionieren nach unterschiedlichen Logiken. Folgt das Leistungsprinzip Normen der Wechselseitigkeit und der Bewertung von wirtschaftlichen Erträgen nach dem Ausmaß von Anstrengung und Belas2006: Armutszeugnis: Unterschicht und Bildungschancen – wie der soziale Hintergrund Selbstvertrauen und Ehrgeiz beeinflusst).
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tung, verhält sich der Markt gegenüber dem Zustandekommen von „Leistungsbeiträgen“ neutral. Dem Markt ist in diesem Sinne keine Kompensationsfunktion bzw. nicht das Ziel der „Leistungsgerechtigkeit“ zugedacht. Neckel/Dröge (2002, S. 105) erläutern: „Er verteilt nicht nach den Prinzipien der Leistungsgerechtigkeit, sondern nach dem günstigsten Angebot, der stärksten Nachfrage und den besten Preisen.“ In diesem Sinne stellen individuelle Leistungen für den Markt in erster Linie Kosten dar, die es zu reduzieren gilt, und erfolgt z.T. die Honorierung von Markterfolgen, die sich leistungsfrei einstellen. Mit der Gleichschaltung von Leistungs- und Marktprinzip werden demnach die Charakteristika untergraben, welche Leistung von der Individualnorm des Unternehmers zur gesellschaftlichen Kollektivnorm und damit zum konstitutiven Prinzip der Verteilung des sozialen Status werden ließen (vgl. ausführlich Kap. 3). Die sich gegenwärtig abzeichnende Vermarktlichung von Leistung in Organisationen, als Kurzschluss von Leistungs- und Marktprinzip, gerät demnach zwangsläufig mit den normativen Forderungen des arbeitsorganisationalen Leistungsprinzips in Konflikt und führt zur Unterhöhlung von Leistungsbegriff und Leistungsprinzip. Auf individueller Ebene spiegelt sich diese Entwicklung in veränderten Bedingungen der Anerkennung bzw. Wertschätzung von Leistung. Im folgenden Abschnitt werden diese Veränderungen näher erläutert. 5.2 Entwicklungen im leistungsbezogenen Verhältnis von Individuum und Organisation Im Folgenden soll aufgezeigt werden, in welcher Form sich die Veränderungen in der Anwendung des „Leistungsprinzips“ im Verhältnis von Individuum und arbeitgebender Organisation realisieren. Zunächst wird auf Entwicklungstendenzen im Verständnis von Leistung eingegangen. Die Frage richtet sich also darauf, welche systematischen Veränderungen in Bezug auf die inhaltliche Definition von Leistung („Was“ versteht man unter Leistung.) durch die neuen Formen organisationaler Leistungssteuerung hervorgerufen werden. Es wird gezeigt, dass man es mit den gegenläufigen Entwicklungen der „Anreicherung“ und gleichzeitigen „Verengung“ von Leistung zu tun hat, welche die marktlich getriebene „Ausweitung“ und „Aushöhlung“ des arbeitsorganisationalen Leistungsprinzips in Bezug auf verschiedene Aspekte widerspiegeln bzw. transportieren. Anreicherung von Leistung meint, dass die Palette der Eigenschaften und Fähigkeiten, welche mit dem Prädikat „Leistung“ versehen werden und welche über die Erwerbsarbeit abgefragt werden, in unterschiedlicher Hinsicht erweitert bzw. angereichert wird. Dabei geht diese Anreicherung zugleich mit unterschiedlichen Formen der Verengung des inhaltlichen Verständnisses von Leis195
tung einher. Der Kurzschluss von Markt- und Leistungsprinzip bedeutet demnach einerseits eine Anreicherung und andererseits eine Verengung von Leistung, wobei beide Entwicklungen für unterschiedliche Leistungsbestandteile beobachtet werden können, jedoch immer die Aushöhlung des Leistungsprinzips indizieren. Anschließend wird die Art und Weise der organisationalen Steuerung der Leistungsvollzuges („Wie“ wird geleistet.) betrachtet. In Verbindung mit den gegenläufigen Entwicklungen im Leistungsverständnis korrespondieren entsprechende Entwicklungen auf der Ebene des faktischen Leistungsvollzuges. Einerseits wird die Art und Weise des Leistens in Organisationen betont und unterliegt - sowohl im höher als auch im niedrig qualifizierten Bereich - entsprechenden Steuerungsmaßnahmen. Andererseits bewirken diese Steuerungsansätze häufig zugleich eine organisationale Unterwanderung der notwendigen Bedingungen für den faktischen Leistungsvollzug. Die dadurch entstehende Situation des Leistungsvollzuges lässt sich dabei in mehrfacher Hinsicht als anomisch kennzeichnen. Solche gegenläufigen, ja paradoxen Entwicklungen in Bezug auf den Leistungsvollzug sind insbesondere für den Bereich der qualitativen Flexibilisierung festzustellen, welche vertiefend behandelt werden. Einerseits wird hier formal mehr Spielraum zur Leistungserbringung eingeräumt, andererseits steht die faktische und normative Ausgestaltung der hierfür gegebenen Rahmenbedingungen dem häufig entgegen. Dies führt bei outputbezogener Leistungsdefinition möglicherweise sogar dazu, den formal eingeräumten Spielraum zum stärkeren Korsett für den Leistungsvollzug werden zu lassen als vorher. In diesem Sinne schließt der Abschnitt mit einer Diskussion über potentielle Reaktionsweisen der betroffenen Organisationsmitglieder. Generell ist hervorzuheben, dass die Entwicklungen von „Anreicherung und Verengung“, „Betonung und Vernachlässigung“ grundsätzliche Brüche im herkömmlichen, wechselseitigen Anerkennungsverhältnis zwischen Individuum und Organisation bedeuten. Das meint nicht, dass die bisherige Leistungsbeziehung zwischen Individuum und Organisation sich vollkommen problemlos gestaltete bzw. das Leistungsprinzip bisher immer vollkommene Geltung für sich in Anspruch nehmen konnte (z.B. hinsichtlich Chancengleichheit, „objektive“ Beurteilung von Arbeitsleistung usw.). Das Neue an der derzeitigen Entwicklung ist, dass das arbeitsorganisationale Leistungsprinzip offensichtlich an sich in Frage gestellt wird. Das heißt, es geht nicht um Schwierigkeiten hinsichtlich der Anwendung des Prinzips, sondern das Prinzip selbst wird durch die organisationalen Maßnahmen konterkariert. Damit scheinen Organisationen ihre soziale Legitimation und die stabilisierende Wirkung des Leistungsprinzips hinsichtlich der organisationalen Leistungserstellung „aufs Spiel zu setzen“. Es lässt sich schlussfolgern, dass die 196
soziale Integrationsfunktion und die Akzeptanz der Verfügung über die Organisationsmitglieder sowie die hiermit verbundenen Möglichkeiten der gerichteten Mobilisierung von Leistungsanstrengungen, der Legitimation von Sanktionen und entsprechende Anreiz- und Motivationswirkungen durch die Aushöhlung des Leistungsprinzips gleichermaßen an Wirksamkeit verlieren. Somit wird die Frage aufgeworfen, in welcher Form Organisationen diese wichtigen Funktionen weiterhin gewährleisten, um den „organisational advantage“ aufrechtzuerhalten (vgl. Nahapiet/Goshal 1998). Diese potentielle Destabilisierung der sozialen Integrationsfunktion von Organisationen und die damit verbundenen Konsequenzen hinsichtlich der organisationalen Leistungserstellung müssen dabei in Verknüpfung mit der individuellen Ebene der betroffenen und potentiellen Organisationsmitglieder gesehen werden. Deren durch das Leistungsprinzip stabilisierte Erwartungshaltung hinsichtlich eigener Leistung und organisationaler Gegenleistung wird durch die beschriebenen Entwicklungen in Organisationen grundlegend und offensichtlich hinterfragt. Die Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung bzw. Wertschätzung von Arbeitsleistung, die in modernen Gesellschaften eine hervorragende Wichtigkeit für Identitätsbildung hat, verändern sich. Fraglich erscheint, ob diese Form der organisierten Arbeitsleistung weiterhin als objektiv und subjektiv relativ „verlässliche“ Quelle der Anerkennung dienen kann bzw. den Status des subjektiv signifikanten Anerkennungsbereiches für den Einzelnen zunehmend verliert. Entsprechende Konsequenzen könnten sich in passiven Formen des „Rückzuges“ aus dem Arbeitsleben als auch in der aktiven Einforderung der subjektiv angemessenen und erwartbaren Anerkennung für die eigene als „Leistung“ definierte Arbeit äußern (ähnlich Hirschmann (1990) zu exit, voice, loyalty). Diese auf den Erkenntnissen der vorangegangenen Kapitel basierende Schlussfolgerung, dass sich biographische Erfahrungen und die durch den Prozess der Identitätsbildung notwendige, wechselseitige Anerkennung auf der einen Seite und die beschriebenen Entwicklungen in Organisationen auf der anderen Seite wechselseitig aneinander „abarbeiten“, soll im letzten Abschnitt des Kapitels ausführlich dargestellt und diskutiert werden. 5.2.1 Anreicherung und Verengung des Verständnisses von Leistung Wie im Zuge der Ausführungen zur Ausweitung und gleichzeitigen Aushöhlung des Leistungsprinzips schon angeklungen ist, können die Tendenzen der Anreicherung und gleichzeitigen Verengung bzw. Aushöhlung des Verständnisses von Leistung für unterschiedliche soziale Bereiche thematisiert werden. In der vorliegenden Arbeit stehen die Entwicklungen im Bereich der Erwerbsarbeits197
sphäre im Vordergrund. Die sich hier abzeichnenden Tendenzen der Anreicherung und Verengung von Leistung werden im Folgenden auf zwei Ebenen thematisiert. Zum einen geht es um den wachsenden Trend der expliziten Einforderung von Anstrengungen und Fähigkeiten, die über den eigentlichen unmittelbaren Arbeitsprozess hinaus reichen, dabei jedoch keine Äquivalenz hinsichtlich der erwartbaren Gegenleistung garantieren. Man kann diesbezüglich also von der zunehmenden Einforderung von „Vorleistungen“ sprechen, die erst dazu befähigen, potentiell Erwerbsarbeit leisten zu können bzw. zu dürfen. Zum anderen werden verschiedene Facetten der Verschiebung zwischen der Input- und Outputdimension von Leistung in den entsprechenden Arbeitsprozessen bzw. in deren Steuerung diskutiert. So werden neben der bereits thematisierten Ausweitung und Aushöhlung von Leistung durch Vermarktlichungsprozesse auch neue formalisierte als auch nicht-formalisierte Gewichtungen innerhalb der Inputkomponente von Leistung impliziert. Zum Beispiel können Leistungsarten, wie die „Präsentationsleistung“, wichtiger für den Leistungsvollzug und dessen Wertschätzung werden, während die bisher im Vordergrund stehende sachbezogene „Aktionsleistung“ (Becker 2003, S. 83ff.) hinsichtlich der organisationalen Wertschätzung an Bedeutung verliert. Andererseits ist die steigende Abfrage neuer subjektiver Leistungen im Arbeitsprozess ersichtlich, welche jedoch nur teilweise als „Leistungen“ definiert oder organisational wahrgenommen werden, wie z.B. Formen „kompensatorischer Subjektivität“ (vgl. Kap. 4), und damit kein Recht auf Gegenleistung implizieren. Diese wesentlichen, paradoxen Tendenzen der Anreicherung und Verengung von Leistung werden nun nacheinander ausführlich erläutert und diskutiert. Im Zuge dessen werden die entsprechenden Bezüge zur Wirksamkeit des Leistungsprinzips herausgearbeitet und dargestellt. Dabei ergeben sich die ersten drei Aspekte „Mehr Vorleistung für eine unsichere Zukunft“, „Nur der Output zählt, aber unter Vorbehalt“ und „Auf die Präsentation kommt es an!“ aus der direkten interpretativen Spiegelung von aktuellen Entwicklungen der Leistungssteuerung und dem normativen Kern des Leistungsprinzips. Der vierte Punkt „Neue Leistung, aber unsichtbar“ speist sich demgegenüber bereits aus Erkenntnissen über verschiedene Diskrepanzen in der organisationalen Gestaltung des Leistungsvollzuges, welche im darauf folgenden Abschnitt eingehender erläutert werden. 5.2.1.1 Mehr Vorleistung für eine unsichere Zukunft Die Marktorientierung von Organisationen induziert die Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen, Arbeitszuschnitten und -inhalten. Dies bedeutet 198
für Erwerbspersonen einen wachsenden Druck zur Erbringung von Leistungen, welche einerseits vordergründig nicht über den unmittelbaren Leistungsprozess in der arbeitgebenden Organisation abgefragt und wertgeschätzt werden. Andererseits sind diese Leistungen jedoch häufig Voraussetzung für die Erbringung der eigentlichen Arbeitsleistung, die Beibehaltung des Arbeitsplatzes und die Sicherung zukünftiger Beschäftigungsverhältnisse. Hiermit sind zum einen subjektive Leistungen angesprochen, welche sich auf die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und privater Lebensführung beziehen. Des Weiteren kommen auch Leistungen ins Blickfeld, die die ständige individuelle Weiterentwicklung der eigenen Arbeitskraft sicherstellen sollen und unter modernen Schlagworten wie „lebenslanges Lernen“ oder „Employability“ gehandelt werden (vgl. z.B. Tuschling 2004). Die Anforderungen an die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Privatleben als Inanspruchnahme der „strukturierenden, integrativen Subjektivität“ (vgl. Kap. 4), werden mit der zunehmenden Flexibilisierung hinsichtlich Zeit, Arbeits- und Wohnort sowie Beschäftigungsverhältnis immer wichtiger. Entsprechende Entscheidungen in Bezug auf die Voraussetzungen und die Gestaltung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie der Reproduktion der eigenen Arbeitskraft werden in höherem Maße abgefordert als in den traditionellen Normalarbeitsverhältnissen (z.B. Beck 1986; Sennett 2000). Dies trifft sowohl für höher als auch geringer qualifizierte Personen im Rahmen quantitativer und qualitativer Flexibilisierung zu. Die organisationale Externalisierung dieser individuellen „Vorleistungen“ stellt dabei kein grundsätzlich neues Phänomen dar. Neuartig sind jedoch das abverlangte Ausmaß und die „Qualität“ dieser Anstrengungen. Paradox erscheint, dass die erfolgreiche Bewältigung entsprechender Aufgaben, z.B. bei voller Berufstätigkeit Kinder groß zu ziehen oder bei ständig hoher Arbeitsbelastung körperlich „fit“ zu bleiben, einerseits zunehmend als „Leistung“ definiert wird (vgl. z.B. Greco (2004) zum Begriff der „Wellness“ oder Bröckling (2002) zum Inhalt von „Erfolgsratgebern“). So formuliert Opitz: „Weil zum Beispiel nur eine ordentliche Rückenmuskulatur den Tag auf dem Bürostuhl erträglich macht, folgt das unternehmerische Selbst in seiner Freizeit dem Ruf nach der Arbeit an seiner „Fitness“. Dabei wird es von einer umfassenden FitnessIndustrie (…) zu der Einhaltung von Grenzwerten in allen Lebenslagen angehalten. Es gilt effizient zu schlafen, zu sprechen und zu essen.“
Und weiter:
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„So können nämlich größere und kleinere Phasen der Inaktivität wie Krankheiten oder der berüchtigte „tote Punkt“ am Nachmittag präventiv vermieden werden.“ (Opitz 2004, S. 153f)
In Zeiten personeller Rationalisierung und umkämpfter Arbeitsmärkte bieten solche Vorleistungen andererseits jedoch nur beschränkt eine Garantie hinsichtlich der erwartbaren sozialen Gegenleistung. Im Kontext der normativen Voraussetzungen einer „Leistungsgesellschaft“ erscheint dies paradox: Leistung ist von der Gegenleistung u.U. restlos entkoppelt. In gleicher Weise verhält es sich mit den Leistungen, die die langfristige Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnen sichern sollen. Die aktuelle Forderung des „lebenslangen Lernens“ lässt z.B. die (häufig private) Weiterbildung als unabdingbare Vorleistung zur eigenen „Employability“ werden. Employability kann als die „Fähigkeit, fachliche, soziale und methodische Kompetenzen unter sich wandelnden Rahmenbedingungen zielgerichtet und eigenverantwortlich anzupassen und einzusetzen, um eine Beschäftigung zu erlangen oder zu erhalten,“ definiert werden (Rump/Eilers 2006, S. 21). Die öffentliche Aufforderung zu solchen Leistungen richtet sich dabei an alle Erwerbsfähigen. Zugleich werden politische Initiativen unternommen, entsprechende institutionelle Voraussetzungen hierfür zu schaffen, wobei der Einzelne zunehmend angehalten ist, entsprechende Maßnahmen zu „kofinanzieren“ (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2000, S. 13; Tuschling 2004). Grundsätzlich deutet die beschriebene Zunahme von „Vorleistungen“ in Bezug auf das derzeitige oder zukünftige Beschäftigungsverhältnis auf eine wachsende „Ökonomisierung“ des eigenen Selbst bzw. des eigenen Leistungspotentials hin. So wird das z.B. libertäre Potential, das die Vorstellung vom lebenslangen Lernen zweifelsohne hat, durch die dominierende Ausrichtung am Arbeitsmarkt zwangläufig unterlaufen. Tuschling betont: „Sich fit for the job zu machen und vor allem auch fit zu erhalten, ist tatsächlich nicht nur eine lebenslange >Chance<, sondern vor allem ein lebenslänglicher Zwang.“ (Tuschling 2004, S. 157, H.i.O.)
Der Einzelne ist in stärkerem Maße angehalten, seine Fähigkeiten in Bezug auf den Arbeitsmarkt zu optimieren, ohne die Gewähr entsprechender Gegenleistungen zu haben. Leistung als „Kollektivnorm“ mutiert auf diese Weise wieder zur marktlich ausgerichteten „Individualnorm“ des „Arbeitskraftunternehmers“ (vgl. Pongratz/Voß 2003). Das vor dem Hintergrund des normativen Kerns des Leistungsprinzips erscheinende Phänomen von „Mehr Vorleistung für eine unsichere Zukunft“ kann 200
im Rahmen der vorliegenden Analyse somit als erstes Paradoxon abgeleitet werden. 5.2.1.2 Nur der Output zählt, aber unter Vorbehalt Wie in Kapitel 4 erläutert, stellt die „Output-Orientierung“ eine generelle Tendenz der Leistungssteuerung von und in Organisationen dar. Marktorientierte Prozessgestaltung sowie die einhergehende operative und strategische Dezentralisierung bedingen, dass Leistung in zunehmendem Maße vom Ende der betrieblichen Wertschöpfungskette - also vom gesamten Output - her gesteuert und definiert wird. Es wurde gezeigt, dass sich diese Logik für das einzelne Organisationsmitglied je nach organisationaler Ebene bzw. Tätigkeitszuschnitt unterschiedlich entfaltet, jedoch häufig durch die wachsende Explikation von Leistungsvorgaben gekennzeichnet ist. Solche Leistungsvorgaben können dabei sowohl einzuhaltende oder anzustrebende Größen des Leistungsvollzuges sein, also an der Input- oder Aufwandsdimension von Leistung ansetzen, als auch direkt auf das Leistungsergebnis bzw. den individuellen bzw. individuell zugerechneten Output abzielen. Beide Formen, also Input- und Outputexplikation, bergen ausgehend vom Leistungsprinzip paradoxe Tendenzen der gleichzeitigen Anreicherung und Verengung von Leistung. Hier interessieren zunächst jene der marktlich angebundenen Output-Vorgabe. Die Simulierung „echter“ oder „fiktiver“ Märkte in Organisationen (vgl. Moldaschl/Sauer 2000; Frese 2004, vgl. ausführlich Kap. 4) als auch die „reale“ Vermarktlichung im Rahmen strategischer Dezentralisierungsprozesse konfrontiert insbesondere mittlere Manager und betriebliche Experten mit der Vorgabe marktlich definierter Outputvorgaben für den individuellen Leistungsprozess (z.B. Faust et al. 2000). Das heißt, deren Leistung wird in wachsendem Maße z.B. über den Umsatzbeitrag oder die Angebotspreise der eigenen Abteilung definiert, wertgeschätzt und somit gesteuert. Individuelle Leistung - als „gerecht“ wertzuschätzender Aufwand im Sinne des Leistungsprinzips - wird auf diese Weise mit „Markterfolg“ kurzgeschlossen und damit zugleich missachtet bzw. in ihrer Bedeutung unterhöhlt. Wie oben bereits beschrieben, erfolgt die marktliche Bewertung von Tätigkeiten als „Leistung“ nicht nach dem Prinzip der „Entschädigung“ für aufgewandte Mühe im Sinne von „Leistungsgerechtigkeit“, sondern nach Angebot und Nachfrage (vgl. Neckel/Dröge 2002). Die organisationale Wertschätzung des individuellen Leistungsvollzuges erfolgt somit immer unter dem Vorbehalt des (internen) Markteinflusses.
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Die marktliche bzw. unternehmerische Definition von Leistung stellt dabei nichts grundsätzlich Neues dar. Leistung als ursprüngliche Individualnorm des Unternehmers wird über die ökonomisch definierten Erträge bzw. den Residualgewinn beschrieben. Neu ist jedoch, dass diese Form der Leistungsdefinition bei der Simulation von organisationsinternen Märkten auf Organisationsmitglieder ausgeweitet wird, die nicht Unternehmer im ursprünglichen Sinne sind und sein können. So zeigt Kühl (2000) anschaulich, dass interne Märkte aufgrund ihrer Einbettung in die vorgegebenen organisationalen Zwecke, ihrer Einrahmung durch die Organisierung der organisationalen Mitgliedschaft und durch den hierarchischen Aufbau, wesentliche Unterschiede zu externen Märkten aufweisen und deshalb auch kein wirkliches unternehmerisches Verhalten der Organisationsmitglieder ermöglichen (sollen). So muss ein hoher Output am internen Markt z.B. keine Sicherheit für organisationale Wertschätzung sein, wenn sich die strategische Zwecksetzung der Organisation verändert (vgl. auch Galunic/Eisenhardt 2001, Child/McGrath 2001 zum Aspekt der Dualität von Pluralität und Kohärenz): „Bei internen Märkten können Geschäftsbereiche, Profitcenter oder Werke nicht davon ausgehen, dass schwarze Zahlen eine Garantie für den Verbleib im Unternehmen und damit auf den internen Märkten sind. Genauso wenig garantiert einem Intrapreneur oder einem Ein-Mann-Unternehmen das Erbringen von hervorragenden Leistungen den Verbleib im Konzern.“ (…) Das Motto in Unternehmen ist eben nicht „Tut was ihr wollt, aber seid profitabel“, sondern „Tut was ihr wollt, aber seid profitabel und bleibt innerhalb der (wechselnden) Zwecksetzung des Konzerns.“ (Kühl 2000, S. 823)
In dieser Hinsicht erfolgt die Erfüllung des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung nicht nur unter dem Vorbehalt des internen, sondern auch des externen Marktes. Generell bedeutet die Ausweitung eines marktdefinierten Leistungsbegriffes auf Organisationsmitglieder die gleichzeitige Verengung von „Leistung“. Durch diese Tendenz wird sowohl die dem Leistungsprinzip innewohnende Vorstellung der Ausgewogenheit bei der Beurteilung von Aufwand und Ertrag als auch die der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung unterwandert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Tendenz des „Nur der Output zählt, aber unter Vorbehalt“ vor dem Hintergrund des Leistungsprinzips als weiteres Paradoxon im Rahmen dieser Analyse definiert werden kann.
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5.2.1.3 Auf die Präsentation kommt es an! In den sozialwissenschaftlichen Arbeiten über Leistung und Erfolg wird häufig zwischen Sach- bzw. „Aktionsleistung“ und „Präsentationsleistung“ unterschieden (vgl. auch verwandte, mehrheitlich auf Erving Goffmans Arbeit aufbauende Untersuchungen zum „Impression Management“, z.B. Gardner/Martinenko 1988; Giacalone et al. 1995; Gardner/Avolio 1998; Bolino 1999). Becker schreibt erläuternd: „Im Gegensatz zur eher sachbezogenen (Aktions-)Leistung fordern Erfolgsnormen ein soziales Verhalten. Wenn es gilt, selbst gefertigte Produkte, die eigene Leistung oder eigene Ideen durchzusetzen, müssen bestimmte soziale Regeln beachtet werden. Die Leistung liegt dabei in der Qualität der Präsentation, der Beachtung der Regeln bzw. der Entsprechung der Rollenerwartungen.“ (Becker 2003, S. 83f)
Bei der „Präsentationsleistung“ geht es also um die Leistung, die zur sozialen „Durchsetzung“ der eigenen sachlichen Leistung bzw. der eigenen Person notwendig ist (vgl. zur Differenzierung Mannheim 1964, S. 633ff.). Präsentationsleistung stellt vor diesem Hintergrund einerseits eine notwendige Voraussetzung für die soziale Wertschätzung der eigenen Leistung dar und kann je nach Tätigkeitszuschnitt einen gewichtigen Teil der eigentlichen Leistung ausmachen (vgl. z.B. Abstufungen zum Anteil immaterieller Ergebnisbestandteile und Interaktionshäufigkeit und -tiefe bei Dienstleistungen Picot/Neuburger 2001, S. 806). Ausgehend vom normativen Kern des Leistungsprinzips besteht andererseits jedoch auch das Problem, dass (aktions)leistungsferne Tätigkeiten durch eine übermäßig betriebene bzw. „ungerechtfertigte“ oder gar schädlich wirkende Präsentation (Intrigen, Lügen, Abstufung von Konkurrenten) höher wertgeschätzt werden, als es gemäß Anstrengungsniveau „gerecht“ wäre (vgl. Neckel 2002; Becker 2003, S. 83ff.). Ausgehend von diesem normativen Rahmen wird in den entsprechenden wissenschaftlichen Arbeiten häufig die begriffliche Trennung von „Leistung“ und „Erfolg“ vorgenommen. Dabei ist mit Erfolg allgemein die soziale Geltung gemeint, die mit der eigenen Leistung erlangt wird („Sichdurchsetzen“ bei Mannheim 1964, S. 634f.). Beide Größen können in der Realität durchaus voneinander entkoppelt sein.63 Erfolg, der sich „leistungslos“ einstellt, wird im Sinne des Leistungsprinzips jedoch abgelehnt und 63
Ichheiser (1930) unterscheidet z.B. nach Leistungs- und Erfolgstüchtigkeit und konstatiert, dass diese sogar gegenläufigen Funktionslogiken verpflichtet sind. Zur Erfolgstüchtigkeit gehört so z.B. die bewusste Schädigung und Herabsetzung von Konkurrenten oder das Intrigenspiel, wogegen Leistung z.B. durch die wirkliche Arbeit am herzustellenden Produkt gekennzeichnet ist.
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als ungerechtfertigt angesehen. Die Devise „Erfolg um jeden Preis“ bedeutete also wiederum die Aushöhlung des Leistungsprinzips. Es zeigt sich nun, dass für Organisationsmitglieder eine notwendige Steigerung oder Ausweitung ihrer Präsentationsleistung erforderlich ist, um im Rahmen von Marktorientierung und marktförmiger Leistungssteuerung in Organisationen erfolgreich zu sein. Dies ist einerseits durch die wachsende Explikation bzw. Formalisierung entsprechender (Präsentations-) Leistungsvorgaben bei zunehmender Marktbzw. Kundenorientierung von Organisationen zu erklären. Dies ist häufig im Dienstleistungsbereich bzw. in der direkten Kundeninteraktionsarbeit der Fall, wo Tätigkeiten seit jeher einen hohen Anteil an Präsentationsleistung gegenüber dem Leistungsabnehmer aufweisen. In Anbetracht der hohen Vielfalt dieser Tätigkeitszuschnitte können die Vorgaben in Bezug auf die zu erbringende Präsentationsleistung natürlich sehr unterschiedlich sein, sich beispielsweise auf die eigene Person oder die Präsentation eines physisch greifbaren Produktes beziehen. So ist anzunehmen, dass Rationalisierung und Selbstbedienungskonzepte in klassischen Dienstleistungsbereichen, wie etwa in weiten Teilen des Lebensmittel-Einzelhandels, zu abnehmenden Ansprüchen an die direkte Kundeninteraktion führen und die entsprechenden Leistungsvorgaben sich hier z.B. stärker auf die visuelle Präsentation (Sauberkeit, Etikettierung) der Ware beziehen (vgl. z.B. Voswinkel 2005b). In sich neu entwickelnden Dienstleistungsformen, wie den telefonischen Tätigkeiten, oder den wachsenden industriellen Dienstleistungen können Leistungsvorgaben wiederum einerseits stärker auf die Präsentation der eigenen Person (z.B. „animatorisches Dienstleistungskonzept“ vgl. Voswinkel 2005b) zielen oder sich andererseits auf die zu verkaufende Ware beziehen (Präsentation von Fachwissen, kompetente Beratung vgl. Grewer/Reindl 2003 zu Dienstleistung im Maschinenbau). Andererseits kann Präsentationsleistung auch ohne entsprechende Formalisierung wichtiger werden und ist in der Funktionslogik von interner Marktsteuerung, damit einhergehender interner Kundenorientierung und Dezentralisierung begründet. So macht der „Verkauf“ der Abteilungsleistung oder die interne Vermarktung eines Projektes auf organisationsinternen und/oder -externen Märkten eine bessere oder umfassendere Präsentation faktisch notwendig. So zitieren Faust et al. (2000, S. 135, H.i.O.) einen von ihnen befragten Personaler in Bezug auf die neue Rolle des Personalwesens in marktförmig organisierten Austauschprozessen: „Heute kommt es auf die Überzeugungskraft an, weil die Weisungsbefugnis fehlt,“ und konstatieren selbst: „Die Dienstleistungen müssen „verkauft“ werden, wobei man die Abnehmer von den eigenen professionellen Qualitätsstandards erst überzeugen muß.“ (S. 136). (vgl. auch die empirischen Ergebnisse zum Thema „Verkauf“ von Leistung, S. 146f). Auch das karrierebe204
dingte Interesse zur Darstellung der individuellen Leistung bzw. der eigenen Person innerhalb von Gruppen- oder Projektarbeit (Dezentralisierung) kann Präsentationsleistung für den Einzelnen wichtiger werden lassen ohne dass dies organisational formalisiert wäre. Newell/Dopson (1996, S. 13) zitieren beispielsweise einen mittleren Manager nach Dezentralisierungsprozessen bei British Telecom: „…you can never undo your tie, never relax and the key measure of success is the number of hours worked,“, wobei die zusätzlichen Arbeitsstunden nach Meinung der Befragten zur guten Bewältigung der Arbeit nicht notwendig wären. Darüber hinaus muss Präsentationsleistung nicht nur auf die derzeitig arbeitgebende Organisation gerichtet sein. Die Flexibilisierung von Karrierewegen macht auch die Präsentation des eigenen Könnens bzw. erbrachter „Vorleistungen“ auf dem externen Arbeitsmarkt stärker notwendig. Anschaulich berichten z.B. Martin/Wajcman über die marktliche Orientierung von Managern und deren Bemühen, für potentielle Arbeitgeber attraktiv zu sein, indem sie formale Bildungszertifikate erwerben, jedoch häufig ohne einen inhaltlichen Mehrwert dieser Maßnahmen wahrzunehmen: „Though very confident of their ability to do the jobs they had or aspired to, many interviewees also maintained a distinction between the characteristics which would make them appealing to employers and their own sense of the skills and experiences which were actually necessary to perform a job.“ (Martin/Wajcman 2004, S. 252)
Die Ausweitung von Leistung auf größere Anteile der Präsentation von Person oder Sache kann zugleich zu einer Verengung bzw. zu einer Unterhöhlung des Leistungsprinzips führen, indem durch herkömmlich „geringer geschätzte“ oder „unlautere“ Leistungen Gegenleistungen erworben werden. Diese „Gefahr“ besteht weniger in den Bereichen, wo Aktions- und Präsentationsleistung fast zusammenfallen, als vielmehr bei Leistungserstellungsprozessen, bei denen Präsentationsleistung in erster Linie dazu dient, einer Sach- oder Aktionsleistung zu sozialer Geltung zu verhelfen. In Korrespondenz mit der ökonomischen Outputorientierung von Leistungskontrolle und -wertschätzung in Organisationen kann sich hier die Tendenz entwickeln, Standards der Aktionsleistung zu vernachlässigen bzw. diese einer gelungenen Präsentation der Sachleistung zu opfern. So ist auch denkbar, dass der Inhalt der Präsentationsleistung nicht mit der eigentlichen Aktionsleistung übereinstimmt, sozusagen die mögliche Intransparenz in Bezug auf die sachliche Qualität der Leistung ausgenutzt wird. Ähnlich kritisch kann es sich mit Präsentationsleistungen verhalten, die sich auf die eigene Person richten, ohne dass diese Person entsprechende fachliche Qualifikationen oder „gelungene“ Sachleistungen vorzuweisen hat. Kühl (2000) 205
weist in diesem Zusammenhang auf das generelle Spannungsverhältnis zwischen den Forderungen, sich einerseits als „interner Unternehmer“ zu verstehen, der die Maximierung des eigenen Nutzens anstrebt, und andererseits die kooperative Zusammenarbeit mit der arbeitgebenden Organisation zu suchen, hin. Kühl spricht diesbezüglich von „paradoxen Verhaltensanforderungen“. Baethge et al. (1995, S. 74ff.) unterscheiden in ihrer Untersuchung über betriebliche Experten und Hochqualifizierte z.B. zwischen deren Wahrnehmung von „Leistungskriterien“ und Kriterien der „Anpassung“ („die Leistung ins rechte Licht rücken“, S. 75), wodurch deutlich wird, dass diese Personen durchaus zwischen Sach- und Aktionsleistung unterscheiden und dadurch auch in die Lage versetzt sind, die jeweiligen Investitionen in diese Leistungsarten abzuwägen. Insbesondere im deutschen Kontext der Kaminkarrieren und funktionalen Orientierung von Managern bzw. den Fachlaufbahnen bei betrieblichen Experten könnte sich der höhere Druck zur Präsentation jedoch mit den vorhandenen Leistungsverständnissen reiben (Walgenbach 1994; Faust et al. 2000). Zwar ist das „Selbstmarketing“ im Bereich der Professionals seit jeher wichtig für die eigene Karriere, da die „wirkliche“ Qualität der Sachleistung von der Betriebsleistung bzw. dem Leistungsabnehmer nicht als Ganzes beurteilt werden kann. Dennoch indizieren die Ergebnisse von Baethge et al. (1995, S. 74ff.), dass bestimmte Gruppen betrieblicher Experten dem sehr skeptisch gegenüberstehen und die wachsende Notwendigkeit zur „Selbstinszenierung“ wahrscheinlich kritisch beurteilen werden: „Dies (das Selbstmarketing, Anm.d.V.) ist allerdings gerade in den professionell geprägten Bereichen nicht jedermanns Sache, und nicht selten wird kritisch angemerkt, dass die Fähigkeit, Rundschreiben „abzusetzen“ oder Präsentationstechniken zu beherrschen, mehr zählt als der Inhalt dieser Kommunikationsformen.“ (Baethge et al. 1995, S. 75)
Die Tendenzen hin zu einer stärkeren Präsentationsleistung können einerseits in den Augen einiger Organisationsmitglieder zur Unterhöhlung des Leistungsprinzips führen und somit entsprechende Reaktionen hervorrufen. Andererseits entwickelt sich die Gefahr, dass Organisationen die notwendigen Rahmenbedingungen für die Erbringung eigentlich notwendiger, innovativer (Aktions-) Leistungen durch ihre Mitglieder untergraben. Insgesamt kann auf Basis der vorangegangenen Überlegungen geschlussfolgert werden, dass die Tendenz des „Auf die Präsentation kommt es an“ als drittes spezifisches Paradoxon im Rahmen der Tendenz von Anreicherung und Verengung des Leistungsprinzips festgehalten werden kann.
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5.2.1.4 Neue Leistung, aber „unsichtbar“ In Kapitel 4 wurde erläutert, dass Marktorientierung, Dezentralisierung und marktförmige Leistungssteuerung einen zunehmend subjektorientierten Zugriff auf Arbeitskraft beinhalten, d.h. individuelle Fähigkeiten und Potentiale werden für den Leistungsprozess zunehmend funktional (gemacht). Es wurde gezeigt, dass je nach Tätigkeitszuschnitt und Personaleinsatzstrategie unterschiedliche Formen der Subjektivität in Anspruch genommen werden können. Dabei handelt es sich häufig um Leistungen, die zusätzlich oder neu erbracht werden müssen, jedoch wegen der fehlenden organisationalen Explikation entsprechender Leistungskriterien und der marktlich angebundenen Wertschätzung potentiell „unsichtbar“ sind bzw. gemacht werden. Die angesprochene „Vorleistung“ zählt hierzu ebenso wie die vernachlässigte Inputkategorie von Leistung bei marktlich bestimmten Outputvorgaben und die zusätzliche Präsentationsleistung, welche bei ausbleibendem Markterfolg ebenso „unsichtbar“ wird. Im vorliegenden Abschnitt interessieren demgegenüber solche Leistungen, die sich durch die diskrepante organisationale Ausgestaltung und Steuerung von marktlich koordinierten Leistungsprozessen zusätzlich entwickeln. Hiermit sind Leistungen angesprochen, die einerseits zur Bewältigung neu entstehender widersprüchlicher Arbeitsanforderungen und -bedingungen, andererseits zur Gewährleistung störungsfreier Arbeitsabläufe bei der zunehmenden informationstechnischen Einbindung von Arbeitsprozessen im Rahmen von Marktorientierung und -steuerung entstehen. Im ersten Fall müssen Diskrepanzen in der normativen und faktischen Gestaltung des Leistungsvollzuges bewältigt werden, um die entsprechende „originäre“ oder explizit vorgegebene Leistung zu erbringen. Hiermit sind z.B. widersprüchliche Vorgaben zum Leistungsvollzug (vgl. Moldaschl 1994, 2000) gemeint oder der häufige Fall der formalen Dezentralisierung von mehr Verantwortung bei gleichbleibender oder sogar verringerter Ausstattung mit organisationalen Ressourcen (vgl. Dopson/Neumann 1998; Faust et al. 1998; Faust et al. 2000, S. 156 ff. Holden/Roberts 2004). Im zweiten Fall müssen die Beschäftigten ihre Leistungserstellung zunehmend an technikzentrierten Produktionssystemen ausrichten bzw. deren fehlerfreies Funktionieren gewährleisten. Voss-Dahm beschreibt z.B. die zunehmende Inanspruchnahme solcher kompensierender Subjektivität für den Dienstleistungsbereich: „Insbesondere in den untersuchten Selbstbedienungswarenhäusern besteht die hauptsächliche Tätigkeit der Verkaufsbeschäftigten darin, dem Zeitablauf der Warenkette möglichst störungsfrei zu folgen. Der Zeitablauf der automatisch gesteuerten Warenkette sieht vor, dass Bestellungen von Waren oder Korrekturen von automatisch erstellten Warenbestellungen innerhalb bestimmter Zeitfenster zu erledigen sind. Wird die Tätigkeit innerhalb der vorgegebenen Zeit nicht ausgeführt, so
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gibt es keine Möglichkeit, Ware anderweitig zu bestellen.“ (Voss-Dahm 2003, S. 77)
Die Arbeit, die durch den Umgang mit diesen Systemen entsteht, ist zumeist eine zusätzliche, die in den bisherigen Leistungsvollzug eingepasst werden muss, jedoch nicht explizit honoriert wird. Besonders kritisch erscheint, dass die Erbringung der herkömmlichen, explizit bewerteten Leistung durch diese zusätzliche wesentlich erschwert werden kann. In allen Fällen lässt sich einerseits eine Ausweitung von faktisch zu erbringender Leistung konstatieren, die andererseits aus verschiedenen Gründen nicht in die organisationale Leistungsindikation und -wertschätzung einfließt. Aus der Perspektive des Leistungsprinzips entsteht auf diese Weise ein Ungleichgewicht zwischen Leistung und Gegenleistung. Vor diesem Hintergrund kann das Phänomen des „Neue Leistung, aber unsichtbar“ als weiteres Paradoxon bezeichnet werden. Im Folgenden werden die hier nur angedeuteten Verschiebungen im faktischen Leistungsvollzug näher beleuchtet, indem der Blick spezifischer auf die organisationale Steuerung des Leistungsprozesses gerichtet wird. Auf diese Weise können subjektiv neu zu bewältigende Notwendigkeiten zur Leistung herausgefiltert werden, mit denen Organisationsmitglieder im Leistungsvollzug faktisch konfrontiert werden. 5.2.2 Betonung und Vernachlässigung des Leistungsvollzuges bei qualitativer Flexibilisierung Marktorientierung und marktgetriebene Leistungssteuerung in Organisationen werfen die Frage nach der Gewährleistung der Stabilität bzw. Effizienz und Effektivität organisational zu koordinierender Leistungserstellung bzw. entsprechender Strukturen und Abläufe auf (z.B. Moldaschl/Sauer 2000; Voswinkel 2000). Vor dem Hintergrund dieser Frage wird im vorliegenden Abschnitt die organisationale Steuerung des faktischen Leistungsvollzuges von Organisationsmitgliedern aus anomietheoretischer Perspektive analysiert. Ansätze der Anomie scheinen hierfür gut geeignet, da sie sich traditionsgemäß mit den Bedingungen für die langfristige Stabilität von sozialen Institutionen beschäftigen (vgl. Joas/Knöbl 2004 zur funktionalistischen Sichtweise auf Institutionen a lá Parsons). Dabei erfolgt die Konzentration auf Formen der qualitativen Flexibilisierung. Das heißt, nur solche Beschäftigte geraten ins Blickfeld, welche im Zuge von Marktorientierung und -steuerung eine formale Erweiterung ihrer Handlungsspielräume erfahren haben, sich mit der Neugestaltung ihrer Leis208
tungsprozesse konfrontiert sehen und deren aktive, arbeitsbezogene Subjektivität nun explizit stärker abgefragt wird. Zugleich sind hiermit Beschäftigte gemeint, die relativ kontinuierlich in derselben Organisation beschäftigt sind. Die Analyse des Leistungsvollzuges dieser Beschäftigtengruppe erscheint, ausgehend von der Frage nach der unmittelbaren Wirksamkeit des Leistungsprinzips innerhalb von Organisationen, interessanter als die Untersuchung eines rein durch quantitative Flexibilisierung geprägten Leistungsprozesses. Bei qualitativer Flexibilisierung werden von organisationaler Seite formal kontrollierte Spielräume für den Leistungsvollzug eröffnet und die Inanspruchnahme von Subjektivität richtet sich auf die Durchführung der Arbeitstätigkeit selbst. Bei reiner quantitativer Flexibilisierung werden demgegenüber keine formalen Entscheidungs- und Handlungsspielräume im eigentlichen Arbeitsvollzug eingeräumt. Die Beanspruchung von Subjektivität richtet sich in erster Linie auf die zeitliche Ausbalancierung von Erwerbs- und Familienarbeit bei häufig fremdbestimmten hochflexiblen Arbeitszeiten und den Umgang mit zunehmend ungesicherten Erwerbsarbeitsbiographien. Bei Formen der qualitativen Flexibilisierung werden dagegen Normen des Leistungsvollzuges explizit verändert. Bei qualitativer Flexibilisierung erfährt die Art und Weise des Leistungsvollzuges demnach eine größere „Betonung“ bzw. wird der subjektiven Gestaltung des Leistungsvollzuges explizit mehr Gewicht beigemessen. In den folgenden Abschnitten soll jedoch gezeigt werden, dass diese Betonung aus verschiedener Hinsicht zugleich eine „Vernachlässigung“ der Bedingungen der Leistungserstellung in Organisationen bedeuten kann und damit potentiell die eigentliche Idee dieser Bestrebungen unterwandert wird - also eine paradoxe Konstellation sichtbar wird, wie sie bereits angedeutet worden ist. In diesem Sinne soll im Folgenden gezeigt werden, dass die aktuellen Formen der Leistungssteuerung bei qualitativer Flexibilisierung anomische Tendenzen in Organisationen hervorrufen können. Dies geschieht einerseits durch die häufig diskrepante Gestaltung der qualitativen Flexibilisierung, z.B. in Hinsicht auf die Ressourcenausstattung des Einzelnen, als auch durch die Diskrepanz in den Leistungsvorgaben selbst. Zum anderen könnte kritisch sein, dass die neuen Leistungsvorgaben häufig sehr interpretationsoffen erscheinen - ein Aspekt, der den Aufbau von langfristig stabilen Verhaltenserwartungen erschweren könnte. Bevor diese verschiedenen Ursachen von Anomie in dezentralisierten Arbeitsplatzzuschnitten näher erläutert werden, soll nochmals auf das theoretische Gerüst der Mertonschen Anomietheorie (vgl. Kap. 2) eingegangen und sollen die entsprechenden Begrifflichkeiten und Zusammenhänge für die Analyse des Leistungsvollzuges in Organisationen aufgezeigt werden. Letztlich werden abschließend Schlussfolgerungen hinsichtlich möglicher Reaktionsweisen der Organisationsmitglieder getroffen. 209
5.2.2.1 Betrachtung des Leistungsvollzuges aus anomietheoretischer Perspektive Wie in Kapitel 2 bereits dargestellt, kennzeichnet „Anomie“ in der Mertonschen Konzeption einen bestimmten Zustand sozialer Institutionen (Makrotheorie). Merton geht davon aus, dass sich in stabilen sozialen Institutionen die Überzeugungen und Verhaltensweisen von Institutionsmitgliedern wesentlich an den entsprechenden institutionellen, also offiziell legitimen, Vorgaben orientieren.64 Befindet sich eine soziale Institution jedoch im Zustand der Anomie, ist dies nicht der Fall. Als anomisch werden dabei solche soziale Institutionen gekennzeichnet, die ein unausgewogenes Verhältnis im sozialen Wirkungsgrad (Grad der Befolgung, Lamnek 2001) von institutionell vorgegebenen Zielen und institutionell vorgegebenen Mitteln bzw. Wegen zur Erreichung dieser Ziele aufweisen. Nach Merton führt insbesondere die starke Betonung und Akzeptanz institutioneller Ziele im Gleichschritt mit schwach akzeptierten institutionellen Vorgaben hinsichtlich der zur Zielerreichung anzuwendenden Mittel dazu, dass Institutionsmitglieder "abweichende", mitunter die Institution schädigende Mittel anwenden, um die allgemein anerkannten Ziele zu erreichen. Die schwache Wirkung institutioneller Mittel kann nach Merton z.B. aus dem für Institutionsmitglieder beschränkten faktischen Zugang zu diesen Mitteln herrühren, wodurch sich die jeweilige Akzeptanz dieser Mittel verringert und u.U. alternative Mittel angewendet werden. Ein solcher anomischer Zustand führt mit zunehmendem Grad (z.B. durch Nachahmung) zur Aushöhlung spezifischer institutioneller Strukturen bzw. im Extrem zum Zusammenbruch der jeweiligen institutionellen Struktur. Anomische soziale Institutionen sind somit durch eine bestimmte Entwicklungsdynamik gekennzeichnet. Wenn im Folgenden eine anomietheoretische Untersuchungsperspektive auf die organisationale Steuerung des Leistungsvollzuges eingenommen wird, impliziert dies zunächst eine institutionelle Sichtweise. Das heißt, es werden die Charakteristika der den Leistungsvollzuges steuernden organisationalen Rahmenbedingungen in den Fokus gerückt, die nach Merton zu „abweichenden“ Verhaltensweisen der betroffenen Organisationsmitglieder führen. Gegenstand der Betrachtung sind demnach organisationsstrukturelle Merkmale, die nach Merton einen Zustand der Normlosigkeit induzieren, d.h. also eine schwache Wirksamkeit bzw. das Fehlen von Normen. Soziale Normen ermöglichen generell stabile und verlässliche Handlungswiederholungen, fördern wechselseitige Handlungserwartungen und tragen insgesamt zur Stabilität von Organisationen 64
Zu den entsprechenden Kritikpunkten vgl. Kap.2, 2.4.2.3.
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bei. Daher können anomische Phänomene in Organisationen, wie bereits angedeutet, auch als ein Indiz für deren Wandel begriffen werden. Im vorliegenden Abschnitt geht es um anomische Tendenzen in der Gestaltung des Leistungsvollzuges in operativ dezentralisierten Arbeitszuschnitten. In diesem Zusammenhang wird unter Anomie das Fehlen bzw. die schwache Wirksamkeit der für den Leistungsvollzug neu vorgegebenen bzw. implizierten Normen definiert. Als Normen werden dabei die explizit gemachten Verhaltensregeln und Verhaltensstandards des Leistungsvollzuges verstanden. Bei operativer Dezentralisierung werden bewusst Handlungsspielräume eröffnet, die von den Organisationsmitgliedern in neuer, subjektivierter Art und Weise ausgefüllt werden müssen. Das heißt, Normen des Leistungsvollzuges werden bewusst verändert. Die genauere anomietheoretische Analyse der organisational neu gesetzten Rahmenbedingungen des Leistungsvollzuges erlaubt begründete Zweifel, dass es sich bei den entsprechenden Auswirkungen dieser Maßnahmen immer um organisational intendierte Konsequenzen handeln muss. Ohne diese Entwicklungen per se kritisieren oder negativ bewerten zu wollen, können aus anomietheoretischer Perspektive problematische Aspekte für den Leistungsprozess abgeleitet werden. 5.2.2.2 Typen von Anomie bei qualitativer Flexibilisierung Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die normative und faktische Gestaltung neuer Leistungssteuerungssysteme bei operativ dezentralisierten Arbeitszuschnitten einen anomischen Druck in Bezug auf den Vollzug von Leistung entwickelt. Dieser Druck ergibt sich durch eine zunehmende Vorgabe der zu erreichenden Leistungszielen bei 1) gleichzeitig abnehmender bzw. 2) widersprüchlicher oder 3) interpretationsbedürftiger Vorgabe von Mitteln des Leistungsvollzuges. Auch können im Rahmen von Dezentralisierung häufig 4) faktische Gründe einer Anwendung der vorgegebenen Mittel entgegenstehen. Dies führt dazu, dass die betroffenen Organisationsmitglieder zusätzliche Anpassungsleistungen im Arbeitsprozess erbringen müssen, die häufig nicht explizit sichtbar werden bzw. organisational honoriert werden. Wie oben gezeigt, bedeutet dies eine Verletzung des normativen Kernes des Leistungsprinzips (vgl. zum Folgenden auch Faßauer/Schirmer 2006). 1) Abnehmende Vorgabe der Mittel bei Betonung des Ziels Grundsätzlich wird durch operative Dezentralisierung bzw. durch einen qualitativ angereicherten Personaleinsatz sowohl im Produktions- als auch Führungskräftebereich eine größere Selbstorganisation und Eigenverantwortung der Mitarbeiter angestrebt. Dabei liegt es in der Logik des Dezentralisierungsgedan211
kens, weniger explizite und differenzierte Vorgaben für den Leistungsvollzug zu machen. Durch Dezentralisierung werden also bewusst Handlungsspielräume eröffnet, die von den Organisationsmitgliedern in neuer Art und Weise ausgefüllt werden müssen. Die Anomie im normativen Gefüge der organisationalen Leistungssteuerung entsteht dabei dadurch, dass der Fokus der Leistungsmessung und -kontrolle zunehmend auf das Ergebnis des Leistungsprozesses bzw. auf das Erreichen von Leistungszielen gerichtet wird (vgl. Franz et al. 2000; Bahnmüller 2001, S. 161 ff.). Im Sinne von Merton hat man es also mit einer stärkeren bzw. expliziten Vorgabe von Zielen des Leistungsprozesses bei gleichzeitig abnehmender Vorgabe der zur Zielerreichung anzuwendenden Mittel, also einzelnen Arbeitsschritten bzw. Prozeduren, und damit den Normen des Leistungsvollzuges zu tun. Voswinkel (2000, S. 244) spricht in diesem Zusammenhang z.B. von der Umstellung der „verfahrensorientierten zu einer ergebnisorientierten Rationalität von Leistung“ in Organisationen. Auf diese Weise wird organisational eine anomische Situation für die betroffenen Organisationsmitglieder erzeugt, die von diesen subjektiv gelöst werden muss. Ein solcher Zustand erscheint für Organisationsmitglieder und potentiell für die Organisation selbst dann kritisch, wenn betroffene Mitarbeiter - bedingt durch die neuen Anforderungen der eigenen Aufgabe - nicht bzw. nur bedingt erfolgreich auf bisher legitimierte Mittel der Zielerreichung zurückgreifen können. Das bedeutet z.B., dass die Anwendung herkömmlicher professioneller Standards der Aufgabenbewältigung nicht zum neu vorgegebenen Leistungsziel führt bzw. dessen Erreichen sogar entgegensteht (z.B. Kadritzke 1997, S. 151ff.). Letzteres zeigt sich exemplarisch bei von Faust et al. (2000) befragten Beschäftigten von Personalabteilungen. Diese mussten von den bisherigen professionellen Qualitätsstandards der Personalentwicklung abweichen, um die Leistung der eigenen Abteilung am unternehmensinternen Markt kostengünstig anzubieten und damit auch absetzen zu können (vgl. Faust et al. 2000, S. 135 ff.). Auch Dopson/Neumann (1998, S. 59ff.) und Kadritzke (1997) weisen auf Basis ihrer empirischen Untersuchungen auf entsprechende Veränderungen in Bezug auf die geforderte Professionalisierung von Führungskräften bzw. Hochqualifizierten hin. Dieser Aspekt wurde in 5.2.1.3 bereits mit der Tendenz zur zunehmenden Präsentationsleistung bei potentiell geringwertiger Aktionsleistung angesprochen. In Anbetracht des häufig hohen subjektiven Stellenwertes der eigenen Profession (vgl. Gildemeister/Günther 1987; Baethge et al. 1995) kann angenommen werden, dass sich die Ablösung von den Standards des Arbeitsvollzuges konflikthaft gestalten kann. In dieser Hinsicht kann mit einer Verunsicherung oder dem Widerstand der Beschäftigten gerechnet werden, da Leistungsnormen - womöglich gegen die eigenen professionellen Standards und unter Sanktionsandrohung - neu definiert werden müssen (vgl. z.B. die Diskus212
sion über Reaktionen von „Professionals“ auf die Umsetzung von New Public Management in Großbritannien, z.B. Thomas/Davies 2005). Weniger „kritisch“ sieht es bei Mitarbeitern und Führungskräften aus, die bereits alternative Vorstellungen in Bezug auf den Leistungsvollzug mitbringen. Die in der Studie von Faust et al. (2000) als „intrapreneur par excellence“ bezeichneten Führungskräfte orientieren sich z.B. klar an der Rolle eines „Geschäftsführers auf unterer Ebene“ oder der eines „Mittelständlers“ (Faust et al. 2000, S. 124ff.) und verbinden mit diesen Leitbildern auch Handlungsorientierungen für sich. Inwieweit diese Handlungsorientierungen tatsächlich immer im Sinne der Organisation sind, steht jedoch auf einem anderen Blatt, man denke z.B. an die Aushöhlung von Aktions- durch „falsche“ Präsentationsleistung. 2) Widersprüchliche Vorgabe von Mitteln Eine anomische Situation kann beim Einsatz ergebnisorientierter Leistungssteuerung auch dann entstehen, wenn zwar organisationale Vorgaben in Bezug auf den Leistungsvollzug gemacht werden, diese jedoch einerseits miteinander oder andererseits in Bezug auf das zu erzielende Leistungsergebnis im Konflikt stehen. Empirische Hinweise für den ersten Fall finden sich in Analysen zu neuen Arbeitsformen und Entgeltsystemen in der deutschen Metallindustrie (vgl. Moldaschl 1994; Schmierl 1995). Sie zeigen, dass die Einführung dezentralisierter Arbeitszuschnitte im Produktionsbereich mit der Vorgabe widersprüchlicher Leistungsparameter in Bezug auf den Leistungsprozess einhergehen kann. Das heißt, dass der Versuch, alle gesetzten Vorgaben zu erreichen, widersprüchliche Verhaltensweisen im Leistungsvollzug impliziert. So stehen z.B. Vorgaben wie größtmögliche „Maschinenauslastung“, „Qualität“ und „Gemeinkostenreduzierung“ gleichberechtigt nebeneinander (vgl. Moldaschl 1994, S. 128 ff.; Schmierl 1995, S. 247ff.). Das Verfolgen einer hohen „Maschinenauslastung“ innerhalb einer Arbeitsgruppe würde etwa die flexible Übernahme indirekter Arbeitsaufgaben (z.B. Materialbeschaffung) während eines längeren maschinellen Arbeitsganges bedeuten (Reduktion von Leerlauf). Die hiermit reduzierte Überwachung des maschinellen Arbeitsvorganges kann dabei jedoch der Vorgabe einer höchstmöglichen „Qualität“ zuwiderlaufen, die eine aufmerksame Überwachung des maschinellen Vorgangs erfordert. Auch wenn die Autoren dieser Studie die Problematik eher in den Restriktionen zur Ausbalancierung dieses Normenkonfliktes sehen, lässt sich aus anomietheoretischer Perspektive eine mögliche Normenschwäche aus dieser Diskrepanz ableiten (vgl. Dreitzel 1972, S. 74ff.). Auch Knights/McCabe (2003) weisen in ihrer Studie über die Einführung von Gruppenarbeit in einem Callcenter auf die häufig gegebene Spannung zwischen qualitativen („wie“ wird geleistet) und quantitativen („was“ ist das Ergebnis des Leistens) Leistungsindikatoren hin.
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Solche Normenkonflikte müssen subjektiv gelöst werden und verlangen subjektive zusätzliche Leistungen im Arbeitsprozess. Diese Leistungen tauchen jedoch nicht direkt in der organisationalen Leistungsindikation und Wertschätzung auf bzw. vermindern diese sogar, weil bestimmte Vorgaben notwendig vernachlässigt werden müssen. 3) Vorgabe interpretationsoffener Mittel Einen weiteren kritischen Ansatzpunkt hinsichtlich der Gestaltung von Normen des Leistungsvollzuges kann in deren zunehmender interpretativen Offenheit in Bezug auf Inhalt und angemessene Leistungsniveaus gesehen werden. Solche Normen beziehen sich häufig auf die erwünschte generelle Ausrichtung des Verhaltens am Arbeitsplatz und beziehen sich etwa auf das Kommunikationsund Kooperationsverhalten, die Initiative oder Kreativität im Arbeitsprozess und wurden in 5.2.1.3 unter dem Begriff der Präsentationsleistung bereits thematisiert (vgl. Bahnmüller 2001, S. 161ff.). Empirische Beispiele hierfür sind die Vorgabe des „kundenorientierten Verhaltens“ im Callcenter (vgl. Holtgrewe 2002) oder „teamfähiges bzw. kooperatives Verhalten“ oder „Initiative“ in Produktionsgruppen (vgl. Bender 1997, S. 109ff.; Schmierl 1994, S. 162). So eine Vorgabe muss sowohl vom betroffenen Mitarbeiter als auch vom Beurteiler der Leistung subjektiv interpretiert und auf das erreichte Leistungsausmaß geschätzt werden. In diesem Sinne kann von der zunehmenden Inanspruchnahme subjektiver Leistungen gesprochen werden, deren Indikation und Wertschätzung jedoch ins Ungewisse läuft. Empirische Indizien für die Problematik einer solchen Situation liefert z.B. die Untersuchung von Blutner et al. (2002) zur Transformation der Deutschen Telekom und der dort gegebenen Norm der „Kundenorientierung“. Blutner et al. (2002) sprechen in diesem Zusammenhang von der „Verflüssigung von Leistungsstandards“. Die ständig gegebene NichtObjektivierbarkeit einer Norm in Bezug auf Inhalt und Niveau der Leistung kann dabei zu einer stetigen Verunsicherung und Resignation in Bezug auf das eigene Leistungspotential führen (vgl. Blutner et al. 2002, S. 109f; Knights/McCabe 2003; Sanders/van Emmerik 2004, S. 358). Erscheint die Beurteilung der Leistung anhand offener bzw. interpretationsbedürftiger Normen wenig transparent oder wechselhaft, kann dies die subjektiv stabile Definition von Leistungsnormen durch den Mitarbeiter erschweren bzw. die positive Auflösung des anomischen Druckes verhindern. 4) Faktische Beschränkung der zur Zielerreichung notwendigen Mittel Selbst wenn Vorgaben in Bezug auf die Mittel des Leistungsvollzuges existieren, diese auch in sich geschlossen sind und geringe Interpretationsleistungen erfordern, kann ein anomischer Druck durch eine ergebnisorientierte Leistungssteuerung entstehen. Dies ist gemäß Merton dann der Fall, wenn der faktische Zugang zu den vorgegebenen Mitteln nicht gewährleistet ist. Indizien für eine 214
solche Situation in operativ dezentralisierten Arbeitszuschnitten lassen sich zusammentragen. So zeigt sich z.B., dass mittleren Managern im Rahmen von Dezentralisierung häufig die Verantwortung für einen größeren Aufgabenbereich oder eine größere Zahl unterstellter Mitarbeiter übertragen wird, ohne ihnen zugleich eine größere Entscheidungsautonomie oder mehr Ressourcen einzuräumen. Diese Befugnisse und Ressourcen wären jedoch notwendig, um die Arbeitsaufgaben gemäß dem Dezentralisierungsgedanken in der geforderten Selbstorganisation zu bewältigen und die vorgegebenen Leistungsziele zu erreichen. Empirische Hinweise auf dieses Dilemma finden sich z.B. in der deutschen Studie über Dezentralisierung und deren Auswirkung auf Führungskräfte von Faust et al. (2000, S. 156 ff.; vgl. auch Faust et al. 1998). Darüber hinaus liefern sowohl die Untersuchung von Dopson/Neumann (1998) über neue Arbeitsanforderungen und entsprechende Veränderungen des psychologischen Vertrages bei britischen mittleren Managern als auch die länderübergreifende Studie von Holden/Roberts (2004) zur Arbeitssituation von mittleren Managern ebenfalls empirische Hinweise für diesen Sachverhalt. Im Rahmen einer solchen Situation wird ein enormer anomischer Druck auf die betroffenen Organisationsmitglieder ausgeübt, der durch entsprechende Anpassungsleistungen im Leistungsvollzug kaum gelöst werden kann. Es lässt sich schlussfolgern, dass die Legitimation des Leistungsprinzips hiermit zur Disposition steht. 5.2.2.3 Überlegungen zu Reaktionstypen als Lösung des anomischen Drucks Die Mertonschen Anpassungs- bzw. Reaktionstypen stellen typische Verhaltens- und Handlungsweisen von Menschen unter bestimmten institutionellen Bedingungen dar. Wie in Kapitel 2 bereits erläutert, unterscheiden sich die Typen nach der jeweiligen Akzeptanz von vorgegebenen Mitteln und Zielen einer Institution. Merton (1975) unterscheidet den Innovator, der die Ziele anerkennt, jedoch die Mittel missachtet, den Rückzügler, der Ziele und Mittel nicht anerkennt, den Ritualisten, der die Mittel bei Missachtung der Ziele anerkennt sowie den Rebellen, der für Ziele und Mittel grundlegend alternative Vorstellungen entwickelt und durchsetzen will, und den Konformisten, welcher Ziele und Mittel akzeptiert. Im Folgenden werden Annahmen darüber getroffen, welche Reaktionstypen zur individuellen Lösung des anomischen Drucks auftreten können, welcher durch die oben beschriebene Steuerung des Leistungsvollzuges im Rahmen operativer Dezentralisierung entsteht. Diese Annahmen können dementsprechend als empirisch zu überprüfende Thesen verstanden werden. Beispielsweise 215
rückt vor dem Hintergrund der operativen Dezentralisierung bzw. der qualitativen Flexibilisierung von Personal insbesondere der Anpassungstyp des „Innovators“ in den Mittelpunkt des Interesses. Dieser akzeptiert die vorgegebenen Ziele einer Institution, wendet aber von institutionellen Vorgaben „abweichende“ bzw. „innovative“ Mittel zur Zielerreichung an.65 Da im Zuge operativer Dezentralisierung mehr oder weniger deutlich auf die Vorgabe von anzuwendenden Mitteln verzichtet wird, zugleich aber eine Betonung des Ziels erfolgt, erscheint der „Innovator“ der organisational intendierte Reaktionstyp zu sein. Bevor jedoch eine nähere Auseinandersetzung mit diesem Typ erfolgt, wird auf den des Konformisten, des Rebellen, des Ritualisten und den des Rückzüglers eingegangen. Dabei wird versucht, empirische Ergebnisse anderer Studien anomietheoretisch zu interpretieren. Der Typ des Konformisten akzeptiert sowohl die vorgegebenen Ziele als auch die vorgegebenen Wege der Zielerreichung und trägt damit zur Stabilität und zum Bestandserhalt eines sozialen Systems bei. Dieser Typ stellt an sich kein Indiz für die Anomie einer Institution dar und ist auch für die vorliegende Untersuchungsperspektive von geringer Relevanz. Bei operativer Dezentralisierung werden die Normen des Leistungsvollzuges verändert bzw. müssen selbst neu definiert werden, so dass die Möglichkeit einer konfliktfreien bzw. problem- oder reibungslosen Anpassung an organisationale Vorgaben häufig nicht gegeben ist. Der Rebell lehnt die vorgegebenen Ziele und Mittel einer sozialen Institution ab. Er verfügt über grundlegend alternative Vorstellungen in Bezug auf die mögliche Beschaffenheit der betreffenden sozialen Institution und versucht, diese Vorstellungen aktiv zu verwirklichen. Im Rahmen der hier verfolgten Fragestellung könnte sich Rebellion in der radikalen Ablehnung der neuen Leistungssteuerung und im Widerstand äußern. Dabei ist eine solche Reaktion am ehesten zu erwarten, wenn die eigene Situation in der Organisation bereits vor den Veränderungen der Leistungssteuerung als problematisch empfunden wurde - diese Veränderungen also quasi das „Fass zum Überlaufen“ bringen. Generell könnte Rebellion sich einerseits über die Kündigung des betreffenden Beschäftigten und dessen organisationsexterne aktive Opposition gegen die in der neuen Leistungssteuerung implizierten Tendenzen äußern. Holtgrewe (2002, S. 205ff.) berichtet z.B. über die Gründung eines Unternehmens durch ehemalige Mitarbeiter eines Callcenters. Nachdem das Callcenter nach einem Streik geschlossen wurde, erfolgte die Gründung des eigenen Unternehmens durch die betroffenen Mitarbeiter. Dieses Unternehmen bietet dabei neben Callcenter-Dienstleistungen auch Beratungen für Beschäftigteninitiativen gegen Betriebsschließungen an 65 Dies erscheint als eher eingeschränkte Sichtweise auf „innovatives“ Verhalten. Dennoch wird Mertons Bezeichnung für diesen Anpassungstyp im Folgenden weiter verwandt.
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und engagiert sich auch darüber hinaus politisch. Andererseits könnte sich rebellisches Verhalten auch durch anhaltenden Widerstand in der Organisation zeigen. In Anbetracht der Radikalität einer solchen Reaktion und dem Aspekt, dass die neue Leistungssteuerung hier eher als letzter Auslöser eines gewachsenen Konfliktes zu betrachten ist, wird dieser Reaktionstyp für die vorliegende Problematik als wenig relevant eingeschätzt. Der Ritualist zeichnet sich durch die Aufgabe bzw. geringe Akzeptanz der vorgegebenen Ziele bei gleichzeitig hoher Akzeptanz vorgegebener Mittel aus. Da im Rahmen der neuen Leistungssteuerung häufig keine klaren neuen Vorgaben in Bezug auf die Mittel des Leistungsvollzuges gemacht werden, soll hier die Beibehaltung der bisherigen Mittel bei gleichzeitiger Bereitschaft zur Verfehlung der vorgegebenen Leistungsziele als ritualistisches Verhalten gekennzeichnet werden. Gründe für ein solches Verhalten könnten z.B. in der starken Verinnerlichung langjährig angeeigneter Praktiken oder professioneller Orientierungen liegen (vgl. z.B. Türk 2000 zur „organisationalen Persönlichkeit“), die auch im Zuge der neuen Leistungsanforderungen nicht aufgegeben werden wollen. So ist vorstellbar, dass sich betriebliche Experten nicht über das Erreichen der organisational neu gesteckten Zielvorgaben identifizieren, sondern ihre Arbeitsmotivation zum großen Teil aus der subjektiv professionellen Erfüllung ihrer Aufgabe schöpfen. Dies bedeutet nicht, dass professionell orientierte Mitarbeiter und Führungskräfte mehrheitlich negativ gegenüber Dezentralisierungsbestrebungen und veränderten Anforderungen eingestellt sind - eher im Gegenteil. Entsprechende Befunde liefern z.B. Kadritzke 1997; Kotthoff 1998; Faust et al. 2000. Dieser Offenheit sind durch die professionelle Orientierung aber auch Grenzen gesetzt, die im Zuge der neuen Leistungssteuerung überschritten werden können (vgl. Kadritzke 1997; Kotthoff 1998; Dröge 2003). Empirische Hinweise für eine solche Annahme liefert die Studie von Baethge et al. (1995) über betriebliche Experten und Hochqualifizierte. Hier wird gezeigt, dass diesen insbesondere die inhaltlich- fachliche Anerkennung ihrer professionellen Leistung wichtig ist. Müssten solche Beschäftigte für die Erzielung der neu vorgegebenen Leistungsergebnisse erheblich von professionellen Standards abweichen, bedeutete dies zugleich die Aufgabe wesentlicher identitätsbildender Orientierungen (vgl. Gildemeister/Günther 1987; Kadritzke 1997). Empirische Hinweise für die Relevanz dieser Problematik liefern z.B. die Untersuchung von Doolin (2002) und Henkel (2001), in denen die Auswirkungen von neuer Leistungssteuerung an einem neuseeländischen Krankenhaus bzw. an britischen Universitäten auf die professionelle Identität der betroffenen Beschäftigten analysiert wurden. Doolin (2002) zeigt, wie die intendierte Messung des Ressourcenverbrauchs und die entsprechende Kontrolle der Behandlungsmethoden 217
die professionelle Identität einiger Ärzte bedroht, was zu deren Widerstandsverhalten in Bezug auf die Reform führt. Sofern das Erreichen der neu vorgegebenen Ziele also eine erhebliche Einschränkung der professionellen Orientierung von den Mitarbeitern verlangt, kann deren Ausrichtung an den organisationalen Zielvorgaben zugunsten des professionellen Leistungsvollzuges in den Hintergrund rücken - also ritualistisches Verhalten verursachen. Ritualistisches Verhalten ist auch dann denkbar, wenn eine grundsätzliche und andauernde Verunsicherung über neue Handlungsweisen besteht. Diese Verunsicherung kann sich z.B. aus der oben schon angesprochenen, wechselhaften und wenig transparenten Beurteilung der eigenen Leistung ergeben (vgl. Blutner et al. 2002, S. 109f; Knights/McCabe 2003). Weiterhin könnte ritualistisches Verhalten eintreten, wenn das Erreichen der Zielvorgaben als unrealistisch, nicht beeinflussbar bzw. unsicher betrachtet wird. Dies könnte z.B. der Fall sein, wenn Leistungsergebnisse an marktlichen, also umweltbedingten, Schwankungen unterlegenen Größen gemessen und Belohnungen daher eher als „Lotterie“ erlebt werden. Auf diesen Sachverhalt weisen z.B. die Arbeiten von Wiseman/Gomez-Mejia (1998) und Lehner (2003, S. 338f) hin, die sich mit der erfolgsorientierten Entlohnung von Managern beschäftigen. Der Anpassungsmodus Rückzug ist dadurch gekennzeichnet, dass sowohl die vorgegebenen Ziele als auch die Mittel abgelehnt werden. Dabei resultiert diese Ablehnung nach Merton (1975) aus der Enttäuschung über die nicht gelungene Zielerreichung bei Anwendung subjektiv legitimer Mittel und äußert sich in Form passiver Resignation. Solche als legitim empfundenen Mittel könnten zum einen herkömmliche, bisher angewandte Normen des Leistungsvollzuges sein. Beispiele hierfür sind die bereits angesprochenen professionellen Orientierungen oder langjährig angewandte Praktiken. So könnte das in diesem Zusammenhang beschriebene ritualistische Verhalten langfristig auch zur Reaktion des Rückzuges führen. Zum anderen könnten Mitarbeiter auch alternative Vorstellungen in Bezug auf den „passenden“, legitimen Leistungsvollzug in dezentralisierten Arbeitzuschnitten mitbringen oder diese aktiv entwickeln (Innovator). Faust et al. (2000) berichten in ihrer empirischen Studie z.B. von Beschäftigten, die ihre professionellen Orientierungen dementsprechend erweitern oder die sich das normative Leitbild des „Intrapreneurs“ zu eigen gemacht haben und sich in den neuen Arbeitszuschnitten und bei neuer Leistungssteuerung „entfalten“ möchten. Diese Beschäftigten empfinden die neu vorgegebenen Leistungsziele als legitim und erstrebenswert und richten ihren Leistungsvollzug subjektiv optimal an diesen Zielen aus (vgl. Faust et al. 2000, S. 121). Auch Blutner et al. (2002) zeigen, wie Beschäftigte in der Personalabteilung neue, subjektiv passende Standards des Leistungsvollzuges entwickeln können. Wer218
den die organisationalen Zielvorgaben trotz der Anwendung solcher subjektiv legitimen bzw. „passenden“ Mittel des Leistungsvollzuges nicht erreicht bzw. stößt ein solches Verhalten nicht auf die erwartete Anerkennung von Seiten der Organisation, kann der Reaktionstyp Rückzug eintreten - sowohl organisationale Ziele als auch etwaige Mittel der Zielerreichung verlieren an Akzeptanz. Innovatives Verhalten zeichnet sich nach Merton durch eine hohe Akzeptanz der vorgegebenen Ziele aus. Dabei wendet der Innovator aber Mittel an, die von den institutionell vorgegebenen abweichen. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchungsperspektive würde sich innovatives Verhalten in einer hohen Akzeptanz der vorgegebenen Leistungsziele und durch die gleichzeitige Bereitschaft auszeichnen, von den organisational vorgegebenen Mitteln der Zielerreichung „abzuweichen“. Nun ist es das wesentliche Merkmal operativer Dezentralisierung bzw. qualitativer Flexibilisierung, das Leistungsverhalten über die Vorgabe der zu erzielenden Ergebnisse und weniger über die Explizierung und Kontrolle der Mittel des Leistungsprozesses zu lenken. Vor diesem Hintergrund wird innovatives Verhalten im vorliegenden Fall als Abweichung von den herkömmlichen, „alten“ legitimen Mitteln des Leistungsvollzuges interpretiert. In diesem Sinne kann auch der notwendig „kreative“ Umgang mit eventuell organisational neu vorgegebenen Mitteln des Leistungsvollzuges als innovativ begriffen werden. Im Folgenden sollen zwei verschiedene Arten des innovativen Verhaltens unterschieden werden. Beim aktiven Innovator stützt sich das innovative Verhalten auf Freiwilligkeit, bzw. auf eine entsprechende „innere Bereitschaft“, beim passiven Innovator dagegen auf „Unfreiwilligkeit“ bzw. empfundenen äußeren Zwang. Der aktive Innovator stützt sein Verhalten auf eine klare subjektive Orientierung darüber, wie ein „moderner“, angemessener Leistungsvollzug in heutigen Organisationen aussehen sollte. Faust et al. (2000) finden einen solchen Innovator in ihrer, auf Führungskräfte orientierten Studie zum einen im Typ des „intrapreneur par excellence“. Im Rahmen von Dezentralisierung und marktorientierter Leistungssteuerung erscheint dieser Typ als neues Leitbild des zukünftigen Managers. Unternehmerisch denkend, eher generalistisch orientiert und risikobereit setzt er sich vom bisher im deutschen Bereich dominierenden Typ des bürokratisch- orientierten Professional (vgl. Faust et al. 2000, S. 116 ff.; auch Walgenbach 1994) ab. So kann sich der „intrapreneur par excellence“ gemäß der Studie von Faust et al. (2000) im Rahmen der Dezentralisierung voll „entfalten“. Er bekommt über die strukturellen Veränderungen große Entscheidungsbefugnisse zugewiesen und identifiziert sich zudem voll und ganz mit dem neuen Leistungsverständnis (vgl. Faust et al. 2000, S. 122ff.).
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In derselben Studie findet sich neben dem Typ des „intrapreneur par excellence“ noch ein zweiter, der sich als aktiver Innovator kennzeichnen lässt. Es handelt sich um Führungskräfte von Personalabteilungen, die eine aktive Interpretation der eigenen, sich verändernden Rolle und der Abteilungsleistung vornehmen. Interessant erscheint dies vor dem Hintergrund, dass die Personalabteilungen im Rahmen von Dezentralisierungsprozessen häufig unter großen Legitimationsdruck geraten und sich unter Entzug von Ressourcen z.B. zunehmend am internen als auch externen Markt finanzieren müssen. Auch die hier angesprochenen Führungskräfte befinden sich in einer solchen Situation. Dennoch nehmen sie ausgehend von ihrer bisherigen professionellen Orientierung eine selbstbewusste Gestaltung ihrer Rolle vor, definieren neue Leistungsnormen für den eigenen Bereich und vertreten Ansprüche in Bezug auf die Qualität der eigenen Leistung, um sich damit auch zu profilieren. So erfolgt eine aktive unternehmerische Fortentwicklung der professionellen Orientierungen. Trotz des Entzugs materieller Ressourcen nutzen die Führungskräfte die offiziell neu angetragene Autonomie, um sich und die Abteilung aktiv zu positionieren. In dem Sinne verfügen sie über eine unternehmerische Orientierung, verbinden diese jedoch mit ihrer professionellen Basis. So lässt sich dieser Typ auch als „unternehmerischer Professional“ kennzeichnen (vgl. Faust et al. 2000, S. 137ff.). Der reaktive Innovator gründet sein innovatives Verhalten nicht auf eine klare, alternative Orientierung über den Leistungsvollzug und der darauf basierenden aktiven Gestaltung der neuen Situation, wie es beim aktiven Innovator der Fall ist. Diesem Typ fällt es schwer, herkömmliche Standards des Leistungsvollzuges aufzugeben. Er empfindet eher den Sachzwang zur Veränderung des eigenen Verhaltens. Empirische Indizien sprechen dafür, dass eine solche Reaktion mehrheitlich bei Beschäftigten auftritt, die im Rahmen von Dezentralisierung und neuer Leistungssteuerung einerseits eine faktische Verschlechterung der eigenen Position erfahren haben oder sich andererseits mit einer durch Ambivalenz gekennzeichneten Situation auseinandersetzen müssen. Diese Ambivalenz drückt sich zumeist durch das Anwachsen des Aufgabenspektrums und der angetragenen Verantwortung einerseits und der gleichzeitigen Verringerung oder dem Gleichbleiben der faktischen Handlungsspielräume andererseits aus (z.B. auch Kadritzke 1997; Holden/Roberts 2004). Bei Faust et al. (2000) findet sich der Typ des reaktiven Innovators z.B. bei Linienmanagern in der Produktions- und Entwicklungsabteilung und auch bei Managern der Personalabteilung (vgl. Faust et al. 2000, S. 127 ff.). Diese begrüßen mehrheitlich einen Zuwachs an Verantwortung, empfinden zugleich aber einen stärkeren Zwang in Bezug auf die unternehmerische Ausrichtung ihres Leistungsvollzuges als dies bei aktiven Innovatoren der Fall ist. Dies könnte dadurch begründet sein, dass sie 220
im Vergleich zu den aktiven Innovatoren auch faktisch geringere Handlungsspielräume und Ressourcen haben, den Leistungsvollzug in eigener Regie auszurichten. Generell kann festgestellt werden, dass die objektiv vorgegebene Arbeitssituation in operativ dezentralisierten Arbeitzuschnitten und marktorientierter Leistungssteuerung durch einen zunehmenden anomischen Druck für die Organisationsmitglieder gekennzeichnet ist. Ganz im Sinne der theoretischen Annahmen von Merton lassen sich Indizien finden, dass die Diskrepanzen zwischen immer anspruchsvolleren Ergebnisvorgaben einerseits und schwächeren Vollzugsnormen und fehlenden Ressourcen andererseits diesen anomischen Druck auch in der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen dieser Leistungssteuerung aufbauen. Indikator für diesen Druck, der in den analysierten Studien nicht gezielt untersucht wurde, sind im Sinne der Theorie spezifische Reaktionsmodi der betroffenen Organisationsmitglieder auf die veränderte Arbeitssituation. Diese reichen von ritualistischem über rückzüglerischem bis zu innovatorischem Verhalten. Im Rahmen der durchgeführten Analyse ließen sich Indizien für das Auftreten aller Reaktionsformen finden. Im Zusammenhang mit den situativen Bedingungen entscheiden biographische Erfahrungen bzw. das über bisherige Erfahrungen der Anerkennung geprägte Bild über das eigene Selbst und verschiedene Komponenten des sozialen Umfeldes darüber, welcher Reaktionstyp gewählt wird (z.B. Lengfeld/Krause 2006 zur Wahrnehmung von Gerechtigkeit). In Anbetracht der hohen Vielfalt möglicher Erfahrungskontexte lassen sich auf konzeptioneller Ebene jedoch kaum Aussagen über den Zusammenhang bestimmter „Identitätsmuster“ und Reaktionstypen treffen. Generell kann aber gezeigt werden, dass jene Veränderungen der Definition von Leistung und deren Steuerung bei qualitativer als auch bei quantitativer Flexibilisierung die „erfolgreiche“ Identitätsbildung von Organisationsmitgliedern und damit die Integrationswirkung von Organisationen sowie die Legitimation der „Organisationsgesellschaft“ herausfordert. Die Diskussion hierüber soll im folgenden Abschnitt geführt werden. 5.3 Neue Bedingungen der Anerkennung von Leistung als anomische Konstellation für Individuum und Organisation In diesem Abschnitt soll gezeigt werden, welche Konsequenzen die neue Leistungssteuerung in Bezug auf die Bedingungen einer „gelingenden“ Identitätsbildung von Organisationsmitgliedern und auf die Stabilität von Organisationen als auch der Organisationsgesellschaft haben kann. Hierbei wird versucht, die Diskussion schrittweise in einen Bezugsrahmen zu überführen, der identitäts- und 221
anomietheoretische Überlegungen zueinander in Beziehung setzt. Die anomietheoretische Argumentationsfigur wird auf diese Weise auf einer höher aggregierten konzeptionellen Ebene als in der Analyse des Leistungsvollzuges bei operativer Dezentralisierung angewandt. Zunächst werden wesentliche Aspekte zusammengetragen, die im Zusammenhang mit den paradoxen Entwicklungen der Leistungssteuerung problematisch für die „gelingende“ Identitätsbildung von Organisationsmitgliedern sind. Hierbei geht es beispielsweise um den Bruch wechselseitiger Anerkennungsverhältnisse durch die Missachtung bisher anerkannter Leistungsarten und die Infragestellung bisheriger Identität bzw. um verschiedene Formen der „substanzlosen“ Anerkennung, welche langfristig die „gelingende“ Bildung von Identität verwehren. Dabei lassen sich diese Aspekte in ihrer Gesamtheit auch als Zustand der Anomie lesen, welche wiederum auf die Organisation zurückwirken und dort bestandserhaltende Funktionen tangieren. Da Organisationen als Orte der sozialen Statusverteilung ein wesentlicher Bestandteil moderner Gesellschaften sind, bleiben diese Entwicklungen auch nicht ohne Folgen für die (Leistungs-)Gesellschaft als Ganzes. Mögliche Konsequenzen in dieser Hinsicht sollen abschließend diskutiert werden. 5.3.1 Neue Leistungssteuerung in Organisationen als Veränderung von Anerkennungsmustern - Hinterfragung, Erosion und Verteidigung von Identität Gemäß den Ausführungen in Kapitel 2 ist „subjektive Identität“ die subjektiv empfundene Einheit (Kontinuität, Kohärenz) der lebenslangen und notwendig in sozialer Interaktion erworbenen Erfahrungen (Anerkennung, Missachtung, Nicht-Wahrnehmung) über sich selbst. Gelingende Identitätsbildung bzw. ein positiver Selbstbezug zur eigenen Identität ist dabei an die wechselseitige soziale Anerkennung in mindestens einem subjektiv signifikanten Interaktionsbereich gebunden. In diesem Zusammenhang ist die eigene Identität und die Logik des Identitätsbildungsprozesses in Form des „Strebens“ nach wechselseitiger Anerkennung in signifikanten Interaktionsbereichen zugleich die Basis für subjektiv sinnhafte Verhaltensweisen und Handlungen in sozialer Interaktion. In modernen Gesellschaften spielen der Bereich der Erwerbsarbeit und die Anerkennung für die eigene Arbeitsleistung eine wesentliche Rolle bei der Identitätsbildung des Einzelnen (vgl. Kap. 3). Wie bereits erläutert, lassen sich Erfahrungen der Anerkennung in der arbeitgebenden Organisation in Form der affektiven Zuwendung („Liebe“), der kognitiven Achtung („Recht“) und der sozialen Wertschätzung („Solidarität“) unterscheiden (vgl. Honneth 1994). Dabei gewährt die 222
Solidarität, als organisationale Wertschätzung individueller Arbeitsleistung in Form von Leistungsbewertung, Bestimmung der Entgelthöhe, Gewährung geldwerter Vorteile und Zuweisung gesellschaftlicher Positionen, die am meisten individualisierte Anerkennung und nimmt deshalb in modernen Gesellschaften einen besonderes wichtigen Stellenwert für den Einzelnen und dessen Identitätsbildung ein. Vor diesem Hintergrund wird offensichtlich, dass die einseitige Veränderung signifikanter Anerkennungsstrukturen im Bereich der Erwerbsarbeitssphäre bzw. von Normen der Anerkennung von Arbeitsleistung wichtige bisherige Selbsterfahrungen bzw. die subjektive Identität des Einzelnen tangiert oder sogar infrage stellen kann. Entsprechende Konsequenzen variieren je nach Betroffenheit (Handelt es sich z.B. um subjektiv hoch signifikante Normen, die zur Disposition gestellt werden?), bisherigen Identitätserfahrungen (Kennt der Einzelne alternative Methoden des Leistungsvollzuges und „fühlt“ sich in der Lage, diese auch anzuwenden. Nimmt sich der Einzelne z.B. als „innovativ“ wahr.) und der entsprechenden Form der „Identitätsarbeit“ (Blendet das Subjekt z.B. kritische Aspekte aus, betreibt Rationalisierungen, zeigt „Abwehrroutinen“ zum Schutz der Identität oder nimmt aktive (Neu)Interpretationen des eigenen Selbst vor). Neue Formen der Leistungssteuerung können demnach in unterschiedlicher Art und Weise auf Identität wirken, entsprechend verarbeitet werden und zu entsprechenden Reaktionen des Einzelnen führen. Die schockartige „Hinterfragung“ von Identität, deren „Erosion“ in Form einer zunehmenden Unsicherheit über den Inhalt und die Bewertung der eigenen Selbsterfahrungen (vgl. Kap. 2, 2.4) als auch die „Verteidigung“ der eigenen Identität, z.B. in Form der aktiven Ablehnung des gegenwärtigen Gegenüber (Organisation, Arbeitgeber, Arbeitsmarkt) als anzuerkennender Akteur sind hier denkbar, wobei angenommen werden kann, dass diese Formen auch ineinander übergehen können. Grundsätzlich ist hervorzuheben, dass Individuen in Bezug auf ihre Identitätsbildung nicht ausschließlich reaktiv mit den Einflüssen des sozialen Umfeldes umgehen. Im Gegenteil: Individuen können die an sie herangetragenen Erwartungen im Sinne ihrer bisherigen und gewünschten Identität reinterpretieren, entsprechende Widersprüchlichkeiten ausnutzen bzw. andere legitime Anerkennungsbereiche a lá Goffman als Identitätsressourcen mobilisieren - also Anerkennungsbedingungen auch aktiv beeinflussen (z.B. Thomas/Davies 2005). Im Bereich der Erwerbsarbeitssphäre sind jene Spielräume für die Mehrheit von Organisationsmitgliedern jedoch beschränkter als in anderen Bereichen sozialer Interaktion. Veränderungen von Anerkennungsstrukturen im Sinne von neuen Leistungsbewertungs- und Entgeltsystemen sowie neuen Arbeitsformen treten Organisationsmitgliedern vielmehr faktisch gegenüber und sind an sich nicht „aushandelbar“.
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Vor diesem Hintergrund kann abgeleitet werden, dass eine konfliktfreie oder problemlose bzw. „gelingende“ Identitätsbildung von Organisationsmitgliedern in Bezug auf den Anerkennungsbereich der Erwerbsarbeit in der arbeitgebenden Organisation im Rahmen neuer Leistungssteuerung mehrheitlich nicht gegeben sein dürfte. Es lässt sich schlussfolgern, dass notwendige Bedingungen einer gelingenden Identitätsbildung, wie z.B. die relative Stabilität bestimmter Reziprozitätsnormen, die inhaltliche Anknüpfung an bisherige Erfahrungen im Sinne von Kohärenz und Kontinuität von Erfahrungen, oder der eingeforderte Individualisierungsgrad von Anerkennung durch neue Leistungssteuerung von Organisationen häufig nicht gewährleistet werden (vgl. z.B. Honneth 2004; Hartz/Faßauer 2006). Mögliche Einwände in der Hinsicht, dass Organisationsmitglieder sich zum „unternehmerischen Selbst“ entwickeln und mehrheitlich problemlos eine entsprechende Identität ausprägen könnten, sich also an die marktorientierte Leistungssteuerung „anpassen,“ müssen vor dem Hintergrund der Bedingungen gelingender Identitätsbildung (Wechselseitigkeit, Individualisierungsgrad der Anerkennung, Anknüpfung an bisherige Erfahrungen i.S.v. Kohärenz und Konsistenz) einerseits und der beschränkten Entfaltungsmöglichkeiten für organisationsinterne „Unternehmer“ andererseits kritisch betrachtet werden (vgl. Kühl 2000). Im Folgenden werden die herausgefilterten Entwicklungen im leistungsbezogenen Verhältnis von Individuum und Organisation als „Bruch, Verengung und Unsicherheit von Anerkennungsmustern“ sowie als „substanzlose“ Formen der Anerkennung interpretiert. In beiden Fällen werden Annahmen über mögliche identitätsbezogene Konsequenzen getroffen. 5.3.1.1 Bruch, Verengung und Unsicherheit von Anerkennung Die Unterscheidung von „gebrochenen“, „verengten“ und „unsicheren“ Anerkennungsmustern ist als analytische Trennung zu betrachten. So lässt sich auf Basis der obigen Überlegungen schlussfolgern, dass z.B. die verkürzte Definition von Leistung auf outputbezogene Kategorien sowohl einen „Bruch“ als auch die „Verengung“ von Anerkennungsmustern darstellt. Ebenso können gebrochene Anerkennungsmuster zu „Unsicherheit“ über geltende Anerkennungsmuster führen. Dennoch bietet sich die Unterscheidung an, da sie neben zusammenhängenden auch überschneidungsfreie Phänomene kennzeichnet. Der Bruch von Anerkennungsmustern meint den Fall, dass bisherig anerkannte Verhaltensweisen, Handlungen und damit auch Teile der Identität von Organisationsmitgliedern nicht mehr anerkannt werden. Das kann z.B. bei der beschriebenen, verminderten Anerkennung der Inputgrößen von Leistung ange224
nommen werden, etwa im Bereich professioneller Standards und professioneller „Aktionsleistung“ (vgl. Kap. 5, 5.2.1.3). Auch die verminderte Anerkennung bzw. der „wertmäßige Verfall“ einmal erworbener Qualifikationen als Inputgröße von Leistung könnte im Rahmen der gegenwärtigen quantitativen als auch qualitativen Flexibilisierung von Personal einen solchen Bruch darstellen. Dies indizieren z.B. Diskussionen über die Arbeitslosigkeit Hochqualifizierter bzw. von Angehörigen bisheriger „Eliten“, die häufig eine Missachtung oder Hinterfragung ihrer bisherigen beruflichen Bildungs- und Entscheidungswege erfahren dürften (vgl. z.B. Guggenberger 1990; Sennett 2000, S. 166ff.; Winter 2003). Generell kann der Bruch von Anerkennungsmustern bisherige Erfahrungen der Anerkennung, die der Einzelne über sich selbst gesammelt hat, untergraben und Identitätsbedrohungen in Form der Hinterfragung oder längerfristigen Erosion hervorrufen. Natürlich ist auch denkbar, dass entsprechende „Ansprüche“ auf Anerkennung aktiv eingefordert werden. Vorstellbar ist dies wiederum bei Angehörigen von Professionen (vgl. z.B. Gildemeister/Günther 1987; Baethge et al. 1995; Kadritzke 1997; Andersson 2006). Bei diesen ist die Anerkennung über die Standards der Profession zumeist von hoher Wichtigkeit und bietet eine gute Legitimationsbasis zur Formulierung von Anerkennungsansprüchen und damit zum Schutz und zur entsprechenden Fortentwicklung der eigenen Identität (vgl. z.B. den Typ des „unternehmerischen Professional“ bei Faust et al 1999). Die Verengung von Anerkennungsmustern kann zum einen dieselben Phänomene wie der „Bruch“ kennzeichnen, zum anderen jedoch auch bedeuten, dass neu hinzukommende Leistungen nicht anerkannt werden, obwohl sie zur erfolgreichen Leistungserbringung notwendig sind. Mit letzterem sind z.B. Formen der kompensierenden subjektiven Leistung und Leistungen zur Bewältigung normativer und faktischer Diskrepanzen im Leistungsvollzug gemeint (Kap. 5, 5.2.1.4: Neue Leistung, aber unsichtbar). Hierbei handelt es sich um Anstrengungen und entsprechende Handlungs- und Verhaltensweisen, die gemäß dem Leistungsprinzip organisational validiert und wertgeschätzt werden sollten, aber nicht werden. Vor diesem Hintergrund kann einerseits angenommen werden, dass die objektive Verengung der Anerkennung auch subjektiv als solche empfunden wird und entsprechende (neue entdeckte) Facetten der eigenen Verhaltens- und Handlungsfähigkeit Anerkennungsansprüche zur Validierung der eigenen Identität gegenüber der Organisation wecken (vgl. Honneth 2004). Diese Einforderung nach entsprechender Fortentwicklung von subjektiver Identität gegenüber der Organisation ist andererseits jedoch nicht zwingend. So kann sich die entsprechende Anerkennungsarena z.B. auch auf den Kollegenkreis beschränken; oder entsprechende neue „Leistungen“ werden von den Organisationsmitgliedern als solche gar nicht wahrgenommen und wirken -
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aufgrund der fehlenden sozialen Kommentierung - nicht bewusst identitätsbildend. Unsicherheit definiert die Annahme, dass geltende Anerkennungsmuster schwer eingeschätzt werden können, weil diese sehr dynamisch, interpretationsbedürftig bzw. intransparent erscheinen. Diese Unsicherheit könnte sich z.B. hinsichtlich zukünftig anerkannter „Vorleistungen“ (Inhalt, Interpretation, Dynamik entsprechender Anforderungen) entwickeln (vgl. Kap. 5, 5.2.1.1). Auch die bereits beschriebene Notwendigkeit zur Interpretation formal eingeforderter Präsentationsleistung und die damit potentiell verbundene inhaltliche Dehnbarkeit bei der Leistungsbeurteilung kann Unsicherheit über den inhaltlichen Zuschnitt von Anerkennungsmustern hervorrufen. Darüber hinaus kann die Beurteilung und Wertschätzung von Leistung über marktlich bestimmte Größen, kann der „Wegfall“ bzw. die Verhinderung der Einhaltung herkömmlicher und neuer Normen des Leistungsvollzuges (Kap. 5, 5.2.1.1) zu einer Unsicherheit über anerkannte Handlungen und Verhaltensweisen im Leistungsvollzug führen. Die wachsende Unsicherheit über den Inhalt gegenwärtiger subjektiv signifikanter Anerkennungsstrukturen kann dabei generell die Validierung bisheriger Identität bzw. deren Fortentwicklung in Bezug auf die Erbringung von Arbeitsleistung beeinträchtigen. Dass diese Unsicherheit für unterschiedliche Beschäftigtengruppen dabei unterschiedlich ausfallen kann, heben z.B. Martin/Wajcman in Bezug auf ihre empirische Feststellung marktlich bestimmter Identitätsnarrationen von Managern hervor: „It may be that the labour market advantages possessed by managers in our study were an essential prerequisite for maintaining their self-image as autonomous market actors with the capacity to actively pursue their careers. For workers without these advantages, the “illegibility” of the new capitalism may be a fundamental barrier to sustainable identity formation.” (Martin/Wajcman 2004, S. 261)
Als längerfristige Konsequenzen von „Unsicherheit“ sind sowohl Erosionserscheinungen von Identität denkbar als auch die Verteidigung von Identität gegenüber der arbeitgebenden Organisation, z.B. auf der (Anerkennungs-)Basis professioneller Standards. Durch alle drei Aspekte, Bruch, Verengung und Unsicherheit, werden die durch das Leistungsprinzip geprägten Reziprozitätsnormen bzw. die Normen der wechselseitigen Anerkennung zwischen Individuum und Organisation zur Disposition gestellt. Zum einen besteht die Annahme, dass bisher anerkannte Verhaltensweisen und Handlungen in Bezug auf „Arbeitsleistung“ nicht mehr anerkannt werden. Zum zweiten wird angenommen, dass neu hinzukommende Handlungen und Verhaltensweisen nicht als „Leistung“ wahrgenommen und wertgeschätzt werden. Durch diese zwei Aspekte und auf anderen Wegen wird 226
drittens vermutet, dass eine wachsende Unsicherheit über vorhandene und geltende Anerkennungsstrukturen im Sinne eines wechselseitigen Verhältnisses zwischen Individuum und Organisation geschaffen wird. Es kann geschlussfolgert werden, dass durch diese Tendenzen die Aufrechterhaltung und gelingende Fortentwicklung von Identität in Bezug auf den Anerkennungsbereich der Erwerbsarbeit in der arbeitgebenden Organisation wesentlich tangiert wird (vgl. zusammenfassend Abb. 24). Abbildung 24: Veränderung von Anerkennungsmustern für Leistung und mögliche Konsequenzen „Bruch“ von Anerkennungsmustern : bisher anerkannte Verhaltensweisen und Handlungen werden nicht mehr als Leistung anerkannt
- Schockartige Hinterfragung - längerfristige Erosion - und/oder Verteidigung von Identität
„Verengung“ von Anerkennungsmustern: „neue“ Verhaltensweisen und Handlungen werden nicht als Leistung anerkannt, obwohl sie zur erfolgreichen Aufgabenbewältigung notwendig sind
- Weckung neuer Ansprüche auf Anerkennung, Einforderung der Fortentwicklung von Identität - Erfahrungen wirken nicht identitätsbildend
„Unsicherheit“ von Anerkennungsmustern: die Definitionskategorien für Leistung sind dynamisch, interpretationsbedürftig bzw. intransparent
- Erosion von Identität - Verteidigung von Identität (z.B. auf Basis professioneller Standards)
Quelle: eigene Darstellung 5.3.1.2 „Substanzlose“ Anerkennung in Organisationen Als „substanzlose Anerkennung“ werden im Folgenden solche organisationalen Praktiken verstanden, die einerseits „Anerkennung“ transportieren oder suggerieren, wobei diese jedoch aus der Perspektive des Leistungsprinzips und aus identitätstheoretischer Perspektive nicht positiv für die subjektive Identitätsbil227
dung verwendet werden kann. Einerseits sind damit neue Anerkennungsinhalte angesprochen, die sich aus den oben beschriebenen Entwicklungen der OutputOrientierung, der Einforderung von Präsentationsleistung oder den Veränderungen in Bezug auf zu erbringende Vorleistungen ergeben und die aus den bereits thematisierten Gründen keinen positiven Einfluss auf Identitätsbildung, i.S.v. Aufrechterhaltung von Kohärenz, Konsistenz der Selbsterfahrungen und positivem Selbstbezug, haben (Bruch, Eingrenzung und Unsicherheit von Anerkennungsmustern). Andererseits soll der Fokus in diesem Abschnitt auf neue „Anerkennung“ gerichtet werden, die bisher noch nicht explizit thematisiert wurde. Dabei handelt es sich um Tendenzen, die vor dem normativen Hintergrund des arbeitsorganisationalen Leistungsprinzips als auch der normativen Vorstellungen über das Wesen „gelingender“ subjektiver Identität und entsprechender Anerkennung problematisch erscheinen. In dieser Form handelt es bei dem Folgenden um quasi deduktive Ableitungen von durch den normativen Kern des Leistungsprinzips und normativen Vorstellungen über „gelingende“ Identitätsbildung vorgegebenen Prämissen. Deutlich ist darauf hinzuweisen, dass empirische Daten und Erkenntnisse der Betriebswirtschaft, z.B. über die Wirksamkeit von Anreizsystemen (vgl. generell Picot et al.1999), als auch organisationstheoretische Untersuchungen über „Mikropolitik“ in Organisationen (vgl. z.B. Küpper/Ortmann 1986) z.T. eine andere oder gar gegensätzliche Auffassung haben bzw. transportieren. Anzumerken ist jedoch, dass diese Untersuchungen sich dabei kaum mit der Frage des subjektiven Identitätsverständnisses der Organisationsmitglieder auseinandersetzen, z.B. in Hinsicht auf den Aufbau von Rollendistanz. In dieser Form können die folgenden Ausführungen als diskussionswürdiges Angebot zur spezifischen Untersuchung neuer Trends der Leistungssteuerung verstanden werden. Nacheinander sollen nun zwei Formen der „substanzlosen Anerkennung“ diskutiert werden. Zunächst geht es um Anerkennung, welche für „Leistungen“ gewährt wird, die laut Leistungsprinzip eigentlich „unlauter“ sind. Danach soll die rein „symbolische“ Anerkennung von Leistung in Organisationen thematisiert werden. Ausgehend von den obigen Ausführungen kann vermutet werden, dass beide Formen dieser „substanzlosen“ Anerkennung durch neue Leistungssteuerungssysteme befördert werden. Gewährte Anerkennung kann ausgehend vom normativen Rahmen des Leistungsprinzips als auch aus identitätstheoretischer Perspektive „substanzlos“ sein, wenn sie für Verhaltensweisen und Handlungen gewährt wird, die gemäß Leistungsprinzip nicht als „Leistung“ im Sinne von sozialer Erwünschtheit, Ausgewogenheit von Aufwand und Ergebnis etc. gelten können. Hiermit sind z.B. die bereits beschriebenen Fälle organisational anerkannter, aber eigentlich „unlauterer“ Präsentationsleistung angesprochen. Dort, wo Aktions- und Präsen228
tationsleistung nicht zusammenfallen, (wie z.B. in vielen Dienstleistungstätigkeiten) soll Anerkennung gemäß Leistungsprinzip für eine Aktionsleistung gespendet werden, die über Präsentation dargestellt wird. Wie bereits oben ausgeführt, ist es aus der Perspektive des Leistungsprinzips problematisch, wenn zwischen diesen Leistungsarten ein starkes inhaltliches Missverhältnis besteht (z.B. durch starke Übertreibungen in der Präsentation ein falsches Bild der Aktionsleistung dargestellt wird). Nimmt man an, dass Organisationsmitglieder diese Normen des Leistungsprinzips kennen, also um die Bewertungsmaßstäbe des sozialen Umfeldes bzw. der Organisation wissen, kann organisationale Anerkennung für „Leistung“, welche, z.B. aufgrund hoher Intransparenz in der Leistungsbeurteilung stark auf deren Präsentation beruht, substanzlos werden, wenn das „anerkannte“ Organisationsmitglied selbst die Schwäche der eigenen Aktionsleistung kennt. Beispielhaft kann man sich vorstellen, dass ein Sofwareentwickler eine überzeugende Präsentation über ein zu erstellendes Softwaresystem durchführen kann, ohne bereits wesentliche Anstrengungen zur Erstellung dieses Systems, zur Behebung wesentlicher Fehlerquellen etc., unternommen zu haben (etwa aufgrund hohen Termindrucks). Die über die ausschließliche Präsentation gewonnene Anerkennung für das Softwaresystem kann vor dem Hintergrund des eigenen Urteils über die Qualität des Systems substanzlos werden. Aus identitätstheoretischer Perspektive ist kritisch, dass die organisationale Anerkennung auf ein bestimmtes Verhalten und entsprechende Handlungen des Organisationsmitgliedes abzielt, die in der gewünschten und vorgestellten Form nicht vollzogen worden sind und deren reale Entsprechung womöglich sogar negativ sanktioniert worden wäre. Die gewährte organisationale Anerkennung kann in dieser inhaltlichen Hinsicht also nicht positiv identitätsbildend wirken. Selbstbestätigung kann der Einzelne nur in dem Sinne erfahren, der Organisationen bzw. den Vorgesetzten ein „Schnippchen geschlagen zu haben“. Ohne eine „gesicherte“ Identität bzw. mindestens eine signifikante Anerkennungsarena im Hintergrund, z.B. in Form des Kollegenkreises, der das eigentliche Verhalten anerkennt, ist es jedoch schwer, hierüber eine subjektiv befriedigende Identität aufzubauen, muss man doch gewahr sein, dass das eigene Verhalten - im Kontext des Leistungsprinzips - mehrheitlich auf Ablehnung stoßen dürfte. Als zweite Form „substanzloser“ Anerkennung soll nun die rein „symbolische“ Anerkennung diskutiert werden. Symbolische Anerkennung meint, dass erbrachte Leistungen zwar als solche wahrgenommen bzw. indiziert werden, z.B. über die organisationalen Leistungsbewertungssysteme, jedoch keine „Gegenleistung“ erfolgt, die gemäß Leistungsprinzip angemessen wäre. Eine solche Entkoppelung von Leistung und Gegenleistung wurde in Kapitel 4 unter dem Stichwort der marktbezogenen Wertschätzung von Leistung thematisiert. Hier229
bei handelte es sich beispielsweise um die marktabhängige und leistungsunabhängige Festsetzung des zu verteilenden Budgets für leistungsvariable Lohnbestandteile. Eine gute individuelle Leistungsbewertung garantiert in diesem Falle nicht unbedingt eine materielle Gegenleistung. Entsprechende Formen der Anerkennung beschränken sich z.B. auf ausschließlich verbale Belobigungen, die jedoch den sozioökonomischen Status des Einzelnen auf lange Sicht nicht beeinflussen. Unbestritten ist, dass gerade solche Weisen der Anerkennung vielen Organisationsmitgliedern besonders wichtig sind bzw. sogar eingefordert werden. Letzteres indiziert beispielsweise die Untersuchung von Baethge et al. (1995), in der gezeigt wird, dass Hochqualifizierte und Fachexperten sich häufig eine stärker „inhaltliche“ Anerkennung durch die Organisation bzw. die Vorgesetzten wünschen. Aus der Sicht des Leistungsprinzips erscheint es jedoch höchst problematisch, wenn „materielle“ Anerkennung zugunsten von rein „symbolischen“ Formen der Anerkennung zurückgeschraubt oder zunehmend durch diese ersetzt wird. Wie oben gezeigt, bedingt der Erwerb von Geldeinkommen in modernen Gesellschaften zu wesentlichen Teilen den sozioökonomischen Status und die soziale Integrationswirkung von Arbeitsleistung. Die wachsende Entkoppelung von Leistungs- und Lohnpolitik in Organisationen kann in dieser Hinsicht kritisch sein. Diese Entkoppelungstendenzen können dabei grundsätzlich eine Infragestellung der Äquivalenzerwartung des Leistungsprinzips bedeuten. Wie oben bereits angedeutet, kann auch eine rein symbolische Anerkennung für den Einzelnen sehr wichtig sein und dessen Identität positiv stärken - gerade bei individueller Ansprache. Erfolgt dies jedoch langfristig zu Lasten materieller Anerkennungsformen bzw. von solchen Formen, die den sozioökonomischen Status des Einzelnen berühren, erscheint es jedoch fraglich, wie lange rein symbolische Anerkennung die durch den normativen Rahmen des Leistungsprinzip geprägten, umfassenderen Anerkennungsansprüche des Einzelnen befriedigen kann. Aus identitätstheoretischer Perspektive weist Honneth (2004) zudem darauf hin, dass die Anerkennung des Einzelnen nicht auf rein symbolische Akte beschränkt sein darf, sondern sich auch in entsprechenden „materiellen“ Handlungen niederschlagen muss (i.S.d. Leistungsprinzips: Entgelt, Beförderung etc.), um als „echte“ Anerkennung akzeptiert zu werden und damit zur gelingenden Identitätsbildung beizutragen. Ebenso wie der Bruch, die Verengung und Unsicherheit von Anerkennungsmustern können auch die beiden Formen der „substanzlosen“ Anerkennung eine Störung der durch das Leistungsprinzip geprägten Reziprozitätsnormen in Organisationen implizieren. Der erste Fall, die Anerkennung für „unlautere“ Leistungen, ist eine Folge des Verhaltens von Seiten der Organisationsmitglieder, welches durch die Gestaltung der organisationalen Rahmenbedin230
gungen (interne Märkte etc.) potentiell befördert wird. Im zweiten Fall der rein symbolischen Anerkennung werden entsprechende Praktiken strategisch gezielt implementiert. Im folgenden Abschnitt soll thematisiert werden, welche Konsequenzen die Destabilisierung bisheriger Anerkennungsstrukturen auf die organisationale Ebene haben kann. Dabei hängen jene Konsequenzen unmittelbar mit den Auswirkungen auf der individuellen Ebene zusammen. 5.3.2 Veränderte Anerkennungsmuster als anomische Konstellation in Organisationen Ausgehend von den bisherigen Ausführungen zu den Auswirkungen neuer Leistungssteuerung auf individueller Ebene sollen nun entsprechende Konsequenzen auf organisationaler Ebene thematisiert werden. Die Leistungssteuerung in Arbeitsorganisationen zielt generell darauf ab, die Verhaltensweisen und Handlungen der einzelnen Organisationsmitglieder so zu lenken, dass ein kollektiv effizienter und effektiver Leistungserstellungsprozess vollzogen wird. In Kapitel 3 wurde ausgeführt, dass das Leistungsprinzip als der wesentliche „Mechanismus“ betrachtet werden kann, der diese organisationale Funktionslogik historisch ermöglichte, indem es eine „homogenisierte Mitgliedschaftsmotivation“ und einen „working consense“ in Organisationen etablierte (vgl. Bechtle/Sauer 2003, S. 42; Schimank 2005, S. 27). Dreh- und Angelpunkt dieses Austauschs zwischen Individuum und Organisation ist dabei die - trotz der gegebenen marktwirtschaftlichen Einbettung der Arbeitsorganisation - (markt-)preisunabhängige Definition, Ermittlung und Wertschätzung individueller Leistung. Hiermit verknüpft war die Entwicklung von „Arbeitsleistung“ zur gesellschaftlichen Kollektivnorm, zum Medium der gesellschaftlichen Integration und der Identitätsbildung des Einzelnen. Das Leistungsprinzip erfüllt demnach originär eine grundlegende Integrations- und Stabilisierungsfunktion für Organisationen, die es z.B. erlaubt, zielgerichtet Leistungsanstrengungen zu mobilisieren, entsprechende Sanktionen zu rechtfertigen und notwendige Loyalitäten in Organisationen zu sichern. Die Anwendung neuer Leistungssteuerung und die damit verbundene Aushöhlung des arbeitsorganisationalen Leistungsprinzips drohen, diese Integrations- und Stabilisierungsfunktion für Organisationen zu untergraben. Die einseitige Veränderung von Anerkennungsbedingungen gleicht dabei der Aufkündigung des „working consense“ zwischen arbeitgebender Organisation und Organisationsmitglied. Die oben beschriebenen Tendenzen des Bruches, der Verengung und der zunehmenden Unsicherheit über Anerkennungsstrukturen als auch 231
die potentiell wachsende substanzlose Anerkennung in Organisationen bleiben in ihren Konsequenzen demnach nicht auf die individuelle Ebene der Identitätsbildung beschränkt. Vielmehr „bedrohen“ sie rückwirkend die effiziente und effektive kollektive Leistungserstellung und damit den „organizational advantage“ von Organisationen. Es kann also angenommen werden, dass die durch die Veränderung von Anerkennungsbedingungen potentiell hervorgerufene Hinterfragung, Erosion sowie Verteidigung von Identität sich notwendig, wenn z.T. auch in langfristiger Hinsicht, in entsprechenden Verhaltens- und Handlungsweisen der Organisationsmitglieder niederschlägt, die nicht im Sinne der Organisation sein müssen. Man denke hier beispielsweise an die obigen Ausführungen zu inhaltsloser Präsentationsleistung und die damit verbundene Aufkündigung des wechselseitigen Anerkennungsverhältnisses zwischen Individuum und Organisation oder das Eintreten einer subjektiv wahrgenommenen Unsicherheit über anerkannte Verhaltensweisen, die sich z.B. in verringerter Entscheidungsfreudigkeit, Kreativität und Innovationsbereitschaft der betreffenden Organisationsmitglieder äußern kann. Eine systematische Heuristik zur Analyse möglicher Reaktionsweisen von Organisationsmitgliedern und der entsprechenden Zusammenhänge und Auswirkungen auf die Organisation bieten anomietheoretische Überlegungen. Grundsätzlich ist die Aufkündigung des bisherigen „working consense“ mit der Erzeugung einer anomischen Situation in Organisationen vergleichbar. Mit marktförmiger Leistungssteuerung wird ein ungleichgewichtiger Wirkungsgrad von sozial vorgegebenen und über die Organisation realisierbaren gesellschaftlichen Zielen („Gegenleistung“) und den zur Zielerreichung anzuwendenden, organisationalen Mitteln („Leistung“) induziert. Das heißt, die Bedingungen für die Gewährung von Anerkennung im Sinne des Leistungsprinzips werden in der oben beschriebenen Weise vielfach gebrochen, intransparent oder vor dem Hintergrund der Aufrechterhaltung und Fortentwicklung von Identität einfach inakzeptabel für Organisationsmitglieder. Da die organisationalen Gegenleistungen in Form des Erwerbs sozioökonomischen Status´ jedoch von ungebrochener Wichtigkeit in unserer Gesellschaft sind, werden die betroffenen Organisationsmitglieder einem Konflikt bzw. einem anomischen Druck ausgesetzt, den sie für sich lösen müssen. Wie bereits erläutert, könnten gemäß Merton (1975) Reaktionsweisen der Rebellion, des Rückzuges, des Ritualismus oder der Innovation auftreten (vgl. Kap. 2 oder für den konkreten Leistungsvollzug Kap. 5). Mit Ausnahme des Innovators scheinen zunächst alle weiteren Reaktionstypen nicht geeignet, den kollektiven Leistungsvollzug in Organisationen positiv zu beeinflussen und von der Organisationsleitung bei qualitativer als auch bei quantitativer Flexibilisierung nicht gewollt zu sein. Rebellion bedeutete die aktive Ablehnung der arbeitgebenden Organisation durch das Individuum (Op232
position). Rückzug kann mit innerer Kündigung und entsprechender Motivationslosigkeit in Bezug auf die zu erbringende Arbeitsleistung gleichgesetzt werden. Ritualismus impliziert das Festhalten an herkömmlichen Mitteln, also an bisherigen Standards von Leistungsprozessen, unter Inkaufnahme der Verfehlung neu vorgegebener Leistungsziele. Generell können diese Reaktionstypen verschiedene Formen von Identitätsbedrohungen indizieren. Die Verteidigung von Identität könnte sich in Rebellion, aber auch in Formen des Ritualismus niederschlagen, Erosion und Hinterfragung von subjektiver Identität könnten mit Formen des Rückzuges verknüpft sein. Innovation ließe sich demgegenüber als aktive Fortentwicklung von Identität im akzeptierten Rahmen gegebener Bedingungen lesen. Doch auch dieser scheinbar organisational intendierte und „positive“ Reaktionstyp bedeutet nicht notwendig ein organisationsnützliches Verhalten. Innovatives Verhalten muss trotz seiner positiven Konnotation keineswegs immer positive Auswirkungen für Organisationen haben. Innovation im Mertonschen Sinne impliziert die Anwendung „abweichender“ Mittel zur Erreichung der vorgegebenen Ziele, sagt jedoch nichts über den genaueren Zuschnitt dieser Mittel aus. Als organisationsnützlicher Innovator ist der oben bereits angesprochene „intrapreneur par excellence“ (vgl. Faust et al. 2000) zu bewerten, der sein Leistungsvermögen unter Bedingungen marktförmiger Leistungssteuerung erst voll entfalten kann. Personen dieses Reaktionstyps haben die neuen Bedingungen der Anerkennung stark internalisiert und sind hoch motiviert. Anders als bei Rückzüglern steigt ihr Leistungsniveau unter diesen Bedingungen. Anzunehmen ist, dass ein solches Verhalten eher von Organisationsmitgliedern zu erwarten ist, die auch tatsächlich große unternehmerische Spielräume in Organisationen haben bzw. in Bezug auf ihre eigene Arbeitskraft unternehmerisch am Arbeitsmarkt auftreten können (vgl. z.B. Martin/Wajcman 2004). Dabei ist interessant, dass die Manager in der Studie von Martin/Wajcman (2004) neben ihrer eindeutig marktlichen Orientierung eine spezifisch professionelle Auffassung von ihrer Tätigkeit als Manager haben, über welche sie sich wesentlich identifizieren, bzw. die ihnen eine wichtige Anerkennungsarena darstellt. Die Loyalität zu einer spezifischen Organisation wird auf diese Weise durch die professionelle Orientierung an der zu erfüllenden Aufgabe abgelöst. Innovatives Verhalten kann jedoch auch organisationsschädlich wirken. Insbesondere im Führungskräftebereich ist es nicht unwahrscheinlich, dass Manager im Interesse ihrer Karriere bzw. ihrer Arbeitsplatzsicherheit und dem hiermit verbundenen Druck, die organisational vorgegebenen Ziele auch zu erreichen (vgl. Thomas/Dunkerley 1999; Tengblad 2004), Entscheidungen treffen und Handlungen vollziehen, die der Organisation langfristig schaden. Diese Problematik wird besonders relevant bei der Vorgabe kurzfristig zu realisieren233
der Leistungsziele, wie etwa dem Aktienwert, bzw. allgemein mit zunehmendem Shareholder Value-Druck. So besteht die Gefahr einer zu kurzfristigen Ausrichtung der Entscheidungen von Managern, die damit langfristig zur Schädigung des Ressourcenpools einer Organisation beitragen könnten. Cascio (2002) und Kieser (2002) zeigen diese Problematik z.B. anhand der Auswirkungen von Downsizing-Maßnahmen auf die Wettbewerbsfähigkeit und auf finanzielle Erfolgskriterien von Organisationen. Die Eröffnung von Handlungsspielräumen im Rahmen qualitativer Flexibilisierung lädt Manager geradezu ein, subjektiv empfundene Karriererisiken zu kontrollieren, indem sie sich für Projekte mit schnellen und relativ sicheren Returns engagieren, z.B. Personalabbaumaßnahmen. Dies stellt ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis („Präsentationsleistung“) und mehrt ihre Reputation, ein wichtiges Signal auf einem immer härter umkämpften Karriere- und Arbeitsmarkt (vgl. Hirshleifer/Thakor 1992; Höpner 2004). Für die Organisation kann diese „Leistungsfähigkeit“ sehr schädlich sein, wenn einseitige Kurzfristoptimierung zu Lasten langfristiger Entwicklungschancen der Organisation geht (vgl. Rumelt 1987; Cascio 2002). Darüber hinaus weisen Scarbrough/Burrell (1996) als auch LaNuez/Jermier (1994) auf das möglicherweise wachsende Potential für Sabotageakte bzw. „white collar criminality“ im Bereich des mittleren Managements hin. Sie begründen ihre Annahmen mit der im Rahmen von Dezentralisierungsprozessen und marktförmiger Leistungssteuerung zunehmend konflikthaften Situation mittlerer Manager, die sich z.B. in der bereits angesprochenen Diskrepanz zwischen Verantwortung und Entscheidungsbefugnis, höherer Arbeitsbelastung oder den zunehmend unsichereren Karrieremöglichkeiten ausdrückt (vgl. Newell/Dopson 1996; Holden/Roberts 2004). Im Interesse der eigenen Karriere oder aufgrund einfacher Frustration tendierten mittlere Manager hiernach zu Korruption oder Sabotage. Die abnehmende Bedeutung von Leistungsprozessvorgaben (Input) und gleichzeitige Betonung von Leistungsergebnissen (Output) im Rahmen der neuen Leistungssteuerung kann dabei zu einer Fortentwicklung dieser Tendenzen beitragen, indem der Druck der Zielerreichung erhöht wird und zugleich Handlungsspielräume eröffnet werden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die einseitige Auflösung der durch das Leistungsprinzip vorgegebenen Reziprozitätsnormen einen anomischen Druck in Organisationen aufbaut, der über die individuelle Handlungsebene eher negativ auf den organisationalen Leistungsvollzug zurückwirkt. Es stellt sich die interessante Frage, in welcher Form Organisationen die bisher durch das Leistungsprinzip gewährleistete Stabilität des Leistungsvollzuges und die Integration von Organisationsmitgliedern aufrechterhalten können, bzw. ob sich diese Funktionen in einem grundlegenden Wandel befinden. Richtungweisend könnte der Aufbau marktlich ausgerichteter und zugleich professioneller, 234
identitätsstiftender Orientierungen von Organisationsmitgliedern sein, wie sie Martin/Wajcman (2004) für australische Manager zeigen konnten (vgl. auch Heckscher 1995). Damit würde jedoch auch die Bindung bzw. die Loyalität gegenüber der konkreten arbeitgebenden Organisation zugunsten der Orientierung an der am Arbeitsmarkt gebotenen „herausfordernden“ Aufgabe zurücktreten, ein Aspekt, der in Zeiten wissensintensiver Leistungserstellungsprozesse durchaus kritisch sein könnte. Fraglich erscheint auch, inwieweit in solches Modell für alle Beschäftigtengruppen realistisch ist. Mit den bisher generierten Erkenntnissen lässt sich nun abschließend der angestrebte Bezugsrahmen zum Zusammenhang von Leistungssteuerung in Organisationen, subjektiver Identität der betroffenen Organisationsmitglieder und entsprechenden rekursiven Wirkungen auf den organisationalen Leistungserstellungsprozess erstellen. Abbildung 25 verdeutlicht die Zusammenhänge nochmals in graphischer Hinsicht. Im darauf Folgenden wird der Fokus etwas erweitert, indem abschließend nach entsprechenden Konsequenzen für die „Leistungsgesellschaft“ gefragt wird.
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Abbildung 25: Bezugsrahmen zum Zusammenhang von marktförmiger Leistungssteuerung, subjektiver Identität der Organisationsmitglieder und Konsequenzen für Arbeitsorganisationen
5.3.3 Anomie in der Leistungsgesellschaft? Wie bereits mehrfach betont, ist das Leistungsprinzip konstitutiv für die normative Sozialordnung moderner Gesellschaften. Als normatives Prinzip zur Regelung und Rechtfertigung sozialer Gleichheit und Ungleichheit definiert es die Maßstäbe distributiver Gerechtigkeit und erfüllt in diesem Zusammenhang grundlegende Aufgaben für das Funktionieren und den Zusammenhalt der Gesellschaft. Neben und z.T. über die Erfüllung der Entschädigungs-, Äquivalenzund Allokationsfunktion (vgl. Kap. 3) wirkt das Leistungsprinzip als grundlegender gesellschaftlicher Integrationsmodus, der eine hohe gesellschaftliche Legitimation besitzt bzw. als „moralische Intuition zum Alltagsbewusstsein“ gehört (Neckel 1999, S. 153; vgl. Hochschild 1981; Hamann et al. 2001). Dabei dominiert „Arbeitsleistung“ bzw. Leistung in der Berufs- und Erwerbsarbeit über andere Leistungsarten, wie z.B. Haushalts- und Familienarbeit, und muss als der wesentliche Dreh- und Angelpunkt für die Verteilung des sozioökonomischen Status betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund können moderne Gesellschaften auch mit dem von McClelland (1961) geprägten Begriff der „Leistungsgesellschaft“ bezeichnet werden. Arbeitsorganisationen sind dabei als wesentlicher Ort der Realisierung des Leistungsprinzips anzusehen und stellen in dieser Form eine höchst einflussreiche Ebene heutiger Gesellschaften dar (vgl. Schimank 2005). Sie können als die zentralen Arenen der Allokation und Distribution von Positionen und Gütern angesehen werden (vgl. zu organisationsspezifischen Auswirkungen auf die Gerechtigkeitsvorstellungen von Organisationsmitgliedern Liebig/Lengfeld 2005). In Arbeitsorganisationen wird Arbeitsleistung erbracht, für die eine organisationale Gegenleistung gewährt wird, welche wiederum bestimmend für die individuelle Konsumtion anderer Güter und Dienstleistungen ist. Über Arbeitsorganisationen wird demnach ein gewichtiger Teil der gesellschaftlichen Integrationsleistung geleistet. Organisationale Veränderungen hinsichtlich der Anwendung des Leistungsprinzips stehen somit in grundlegender Wechselbeziehung mit dem gesellschaftlichen Kontext. Generell handelt es sich hier um eine sehr komplexe Beziehung der gegenseitigen Einflussnahme. Ausgehend von den hier thematisierten Entwicklungen in der organisationalen Anwendung des Leistungsprinzips kann jedoch - wenn auch holzschnittartig - ein Einfluss auf die wahrgenommene Leistungsgerechtigkeit und damit die Integrationskraft heutiger Gesellschaft abgeleitet werden. Beispielsweise begründet Neckel (1999, S. 153) seine These des gegenwärtigen Verschwindens von sozialer Leistungsgerechtigkeit mit der zunehmenden „Unkenntlichkeit“ der geltenden Kriterien für Leistung. Er begründet dies u.a. mit dem Aufkommen der technisierten und flexiblen Produktionsweise. Jene Unkenntlichkeit von Leistungskriterien könnte 237
demnach durchaus auf die oben beschriebenen paradoxen Entwicklungen in Bezug auf die Anwendung des Leistungsprinzips in Organisationen zurückführbar sein. „Unsichere Vorleistungen“, schwer fassbare, aber immer notwendiger werdende „Präsentationsleistung“, vom Markt abhängige Wertschätzung von Leistung als auch „unsichtbare“ Leistungen sind ein Indiz für die von Neckel angeführte, zunehmende Diffusivität und Unsicherheit über „richtige“ und damit anzuerkennende Leistung. In Bezug auf die wenig identitätsstiftende Wirkung dieser Diffusivität schreibt Neckel: „An die Stelle persönlichen Leistungsbewusstseins setzt sich nun entweder die Frage, ob einen das Schicksal, der Zufall, der richtige Augenblick mit einem Vorteil bedachte, oder ob es mir mittels leistungsferner Strategien wie Eindrucksmanagement oder Ranküne gelang, bei der Verteilung von Gütern und Positionen besser als andere abzuschneiden.“ (Neckel 1999, S. 154)
Neben der wachsenden Diffusivität von „Leistung“ betont Neckel das wachsende Aufkommen leistungsferner Verteilungskriterien als zweiten, wesentlichen Einfluss der gesellschaftlichen Erosion des Leistungsprinzips. Hierbei handelt es sich um Phänomene, die nicht auf die veränderte Leistungssteuerung in Organisationen zurückführbar sind, aber der Vollständigkeit halber jedoch hier kurz genannt werden. Es handelt sich z.B. um das Verteilungsprinzip des Risikos, womit der Erwerb von Geldeinkommen über risikoreiche, aber leistungsferne Handlungen, wie z.B. Börsenspekulationen, gemeint ist, oder das der Vererbung von Vermögen, was wesentlichen Einfluss auf die soziale Ungleichheit von Gesellschaftsmitgliedern hat, sich jedoch nicht vor dem Hintergrund des Leistungsprinzips rechtfertigen lässt. Generell lässt sich die hierdurch erwachsende Situation, wenn auch stark vereinfacht, als anomische Konstellation denken, zu der Organisationen durch ihre Leistungssteuerung und die damit verbundenen flexiblen Personaleinsatzstrategien nicht unwesentlich beitragen. Die entsprechende Begründung ist, dass das nach wie vor ungebrochene Ziel, einen hohen sozioökonomischen Status zu erlangen, durch „Leistung“, als Mittel immer schwerer zu erreichen ist. Dies baut einen anomischen Druck auf, der gemäß Merton (1975) über verschiedene Reaktionsweisen gelöst werden kann, die wiederum die langfristige Integrationsfähigkeit der Gesellschaft infrage stellen. Die mit dem Typ des Rückzuges vergleichbare Resignation des „abgehängten Prekariats“ (Friedrich-Ebert-Stiftung 2006) als auch die „anomische Destruktionskraft“ sich potentiell entfaltender „Wut“ „ausgeschlossener Minderheiten“ (Neckel 1999, S. 160) könnten hierfür Beispiele sein. Dabei könnte „Wut“ auch als gezieltes rebellisches Verhalten a la Merton gelesen werden oder darin übergehen. Mit Verweis auf Dubets und Lapeyronnies (1994) ent238
sprechende Untersuchung über Jugendmilieus in französischen Vorstädten ist jedoch fraglich, ob hinter wütendem Verhalten immer die Vorstellung eines gesellschaftlichen Alternativentwurfs steckt, welche Rebellion gemäß Merton auszeichnet. So spitzt Neckel zum kollektiven Gefühl der Wut zu: „Als publikumsbezogene Emotion sendet sie (die Wut, Anm.d.V.) öffentliche Anklagen aus, betrogen, enttäuscht, gedemütigt worden zu sein. Diese Symbolik macht sich heute massiv in der gesellschaftlichen Wirklichkeit geltend. Mittels öffentlicher Darstellungen von Wut verwandeln sich die „entbehrlichen Klassen“ in das alte Schreckbild zurück, das die bürgerliche Ordnung in den „gefährlichen Klassen“ schon des frühen 19. Jahrhunderts besaß.“ „Wie am Anfang der industriellen Gesellschaft setzt auch an ihrem Ende der überschüssige Teil der Bevölkerung das letzte Kapital ein, mit dem sich noch wuchern lässt: die Welt in Unordnung zu stürzen, eine Gesellschaft friedlos zu stellen.“ (Neckel 1999, S. 163)
Neckel betont in seinen Ausführungen, dass es sich hierbei um Personengruppen handelt, die selbst gar nicht mehr die Chance haben, in Leistungsverhältnisse einzutreten und Leistungsgerechtigkeit für sich einzuklagen (S. 160ff.). „Ungerechtigkeit“ speist sich hierbei also nicht aus mangelhaften Leistungsbeurteilungen, sondern aus der Exklusion von Leistungsverhältnissen generell. In Anbetracht des normativen Anspruchs von modernen Gesellschaften, „Leistung“ als den Modus distributiver Gerechtigkeit zu verstehen, ist diese Entwicklung durchaus kritisch. Unsicherheit über anzuerkennende Leistung und die erwartbare Gegenleistung kann ausgehend von den obigen Analyseergebnissen jedoch auch bei „inklusiven“ gesellschaftlichen Gruppen vermutet werden. Die empirischen Erhebungen von Neckel et al. (2004) zeigen z.B., dass auch Studierende Zweifel an der „Realitätstüchtigkeit“ des Leistungsprinzips haben und etwa das „Networking“ als unverzichtbar für die eigene berufliche Zukunft betrachten. „Networking“ erscheint geeignet, der oben angesprochenen und zunehmenden Diffusivität von Leistungskriterien zu begegnen. Ein in dem Sinne innovatives Verhalten gemäß Merton (1975) kann sich darüber hinaus auch in anderen Strategien, wie z.B. einer besonderen Präsentationsleistung, äußern. In Bezug auf das Problem der Integrationsfähigkeit der Leistungsgesellschaft lässt sich mit Neckel et al. formulieren: „Wenn die Erfüllung von Leistungsgerechtigkeit angesichts unausweichlich erscheinender Sachzwänge als eine zwar wünschenswerte, aber kaum realisierbare Idee in das Reich der Utopien verbannt wird, wirft dies die Frage auf, ob dadurch nicht die faktische Statusordnung insgesamt eine Delegitimierung erfährt.“ (Neckel 2004, S. 161, H.i.O.)
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Zusammenfassend ist zu sagen, dass Organisationen durch die Anwendung neuer Leistungssteuerungssysteme einen wesentlichen Anteil an der derzeitigen normativen und faktischen gesellschaftlichen Geltung des Leistungsprinzips haben. Genauso wie diese Entwicklungen auf den organisationalen Kontext negativ rückwirken können, tragen sie ebenfalls dazu bei, die Integrationsfähigkeit und das „Funktionieren“ (z.B. im Sinne der leistungsbezogenen Allokationsfunktion) heutiger „Leistungsgesellschaften“ negativ zu tangieren. Damit soll nicht behauptet werden, dass das Leistungsprinzip bisher eine umfassende Anwendung in Organisation und Gesellschaft erfuhr. Dennoch hat man es mit den heutigen Tendenzen mit einer offensichtlichen Hinterfragung der normativen Vorstellungen von Leistungsgerechtigkeit zu tun, da das Prinzip Leistung an sich in Frage gestellt wird.
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6 Fazit Im nun folgenden Fazit sollen zunächst nochmals die Zielstellung und der Problemhintergrund der Arbeit dargestellt werden. Anschließend erfolgt eine Zusammenfassung der wesentlichen Erkenntnisse der Arbeit. Letztlich werden sich hieraus ergebende Perspektiven für Wissenschaft und Praxis aufgezeigt. 6.1 Zielstellung und Problemhintergrund Die grundlegende Zielstellung der Arbeit war die Erarbeitung eines konzeptionellen und auch empirisch anschlussfähigen Bezugsrahmens zur Darstellung und Analyse der Konsequenzen marktförmiger Leistungssteuerung in Organisationen auf die Identität der Organisationsmitglieder und die akteursvermittelten (Rück-)Wirkungen auf die Funktionsfähigkeit der Organisation. In diesem Sinne wurde der Versuch unternommen, aktuelle empirische Phänomene zu ordnen und zu deuten, indem Zusammenhänge postuliert wurden, die einer empirischen Überprüfung unterzogen werden können. Wesentliche Bausteine des zu erstellenden Bezugsrahmens waren identitäts- und anomietheoretische Überlegungen, die es in neuartiger Weise ermöglichen sollten, das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Individuum und Organisation differenziert darzustellen und vor dem Hintergrund organisationaler Leistungssteuerung analysierbar zu machen. Das Verständnis der subjektiv wahrgenommenen Identität als handlungsrelevante Größe, welche von organisationalen Rahmenbedingungen beeinflusst wird und diese wiederum beeinflusst, ist in der betriebswirtschaftlichen Forschung bisher kaum eingehender beleuchtet worden. Deswegen und dem Zusammenhang geschuldet, dass die Erbringung und Anerkennung von Leistung ein wesentlicher identitätsbildener Faktor in unserer Gesellschaft ist, erschien es lohnenswert, sich eingehender mit der Vorstellung von Identität auseinanderzusetzen und zu einem Angelpunkt der Analyse marktförmiger Leistungssteuerung zu machen. Um das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von individueller Handlungs- und organisationaler Strukturebene differenziert in den Blick zu bekommen, wurde mit der klassischen soziologischen Vorstellung institutioneller Anomie operiert. Dieser Ansatz beinhaltet Vorstellungen über die Beschaffenheit und die Bedingungen „stabiler“ Institutionen bzw. Organisationen. Hervorstechend ist, dass in der hier verwendeten Konzeption von Anomie nach Merton (orig. 1938) die Ausprägung organisationaler Normen und Strukturen und damit deren Stabilität bzw. Instabilität in eine explizite Verbindung zu Reaktionsweisen auf individueller Ebene gesetzt werden. In dieser Hinsicht bieten sich im Sinne der oben formulierten Zielstellung besonders gute Anknüpfungs241 G. Faßauer, Arbeitsleistung, Identität und Markt, DOI 10.1007/978-3-531-91040-6_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008
punkte, den rekursiven Konstitutionsprozess zwischen individueller und organisationaler Ebene darzustellen und mit identitätstheoretischen Überlegungen zu verknüpfen. Im Fokus der Analyse zur marktförmigen Leistungssteuerung standen erwerbswirtschaftliche Organisationen. Diese erfahren als Arbeitsorganisationen ihre soziale Legitimität und Stabilität durch die normative Wirksamkeit des Leistungsprinzips. Das heißt, sie zeichnen sich dadurch aus, dass die Mitgliedschaft und der Beitrag der Mehrheit der beteiligten Akteure im Tausch gegen organisationale Gegenleistungen gewährt werden, also nicht auf inhaltlich geteilten Motivlagen beruhen, wie z.B. bei politischen Parteien, Vereinen etc. (vgl. Schimank 2005). Unter Leistungssteuerung wurden allgemein alle organisationalen Aktivitäten der Schaffung und der Anwendung von Rahmenbedingungen und Instrumenten verstanden, die der Anpassung des Verhaltens und der Handlungen der Organisationsmitglieder an die Ziele der Organisation dienen und in der Weise „Leistung“ definieren. Marktförmige Leistungssteuerung folgt aus der wachsenden Marktorientierung von erwerbswirtschaftlichen Organisationen, welche sich im Ziel einer zunehmend effizienten und zeitökonomischen Optimierung der Leistungserstellungsprozesse bzw. Wertschöpfungsketten innerhalb der Organisation und zwischen verschiedenen Organisationen zeigt. Im Gegensatz zu fordistischen Produktionsmodellen erfolgt die Optimierung durch die Integration von (Teil-)Funktionen in (stärker) selbstbestimmte und ergebnisverantwortliche Einheiten (Dezentralisierung) und deren flexible prozess- bzw. marktorientierte Verknüpfung (Prozessorientierung). Die Einheiten sollen damit eine nach außen hin abgrenzbare bzw. abgeschlossene Funktion im gesamten Wertschöpfungsprozess erfüllen. Sie agieren hierbei im Rahmen vorgegebener Kontextbedingungen relativ selbstständig und sind zumeist ergebnisverantwortlich. Sie werden häufig über nicht (vollständig) hierarchische Mechanismen miteinander koordiniert. Das heißt, es werden marktähnliche Steuerungsformen in den Organisationen etabliert (interne Märkte), so dass beispielsweise die Zusammenarbeit zwischen einzelnen Segmenten über interne Angebotspreise und entsprechende Nachfrage geregelt wird. Zugleich ermöglicht moderne IuKTechnologie eine informationstechnische Standardisierung der Abwicklung von Austauschprozessen zwischen den Einheiten. Ziel ist das Erreichen einer hohen, am Markt ausgerichteten Flexibilität bei gleichzeitiger Minimierung der Koordinationskosten (Abstimmungskosten usw.) zwischen den Einheiten. Es wurde herausgearbeitet, dass trotz der sehr unterschiedlichen Realisierungsformen der neuen Marktorientierung von Organisationen eine gemeinsame Leistungssteuerungslogik extrahiert werden kann. Diese neue Logik kann als marktförmige Leistungssteuerung bezeichnet werden und bedeutet vereinfacht, dass die Steuerung der Leistungserbringung von Organisationsmitgliedern zu242
nehmend über die Vorgabe und Kontrolle der marktlich bewerteten Outputgrößen ihrer Leistung erfolgt. Die Leistung von Organisationsmitgliedern wird somit in wachsendem Maße und in qualitativ neuartiger Form vorrangig als Beitrag zum ökonomisch bewerteten Gesamtergebnis einer Organisation definiert, gesteuert und wertgeschätzt. Dies zeigt sich z.B. in entsprechenden Personaleinsatzstrategien als auch in den Systemen der Grund- und Leistungslohndifferenzierung bzw. in einer zunehmend marktlich bestimmten Leistungsindikation und -wertschätzung. Vor diesem Hintergrund wird die Relevanz der hier bearbeiteten Fragestellung in Form der Analyse des Zusammenhangs von Leistungssteuerung, Identität und entsprechenden Rückwirkungen auf die Arbeitsorganisation deutlich. So implizieren die Tendenzen der marktförmigen Leistungssteuerung in Organisationen eine Erosion des „normativen Kerns“ des sozialen Verständnisses von Leistung (vgl. Neckel/Dröge 2000; Neckel et al. 2004) und des Leistungsprinzips als Fundamentalnorm distributiver Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften. Sind Märkte gegenüber dem Zustandekommen von „Leistungsbeiträgen“ gleichsam blind - also ausschließlich an ökonomischen Ergebnissen interessiert, richtet sich das Leistungsprinzip hinsichtlich der Gewährung von Leistung und Gegenleistung nach der Wünschbarkeit des Ergebnisses und vor allem nach der Mühe, die zu dessen Erreichung im Allgemeinen erforderlich ist (Neckel/Dröge 2002, S. 104 ff.). Das Leistungsprinzip folgt Normen der Gegenseitigkeit, der Äquivalenz, und hat immer auch eine Kompensationsfunktion für aufgewandte Anstrengung und Mühe. Arbeitsorganisationen stellen die historisch gewachsenen Orte der gesellschaftlichen Realisierung des Leistungsprinzips dar. Mit der formalen Gewährleistung der Äquivalenz von individueller Leistung und organisationaler Gegenleistung stabilisiert das Leistungsprinzip das Austauschverhältnis zwischen Individuum und Organisation und damit die soziale Legitimation und Funktionsfähigkeit von Arbeitsorganisation. Es gewährleistet Teilnahme- und organisationsnützliche Beitragsentscheidungen, schafft relative Handlungssicherheit auf individueller Ebene und beeinflusst wesentlich - zumindest in formaler Hinsicht - den sozialen Status des Einzelnen. In diesem Zusammenhang und darüber hinaus haben die Erbringung von Leistung und deren organisationale Anerkennung über die Gewährung einer entsprechenden Gegenleistung einen wesentlichen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung des Einzelnen und dessen Identitätsbildung. Vor diesem Hintergrund sollte gezeigt werden, dass die wachsende Marktförmigkeit der Leistungssteuerung in Organisationen nicht reibungslos stattfinden wird. Jene Reibungen beziehen sich dabei auf die individuelle als auch auf die organisationale Ebene. Auf beiden wechselseitig verknüpften Ebenen scheint die stabilisierende Funktion des Leistungsprinzips zur Disposition zu 243
stehen. Auf individueller Ebene kann sich dies z.B. in tiefen Eingriffen in das persönliche Identitätsverständnis von Organisationsmitgliedern und einer damit verbundenen Unsicherheit über eigene Verhaltensweisen und Handlungen oder auch deren aktiver Verteidigung äußern. Auf organisationaler Ebene schlagen sich eben jene schwer antizipierbaren und mehrheitlich organisational nicht intendierten, identitätsbezogenen Verhaltensweisen im individuellen und kollektiven Leistungserstellungsprozess nieder und können auf diese Weise zu einer Destabilisierung organisationaler Abläufe führen, die stärker als geplant ausfällt. Mit dem Grundanliegen der Erstellung des Bezugsrahmens zur Analyse dieser Zusammenhänge waren weitere Zielstellungen verbunden. Dies war zunächst die Hervorhebung und differenzierte Darstellung der in der betriebswirtschaftlichen Forschung bisher eher vernachlässigten Identitätskonzeption nach G.H. Mead sowie des Ansatzes der Anomie und deren identitätstheoretische Verknüpfung. Weiterhin sollte eine differenzierte Aufbereitung, Darstellung und Hervorhebung des normativen Kontextes der Leistungssteuerung in Organisationen in Form des Leistungsprinzips und dessen Funktionen für das wechselseitige Verhältnis von Individuum und Organisation geleistet werden. Ein weiteres Anliegen war, die wesentlichen Facetten marktförmiger Leistungssteuerung und die Bedingungen ihrer unterschiedlichen Realisierung auf Arbeitsplatzebene herauszuarbeiten. Letztlich sollte das abschließende Ziel bzw. der letzte Baustein des zu erstellenden Bezugsrahmens erarbeitet werden, indem identitätstheoretische Überlegungen in einer anomietheoretischen Rahmung zur Analyse möglicher Konsequenzen von marktförmiger Leistungssteuerung Verwendung fanden. 6.2 Aufbau und Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse Die Arbeit ist in vier größere Kapitel geteilt. Nach der Einleitung wurde im zweiten Kapitel, auf die identitätstheoretischen Grundlagen sowie auf Anomie als „Identitätsbedrohung“ eingegangen. Darauf folgte im dritten Kapitel eine Auseinandersetzung mit dem Verständnis von „Leistung“ und Leistungsprinzip und deren Bedeutung für die Identitätsbildung des Einzelnen sowie die Funktionsweise von Arbeitsorganisationen. Im vierten Kapitel wurden die Trends marktförmiger Leistungssteuerung in Organisationen aufgezeigt. Im fünften Kapitel erfolgte die Analyse der Konsequenzen dieser Form der Leistungssteuerung für Individuum und Organisation aus der Perspektive der Identitäts- und Anomietheorie sowie der Kenntnisse über die Charakteristika des arbeitsorganisationalen Leistungsprinzips.
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Um im Folgenden einen Überblick über die wesentlichen Erkenntnisse der einzelnen Kapitel zu geben, wird mehrheitlich auf die bereits in der Arbeit erstellten Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel zurückgegriffen. Im zweiten Kapitel wurde eine ausführliche Darstellung und Erläuterung der identitätstheoretischen Grundlagen und die Darstellung von Anomie als Identitätsbedrohung vorgenommen. Das Kapitel wurde mit einer generellen Einordnung der identitätstheoretischen Untersuchungsperspektive und der Benennung sowie kurzen Erläuterung der wesentlichen Facetten des hier vertretenen Identitätsverständnisses eröffnet. Es wurde deutlich gemacht, dass die vorliegende Arbeit die subjektiv empfundene Identität des Einzelnen zum Thema hat (Subjektive Identität), welche sich durch die menschliche Grundtatsache der Reflexion über sich selbst auszeichnet. Des Weiteren wird generell davon ausgegangen, dass Selbstreflexion und Identitätsbildung als das Sammeln von (Selbst)erfahrungen notwendig an soziale Interaktionsprozesse gebunden sind. Identitätsbildung besteht dabei darin, jene, in sozialer Interaktion und über das gesamte Leben hinweg gemachten Erfahrungen in zeitlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht in eine subjektiv empfundene Einheit zu synthetisieren (Identitätsarbeit). Dementsprechend sind subjektiv empfundene Kohärenz und Konsistenz der Erfahrungen über sich selbst konstitutive Merkmale von subjektiver Identität. Da Identitätsbildung an soziale Interaktionsprozesse geknüpft ist, besteht zugleich eine untrennbare Verbindung zwischen der Ausprägung von Identität und der jeweiligen Beschaffenheit des sozialen Umfeldes (z.B. hinsichtlich der Fragmentierung). Das bedeutet, dass Untersuchungen von menschlicher Identität immer auch eine soziohistorische Dimension aufweisen, die besonders dadurch deutlich wird, dass Fragen zur menschlichen Identität insbesondere im Zusammenhang mit der Entwicklung moderner Gesellschaften gestellt und diskutiert wurden. Zur genaueren Erläuterung des Identitätsbildungsprozesses wurde auf das theoretische Fundament von George Herbert Mead als Mitbegründer des Symbolischen Interaktionismus zurückgegriffen. Meads Erkenntnisse bilden bis heute den Kern aktueller Identitätsforschung im sozialpsychologischen Bereich. Der Vorgang der wechselseitigen Perspektivenübernahme („taking the role of the other“) zwischen Interaktionspartnern und die dadurch bedingte Herausbildung zweier Identitätskomponenten in Form von „Me“ und „I“ im Zuge der schrittweisen Sozialisation („play“ und „game“) in die Gesellschaft („generalisierter Anderer“) lässt sich dabei als dialektische Verknüpfung der Fortentwicklung der Identität des Einzelnen und der Beschaffenheit des sozialen Umfeldes lesen. Wie insbesondere Honneth (1994) verstärkt herausarbeitet, ist der Kern dieser Grundidee der Aspekt der wechselseitigen Anerkennung zwischen den Interaktionspartnern. Mead und Honneth gehen dementsprechend davon aus, 245
dass der Aufbau einer subjektiv befriedigenden Identität (positiver Selbstbezug, Selbstachtung bzw. Selbstrespekt) erst dann gelingt, wenn der Einzelne in mindestens einem subjektiv signifikanten Interaktionsbereich Anerkennung erfährt und umso befriedigender ist, je individualisierter die erfahrene Anerkennung durch die Interaktionspartner ist. Zusammenfassend wurde subjektive Identität für die vorliegende Arbeit folgendermaßen definiert: Subjektive Identität ist die subjektiv empfundene Einheit (Kontinuität, Kohärenz) der lebenslangen und notwendig in sozialer Interaktion erworbenen Erfahrungen über sich selbst. Gelingende Identitätsbildung bzw. ein positiver Selbstbezug zur eigenen Identität ist dabei an die wechselseitige soziale Anerkennung in mindestens einem, subjektiv signifikanten Interaktionsbereich gebunden. Die notwendige Bedingung der sozialen Anerkennung für Identitätsbildung impliziert zugleich, dass die Quelle für „Identitätsbedrohungen“ wesentlich in der Beschaffenheit jener Anerkennungsverhältnisse liegt. Die radikale Veränderung bisheriger Anerkennungsmuster kann beispielsweise zur schockartigen Hinterfragung der bisherigen Identität führen. Auch die ständige Unbestimmtheit von Anerkennungsmustern resultiert möglicherweise in der Erosion subjektiver Identität. Die Unterdrückung gelingender Identität durch rigide Anerkennungsmuster, wie sie beispielsweise in Goffmans „totalen Institutionen“ anzutreffen sind, wurde als dritte Möglichkeit für identitätsbedrohende Anerkennungsmuster vorgestellt. Die radikale Veränderung als auch die ständige Unbestimmtheit von Anerkennungsmustern lassen sich zugleich als Figuren anomischer sozialer Zustände lesen. Anomie bezeichnet im Allgemeinen einen Zustand sozialer Regellosigkeit bzw. das wahrgenommene Fehlen von Normen für das gesellschaftliche Handeln eines Individuums. Da der Identitätsbildungsprozess gemäß Mead notwendig an die interaktive Auseinandersetzung des Einzelnen mit normativen Erwartungen des sozialen Umfeldes geknüpft ist, bzw. Normen den sozialen Referenzpunkt für die Beurteilung eigener Verhaltensweisen und damit Identität verkörpern, stellt die Anomie sozialer Strukturen eindeutig eine Identitätsbedrohung dar. Insbesondere Merton entwickelte eine wohlstrukturierte Vorstellung über die Anomie bzw. „Instabilität“ institutioneller Strukturen in Form der unausgeglichenen Akzeptanz institutionell vorgegebener Ziele und den vorgegebenen Mitteln der Zielerreichung. Hervorzuheben ist, dass er diese Instabilität als Resultat der quasi dialektischen Verknüpfung von individueller Handlungs- und organisationaler Strukturebene begreift. So entwirft er verschiedene „Reaktionstypen“ (Rebellion, Ritualismus, Rückzug, Innovation), die sich je nach Akzeptanz von institutionellen Zielen und Mitteln unterscheiden und in dieser Form 246
die Instabilität der jeweiligen Institution abbilden. Im Sinne der Zielstellung der vorliegenden Arbeit bietet Mertons Konzeption einen strukturierten und auch empirisch anschlussfähigen Rahmen für die Analyse und Abbildung des identitätsbedrohenden Charakters moderner Leistungssteuerungssysteme und den entsprechenden (akteursvermittelten) Rückwirkungen auf die Funktionsweise der Organisation. So lässt sich formulieren, dass die einseitige Veränderung organisationaler Anerkennungsmuster über die „Abarbeitung“ im Identitätsverständnis (Identitätsbedrohung) des einzelnen Organisationsmitgliedes zu entsprechenden Reaktionsweisen führt, welche die Instabilität organisationaler Strukturen und Abläufe hervorrufen bzw. befördern können. Im folgenden dritten Kapitel wird dargestellt, dass es sich bei den Normen der Anerkennung für Leistung um wesentliche, identitätsrelevante Anerkennungsmuster handelt, deren Veränderung somit durchaus anomische Tendenzen in Organisationen hervorrufen können. Zu Beginn des Kapitels wurde gezeigt, dass der Begriff der Leistung in der allgemeinen sozialen Sinngebung vielfältige Assoziationen in Hinblick auf seine soziale Bedeutung hervorruft. Abgesehen von der unterschiedlichen umgangssprachlichen Verwendung operieren auch die verschiedenen Fachdisziplinen, wie z.B. die Natur- und Sozialwissenschaften, mit unterschiedlichen Definitionen von Leistung. In der vorliegenden Arbeit interessiert „Leistung“ und „leisten“ als eine bestimmte Art des menschlichen Tätigseins bzw. als Resultat dieser Tätigkeit. Das heißt, es geht um menschliches Tun, das als „Leistung“ wahrgenommen oder definiert wird. Diese Sichtweise impliziert, dass die jeweils geltenden Normen einer Gesellschaft oder Institution über die Bewertung einer Tätigkeit als „Leistung“ entscheiden. Dennoch ist die soziale Wahrnehmung einer Tätigkeit als Leistung in modernen „Leistungsgesellschaften“ nicht vollkommen flexibel. Es existieren bestimmte „vorinstitutionelle“ Charakteristika, die menschliches Tun erst zu „Leistung“ werden lassen. In der sozialen Sinngebung ist „Leistung“ immer mit der Vorstellung eines zu erbringenden Aufwandes (Input) und einem damit verbundenen Ergebnis (Output) verbunden (Zweidimensionalität). Darüber hinaus erhalten Tätigkeiten nur dann das sozial positiv sanktionierte Prädikat „Leistung“, wenn sie sozial erwünschbar erscheinen. Dies ist durch die gesellschaftshistorische Entwicklung moderner Gesellschaften begründet, die die Zuteilung sozialer Anerkennung und sozialen Status mit einer, den offiziellen gesellschaftlichen Standards entsprechenden Leistung des Einzelnen begründen (Leistungsprinzip). Hieran knüpfen dann die Ausgewogenheitserwartung (gleichgewichtige Beurteilung von Aufwand und Ergebnis), Äquivalenzerwartung (die soziale Gegenleistung sollte der individuellen Leistung entsprechen) und die Erwartung der Chancen247
gleichheit (jeder in der Gesellschaft sollte die gleichen Möglichkeiten zur Erbringung von Leistung haben, Voraussetzung zur Wirksamkeit des Leistungsprinzips) an. Im Zuge der Entwicklung der Leistungsgesellschaft avancierte die Erbringung von Leistung im Rahmen der Erwerbsarbeit zur gesellschaftlichen Kollektivnorm, d.h. zur allgemeinen Verhaltenserwartung an den Einzelnen, und die entstehenden arbeitsteiligen Organisationen zu den vordringlichen Orten der Leistungserbringung und Leistungsdefinition. Die Erwerbsarbeit stellt daher einen Interaktionsbereich dar, der eine nahezu dominierende vergesellschaftende Kraft auf den Einzelnen ausübt. So beeinflusst Erwerbsarbeit wesentlich den sozialen Status des Einzelnen oder organisiert soziale Zeit- und Sinnstrukturen, etwa in Bezug auf die eigene Biographie (z.B. „Arbeitsleben“ und „Rentnerdasein“). Auch innerhalb der Erwerbsarbeit finden sich potentiell alle Formen der sozialen Anerkennung, welche nach Honneth (1994) eine wesentliche Rolle für die soziale Integration und das eigene Selbstverständnis spielen („Liebe“ als affektive Zuwendung, „Recht“ als kognitive Achtung, „Solidarität“ als soziale Wertschätzung). Angefangen von der sozialen Integrationswirkung, welche durch die affektive Zuwendung in freundschaftlicher Beziehung zu Kollegen erfahren wird, über die formal rechtliche Anerkennung des Einzelnen (Arbeitsvertrag) bis zur wahrgenommenen Wertschätzung der individuellen Leistung durch die arbeitgebende Organisation (Leistungsbewertung, Entgelt), hat Erwerbsarbeit und die hier erbrachte Leistung wesentlichen Einfluss auf die Identitätsbildung des Einzelnen. Insbesondere bei „Professionellen“ erscheinen die leistungsbezogene Entfaltung innerhalb der Erwerbsarbeit und die entsprechende soziale Wertschätzung von großer Wichtigkeit für die Identitätsbildung. Generell bleibt die stabilisierende Wirkung des Leistungsprinzips nicht auf die individuelle Ebene beschränkt. Auch die Stabilität und „Funktionsfähigkeit“ von arbeitsteiligen Organisationen hängt in dieser Hinsicht notwendig mit der formalen Etablierung und Einhaltung des Leistungsprinzips zusammen. So bewirkt die formale Gültigkeit des Leistungsprinzips ja erst die Stabilisierung der organisationalen Erwartungshaltung in Bezug auf die zu erbringende Arbeitsleistung und entsprechende Koordination der einzelnen Organisationsmitglieder. Das Leistungsprinzip erzeugt eine „homogenisierte Mitgliedschaftsmotivation“ (Schimank 2005, S. 27), welche erlaubt, sich über konkrete und individuelle Motivlagen der Organisationsmitglieder hinwegzusetzen und somit erst die Ausschöpfung von Effizienz- und Effektivitätsvorteilen einer arbeitsteiligen Leistungsproduktion ermöglicht. Die Mobilisierung der Leistungsanstrengungen der Organisationsmitglieder oder die ermöglichte Steuerung der Verhaltensweisen in der Organisation sind hiermit zusammenhängende Funktionen, welche das Leistungsprinzip für Organisationen erfüllt. 248
Es konnte festgestellt werden, dass die Vorstellung von Leistung und das damit zusammenhängende Leistungsprinzip grundlegende Normen der Anerkennung in unserer Gesellschaft repräsentieren. Sie stellen unabhängig von ihrer faktischen Realisierung etwas „Wünschenswertes“ dar. Das heißt, sie bilden Referenzpunkte für die Beurteilung der eigenen Situation bzw. der gemachten Erfahrungen in der Erwerbsarbeit und beeinflussen auf diese Weise auch das Leistungsverhalten in Organisationen. Die Erosion oder Destabilisierung dieser grundlegenden Normen kann demnach wesentlichen Einfluss auf das Selbstverständnis bzw. auf die Identität des Einzelnen haben als auch Organisationen in ihrer Funktionsweise wesentlich tangieren. Derzeitige Trends der Leistungssteuerung in Organisationen lassen jedoch die Vermutung aufkommen, dass eine solche Destabilisierung im Gange ist - mit möglicherweise nicht intendierten Konsequenzen. Im vierten Kapitel ging es darum, die wesentlichen Trends in der Leistungssteuerung in Arbeitsorganisationen darzustellen und zu systematisieren. Den Ausgangspunkt zur Auseinandersetzung mit neuen Formen der organisationalen Leistungssteuerung bildete die Thematisierung der wachsenden Marktorientierung erwerbswirtschaftlicher als auch öffentlicher Organisationen in den westlichen Industriestaaten. Marktorientierung meint in diesem Zusammenhang das organisationale Ziel und die Umsetzung einer aktiven, differenzierten, flexiblen und zugleich effizienten Marktbearbeitung. Die Ausführungen zur wachsenden Marktorientierung wurden dabei über den in der wirtschaftspolitischen als auch industriesoziologischen Forschung vielfach diskutierten Übergang von der fordistisch zur postfordistisch geprägten Wirtschaftsweise von Organisationen thematisiert. In Bezug auf die Gestaltung organisationaler Strukturen und Strategien beinhaltet dieser Übergang wesentlich die Abkehr von zentralistisch und funktional gegliederten Strukturen, die Abwendung von standardisierter Massenproduktion und eine Hinwendung zu dezentral gestalteten Strukturen, welche eine flexible und zugleich effiziente Gestaltung organisationaler Leistungserstellungsprozesse und damit auch marktorientierte Anpassung des Leistungsangebotes erlauben sollen. Anschließend wurde gezeigt, dass diese Entwicklungen eine veränderte Steuerung der individuellen und kollektiven Arbeitsleistung von Organisationsmitgliedern beinhalten. Diese bezeichnen einen neuartigen Zugriff auf Arbeitskraft in Form einer stärker „subjektivierten“ Inanspruchnahme und Definition von Leistung. Subjektivierung bedeutet, dass subjektive, also organisational schwer determinierbare, persönliche Fähigkeiten und Potentiale zunehmend im Leistungserstellungsprozess bzw. für dessen Gewährleistung organisational nutzbar (gemacht) werden. In Organisationen geschieht dies zum einen wesentlich über Veränderung der organisationalen Rahmenbedingungen der Leistungs249
erbringung zum anderen über Veränderungen der hierauf z.T. aufbauenden Systeme der Grund- und Leistungslohndifferenzierung. So wurde gezeigt, dass marktorientierte Prozessgestaltung und Dezentralisierung auf der einen und Veränderungen bei der Grundlohnbestimmung, z.B. bei der Bestimmung der entgeltrelevanten Anforderungsarten, sowie der Leistungslohnbestimmung, z.B. bei Leistungsindikatoren, Verfahren der Leistungsermittlung und Lohnformen, auf der anderen Seite einen zunehmend subjektivierten Zugriff auf Arbeitskraft ermöglichen und hervorrufen. Beispielsweise führen die Übertragung von Entscheidungskompetenzen und die Anreicherung von Arbeitstätigkeiten im Rahmen operativer Dezentralisierung sowie deren Niederschlag in Systemen der Leistungsentlohnung, etwa durch die Einführung eines entsprechenden Prämiensystems, zu einer stärkeren Abfrage und Honorierung subjektiver Fähigkeiten (z.B. Selbstorganisation, Entscheidungsfähigkeit) der betroffenen Organisationsmitglieder. In diesem Zusammenhang wurde ausgeführt, dass die Gestaltung einzelner Arbeitsplatzzuschnitte im Rahmen der angesprochenen Veränderungen und die entsprechenden Ansprüche an die Subjektivität der Organisationsmitglieder sehr unterschiedlich ausfallen können. Die im Rahmen der marktorientierten Prozessorganisation durchgeführte Dezentralisierung von Organisationen erstreckt sich nämlich nicht notwendig auf alle (Arbeitsplatz-)Ebenen der Organisation. So veranlasst die hinzugewonnene Verantwortung nun dezentraler Organisationseinheiten zwar deren Suche nach personellem Rationalisierungspotential bzw. zu erschließender subjektiver Potentiale der Mitarbeiter, zieht aber dabei nicht notwendig inhaltlich angereicherte bzw. inhaltlich dezentralisierte Tätigkeitszuschnitte nach sich. Formen der strategischen Dezentralisierung von Organisationen führen also z.B. nicht notwendig zu operativer Dezentralisierung auf Arbeitsplatzebene der jeweiligen Organisationseinheiten. In diesem Sinne kann Dezentralisierung auf Arbeitsplatzebene faktisch z.B. auch „nur“ in der Übertragung unternehmerischen Risikos auf die Beschäftigten bestehen. Zur Umsetzung einer effizienten marktorientierten Prozessorganisation bieten sich aus unternehmerischer Perspektive demnach unterschiedliche Personaleinsatzstrategien (funktional, numerisch bzw. quantitativ, qualitativ) an, die je nach Tätigkeitszuschnitt und Subjektivitätsbedarf der Arbeitsaufgabe, unterschiedlich effizient sein können. Je nach Personaleinsatzstrategie werden also wiederum unterschiedliche Ansprüche an die Subjektivität der Beschäftigten (aktiv, reaktiv usw.) gestellt. Beispielsweise bietet sich die numerische Flexibilisierung des Personaleinsatzes (z.B. Teilzeit, Arbeit auf Abruf) bei eher gering qualifizierten bzw. leicht ersetzbaren Tätigkeiten an. Die effiziente Marktorientierung soll dabei durch die kostensparende und flexible Inanspruchnahme (z.B. bei Nachfragespitzen im interaktiven Dienstleistungsbereich) von Personal er250
reicht werden. Ansprüche an die Subjektivität des Beschäftigen zeigen sich dabei in der Anforderung einer aktiven Vereinbarung von privater Lebensführung und Erwerbsarbeit (Subjektivitätsform: aktiv, integrativ). Prozessorientierung, Dezentralisierung und die Veränderungen der Entgeltsysteme können also je nach Arbeitsplatz sehr unterschiedliche Realisierungen erfahren und entsprechend unterschiedliche Auswirkungen auf die arbeitsplatzspezifischen Anforderungen haben. In diesem Zusammenhang war es besonders wichtig, zu zeigen, dass all´ diese unterschiedlichen Realisierungsformen der neuen Marktorientierung von Organisationen einer gemeinsamen Leistungssteuerungslogik verbunden sind. Diese neue Logik wurde als marktförmige Leistungssteuerung herauskristallisiert, was vereinfacht bedeutet, dass die Steuerung der Leistungserbringung von Organisationsmitgliedern zunehmend über die Vorgabe und Kontrolle der marktlich bewerten Outputgrößen ihrer Leistung erfolgt. Die Leistung von Organisationsmitgliedern wird somit in wachsendem Maße vorrangig als Beitrag zum ökonomisch bewerteten Gesamtergebnis einer Organisation definiert, gesteuert und wertgeschätzt. War dies bisher eher in höheren Hierarchieebenen der Fall, bewirkt die organisationsweite Dezentralisierung, also die Bildung ergebnisverantwortlicher Einheiten und das Ziel, diese Einheiten im Rahmen einer marktlichen Prozessorientierung flexibel und zugleich effizient zu verknüpfen, die Steuerung über die Vorgabe jeweils einheitsspezifischer Funktionsbeiträge zum gesamten Leistungserstellungsprozess und die Forcierung personellen Rationalisierungspotentials in und durch die Einheiten, welche sich in oben genannten Personaleinsatzstrategien widerspiegeln. Die Steuerung über die Vorgabe der funktionsspezifischen Beiträge schlägt sich dabei in der zunehmenden Vorgabe von zu erreichenden Zielen bzw. Kennziffern für die Einheiten bzw. dann - je nach Größe und Tätigkeitszuschnitt der Einheiten und deren Beschäftigten - für einzelne Mitarbeiter nieder. Die Ziele und Kennziffern entstehen dabei über die kaskadenförmige Ableitung von den unternehmerischen Oberzielen der Gesamtorganisation. Unterstützt wird dies durch die wachsende informationstechnische Durchdringung und Verflechtung der Leistungserstellungsprozesse in und zwischen Organisationen, welche die zusammenhängende Abbildung und Erfüllung einzelner Leistungsindikatoren sichtbar und damit auch bewertbar machen. Die spezifischen organisationalen Mechanismen zur Umsetzung der marktförmigen Leistungssteuerung im Rahmen von Prozessorientierung, Dezentralisierung und Entgeltsystemen sind dabei sehr vielfältig, reichen unterschiedlich weit (i.S. von wirklicher Marktähnlichkeit oder -anbindung) und setzen auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich an. So kann sich marktförmige Steuerung von menschlicher Arbeit auf der individuellen Arbeitsplatzebene in ver251
stärktem Einsatz atypischer Beschäftigungsverhältnisse als auch in der am kalkulierten Verkaufspreis unmittelbar orientierten Zielvorgabe eines einzuhaltenden Projektbudgets und der entsprechenden Entgeltung der jeweiligen Mitarbeiterleistung niederschlagen. In diesem Zusammenhang wurde z.B. auf Formen der simulierten und echten Vermarktlichung von Organisationen, die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Bildung interner Märkte sowie unterschiedlich weitgehende Formen der Abbildung marktlicher Dynamiken im individuellen Entgelt (Formen der marktbezogenen Wertschätzung von Leistung) hingewiesen. Letztlich wurde darauf eingegangen, dass diese Tendenzen der Vermarktlichung eine Erosion des normativen Kerns von Leistung und Leistungsprinzip implizieren. Im Gegensatz zum Marktprinzip folgt das Leistungsprinzip Normen der Gegenseitigkeit, der Äquivalenz, und hat immer auch eine Kompensationsfunktion für aufgewandte Anstrengung und Mühe. Diese Charakteristika konnten Leistung auch erst von der Individualnorm des Unternehmers zur gesellschaftlichen Kollektivnorm und damit zum konstitutiven Prinzip der Verteilung sozialen Status werden lassen. Es wurde hervorgehoben, dass in Anbetracht der großen Bedeutung, welche die organisationale Wertschätzung von Leistung für die Identitätsbildung des Einzelnen besitzen kann, zu vermuten ist, dass diese Veränderungen nicht reibungslos stattfinden werden. Jene Reibungen beziehen sich auf die individuelle als auch auf die organisationale Ebene. Auf beiden, wechselseitig verknüpften Ebenen scheint die stabilisierende Funktion des Leistungsprinzips zur Disposition zu stehen. In diesem Sinne wurde der Blick im fünften Kapitel auf die mit den Veränderungen zusammenhängenden, generellen Paradoxien marktförmiger Leistungssteuerung und auf die Konsequenzen für das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Individuum und Organisationen gerichtet. Jene Konsequenzen wurden dabei über die anomie- und identitätstheoretische Spiegelung der derzeitigen Entwicklungen der Leistungssteuerung sichtbar gemacht. Die unterschiedlichen, jeweils arbeitsplatzbezogenen Realisierungsformen marktförmiger Leistungssteuerung zusammenfassend wurde das „Objektiv“ sozusagen auf „Weitwinkel“ gestellt, um einen Überblick über die vordergründig schwer sichtbaren und möglicherweise nicht intendierten Auswirkungen marktförmiger Leistungssteuerung für den Wertschöpfungsprozess in Organisationen zu erhalten. Im ersten großen Teil des Kapitels wurden zunächst verschiedene Tendenzen im leistungsbezogenen Verhältnis von Individuum und Organisation dargestellt, die sich vor dem Hintergrund des normativen Kontextes des Leistungsprinzips als Paradoxa lesen lassen. In Anlehnung an das aktuelle Forschungsprogramm des Instituts für Sozialforschung (Frankfurt/Main) werden unter paradoxen Tendenzen solche verstanden, die sich zueinander widersprüchlich 252
verhalten und zugleich in einem kausalen Verhältnis zueinander stehen (vgl. Honneth 2002). Das heißt, das „Ineinander von gegenläufigen oder negativen und positiven Momenten“ sind Bestandteile bzw. Effekte ein und desselben Prozesses (Hartmann 2002, S. 234). Hiervon ausgehend wurde gezeigt, dass marktförmige Leistungssteuerung sowohl auf der Ebene des Verständnisses von Leistung als auch hinsichtlich der Steuerung des unmittelbaren Leistungsvollzuges paradoxe Tendenzen anzeigt, welche von den betroffenen Organisationsmitgliedern „verarbeitet“ werden müssen. In Bezug auf das Verständnis von Leistung geht es dabei um Formen der gleichzeitigen Anreicherung und Verengung der organisationalen Definition von Leistung. Anreicherung von Leistung meint, dass die Palette der Eigenschaften und Fähigkeiten, welche mit dem Prädikat „Leistung“ versehen werden und welche über die Erwerbsarbeit abgefragt werden, in unterschiedlicher Hinsicht erweitert bzw. angereichert wird. Dabei geht diese Anreicherung zugleich mit unterschiedlichen Formen der Verengung des inhaltlichen Verständnisses von Leistung einher. Bestimmte Leistungsfacetten werden zum Beispiel zugunsten anderer z.T. vollkommen neuer Facetten unterbetont, obwohl sie im Sinne der Zweidimensionalität von Leistung (Anstrengung, Ertrag) zum normativen Drehund Angelpunkt der Ausgewogenheitserwartung des Leistungsprinzips gehören (z.B. bei „Nur der Output zählt, aber unter Vorbehalt“). Paradox ist, dass diese, sich in verschiedenen Tendenzen zeigende, vordergründige Ausweitung des Leistungsprinzips zugleich dessen Aushöhlung impliziert. In diesem Sinne wurden neben dem bereits genannten drei weitere verschiedene paradoxe Figuren in Form von „Mehr Vorleistung für eine unsichere Zukunft“,„Auf die Präsentation kommt es an!“, „Neue Leistung, aber unsichtbar“ identifiziert. Es wurde weiterhin gezeigt, dass in Verbindung mit den gegenläufigen Entwicklungen im Leistungsverständnis entsprechende Entwicklungen auf der Ebene des faktischen Leistungsvollzuges einhergehen. Einerseits wird die Art und Weise des Leistens in Organisationen betont und unterliegt - sowohl im höher als auch niedrig qualifizierten Bereich - entsprechenden Steuerungsmaßnahmen. Andererseits bewirken diese Steuerungsansätze häufig zugleich eine organisationale Unterwanderung der notwendigen Bedingungen für den faktischen Leistungsvollzug. In diesem Zusammenhang wurde in der Arbeit von einer Betonung und gleichzeitigen Vernachlässigung des Leistungsvollzuges gesprochen. Solche gegenläufigen, ja paradoxen Entwicklungen in Bezug auf den Leistungsvollzug sind insbesondere für den Bereich der qualitativen Flexibilisierung festzustellen, welche im Kapitel vertiefend behandelt wurde. Einerseits wird hier formal mehr Spielraum zur Leistungserbringung eingeräumt, andererseits steht die faktische und normative Ausgestaltung der hierfür gegebenen Rahmenbedingungen dem häufig entgegen. Im Rahmen einer anomiethe253
oretischen Betrachtung konnten auch hier vier verschiedene Konstellationen unterschieden werden, die anschließend im Zusammenhang mit möglichen Reaktionsweisen (Innovation; Rückzug usw.) der betroffenen Organisationsmitglieder diskutiert wurden. In diesem Zusammenhang und in den folgenden Ausführungen wurde hervorgehoben, dass die Entwicklungen von „Anreicherung und Verengung“, „Betonung und Vernachlässigung“ grundsätzliche Brüche im herkömmlichen, wechselseitigen Anerkennungsverhältnis zwischen Individuum und Organisation bedeuten. Das meint nicht, dass die bisherige Leistungsbeziehung zwischen Individuum und Organisation sich vollkommen problemlos gestaltete bzw. das Leistungsprinzip bisher immer vollkommene Geltung für sich in Anspruch nehmen konnte (z.B. hinsichtlich der Chancengleichheit bzw. der „objektiven“ Beurteilung von Arbeitsleistung usw.). Das Neue an der derzeitigen Entwicklung ist, dass das arbeitsorganisationale Leistungsprinzip offensichtlich an sich in Frage gestellt wird. Das heißt, es geht nicht um Schwierigkeiten hinsichtlich der Anwendung des Prinzips, sondern das Prinzip selbst wird durch die organisationalen Maßnahmen konterkariert. An diesem Gedanken ansetzend wurden im zweiten Teil des Kapitels die sich verändernden Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung zwischen Individuum und Organisation untersucht, indem die herausgefilterten Paradoxa als Bruch, Verengung und Unsicherheit von Anerkennungsmustern interpretiert und zugeordnet wurden. Beispielsweise bedeutet der Bruch von Anerkennungsmustern, dass bisher anerkannte Verhaltensweisen und Handlungen nicht mehr als Leistung anerkannt werden, was sich u.a. im Paradox „Nur der Output zählt, aber unter Vorbehalt“ widerspiegelt. Verengung meint den Fall, dass „neue“ Verhaltensweisen und Handlungen nicht als Leistung anerkannt werden, obwohl sie zur erfolgreichen Aufgabenbewältigung notwendig sind - eine Tendenz, die sich z.B. im Paradox „Neue Leistung, aber unsichtbar“ zeigt. Nach diesen Ausführungen wurde nach den möglichen Konsequenzen für die subjektiv empfundene Identität der betroffenen Organisationsmitglieder bzw. deren Identitätsbildung gefragt. Diesbezüglich wurde in Anlehnung an die im zweiten Kapitel gemachten Ausführungen zu Identitätsbedrohungen eine Unterscheidung zwischen der Verteidigung, Erosion und der schockartigen Hinterfragung von Identität getroffen und wurden Vermutungen über den jeweiligen Zusammenhang zwischen den spezifischen Veränderungen der Anerkennung und entsprechenden identitätsbezogenen Reaktionen angestellt. Beispielsweise kann der Bruch von Anerkennungsmustern zu einer schockartigen Hinterfragung von Identität führen als auch zu deren Verteidigung. Die Verengung kann demgegenüber z.B. neue Ansprüche auf anzuerkennende Facetten der eigenen Identität wecken. 254
Im letzten Teil des fünften Kapitels wurden diese Konsequenzen der marktförmigen Leistungssteuerung auf Individuumsebene an Überlegungen hinsichtlich eines anomischen Zustandes auf organisationaler Ebene angeschlossen (Mehrebeneanalyse). Es wurde herausgestellt, dass die einseitige Veränderung von Anerkennungsbedingungen der Aufkündigung des „working consense“ zwischen arbeitgebender Organisation und Organisationsmitglied gleicht. Die Tendenzen des Bruches, der Verengung und der zunehmenden Unsicherheit über Anerkennungsstrukturen bleiben in ihren Konsequenzen demnach nicht auf die individuelle Ebene der Identitätsbildung beschränkt. Vielmehr „bedrohen“ sie rückwirkend die effiziente und effektive kollektive Leistungserstellung und damit den „organizational advantage“ von Organisationen. Es kann also angenommen werden, dass die durch die Veränderung von Anerkennungsbedingungen potentiell hervorgerufene Hinterfragung, Erosion sowie Verteidigung von Identität sich notwendig, wenn z.T. auch in langfristiger Hinsicht, in entsprechenden Verhaltens- und Handlungsweisen der Organisationsmitglieder niederschlägt, die nicht im Sinne der Organisation sein müssen. Als systematische Heuristik zur Analyse möglicher Reaktionsweisen von Organisationsmitgliedern und der entsprechenden Zusammenhänge und Auswirkungen auf die Organisation wurden nun wiederum anomietheoretische Überlegungen eingebracht. Grundsätzlich ist die Aufkündigung des bisherigen „working consense“ mit der Erzeugung einer anomischen Situation in Organisationen vergleichbar. Mit marktförmiger Leistungssteuerung wird ein ungleichgewichtiger Wirkungsgrad von sozial vorgegebenen und über die Organisation realisierbaren gesellschaftlichen Zielen („Gegenleistung“) und den zur Zielerreichung anzuwendenden, organisationalen Mitteln („Leistung“) induziert (Figur der Anomie im Sinne Mertons). Da die organisationalen Gegenleistungen in Form des Erwerbs sozioökonomischen Status´ jedoch von ungebrochener Wichtigkeit in unserer Gesellschaft sind, werden die betroffenen Organisationsmitglieder einem Konflikt bzw. einem anomischen Druck ausgesetzt, den sie für sich lösen müssen. Gemäß Merton (1975) kommen daher die Reaktionsweisen der Rebellion, des Rückzuges, des Ritualismus und der Innovation ins Blickfeld. Es wurde dargestellt, dass mit Ausnahme des Innovators zunächst alle weiteren Reaktionstypen nicht geeignet erscheinen, den kollektiven Leistungsvollzug in Organisationen positiv zu beeinflussen und von der Organisationsleitung bei qualitativer als auch bei quantitativer Flexibilisierung gewollt zu sein. Rebellion bedeutete z.B. die aktive Ablehnung der arbeitgebenden Organisation durch das Individuum (Opposition). Rückzug kann demgegenüber mit innerer Kündigung und entsprechender Motivationslosigkeit in Bezug auf die zu erbringende Arbeitsleistung gleichgesetzt werden. In diesem Zusammenhang wurden anschließend Aussagen über den Zusammenhang der verschiedenen „Identitätsbedrohungen“ (Ver255
teidigung, Erosion usw.) und dem Reaktionstyp getroffen. Die Verteidigung von Identität könnte sich etwa in Rebellion aber auch in Formen des Ritualismus niederschlagen; Erosion und Hinterfragung von subjektiver Identität könnten mit Formen des Rückzuges verknüpft sein. Innovation ließe sich demgegenüber als aktive Fortentwicklung von Identität im akzeptierten Rahmen gegebener Bedingungen lesen, wobei hier zwischen organisationsnützlichem und schädlichem innovativen Verhalten zu unterscheiden ist. Zusammenfassend konnte festgestellt werden, dass die einseitige Auflösung der durch das Leistungsprinzip vorgegebenen Reziprozitätsnormen einen anomischen Druck in Organisationen aufbaut, der über die individuelle Handlungsebene eher negativ auf den organisationalen Leistungsvollzug zurückwirkt. Es wurde die Frage aufgeworfen, in welcher Form Organisationen die bisher durch das Leistungsprinzip gewährleistete Stabilität des Leistungsvollzuges und die Integration von Organisationsmitgliedern aufrechterhalten können, bzw. ob sich diese Funktionen in einem grundlegenden Wandel befinden. Nach der graphischen Darstellung der Gesamtheit der generierten Erkenntnisse in dem angestrebten Bezugsrahmen erfolgten abschließend Aussagen zu möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen der marktförmigen Leistungssteuerung in Arbeitsorganisationen. Hiermit wurden u.a. Phänomene der „Resignation“, aber auch der „Wut“ bestimmter Bevölkerungsgruppen angesprochen. Diese Zusammenfassung sollte noch einmal verdeutlichen, dass die Marktförmigkeit von Leistungssteuerung in Arbeitsorganisationen durchaus mit erheblichen Problemen oder Reibungen verbunden sein kann. Der Zusammenhang von Identitätsbildung und der organisationalen Anerkennung für Leistung darf in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden. Nach einem kurzen Ausblick auf entsprechend anschlussfähige Forschungsfragen soll es im darauf Folgenden um mögliche Konsequenzen für das Management von Arbeitsorganisationen gehen. 6.3 Perspektiven für Wissenschaft und Praxis In diesem Abschnitt sollen kurz nochmals bestimmte Aspekte angesprochen werden, die ausgehend von der durchgeführten Analyse besonders interessant für die weiterführende wissenschaftliche Beschäftigung erscheinen. Danach sollen anschlussfähige Perspektiven für das Management von marktförmiger Leistungssteuerung in Organisationen aufgezeigt werden.
256
6.3.1 Wissenschaftliche Perspektiven In konzeptioneller als auch empirischer Hinsicht erscheint die generelle Beschäftigung mit Fragen der Identität und reziproker Anerkennung ein lohnendes Forschungsfeld zu sein. Kenntnisse über Identität als handlungsrelevante Größe und deren Konstitution und entsprechende Beeinflussung durch das organisationale Umfeld können, wie Lührmann (2006) aktuell für den Bereich der Führungsforschung zeigt, neue Perspektiven auf Verhaltens- und Handlungsphänomene in Organisationen eröffnen und entsprechende Ansatzpunkte für das betriebswirtschaftliche Management liefern. Die Kenntnisse über die Bedingungen „wechselseitiger Anerkennung“ zwischen Organisation und Organisationsmitglied und deren Bedeutung für die Konstitution von Organisationen selbst setzen z.B. bisherigen und z.T. zunehmend gängigen Konzeptualisierungen dieser Austauschbeziehung, wie z.B. organisationsökonomischen Perspektiven (vgl. übersichtsartig Wieland 2000), eine neue Sichtweise entgegen. Kooperation, Widerstand, Konflikte usw. kommen so nicht nur als Konsequenz der Verfolgung und Beschneidung von Interessen bzw. Nutzenpotentialen in den Fokus, sondern als „moralisch“ motivierte Handlungs- und Verhaltensweisen, die ihren Ursprung in der Fortentwicklung, wahrgenommen Missachtung oder Verteidigung der eigenen Identität haben. In diesem Zusammenhang rückt auch die stärkere Beschäftigung mit dem normativen Kontext der Erbringung von Arbeitsleistung in Organisationen ins Blickfeld. Die Auseinandersetzung mit der Funktion des arbeitsorganisationalen Leistungsprinzips hat verdeutlicht, dass die Vorteile einer organisationalen Leistungserstellung ohne eine relativ gesicherte, normative Integration der beteiligten Akteure langfristig kaum ausgeschöpft werden können. Diese Erkenntnis stellt daher ein Plädoyer für die Besinnung auf die Bedeutung der Gestaltung des organisationalen bzw. normativen Kontextes von Verhalten und Handlungen in Organisationen dar. Die einseitige Fokussierung auf die individuelle Ebene bzw. das Individuum, wie sie häufig im Forschungsbereich von Motivation und Anreiz anzutreffen ist, muss aus dieser Perspektive erweitert werden (vgl. Faßauer/Schirmer 2006). In Bezug auf nahe liegende empirische Untersuchungen ist an erster Stelle die empirische Überprüfung des hier erstellten Bezugsrahmens zu nennen. Die Operationalisierung und Erhebung der Zusammenhänge zwischen organisationaler Leistungssteuerung, subjektivem Identitätsempfinden und handlungsbezogenen Reaktionen sowie deren Rückwirkungen auf die organisationalen Leistungserstellungsprozesse können vor dem Hintergrund der theoretischen Bearbeitung als folgerichtige Forschungsaufgabe betrachtet werden. Insbesondere die entsprechende Aufbereitung der identitäts- bzw. anerkennungstheoretischen 257
Aspekte würde dabei - wie oben schon angedeutet - „Neuland“ im betriebswirtschaftlichen Forschungsbereich bedeuten. Mit der empirischen Frage wären zugleich notwendige Spezifizierungen des Untersuchungsfeldes verbunden, auf die im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden konnte, die jedoch interessante Differenzierungen hervorbringen könnten. Dies betrifft in erster Linie das Ausmaß und die Spezifikation marktförmiger Leistungssteuerung in verschiedenen Organisationen bzw. organisationalen Feldern. Entsprechende Unterschiede wären z.B. in Bezug auf unterschiedliche Organisationsgrößen (z.B. marktförmige Leistungssteuerung in kleinen und mittelständischen Unternehmen) als auch hinsichtlich verschiedener Tätigkeitsbereiche (z.B. Zuschnitt „marktförmiger Leistungssteuerung in öffentlichen Verwaltungen und privatwirtschaftlichen Unternehmen) denkbar. Eine in diesem Zusammenhang interessante und zu klärende Frage wäre, ob und wie sich die vorherrschenden Leistungsverständnisse der Organisationsmitglieder in diesen Organisationen unterscheiden und inwieweit und in welcher Art und Weise daher Konfliktstoff durch eine Marktförmigkeit der Leistungssteuerung entsteht. Hiermit ist demnach zugleich die Frage nach den gewachsenen organisationsspezifischen Anerkennungsmustern und den entsprechenden Identitätsverständnissen der Organisationsmitglieder verbunden. Neben organisationsspezifischen Unterscheidungen hinsichtlich des Leistungsverständnisses und entsprechenden „Mustern von Identität“ sind natürlich auch entsprechende Differenzen zwischen unterschiedlichen Beschäftigtengruppen von Interesse, z.B. in Bezug auf Qualifikation oder Alter. In Bezug auf die Betrachtung von Identitätsbildungsprozessen ist es insbesondere herausfordernd, eben jenen Prozesscharakter in den Blick zu bekommen und jeweils beeinflussende Faktoren (evtl. „kritische Ereignisse“) herauszufiltern, die dessen Richtung wesentlich bestimmten (z.B. im Hinblick auf Erosion oder Verteidigung von Identität). In methodischer Hinsicht macht dies wiederum den stärkeren Einsatz qualitativhermeneutischer Verfahren notwendig, die in der betriebswirtschaftlichen Forschung bisher eher in geringem Umfang angewendet werden (vgl. z.B. Kieser 2006). Generell könnten solche Aspekte Vorüberlegungen für eine empirische Untersuchung sein, die im Ergebnis helfen können, die praktischen Bezüge des vorliegenden Bezugsrahmens zu spezifizieren, um hierauf aufbauend differenzierte Erkenntnisse zu generieren. In dieser Hinsicht erscheinen etwa Forschungsfragen nach der Beschaffenheit und dem entsprechenden Management organisationaler Integrationsmechanismen, die z.B. einen anderen Charakter als das Leistungsprinzip haben, interessant (vgl. Etzioni 1961; Barley/Kunda 1992). Aufbauend auf den eben angesprochenen Differenzierungsmöglichkeiten ließen sich diese auch nach Organisationstypen sowie Beschäftigtengruppen spezifizie258
ren (z.B. „professionelle Orientierungen“ und entsprechende Integration von Managern über stärker marktliche Mechanismen). In diesem Kontext taucht schließlich die grundlegende Frage nach einer möglichen Wandlung des arbeitsorganisationalen Leistungsprinzips, der entsprechenden Definition von Leistung und der sozialen Wahrnehmung von „Leistungsgerechtigkeit“ auf (z.B. Bröckling 2007 zum „unternehmerischen Selbst“). Entsprechende Beziehungen und beeinflussende Faktoren zwischen dem arbeitsorganisationalen und gesellschaftlichen Bereich sind vor dem Hintergrund der oben aufgezeigten, potentiellen Konsequenzen wachsender Marktförmigkeit spannende Untersuchungsfragen. Diese könnten sich beispielsweise darauf richten, ob und welche Trends im Bildungsbereich anzutreffen sind (z.B. Vermittlung „marktbezogener Fähigkeiten“?) oder wie die mediale Semantik von „Leistungsgerechtigkeit“ entsprechende Trends in Arbeitsorganisation widerspiegelt, unterstützt oder konterkariert. 6.3.2 Konsequenzen für das Management von Arbeitsorganisationen Der Einsatz neuer Leistungssteuerungssysteme erzeugt eine anomische Situation in Organisationen. Im Hinblick auf die organisationale Funktionsfähigkeit muss dies nicht generell negativ gesehen werden. Anomie ist ein Indiz für institutionellen Wandel und damit auch für die Lebens- und Anpassungsfähigkeit von Organisationen in einer sich wandelnden Umwelt. Dysfunktional werden anomische Tendenzen jedoch dann, wenn der anomische Druck von den Organisationsmitgliedern nicht adäquat verarbeitet werden kann und so längerfristig bestandsgefährdend auf die Organisation wirkt. Im Folgenden sollen zunächst nochmals wesentliche kritische Momente marktförmiger Leistungssteuerung in Organisationen erläutert und aufgezeigt werden, um anschließend skizzenhaft mögliche Ansätze für das Management von Organisation darzustellen. Eine Gefährdung hinsichtlich der effizienten Funktionsweise von Arbeitsorganisationen scheint durch die hier analysierten Veränderungen der Leistungssteuerung hervorgerufen zu werden. Paradox ist, dass das organisationale Management durch die zunehmende Marktförmigkeit der Leistungssteuerung eine notwendige, historisch gewachsene und in die gegenwärtige arbeitsorganisationale Funktionslogik eingelassene Existenzbedingung von Arbeitsorganisationen untergräbt. Die Funktionsweise von Organisationen als kollektivem Akteur verlangt ein höheres Maß an Koordination, Kooperation und sozialer Integration der Akteure, als dies auf Märkten üblicherweise erforderlich ist und wird durch die formale Wirksamkeit des Leistungsprinzips gewährleistet. Die Infragestellung des arbeitsorganisationalen Leistungsprinzips an sich rüttelt daher am 259
bisherigen normativen Fundament der sozialen Legitimation von Arbeitsorganisationen. Fraglich erscheint in diesem Zusammenhang, wie das organisationale Management zukünftige Mitgliedschafts- und organisationsnützliche Beitragsentscheidungen von potentiellen Organisationsmitgliedern sichern will. Organisationsspezifische Effizienz- und Effektivitätsvorteile, eben der „organizational advantage“, könnten durch die Vermarktlichung von Leistung innerhalb von Organisationen verloren gehen, indem das Leistungsprinzip und damit dessen stabilisierende Wirkung für Individuum und Organisation zur Disposition gestellt wird. Das Problem der organisationalen Integration stellt sich für verschiedene Beschäftigtengruppen sicherlich in unterschiedlichem Maße. Für Hochqualifizierte und Manager mit guten Arbeitsmarktchancen gelten zukünftig möglicherweise andere berufliche Integrationsmechanismen als die über den internen Arbeitsmarkt und damit der marktpreis-unabhängigen Bewertung von Leistung. Die Orientierung an professionellen Standards könnte hier die organisationsspezifischen Loyalitäten und die gefühlte Notwendigkeit zur Integration in eine Organisation ablösen. Zur Sicherung organisationsspezifischen Wissens wären jedoch wiederum organisationale Integrationsleistungen notwendig, wobei fraglich ist, welche anderen normativen Rahmungen als jene des Leistungsprinzips für das Management von Organisationen hier denkbar sind. Beschäftigtengruppen, welche weniger Spielraum haben, ihr Arbeitskraftangebot flexibel und selbstbestimmt zu „vermarkten“ und dieses über professionelle Standards zu definieren, könnten demgegenüber größere Schwierigkeiten haben, die marktorientierte Flexibilisierung von Arbeit zu akzeptieren bzw. zu verarbeiten. Die Frage ist, bis zu welchem Ausmaß Organisationen ihre Machtposition ausnutzen und die Flexibilitätserfordernisse diktieren können, ohne den organisationsinternen als auch -externen „Boykott“ dieser Beschäftigtengruppen zu riskieren. Zudem wurde gezeigt, dass auch die organisationale Steuerung der unmittelbaren Leistungsprozesse anomische Phänomene hervorrufen kann. Ist die Schaffung von Anomie bei qualitativer Flexibilisierung z.T. sogar intendiert, muss das Management von Arbeitsorganisationen jedoch gewahr sein, dass die normativ und faktisch häufig diskrepante Leistungssteuerung zu einer stetigen Destabilisierung und Verflüssigung von Leistungsstandards führen kann, die dann u.U. nicht im Sinne der Organisation ausgestaltet werden. Es ist anzunehmen, dass die Tendenzen der vermarktlichten oder besser gesagt, „outputorientierten“, Leistungssteuerung sich besonders kritisch in öffentlichen und Nonprofit-Organisationen auswirken. Schlägt sich Vermarktlichung in diesen Organisationen in ganz unterschiedlicher Weise und z.T. sehr abgeschwächter Form nieder, reibt sie sich jedoch grundlegend mit den Mitgliedschaftsmotivationen der organisationalen Akteure, die die professionellen Stan260
dards der eigenen Tätigkeit unter den neuen Bedingungen u.U. nicht mehr gewährleisten können. Tendenzen der Vermarktlichung können in dieser Weise wichtige Anerkennungsarenen für die Organisationsmitglieder zerstören und damit tief in das subjektive Identitätsverständnis des Einzelnen eingreifen. Mögliche Ansätze für das entsprechende Management von Arbeitsorganisationen sollen nun anhand der unterschiedlichen, klassischen Managementfunktionen Planung, Organisation, Personaleinsatz, Durchsetzung/Führung und Kontrolle skizziert werden (vgl. Koontz/O´Donnell 1980). Im Gegensatz zur ursprünglichen Auffassung der prozesshaften Verkoppelung dieser Funktionen im Sinne einer notwendigen Reihenfolge ihrer Bewältigung durch das Management wird hier davon ausgegangen, dass diese Managementfunktionen prinzipiell als gleichrangig anzusehen sind (vgl. Schreyögg 1991). So formuliert Lührmann (2006, S. 35) in Anbetracht der klassischen Auffassung der Dominanz der Planungsfunktion: „Organisation, Personaleinsatz, Führung und Kontrolle dienen nun nicht mehr lediglich der Planumsetzung, sondern entfalten eigenständige Steuerungspotentiale…“ Zugleich ist davon auszugehen, dass diese Funktionen sich wechselseitig beeinflussen. In der Abbildung 26 sind mögliche Ansätze für das Management marktförmiger Leistungssteuerung in Arbeitsorganisationen dargestellt. Nach der tabellarischen Übersicht werden einige Punkte nochmals kurz erläutert. Es ist hervorzuheben, dass es bei den folgenden Ansätzen eher um ein Aufzeigen von „Handlungsräumen“ für das Management geht. Formen der spezifischen Umsetzung konnten hier nicht mehr Gegenstand sein, nicht zuletzt deswegen, da diese immer auch die jeweilige Organisationsspezifik einbeziehen muss.
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Abbildung 26: Ansätze für das Management marktförmiger Leistungssteuerung Planung (geistiger Entwurf einer Soll-Ordnung, Festlegung der Zielhierarchie, Erschaffung von Rahmenrichtlinien der für die Zielerreichung anzuwendenden Mittel)
Organisation (Schaffung der entsprechenden Organisationsstruktur, Aufbau und Ablauf, Aufgabenzerlegung und Zuweisung)
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- langfristige Orientierung bei der Planung strategischer Dezentralisierung (Entscheidungen über Outsourcing etc.) - Anwendung der Balanced Scorecard in erster Linie als Mittel einer ressourcenorientierten Sichtweise auf den Zuschnitt der Leistungsprozesse und deren Synergien ohne kurzfristige Bewertungs- und Steuerungsfunktion und entsprechender Eingang in die Gestaltung des internen Marktes (Basis für „Leistungsgerechtigkeit“) - in diesem Zusammenhang Schaffung von Rahmenrichtlinien für den Entwurf entsprechender Leistungsbewertungs- und Entlohnungssysteme - „ausreichende“ Einplanung und Bereitstellung von Ressourcen (z.B. Mindestbudgets), um sich verstärkende Leistungsverschlechterung aufgrund von marktlich bedingten Budgetkürzungen zu verhindern - Grad der internen Vermarktlichung begrenzen bzw. Markt in die „Organisationssprache übersetzen“ (simulierte und quasi interne Märkte; Planung organisationsinterner „marktlicher“ Zielgrößen, z.B. auf Basis der Erkenntnisse über die BSC) - übergreifende formale Regelungen und entsprechende Werte u. Normen („Verhaltenskodex“) hinsichtlich der Kooperation der dezentralen Einheiten schaffen, um organisationsschädliche Machtasymmetrien auszugleichen und gleichberechtigte Chancen auf Leistungserbringung zu schaffen - diskrepanzfreie Ausgestaltung und Formulierung von unmittelbar handlungsrelevanten Leistungsvollzugsnormen bzw. Schaffung realer Handlungsspielräume für Improvisation und Innovation um anomischen Druck zu verarbeiten - Schaffung einheitsübergreifender Strukturen für kommunikativen Austausch, z.B. über Kooperationsverhalten, „Lernen voneinander“
Personaleinsatz (Auswahl, Zuweisung von Personal, Personalentwicklung)
Führung/ Durchsetzung (Steuerung des täglichen Arbeitsprozesses, Motivation, Ausrichtung des Handelns an den Zielen)
Kontrolle (Überprüfung der Zielerreichung)
- Vermeidung des „Unterbesetzungssyndroms“ in Arbeitsgruppen zur Vermeidung anomischen Drucks im Leistungsvollzug - Schaffung horizontaler Karrierewege i.S. eines internen relativ stabilen Arbeitsmarktes, gleichberechtigte Betonung und Honorierung der Aufwandskategorie von Leistung (Qualifikation, Arbeitszeit) - in diesem Zusammenhang Anerkennung für professionelle Orientierungen ausdrücken, ggf. Hilfestellung beim Übergang zu stärker managementorientierten Tätigkeitszuschnitten geben (z.B. Verdeutlichung häufig nicht bewusster Managamentätigkeiten im Rahmen der bisherigen Tätigkeit (z.B. in Workshops), Vereinigung professioneller und managerorientierter Tätigkeit in entsprechenden Stellen („Professionelle als Manager“) und gleichberechtigte Honorierung der Tätigkeitsbereiche - interaktive Führung als hervorstechende Funktion behandeln (z.B. Einräumung von realen Handlungsspielräumen und Befugnissen zur Bewältigung organisationsbedingter Diskrepanzen des Leistungsvollzuges (Improvisationsfkt. von Führung ausschöpfen) - Potential von interaktiver Führung zur individuellen Behandlung von Geführten ausschöpfen (wechselseitige individualisierte Anerkennung) - Schaffung kommunikativer Rückkoppelung zwischen Führenden und Organisationsleitung (Innovationsfkt. von Führung ausschöpfen) - Schaffung von Rückkoppelungsprozessen auf Basis entsprechender, i.S. der obigen Ausführungen angereicherten Kennzahlen und Kommunikation
Insbesondere spielt sicherlich die Art und Weise der Umsetzung marktförmiger Leistungssteuerung eine große Rolle für das Ausmaß der Anomie. In großen Arbeitsorganisationen kann die Vermarktlichung von Leistung in der oben be263
schriebenen Weise in unterschiedlichen Tiefen stattfinden und kann „der Markt“ organisational unterschiedlich „übersetzt“ werden (vgl. Voswinkel 2005a). Beispielsweise können marktbezogene Zielvorgaben organisational geplant oder gänzlich in Relation zum externen Markt definiert werden, so dass die externe Marktdynamik in entsprechend unterschiedlicher Weise in die Organisation getragen wird. In Anbetracht der herauskristallisierten Probleme erscheint es empfehlenswert, Marktbedingungen intern zu simulieren bzw. kontrollierende Rahmenbedingungen zu schaffen, um „Leistungsverzerrungen“ zwischen den Organisationseinheiten (z.B. aufgrund des inhaltlichen Zuschnitts der einheitsspezifischen Leistung) im Sinne des arbeitsorganisationalen Leistungsprinzips zu vermeiden. Die Anwendung der Balanced Scorecard zur Sichtbarmachung der Leistungsverflechtungen und Synergien zwischen den Einheiten könnte hier ein durchaus geeignetes Instrument darstellen, um in diesem Sinne gleiche Chancen auf die Indikation von Leistung zu gewährleisten. Eine dementsprechend differenzierte organisationale Zielstruktur müsste ebenso in entsprechende Leistungsbewertungssysteme auf kollektiver als auch individueller Ebene einfließen. Im letzten Fall wäre ausgehend von der obigen Analyse darauf zu achten, auch Aufwandsgrößen von Leistung (Qualifikation, Arbeitszeit) entsprechend zu indizieren und auch zu honorieren. Relativ stabile interne Arbeitsmärkte, mit z.B. stärker horizontal ausgeprägten Karrierepfaden könnten hier im Sinne der Äquivalenzerwartung des Leistungsprinzips ergänzend wirken. Hinsichtlich der Verarbeitung des anomischen Drucks bei qualitativer Flexibilisierung ist es von Bedeutung, dass Organisationsmitglieder bei der Definition neuer Standards für den Leistungsprozess nicht vollkommen allein gelassen werden dürfen, um sie dann, bei z.T. einengenden organisationalen Rahmenbedingungen sogar negativ zu sanktionieren. Die Definition von übergreifenden Standards für den Leistungsvollzug und deren Spezifizierung bzw. Verbesserung in einheitsspezifischen und -übergreifenden Kommunikationsforen könnte hier eine Möglichkeit darstellen, dem zu begegnen. Reale Handlungsspielräume, entsprechende Bereitstellung von Ressourcen und die stabile Zusicherung organisationaler Loyalität, erscheinen dabei notwendig, tatsächliche und langfristig wirksame Innovationspotentiale der Organisationsmitglieder auszuschöpfen. Vor dem Hintergrund der oben beschrieben Tendenzen ist ein besonderes Augenmerk auf die interaktive Führung zu richten (vgl. Lührmann 2006, S. 43ff.). Deren Improvisationsfunktion im Sinne der Bewältigung organisationsstrukturell bedingter Diskrepanzen (z.B. Umgehung dysfunktionaler Normen) könnte für die Verarbeitung des anomischen Drucks besonders wichtig sein. Auch die Innovationsfunktion als Anstoß für neue Verfahrensweisen auf Basis von Informationen über den unmittelbaren Leistungsvollzug tritt als besonders 264
wichtig hervor. Zudem ist die individuelle und persönliche Ansprache von Geführten in tiefgreifenden Veränderungsprozessen, die u.U. das eigene Selbstverständnis tangieren, eine grundlegende Möglichkeit, neue Normen der Reziprozität bzw. wechselseitigen Anerkennung zu finden. Hierfür müssen jedoch gleichfalls entsprechende Spielräume von der Organisationsleitung geschaffen werden. Generell sollte das Management von Organisationen gewahr sein, dass Veränderungen der Leistungssteuerung grundlegende Normen des Leistungsaustauschs zwischen Individuum und Organisation berühren und dementsprechend besonderes Potential für entsprechende Konflikte liefern. Dabei geht es nicht ausschließlich um die potentielle Verletzung und Aushandelung wechselseitiger Interessen im Sinne der Nutzengenerierung von Akteuren, sondern wesentlich auch um moralisch motivierte Konflikte (vgl. Honneth 1994). Das heißt, es geht um die Einforderung von Anerkennung für die eigene Leistung und damit zugleich um die Einforderung der Anerkennung der eigenen Identität. Die Logik der wechselseitigen Anerkennung bedingt, dass Organisationen bei Verwehrung von Anerkennung für individuelle Leistung selbst ihre Anerkennung durch die Organisationsmitglieder verlieren können. Waren jene Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung seit jeher Gegenstand von Konflikten und entsprechenden „Kämpfen“, sind die derzeitigen Vermarktlichungstendenzen von gravierender Natur, da sie die historisch „ausgehandelte“, fundamentale Basis für den Austausch zwischen Individuum und Organisation in Frage stellen. Erfolgt kein entsprechender Umgang bzw. keine kompensierende Ausgestaltung dieser Tendenzen, laufen Arbeitsorganisationen demnach langfristig Gefahr, ihren Status als anerkennungswürdige Institution zu verlieren und damit zugleich auch entsprechende Verhaltens- und Handlungsweisen ihrer Mitglieder einzubüßen, wie z.B. Innovations- und Lernprozesse, die in Zeiten dynamischer Wettbewerbsumwelt notwendig sind. Die vorliegende Analyse hebt in diesem Zusammenhang auch hervor, dass Organisationen als Teil der Gesellschaft zu begreifen sind, das heißt, von gesellschaftlichen Entwicklungen beeinflusst werden als auch diese selbst nicht unwesentlich vorantreiben. In öffentlichen Diskussionen über den „Standort Deutschland“ und die entsprechende Einforderung einer erweiterten Flexibilisierung von Arbeit werden Arbeitsorganisationen vielfach als von der übrigen Gesellschaft nahezu abgekoppelte Instanz positioniert, die Anforderungen an für sie „vorleistende“ Institutionen, wie z.B. das Bildungswesen, stellen. Demgegenüber ist zu zeigen, dass die arbeitsorganisationale Leistungspolitik ihren Teil dazu beiträgt, dass bestimmte Gesellschaftsgruppen keinen Sinn in der Erbringung entsprechender „Vorleistungen“ sehen, so dass die Bemühung vorgelagerter Institutionen nahezu ins Leere laufen. Zieht man in Betracht, dass das Leistungsprinzip 265
die gesellschaftlichen Vorstellungen über distributive Gerechtigkeit repräsentiert und in dieser Form eine wesentliche Stabilitätsfunktion für die derzeitige Gesellschaft hat, erscheint die alleinige Betrachtung entsprechender arbeitsorganisationaler Probleme als zu eingeschränkt. Auf diese Weise eröffnet sich die Perspektive auf Arbeitsorganisationen als Orte der Realisierung einer gesellschaftlichen Fundamentalnorm und nicht als gesellschaftlich abgeschlossene Institutionen, die einseitig Anforderungen an das gesellschaftliche Umfeld stellen sollten. Das moderne Schlagwort der „Corporate Social Responsibility“ muss demnach auch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Normen hinsichtlich distributiver Gerechtigkeit ernst genommen werden.
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