Freder van Holk
Die Spur
des Teufels
ERICH PABEL VERLAG KG – RASTATT/BADEN
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwö...
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Freder van Holk
Die Spur
des Teufels
ERICH PABEL VERLAG KG – RASTATT/BADEN
SUN KOH-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel
Verlag KG, Pabelhaus, 7550 Rastatt
Neu bearbeitet von Heinz Reck
Copyright © 1979 beim Autor und Erich Pabel Verlag, Rastatt
Agentur Transgalaxis
Titelbild: Nikolai Lutohin
Alle Rechte vorbehalten
Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck
Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG
Verkaufspreis inkl. gesetzl. MwSt.
Unsere Romanserien dürfen in Leihbüchereien nicht verliehen und
nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden;
der Wiederverkauf ist verboten.
Alleinvertrieb und Auslieferung in Österreich:
Pressegroßvertrieb Salzburg, Niederalm 300
A-5081 Anif
Bestellungen einzelner Titel dieser Serie nicht möglich
NACHDRUCKDIENST:
Edith Wöhlbier, Burchardstraße 11, 2000 Hamburg l,
Telefon (0 40) 33 9616 29, Telex 02 161024
Printed in Germany
Februar 1979
Bearbeitet von Brrazo 03/2006
1.
Garcia triumphierte. Er hatte Sun Kohs Flugzeug ge raubt und war geflohen. Sun Koh aber saß mit Nimba und Hai Mervin sowie einigen Monteuren Ratcliffs auf Ratcliffs Island, einer winzigen Felsenklippe am Rand der Antarktis, und es sprach viel dafür, daß sie dort verhungern würden. Die Situation war bedrük kend. Und sie wurde für Sun Koh nicht erfreulicher, wenn er sich vorstellte, was Juan Garcia alles mit den geraubten Dingen unternehmen konnte. Wenn es nicht gelang, ihm bald zu folgen und ihm alles wie der abzunehmen, wurde er zur ernsten Gefahr für die Sonnenstadt und für alle Pläne Sun Kohs. Am dritten Tag tauchte die »Bahia« auf, ein Traw ler. Sie setzten ein Boot aus. Der Erste Offizier der »Bahia« bemühte sich selbst. Er hieß Manders und war ein Hüne von Mann, dessen Bewegungen erheb liche Geschmeidigkeit verrieten. Sein kantiges, ver wettertes, von einigen Narben aufgerissenes Gesicht paßte zu seinem Körper. Er machte nicht viele Worte, musterte die Männer abschätzend und brachte sie zur »Bahia« hinüber. * Kapitän Scarper besaß drei »gute« Eigenschaften: 5
Erstens schlief er gelegentlich. Zweitens betrank er sich des öfteren. Drittens pflegte er seine Leute nicht eher zur Verzweiflung zu schinden, bevor er nicht den Hafen wieder in erreichbarer Nähe sah. Darüber hinaus besaß er nur noch schlechte Eigen schaften. Zwischen Southampton und Hongkong, zwischen Kap Horn und dem Nordkap gab es manchen See mann, der vor Wut bleich wurde, wenn sein Name genannt wurde. Und es gab manchen, der eine Ver wünschung murmelte, wenn die Rede auf diesen Ka pitän kam. Scarper wußte das und lachte darüber. Ein paarmal hatte man es versucht, ihn in irgendeiner dunklen Hafengasse mit Messer oder Revolver aus der Welt zu schaffen, aber stets war er mit Ritzern davonge kommen. Neulinge hatten es auch unternommen, ihn beim Seeamt zu verklagen, aber sie hatten die Erfah rung machen müssen, daß Scarper ein Dutzend Meineide schwor und den Ankläger wegen Meuterei auf offener See hineinlegte. Scarper war seines Ersten würdig. Fast so groß wie Manders stand er auf dem Deck der »Bahia« und blickte mit stiller Genugtuung den Ankommenden entgegen. Er ging mehr in die Breite als Manders, aber es war kein Fett, das ihn massig erscheinen ließ, sondern Muskelfleisch. Unter der niedrigen, fast bis an die Brauen behaarten Stirn blinkten tückische Au 6
gen. Die Nase setzte breit und fleischig an, schwang sich jedoch nicht aus, sondern landete häßlich breit gedrückt über dicken, stark umbarteten Lippen. Die Jochbogen fielen zurück, dafür sprangen die Kie fernwinkel um so härter heraus. Der Hals war kurz und gedrungen. So einstimmig der Kapitän verdammt wurde, so einstimmig lobte man sein Schiff. Scarper ließ die Ankömmlinge, die von Manders geführt wurden, herankommen. Er beachtete ihren Gruß nicht und dachte auch nicht daran, sie will kommen zu heißen. Das erste Wort, das er sprach, war an Manders gerichtet und von einem wohlwol lenden Grinsen begleitet. »Hm, sehen nicht übel aus, diese Burschen. Ich denke, wir haben einen guten Fang gemacht.« »Denke auch.« Der Erste nickte. Der Kapitän wandte sich an Sun Koh und seine Leute. »Ihr könnt unter Deck gehen. Manders wird euch einteilen. Sorgt dafür, daß alles klappt, sonst geht’s euch Höllenhunden schlecht.« Die Männer tauschten einen kurzen Blick. Sun Koh reckte sich und sagte ruhig, aber bestimmt: »Irr tum, Kapitän. Wir haben nicht die Absicht, Schiffs dienst zu tun, sondern bitten Sie, uns zum nächsten Hafen zu bringen.« Der Kapitän winkte mit seiner fleischigen, dicht behaarten Hand gleichmütig ab. 7
»Schon gut, ist mir alles bekannt, was ihr sagen wollt. Das Lied singt jeder, den wir hier einfangen. Ab!« Sun Koh blieb stehen. Seine Stimme klang eisig. »Sie haben eine merkwürdige Manier, Schiffbrü chige zu behandeln. Sie vergessen, daß Sie uns nicht aus einem Hafen geholt haben. Wir sind keine Matro sen. Für Ihre Bemühungen werden Sie reichlich ent schädigt werden.« Scarper reckte den Hals. »Entschädigen? Haltet ihr die ›Bahia‹ für einen Passagierdampfer? Ihr könnt euer Geld loswerden, aber bis wir zum Hafen kommen, werdet ihr arbeiten. Und nun macht, daß ihr fortkommt!« Sun Koh rührte sich nicht. »Wenn Sie Mangel an Leuten haben und dadurch die Fahrt des Schiffes beeinträchtigt wird, sind wir bereit, bis zum nächsten Hafen mit zuzugreifen. Freiwillig selbstverständlich. Würden Sie mir sagen, welchen Hafen Sie anzulaufen gedenken?« Der Kapitän steckte die Hände in die Hosenta schen und kam wie ein angriffslustiger Stier an Sun Koh herangeschaukelt. »Du scheinst ja ein ganz besonders frecher Bur sche zu sein«, sagte er gereizt. »Wenn ihr euch ein bildet, daß ich wegen euch auf schnellstem Weg zum nächsten Hafen fahre, kennt ihr mich schlecht. Unse re Fahrt geht nach Süden, und es wird eine ganze 8
Weile dauern, bis ihr wieder eine Kneipe zu sehen kriegt. Und nun…« »Augenblick, Kapitän«, gab Sun Koh unbewegt zurück, obgleich sich Scarper in unverkennbar dro hender Haltung vor ihm aufgepflanzt hatte. »Es ist nicht unsere Absicht, Sie nach Süden zu begleiten. Ich weiß nicht, was Sie vorhaben und welchen Ge winn Sie sich davon versprechen, Aber ich bin bereit, Ihnen Ihr Schiff abzukaufen und Sie darüber hinaus für allen entgangenen Verdienst reichlich zu ent schädigen.« Scarper sah ihn sekundenlang starr an, ehe er los brüllte: »Höllenhund, du wagst es, mir ins Gesicht hinein solche Witzchen zu machen? Dich soll doch…« »Mäßigen Sie Ihre Ausdrücke!« sagte Sun Koh scharf. Dem Kapitän stieg eine blaurote Welle ins Ge sicht. Er hob die Faust. »Zur Hölle mit…« Er wollte Sun Koh die Faust ins Gesicht schlagen, aber plötzlich fing Sun Koh sein Handgelenk und drehte es mit einer schnellen Bewegung weg, so daß der andere zurücktaumelte. Doch schon kam er wieder und riß die Pistole her aus. Da sprang Manders dazwischen und sagte leise, aber eindringlich: »Lassen Sie es für jetzt, Kapitän! Es sind zuviel Zeugen dabei, und die Leute sind noch 9
nicht eingeteilt. Das Seeamt würde es Mord nennen, weil die Leute noch keinen Dienst tun. Überlassen Sie die Sache mir!« Scarper stieß die Waffe zurück und nickte. »Ich kann schon noch ein paar Stunden warten, bevor ich dem Burschen seine Frechheit heimzahle. Nehmen Sie sich ihrer an!« Der Erste winkte der Gruppe. »Schluß hier! Vor wärts, dort hinunter!« Sun Koh beachtete es nicht, sondern wandte sich von neuem an den Kapitän. »Sie lehnen also mein Angebot ab, Kapitän?« Ein unartikulierter, zorniger Laut war die einzige Antwort. Sun Koh fuhr fort: »Sie haben eine Funk station an Bord. Geben Sie mir die Erlaubnis, sie zu benutzen, und ich zahle Ihnen tausend Pfund.« »Hören Sie auf mit Ihrem Unfug!« rief jetzt Man ders ärgerlich. »Merken Sie denn nicht, daß Sie Ihr Leben riskieren? Oder bilden Sie sich ernsthaft ein, daß der Kapitän Sie an den Apparat läßt, damit Sie der Behörde mitteilen, Sie wären bei uns geschang hait worden?« Sun Koh begriff, daß die Denkweise dieser Män ner es ihnen von vornherein unmöglich machte, seine Vorschläge auch nur in Erwägung zu ziehen. Er zuckte mit den Schultern. »Sie wollen uns also jede Möglichkeit zu einer gütlichen Einigung nehmen. Ich betrachte das, was 10
Sie vorhaben, als Freiheitsberaubung und werde ent sprechend handeln.« Der Schimmer von Höflichkeit, den Manders ge zeigt hatte, verschwand wieder aus seiner Stimme. Barsch entgegnete er: »Macht keine Worte! Wahr scheinlich landet ihr auf dem Umweg über einige Monate Schiffsdienst immer noch eher in eurer Hei mat, als wenn wir euch nicht von der Klippe herun tergeholt hätten.« Die innere Berechtigung zu diesem Einwurf war kaum abzustreiten, aber andererseits konnten weder Kapitän noch Steuermann dazu reizen, auf diesem Schiff anzuheuern. Und Sun Koh legte nicht den ge ringsten Wert darauf, sich monatelang in der Antark tis herumzutreiben. Deshalb meinte er: »Ich war und bin bereit, dem Kapitän alle Unkosten und Verluste großzügig zu ersetzen. Wenn er nicht darauf eingeht, ist es sein Schaden. Ich weiß, der Kapitän eines Schiffes hat die oberste Befehlsgewalt. Er ist aber niemals berechtigt, Menschen gegen ihren ausdrück lichen Willen zu heuern. Er beraubt sich damit seines Rechts und gibt uns die Berechtigung, uns zur Wehr zu setzen. Sie werden gut tun, wenn Sie dem Kapitän zureden.« »Ich werde mich schwer hüten«, antwortete Man ders. »Wenn Sie noch mal Ihr ungewaschenes Maul auftun, schlage ich es Ihnen breit. Und mir werden Sie nicht die Hand wegdrehen, davon dürfen Sie 11
überzeugt sein. Vorwärts – oder soll ich Ihnen Beine machen?« Rechts neben Sun Koh stand Hal, zitternd und bleich vor Wut und bereit, im nächsten Moment zu explodieren. Links wippte Nimba sanft auf seinen Zehen. Auch er wartete nur noch auf das Zeichen. Hinter ihm duckten sich Sayler und seine Kameraden. Sie warteten ab, Unbehaglichkeit und bängliche Zweifel im Gesicht. Ein Stück zurück aber hatten die Begleiter Man ders’ aus dem Motorboot ihre Waffen auf die Gruppe angelegt. Das entschied in diesem Fall. Sun Koh trug keine Waffe bei sich. Nimba und Hal hatten ihre Pistolen im Gürtel stecken, die sie aus dem Flugzeug mitgenommen hatten, aber in der Nimbas steckten noch zwei Schuß und in der Hals überhaupt keiner. »Nicht nötig«, erwiderte Sun Koh dem Ersten Of fizier auf seine grobe Frage, »wir kommen mit. Wenn Kapitän Scarper seine Reise nicht abbrechen will, müssen wir wohl oder übel einstweilen als Pas sagiere mitfahren. Zeigen Sie uns unsere Unter kunftsräume!« Manders warf ihm einen gefährlichen Blick zu, enthielt sich aber außer einem Fluch jeder weiteren Bemerkung und schritt voran. Der Raum, in den er hineinführte, konnte die Ka 12
pitänskajüte sein. Er enthielt einen Schreibtisch, Schränke, nautische Apparate und allerlei Klein kram, wie man ihn in ähnlichen Räumen findet. Manders setzte sich an den Schreibtisch und nahm aus einer Schublade eine Mappe heraus. »So«, verkündete er, »jetzt wollen wir erst mal eu re Personalien aufnehmen. Sie heißen Sun Koh?« »Ja«, bestätigte Sun Koh. »Haben Sie die Absicht, eine Passagierliste anzulegen?« »Geben Sie nur Antwort, wenn Sie gefragt wer den.« Um Sun Kohs Lippen zuckte es wie ein flüchtiges Lächeln. »Ich fragte nur deshalb, damit Sie sich nicht unnötige Mühe machen. Sollten Sie zufällig den Wunsch haben, daß wir nachher noch unterschreiben, lassen Sie sich gesagt sein, daß wir keine Heuerrolle unterschreiben, selbst wenn sie als Passagierliste fri siert wurde.« »Was nachher kommt, das laßt meine Sorge sein. Wer auf dem Schiff ist, muß registriert werden. Wann sind Sie geboren?« »Ich weiß es nicht.« Manders schlug mit der Faust auf den Tisch. »Antwort oder…« »Oder?« fragte Sun Koh. »Ich weiß tatsächlich nicht, wann ich geboren bin.« Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte der Erste aufspringen, aber dann lehnte er sich überra 13
schenderweise zurück. Das war einer jener Momente, in dem sich zeigte, wie gefährlich Manders dank sei ner schnellen Beherrschungskraft werden konnte. Er tauchte den Halter ein und begann zu schreiben. »Gut, sagen wir also: geboren am 25. Juni 1912.«
»Interessant«, sagte Sun Koh lakonisch.
»Wo sind Sie geboren?«
»Ich weiß es nicht.«
»Auch gut, sagen wir in London. Sie sind doch
englischer Staatsangehöriger?« »Keine Ahnung.« »Also englischer Staatsangehöriger. Und nun du!« Er blickte dabei zu Hal, der sich mittlerweile et was beruhigt hatte, weil er sah, daß Sun Koh die ganze Angelegenheit mehr oder weniger als eine Komödie bewertete. »Wie heißt du?« fragte Manders ihn barsch.
»Was?«
»Wie du heißt?« wiederholte der Erste.
»Lauter«, gab Hal gleichmütig zurück.
Manders streckte die Faust vor. »Wie heißt du?«
»Lauter«, beharrte Hal Mervin grinsend.
Manders verschlug es förmlich die Sprache. Soviel
Frechheit wagte er gar nicht zu erfassen. Er würgte. Sun Koh hatte dem Jungen mittlerweile einen Blick zugeworfen, und Hal sagte daraufhin entschul digen: »Warum soll ich nicht Lauter heißen?« »Also Lauter«, zischte Manders. »Ich werde schon 14
dafür sorgen, daß dir deine Frechheiten vergehen, mein Bursche. Vorname?« »Schreiben Sie Hal Mervin«, sagte der Junge großmütig. »Geboren?« »Natürlich.« »Wo, verdammt noch mal!« »In meiner Heimat.« Jetzt wurde es dem Ersten doch zuviel. Er hieb den Schreibstift auf die Tischplatte, sprang auf und reckte sich halb über den Tisch, wobei er brüllte: »Wenn du ungewaschener Lümmel noch einmal eine derartige Antwort gibst, dann klatsche ich dich an die Wand, daß dir Hören und Sehen vergeht.« Hal trat einen Schritt vor und entgegnete wütend: »Und wenn Sie sich einbilden, mit einer Kugel im Bauch noch jemanden an die Wand klatschen zu können, dann sind Sie schief gewickelt. Das Maul können Sie meinetwegen aufreißen, aber wagen Sie es nicht, zu dicht heranzukommen, sonst haben Sie keine Zeit mehr, es zu bereuen.« Manders sank zurück. Eine Weile herrschte völli ges Schweigen im Raum, dann schrieb Manders ir gend etwas hin, was ihm einfiel. Als Dritter kam Nimba an die Reihe. Er trat gleich dicht an den Schreibtisch heran und erklärte langsam mit seiner tiefen Stimme: »Machen Sie’s ruhig wie vorher und schreiben Sie irgend etwas. Ich habe au 15
genblicklich gerade das, was Sie alles wissen wollen, vergessen. Und wenn Sie schlau sind, so schreiben Sie auch für die anderen irgend etwas hin.« Der Erste hob die Schultern und schrieb. Offen sichtlich hielt er sich an Nimbas Rat, denn er teilte zwischendurch den Einzelnen mit, unter welchem Namen sie verzeichnet würden. Endlich erhob er sich und hielt Sun Koh den Stift hin. »So, nun unterschreiben Sie an dieser Stelle!« Sun Koh sah ihn spöttisch an. »Dazu liegt kein Be dürfnis vor!« Manders meinte höhnisch: »Schön, wie ihr wollt. Es kommt gar nicht so darauf an, genügt völlig, daß ihr in der Rolle steht.« »Krankhafte Phantasien eines irregeleiteten Schif fes«, bemerkte Hal halblaut. »Wollen Sie uns nicht endlich die Quartiere zei gen?« erinnerte Sun Koh. Manders nickte. »Sie gehen zur ersten Wache, Mannschaftslogis im Vorderdeck, Sie dort zur zwei ten ins Hinterdeck. Du hier kannst als Kapitänsjunge laufen.« Sun Koh winkte mit einer Handbewegung ab. »Zeigen Sie uns lieber ein Quartier, in dem wir zu sammenbleiben können. Mir scheint, es ist besser, wenn wir uns nicht trennen.« Manders starrte einige Sekunden überlegend vor 16
sich hin. Er war sich wohl nicht ganz im klaren dar über, wie er am zweckmäßigsten den Widerstand zu brechen hatte. Es war nicht leicht für ihn, denn im merhin waren wenigstens einige der Männer um ihn herum ernstzunehmen. Die Leute mit den Waffen hatten ihn nicht herunterbegleitet. Wenn es hier zum Krach kam, konnte es sehr unangenehm für ihn wer den. Vielleicht war aber noch nicht einmal diese Er wägung maßgebend für ihn, sondern das kluge Emp finden dafür, wie weit er auf den ersten Anhieb ge hen konnte. Er gab jedenfalls nach. »Schön, dann marsch mit euch ins Vorderdeck!« Sun Koh und die anderen folgten ihm. * Das Mannschaftslogis im Bug der »Bahia« bestand aus zwei gleichgroßen Räumen, die schräg gegenein ander stießen und einzeln vom Gangende erreichbar waren. Eine Verbindung bestand zwischen ihnen nicht, die gemeinsame Wand war mit Lagern besetzt. Der Raum, in den Manders die sieben hineinführ te, zeigte die übliche Einrichtung eines Mannschafts logis. Er bot Platz für zwanzig Mann. Die »Bahia« konnte demnach ziemlich viel Leute unterbringen. Kapitän Scarper hatte gesagt, daß es ihm an Leu ten mangele. Das schien zu stimmen, denn offen 17
sichtlich war dieses Logis seit langem nicht benutzt worden. Es roch entsprechend. Manders wies mit einer Handbewegung auf die Schlafgestelle. »So, da richtet euch ein! Platz ist genug vorhan den. Die anderen liegen nebenan, sind jetzt jedoch in der Back. Steuermann Miguel wird euch nachher weitere Anweisungen geben.« Damit ging er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. »Endlich allein«, hauchte Hai und verdrehte die Augen. »Es wird nicht lange dauern«, sagte Sun Koh ernst. »Es ist wohl allen klar, was hier beabsichtigt wird. Da eine gutwillige Regelung kaum möglich ist, wird es wohl zu Zusammenstößen kommen. Für uns ist unser Verhalten ziemlich klar, wie aber steht’s um Sie, Sayler, und Ihre Kameraden?« Der dicke Sayler hob die Schultern. »Selbstverständlich wollen wir auch so schnell als möglich von dem Schiff herunter und in einen Hafen. Bloß, offengestanden, ich würde mir nicht getrauen, gegen den Kapitän oder seinen Ersten Offizier anzu gehen.« Sun Koh nickte. »Ich würde Ihnen deshalb vorschlagen, sich nach Möglichkeiten zurückhalten. Gibt man Ihnen einen Befehl und es springt nicht einer von uns ein, so füh 18
ren Sie ihn aus. Gelingt es uns, unseren Willen durchzusetzen, ist alles Weitere ohnehin für Sie hin fällig.« Sayler kratzte sich am Kopf. »Sie wollen gegen den Kapitän angehen?« »Ja, – sobald er seine Befugnisse überschreitet«, gab Sun Koh entschieden zur Antwort. »Er ist der Herr des Schiffes. Wir können ihn nicht hindern, monatelang keinen Hafen aufzusuchen und uns so lange auf dem Schiff festzuhalten. Das liegt in sei nem Ermessen. Er darf uns auch für unsere Rettung und Verpflegung einen angemessenen Betrag in Rechnung stellen. Er darf von uns aber keine Matro senarbeit gegen unseren Willen verlangen und hat vor allem nicht das Recht, uns zu zwingen. Er wird es versuchen, und es wird zu Zusammenstößen kommen. Ich bin mir darüber im klaren, daß es letz ten Endes darauf hinauslaufen wird, daß wir die Füh rung des Schiffes übernehmen, denn ein ernstlicher Zusammenstoß mit diesen Männern endet bestimmt nicht mit einem lauen Kompromiß.« »Wir werden sie windelweich prügeln«, warf Hai zuversichtlich ein. »Du vielleicht am wenigsten«, stellte Sun Koh sachlich fest. »Nimba, gib Hal deine Patronen, er wird sie besser brauchen können als du.« Hal wehrte ab. »Ich kann auch…« »Schluß«, sagte Sun Koh scharf. »Du nimmst die 19
Patronen und hebst sie für den schlimmsten Fall auf. Manders hat einen Groll auf dich und wird bald versu chen, dir eins auszuwischen. Und nun müssen wir feststellen, wieviel Besatzung das Schiff hat und wen wir davon als Gegner und wen als Freund zu betrach ten haben. Haltet die Augen offen, die entscheidenden Auseinandersetzungen können sehr bald kommen.« Nimba streckte seine Riesengestalt. »Wir verwei gern also jeden Dienst, Sir?« »Ja.« »Dann bin ich hoffentlich der erste, mit dem dieser Manders darüber zusammengerät. Er muß boxen können.« »Nimm ihn nicht leicht«, warnte Sun Koh. »Er ist kalt wie Eis.« Der Neger nickte. »Um so besser. Ich habe mir schon immer gewünscht, einmal einen ernsthaften Gegner zu kriegen.« Auf dem Gang nahten Stimmen und Schritte im wirren Durcheinander. Die Besatzung kehrte aus der Back in ihr Logis zurück. Die Leute waren wohl un terrichtet, denn sie rissen die Tür auf und drängten herein. An der Spitze ein untersetzter Seemann mit krummen Beinen, vorspringender Kolbennase, über großem Mund und listigen Augen, in denen ebenso viel Gutmütigkeit wie durchtriebene Schläue lagen. »Hallo, Zuwachs«, krähte er. »Freut mich sehr, wollte sagen, herzliches Beileid, daß ihr dem Höl 20
lenhund auf dem Leim gegangen seid. Heiße Stone, ehrsamer Kaufmann im Hobart, bis mich dieses Schwein von Kapitän in der Besoffenheit preßte. Wenn ich je wieder heimkomme, will ich…« Er quasselte ununterbrochen und gab damit Sun Koh Gelegenheit, die Männer hinter ihm in aller Ru he zu mustern. Es waren elf Mann, aber von ihnen schien dieser Stone der bei weitem angenehmste zu sein. Höchstens ein alter, stiller Mann an der Seite machte noch einen günstigen Eindruck. »Seid ihr alle gepreßt worden?« fragte er in das Geschwätz hinein. Eine grobe Stimme, die zu einem Farbigen gehör te, gab aus der Mitte der Männer Antwort: »Denkt ihr, daß ein Mensch so verrückt ist, freiwillig bei dem Höllenhund anzuheuern?« »Dann müßt ihr elend besoffen gewesen sein«, platzte Hal heraus. »Wart ihr etwa besoffen?« fragte ein anderer. »Das Schwein schleppt einen Menschen sogar hinter der Milchflasche weg, wenn er ihn braucht.« »Aber der Erste Offizier ist doch sicher freiwillig hier?« fragte Sun Koh. »Der hat auch Gewinnanteil und ist genau so ein Schinder. Von jeder Tonne Tran kriegt er sein Teil.« Stone fuhr mit einer gewissen Heftigkeit herum. »Quatsch, ich habe euch schon einmal gesagt, daß Scarper nicht daran denkt, Wale zu fangen. Er ist gar 21
nicht entsprechend ausgerüstet. Wenn wir auch nur einen einzigen Wal fangen, will ich mich zu Frikas see verarbeiten lassen.« »Was beabsichtigt er denn?« fragte Sun Koh. Stone machte eine bedeutungsvolle Geste mit dem Zeigefinger. »Ich habe ein Gespräch zwischen ihm und Manders belauscht, und ich kann euch sagen, daß ich die Augen aufgerissen habe. Ihr wißt, daß in der letzten Zeit hier unten alles drunter und drüber gegangen ist. Der Kapitän rechnet nun damit, daß er weiter südlich freies Land findet, in dem das Gold in großen Klumpen herumliegt. Möchte nur wissen, wer ihm den Floh ins Ohr gesetzt hat.« »Da habt ihr ja allerlei angenehme Aussichten«, sagte Sun Koh gleichmütig. »Übrigens muß es eine ganze Reihe Freiwilliger auf dem Schiff geben, zu mindest die Leute, die bewaffnet herumlaufen.« »Die Bande«, schimpfte einer. Ein Asiate sagte: »Er hat Leute auf seiner Seite. Der Steuermann Miguel und acht Mann decken den beiden den Rücken, sonst wäre es ihnen auch schon mal schiefgegangen.« Eine Faust hob sich. »Ich wünschte, ich könnte ei nen von den Kerlen mal im Hafen erwischen.« Sun Koh sah zu dem grauhaarigen Alten hin. »Hat dich Scarper ebenfalls für einen Seemann gehalten?« Der Mann nickte demütig. »Ihm ist alles recht, was zwei Arme hat. Brown 22
heiße ich, war mein Lebtag Schuster. Er bestellte ein Paar Stiefel bei mir, und als ich sie ihm brachte, be hielt er mich gleich da. Er ist ein böser Mann, Sir.« Die Tür wurde aufgerissen. Ein Mann stand auf der Schwelle, den man seiner Statur nach als zierlich bezeichnen konnte. Sein Gesicht verriet den Südame rikaner. Es war schmal und dunkelbraun, die Augen schwarz. »Was ist denn das für eine Versammlung?« rief er mit nadelscharfer Stimme über die Köpfe. »Raus mit euch!« Die Männer fuhren zusammen, duckten sich und schlichen wie geprügelt hinaus. Sie mußten schon böse Erfahrungen gesammelt haben, denn keiner von ihnen wagte Widerstand oder Unwillen auch nur an zudeuten. Der alte Schuster wollte sich an Miguel vorbei drücken und berührte ihn dabei unglücklicherweise. Sofort stieß dieser ihm brutal die Faust in die Seite und zischte: »Nimm dich in acht, Kerl!« Der Stoß mußte tief in die Weichteile getroffen ha ben, denn der Alte ging ächzend zusammen und blieb stehen. Sofort hob der Steuermann von neuem die Faust. »Soll ich dir Beine machen, du…« Bevor er zuschlagen konnte, schrie Hal ihm zu: »Erbärmlicher Schinder!« Miguel fuhr wie von einer Tarantel gestochen her 23
um und trat auf Hal zu, während die Matrosen drau ßen auf dem Gang zögerten und mit beginnendem Interesse zuschauten. »Wer hat das gerufen?« »Ich«, sagte Hal und trat zwischen Sun Koh und Nimba vor. Sun Koh entschloß sich, den Jungen vor läufig gewähren zu lassen. »Du also«, knurrte der Steuermann grimmig und hob die Faust, »dir werde ich die Flötentöne beibrin gen.« Hal grinste. »Aber möglichst, ohne daß du mich berührst, sonst geige ich dir eine.« Die Hand des anderen blieb steif in der Luft, so überrascht war er. Es dauerte Sekunden, bevor er die Worte Hals verdaut hatte. Man sah, wie ihm allmäh lich das Blut in die Stirn stieg und die Schläfenadern anschwollen. Dann kam ein unartikulierter Laut, und endlich schlug die Faust herunter. Hal wich zur Seite und schoß blitzschnell mit sei ner rechten Faust vor. Sie landete krachend auf der Kinnspitze des Steuermanns. Dieser ruckte mit dem Kopf zurück, breitete die Arme kurz aus und ging dann rückwärts in die Knie. Er war nicht betäubt, aber schwer angeschlagen. Von draußen tönte beifälliges Gemurmel. Hal ließ dem Steuermann Zeit, wieder zu sich zu kommen. 24
Miguel schüttelte sich. Langsam kam er hoch. Sein Kopf war gesenkt, seine Augen schielten nach vorn. »So«, sagte er leise, »so, du hast mich…« Plötzlich schnellte er wie eine wilde Katze auf den Jungen zu. Hal hatte sich geduckt und die Faust vorgerammt. Es war Miguels Schuld, daß er mit seinem Magen gerade auf sie aufschlug. Stöhnend knickte er ein. Diesmal dauerte es noch eine Kleinigkeit länger, bevor er seinen Lähmungszustand überwinden konn te. Aber dann galt sein nächster Griff der Pistole. Bevor der Steuermann die Waffe hoch bekam, war Hal über ihm. Während Miguel oben herumfingerte, schmetterten die Schultern Hals bereits gegen seine Kniescheibe. Da der Junge gleichzeitig die Hacken des Steuermanns abstoppte, riß es diesen wie einen gefällten Baum nach hinten über, wobei die Pistole im Bogen aus seiner Hand flog. Ein Glück für ihn, daß er instinktiv den Kopf einzog, sonst hätte er sich in die sem Augenblick eine Gehirnerschütterung zugezogen. Hal warf sich nach vorn, direkt auf den Leib des Gestürzten. »Schießen willst du?« wütete der Junge. »Schießen? Dir werde ich einiges abgewöhnen.« Rechts und links knallten dem Mann am Boden Ohrfeigen ins Gesicht. Auf dem Gang entstand allmählich die Stimmung einer Volksbelustigung. 25
»Gib ihm Saures! Immer noch ein paar!« ermun terten Zurufe. Hal war bescheiden. Er packte den Steuermann vorn bei der Brust und riß ihn mit hoch. Hal sah schmächtig aus, verfügte dabei über allerhand Kräfte, und da Miguel nicht schwer war, gelang es ihm auch, den Mann mit einem Ruck hochzubringen. Bevor er sich noch umsehen konnte, hatte ihm der Junge schon einen kräftigen Stoß versetzt. »Raus mit dir! Und einen schönen Gruß an deine Leute!« Miguel taumelte zurück, prallte gegen die Männer, die im Gang standen, und kam damit erst aus dem Regen in die Traufe. Diese Männer, seit Wochen von ihm drangsaliert, waren auf einmal wie umgewan delt. Das machte erstens das aufregende Beispiel und zweitens die Tatsache, daß der Steuermann keine Pi stole mehr trug. Miguel flog aus einer Faust in die andere, prallte wiederholt gegen die Wand und verschwand schließ lich den Gang hinunter. Hal Mervin zog sich die Hose hoch. »Entschuldigen Sie, Sir, daß ich Ihnen zuvorge kommen bin, aber es wäre schließlich doch nichts für Sie gewesen. Das mickrige Kerlchen wäre ja gleich auseinandergegangen, wenn Sie ihn angefaßt hätten. Für den genügt der Denkzettel, den ich ihm gegeben habe.« 26
»Schon gut«, sagte Sun Koh, »ich habe ihn dir schon überlassen, weil ich annahm, daß du mit ihm fertig werden würdest. Du hast deine Sache gut ge macht. Wir sind übrigens jetzt um eine Pistole rei cher geworden. Nimba, nimm sie an dich!« Der Neger zögerte. »Ist es nicht besser, wenn Sie…?« »Nimm sie!« wiederholte Sun Koh. Er wandte sich an die Männer, die mit geradezu strahlenden Gesich tern wieder zur Tür hereindrängten. »Ich gebe euch den Rat, zu verschwinden. Es wird nicht lange dau ern, und der Steuermann ist wieder da, aber sicher nicht allein.« Die Gesichter ernüchterten sich. Stone, der wieder vorn stand, sagte: »Da habt ihr recht. Wenn ich nicht irre, wird er Manders Bescheid sagen. Aber – fein war es doch. Die ›Bahia‹ fängt allmählich an, mir zu gefallen. Aber nehmen Sie sich vor Manders in acht!« Die Männer verdrückten sich durch die gegenüber liegende Tür, ließen sie jedoch spaltweit offen. Wenn sie ängstlich wegen der Folgen waren, so waren sie doch mindestens ebenso neugierig, was sich nun er eignen würde. Minuten vergingen – Manders kam nicht. Das widersprach so sehr allen Erwartungen, daß sich allmählich ein immer unbehaglicher werdendes Schweigen über das Mannschaftslogis legte. 27
»Sie haben eine Teufelei vor«, flüsterte Hal. »Der Erste Offizier ist ein kalter Gegner«, sagte Sun Koh. Mit einemmal schallte die harte Stimme des Ersteh Offiziers den Gang herunter: »Freiwache an Deck!« Die Seeleute drückten ihre Tür auf, stürzten in den Gang. Ihre Blicke gingen unsicher hin und her, jeder von ihnen überzeugt, daß eine neue Teufelei in Szene gesetzt wurde. Aber sie waren gewohnt, zu gehor chen, und beeilten sich denn auch, dem Ruf Folge zu leisten. Die letzten waren noch nicht verschwunden, als ein harter Stoß durch den Schiffskörper ging. Und dann begann die »Bahia« zu stampfen und zu schlingern. Sun Koh wartete noch eine Weile, dann winkte er Hal, die Tür zu schließen. Manders kam nicht. Niemand ließ sich sehen, um die Unbill, die der Steuermann erlitten hatte, zu rä chen. Die Erklärung war sehr einfach. Während sich Hal mit dem Steuermann balgte, hat te einer jener plötzlichen Stürme das Schiff überfal len, die in diesen Breiten so häufig waren. Wie eine Ramme traf er auf das Schiff. Er kam in einer mißtö nig grauen, dünnen Wolkenwand, die sich wie eine Decke hochschob. Am Horizont schimmerte es fahl weißlich. Und schon nach Minuten stand eine helle 28
Linie über der Kimm: Eisschollen, meterdick und in riesigen Tafeln, eine einzige geschlossene Front. Treibeis. Der Südpol schickte wieder seine kalten Sendbo ten und seinen Atem. Die graue Decke barst splitternd und warf Millio nen und Abermillionen von Eisnadeln in hagelnden Schauern über die »Bahia«, die sich ächzend unter der Gewalt des Sturmes in die See hineindrückte. Unter diesen Umständen hatte Manders wirklich keine Zeit, sich um die Leute zu kümmern, die den Steuermann angegriffen hatten. Erbärmliches Volk, diese Pressmen. Wie eine Rot te Mäuse kamen sie hochgestolpert. Die meisten tru gen nichts anderes auf dem Leib als den dünnen Baumwollanzug, in dem man sie in der Hafengasse geschnappt hatte. Anzug konnte man es kaum mehr nennen. Der Eissturm sprang die Leute wie ein er barmungsloser Tiger an, daß sie die Köpfe einzogen und die Buckel krümmten. Fast im Augenblick wur den ihre Hände und Gesichter blau, und aus den Au gen schoß das Wasser, um wenig später auf der Bak ke zu gefrieren. »Luk schließen!« brüllte Manders und kam in wei ten Sprüngen heran. Eben steckte die »Bahia« ihre Nase tief ins Meer. Krachend schlug das Luk zu, und der erste Bolzen rasselte ein. 29
Da kam auch schon der Brecher, wölbte sich wie eine grüne, weißgefleckte Muschel über das Schiff – ganz langsam scheinbar –, dann fegten unzählige Tonnen Wasser über das Deck. »Festhalten!« brüllte Manders. Zu spät die Warnung und zu blau die Finger. Als die Augen wieder frei wurden, fehlten drei Mann aus der Freiwache, darunter der friedliche Schuster aus Hobart. Die See hatte sie weggespült. »Mann über Bord!« Manders lächelte verächtlich. Wegen solcher Ker le hielt man ein Schiff nicht auf, selbst wenn es nicht so unmöglich gewesen wäre wie in diesem Augen blick. 2. Nach drei Stunden beruhigte sich der Sturm so schnell, wie er gekommen war. Es klarte auf, die See wurde ruhig, das Schiff kam aus dem Treibeisgürtel frei. Durchnäßt, frierend und müde stampften die Leute in ihr Logis. Es wurde Abend. Sun Koh und seine Leute peinigten allmählich Hunger und Durst. Sayler war der erste, der zögernd die Frage auf warf: »Gibt es denn hier überhaupt nichts zu essen auf diesem Schiff?« 30
»Große Angst«, brummte einer seiner Kameraden. »Wahrscheinlich will man uns durch Hunger gefügig machen.« Das entsprach auch Sun Kohs Annahme, aber er tröstete: »Warten wir noch eine Weile. Später wer den wir uns nach unserer Mahlzeit umsehen.« Die Leute schaukelten den Gang hinunter. Hal stieß den Neger an. »Du hättest wohl Lust, nachzu steigen?« »Klar«, gab Nimba ärgerlich zu. »Mein Magen hängt mir wie ein leerer Sack im Leib.« »Schlimm« meinte Hal mitleidig. »Wie war’s denn da mit einem Quadratmeter Steak?« Nimba stöhnte. »Hör auf, mir läuft das Wasser im Mund zusam men.« »Dann kannst du wenigstens keinen Durst krie gen«, flachste Hal, enthielt sich aber der weiteren Aufzählung gastronomischer Herrlichkeiten. Die Männer kamen zurück. Niemand dachte daran, Sun Koh und seine Leute zum Essen zu rufen oder ihnen gar etwas zu bringen. Endlich erhob sich Sun Koh. »Wir müssen uns nun wohl nach dem Essen um sehen. Kommt mit. Für die anderen ist es besser, wenn sie hier auf unsere Rückkehr warten. Man wird uns wohl erst nach einer Auseinandersetzung etwas geben, dann bringen wir alles her.« 31
»Hoffentlich recht bald«, seufzte Sayler. Sun Koh verließ mit seinen Gefährten das Logis. Der Geruch von Speisen und das Klappern von Ge schirr führte sie zur Kombüse mittschiffs. Der Koch der »Bahia« war ein Chinese. Ein Witz, daß man ihn ausgerechnet Lotos rief, denn niemand war einer Blume unähnlicher als er. Klein, dürr, ver schlagen, ängstlich und schmutzig – das war Lotos, der Küchenmann. Vielleicht charakterisierte niemand sonst die inneren Verhältnisse auf dem Schiff besser als er. Leicht war sein Geschick gewiß nicht. Alle anderen von der Besatzung standen auf einer Seite, aber er war zwischen Kapitän und Mannschaft ein gequetscht und diente beiden gleicherweise als Ziel punkt des Grimms und Spotts. Lotos ließ um ein Haar den Blechtopf fallen, als plötzlich Sun Koh dicht neben ihm stand und ihn fragte: »Bist du der Koch?« »Ja«, sagte Lotos. »Weißt du nicht, daß wir heute morgen zu acht an Bord kamen?« »Ich hörte davon, Mister.« »Willst du uns verhungern lassen?« Lotos breitete hilflos seine Arme aus. »Ich weiß nicht – ich kann nicht – Manders hat gesagt…« »Was hat Manders gesagt?« Der Koch blinzelte. »Ich darf nichts geben, er hat es verboten.« 32
»Dann werden wir uns nehmen, was wir brau chen«, entschied Sun Koh. »Wo hast du deine Vorrä te?« Der Mann zog den Kopf ein. »Ich darf nichts hergeben. Er schlägt mich tot, wenn…« Sun Koh wandte sich zu seinen Begleitern um. »Dort hinten muß der Vorratsraum sein. Räumt aus!« Die beiden ließen sich das nicht zweimal sagen, sondern eilten durch die Kombüse in den angrenzen den Raum, der tatsächlich die Küchenvorräte barg, soweit sie nicht unten im Laderaum verstaut waren. Lotos versuchte, sich ihnen in den Weg zu stellen, aber Nimba gab ihm einen freundschaftlichen Stoß. Darauf begann er zu jammern und zu zetern. »Still«, herrschte ihn Sun Koh an. »Wenn wir fer tig sind, kannst du zum Kapitän laufen und ihm Mel dung machen. Sag ihm, daß wir mit Gewalt vorge gangen sind, und laß das andere unsere Sache sein. Aber vorläufig hältst du dich gefälligst ein paar Mi nuten ruhig.« Der Chinese schwieg eingeschüchtert. Nimba und Hal holten einen ganzen Packen Le bensmittel heraus. Die Auswahl war freilich denkbar gering. Außer einigen Konservenbüchsen gab es nur Pökelfleisch und Schiffszwieback. Die vorhandenen Hülsenfrüchte nützten nichts, wenn man sie nicht roh 33
essen wollte. »Alles?« fragte Sun Koh. »Mehr und Besseres ist nicht vorhanden«, sagte Nimba. »Dann zurück! Nimm die Kanne Wasser noch mit!« Während die beiden lostrotteten, sagte Sun Koh zu Lotos: »So, jetzt hast du freie Hand. Beschwere dich gründlich, dann wird dir schon nichts geschehen. Und die nächste Mahlzeit richtest du gleich mit für uns vor, sonst kommen wir von neuem.« Lotos lief wie gehetzt. Vermutlich hoffte er insge heim, sich durch seine Eile ein Verdienst zu erwer ben. Und jetzt kam Manders. Die acht im Mannschaftslogis waren noch nicht zum Essen gekommen, als sie auch schon seine kräf tigen Schritte draußen hörten. »Er kommt«, stellte Hal fest, als alle lauschten. »Jetzt geht der Tanz los.« »Er hätte uns erst essen lassen sollen«, sagte Sun Koh. »Erfahrungsgemäß sind hungrige Menschen gefährlicher als satte.« Der Neger drückte prüfend seine Handgelenke. In seinen Augen glomm ein seltsames Licht auf. »Sir«, flüsterte er, »ich habe lange nicht richtig ge boxt, und Manders ist sicher ein guter Partner.« Sun Koh nickte. 34
»Warum nicht, wenn er darauf eingeht? Du mußt aber durchkämpfen. Eine Hilfe hast du nicht zu er warten, solange er fair bleibt.« Die Tür wurde mit einem scharfen Ruck aufgeris sen. Manders stand wuchtig und groß auf der Schwelle. Seine hellen Augen flogen scharf und dro hend über die Gesichter und über die Lebensmittel. Irgendwelche Spuren von Besorgnis waren bestimmt nicht in dem Mann. Er fühlte sich überlegen, obwohl er das Schicksal des Steuermanns kannte und zu gleich wußte, daß sich hier unten Waffen befanden. In seiner Art war er allerhand Achtung wert. »Da sitzt ja die ganze Bagage«, sagte er kalt und ohne jede Erregung. »Vor der Arbeit wollt ihr euch drücken – aber fressen! Das könnte euch so passen!« Sun Koh erhob sich und erwiderte mit der gleichen Ruhe: »Sie werden hoffentlich nicht erwarten, daß wir hier einen freiwilligen Hungertod sterben wollen. Wenn Sie uns nichts zu essen geben, zwingen Sie uns, selbst dafür zu sorgen.« Manders musterte die schlanke Gestalt mit abwä genden Blicken. Er hatte gerade über diesen Sun Koh noch kein abschließendes Urteil gewonnen. Man konn te ihn einfach zusammenschlagen, aber andererseits warnte etwas im ganzen Auftreten dieses Mannes. O der waren es die Augen, die so unsicher machten? Der Erste betonte seine Ruhe, indem er die Arme kreuzte. 35
»Wer nicht arbeitet, wird auch nicht essen«, er klärte er kurz. »Ich gebe euch eine Minute Zeit, um zu erklären, daß ihr euch der Schiffsordnung fügen und euren Dienst verrichten wollt. Dann dürft ihr be halten, was ihr da habt. Im anderen Fall…« Er ließ unausgesprochen, was passieren würde. Sun Koh war auch nicht neugierig, sondern erwiderte sofort: »Geben Sie sich keine Mühe, wir bleiben bei unserem bisherigen Standpunkt. Ich entschädige den Kapitän mit jeder angemessenen Summe, wenn er uns sofort zum nächsten Hafen bringt oder uns we nigstens das Funkgerät benutzen läßt. Tut er es nicht, ist es seine Sache, sich damit abzufinden, daß wir auf seinem Schiff lästig fallen.« »Darüber werden Sie bald anders denken«, drohte Manders. »Eine halbe Minute ist um.« Sun Koh trat einen Schritt vor und sagte fast freundlich: »Es ist besser, Manders, wenn Sie keine Unklugheit begehen. Sollten Sie die Absicht haben, uns wieder mit der Waffe zu drohen, so lassen Sie sich gesagt sein, daß Sie dabei den kürzeren ziehen. Selbst dieser Junge zieht bestimmt schneller als Sie, und Sie würden nur einen törichten Selbstmord be gehen.« Der sachliche, ernste Ton verfehlte auf den Offi zier sicher nicht ganz seine Wirkung. Manders hob jedenfalls verächtlich die Schultern und sagte kalt: »Wenn ich euch ein paar Kugeln in den Leib jagen 36
will, brauche ich meine Pistole nicht erst dreckig zu machen. Vor der seid ihr sicher. Aber das garantiere ich euch, daß ich euch mit der bloßen Faust zusam menschlage, falls ihr nicht endlich vernünftig werdet. Die Minute ist um. Wer von euch will sich immer noch weigern, auf der ›Bahia‹ anzuheuern?« Nimba sprang hoch, stellte sich dicht vor Manders. »Ich weigere mich.« Bei jedem ändern hätte Manders wohl sofort zuge schlagen, aber die muskulöse Gestalt des Negers ließ ihn doch erst einmal die Augen zusammenkneifen. Schleppend und langsam murmelte er wie im Selbstgespräch: »Du weigerst dich? Ausgerechnet du?« Er begriff in diesem Augenblick, daß er einer Ver abredung gegenüberstand, daß sich ihm Nimba nicht gerade durch Zufall als Gegner stellte. Es passierte Manders nicht zum erstenmal, daß sich ihm ein Gegner gegenüberstellte mit der Absicht und Überzeugung, ihn niederzuzwingen. Er hatte sich den Neger genau angesehen und wußte, daß ihm dieser im Gewicht und in der Reich weite überlegen war. Es waren jedoch noch stärkere Männer durch ihn gefallen. Noch immer hatte die hohe Kunst, die Zähigkeit und der kühle Willen zum Sieg geholfen. Und ob dieser Neger mithalten konn te, war noch sehr die Frage. Da Nimba schwieg, entstand eine Pause, die wie 37
die Ruhe vor dem Sturm quälend auf die Nerven drückte. Beide Männer standen sich unbeweglich gegenüber. Der Neger ließ die Arme schlaff herun terhängen, Manders hielt sie noch immer über die Brust gekreuzt. Jetzt ließ er sich fallen und trat mit dem rechten Fuß eine Kleinigkeit zurück. Nimba wußte, daß der andere den Kampf annahm. Und nun brach blitzschnell der Sturm los. Die bei den Männer prallten aufeinander mit der elementaren Wucht von Naturgewalten. Ihre riesenhaften Körper bewegten sich geschmeidig und schnell wie die gro ßer Raubtiere, ihre Fäuste stießen wie unter dem Druck von Explosionen vernichtend vorwärts. Der Platz war denkbar ungünstig für einen Boxkampf. Obwohl Sun Koh und die anderen zurückwichen, entstand nur ein freier Raum von wenigen Quadrat metern, ein schmaler Gang zwischen Tür, Betten und Rückwand. Manders war zuerst in den Angriff gegangen. Mit einer schnellen Bewegung hatte er sich zusammenge duckt und seine rechte Faust zu einer Geraden gesto ßen. Nimba hatte ihn links abgleiten lassen und im Gegenstoß nach der Kinnspitze gepunktet, aber Manders war ebenfalls ausgewichen, so daß der Stoß am linken Ohr vorbeiglitt. Damit war der Kampf er öffnet. Eines wurde gleich zu Anfang klar: Manders kämpfte fair und schien die Absicht zu haben, dabei 38
zu bleiben. Und zweitens stand fest, daß sich die bei den Gegner gegenseitig kaum etwas nachgaben. Sie tasteten sich zunächst aneinander heran. Ob wohl sie beide sehr schnell schlugen und hinter jedem Schlag genügend Kraft steckte, landeten sie an fänglich nur einige leichte Gesichtstreffer, die keine Wirkung zeigten. Erst allmählich wurde der Kampf lebhafter und schärfer. Es gelang Nimba, eine Linke anzubringen und einen scharfen Aufwärtshaken an zuschließen, aber er vermochte Manders damit nicht zu erschüttern. Dieser wiederum brachte eine gerade Linke scharf zur Geltung, doch Nimba schüttelte nur den Kopf. Er ging mit einer schnellen Schlagserie gegen das Gesicht des Offiziers vor. Sie sah gefährlich aus und veranlaßte Manders auch, zurückzuweichen. Aber sie schadete ihm nicht weiter. Er schaffte sich Luft durch eine knallharte Rechte, an die er gleich zwei Aufwärtshaken anhängte. Nimba ging zurück. Der andere setzte nach und versuchte ihn durch wütende Körperschläge zuzudecken. Der Neger wehrte jedoch geschickt ab, erholte sich inzwischen von den beiden Haken und stieß dann so kräftig auf Manders’ Mund, daß dieser heftig zu bluten begann. Nimba setzte seinen Angriff fort. Manders hatte zu tun, um sich einigermaßen zu schützen. Man merkte jetzt, daß er auf die Dauer, falls keine besonderen Überraschungen eintraten, unterliegen mußte. Sein 39
Atem wurde bereits etwas kurz. Auch eine kleine Ungenauigkeit der Bewegungen hätte man schon feststellen können. Immerhin landete er sehr ge schickt zwei harte Rechte auf Nimbas Gesicht. Dafür mußte er freilich eine schwere Linke einstecken, die ihn gegen die eisernen Lagergestelle warf. Einen Augenblick lang ruhte der Kampf. Nimba ließ dem Gegner Zeit, wieder zu Atem zu kommen. Sie hatten sich in der Hitze des Gefechts so weit ge dreht, daß der Neger jetzt zur Tür stand, während der Rücken von Manders zur Hinterwand zeigte. Manders hatte die Lippen hart aufeinandergepreßt. Er wußte jetzt, daß er an einen Gegner geraten war, der ihm gefährlich werden konnte. Wieder prallten die beiden aufeinander. Aus dem Schlagwechsel war nur eine gerade Linke Nimbas er wähnenswert, die die Braue seines Gegners aufriß. Blut verschmierte das Gesicht des Ersten Offiziers. Manders suchte sich durch eine Linke in Nimbas Gesicht zu revanchieren, aber seine Faust hatte schon nicht mehr die erforderliche Kraft. Der Neger kam mit zwei Haken nach. In diesen Sekunden war das Schicksal des Offi ziers praktisch schon entschieden. Seine Schläge wa ren merkbar ungenau und weich geworden. Er war müde, seine Muskeln gaben nicht mehr die erforder liche Kraft und Gewandtheit her. Um so verbissener war freilich sein Wille. Ob 40
gleich seine Sehkraft durch das Blut stark geschmä lert war, obgleich er manchmal weit daneben schlug, hielt er zäh durch. Jetzt war es freilich auch dem Laien offensichtlich, daß er mehr auf Deckung ging. Eine Weile ging der Kampf hin und her. Manders stand nach besten Kräften seine Zeit durch. »Mach Schluß, Nimba!« rief Hal. Der Neger wandte ihm den Kopf zu und nickte. Manders versuchte, die günstige Gelegenheit auszu nützen und warf seine letzte Kraft in einen furchtba ren Schwinger hinein. Aber Nimba bemerkte es noch rechtzeitig, und da sich Manders einmal entblößt hat te, nutzte er gleich die Gelegenheit, um der Auffor derung nachzukommen. Seine ganze Kraft schnellte förmlich sichtbar in die Faust hinein, ein blitzschnell geführter Hieb, und Manders brach unter lautem Stöhnen nach hinten zusammen. Nimba setzte sich, immerhin schweratmend, auf eines der Lager. Nun kamen die anderen vor. »Großartig«, lobte Hal. »Wie fühlst du dich?« »Recht gut.« Nimba grinste. »Ein schwerer Brok ken.« Sun Koh klopfte ihm auf die Schulter. »Du warst besser in Form, als ich nach der langen Ruhepause dachte. Manders hat dich vermutlich zu leicht genommen.« »Er hat aber gut gekämpft«, erwiderte der Neger. 41
Sun Koh nickte. »Neugierig bin ich, was er nach her sagen wird.« Sie beugten sich zu dem Geschlagenen nieder. Er war schwer getroffen und rang noch gegen die Be wußtlosigkeit. Sun Koh winkte dem Jungen. »Wasser, Hal!« Hal brachte die Kanne, und sie wuschen Manders das Gesicht. Unterdessen kam er langsam zu sich. Als er das rechte Auge öffnete – das linke war ver quollen, so daß er es nicht öffnen konnte –, lag darin neben starker Verwirrung grenzenloses Erstaunen. Und das schwand auch nicht, als er die Männer über sich sah, die ihm behutsam die Wunden auswuschen. Wahrscheinlich bereitete ihm das einiges Kopfzer brechen, denn sein Auge schloß sich wieder, und auf seinem Gesicht erschien ein grübelnder Zug. Sun Koh hob den schweren Körper auf und legte ihn auf eines der Betten. Manders schien es gar nicht zu bemerken. Erst nach einer ganzen Weile blickte er zum zwei tenmal um sich und stemmte sich dann langsam auf seine Arme auf. Niemand äußerte ein Wort. Er schwenkte seine Beine von dem Lager herunter und setzte sich. Seine Finger tasteten über das Gesicht, die geplatzte Lippe und das aufgeschlagene Auge. Dann suchte sein Blick den Neger, der ihm gegen über saß. 42
»Du hast mich niedergeschlagen?« fragte er tonlos mit heiserer Stimme, aber es war mehr eine Feststel lung als eine Frage. Nimba nickte. Der Erste schüttelte geistesabwesend den Kopf und murmelte in sich hinein: »Verdammt, damit hat te ich nicht gerechnet.« Hal meinte wohlwollend und beruhigend: »Nehmen Sie es nicht so tragisch, Manders. Es ist noch keinem gelungen, gegen Jack Holligan aufzukommen.« Manders horchte auf. »Jack Holligan?« »Er.« Hal wies auf den Neger. Manders starrte auf Nimba und senkte dann den Kopf. Er murmelte irgend etwas in sich hinein, das niemand verstehen konnte. »Wollen Sie nicht trinken?« erkundigte sich Sun Koh und hielt ihm das Wasser hin. Manders blickte kurz auf, machte eine abwehrende Bewegung und erhob sich schwerfällig. »Brauche euer Wasser nicht«, erwiderte er matt. »Also Jack Holligan… Verdammt, es war ein ehrli cher Kampf.« »Ich habe selten einen so guten Gegner gehabt«, sagte Nimba. Manders murmelte wieder irgend etwas, schwank te einige Male hin und her und hielt sich mit der Hand an den Eisengestellen fest. Schließlich straffte er sich und ging zur Tür. Niemand hinderte ihn. 43
Unter dem Türrahmen wandte er sich um und ü berflog noch einmal mühsam die Runde. Mühsam, aber schon wieder mit der gewohnten Härte in der Stimme, erklärte er: »Es war ein ehrlicher Kampf, und ich bin unterlegen. Aber wenn ihr nun glaubt, daß ihr Ruhe habt, irrt ihr euch. Ich bin nicht der Ka pitän und habe seine Befehle auszuführen. Ich rate euch nach wie vor, zu tun, was von euch verlangt wird, sonst wird es euch dreckig gehen.« Sun Koh trat dicht an ihn heran und sagte be stimmt: »Sie haben ehrlich gekämpft, Manders, das ist mehr, als mancher in Ihrer Lage fertigbringt. Sie haben bei der Gelegenheit vielleicht begriffen, daß es nicht leicht sein wird, uns gegen unseren Willen zu etwas zu zwingen. Wollen Sie dem Kapitän nicht doch lieber empfehlen, uns schleunigst zu einem Ha fen zu bringen?« Manders nickte. »Von mir aus wäre das schon längst geschehen, wenn ich es nicht vorgezogen hätte, euch einfach ü ber Bord zu werfen. Aber Scarper hat seine besonde ren Absichten mit euch. Wendet euch an ihn!« Er wandte sich kurz ab und schritt hinaus. * Nacht über der Antarktis. Die »Bahia« glitt durch eisfreies Wasser ruhig und 44
unentwegt nach Süden. Dem Treibeisgürtel war kein zweiter gefolgt, auf weite Sicht zeigte sich bis zum Horizont der weiße Schimmer des herannahenden Eises nicht wieder. Die Nacht war mondlos und schwarz. Zwischen Erde und Sterne hatte sich die graue Decke flacher Wolken wie ein Vorhang ge schoben und machte die Dunkelheit noch lichtloser. Die See selbst war wie matte, dunkle Tinte, der selbst die Weißen Lichter der Schaumkronen fehlten. Irgendwo im Süden schwamm der bläulichweiße Tod. Ruhig und majestätisch segelte er in schim mernder Pracht nach Norden. Der Eisberg. Seine bizarren Spitzen und Schroffen, seine wun dersamen blauen Höhlen über dem Wasser waren et was eingeschmolzen, abgerundet und zusammenge sunken. Aber was da unter dem Meer schwamm, sie benmal tiefer als die weiße Krone, mit scharfen Zak ken, das hatte auch nicht eine Spur gelitten. Gefähr lich, unheimlich gefährlich war es wie in jener Minu te, als der Eisberg mit donnernder Gewalt kalbte. Stunden, Tage und Wochen schon zog der weiße Berg seinen Weg. Und wenn man den Weg dieses Eisbergs verlän gerte und zugleich den der »Bahia«, ergab das einen Schnittpunkt. Das bedeutete, daß die beiden notwen dig zusammenstoßen mußten, falls sich nicht der Kurs der »Bahia« änderte. 45
Aber Kapitän Scarper hatte keinen Anlaß, seinen Kurs zu ändern. Er blickte zur Zeit unentwegt auf seinen Ersten Offizier. Auf seinen Lippen lag ein höhnisches Grin sen, aber genau genommen war Scarper fassungslos erstaunt. So hatte er Manders noch nicht gesehen, und was ihm der Erste berichtete, das war mehr, als ein Mensch auf einen Hieb verdauen konnte. »Sie wollen sagen«, fragte er, indem er sich weit vorbeugte, »daß Sie von diesem Neger zusammenge schlagen wurden wie ein Anfänger?« »Eben das«, gestand Manders. »Er war stärker als ich und auch wohl schneller.« »Unglaublich«, murmelte Scarper. »Und warum haben Sie den Kerl nicht einfach über den Haufen geschossen?« Manders hob die Schultern. »Erstens hatten sie Waffen und zweitens schieße ich nicht, wenn ich die Absicht habe zu boxen. Ich wollte den Mann zusammenschlagen, aber nicht über den Haufen knallen.« »Na und, was soll nun werden?« Manders zuckte zum zweitenmal mit den Schul tern. »Wir hätten die Leute auf der verfluchten Insel ver recken lassen sollen, das wäre das Gescheiteste gewe sen. Jetzt haben wir sie auf dem Hals. Ich glaube nicht, daß man ihnen so leicht beikommen kann. Viel 46
leicht ist es doch besser, wir setzen sie irgendwo ab.« Scarper lachte häßlich. »Sie scheinen ja schwer gelitten zu haben, Man ders. Je stärker die Leute sind, um so besser. Wasch lappen habe ich genügend auf meinem Schiff, ich brauche kräftige Kerle. Das wäre gelacht, wenn wir sie nicht zahm machen wollten.« »Nur zu«, knurrte Manders. »Viel Spaß dabei!« Der Kapitän fuhr hoch. »Was soll das heißen?« Manders sah ihn fest an. »Soviel, daß ich mich verflucht in acht nehmen werde, meine Finger noch einmal in die Geschichte zu stecken. Geben Sie mir Ihre Befehle, und ich wer de sie ausführen. Sagen Sie mir, ich soll die Leute über den Haufen schießen lassen, dann werde ich es tun, aber da nützen sie Ihnen auch nichts mehr. Und viel anderes bleibt kaum noch übrig.« Der Kapitän biß sich mit den gelben Zähnen auf die Unterlippe. »Verdammt, Sie tun gerade so, als wollten Sie klein beigeben. Ich lasse die Leute in Ketten legen und hungern, bis sie mürbe sind.« Spöttisch huschte es um den Mund des Ersten Of fiziers. »Ich bin neugierig, wie Sie das anfangen wol len.« Der Kapitän blickte ihn an, dann sagte er verhält nismäßig ruhig: »Holen Sie sie auf Deck, ich will Ihnen zeigen, wie man mit den Kerlen umspringt.« 47
Manders erhob sich. »Ich will es ihnen ausrichten, vielleicht sind sie so verrückt, hochzukommen. Soll ich unsere Leute her anrufen?« Scarper fühlte sich durchschaut und ärgerte sich merkwürdigerweise darüber. »Lassen Sie das meine Sorge sein«, brummte er böse. Manders ging mit schweren Schritten hinaus. Die acht im Mannschaftslogis waren nicht schlecht erstaunt, als sie den Ersten Offizier zum zweitenmal im Türrahmen stehen sahen und ihn mürrisch sagen hörten: »Der Kapitän will euch sprechen. Ihr sollt auf Deck kommen.« »Wir werden kommen«, sagte Sun Koh sofort. Manders trat zurück und krachte die Tür hinter sich zu. »Jetzt will es der Kapitän versuchen«, sagte Hal. »Ihr bleibt da«, sagte Sun Koh zu Sayler und sei nen Kameraden. »Hal und Nimba, ihr kommt mit. Vermutlich hat der Kapitän seine Leibgarde in den Hinterhalt gelegt. Du weißt, was du zu tun hast, Hal? Und du ebenfalls, Nimba?« Die beiden nickten. »Diesmal werden wir es ihnen versalzen, ihre Pistolen auf uns zu richten.« Auf dem Vorderdeck war es fast völlig dunkel. Die Nacht gab kein Licht, und die Positionslampen 48
erhellten sie auch nicht. Aber jetzt öffneten sich gleichzeitig die Türen der Deckskajüte und des Funkraums. Zwei breite Lichtbänder fielen über die Planken, kreuzten sich und bildeten ein rechteckiges, helles Feld. An der einen Seite dieses Feldes stand Kapitän Scarper und wartete auf die Aufrührer; breitbeinig und die Hände in den Hosentaschen. Sun Koh und seine Freunde gingen ruhig auf ihn zu, doch bevor sie das Lichtband erreicht hatten, gab Sun Koh den beiden ein Zeichen. Daraufhin blieben sie zurück und begannen die Dunkelheit ringsum zu prüfen. Ihre Augen waren gut, und die Leute, die hinter den Aufbauten postiert worden waren, nahmen sich nicht übermäßig in acht. Fast mühelos konnten Hal und Nimba sieben Mann feststellen, die dort den Er eignissen lauschten und todsicher die Hand an der schußbereiten Pistole hatten. Zwei Männer standen sich gegenüber, beide nur im Profil vom Licht getroffen. Der eine in seiner Massigkeit war ganz die Verkörperung roher Gewalt, der andere stand hell und schlank wie die Kraft des Edlen selbst. Scarper verharrte ruhig. Er hatte die Erfahrung ge macht, daß sich Gegner allein schon durch seine Er scheinung einschüchtern ließen und daß man einen Mann dadurch in Unsicherheit bringen konnte, daß man ihn auf das Unvermeidliche warten ließ. So war 49
tete er denn. Alle Männer starrten wie fasziniert auf das helle Viereck und auf die beiden Gestalten. Die Leute hin ter den Pistolen vergaßen in der wachsenden Span nung fast ihre Aufgabe, und der Ausguck hoch oben über den Planken vergaß sie ganz. Er starrte hinunter, wartete gebannt auf die Entscheidung, die er ebenso wie alle anderen herannahen spürte. Seine Augen sahen nicht mehr die Dunkelheit der Nacht und nicht mehr den fernen Horizont. Und die nachfolgenden Ereignisse veranlaßten ihn nicht, den Kopf zu heben und den Blick von dem Schauspiel dort unten abzu wenden. Gerade jetzt aber schob sich über die Kimm der weiße Tod, der bläulich schimmernde Gipfel des Eisberges, unter dem die zackigen Messer seines Un terwasserteiles sich dem Opfer entgegenschoben. Unheimlich glitt die weiße Masse nach Norden. Und die »Bahia« trieb in schneller Fahrt nach Süden. Der Ausguck aber blickte gebannt auf das Deck hinunter. Kapitän Scarper bewegte endlich die Lippen. Aus seiner Brust kam ein Laut, der an das dunkle Rollen eines Gorillas erinnerte. »Wo sind die anderen?« »Ich habe sie im Logis gelassen«, gab Sun Koh spöttisch zurück. »Die Statisten, die Sie aufgestellt haben, Kapitän, genügen vollkommen.« 50
Scarper trat in das helle Viereck hinein. Schon sein Schritt war weiter nichts als eine einzige Bedrohung. »Wenn es euch stört, braucht ihr euch ja nur ent sprechend zu betragen. Bildet euch ja nicht ein, daß das nur Statisten sind. Sie werden schießen, sobald ihr eine Bewegung macht, die mir nicht paßt.« Sun Koh nickte, als ob er nichts anderes erwartet hätte. »So pflegen Feiglinge sich von jeher zu schützen, Scarper«, gab er kalt zurück. »Im übrigen würde ich den Leuten raten, die Pistolen einzustecken. Meine beiden Begleiter haben nämlich ebenfalls Waffen in der Hand, und die schießen bedeutend schneller als jeder andere. Außerdem haben sie noch nie in ihrem Leben daneben geschossen.« Diese Warnung an die Adresse seiner Leute mach te den Kapitän wütend. Er erwies sich schon jetzt als das völlige Gegenteil Manders’. Während dieser mit der zunehmenden Gefahr kälter wurde, erhitzte sich der Kapitän mehr und mehr. »Sie sind ein dreister Bursche«, grollte er, »daß Sie es wagen, meine Leute gegen mich aufzuhetzen. Ich werde…« »Ich warnte sie nur«, unterbrach Sun Koh ruhig. »Aber kommen wir zur Sache, Kapitän. Sie haben mich rufen lassen. Ich nehme an, daß Sie nun auf meine Vorschläge eingehen werden.« »Den Teufel werde ich!« schrie Scarper erbost. 51
»Ich habe euch rufen lassen, um mit euch ein Wört chen zu reden. Ihr habt euch geweigert, den Anord nungen meines Steuermanns und meines Ersten Offi ziers Folge zu leisten.« »Leicht möglich.« Scarper schaukelte leicht hin und her, vor und zu rück. Etwas ungemein Drohendes lag in dieser Be wegung. »Dann laßt euch gesagt sein, daß ihr die Wahl habt – entweder nehmt ihr den Dienst hier auf, oder ich lasse euch zusammenschießen und über Bord werfen. Verstanden?« »Ich bin nicht schwer von Begriff«, antwortete Sun Koh mit aufreizender Gleichgültigkeit. »Ich wünschte, man könnte das gleiche auch von Ihnen sagen, Scarper. Glauben Sie wirklich, daß Sie uns so einfach zusammenschießen können?« Der Kapitän grunzte tief. »Ich zähle bis drei, ver dammtes Schwein. Eins – zwei…« »Lassen Sie die Hand von der Pistole«, warnte Sun Koh. Der Kapitän zog sie trotzdem aus der Hosentasche und wog sie mit gefährlicher Geste in seiner Hand. »Du hast noch eine Sekunde – zwei – und…« Mit einem unerwarteten Sprung war Sun Koh bei ihm und schlug ihm die Pistole aus der Hand. Sie flog im hohen Bogen fort und klatschte auf das Deck nieder. 52
Im Hintergrund krachte ein Schuß. Einer der Leute des Kapitäns hatte voreilig geschossen, obgleich es völlig sinnlos war, denn Sun Koh und der Kapitän standen in einer Schußlinie. An den Schuß hängte sich eine ganze Salve. Hal und Nimba feuerten in der Besorgnis um Sun Koh ihre Magazine heraus. Wilde Aufschreie quittierten einige Treffer. Da der Erfolg aber infolge der Dun kelheit nicht ganz sicher schien, sprang der Neger hinter den Schüssen her und begann wie ein Berser ker aufzuräumen, so daß innerhalb einer Minute kein Mann der Besatzung mehr in der Nähe zu sehen war. Inzwischen standen sich Scarper und Sun Koh auf Zentimeterentfernung gegenüber. Der Kapitän hatte in der Bewegung der Abwehr innegehalten, als er die Schüsse und Schreie im Dunkeln vernahm. Er lausch te. Dann wurde ihm wohl bewußt, daß seine Leute die Flucht ergriffen. Das brachte ihn zum Rasen. Mit einem unartikulierten Aufbrüllen warf er seine mächtige Gestalt auf den schlanken Gegner. Dessen Faust zuckte kurz hoch, schmetterte wie ein stähler ner Hammer dem Mann ins Gesicht. Er taumelte zu rück, kam massig schwer, gespenstisch vom Licht umflackert, wieder nach vorn. Seine Arme suchten ihr Ziel, verfehlten es. Ein zweiter Schlag wuchtete in die Visage hinein, ein dritter kam kurz hinterher. Scarper warf den Kopf weit zurück, breitete die Ar me aus und sackte nach hinten. 53
Auf dem Ausguck stöhnte der Wächter des Schif fes tief auf, teils vor Spannung, teils vor tiefer Be friedigung, dann hob er den Kopf. Seine Augen wurden weit und groß, seine Lippen klafften plötzlich auseinander, formten einen gellen den Schrei, der wie ein Signal des Schreckens über das Deck hallte: »Eisberg voraus!« Mit einem Schlag verwischte sich die Szene. Sun Koh sprang aus dem Licht und blickte forschend ü ber die Reling, seine Freunde eilten zu ihm. Im Hin tergrund quoll es hoch. »Eisberg! Eisberg in Sicht!« Während Scarper noch mühsam hochtaumelte, gab Manders herrisch und kalt seine Befehle. Der Eisberg war schier greifbar nahe. Seine Ge schwindigkeit war groß. Er kam genau auf das Schiff zu. Man konnte eben nicht viel tun, alles kam auf die Maschine und auf das Ruder an. Würde es gelingen, die Fahrt des Schiffes rechtzeitig abzustoppen oder das Schiff aus der Gefahrenrichtung herauszubringen? Minuten strichen vorüber. Dann… Ein jäher, reißender Stoß, ein unbeschreiblicher Laut, der an das Platzen von dickem Stoff erinnerte… Eines der unterseeischen Eisriffe hatte das Schiff getroffen. In dieser Minute begann das Chaos. Kurz nach 54
dem Zusammenstoß flog die Meldung über Deck, daß die ganze Flanke des Schiffes aufgerissen sei, die Befehle zum Ausbooten kamen, die Mannschaf ten stürmten hoch, Scarper brüllte und fluchte, Man ders fluchte und brüllte, Schüsse knallten… Die »Bahia« legte sich merkbar auf die Seite. Die Mannschaft des Schiffes war nichts anderes als eine mit Gewalt zusammengetriebene Horde Menschen. Die brutale Härte des Kapitäns und seines Offiziers hatte ihnen einige Disziplin auf gezwungen, aber jetzt ging diese im Augenblick der Gefahr völlig zum Teufel. Die einfachsten Instinkte brachen durch, die Angst, die Verzweiflung ums Leben machte sich Platz, wenn es sein mußte, mit Messer und Revolver. An ein ordnungsgemäßes Ausbooten war nicht zu denken. Zwei der Boote sanken, weil sie schlecht abgefiert wurden. Auf die anderen stürzte sich alles, was vom Schiff fort wollte. Sun Koh hatte mit seinen beiden Leuten und mit den Kameraden Saylers ein Boot heruntergelassen. Es kam leidlich unten an. Sun Koh sorgte dafür, daß die Leute hineinkamen. Er selbst blieb mit Nimba und Hal noch oben. Sayler und die anderen fanden Platz, aber dann schwammen schon von allen Seiten die Verzweifelten heran und kämpften um das Boot. Ein Ruck, die »Bahia« steckte ihre Nase tief ins Wasser. Mehr als ein paar Minuten konnten ihr nicht bleiben. 55
»Wir müssen fort«, schrie Hal warnend. »Zum Eisberg!« befahl Sun Koh. »Springt!« Gleichzeitig schossen sie in die eisige Tiefe hinun ter, so wie sie waren, in ihren Kleidern und ohne Schwimmwesten. Die Kälte des Wassers hieb mit tausend Nadeln in den Körper hinein, aber dann schafften sie sich durch die Bewegung Wärme. In schnellem Tempo strebten sie dem Eisberg zu, des sen oberirdischer Teil gerade vorüberglitt. Ein Schrei ging über das Meer, ließ ihre Köpfe he rumfahren. Die »Bahia« schoß in die Tiefe, in ihrem Strudel folgten die Boote. Sun Koh erreichte als erster die schimmernde Eis zacke, zog sich hoch, half den anderen nach. Vorsichtig kletterten sie weiter auf den taumelnden Berg hinauf. Drei verlorene Menschen. 3. Majestätisch glitt der Eisberg nach Norden. Rund fünfzig Meter ragte er über das Meer hinaus, ein märchenhaftes, wundersames Gebilde phantasti scher bläulicher Eisformationen mit Schroffen, Gip feln, Klippen und Höhlen und zugleich ein schwei gender, grausiger Sarg. Die Lage der drei Menschen darauf war aussichts los. 56
Die starke Kälte des Eisberges war schon furcht bar genug. Sie klammerte sich um die unzulänglich geschützten Körper, versteifte die Gelenke, hemmte den kreisenden Blutstrom des Lebens und hauchte schwere Müdigkeit in die Muskeln. Bei Helligkeit wärmte die Sonne mit jedem Tag mehr, aber die Nacht war voll bleischwerer Todeskälte. Der Körper verlangte Wärme, aber es gab nicht genug zu essen, um ihm auch nur eine einzige Kalorie zuzuführen. So mußte ihr Leben unter der erbarmungslosen Zange von Hunger und Kälte allmählich verlöschen. Und wenn sie durchhielten, was dann? Es gab wenig Schiffe in diesen Breiten, und die es gab, würden dem Eisberg wie der Pest ausweichen. Aber konnte man nicht versuchen, ein solches Schiff schwimmend noch zu erreichen, wenn man es einmal sichtete? Es gab wenig Inseln hier, alle unbewohnt. Aber vielleicht trieb der Eisberg in die Nähe einer Insel? Und daß eine solche mehr Lebensmöglichkeiten bot, war nicht zu bezweifeln. Nein, Sun Koh gab nicht auf. Sein Wille aber war auch der seiner Leute. So begannen sie den Kampf gegen die Kälte, die ihnen die Gliedmaßen abfressen wollte. Wenn die Sonne bei Tag brannte, warfen sie sich nebeneinan der nieder und schliefen. Kam aber die Nacht, hielten sie sich ununterbrochen in Bewegung. Dutzende von 57
Kilometern legten sie Nacht für Nacht auf kleinem Platz zurück, immer wieder von neuem gegen die weiche Müdigkeit ankämpfend. Es gab keine größere Gefahr als die verzehrende Lust, sich wenigstens ei ne Minute lang zu setzen. Einer trieb den anderen hoch, wenn er auch gleich vor Erschöpfung und Ent kräftung taumelte. Je mehr Tage vergingen, um so schlimmer wurde der Hunger. Solange er nur spürbar in den Eingewei den grimmte, ging es noch an. Aber dann ver schwand das Schmerzgefühl, wandelte sich in fast wohlige, bewußtlose Mattigkeit, die das schimmernde Eis als verlockende Ruhestätte erscheinen ließ. Die fade Schwäche der kraftlos werdenden Muskeln, die einlullende Betäubung der Kälte kam hinzu, so daß es von Tag zu Tag schwerer wurde, sich bei be ginnender Dunkelheit hochzureißen und den entsetz lichen Marsch gegen den Schlaf wieder aufzuneh men. Unaufhaltsam trieb der Eisberg nach Norden im mer weiter ab von der Antarktis in die Wärme, in die Auflösung hinein. Jene drei waren keine Menschen mehr, sondern nur noch mattglühende, fiebernd überanstrengte Wil lenszentren. In der dunklen Tiefe des Lebensnervs, des Sonnengeflechts, brannten die letzten Lampen. Dorthin hatte sich alles geflüchtet, was vom Mensch sein übriggeblieben war, dort ballte sich zusammen, 58
was den Kampf noch durchhielt, dort wurden müh sam die letzten Festungsmauern gehalten. Alles an dere war vernichtet, aufgegeben, verlorene Bastion in dem Kampf gegen die Übermacht. Die Augen sahen nicht mehr und die Lippen sprachen nicht mehr, die Haut war ohne Gefühl und die Nase ohne Geruch. Abgestorben schienen die Glieder, denen gerade noch der Befehl gegeben werden konnte, den längst mechanischen Trott wieder aufzunehmen. Die Ge hirne waren ohne Gedanken und die Seelen ohne Be gierden, Wünsche und Hoffnungen. Winzig flackerte nur noch das Licht des Willens im Sonnengeflecht. Am stärksten blieb Sun Koh. Er hielt durch, als die beiden anderen bereits am Rand waren. Er zwang mit Gewalt, was der Wille seiner beiden Freunde nicht hergeben wollte. Keine Insel, kein Schiff kamen in Sicht. Mitten in der Nacht begann dann der Schrecken des Untergangs. Ein tiefer, würgender Seufzer ging durch den Eisberg, wie das Schreien von hundert kleinen Kindern kam es aus der Tiefe, dumpf und drohend knurrte es hinterher wie ein Baß in tiefster Tonlage, dann schrie es wieder, seufzte in immer hö here Lagen hinein, überschlug sich… Und dann riß der Eisberg in zwei Stücke, die von einander wegtaumelten und im Nu durch einen Spalt von mehreren Metern Breite getrennt waren. Sun Koh und Hal standen auf der einen Seite, 59
Nimba auf der anderen. Der Junge stöhnte auf und deutete mit einer flatternden Armbewegung hinüber. Sun Koh schrie heiser: »Spring, Nimba, ich hole dich!« Der Neger war kaum mehr fähig, die Zusammen hänge zu begreifen und seine Lage zu beurteilen. Er taumelte vorwärts, glitt aus, rutschte schneller und schoß im Bogen über den Abbruch hinweg in das Meer hinein, das zwanzig Meter tiefer gegen die Wand klatschte. Gleichzeitig sprang Sun Koh. Die Gefahr fachte ihn an, daß es glühend und herrisch durch den Kör per hindurchschoß. Er erreichte den Auftauchenden, packte ihn und schwamm mit ihm hinter dem weg strebenden Berg her. Der Abbruch war zu steil, um ihn erklimmen zu können. Sun Koh mußte im Bogen herumschwim men, bis er auf der anderen Seite hinaufkonnte. Er war fertig, und Nimba hatte das Bewußtsein verloren. Wenn Hal nicht im letzten, verzweifelten Wollen Sun Koh zu massieren begonnen hätte, wären sie wohl alle verloren gewesen. Die Massage war kläglich genug, aber sie genügte, um Sun Koh zu rückzurufen. Einige Zeit später kam auch Nimba wieder hoch. Sie fuhren nur noch auf dem halben Eisberg. Die ser aber lag nicht mehr im Gleichgewicht. Sun Koh fühlte deutlich die unsicheren Schwankungen, die 60
früher oder später zum Kippen führen mußten. Vier Stunden nach Sonnenaufgang war es soweit. Der Berg begann stärker zu schwanken, pendelte zweimal hin und her – und dann begann er zu rollen. Die Abbruchstelle, in deren Nähe sich Sun Koh befand, sank mit verblüffender Schnelligkeit in die Tiefe, während sich gleichzeitig auf der entgegenge setzten Seite der Unterwasserteil heraushob. »Lauft!« Sun Koh riß Nimba rechts, Hal links mit sich vor wärts. Sie stolperten beide, wollten zusammenbre chen, aber eisern hielt sie Sun Koh an sich, riß sie brutal über die Schmerzen und Hemmungen der er sten Schritte hinweg, bis sie von selbst liefen. Der Berg rollte. Immer höher kam der Unterwas serteil und immer schneller mußten die drei ihm ent gegen schräg an ihm hinauf laufen, um nicht mit in die Tiefe zu gehen. Sie rannten um ihr Leben, um ein Leben, das es nicht mehr wert schien, gelebt zu werden. Sie rannten und kamen dabei immer höher über den Meeresspiegel hinaus. Und rannten doch vergebens. Sie waren auf einer dreieckigen Spitze, kurz vor einem Abbruch angelangt, als sich plötzlich der gan ze Eisberg emporhob, als wollte er mit einem Sprung aus dem Wasser herausschnellen. In diesem Augenblick, in dem sie ruckartig hoch 61
geworfen wurden, fing Sun Kohs Auge zufällig einen dunklen Punkt am fernen Horizont auf. Ein wilder Aufschrei, den andern nicht verständ lich und nicht faßbar, rang sich aus seiner Kehle. Und jetzt kippte der Eisberg zurück, aber nicht so langsam wie bisher, sondern mit der Kraft einer los schnellenden Feder. In einer Sekunde warf er die Eismassen, die sich eben über lange Minute hinweg gehoben hatten, wieder in das haushoch aufbranden de Meer. Sun Koh, Hal und Nimba flogen so wie sie stan den mit dem Berg in die Tiefe, wurden schwunghaft fortgeschleudert und schlugen mit ihren Körpern in die aufdonnernde Brandung hinein. Der Sturz vernichtete sie nicht – das Leben fieber te seine letzte gewaltsame Runde. In geringer Entfer nung voneinander tauchten sie wieder auf und be gannen zu schwimmen. Hal und Nimba wollten umkehren, zum rollenden Berg zurück, aber Sun Koh brüllte sie an: »Vorwärts, dort hinüber! Dort ist Land.« Drei Menschen, von der Natur längst aufgegeben, schwammen der fernen Hoffnung entgegen, einem Stück Land, das schemenhaft die Netzhaut des einen angerührt hatte. Sie schwammen, schwammen und schwammen. Und als Hal und Nimba in die Tiefe gehen wollten, ließ Sun Koh sie an seinen Schultern Halt finden und 62
zog sie beide nach, bis sich die verkrampften Mus keln wieder etwas gelöst hatten. Er hatte richtig gesehen – der dunkle Punkt war eine Insel gewesen. Mehr und mehr hob sie sich aus dem Wasser. Und dann kam eine warme Strömung zu Hilfe, die das Dreigespann auf die Insel zutrieb. Nach schier unendlichen Zeiten gelang das schein bar Unmögliche. Seine Füße streiften den Grund, reckten sich auf festen Boden. Selbst fast schon ein Opfer der Bewußtlosigkeit, schleppte er seine beiden Freunde auf den flach ansteigenden Strand hinauf. Dann brach er zusammen, dicht vor einer Stange, die in den Sand hineingestoßen war. Und ehe er zusammenbrach, hob er den Kopf und sah oben an der Stange eine Tafel mit Schriftzeichen. Er las mit dem letzten Rest des Bewußtseins: Un befugten ist der Zutritt streng verboten! Als Sun Koh die Augen wieder öffnete, wobei er das Empfinden hatte, daß seine Lider schwere eiser ne Rolläden waren, sah er kaum einen Meter über sich eine unregelmäßige Felsendecke. Rechts neben sich bemerkte er Nimba, neben ihm Hal. Sie lagen alle drei in einer Art Nische auf einer Schüttung von trockenem duftendem Eukalyptus. Die Nische gehörte zu einer niedrigen Höhle. Sun Koh blickte durch die Öffnung hindurch auf wirre Felsen mit vereinzeltem Grün dazwischen. Links von ihm stand ein aus Hausresten zusammengenagelter 63
Tisch mit einer dazu passenden, windschiefen Bank. Dahinter standen einige Regale mit allerlei Geräten primitivster Art, zwischen denen verschiedene hoch moderne Dinge die Sammlung verwirrten. Er wälzte sich, um besser sehen zu können, etwas herum. Dabei wurde ihm erstens bewußt, daß seine Kleidung trocken war, und zweitens, daß man an sei ne Jacke einen nicht gerade kleinen Zettel mit einer Sicherheitsnadel geheftet hatte. Bin sofort zurück. Sun Koh erinnerte sich dunkel, die Schrift schon einmal gesehen zu haben. Es dauerte aber eine Wei le, bevor er darauf kam, daß er kurz vor dem Zu sammenbrechen dieses Schild mit der überraschen den Inschrift gelesen hatte. Es gab also Menschen auf dieser Insel, mindestens einen, der sich ihrer angenommen hatte. Er mußte eine Vorliebe für schriftliche Mitteilungen haben. Ein mißtönig krächzender Laut ließ Sun Koh wie der durch den gedrückten Öffnungsbogen der Höhle hindurch ins Freie blicken. Über die Felsbrocken, die sich anscheinend an einem Abhang hinaufzogen, kam ein Pinguin possierlich angewatschelt. Ab und zu wackelte er mit seinen stumpfen Flügeln und stieß dabei die mißtönigen, rauhen Schreie aus. Der Pinguin schien sich hier heimisch zu fühlen. Er kam auf die Höhle zu und betrat sie. Mit schief gelegtem Kopf äugte er in die Nische, schlurfte ein 64
Stück näher, begrüßte wohlwollend Sun Kohs offene Augen und watschelte wieder hinaus. Er war noch nicht aus dem Gesichtsfeld ent schwunden, als draußen eine kindlich weiche Stim me in singendem Tonfall hörbar wurde. »Liebling, wo bist du? Wo ist denn mein kleiner Liebling? Wo ist er denn, das kleine Lieblinglein?« Während der Pinguin eifrig Antwort gab, stemmte sich Sun Koh auf die Ellenbogen. Das hätte er sich nicht träumen lassen, daß der Bewohner dieser Insel eine Frau sein konnte. Aber selbst für eine Frau paßte diese Stimme nicht ganz, es mußte ein junges Mäd chen, vielleicht gar noch ein Kind sein. Dann gab es aber bestimmt noch mehr Bewohner hier, denn ein Kind hätte Sun Koh, Hal und Nimba nicht aufheben und hierher schaffen können. Am Abhang erschienen ein paar lange, knochige Beine, unten nackt, in der oberen Hälfte mit einer zerschlissenen, kurzen Hose bedeckt. Dann folgte ein gewaltiger, weit vorgebeugter Bauch und dann über raschend schnell ein Kopf. Das war wirklich eine groteske Erscheinung. Zu den langen Beinen erwartete man unbedingt einen großen Oberkörper, und nun zeigte es sich, daß die ser nicht nur nicht den Beinen entsprach, sondern auch weit über das Normalmaß hinaus zusammenge drückt war. Der ganze Rumpf schien sich in den Bauch gesenkt und diesen unmäßig verbreitert zu 65
haben. Von Hals konnte überhaupt keine Rede sein, der Kopf saß unmittelbar auf den breiten Schultern. Dieser Kopf war freilich auch ein Gedicht für sich. Er ähnelte in seiner Gesamtform dem Rumpf, war so flachgedrückt wie dieser. Die Nase, ein pickelbesä ter, unförmiger Kolben, sprang weit aus dem Gesicht heraus und konnte gut und gern etlichen Vögeln als Sitzstange dienen. Die Stirn setzte außerordentlich flach an, die Augen darunter ähnelten kleinen Schweinsaugen, nur blitzten sie vor Lebendigkeit. Die Haut konnte man geradezu als rosig bezeichnen. Sie war völlig glatt, obgleich sie sicher nie ein Ra siermesser gesehen hatte. Ein verrücktes Bild von einem Mann. Beruhigend war, daß es in keiner Weise etwas Drohendes an sich hatte. Im Gegenteil, dieser Mann machte insgesamt einen so harmlos gutmütigen Eindruck, daß er ein fach nicht zu der rauhen Felsenumgebung passen wollte. Der Mann schnalzte mit den Fingern und bewegte die wirklich genügend großen Lippen. Sun Koh sank blaß auf sein Lager zurück. Die mädchenhafte Kinderstimme quoll aus dieser Kehle. »Na komm, mein kleines Lieblingleinchen, kriegst Zuckerchen…« Sun Koh öffnete die Augen erst wieder, als der Körper des Fremden die Öffnung verdunkelte. Jener 66
hatte wohl schon den Zettel am Boden bemerkt, denn seine Stimme zeigte keine Überraschung, sondern ausschließlich freudige Genugtuung, als er händerei bend sagte: »Hatte ich also richtig geschätzt. Das Bewußtsein kehrt zurück, und neues Leben blüht aus den Ruinen. Ich hoffe, daß mein Zettel Sie beruhigt hat. Ich mußte unbedingt mal ein Stück abseits vom Alltagsweg – na, Sie verstehen schon, und da hielt ich es für besser, Ihnen eine Nachricht zu hinterlas sen. Es muß ein unangenehmes Gefühl sein, so ge wissermaßen in einem fremden Haus zu erwachen und nicht zu wissen, ob man sich nicht versehen hat. Komm, Liebling, laß uns allein!« Das letzte galt dem Pinguin, der sich auf einen kleinen Klaps hin auch verzog. Sun Koh mußte wohl ein etwas merkwürdiges Gesicht gezogen haben, denn der andere fühlte sich zu einer Erklärung veran laßt. »Er ist wie ein Hund, und dabei ist er weiter nichts als ein Pinguin. Aber die Tiere sind so gelehrig wie kleine Kinder. Ich fand ihn vor einigen Monaten, als er noch jung war, dort hinten halb verhungert einge klemmt. Es hat lange gedauert, bis er sich an mich gewöhnt hat, aber jetzt kommt er sofort, wenn ich ihn beim Namen rufe. Gefällt Ihnen der Name Lieb ling nicht? Wissen Sie, meine Tante – sie wohnt vermutlich immer noch in Dublin – hatte einen alten Kater, den nannte sie auch Liebling. Wenn Sie das 67
Vieh kennen würden, den Kater natürlich, würden Sie finden, daß der Pinguin den Namen immer noch zehnmal eher verdient. Aber jetzt will ich Ihnen mal schnell die Suppe und das Fleisch fertig machen. Ei gentlich ist es ja schon fertig, weil ich mir dachte, daß Sie um die Zeit hochkommen würden, aber es muß doch erst ein bißchen angewärmt werden. Ein feines Süppchen, das Ihnen gut tun wird. Und ein Stück Hammelvogel ist auch nicht zu verachten. Übrigens, falls Sie mal das Bedürfnis haben sollten, mich zu ru fen – ich heiße John Pork. Rufen Sie mich einfach John, das genügt. Fühlen Sie sich nicht wohl?« Sun Koh war wie erschlagen von dem Sturzbach, den dieser Mann über ihn ergossen hatte. »Ich bin nur noch matt«, sagte er. »Ich heiße Sun Koh und die beiden hier sind Nimba und Hal Mer vin.« »Freut mich sehr, freut mich sehr, Sie kennenzu lernen. Bleiben Sie nur ruhig liegen. Selbstverständ lich sind Sie noch matt. Meine alte Tante war auch immer so matt. Bei ihr kam es sicher vom Alter, aber bei Ihnen ist das schon was anderes. Bleiben Sie nur ruhig, wie Sie sind. Die beiden anderen werden auch bald aufwachen, wenn ich nicht irre. Sie müssen sich ja furchtbar ausgepumpt haben. Wäre nichts für mich, wissen Sie, bin herzkrank. Der Arzt hat mir jede größere Anstrengung verboten. Hm, aber nun will ich erst mal…« 68
Er eilte mit seinen langen Beinen hinaus. Sun Koh dämmerte vor sich hin. Würziger Duft riß ihn irgendwann wieder hoch. John Pork stand mit teilnahmsvollem Grinsen vor ihm und hielt ihm eine dampfende Schüssel unter die Nase. »So«, sagte er freudestrahlend, »da ist das Essen. Zunächst ein Süppchen, um die Verdauungssäfte wieder anzuregen. Wollen Sie sich aufrichten? Sehen Sie, ich bin Ihnen gleich behilflich. Stützen Sie sich ruhig gegen die Rückwand. Hier ist der Löffel.« Der Löffel war übrigens schweres Silber, während die Schüssel mit der Suppe aus einfacher Emaille be stand. Die Suppe selbst schmeckte herrlich, paradiesisch. Dieser John Pork verstand sich aufs Essen. Die Grün de dafür teilte er auch inzwischen bereitwillig mit. »Schmeckt’s? Gut, sagen Sie. Das freut mich, freut mich sehr. Es ist nicht leicht, unter den gegebe nen Umständen eine Suppe zusammenzubrauen, wie Sie sie brauchen. Die Hilfsmittel sind gewissermaßen unzulänglich. So eine Suppe muß wie lockendes Feuer und zugleich wie die sanfte Ahnung kommender Genüsse durch den Körper gehen. Sie darf nicht reizen, nicht aufpeitschen und vor allem nicht sätti gen, sondern nur anregen, sanft streicheln. Die Suppe ist das Vorspiel, das den Magen in festliche Stim mung bringt. Wenn sie nichts taugt, sind alle nach 69
folgenden Gänge verdorben. Sie wundern sich viel leicht, daß ich so spreche? Sie müssen wissen, daß ich von Beruf Küchenmeister bin. John Pork hat ei nen guten Ruf, in aller Bescheidenheit zu sagen. Der Erzbischof von Canterbury wird es Ihnen jederzeit bestätigen. Ich war ein Narr, daß ich mich von Mister Rockman überreden ließ, in seine Dienste zu treten. Er zahlte gut, sehr gut sogar, aber – kennen Sie Rockman, den Amerikaner? Nicht? Es ist eben doch ein Unterschied, selbst wenn diese Leute noch soviel Geld haben. Es fehlt ihnen die feine Zunge. Sie es sen, aber sie genießen die Speisen nicht. Entschuldi gen Sie den Vergleich, aber ich bin mir oft vorge kommen wie ein Kunstmaler, der für den Gemüse händler an der nächsten Ecke das Firmenschild zu malen hat. Ich war ein Narr, und meine größte Narr heit war die, daß ich mich bereitfand, die Küche auf der Jacht dieses Rockman zu übernehmen. Der Himmel hat mich dafür gestraft. Die Jacht ist unter gegangen, und ich sitze nun hier und…« Er brach ab, denn eben richtete sich Nimba lang sam auf. Der Neger hatte nun einmal eine besondere Ader für das Essen, und der Geruch dieser Suppe konnte selbst einen Toten wecken. John Pork verzichtete auf weitere Erklärungen und brachte Nimba eine Schüssel. Da sich unmittelbar darauf auch Hal regte, lief er zum drittenmal. An schließend servierte er das Fleisch. 70
Keiner der drei konnte ermessen, welches fabel hafte Kunststück John Pork mit diesem Fleisch fer tiggebracht hatte. Sie genossen es dankbar als eine Delikatesse seltener Art. Erst viel später erfuhren sie, wie tranig und zäh Hammelvögel schmecken kön nen, wenn sie von einem Laien zubereitet werden. Übrigens, das mit dem Erzbischof von Canterbury stimmte. Pork war jahrelang sein Küchenmeister ge wesen. Der Erzbischof, ein Feinschmecker der alten Schule, hat es nie verwinden können, daß dieser Mann ihn verließ. Auch Sun Koh und seine beiden Leute fanden die Erzeugnisse John Porks hervorragend. Sie aßen, was er ihnen brachte, und hätten auch das Fünffache ge gessen. Aber John Pork wußte zuviel vom menschli chen Magen, als daß er diesen Erschöpften soviel gegeben hätte, wie sie wünschten. Er vertröstete sie wortreich auf später. Hal Mervin hörte sich die langen Reden des wun derlichen Mannes mit zunehmender Verwunderung an. Wenn Pork ihm zu Anfang eine Pause gelassen hätte, hätte er wohl dies oder jenes zu bemerken ge habt. Da der Küchenmeister des Erzbischofs von Canterbury jedoch unermüdlich schwatzte und ande rerseits Erschöpfung und Verdauungsmüdigkeit wirksam zusammen trafen, sank Hal wieder in den Schlaf zurück, ohne auch nur ein Wort geäußert zu haben. Das gleiche galt auch für Nimba. Die beiden 71
schliefen unmittelbar nach der Mahlzeit wieder ein. Nur Sun Koh blieb noch sitzen und horchte zu. Er stens war seine Natur belastbarer, und zweitens hoff te er gelegentlich einige dringend notwendige Erklä rungen zu bekommen. John Pork dachte jedoch nicht daran, sie zu geben. Er redete ununterbrochen über die nichtigsten Dinge, wobei er nicht versäumte, dann und wann Bezug auf seine alte Tante – die mit dem Kater – zu nehmen. Schließlich unterbrach Sun Koh: »Sehr interessant, Mister Pork. Aber wollen Sie mir nicht sagen, wo wir uns hier befinden?« Der andere sah ihn etwas verwirrt an, da er seine Gedanken eben bei ganz anderen Dingen gehabt hat te. Er ging jedoch bereitwillig darauf ein, das Thema zu wechseln. »Hm, wo wir uns befinden? Ja, das ist eine merk würdige Sache. Ich habe mich vergebens bemüht, einen Namen für diese Insel zu finden. Vielleicht be sitzt sie schon einen, aber man weiß das nie genau, weil…« »Wir befinden uns also auf einer Insel«, folgerte Sun Koh. »Wo haben Sie uns gefunden?« »Unten am Strand, unterhalb der Felsen«, erwider te Pork. »War ein reiner Zufall, daß ich dort hinunter kam. Meine alte Tante – die mit dem Kater – meinte freilich immer, es gäbe keine Zufälle, sondern…« »Sie trugen uns hierher?« 72
»Freilich. Dieser Neger hat ein ganz beachtliches Gewicht. Ich bin gewiß nicht…« »Sie sind ebenfalls als Schiffbrüchiger hier ge strandet?« John Pork blickte etwas verdutzt. »Hm, ja, das heißt, eigentlich wollte ich sagen, daß ich nicht gerade schwach bin. Aber es ist schon so, die Jacht von Rockman ging unter, und ich fand mich, als der Sturm zu Ende ging, auf dieser Insel. Das ist schon bald ein halbes Jahr her. Du lieber Gott, wie die Zeit vergeht. Ich hätte nicht gedacht, daß ich so lange leben würde.« »Anscheinend läßt es sich auf der Insel nicht schlecht leben?« »Es geht, Sir, es geht. Ich fand allerlei am Strand, als ich mich damals einzurichten begann. Ein Teil der Insel ist grün bewachsen, was meines Wissens hier unten nicht überall vorkommen soll. Pinguine gibt es, Hammelvögel und Albatrosse, außerdem Fi sche. Davon läßt sich schon zur Not leben. Wissen Sie, man muß sich den Verhältnissen anpassen und sehen, wie man sich alles erträglich einrichtet.« »Wie groß ist die Insel?« »Nicht groß, man kann sie ziemlich gut übersehen. Freilich ist es nicht leicht, von der einen Seite auf die andere zu kommen, man muß schon Bescheid wis sen. War ein reiner Zufall, daß ich dahinter kam. Ü berhaupt eine merkwürdige Insel, höchst merkwür 73
dig. Hm, hm…« Es trat etwas gänzlich Ungewohntes ein. John Pork hielt den Mund. Er setzte sich auf die wacklige Bank, blickte zu Boden und pendelte leicht mit dem Kopf hin und her. Offensichtlich grübelte er. Endlich blickte er auf, besorgt, forschend und zu traulich zugleich. Erstaunlich sachlich meinte er: »Hm, würden Sie es mir übelnehmen, wenn ich ein paar Fragen an Sie stelle?« Sun Koh spürte, daß der Mann etwas auf dem Herzen hatte, und gab freundlich zurück: »Durchaus nicht, fragen Sie nur!« Pork kratzte sich am rechten Ohr. Nach einer Pau se platzte er heraus: »Hm, Sie sind doch sicher ein vornehmer Herr?« Diese Frage verblüffte Sun Koh denn doch etwas. Er erwiderte lächelnd: »Ich weiß nicht, was Sie sich darunter vorstellen. Aber nehmen Sie an, daß es so ist.« »Es ist so«, bekräftigte Pork seine eigene Mei nung. »Ich sah es gleich. Wissen Sie, es ist so ein gewisses Etwas. Und außerdem haben Sie einen Körper – Sie verzeihen, aber ich mußte doch Ihre Sachen trocknen – einen Körper – hm, meine alte Tante – die mit dem…« »Lassen Sie Ihre alte Tante«, unterbrach Sun Koh freundlich. »Wollen Sie sonst noch etwas fragen?« Pork nickte schwer. 74
»Eigentlich ja. Sind Sie reich?« Es lag etwas in der Frage, das Sun Koh veranlaßte, ruhig und klar zu antworten: »Gewiß, ich zähle mich zu den reichsten Menschen der Erde, wenn man den Maßstab des Geldes anlegt.« John Pork atmete tief und wie befreit auf und fuhr fort: »Das ist gut, das ist ausgezeichnet. Nun erlau ben Sie mir noch eine Frage. Nehmen Sie bitte an, ich hätte hier in dieser Höhle fünf Millionen Pfund. Sie sind zu dritt und ich allein. Würden Sie mir von den fünf Millionen eine lassen, wenn ich Ihnen die anderen vier Millionen überlassen würde?« Sun Koh zog die Brauen zusammen und erwiderte sofort scharf: »Ihre Frage ist eine Beleidigung, John Pork. Wenn Sie fünf Millionen besäßen, so würden sie restlos Ihnen gehören und sonst niemandem.« Der andere erhob sich und murmelte demütig: »Ich wußte es, Sie sind ein großer Herr. Darf ich Sie nun bitten, sich wieder schlafen zu legen, während ich inzwischen für das Essen sorge? Ihr Körper ist noch erschöpft und…« »Wollen Sie mir Ihre merkwürdigen Fragen nicht erläutern?« Pork schüttelte den Kopf. »Ich bitte um Verzeihung, aber nicht jetzt. Ihr Körper bedarf der Ruhe. Später werde ich alles er zählen.« Sun Koh drängte nicht, er merkte, wie müde er 75
war. Also legte er sich zurück und schlief sofort ein. Das letzte, was er von John Pork bemerkte, war des sen flach gedrückter Hinterkopf. 4. Er erwachte wieder von dem heiseren Geschrei des Pinguins. Dieser suchte unruhig in der Höhle herum, schaukelte hinaus, kam mit vorgestrecktem Kopf zu rück und watschelte von neuem fort. Es sah gerade so aus, als suche er etwas. Von John Pork war nichts zu hören und nichts zu sehen. Die Nacht mußte vorbei sein. Sun Koh fühlte sich bis auf ein starkes Hungergefühl völlig in Ordnung. Die Müdigkeit war verschwunden, er mußte also ei nen langen Schlaf hinter sich haben. Sun Koh suchte unwillkürlich nach einem Zettel, aber Pork hatte keine Nachricht hinterlassen. Also erhob er sich und dehnte seine Glieder, dann trat er ins Freie hinaus. Die Höhle lag in der Seitenwand einer Rinne, die von der Höhe herunter zum Meer führte. Es wimmel te in ihr von mächtigen Felsbrocken, die einesteils die freie Sicht nach oben und unten hinderten, ande rerseits es aber für den Fremden außerordentlich er schwerten, den Eingang zu der kleinen Höhle zu fin den. 76
Zwischen zwei Blöcken entdeckte er eine kunstvoll gebaute Feuerstelle. Sie war kalt. Das ließ ihn unwill kürlich stutzen. Nach dem Sonnenstand näherte sich die Mittagsstunde. Pork schien aber nicht der Mann zu sein, der die leiblichen Bedürfnisse seiner drei Ge retteten einfach unberücksichtigt ließ. Merkwürdig, wie sich der Pinguin aufführte. Er machte fast den Eindruck eines Hundes, der seinen Herrn vermißte. Sun Koh hörte Geräusche hinter sich und wandte sich um. Nimba und Hal waren erwacht und standen in der Öffnung der Höhle. Sie strahlten beide über das ganze Gesicht. »Da sind wir ja scheinbar wieder auf alle vier Fü ße gefallen«, bemerkte der Junge grinsend. »Nur mit der Bedienung hapert’s. Ich habe einen mordsmäßi gen Hunger.« »Ich auch.« Nimba fletschte die Zähne. »Mir war, als hätte mir jemand schon mal zu essen gegeben, aber das habe ich wohl nur geträumt?« »Du hast tatsächlich gegessen«, stellte Sun Koh richtig. »Leider ist unser freundlicher Wirt jetzt nicht anwesend.« »War das der mit dem Schweinskopf und der Quadratschnauze?« erkundigte sich Hal. »Wenn du damit John Pork meinst, der uns hier aufnahm und uns zu essen gab, so ist die Frage wohl zu bejahen«, gab Sun Koh in leicht verweisendem Ton zurück. 77
Hal schämte sich. »Ich meinte es nicht so«, sagte er verlegen. »Ich weiß nur, daß er einen komischen Kopf hatte und viel redete.« »Er ist monatelang als Schiffbrüchiger hier ganz allein gewesen, da treibt es den Menschen zum Spre chen.« »Kommt er nicht bald?« fragte Nimba. »Mein Ma gen…« Er brach ab und zuckte zusammen. Sun Koh und Hal Mervin fuhren herum. Aus der Ferne drang ein langgezogener, gräßlicher Schrei zu ihnen herüber. Es war ein Schrei um Hilfe, ausgestoßen von einem Menschen, der sich in höch ster Todesnot befand. »Was war das?« flüsterte Hal, als der Schrei ver ebbte. »Ein Mensch in höchster Not?« murmelte Sun Koh immer noch lauschend. »John Pork?« deutete Nimba an. Zum zweitenmal schwoll der furchtbare Schrei hoch. Er kam aus der Richtung der Höhe, war aber viel weiter entfernt. Sun Koh straffte sich. »Wir müssen nachsehen. Pork muß etwas zuge stoßen sein. Fühlt ihr euch kräftig genug, um mitzu kommen? Sonst bleibt hier.« »Wir kommen mit«, erklärten beide einstimmig. 78
Zum drittenmal drang der Schrei, der in ein lang gedehntes Wimmern überging, an ihre Ohren. Sie stiegen die Rinne aufwärts. Es war gar nicht so leicht hochzukommen. Ständig mußten sie den gro ßen Trümmern ausweichen und sich springend über kleinere Geröllstücke den Weg suchen. Eine halbe Stunde brauchten sie, um das Gipfelstück zu errei chen, das sie von unten hatten sehen können. Der Pinguin begleitete sie übrigens nach besten Kräften. Bei anderer Gelegenheit hätte Hal wohl sei nen hellen Spaß an dem possierlichen Tierchen ge habt, aber augenblicklich war die Lage zu ernst. Über den geröllfreien Felsen, der immer noch an stieg, ging es langsam vorwärts. Dann mußten sie haltmachen. Sie standen vor einem steilen Abfall, der rund hun dert Meter in die Tiefe führte. Die Wand war nicht glatt und nicht senkrecht, und man konnte bei einiger Aufmerksamkeit wohl unbeschädigt hinunterkom men. Aber Sun Koh verzichtete einstweilen darauf. Die Stelle, auf der sie stehen blieben, stellte den höchsten Punkt der Insel dar. Von hier aus genoß man eine leidliche Übersicht über das Stück Land. Sun Koh wollte sich vor allem orientieren, bevor er weitersuchte. Die Insel, die immerhin einige Quadratkilometer Fläche deckte, war in zwei Hälften gespalten. Es sah aus, als habe man einen Gebirgszug mit einem ge 79
waltigen Keil auseinandergetrieben. An der höchsten Stelle der einen Hälfte stand Sun Koh. Fünfhundert Meter in der Luftlinie entfernt befand sich der höch ste Punkt der anderen Hälfte. Zwischen den beiden zog sich ein tiefer Graben, der beiderseits bis nahezu an das Meer heranreichte. Er war mit hellem Sand bedeckt, ein einförmiger, glatter Streifen, der sich zwischen den beiden Steinwänden hinzog. Von dort unten her konnte nach Sun Kohs Schät zung der Schrei gekommen sein, möglicherweise freilich auch von der Gegenseite. Jetzt war nichts mehr zu hören und nichts mehr zu sehen. Nach dem Meer zu sah man einige dunkle Punkte, aber das wa ren Vögel. Die Sandfläche selbst war völlig frei. Was sich im Rücken der anderen Gebirgshälfte verbarg, konnte man leider nicht sehen. »Wir müssen schon hinüber«, meinte Sun Koh. »Wahrscheinlich entdecken wir ihn von jener Anhö he aus. Wie steht’s mit euren Kräften?« Sie versicherten, daß sie sich nach der langen Ru he ausgezeichnet fühlten, und folgten Sun Koh in die Tiefe. Am Fuß des Abbruchs lag eine schmale Geröllzo ne, dann kam der Sand. Hal war zwei Schritte vor aus. Beim ersten fiel ihm nichts auf, aber beim zwei ten sank er bis zum Knöchel ein. »Feinster Seesand«, rief er zurück. »Das Zeug ist wie Mehl.« 80
Damit war er schon zwei Schritte weiter und geriet mit den Füßen noch etwas tiefer. Da rief Sun Koh mit einer Stimme, die die beiden an ihm noch gar nicht kannten: »Zurück, Nimba, zu rück!« Gleichzeitig fühlte sich Hal von hinten gepackt und mit einem Riesenruck aus dem Sand herausge rissen und auf das Geröll zurückgeworfen. Sun Koh selbst, dessen Beine bis an die Waden in den Sand geraten waren, warf sich mit dem Schwung gestreckt zurück, daß er längs auf dem Sand lag, bäumte sich mit gewaltiger Anstrengung hoch, überschlug sich und kam so mit den Füßen wieder auf festen Boden. Hal und Nimba blickten reichlich verdutzt zuerst auf ihn, dann auf den Sand. »Dieser Sand birgt eine furchtbare Gefahr«, er klärte Sun Koh. »Einige Schritte weiter, und wir wä ren erbarmungslos verloren gewesen. Es ist Treib sand.« »Davon habe ich schon gehört«, meinte Hal. »Da her kam er mir so fein vor. Er ist in ständiger Bewe gung, gibt keinen Halt, sondern zieht alles in die Tie fe herunter. Es ist so ähnlich wie bei einem Sumpf, nicht wahr?« »Ja«, bestätigte Sun Koh, »wie im Sumpf. Der Treibsand läßt nicht wieder los. Je mehr Anstrengun gen man macht, herauszukommen, um so tiefer sinkt man. 81
Wer in Treibsand gerät, ist verloren, wenn nicht Hilfe vom festen Land kommt.« Hal faßte ihn am Arm. »Sir, dann ist vielleicht vorhin dieser Pork…« Sun Koh nickte. »Die Schreie würden damit erklärt sein, daß er in den Treibsand geraten ist. Andere Bewohner der In sel gibt es kaum, sonst hätte er wohl davon gespro chen, gefährliche Tiere auch nicht. Nur – sollte er erst heute gemerkt haben, daß sich hier Treibsand befindet? Das würde mich wundern. Er sagte mir auch, daß es nicht so leicht sei, von einem Teil der Insel auf den anderen zu kommen, und daß man Be scheid wissen müßte. Demnach wußte er um den Treibsand.« »Vielleicht ist er aus Versehen darauf geraten?« »Das ist möglich. Doch nun wollen wir einen an deren Weg suchen, um hinüberzukommen. Dicht am Meer scheinen Felsen anzustehen. Machen wir also den Umweg.« Nimba fühlte seinen Magen. »Eigentlich brauchten wir doch gar nicht weiter zu suchen?« »Unsere Annahme kann auch falsch sein. Außer dem ist es gut, wenn wir uns drüben gleich umse hen.« Sie marschierten in der Geröllzone entlang, fanden zwischen Meer und Treibsand tatsächlich nackten 82
Fels und wechselten über ihn hinweg auf die andere Seite über. Dort stiegen sie in Sicht der Abbruchkan te mit dem Berg in die Höhe, um auch von dieser Seite den Rundblick zu gewinnen. Die Rückseite die ses Berges war ziemlich gleichmäßig kegelförmig, ohne große Verwerfungen – wenigstens auf dieser Seite, aber es gab auch hier wie drüben zahlreiche Trümmerblöcke. Sie waren ungefähr auf halber Höhe angelangt, als Sun Koh plötzlich stutzte. Er hielt ein, trat einen Schritt zurück und blickte forschend meerwärts. »Das ist doch…« Er vollendete nicht, denn plötzlich knallte ein Schuß. Er kam irgendwo hinter den Blöcken heraus. Die Kugel pfiff zwischen Sun Koh und Nimba hin durch. Eine Sekunde standen sie alle drei starr. Ein Schuß? Auf einer Insel, auf der dieser Pork monatelang mutterseelenallein gelebt hatte? Nimba fand über haupt keine Erklärung. Hal hatte einen Verdacht ge gen Pork, den er ihm später im stillen abbat. Sun Koh konnte als einziger eine vernünftige Beziehung schaffen. Er hatte auch als einziger das Vorderteil des Boo tes bemerkt. Deshalb war er stutzend stehengeblie ben. Fremde waren auf der Insel. 83
Peng – der zweite Schuß. Klatsch, splitterte die dritte Kugel auf dem Felsen. Von den Angreifern war nichts zu sehen. Es war zwecklos, sich hinzuwerfen. Es gab keine Deckung. Hinter den Felsbrocken lagen die unbe kannten Schützen. Sie schossen – ohne Anruf, ohne Warnung, ohne Forderung. Sie schossen schlecht, aber immer wilder. Wie Tiere standen sie hier auf Abschuß. »Fort!« schrie Sun Koh auf. »Zum Absturz!« Sein Ruf zerriß die Lähmung. Mit wilden Sätzen sprangen sie davon, verfolgt von einer ganzen Salve von Kugeln, die aus allen Richtungen heranzischten. Ein Wunder, daß noch keine getroffen hatte. Da war der Abhang. Kurz bevor sie ihn erreichten, brüllte in ihrem Rü cken eine wütende Stimme auf. »Verdammt – sind die Höllenhunde denn gepan zert?« »Langsam!« rief Sun Koh warnend. Mit plötzlicher Behutsamkeit schwangen sie sich hinter die Deckung, die sie den Schüssen der Angrei fer entzog. »Schnell hinunter!« wies Sun Koh weiter an. »Sie werden nachkommen und uns von oben beschießen. Aber paßt auf.« Es war eine Kletterpartie ums Leben. Sie rutsch ten, sprangen, stürzten, griffen mit Händen und Fü 84
ßen wie im Traum, ohne Willen und Verstand, nur mit der schnellen Intuition des Instinktes. Fünfzig Meter kamen sie hinunter, bevor über ih nen die ersten Köpfe erschienen, bevor die ersten Schüsse herunterknallten. Aber jetzt waren sie lange nicht mehr so gefährlich wie vorhin, denn die vorste henden Zacken boten einigermaßen Deckung. »Schießt, zum Teufel noch mal«, feuerte die wü tende Stimme von vorhin. »Wir werden die Höllen hunde schon noch kriegen.« »Das ist doch der Höllenhund!« rief Hal Sun Koh zu. »Ja«, bestätigte Sun Koh, »es ist der Kapitän der ›Bahia‹ mit einigen seiner Leute.« »Verflixt, da können wir uns auf was gefaßt ma chen. Die wollen Leichen sehen.« Es war tatsächlich Scarper, der Kapitän der »Ba hia«. Er hatte Sun Koh und seine Leute gewaltsam für sein Schiff pressen wollen und dabei die Erfah rung machen müssen, daß sich Sun Koh nicht so leicht gegen seinen Willen zwingen ließ. Der Kampf zwischen beiden war damals beendet worden, als der Eisberg das Schiff aufschlitzte. Scarper und seine Leute hatten sich in ein Boot gerettet, die ändern auf einen Eisberg. Und jetzt trafen sie zum zweitenmal aufeinander, aber unter Umständen, die für die drei erheblich ungünstiger waren. Sie besaßen keine Waf fen. 85
»Stop!« befahl die rauhe Stimme oben. »Ihr zwei klettert hier hinunter, ihr zwei dort, und die ändern bleiben mit mir hier, dann haben wir sie im Kessel. Schießt, sobald ihr dicht genug heran seid, auch wenn sie um Gnade winseln. Ihr wißt Bescheid.« Sun Koh und Hal waren unten in der Geröllzone angelangt und warfen sich unter einen überhängen den Block. »Der Kerl will uns kaltmachen«, keuchte Hal in verbissener Wut. Sun Koh wischte sich das Blut vom Handballen und untersuchte flüchtig die Wunde. Seine Stimme war beherrscht. »Er haßt uns. Wir müssen uns so gut wehren wie es geht. Da wir keine Waffen besitzen, müssen wir wenigstens versuchen, uns welche zu beschaffen o der zum Boot zu kommen, mit dem der Trupp hier gelandet ist.« »Sie kreisen uns ein, Sir«, teilte Nimba mit. Sun Koh nickte. »Natürlich. Seid ihr übrigens unverletzt? Wir ha ben Glück gehabt. Ja, Nimba, du hast es doch gehört. Sie schicken zwei Mann von jeder Seite am Geröll streifen uns entgegen, während die ändern von oben folgen. Ein regelrechtes Kesseltreiben. Sie wissen, daß wir nicht über den Sand können.« Der Junge war weiß vor Erregung. »Es ist glatter Mord. Ich gäbe zehn Jahre meines 86
Lebens für eine anständige Pistole.« »Sie fordern alle Jahre deines Lebens dafür, daß du keine hast, Hal. Nehmen wir diese Seite. Wir wol len versuchen, uns möglichst nicht sehen zu lassen.« Vorsichtig schlichen sie aus ihrem Versteck heraus. Der Plan war klar. Wenn es gelang, die zwei Mann auf der Geröllzone unschädlich zu machen und ihnen die Pistolen abzunehmen, dann sollte Scarper sehen, wo er blieb. Aber der Plan beruhte darauf, daß man sich den Blicken der Gegner wenigstens für eine Weile ent ziehen konnte. Das gelang leider nicht. Sie wurden bemerkt, kaum daß sie den überhängenden Stein ver lassen hatten. Und sie fanden so wenig Schutz, daß sie ständig unter den Augen der ändern blieben. Die se schossen augenblicklich nicht, aber offensichtlich taten sie es nur darum nicht, weil sie die günstigere Gelegenheit schon voraussahen. Scarper selbst bewegte sich mit zwei Leuten am Abhang schräg vorn. Er kam immer näher. Ein Über rennen war nicht möglich, dazu bot das Gelände er stens zu große Schwierigkeiten, und zweitens war die Entfernung zu gering. Die Leute oben konnten jeden Augenblick mit bestem Erfolg losballern. Wenn nur der Sand begehbar gewesen wäre. Nimba stieß einen Ruf aus. Sun Koh sprang zu ihm hinüber. Zwischen zwei Steinen eingekeilt lag John Pork, 87
der Küchenmeister des Erzbischofs von Canterbury. Seine Glieder waren grauenhaft verschränkt, sein Gesicht hatte alle Farbe verloren, die linke Schulter war mit Blut verkrustet. Tot? Nein, er lebte noch, das Herz schlug matt wie aus weiter Ferne. Ob er jedoch noch lange am Leben bleiben würde, war ungewiß. Sun Koh untersuchte behutsam, ohne sich um die immer näher anrückenden Feinde zu kümmern. Beide Beine gebrochen, der linke Arm ebenfalls. Im Rücken, ziemlich in der Nähe des Herzens, klaff te eine Stichwunde. Das andere waren Verletzungen von geringerer Natur. Von hinten erdolcht – das sah nach Scarper aus. Verbrecherische Schufte. »Sir, wir müssen weiter«, erinnerte Hal. Sun Kohs Gesicht war steinern. »Wir können nicht weiter. Wenn es uns gelingt, durchzubrechen, dann müssen wir wahrscheinlich mit dem Boot fort. Dieser Mann, der uns rettete, braucht jedoch Hilfe. Wir können ihn nicht zurück lassen, denn die Leute lassen ihn einfach umkom men.« »Ja, aber…« »Wir werden den Kampf an Ort und Stelle austra gen.« Hal war förmlich verzweifelt. 88
»Wir können doch nicht kämpfen, Sir. Wir haben keine Waffen.« »Unsere Waffe ist die Nacht. Wir bleiben hier. In unserem Rücken ist der Treibsand, von dort können sie nicht angreifen. Es genügt, daß wir uns einen Wall schaffen, der uns gegen Schüsse von oben und von der Seite schützt. Mögen sie ruhig bis an diesen herankommen. Wir halten uns gedeckt, bis die Nacht da ist. Und dann werden ihnen die Waffen nichts mehr nützen.« Hal und Nimba waren nicht dumm und begriffen, was Sun Koh wollte. Tatsächlich, wenn es die andern nicht auf einen Kampf Brust gegen Brust ankommen lassen wollten, dann konnten sie ihnen wenig anha ben. Schweigend griffen sie nach den Blöcken. Das Ge lände war günstig, sie brauchten nur noch einige Lü cken auszufüllen. Da sie ein Stück von der Wand entfernt waren, bekamen sie genügend Schutz, wenn sie sich flach gegen die Blöcke preßten. Sun Koh hob den Schwerverletzten behutsam aus der Spalte heraus und legte ihn an die geschützte Stelle. Mehr konnte er zunächst nicht für ihn tun. Scarper und seine Leute begriffen wohl zunächst überhaupt nicht, was die drei beabsichtigten. Sie lie ßen sie ungestört das Notwendigste tun. Es war zu spät für sie, als Scarper endlich die Erleuchtung kam und er wütend ausrief: »Ah, die Höllenhunde wollen 89
sich doch verschanzen? Verdammt, sie haben bei dem Kerl Waffen gefunden. Zurück, die Schweine können schießen!« Er hastete nach oben, und seine Leute folgten ihm, die auf der Geröllzone stoppten ab. Der Ausruf hatte Sun Koh aufmerksam gemacht. Waffen bei Pork? Nein, der Mann trug keine Pistole bei sich. Er hatte es sicher getan, das bewies sein Gürtel, aber die Waffe selbst war verschwunden. Immerhin, die Lage war durch den Verdacht Scar pers überraschend günstig geworden. Man hatte plötzlich Luft. Und man hatte Zeit gewonnen. Zeit war alles. Die Nacht würde die Rettung bringen. Und doch änderte Sun Koh nach wenigen Minuten seinen Plan völlig. »Das dumme Tier«, meinte Hal Mervin plötzlich mitleidig und wies über den Treibsand hinweg. »Es läuft in den sicheren Tod.« Sie blickte hinüber. Von drüben watschelte der Pinguin heran. »Er hat uns bemerkt, vielleicht spürt er auch Pork, und kommt nun direkt auf uns zu.« Sun Koh reckte den Kopf weit vor. »Täuscht mich die Perspektive? Diese glatte Stre cke läßt sich im Liegen schlecht übersehen, aber mir kommt es vor, als sei der Pinguin schon fast in der Mitte?« 90
Nimba sprang blitzschnell hoch und warf sich wieder nieder. »Er ist in der Mitte, Sir.« Sun Koh sah ihn streng an. »Sehr leichtsinnig von dir, es auf diese Weise fest zustellen. Er ist in der Mitte? Das ist…« »Er müßte doch schon längst eingesunken sein?« »Er ist eingesunken«, meldete Hal, »aber nur mit den Füßen. Sehen Sie, wie er sie immer wieder he rauszieht?« »Ich sehe es, aber das gibt es nicht. Er muß einsin ken und versinken, genau wie jedes andere Lebewe sen, wenn das Treibsand ist.« Wie ein Schlag ging es durch seinen Körper. »Wenn das Treibsand ist?« wiederholte er tonlos. Plötzlich griff er nach einem flachen Stein und warf ihn ein Stück hinaus auf den hellen Sand. Der Stein fiel flach auf und versank zusehends. »Es ist Treibsand«, stellte Sun Koh dumpf fest. »Und doch kommt der Pinguin herüber?« »Der Stein ist vielleicht zu schwer?« mutmaßte Hal. »Ein Pinguin ist noch viel schwerer.« Hal nahm den Pistolenhalfter, den Sun Koh von Porks Gürtel abgeschnallt hatte, und warf ihn im weiten Bogen auf den Sand. »Unfug«, brummte Nimba mißbilligend. »Er sinkt«, stellte Hal enttäuscht fest. 91
Sun Koh erwartete nichts anderes, aber er beo bachtete doch die Tasche. Und da fühlte er sich plötzlich veranlaßt, sich über die Augen zu wischen. »Sie sinkt nicht weiter?« flüsterte er. Sie sank nicht weiter. Die Schnalle blieb sichtbar, allen Erwartungen zum Trotz. Das konnte nur eines bedeuten, nämlich, daß sich an dieser Stelle fester Boden dicht unter der Sandoberfläche befand. »Vielleicht läuft das Gelände hier so flach in den Sand hinein?« warnte Nimba mißtrauisch. Sun Koh warf einen größeren Stein dicht neben die Tasche. Der Stein versank, blieb aber in seinem Oberteil sichtbar. Nun begann ein Spiel voll ernste ster Spannung. Ein Stein, der ungefähr einen Meter von der Tasche seitlich aufschlug, verschwand rest los. Die Annahme Nimbas konnte also nicht stim men. Nach einigen Steinwürfen hatten sie festge stellt, daß sich von der Geröllzone aus eine fast einen halben Meter breite Felsenzunge unter der Sanddek ke fortzog. »Damit sind wir gerettet«, sagte Sun Koh schlicht. »Der Pinguin läuft nicht auf Treibsand, sondern auf dem Felsenband, das sich quer herüberzieht. Wahr scheinlich hat er den Weg mit Pork zusammen schon mehr als einmal gemacht.« »Er hat einen Orden verdient«, meinte Hal. »Ge hen wir gleich los, Sir?« Sun Koh nickte. 92
»Ja, Scarper und seine Leute haben sich glücklicher weise zurückgezogen. Bevor sie herunterkommen, sind wir außer Schußweite. Hal, du gehst als erster, und zwar von der Tasche aus in gerader Linie zum Pinguin und weiter zur anderen Seite. Hoffentlich macht das Band keine Kurven. Du, Nimba, gehst hinter Hal in ei nigen Metern Abstand. Falls er doch versinkt, greif vorsichtig zu. Ich folge als letzter mit Pork.« »Sie wollen…?« »Vorwärts«, befahl Sun Koh. Hal ging los, die ändern folgten programmgemäß. Sie kamen ein Stück auf das Band hinaus, bevor sich Scarpers Leute regten. Und dann waren es keine Schüsse, die sie von sich gaben, sondern höhnisches Gelächter und lästerliche Glückwünsche für die ewi ge Reise. Die drei ließen sich nicht beirren, sondern eilten vorwärts. Sie sanken nicht mehr als knöcheltief ein, dann hatten ihre Füße den Felsen unter sich. Ja, man konnte bald sogar den Verlauf des Bandes erkennen. Das Licht brach sich auf der dünnen Sandschicht an ders als im umgebenden Treibsand. Unwillkürlich begann Hal, der auf einige Meter voraus immer gute Übersicht hatte, zu laufen. Die anderen hielten mit. Jetzt stutzten die Leute von der »Bahia«. »Verdammt«, rief einer, »die sinken doch gar nicht ein?« 93
Anschließend schwirrten Mutmaßungen auf. Scar per schäumte hoch, die ersten Schüsse knallten, und die Leute kamen den Absturz herunter. Die drei kümmerten sich nicht übermäßig darum. Im ersten Drittel des Wegen begegneten sie dem Pinguin, der sie mit schief gelegtem Kopf anschrie und dann, als sie ihn vorsichtig umgangen hatten, ihnen folgte. »Schneller!« rief Sun Koh von hinten, als er be merkte, daß die Leute von der Geröllzone dem Meer zustrebten. Hal beeilte sich. Es wurde ein regelrechter Schnelllauf. Sie kamen glücklich hinüber. Dann standen sie vor dem schwersten Stück, nämlich dem Absturz. Zum Meer konnten sie nicht mehr, denn dort wechselten schon die Leute Scarpers über. Für Hal und Nimba war der Anstieg nicht übermäßig schwer, aber Sun Koh hatte Pork im Arm und mußte sich mit einer Hand über die schwierigen Stellen hinaufhelfen. Seine stählerne Kraft und völlig Schwindelfreiheit siegten. Meter für Meter zog er sich nach oben. Nimba hielt sich unauffällig hinter ihm, aber es wäre nicht nötig gewesen. Der Rest war ein Kinderspiel. Im Laufschritt eilten sie den Einschnitt des Berges zwischen den Blöcken hinunter bis zur Höhle. Während Sun Koh den Verletzten sorgfältig bette 94
te, durchstöberten seine beiden Leute die Höhle. Sie fanden, was sie suchten. »Essen!« rief Nimba triumphierend und schwenkte einen Topf, in dem er schon vorbereitetes Fleisch ge funden hatte. Er fand übrigens gleich darauf noch mehr, Pork hatte sich im Hintergrund der Höhle ei nen ganz hübschen Vorrat zugelegt, sogar einige Konserven waren dabei. »Waffen!« schrie Hal ein wenig später freudig auf und zerrte einen Kasten unter dem Regal heraus, si cher eine frühere Seemannskiste, die eine Pistole und eine Winchesterbüchse nebst einer beachtlichen Menge Munition barg. Beide Waffen zeigten Spuren von Wasser und Vernachlässigung – vermutlich verstand Pork nicht viel davon – aber sie waren ge brauchsfähig. Sun Koh nickte den beiden freudig zu, als er die Waffen sah. »Das ist fein, nun können die Leute angreifen. Hal, du legst dich draußen hinter die Blöcke und ü bernimmst vorläufig die Wache. Nimba sorgt für Es sen. Aber vor allem brauche ich Wasser.« »Wasser ist da«, sagte Nimba. »Draußen fließt et was unterhalb ein Rinnsal. Ich bin gleich wieder da.« Er zog mit einer Schüssel los und kehrte eine Wei le später mit Wasser wieder. Sun Koh wusch damit die Wunden des Mannes aus, soweit sie nicht verkru stet waren, und legte einen Verband an. Dann schien 95
te er mit den gespaltenen Brettern der wackligen Sitzbank die gebrochenen Knochen Porks kunstge recht ein. Dieser erwachte unter Schmerzen und stöhnte auf. Sun Koh wusch ihm nun das Gesicht und die kleine ren Wunden aus, und als Pork die Augen aufschlug, setzte er das Wasser an die Lippen. »Haben Sie Durst, Mr. Pork?« fragte er freundlich. Der Verletzte trank einige Schlucke und murmelte dann undeutlich: »Wo – ist das die Höhle?« »Ja.« Sun Koh nickte. »Wir haben Sie in Sicher heit gebracht.« »Die anderen?« »Können Ihnen nichts mehr tun. Sie wollten uns fangen, aber Ihr Pinguin zeigte uns rechtzeitig den Weg über den Treibsand. Doch sprechen Sie nun nicht mehr, das hat später Zeit. Sie müssen schla fen.« »Schlafen?« hauchte Pork. »Ich – ich muß ster ben.« »Unsinn«, erwiderte Sun Koh bestimmt. »Ein Mann von Ihrer Natur stirbt nicht an diesen Verlet zungen.« Sun Koh hatte selbst den Eindruck, daß Pork nicht mehr viele Stunden vor sich hatte. Die Wunde hatte ihm zuviel gesagt. Aber er hielt die barmherzige Lü ge für erlaubt. Pork ließ sich nicht beeinflussen. 96
»Ich muß sterben«, beharrte er. »Meine alte Tante – Sie wissen, die mit dem Kater, sagte immer…« Er machte eine Pause vor Erschöpfung. Sun Koh wartete eine Weile und lauschte besorgt auf den stoß weisen und doch matten Atem. Dann ging er auf Ze henspitzen davon. Er hatte noch nicht zwei Schritte hinter sich, als ihn Pork zurückrief. Seine Augen waren weit offen und glänzten unnatürlich. Die Mattigkeit schien von ihm abgefallen zu sein. Fast wirkte es wie neues Le ben und war doch nur das letzte Aufflackern eines verlöschenden Lebens. »Warten Sie, Sir«, bat der Schwerverletzte, »ich muß Ihnen noch etwas sagen, bevor ich sterbe. Las sen Sie mich reden, ich weiß, daß ich nicht mehr viel Zeit habe.« »Sie strengen sich unnötig an.« »Lassen Sie es! Ich dachte, ich hätte später Zeit da zu, aber da wußte ich nichts von den Leuten. Ich machte gerade einen Rundgang, gestern, da sah ich sie landen. Es waren Schiffbrüchige, und ich fühlte mich verpflichtet, mich bemerkbar zu machen. Sie hatten Hunger, und ich half ihnen, damit sie essen konnten. Ich hielt sie für verwildert und merkte zu spät, daß es schlechte Menschen sind. Ich war ein Tor.« »Warum wurden Sie verwundet?«
Pork stöhnte.
»Ich schwatzte zuviel, machte ihnen Andeutungen.
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Darauf wollten sie Genaues wissen. Ich wehrte mich, weil ich ihnen schon nicht mehr traute. Sie zwangen mich, und als sie gefunden hatten, was sie wollten, lachten sie mich aus und stießen mich den Berg hin unter.« Er schien noch immer nicht zu wissen, daß es ein Stoß mit einem Messer gewesen war, der ihn getrof fen hatte. Schwer atmend fuhr er fort: »Es sind Schufte, des halb sollen sie das Gold nicht haben. Es ist mein Ei gentum, ich habe es gefunden. Ich mache Sie zu meinem Erben, hören Sie. Meine alte Tante – sie ist gestorben, sonst habe ich keinen Menschen. Nehmen Sie das Gold, lassen Sie es den anderen nicht, Sie werden wissen…« »Sie werden noch selbst über Ihr Eigentum bestimmen, wenn Sie wieder gesund sind«, beruhigte Sun Koh. »Ich werde sterben«, murmelte der andere. »Sie sind nicht neugierig, aber Sie werden es auch allein finden. Auf der anderen Seite, ziemlich weit oben am Bein – es ist ein Stein – äh, Sie haben mich…« Die Stimme verlor sich in undeutliche Laute. John Pork versank in einen Dämmerzustand. Nimba brachte sein schnell fertiggestelltes Essen. »Sie kommen von unten herauf, Sir«, berichtete er. »Es ist besser, wenn wir erst mal schnell essen. Hof fentlich schmeckt’s Ihnen.« 98
»Hast du Hal schon versorgt?« »Ich habe ihn noch nie soviel essen sehen.« Sun Koh langte zu. Nimbas Künste hielten freilich mit denen von Pork keinen Vergleich aus, aber Sun Koh war hungrig und legte augenblicklich mehr Wert auf Masse als auf Qualität. Draußen peitschte der erste Schuß. Der helle Ton verriet die Büchse. Ein ferner Schrei folgte, dann mehrere Pistolenschüsse. »Hal hat den ersten Treffer«, bemerkte Sun Koh gleichmütig und aß weiter. »Die anderen sind minde stens noch hundert Meter weit.« »Wenn sie klug sind, gehen sie noch ein Stück zu rück außer Schußweite und versuchen uns auszuhun gern.« Sun Koh zuckte mit den Schultern. »Sehr fraglich, denn vorläufig werden sie das für einen Zufallstreffer halten. Sie wissen nicht, wie wir schießen. Und Scarper ist darauf angewiesen, uns zu töten, je schneller, um so besser.« »Daß der Mann uns so übermäßig haßt?« wunder te sich der Neger. Sun Koh schob die leere Schüssel weg. »Sein Haß ist vielleicht doch nicht so groß.« »Ja, aber…?« »Ich irre mich selbst«, gestand Sun Koh. »Jetzt weiß ich, daß Gold im Spiel ist. Auf der Insel befin det sich ein Goldschatz oder ähnliches, den Pork ent 99
deckt hat. Er gab seine Kenntnis an Scarper weiter. Alles weitere wird aus dem Charakter dieses Mannes klar. Er machte Pork unschädlich und wird uns nun töten wollen, weil er in uns Leute sieht, die ihm den Besitz streitig machen könnten. Deshalb ließ er ein fach auf uns schießen, als er uns erwischte.« Nimba zog die geladene Pistole aus der Tasche. »Diesmal werden wir ihn erwischen. Ich will gleich mal sehen…« Sun Koh nahm ihm die Waffe aus der Hand. »Kümmere dich um die nächste Mahlzeit, Nim ba!« »Auch gut«, meinte der, »Sie treffen besser als ich. Es ist nur schade…« »Was?« Der Neger wurde verlegen. »Hm, Sir, Sie gehen immer nur auf Verletzung aus, aber bei den Kerlen wäre es besser…« »Beruhige dich«, erwiderte Sun Koh ernst. »Men schenleben sind im allgemeinen zu kostbar, um sie unnötig zu beseitigen, aber in diesem Falle werde ich keine Rücksicht nehmen. Wir können hier keine La zarettstation für ein halbes Dutzend Verbrecher ein richten und sie gesund pflegen, damit sie uns nach einigen Wochen heimtückisch von neuem überfallen. Es ist unbestimmt, wie lange wir auf der Insel zu bringen müssen, und der Lebensraum ist hier ohne hin eng.« 100
Er ging hinaus und ließ einen sichtlich beunruhig ten Nimba zurück. Dieser war wahrhaftig nicht blut dürstig, er trug nur den gesunden Instinkt der Ab wehr in sich. Und Sun Koh war wirklich manchmal zu behutsam mit solchen Verbrechern. Als Sun Koh aus der Höhle trat, zog Hal zum zweitenmal durch. Die aufschnellende und zusam menbrechende Gestalt eines Mannes bewies, daß er wieder getroffen hatte. Verschiedene Schüsse knallten zurück. Sie waren sinnlos, denn an einen Treffer war nicht zu denken, da die Leute bereits auf erheblich kürzere Entfernung ihr Ziel verfehlt hatten. »Ich glaube, den habe ich erwischt«, sagte Hal, der sich zwischen einigen Blöcken eingebaut hatte und weder von oben noch von unten zu sehen war. »Den ersten konnte ich nur verwunden, sicher nicht schwer, denn er kommt mit heran.« »Es ist besser, wenn du vorläufig nicht schießt«, meinte Sun Koh. »Wir wollen sie erst noch ein Stück heranlassen, damit ich auch mit der Pistole sicheres Ziel habe. Wo sind die Leute?« »Es sind insgesamt sieben, vier kommen von un ten, drei von oben. Bei diesen ist Scarper, ich konnte ihn aber noch nicht richtig fassen. Er deckt sich gut. Unten sind jetzt nur noch drei, sehen Sie, dort…« Er erläuterte ausführlich die Lage der einzelnen Angreifer, so daß Sun Koh sehr bald deren Bewe 101
gungen verfolgen konnte. Sie kamen langsam näher und achteten sorgfältig auf Deckung. Nur ab und zu war etwas von ihnen für kurze Zeit zu bemerken. Sie waren wohl durch die beiden Schüsse Hals gewarnt worden. Schwer hatten sie es ja nicht, denn die zahl reichen Blöcke boten ausgezeichneten Schutz. Ihr Plan war klar. Sie wollten weiter heran, um die zahlenmäßige Überlegenheit ihrer Schußwaffen wirksam zur Geltung bringen zu können. Eine Stunde verging. Die Landschaft träumte friedlich dahin. Nichts verriet, daß sich hier Menschen auf Tod und Leben beschlichen. Dann peitschte der erste Pistolenschuß von oben herunter. Scarper hatte den Kampf eröffnet. »Du unten, ich oben«, wies Sun Koh an. »Nur schießen, wenn du sicher treffen kannst. Je länger wir schweigen, desto unvorsichtiger werden sie.« Sie warteten auf ihre Gelegenheit. Dann und wann rollte der Knall eines Schusses an den Wänden hoch, aber die Kugeln schlugen planlos gegen die Felsen. Die Angreifer wußten wohl überhaupt nicht genau Bescheid, wo die Verteidiger lagen. »Sie suchen uns«, sagte Hal. »Soll ich ihnen mal einen kleinen Wink geben? Sie pfeffern sonst Nimba die Höhle voll.« Sun Koh nickte. Der Junge zog seine Jacke aus, legte sie über den 102
Büchsenlauf und schob diesen aus der Deckung her aus. Ein uralter Trick, aber die anderen fielen darauf herein. Eine Salve knatterte los. Einer der Männer auf Scarpers Seite war unvor sichtig genug, seinen Kopf zu zeigen. Als er wieder verschwand, trug er ein kreisrundes Loch in der Stirn. Die Schüsse folgten eine Zeitlang wütend hinter einander, dann kamen Sun Koh und Hal fast gleich zeitig zum Schuß. Sun Koh erwischte eine rechte Schulter, Hal eine Schädeldecke. Von da an blieb es oben still, nur von unten her knallte es zögernd und mit größeren Unterbrechun gen weiter. Hal schoß wieder. »Ich glaube, das war ein Streifschuß am Arm«, teilte er bedauernd mit. Plötzlich bemerkte Sun Koh einen Mann weit o ben, wo das Geröll aufhörte. Er entfernte sich im Laufschritt und verschwand hinter dem Absturz. »Das war doch Scarper?« meinte Sun Koh über rascht. »Gibt er den Kampf auf oder…?« Die beiden, die von unten her geschossen hatten, mußten ihren Anführer ebenfalls bemerkt haben, denn sie riefen sich etwas zu. Scarper konnte sie je doch kaum hören. Eine ganze Weile später wurde er am unteren En de der Geröllrinne sichtbar. Er feuerte einen Schuß 103
ab und winkte. Daraufhin bewegten sich die beiden Leute rückwärts. »Das sieht fast nach Flucht aus«, murmelte Hal. Sun Koh stand auf und zeigte sich, aber die beiden machten nicht kehrt. »Möglicherweise ist ihnen die Munition knapp ge worden. Vielleicht hat er auch eingesehen, daß er nicht so leicht herankommen kann, und will sich nun auf die Verteidigung der anderen Hälfte, auf der sich der Schatz befindet, beschränken? Bleib du für alle Fälle hier, ich will mich von oben aus umsehen.« Er eilte hinauf, achtete dabei aber auf Deckung, da sich noch ein Mann vor ihm befinden mußte. Ein Schuß fiel nicht, dafür aber scholl ihm schon aus ei niger Entfernung eine Stimme entgegen: »Verdammt sollt ihr sein, wenn ihr einen Wehrlosen abknallt. Ich habe keine Waffe mehr.« Der Mann hatte ihn wohl kommen sehen. Er lag auf der Erde, mit dem Rücken leicht angelehnt, und blickte durch eine Spalte zwischen zwei Blöcken dem Herankommenden verbissen und unsicher ent gegen. »Über das Verhalten gegenüber einem Wehrlosen mußt du dich einmal mit Pork unterhalten«, sagte Sun Koh kalt. »Wo ist Scarper hin?« Der Seemann stieß einen schauderhaften Fluch aus. »Er hat mir die letzten Patronen aus dem Magazin 104
genommen und ist davon. Er will mir bald Hilfe brin gen, aber wie ich den Höllenhund kenne, läßt er mich hier verrecken.« »Was hat er für Absichten?« »Was weiß ich«, knurrte der andere. »Euch zu er ledigen natürlich. Verdammt, meine Schulter, ihr habt mich zum Krüppel geschossen.« Es war vermutlich nur eine Fleischwunde, allen falls hatte die Kugel den Knochen mit angeritzt. Ernsthafte Gefahr bestand nicht. »Ich hoffe, daß du mir daraus keinen Vorwurf ma chen willst«, erwiderte Sun Koh gleichgültig. »Bleib hier sitzen, sonst kannst du schnell noch zu einem Fangschuß kommen.« Der Mann verfluchte die Welt und die Stunde sei ner Geburt. Sun Koh schritt weiter. Im Vorbeigehen warf er einen Blick auf den Mann mit dem Kopf schuß. Er lag still und steif. Von der Höhe aus sah er Scarper mit den beiden anderen gerade auf die jenseitige Inselhälfte über wechseln. Sie schienen es eilig zu haben. Sun Koh folgte. Er stieg jedoch nicht sofort in die Tiefe, sondern rannte am Rande des Abbruchs den Berg hinunter bis ans Meer und folgte dann dem Strand. Ein neuer Gedanke war in ihm aufgetaucht. Und kurz darauf fand er ihn bestätigt. Seine Augen sahen das Boot, in dem Scarper mit 105
seinen Leuten gelandet war. Es schwamm schon ein ganzes Stück weit draußen. Vier Leute saßen darin. Der Wind stand voll gegen das geblähte Hilfssegel. Scarper hatte die Insel verlassen. * »Der Gedanke, daß Scarper freiwillig die Insel ver lassen könnte, kam mir erst im letzten Moment«, sagte Sun Koh später zu seinen beiden Leuten. »Ich konnte ihn nicht mehr erreichen. Schließlich genügt es ja auch, daß er fort ist.« »Dann hat er den Schatz mitgenommen?« fragte Hal. »Sicher hat er ihn schon im Boot gehabt, denn oh ne ihn wäre er kaum so schnell abgefahren. Er hat eingesehen, daß er uns nicht beikommen kann, muß te eher das Gegenteil fürchten und brachte daher sich und den Schatz in Sicherheit.« »Und seine Leute ließ er einfach im Stich.« Sun Koh hob die Schultern. »Ich glaube nicht, daß er deshalb Gewissensbisse hat.« »Er hält sie und uns für gut aufgehoben«, brummte Nimba. »Wenn hier alle hundert Jahre einmal ein Schiff anläuft, hat er wenig zu fürchten.« Die beiden anderen nickten zustimmend. Und doch täuschten sie sich gerade in diesem 106
Punkt. Es sollte sich bald zeigen, daß Scarper nicht geflohen war, weil er glaubte, die Zurückbleibenden würden für alle Ewigkeit auf der Insel bleiben, son dern weil er wußte, daß sie diese bald verlassen wür den. »Na«, meinte Hal. »er hat sein Schäfchen aber auch noch nicht im trockenen. Bis zum Festland ist es weit, und wenn der Himmel ein Einsehen hat, läßt er einen tüchtigen Sturm über das Boot kommen. Haben Sie eigentlich eine Ahnung, wo wir uns be finden, Sir?« Sun Koh schüttelte den Kopf. »Das ist schwer zu sagen, vermutlich südlich oder westlich von Neuseeland. Es gibt da eine Reihe von Inseln, die ständig unbewohnt sind. Wie geht es üb rigens Pork?« »Er schläft noch immer«, antwortete Nimba. »Es sieht aus, als würde er nicht wieder aufwachen.« Sun Koh trat in die Höhle ein. Durch das Halb dunkel leuchtete das weiße Gesicht des Schwerver letzten. Es sah merkwürdig friedlich aus. Der Mund war wie bei einem Schläfer leicht geöffnet. Sun Koh brauchte sich nicht erst über das Herz zu beugen, um die Wahrheit zu wissen. John Pork war tot. Eine Seele von Mensch und ein Künstler seines Faches war dahingeschieden. Sinnend verharrte Sun Koh minutenlang neben 107
dem Toten, dann wandte er sich wieder hinaus. »John Pork ist gestorben. Wir wollen ihn begra ben, aber zuvor müssen wir uns um Scarpers Leute kümmern.« Sie hatten bis zum Abend zu tun. Grablöcher konnten sie nicht schaufeln, selbst unten am Meer nicht, wo der Fels auch nur von einer dünnen Hu musschicht bedeckt wurde. So begnügten sie sich mit Steingräbern, mit langgestreckten Pyramiden größe rer und kleinerer Trümmerstücke, die sie über die Toten häuften. Die beiden Angreifer, die nur verletzt worden wa ren, wurden an die Höhle gebracht. Man begnügte sich, ihnen die Füße zusammenzubinden. Sie waren zuerst, wie es ihrer Natur entsprach, reichlich groß mäulig, aber als Nimbas Faust ein paarmal ganz aus Versehen in ihre Nähe geriet, wurden sie zahm und still. Die Nacht verging ohne Störung. Am nächsten Morgen brach Sun Koh mit seinen beiden Leuten wieder auf, um die Insel gründlicher zu untersuchen. Der Pinguin, der sich seit der gestri gen Schießerei nicht wieder sehen gelassen hatte, schloß sich ihnen an. Sun Koh war bald davon überzeugt, daß man auf der Insel keine Not zu leiden brauchte. Es gab an den seitlichen Abhängen des Berges Plätze, an denen es von Pinguinen und Hammelvögeln geradezu wim 108
melte. Auch Albatrosse machten sich zahlreich be merkbar. Wenn das Fleisch dieser Tiere auch nicht gerade rühmenswert war, so hatte schon Pork bewie sen, was man damit anfangen kann. Und vor allem – es stillte den Hunger. Erst nach Stunden näherte sich Sun Koh allmäh lich vom Meer aus der jenseitigen Anhöhe. In Erin nerung an die letzten Worte Porks suchte er nach ei nem Sinn, der Ähnlichkeit mit einem Bein haben konnte. Er fand ihn ungefähr hundert Meter vom höchsten Punkt entfernt. Es war ein mächtiges Trümmerstück von annähernd zehn Meter Länge. Die Ähnlichkeit mit einem menschlichen Bein war allerdings geradezu erstaunlich. Hier sollte sich der Schatz befunden haben, den Pork entdeckt hatte? »Komischer Boden«, stellte Hal Mervin fest, »hier scheint Messing zu wachsen. Sehen Sie nur, Sir, wie gelb das glänzt. Da hat auch einer darauf herumge kratzt.« Sun Koh bückte sich. »Erstens ist Messing eine Legierung, die über haupt nicht in der Natur vorkommt, sondern vom Menschen gemacht wird, und zweitens dürfte das hier Gold sein.« »Gold!« stießen die beiden aus. »Unzweifelhaft Gold«, sagte Sun Koh nachdenk lich, während er eine Probe abkratzte. »Das ist also Porks Schatz?« 109
»Eine Ader, Sir?« »So sieht es aus. Wenn das, was wir hier sehen, der Querschnitt ist, so muß sich an dieser Stelle eine ganze Menge Gold befinden. Über die Tiefe der A der läßt sich freilich nichts sagen.« Sie waren alle drei den Anblick von Schätzen aller Art viel zu sehr gewöhnt, um sich über den Fund groß zu erregen. Mit sachlichem Interesse prüften sie das zutage tretende Gold. Es sah tatsächlich so aus, als ob hier eine aus der Tiefe kommende Ader senkrecht an die Oberfläche stoßen würde. Wahrscheinlich war dieser immerhin seltene Fall durch eine frühere Verwerfung der Ge steinsmassen erfolgt. Das Gold war anscheinend sehr rein. Wenn sich die Ader auch nur einige Meter in die Tiefe fortsetzte, mußten hier Millionen liegen. Hal Mervin wunderte sich. »Komisch, daß es hier überhaupt Gold gibt?« Sun Koh sah ihn erstaunt an. »Was findest du daran komisch?« »Nun, ich habe gedacht, Gold findet man haupt sächlich in Alaska und an einigen anderen Stellen, aber nicht hier in der Nähe der Antarktis.« Sun Koh lächelte. »Aber Hal, da versagt deine Allgemeinbildung ge waltig. Gold gibt es genau genommen überall auf der Erde, nur wird es in den meisten Fällen so tief liegen, daß die Menschen nicht von seiner Existenz erfahren. 110
Du kannst Gold ebensogut in einem der kleinen deut schen Mittelgebirge finden – im Harz wird übrigens Gold gewonnen – wie im Hochgebirge Asiens oder Amerikas. Darüber hinaus ist der goldreichste Bezirk der Erde nicht Alaska, sondern gerade diese Gegend. In Nordwestaustralien wird Gold im großen Maßstab gewonnen. Auf Neuguinea hat man jahrelang erbit terte Kämpfe um das dort vorkommende Gold ge führt, und wenn es dort erst gelungen ist, die heimi sche Bevölkerung stärker auszurotten, wird diese große Insel vermutlich mehr Gold liefern als Alaska. Aus den Flüssen Neuseelands hat man ebenfalls Gold ausgewaschen. Nein, etwas Erstaunliches sehe ich nicht darin, daß wir hier Gold finden.« Jetzt meldete sich Nimba. »Ja, aber – dann hat doch Scarper den Schatz gar nicht mitnehmen können.« »Allerdings nicht«, sagte Sun Koh langsam. »Sei ne Flucht bekommt damit ein anderes Gesicht. Aber halt – natürlich ist es klar, was er vor hat. Seine Ab sichten gehen auf dieses Gold. Mitnehmen konnte er es nicht, aber er wird versuchen, es sich auf andere Weise zu sichern. Wenn er bei dem Staat, dem diese Insel untersteht – es wird wohl Neuseeland sein –, seinen Fund anmeldet und die Schürf rechte bean tragt, dann hat er gewonnenes Spiel. Er muß zwar einen Teil abgeben, aber das meiste gehört doch ihm, und das wird gerade genug sein. Schade, daß wir ihn 111
nicht daran hindern können.« »Wir können doch Einspruch erheben und bezeu gen, daß John Pork das Gold entdeckt hat.« Sun Koh zuckte mit den Schultern. »Das können wir nicht. Wir haben als Beweismit tel nur die Aussage eines Toten, und die wird uns gegen die Eide Scarpers nichts nützen. Außerdem gilt stets der Anspruch, der zuerst der Behörde mit näheren Angaben gemeldet wurde. Wenn es Scarper gelingt, eher als wir die Schürfrechte zu beantragen, so können wir nichts mehr tun.« »Hoffentlich ersäuft er, bevor er nach Neuseeland kommt.« »Ebenso wahrscheinlich«, erwiderte Sun Koh ernst, »daß er eines Tages wohl ausgerüstet und mit einer Masse Leute zurückkommt, um das zu vollen den, was ihm jetzt nicht gelungen ist.« Der Neger betrachtete wohlgefällig seine Faust. »Dann kommt er mir hoffentlich näher als dies mal. Ob die beiden Verwundeten von dem Gold wis sen?« »Sehr wahrscheinlich.« »Können wir Scarper nicht wegen Mordes an Pork belangen lassen«, erkundigte sich Hal. »Da müßten wir erst einmal von der Insel fortkom men. Und dann wird er seine Unschuld durch seine Kumpane beeiden lassen.« »So ist es immer«, schimpfte Hal. »Eher fängt 112
man einen Sperling mit der bloßen Hand, als einen Schuft mit dem Gesetz.« Womit er schließlich nicht ganz so unrecht hatte. * Zwei Tage vergingen. Sie brachten weder Aufregun gen noch Neuigkeiten. Die drei richteten sich darauf ein, einen guten Teil ihres Lebens auf dieser Insel zu verbringen. Da rollte am dritten Tage ein donnernder Hall über das Meer. Ein Kanonenschuß. Sie starrten sich sprachlos an. Wenn das ein Ge schütz war, so mußte ein Schiff in der Nähe liegen. Sie konnten es nicht sehen, der Berg verdeckte den größten Teil des Horizonts. Einer der Gefangenen schien ihr Erstaunen nicht zu verstehen, denn er schrie wütend herüber: »Pest und Hölle, was starrt ihr denn wie die Mondkälber, wollt ihr euch nicht bemerkbar machen? Oder bildet ihr euch ein, daß wir noch ein halbes Jahr hier liegen bleiben wollen, bis das Schiff das nächstemal kommt?« Sun Koh warf ihm einen forschenden Blick zu. »Ihr scheint zu wissen, welches Schiff den Schuß abgefeuert hat.« Der Mann zog eine Grimasse. 113
»Natürlich weiß ich’s, verdammt noch mal. Es ist die ›Wairoa‹. Sie fährt alle sechs Monate die zu Neu seeland gehörigen Inseln ab, um nach Schiffbrüchi gen zu fahnden. Beeilt euch, wir haben keine Lust, hier zu bleiben.« »Manchen ist eben das Gefängnis lieber als die fri sche Luft«, stichelte Hal. »Halt’s Maul«, knurrte der Mann. »Da müssen schon andere kommen als ihr, um uns ins Gefängnis zu bringen.« Sun Koh war bereits auf dem Weg zur Höhe. Ob gleich er sich sehr beeilte, verging doch mehr als ei ne Viertelstunde, bevor er das Geröll überwunden hatte. Mittlerweile rollte draußen auf dem Meer schon ein zweiter Schuß. Endlich stand er oben. Wenn sie von dem Schiff aus die Insel mit ihren Gläsern beobachteten, mußten sie ihn sehen, denn seine Gestalt hob sich scharf vom Himmel ab. Sun Koh blickte gespannt auf das weißleuchtende Schiff, das weit draußen in langsamer Fahrt durch die Dünung schnitt. Würde man ihn bemerken? Jetzt ging drüben auf dem Schiff ein Flaggensignal hoch, fast gleichzeitig wurde ein Boot ausgeschwun gen. Es kam in schneller Fahrt auf die Insel zu. Man hatte ihn bemerkt. Annähernd zwei Stunden später stand er vor dem 114
Kapitän der »Wairoa«. Dieser, ein noch junger Mann von schlanker, sehniger Gestalt, der nach seinem Ge sichtsschnitt wenigstens teilweise das Blut der Maori in seinen Adern haben mußte, hieß ihn freundlich willkommen. »Es ist nichts Besonderes in unserer Ankunft«, sagte er und bestätigte damit, was der gefangene Seemann geäußert hatte. »Wir fahren im Auftrag der Regierung halbjährlich alle diese kleinen und größe ren Inseln von den Macquarie bis zu den Warekauri ab, um uns nach Schiffbrüchigen umzusehen. Der Verkehr hier unten ist zwar nicht besonders groß, aber die Wetter- und Seeverhältnisse sind oft so schlecht, daß stets einige Schiffe daran glauben müs sen. Auf dieser hier geht es, aber die meisten Inseln bieten so wenig Möglichkeit, daß die Schiffbrüchi gen keine Sehnsucht danach haben, ihr Lebtag lang darauf zu bleiben. Deshalb schickt uns die Regierung herum.« »Auch diese Insel könnte nicht zu einem dauernden Aufenthalt verlocken«, meinte Sun Koh. »Ist sie eigentlich schon einmal gründlich untersucht wor den?« Der Kapitän zuckte mit den Schultern. »Kaum wahrscheinlich. Das wäre zuviel Arbeit, wenn man jede dieser kleinen Inseln genau aufneh men wollte. Schiffbrüchige hat es hier meines Wis sens noch nicht gegeben. Ich wundere mich, daß Sie 115
hier gestrandet sind, denn gerade diese Gegend wird eigentlich wenig befahren.« »Wir sind auch nicht mit dem Schiff an die Insel herangekommen, sondern mit einem Eisberg. Wo befinden wir uns ungefähr?« »Zwischen dem Campbell und den Antipoden, sechshundert Kilometer von Dunedin entfernt. Sie kamen mit einem Eisberg, sagten Sie? Sind das Ihre Leute?« Sun Koh wollte vor den Umstehenden keine nähe ren Erklärungen geben und bat daher: »Würden Sie mir bitte eine Unterredung unter vier Augen gewäh ren? Ich habe Ihnen allerhand zu berichten. Es wäre mir lieb, wenn Sie das Schiff inzwischen in der Nähe der Insel halten würden.« Der Kapitän nickte. »Gern, kommen Sie.« In der Kajüte berichtete Sun Koh ausführlich über seine Erlebnisse, seitdem er Ratcliffs-Island verlas sen hatte. Die Ereignisse vorher überging er freilich. Der Kapitän hörte aufmerksam zu. Erst als Sun Koh zu Ende war, sagte er gedankenvoll: »Sie haben da allerhand erlebt. Offengestanden, wenn ich nicht selbst viel mit Schiffbrüchigen zu tun hätte und wüß te, was hier manchmal für Sachen vorkommen, wür de ich etwas mißtrauisch sein. Aber so habe ich kei nen Anlaß, an Ihrem Bericht zu zweifeln. Außerdem ist mir der Ruf von Kapitän Scarper wohl bekannt. 116
Sie haben Glück gehabt, daß Sie es geschafft haben, ihn sich so vom Leib zu halten. Es gehen böse Ge rüchte über ihn um. Wollen Sie Ihre Aussage zu Pro tokoll geben?« »Ja.« Sun Koh nickte. »Und es wäre mir lieb, wenn Sie sich von Amts wegen auf der Insel über zeugen würden, wieweit meine Angaben stimmen. Ich kann Ihnen die Höhle jenes Pork zeigen, außer dem sein Grab und das der anderen Leute. Und dann ist da auch noch Gold.« Der andere lächelte. »Das hätte ich mir ohnehin auf alle Fälle angese hen, schon weil ich dazu verpflichtet bin. Ich hätte nie gedacht, daß man hier Gold finden könnte.« »Wem wird es gehören?« Der Kapitän machte ein abwägendes Gesicht. »Tja, genau genommen dem, der die Schürfrechte beantragt« »Und wenn das Scarper ist?« »Dann ist wenig zu machen. Man kann ihn zwar wegen der Ermordung dieses Porks auf die Anklage bank bringen, aber seine Rechte kann man ihm kaum nehmen.« »Dann würde ich Wert darauf legen, ihm zuvorzu kommen.« Der Kapitän lachte. »Ich würde es an Ihrer Stelle auch tun. Sie können Glück haben. Wir fahren von hier aus direkt nach 117
Dunedin. Dort können Sie Ihre Ansprüche melden. Wahrscheinlich wird Scarper es dort ebenfalls tun wollen, denn Dunedin ist der nächste Hafen.« »Er ist seit drei Tagen unterwegs.« »Ja, da kommt es ganz auf das Wetter an. Es kann sein, daß wir zuerst einlaufen, es kann aber auch sein, daß er Glück hat. Wir werden jedenfalls unser Bestes tun.« Sun Koh erhob sich. »Dann würde ich Sie bitten, die Besichtigung der Insel jetzt gleich vorzunehmen.« »Damit bin ich einverstanden«, sagte der andere. »Ich interessiere mich nun selbst für den Ausgang der Angelegenheit. Kapitän Scarper ist zu berüchtigt, als daß man ihm einen Millionenfund gönnen könnte.« Sie verließen die Kajüte. * Die »Wairoa« fuhr außerordentlich zügig. Der Kapi tän ließ die Maschine stärker laufen, als es eigentlich seine Vorschrift erlaubte. Dennoch hatte sie wenig Aussicht, das Boot Scarpers einzuholen. Wenn dieser stets günstigen Wind gehabt hatte, so mußte er sich bereits in Dunedin befinden. Das war auch der Fall. Und Scarper hätte be stimmt seine Millionen sicherstellen können, wenn er nicht einen entscheidenden Fehler begangen hätte. 118
Aber er glaubte eben sehr viel Zeit zu haben. Schon fast in Sicht der Küste von Neuseeland kreuzte er den Kurs eines Passagierdampfers, der sich auf der Fahrt nach Dunedin befand. Anstatt nun ruhig weiterzusegeln und den Dampfer Dampfer sein zu lassen, gab Scarper Notzeichen und ließ sich auf nehmen. An sich war das nicht verkehrt. Er dokumentierte sich damit offiziell als Schiffbrüchiger und kam in den Genuß aller Vorteile, die damit verbunden wa ren. Vor allem aber konnte er sich dann mit seinen Leuten wieder einmal gründlich satt essen und trin ken. Daran fehlte es nämlich hauptsächlich. Sicher hätten sie es noch einige Stunden ausgehalten, aber man konnte es ihnen wahrhaftig nicht verdenken, wenn sie die günstige Gelegenheit ausnützten. Sie kostete ihnen ein Vermögen. Mit dem Boot hätten sie ohne viel Schwierigkeiten an Land gehen können, um dann unverzüglich zur Behörde zu eilen. Das Schiff jedoch unterlag mit sei nen Passagieren den üblichen Vorschriften. Es mußte den Lotsen an Bord nehmen, die Hafenpolizei, die Zollbeamten, die Formalitäten mußten abgewickelt sein, bevor die Passagiere an Land gehen konnten. Das hielt auf. Noch mehr Verzögerung trat jedoch dadurch ein, daß Scarper und seine Leute als aufgenommene Schiffbrüchige offizielle Persönlichkeiten wurden. 119
Man wollte ihren Bericht hören und ein Protokoll aufsetzen, auch die Zeitungsreporter wünschten eini ges zu erfahren. Kurz und gut – im Boot hätte Scarper um die Mit tagsstunde Dunedin erreicht und dann sofort zur Be hörde gehen können – im Schiff wurde er erst gegen Abend landfähig, als die Ämter schon geschlossen hatten. So mußte er seine Anmeldung auf den näch sten Tag verschieben. Es machte ihm nichts aus, eben weil er seinen Vorsprung für groß genug hielt. Er ahnte nicht, daß in dieser Nacht, in der er zu frieden mit sich und der Welt im Hotel schlief, die »Wairoa« einlief. Sun Koh erfuhr selbstverständlich, daß Scarper be reits vor ihm eingetroffen war. Die Zeitungen brach ten spaltenlange Berichte über die Schicksale der Schiffbrüchigen. Scarper hatte den Reportern gegen über den Mund gründlich voll genommen und unter anderem auch erwähnt, daß er auf der Insel von Un bekannten angegriffen worden sei und nach Verlust von einigen Leuten habe flüchten müssen. Von dem Gold hatte er freilich keine Silbe erwähnt. Es schien alles verloren, bis der Kapitän der »Wai roa« die erfreuliche Mitteilung brachte, um welche Stunde Scarper das Passagierschiff verlassen hatte. Aus der Zeitangabe ging klar hervor, daß er seine Ansprüche noch nicht erhoben haben konnte. 120
Überhaupt erwies sich der Kapitän als freundlicher Helfer. Er brachte nicht nur einige leidliche Karten des Inselgebiets, sondern ließ mitten in der Nacht auch noch einen Bekannten aus dem Bett holen, der sich in solchen Dingen auskannte. »Es hat wenig Zweck«, sagte er zu Sun Koh »wenn Sie morgen früh bei der Behörde erscheinen und nichts Genaues angeben können. Das Amt kann nicht eine Konzession auf irgendeine Insel im Ozean verteilen, sondern will wenigstens die genaue Länge und Breite haben. Sollte Scarper das versäumen, dann haben Sie einen Vorsprung, gegen den er nicht mehr auf kann. Ich werde Ihnen auch einen Mann bringen, der gleich sämtliche Unterlagen fertigstellen kann, damit Sie nicht an einer Formsache scheitern.« Am nächsten Morgen erschien Sun Koh mit seinen beiden Leuten und dem Kapitän vor den Schaltern der Behörde. Er brachte kurz sein Anliegen vor. Der Beamte sah ihn mit einem eigenartigen Blick an und murmelte: »Auf den Inseln scheint es ja von Schät zen zu wimmeln. Sie sind der zweite heute. Bitte tre ten Sie dort ein, ein Kommissar wird bald erschei nen. Ah, da kommt er ja schon.« Ein wohlbeleibter Herr mit Hut und Regenschirm kam den Gang herunter. Der Kapitän der »Wairoa« entdeckte in ihm einen Bekannten und eilte sofort auf ihn zu. Bisher hatte er nicht gewußt, daß gerade dieser Mann die zuständige Abteilung übernommen hatte. 121
Er sprach hastig auf ihn ein, dann winkte er Sun Koh herbei und machte ihn bekannt. »Sie wollen um Schürfrechte nachsuchen?« fragte der Kommissar. »Wie ich hörte, haben Sie bereits alles spruchreif gemacht, so daß es nicht lange dau ern wird. Das ist gut, kommen Sie hier herein.« Er führte sie direkt in sein Arbeitszimmer. Neben an im Vorzimmer saßen Scarper und seine Leute – ahnungslos. Da Sun Koh alles vorbereitet brachte, dauerte die Aufnahme in die Akten und die Erteilung der Rechte nicht länger als eine Viertelstunde. Damit war das Gold John Porks den Händen Scarpers entrissen. Der Kommissar entließ seine Besucher wieder durch die gleiche Tür, durch die sie gekommen wa ren. Dann öffnete er die Verbindung zum Vorzim mer. Scarper kam, breit und sicher, hinter ihm folgten seine Leute als Zeugen. Der ahnungslose Beamte hörte sich ihren Bericht an, der zwar malerisch genug war, aber technische Einzelheiten entbehrte. Schließlich forderte er die Unterlagen. Scarper gab ihm verblüfft zu verstehen, daß er sol che nicht besitze und auch nicht für nötig halte. Der Kommissar nahm seufzend den Halter. »Also dann geben Sie mir zunächst die Lage Ihrer Insel an.« 122
Dazu war Scarper leider nicht imstande. Er konnte nur sagen, daß sie ungefähr fünfhundert Kilometer südöstlich von Dunedin liegen müsse. Daraufhin wurde der Kommissar wütend und warf seinen Hal ter wieder hin. »Das ist ja unerhört«, fauchte er. »Da kommen Sie und wollen so einfach mir nichts, dir nichts eine Goldkonzession auf eine unbekannte Insel, deren Lage Sie nicht einmal kennen?« Scarper wehrte sich fluchend gegen diesen Ver dacht, aber der andere, der im Bewußtsein seiner Stellung wenig Respekt vor dem Kapitän der »Ba hia« hatte, schimpfte weiter. »Sie sind ein Narr, wenn Sie glauben, daß Sie mit solchen Angaben zu einer Konzession kommen kön nen. Schließlich erteile ich sie Ihnen auf Ihre unbe kannte Insel, und nachher stellt sich’s heraus, daß Sie die gleiche Insel meinen wie die, auf die ich vor ei ner Viertelstunde die Rechte bereits vergeben habe. So sehen Sie gerade aus.« Scarper wurde sehr hellhörig und fragte heiser: »Sie erteilten heute morgen schon eine Konzession, obwohl wir die ersten waren?« »Die ersten traf ich auf dem Gang«, wehrte sich der Beamte schnauzend gegen die Unterstellung. »Ich bin nicht angewiesen, mir die Leute aus dem Vorzimmer zu holen, verstanden. Und die Papiere von denen waren in Ordnung.« 123
Scarper beherrschte sich gewaltsam. »Würden Sie mir sagen, auf welchen Namen die Konzession erteilt wurde?« Der Kommissär musterte ihn mißtrauisch. »Was geht das Sie an? Aber meinetwegen, er hieß…« Er blätterte in seinen Akten und las ab: «… Sun Koh.« Worauf sich Scarper nicht mehr beherrschte, son dern über diesen Sun Koh und den Kommissar im besonderen sowie über die Gerechtigkeit im allge meinen in einer Tonart loslegte, daß die Menschen aus allen Zimmern zusammenströmten. Der Auflauf und vor allem Scarpers Wut waren leicht verständlich. 5. Man hatte von dem Direktor der Radio Company of Dunedin in erster Linie den Eindruck, daß er »smart« bis auf die Knochen sei. Smart ist ein Mann, der so ziemlich über alle Eigenschaften verfügt, die man von einem Menschen verlangen kann, wobei weniger Wert auf Gefühl als auf geschäftlich kühle Verstan deseigenschaften gelegt wird. Monty Hill war höchstens fünfunddreißig Jahre alt, schlank, aber dabei breitschultrig, sicher ein guter Boxer. Sein Gesicht wirkte etwas nichtssagend, da es tausend anderen typisch englischen Gesichtern äh 124
nelte. Die hellen Augen verrieten schnellen Verstand, gepaart mit kaltblütiger Sachlichkeit. Lippen und Kinn verhießen Energie und die Falten an den Schlä fen auch eine Andeutung von Humor. Mehr war an ihm nicht zu ersehen, und das war auch in Ordnung. Ein Mann kann nicht smart sein, wenn er seinen Cha rakter wie einen Stadtplan im Gesicht herumträgt. Er prüfte gewohnheitsmäßig seinen Besucher mit einem schnellen Blick. Eine fabelhafte Erscheinung, das Gesicht wie aus Bronze gegossen, leuchtend die Augen, das helle Lockenhaar – alles in allem etwas Besonderes. Dieses Urteil bedeutete die höchste Steigerung der Gefühle bei Monty Hill. Er ließ sich grundsätzlich nicht imponieren, selbst wenn einer wie ein Vollblutprinz aussah. Und außerdem… Er schlenkerte begrüßend die Hand und blickte gleichzeitig mit Betonung auf seine Armbanduhr. »Freut mich sehr, Sie zu sehen, Mister…« »Sun Koh.« »Ganz recht, Sun Koh. Jetzt ist es fünf Minuten vor vier Uhr. Punkt vier ist mein Dienst zu Ende, nicht nur für heute, sondern für immer. Wenn Sie mich noch in meiner Eigenschaft als Direktor der Radio Company in Anspruch nehmen wollen, bitte ich Sie, darauf Rücksicht zu nehmen.« Sun Koh verzog keine Miene. »Ihre Uhr geht genau sechsunddreißig Sekunden vor, Mister Hill. Ich möchte Ihren Kurzwellensender 125
für ein privates Gespräch benutzen.« »Das kostet pro Minute fünf Pfund, falls Sie mit einer australischen Station sprechen wollen.« »Das ist nicht meine Absicht. Mein Teilnehmer befindet sich in Amerika. Ich hoffe, daß Ihnen das nichts ausmacht.« Hill zuckte mit den Schultern. »Das kommt ganz darauf an, ob Sie das Gespräch in meiner Gegenwart führen wollen oder nicht.« »Sie würden mich nicht stören.« »Freut mich zu hören. Dann kostet das Gespräch pro Minute drei Pfund.« Nun war Sun Koh doch erstaunt. »Bei Ihnen scheint es mit zunehmender Entfer nung und Bemühung billiger zu werden?« Der Radiodirektor lächelte harmlos. »Durchaus nicht. Der Unterschied liegt nur darin, daß Sie an die Gesellschaft ein Pfund zahlen würden, während ich mich mit der größeren Hälfte bescheide. Wenn Ihnen meine Gegenwart nämlich nichts aus macht und Ihr Partner nicht gerade in der Nähe wohnt, kann ich das Gespräch unter Versuchssen dungen buchen, zu denen ich jederzeit berechtigt bin. Es geht in Ordnung, wenn ich die Güte unserer Röh ren daraufhin untersuche, ob sie einen privaten Ame rikaner erreichen. Daß Sie nebenbei ein paar Worte mitsprechen, hat nichts zu besagen. Die drei Pfund zahlen Sie dafür, daß ich mich persönlich bemühe. 126
Eine besondere Berechnung der über meine Dienst zeit hinausgehenden Minuten werde ich nicht vor nehmen. Alles klar?« »Vollkommen.« Sun Koh nickte belustigt. Für sein Empfinden war das ein etwas anrüchiges Gebaren, aber smart war es auf alle Fälle. Ohne Zweifel kannte Hill seine Vorschriften ganz genau und wußte, daß er seine Grenzen nicht überschritt. Er nutzte nur die ge gebenen Möglichkeiten, wie man das von einem smarten Mann nicht anders erwarten durfte. »Dann kommen Sie«, meinte Hill, während er wieder nach der Uhr sah. »Wir haben noch fast zwei Minuten Zeit, um das Experiment zu beginnen. Nach vier Uhr müßte ich rundweg verzichten.« Der Kurzwellensender erwies sich als überra schend gut. Sun Koh bekam auf seiner Welle mühe los Verbindung mit der Sonnenstadt auf Yukatan. Er unterhielt sich so lange, daß Monty Hill allmählich in eine gehobene Stimmung geriet, aber der Inhalt der Unterredung war für den Verlauf der Ereignisse nicht von wesentlicher Bedeutung, so daß er hier wegfal len kann. Sun Koh bestellte sich vor allem Ersatz für seine von Juan Garcia entführten Sachen vom Flug zeug bis zu den Sprechdosen und beorderte sie nach Sydney. Endlich verließen sie den Senderaum wieder und begaben sich in Hills Zimmer. Hier stellte Sun Koh einen Scheck über annähernd fünfzig Pfund aus. 127
Er überreichte das Blatt gerade, als ein Mann ein trat, der so dumm aussah, daß man ihn unwillkürlich für schlauer hielt. Er hatte eigentlich nichts Besonde res an sich, nur wirkte sein Gesicht etwas wie eine frischgebackene Semmel, in die der Bäcker zu sei nem Vergnügen ein abgestumpftes Stück Möhre her eingesteckt hat. Monty Hill mußte ihn genau kennen, denn er sagte sofort streng: »Was fällt dir ein, einfach hereinzu kommen? Habe ich dir nicht oft genug gesagt, du sollst anklopfen und warten, bis du gerufen wirst?« Der andere grinste zutraulich. »So sehen Sie gerade aus, Mister Hill. Gestern ha be ich drei Stunden lang geklopft, und nachher waren Sie schon lange fort.« »Schafskopf.« Hill lachte. »Du wirst nie gescheit werden. Selbstverständlich klopft man nicht drei Stunden lang, sondern überzeugt sich erst dann, wenn man ein paarmal vergeblich geklopft hat.« Der Mann breitete gravitätisch beide Arme aus und setzte den linken Fuß vor – eine Siegerstellung, die er vermutlich beim Kegelschieben beobachtet hatte. »Na also«, gab er voll Genugtuung zurück. »Vor einer Viertelstunde habe ich geklopft, natürlich wie der vergeblich, und nun habe ich mich eben über zeugt. Was kann ich dafür, daß Sie auf einmal wieder da sind?« 128
Sun Koh lachte hell auf, so unbeschreiblich ko misch brachte jener seinen Vorwurf heraus. Monty Hill schluckte ein paarmal gewaltsam und wandte sich dann erklärend an Sun Koh. »Es ist mein Diener Jepp. Er hätte Professor in Wellington werden können, wenn ihm sein Vater et was Gehirn mitgegeben hätte. Ich habe ihn schon ein dutzendmal entlassen, aber er bringt es immer wieder irgendwie fertig zu bleiben. Ich würde auch schwer einen Mann finden, der meine Sachen so gewissen haft betreut.« Nun widmete er sich wieder seinem Diener. »Trainierst du immer noch auf Denkmal? Gib her!« Jepp zog die Hand mit dem Brief schleunigst zu rück. »Nichts für Sie, Mister. Ist das der Herr, der mit Ihnen in Ihrem Zimmer eine Unterredung hat?« »Dumme Frage«, brummte Hill, »das siehst du doch!« Jepp hob bedeutungsvoll die Schultern. »Woher soll ich denn das sehen, daß das der Herr ist, der mit Ihnen eine Unterredung hat? Aber da Sie es sagen, wird es wohl stimmen. Da!« Er überreichte Sun Koh mit einer etwas weitläufi gen Verbeugung einen Brief ohne Anschrift. »Für mich?« wunderte sich Sun Koh. »Wer gab Ihnen das Schreiben?« Jepp spitzte bedeutungsvoll den Mund. 129
»Hm, Sie werden schon wissen. Süßes Geheimnis und so weiter. Von einer jungen Dame, pikfein.« »Wahrscheinlich ein Irrtum«, murmelte Sun Koh, riß aber den Umschlag auf. Er enthielt einen Zettel, auf dem in flüchtiger, an scheinend weiblicher Handschrift stand: »Wenn Sie José Cubierta und Ihr Eigentum wiederfinden wol len, so empfehle ich Ihnen einen Marsch durch das Hooker-Tal.« Keine Unterschrift. José Cubierta war Juan Garcia. Sun Koh hatte tatsächlich keinen dringenderen Wunsch als ihn wiederzufinden. Das Schreiben war also doch für ihn bestimmt. Doch von wem kam die rätselhafte Mitteilung? »Es war eben eine feine Dame«, erwiderte Jepp auf Sun Kohs abermalige Frage. »Ihr Gesicht war verschleiert, aber sicher hübsch. Ich bin ein Frauen kenner…« »Ein Idiot«, warf Hill bissig ein. »Ein Frauenkenner«, beharrte Jepp selbstbewußt, »und kann das beurteilen. Sie winkte mir vom Auto, gerade als ich ins Haus wollte und flötete – jawohl, hat sie getan – also jedenfalls sollte ich den Brief so fort zu dem Herrn bringen, der mit Mister Hill eine Unterredung hat. Bei dem Brief lag eine Pfundnote, aber die war sicher für mich. Ich legte meine Hand aufs Herz – glauben Sie ja nicht, daß ich gutes Be 130
nehmen gegenüber hübschen Damen nicht kenne – und schwor ihr hoch und heilig, daß ich ihren Wunsch erfüllen würde, selbst wenn…« Monty Hill tippte sich an die Stirn. »Du hättest besser getan, dir die Wagennummer zu merken.« Jepp drückte würdevoll das Kinn zurück. »Ich hatte nicht die Absicht, eine intimere Annä herung mit der Dame…« »Mach, daß du rauskommst!« knurrte sein Herr bedrohlich. Jepp blinzelte vertraulich. »Schon gut, das nächstemal werde ich bestimmt nach der Telefonnummer fragen, Sie – TonschuhHahn.« »Don Juan«, brüllte ihn Hill an. »Eins – zwei…« »Bin schon draußen«, schrie Jepp auf und nahm die Beine in die Hand. Sun Koh steckte das Schreiben ein. »Wissen Sie zufällig, wo sich das Hooker-Tal be findet, Mister Hill?« Der war ehrlich erstaunt. »Das Hooker-Tal? Allerdings, ganz genau sogar. Ich will nämlich morgen früh dorthin aufbrechen.« »Es liegt in Neuseeland?« »Ja, ungefähr zwischen dem Mount Tasman und dem Mount Cook. Wie kommen Sie gerade auf die ses Tal?« 131
»Es ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen nicht erzählen kann. Jedenfalls teilt mir diese Botschaft mit, daß ich im Hoocker-Tal einen Mann finden würde, den ich suche.« Monty Hill konnte sein Mißtrauen nicht ganz ver bergen. »Sehr unwahrscheinlich«, knurrte er. »Ich glaube nicht, daß im Hooker-Tal überhaupt ein Mensch wohnt.« »Sie planen eine Reise dorthin?« Der andere verstand den Sinn der Frage. »Keine Vergnügungsreise. Es gibt keine Hotels dort, höchstens einige unbewohnte Schutzhütten. Ich kann mir nicht denken, wie sich Ihr Mann dort auf halten soll.« Sun Koh überlegte einige Augenblicke. Dann sag te er langsam: »Trotzdem bin ich entschlossen, so bald wie möglich nach dem Hooker-Tal aufzubre chen.« Hill schien es schon gefürchtet zu haben. Sein Ge sicht zeigte Mißvergnügen. »Hm«, brummte er, »das bedeutet, daß wir uns dauernd auf den Füßen herumtreten werden.« »Wieso?« »Ganz klar. Ich schätze, Sie werden auf dem kür zesten Weg hin wollen. Der kürzeste ist der Umweg über Invercargill mit der Bahn bis Kingston am Wa katipu, von dort nach Queenstown am Knie des Sees. 132
Von dort aus geht es über den See, und dann kann man noch ein Stück mit Reittieren aufwärts, bis der Fußmarsch beginnt. Selbstverständlich werden Sie den gleichen Zug und das gleiche Boot benutzen, und dann marschieren wir in hundert Meter Abstand das Tal aufwärts.« Sun Koh zuckte mit den Schultern. »Ich kenne die Verhältnisse nicht, aber wenn es sich nicht vermeiden läßt, wird es mir nichts ausma chen.« »Aber mir allerhand«, meinte Hill mißvergnügt. »Hm, warum haben Sie sich eigentlich gerade auf das Hooker-Tal versteift?« Sun Koh war verwundert. »Ich verstehe Sie nicht. Ich sagte Ihnen doch schon, was ich dort suche. Genügt Ihnen das nicht?« Der Engländer kniff die Augen zusammen. »Genau genommen nicht. Es klingt verflucht ro mantisch, wenn einer einen Zettel von ›Unbekannt‹ kriegt und dann plötzlich ins Hochgebirge will. Wür den Sie es übelnehmen, wenn ich Sie bäte, mir den Brief einmal zu zeigen?« Sun Koh reichte ihn stumm hinüber. Hill sah betroffen wieder auf. »Es stimmt also doch?« Wenn Sun Koh nicht gemerkt hätte, daß etwas Be sonderes vorlag, hätte er dem Mann eine scharfe Antwort gegeben. So begnügte er sich mit der ruhi 133
gen Frage: »Warum sollten meine Angaben nicht stimmen?« Monty Hill sah ihn bedeutungsvoll an. »Ich habe meine besonderen Gründe. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir die Tour durch das Hooker-Tal gemeinsam machten?« »Es wäre mir in gewisser Beziehung angenehm.« »Und es genügt Ihnen, wenn Sie Ihren Mann ha ben?« »Selbstverständlich.« Hill nickte ernsthaft. »Sie sehen wie ein Mann aus, auf dessen Wort man sich verlassen kann. Ich will Ihnen nun etwas erzählen, was Sie auf die Dauer ohnehin erfahren würden. Sie werden dann verstehen, daß ich allen Anlaß zu meinem Mißtrauen hatte. Sehen Sie, ich habe hier meinen gutbezahlten Posten aufgegeben. Das tut man nicht wegen einer Vergnügungsreise.« »Es gibt Menschen, die das Abenteuer schlechthin schon lockt«, meinte Sun Koh lächelnd. Der andere grinste. »Schon, aber es muß ein Einsatz dabei sein. Und zwischen locken und folgen ist ein Unterschied. Ich kenne viele, die werden ständig verlockt und bleiben doch ihr Lebtag hinter dem Ofen. Nee, ich schlage mich persönlich recht gern in der Welt herum, aber ich muß mein Ziel dabei haben, muß wissen warum, sonst macht’s keinen Spaß.« 134
Das war ebenso smart wie klar, aber Sun Koh hat te das Empfinden, daß sich der Mann doch nicht so genau kannte. Dieser Mann war innerlich nüchtern, aber irgend etwas in seinem Blut würde ihn immer wieder hi naustreiben und in Abenteuer stürzen. Und er würde diese bestehen wie ein Mann. Hill sprach weiter: »Also hören Sie! Vor einiger Zeit brachten wir eine Reportage vom Wakatipu-See. Ich war selbst mit in Queenstown und drang bei die ser Gelegenheit ein Stück in das Innere aufwärts. Im Hooker-Tal fand ich inmitten der blühenden Blumen einen sterbenden Maori. Der Mann war verwundet, außerdem an verschiedenen Stellen erfroren, von der Sonne verbrannt, verhungert und hatte mehr Ab schürfungen am Körper als Haut. Er sah aus, als habe man ihn geradewegs vom Aorangi heruntergekollert. Ich nahm ihn in Behandlung, aber viel war nicht mehr zu helfen. Er starb nach zwei Stunden. In der Zwischenzeit erlangte er das Bewußtsein wieder und erzählte mir in Bruchstücken, wie eben ein Sterbender erzählt, eine seltsame Geschichte. Danach soll sich am Abhang des Aorangi-Massivs ein wunder sames, blühendes Tal befinden. Übrigens, Sie wissen wohl, daß der Berg jetzt Mount Cook heißt. Die Ma ori nennen ihn jedoch nach wie vor Aorangi, was so viel wie ›Licht des Tages‹ bedeutet. Also das grüne Tal. Das ist ja nun nichts Seltenes, denn die Täler am 135
Fuße des Hochgebirges haben alle subtropisches Klima und sind sogar mit Urwald bestanden. Aber nun behauptet er, daß sich in jenem Tal Menschen angesiedelt hätten, Fremde, also keine Maori sondern Weiße. Ihre Diener seien Maori. Ich will Ihnen keine Einzelheiten erzählen, aber ich kann Ihnen versi chern, daß der Mann mir geradezu märchenhafte An deutungen machte. Ein Schloß soll es dort geben. Musik, Tänzerinnen und alles mögliche. Vor allem soll am unteren Ende des Tales massenhaft Gold ge wonnen werden. Über das Ganze befiehlt eine Frau, die ebenso schön wie hartherzig sein soll. Tatamangu nannte er sie, was ungefähr soviel wie ›schwarzes Feuer‹ bedeutet. Einen Zugang zu dem Tal gäbe es nicht, wohl aber Flugzeuge, die den Verkehr nach außen aufrechterhielten. – Sie können sich denken, wie ich aufgehorcht habe.« »Sie hielten die Mitteilungen des Maori für wahr?« Hill hob die Schultern. »Der Mann hatte keinen Grund, in der Sterbestun de einen Fremden anzulügen. Er war aus dem Tal geflohen, in das man ihn vor einiger Zeit entführt hatte. Nach seinen Worten ist er den ganzen TasmanGletscher heruntergekommen, aber Genaues konnte ich über den Weg nicht aus ihm herausholen. Nein, er log nicht. Und Fieber hatte er auch nicht.« Sun Koh schüttelte den Kopf. 136
»Ja, aber gibt es denn noch unbekannte Täler auf Neuseeland?« Hill lachte kurz auf. »Und ob! Sehen Sie, die ganze Südhälfte von Neuseeland ist doch eigentlich erst seit fünfzig Jah ren leidlich dem Verkehr erschlossen worden, we nigstens am Rande. In die inneren Hochgebirge sind nur dann und wann wagemutige Expeditionen vorge drungen, die dann die kartographischen Aufzeich nungen gemacht haben. Aber mit den Karten ist das so eine Sache. Da steckt ein guter Teil Schwindel dahinter. So eine Expedition hat schon im flachen Land nicht mehr als einen Kilometer nach rechts und nach links Sichtweite, in der sie genau beobachten kann. Alles andere bleibt in der Ferne, bleibt unge fähr und halbe Vermutungen. Im Hochgebirge ist das noch schlimmer, trotz eines möglichen Rundblicks von einem Gipfel. Nun lassen Sie doch ein Dutzend Expeditionen durch ein Land von hunderttausend Quadratkilometern hindurchziehen – glauben Sie wirklich, daß damit das Land gründlich erforscht ist?« »Sie haben recht«, räumte Sun Koh bereitwillig ein. »Und selbst«, ereiferte sich Hill, »selbst wenn ei nige Leute schon einmal jenes Tal sahen, was will das besagen. Deswegen braucht in den letzten zehn Jahren kein Mensch hingekommen zu sein, so daß 137
sich dort völlig ungestört Dinge abspielen können, wie sie der Maori schilderte. Ich halte den Bericht für wahr, und ich habe seitdem nichts anderes getan, als mich darauf vorzubereiten, um das Tal mit der Ta ramangu und der Goldgrube aufzusuchen.« »Ein unter Umständen gewagtes Abenteuer?« Hill schwippte mit den Fingern. »Es reizt mich, und es wird sich lohnen. Übrigens kommt noch etwas hinzu, was meiner Meinung nach hierher gehört. Es sind in den letzten Jahren bald hier, bald dort Menschen verschwunden, von denen man nie wieder gehört hat. Vielleicht finde ich sie dort wieder.« Sun Koh wog den Zettel in der Hand. »Diese Unbekannte nennt das Hooker-Tal? Viel leicht soll ich aber meinen Mann nicht dort finden, sondern in Ihrem unbekannten Tal?« »Das war mein Gedanke von Anfang an.« »Sie witterten einen Feind in mir?« »Oder einen Konkurrenten.« Hill nickte. »Sie werden das verstehen. Aber nun hoffe ich, daß wir zusammen arbeiten werden. Ihre Hilfe scheint mir allerhand wert. Man ist zu dritt sicherer.« »Sie wollten nur mit Ihrem Diener aufbrechen?« »Ja, soll ich mir erst einen Haufen Mitwisser auf laden?« Sun Koh lächelte. »Sie haben Mut. Übrigens habe ich zwei Leute, 138
die mich begleiten werden. Sie stehen ihren Mann.« Hill reichte ihm die Hand. »Einverstanden. Und nun sehen Sie zu, daß Sie Ih re Ausrüstung noch zusammen bekommen. Sie wis sen wohl, was für das Hochgebirge nötig ist. Morgen früh kurz nach sechs fährt der Zug.« »Führt von hier keine Straße nach Queenstown?« »Doch, aber erstens ist sie schwer befahrbar, und zweitens kostet es eine Stange Geld.« »Dann schlage ich die Fahrt im Wagen vor.« »Ist mir recht auf Ihre Kosten.« »Schön, wo und wann soll ich Sie abholen?« »16, Bedford Street, um fünf Uhr.« Sie schüttelten sich die Hände. * Der Wakatipu ist bei einer durchschnittlichen Breite von vier Kilometern achtzig Kilometer lang und über dreihundertfünfzig Meter tief. Seine Ufer bilden ho he, steile Felswände, über die hinweg man das Pan orama der Hochalpen genießt. Ein wundervoller See, der im Jahre 1862 von Goldsuchern zuerst entdeckt wurde und in neuester Zeit immer mehr Touristen anzieht. Jenseits des Sees begann die Wanderung, die noch im Laufe des ersten Tages aus den verstreut liegen den menschlichen Siedlungen in die Einsamkeit der 139
Bergwelt führte. Sie marschierten flott vorwärts, obwohl jeder von ihnen eine beträchtliche Last auf dem Rücken trug. Die beiden Neuseeländer erwiesen sich als gute Mar schierer. Sie waren trotzdem froh, als ihnen Sun Koh und Nimba bei der ersten Rast einen Teil ihrer Last abnahmen. Hill führte. Sun Koh schritt neben ihm. Die drei anderen folgten. Das war ein seltenes Trio. Rechts federte der hünenhafte Neger in weichen, großen Schritten, die weder Steigung noch Strecke zu spüren schienen. In der Mitte hielt der schlanke, zähe Junge mit schnellen Doppelschritten den Takt und pfiff vergnügt in die Welt. Links marschierte Jepp treu, brav und ahnungslos sein Pensum herunter. Hal Mervin hatte sehr schnell heraus, wes Geistes Kind dieser Jepp war. Kein Wunder, daß er die Zügel schießenließ. Jepp, der sich seiner Pflichten voll bewußt war, wies zum Beispiel auf einen fernen, verdämmernden Gipfel. »Das ist Aorangi, meine Herren.« »Wie hoch ist er?« erkundigte sich Nimba. »Dreitausendsiebenhundertundachtundsechzig Meter«, gab Jepp Auskunft – nicht ohne Stolz, weil er es wußte. »Und wie schwer?« fragte Hal harmlos. Jepp schielte ihn verdutzt an. 140
»Wie schwer? Hm, hm – das habe ich glatt verges sen.« »Schade, nun muß der Berg noch einmal gewogen werden.« Jepp zog seine Stirn in Falten. Er grübelte sichtlich darüber nach, ob er tatsächlich für die erforderliche Arbeit verantwortlich sei. »Hm«, würgte er. »hm, hätte ich das gewußt…« Hal rieb sich die Nase, um sein Grinsen nicht se hen zu lassen. »Wissen Sie denn überhaupt, wie das gemacht wird, so einen Berg zu wiegen?« »Nee«, gestand Jepp zögernd ein. »Dann will ich’s. Ihnen verraten«, meinte der Jun ge bereitwillig. »Also, da nimmt man eine Steckna del, eine ganz gewöhnliche Stecknadel.« »Eine ganz gewöhnliche Stecknadel«, wiederholte Jepp voller Interesse. »Ja, und die sticht man oben genau in die Spitze des Berges. Dann bindet man an die Stecknadel ei nen Faden…« »Einen Faden«, gab Jepp kund, daß er der Erklä rung folge. »Dann zieht man an dem Faden, hebt damit den ganzen Berg in die Höhe und schwenkt ihn bis zu einem großen See.« »Vielleicht zum Wakatipu?« schlug Jepp vor. »Schön, sagen wir zum Wakatipu. In den See 141
taucht man den Berg hinein. Was geschieht?« Jepp war durchaus ernsthaft. »Sicher wird er naß.« Hal hustete gewaltsam. »Das auch, aber vor allem läuft doch wohl der See über.« Der Diener nickte eifrig. »Richtig, natürlich läuft der See über.« »Na also«, sagte Hal erhaben. »Der Rest ist ein fach. Selbstverständlich läuft genau soviel Wasser heraus, wie der Berg groß ist. Nun braucht man das Wasser bloß noch zu wiegen, und man weiß genau, wie schwer der Berg ist.« Jepp war voller Bewunderung. »Allerhand. Was es alles gibt. Aber…« Seine Miene wurde bedenklich. »Aber – dann müßte doch der Berg so schwer wie das Wasser sein?« Hal stutzte. Einesteils hatte er seinem Nachbar den Geistesblitz gar nicht zugetraut, und andernteils merkte er, daß seine Pointe etwas schief geraten war. Es machte ihm jedoch keine Beschwerde. Großzügig glättete er die kleine Unebenheit. »Das ist es natürlich nicht. Man muß nun den Berg wiegen und weiß doch dann, wieviel schwerer er ist. Nun nimmt man das Gewicht des Wassers einfach noch mit der Zahl mal, die man herausgekriegt hat. Ganz einfach, nicht wahr?« 142
Jepp stimmte bei, aber so ganz klar war ihm der Fall denn doch nicht. Er ging ihm wie manches ande re, was er von Hal erfuhr, im Kopf herum. Als er dann abends seinen Herrn einmal allein erwischte, kam er wieder darauf zu sprechen, ganz beiläufig natürlich. »Übrigens, Mister, Sie wissen doch sicher auch, wie ein Berg gewogen wird. Meinen Sie nicht, daß es eigentlich keinen Zweck hat, ihn erst in den See zu tauchen, wenn er sowieso abgewogen wird?« Das war eine Erkundigung, auf die Monty Hill al lerhand zu bemerken hatte, was für Jepp wenig schmeichelhaft war. Und Hills Urteil wurde durchaus nicht barmherziger, als er so nach und nach erfuhr, worüber sich Hal mit Jepp im Laufe des Tages un terhalten hatte. Am zweiten Tag erreichten sie das Hooker-Tal. Hill hatte es nicht umsonst schon vorher gerühmt. Wie ein Paradies zog es sich zwischen den Bergflan ken aufwärts bis zur zerfließenden Zunge des Tas man-Gletschers. Vergißmeinnicht, Veilchen und Schlüsselblumen bildeten einen einzigen farben prächtigen Teppich, und weiter oben grüßten von den Flanken unzählige Edelweiß. Jede Biegung brachte herrliche Hochgebirgsbilder, die stark an die Alpen erinnerten. Aus den Quertälern schob sich anfangs hochstämmiger Urwald herein, später in größerer Höhe uralter Kiefern- und Blaufichtenbestand. 143
An einer einsamen Schutzhütte hielten sie Mittags rast. »Das ist eine der letzten Hütten«, sagte Monty Hill. »Da Ihr Mann sich hier nicht befindet, müßte er allenfalls am Fuß des Tasman-Gletschers wohnen, auf den das Tal stößt.« »Wann erreichen wir den?« »Bei diesem Tempo noch heute abend. Für mich geht es dann freilich erst richtig los.« Sun Koh lächelte. »Sprechen Sie ruhig in der Mehrzahl. Es sieht ganz so aus, als sollte ich meinen Mann bis heute abend nicht finden.« Hill war nicht böse darüber. »Um so besser, die Gletscherwanderung ist ein schwerer Brocken.« »Warum wollen Sie überhaupt den TasmanGletscher hinauf, wenn Sie das Tal in der Nähe des Aorangi vermuten?« Der andere zog seine Karte heraus. »Erstens ist es auf eine ganze Strecke der einfach ste Weg oder wenigstens der kürzeste, um hinaufzu kommen, und zweitens kam der Maori von dort her unter. Aus der Karte ist nichts zu ersehen, aber ich hoffe, so etwas Ähnliches wie einen Weg zu finden, der am Kamm entlang läuft.« Nach dreistündiger Wanderung erreichten sie die Hütte an der Zunge des Tasman-Gletschers, der in 144
einer Breite von 3500 Meter aus einer Höhe von 3500 Meter herunterkommt. Die Hütte war leer, das Hooker-Tal zu Ende, von José Cubierta bzw. Juan Garcia nichts zu bemerken. Sun Koh war entschlossen, Hill auf seiner aben teuerlichen Suche weiter zu begleiten. Sie legten sich nebeneinander in der Hütte schla fen. Das schwere Riffelcordzeug behielten sie an, nur die genagelten Schuhe wechselten sie gegen leichtere aus. Am nächsten Morgen erwachten sie mit schmer zendem Kopf und verstimmtem Magen viel später, als vorgesehen war. Man hatte sie in der Nacht auf irgendeine Weise betäubt. Sun Koh war verschwunden. Seine schweren Schuhe standen nicht mehr da, wohl aber sein ganzes Gepäck und seine Sachen. Man konnte ihn nicht finden. 6. Sun Koh erwachte von einem leisen Knall, der an das Herausspringen eines Korkens aus einer Sektflasche erinnerte. Es war ein Geräusch, das nicht zu dem nächtlichen Konzert gehörte. Deshalb hatte es den Schläfer aufgeschreckt. Sein Instinkt witterte sofort die Anwesenheit frem 145
der Menschen. Sie mußten draußen vor der Hütte ste hen. Er erhob sich leise – und brach gleich darauf wie der zusammen. Während er schlief, verschob sich die Szenerie vollkommen. Weiche Musik weckte ihn auf. Die Me lodie schleppte sich müde im Tangorhythmus dahin. Die Musikquelle war nicht festzustellen, es klang, als habe man in alle vier Wände Lautsprecher eingebaut. Die Wände des Raumes waren mit Seide bespannt. Lichtrote Seide, gegen die sich die Möbel in mattem Grau und zartem Blau abhoben. Im Spannenabstand liefen senkrechte Streifen darüber. Verrückt. Sun Koh setzte sich schleunigst auf, um sich seine Welt aus einer besseren Perspektive zu betrachten. Quer durch den Raum lief ein Gitter aus starken Stahlstangen, die oben und unten in der Decke befe stigt waren. Der Raum wurde dadurch in zwei Hälf ten geschnitten. Die Ausgangstür befand sich natürlich in der jen seitigen Hälfte. Er saß wie ein Raubtier hinter Käfig stangen. Freilich war in die Stangen eine Tür einge baut, aber sie sah ganz so aus, als ob man sie von dieser Seite nicht öffnen könne. Neben dieser Gittertür saß draußen auf einem Schemel ein Mann, seinem Gesicht nach ein Maori, wenn er auch europäische Kleidung trug. In seinem 146
Gürtel steckte eine Pistole. Er sollte wohl einen Wächter darstellen. Seine Augen verfolgten jeden falls jede Bewegung von Sun Koh. Dieser wandte sich zur Seite. Die eine Schmal wand seines Käfigs war die, an der sein Lager stand. Die gegenüberliegende zeigte einen Vorhang. Die breite Hauptwand links enthielt ein Fenster. Natür lich – man hatte es durch eine doppelte Reihe von Stahlstangen gesichert. Er erhob sich. Seinen grauen Riffelcord mit der langen, um die Knöchel geschnürten Hose und der vieltaschigen Jacke trug er noch auf dem Leib, aber man hatte ihn gründlich ausgeräumt. All die vielen Kleinigkeiten, die er bei sich getragen hatte, waren verschwunden, natürlich auch seine Waffe. Die schweren Bergschuhe hatte man fein säuberlich an das Fußende des Lagers gestellt. Hinter dem seidenen Vorhang befand sich erwar tungsgemäß ein Toilettenraum mit allem Zubehör von der Badewanne bis zum Rasierpinsel. Alles sehr luxuriös. Nur der Raum schien knapp zu sein. Es war mehr eine Nische, nicht breiter als die Öffnung zum Hauptraum. Der Wächter konnte von seinem Platz aus alles übersehen. Wenn Sun Koh allein sein woll te, mußte er den Vorhang zuziehen. Aber man würde wohl dafür Sorge tragen, daß er nicht so lange zu blieb, um ein Loch durch die Wand brechen zu kön nen. 147
Sun Koh wußte, daß er hier ein Gefangener war. Zuerst warf er einen Blick durch das Fenster. Er sah in eine Schlucht hinein, in ein schmales Tal von kaum mehr als hundert Meter Breite. Die Wände stiegen wohl tausend Meter senkrecht in die Höhe und gingen in der Ferne keilförmig zusammen, was unter Umständen auch eine perspektivische Täu schung sein konnte. Dort hinten zeigte sich als Ab schluß der weiße Gipfel eines Berges, fast wie ein Dach geformt. Der Aorangi. Monty Hill hatte seine eigenartige Gipfelform erwähnt. Die Wände des Tales waren nackt, aber hier unten gab es dafür hinreichend Entschädigung. Der ganze Talboden glich mit seinen dunklen Baumständen, seinen blumenübersäten Wiesen, auf denen auch nicht ein Geröllstück lag, mit seinem silberhellen Flüßchen mehr einer Parkanlage als natürlicher Ve getation. Je näher man an das Haus herankam, um so mehr verstärkte sich der Eindruck. Und da unten standen sogar ein paar bunte Schir me, Tische, Stühle. Ein paar helle Kleider bewegten sich, lichte Anzüge – Kaffee im Freien. »Nett bei uns, nicht wahr?« fragte eine dunkle Frauenstimme mit spöttischem Anflug in seinem Rü cken. Sun Koh wandte sich mit betonter Langsamkeit und Gleichgültigkeit um. Diese Stimme kannte er. 148
Natürlich – Lady Houston. Verführerisch lächelnd stand sie jenseits des Gitters, Pfirsichhaut und Eben holzhaar, schön wie die Sünde und verrucht wie die Hölle. Taramangu? Der Maori war verschwunden, die Frau stand al lein auf der anderen Seite des Gitters. Ihre Augen brannten groß und lauerten zugleich wie die einer Katze, die um die verbotene Schüssel streicht. »Auffallend nett«, sagte Sun Koh nach einer Pause in gleichmütigem Tonfall. »Wenn ich nicht irre, galt Ihre Einladung jedoch mehr für das Hooker-Tal?« »Ah, Sie wußten, daß jener Brief von mir kam?« »Ich weiß es jetzt. Warum ließen Sie mich erst ins Hooker-Tal kommen?« Sie zuckte kokett mit den Schultern. »Gott, reine Bequemlichkeitsgründe. In der Stadt hät te es Schwierigkeiten geben können, Sie zu entführen.« »Auch im Hooker-Tal gab es Zeugen.« Sie lachte verächtlich auf. »Pah, Zeugen? Mich stören nur Leute, die mich hindern können. Was wollen Ihre Leute denn bezeu gen? Übrigens, seit wann ist Sun Koh so reklame süchtig oder so vorsichtig, den Direktor des Rund funks mitzunehmen?« Er merkte, daß sie von Hills Absichten keine Ah nung hatte. Er fühlte sich nicht berufen, sie aufzuklä ren. 149
»Reiner Zufall«, sagte er deshalb gleichgültig. »Er wollte auf Hochtour, und ich brauchte einen Führer. Der Hinweis auf Juan Garcia war natürlich nur eine Finte?« »Ja und nein. Er war hier und hat mir allerlei in teressante Dinge erzählt. Der arme Juan, Sie müssen ihm böse mitgespielt haben. Aber Ihre Sachen gefal len ihm ausgezeichnet.« »Er hält sich nicht mehr hier auf?« Sie lächelte niederträchtig. »Ihre Sehnsucht nach ihm muß riesengroß sein. Tja, mein Lieber, da müßten Sie sich schon nach Au stralien bemühen, in die Blauen Berge, wo er sich gar nicht so weit von der Imperial Cave ein trautes Heim mit Märcheneffekten eingerichtet hat. Machen Sie sich aber keine Hoffnung, daß Sie in der nächsten Zeit Gelegenheit haben werden, dorthin zu kommen!« Sun Koh prägte sich für alle Fälle die Ortsanga ben, die ihm die Frau großzügigerweise machte, sorgfältig ein. »Natürlich möchten Sie mich bis in alle Ewigkeit hier festhalten«, meinte er lässig. »Am liebsten wohl als Ihren Leibsklaven, nicht wahr?« »Als meinen Mann«, betonte sie. Er lächelte spöttisch. »Sehr schmeichelhaft. Sie sollten sich nicht soviel Mühe um mich machen. Ich finde es bewunderns würdig, daß Sie sich in der kurzen Zeit, seitdem wir 150
uns das letztemal sahen, hier so einrichten konnten.« Sie ging willig auf seine Ablenkung ein. »Oh, was glauben Sie? Das Tal ist seit zehn Jahren in meinem Besitz, ich halte mich aber nur gelegent lich hier auf. Wissen Sie eigentlich, wo Sie sich be finden?« Er deutete mit dem Kopf zum Fenster. »Ich sehe den Aorangi.« »Wenigstens etwas.« Sie lachte auf. »Wissen Sie auch, daß dieses Tal den gewöhnlichen Sterblichen völlig unbekannt ist?« »Eine interessante Neuigkeit«, erwiderte er trok ken. Sie war etwas verletzt. »Sie werden noch manche Neuigkeit hören, die Ihnen mehr unangenehm als interessant vorkommen wird. Das Tal ist zum Beispiel für keines Menschen Fuß erreichbar. Man kann nicht herein und nicht her aus, wenn man nicht zufällig ein Flugzeug besitzt.« »Dann werde ich also ein Flugzeug benutzen, um es zu verlassen.« »Sie werden es überhaupt nicht verlassen«, wider sprach sie ihm scharf. »Machen Sie sich keine fal schen Vorstellungen. Ich kenne Sie und habe alle Vorkehrungen getroffen, um Ihnen ein Entweichen unmöglich zu machen. Sie werden so lange in die sem Raum bleiben, bis ich mein Ziel erreicht habe. Nach einigen Monaten werden Sie schon mürbe sein, 151
und wenn nicht, dann vielleicht nach einigen Jahren. Ich habe Zeit.« »Früher hatten Sie es sehr eilig«, sagte Sun Koh sarkastisch. »Aber vermutlich haben Sie mich jetzt zur Stütze Ihres einsamen Alters auserwählt.« Um ihren Mund erschien eine böse Falte. »Nach ein paar Wochen wird Ihnen der Spott schon vergangen sein. Geben Sie Ihr Ehrenwort, daß Sie mich heiraten werden, dann sollen Sie sofort frei sein. Im anderen Fall bleiben Sie hinter Gittern.« »Ich ziehe das letztere vor«, antwortete er kalt. Lady Houston eilte zornig hinaus. Unmittelbar da nach war der Wächter wieder zur Stelle. »Wie heißt du?« fragte ihn Sun Koh, während er dicht an das Gitter herantrat. Der Maori zögerte, als sei er unschlüssig, ob er antworten dürfe, erwiderte doch: »Pohutu.« Der Mann machte keinen schlechten Eindruck, und Sun Koh entschloß sich daher, mit ihm etwas Fühlung zu nehmen. Freundlich erkundigte er sich: »Du bist mein Wächter, Pohutu?« Jener nickte. »Ja, Herr. Aber – es ist mir verboten, mich mit Ih nen zu unterhalten. Taramangu will es nicht.« »Taramangu ist die Frau, die eben bei mir war?« »Ja«, gab er einsilbig zurück. Offenbar beabsich tigte der Mann, sich an das Verbot zu halten. Sun Koh ließ jedoch nicht locker. 152
»Du bist ein Maori?« »Ja.« »Seit wann dienen die Edlen der Maori den Wei ßen?« In den dunklen Augen blitzte es eigenartig auf. »Was wissen Sie von meiner Abstammung, Herr?« »Was mir dein Gesicht davon erzählt, Pohutu. Bist du freiwillig als Diener in diesem Tal?« Der Maori preßte die Kinnbacken aufeinander und murmelte: »Ja, ich bin freiwillig hier.« Sun Koh merkte zwar, daß es nicht leicht sein würde, an das Innere des Mannes heranzukommen, aber er zweifelte nicht daran, daß es ihm gelingen würde. Hinter dieser etwas gewaltsamen Antwort steckte mehr, als die Worte selbst verrieten. Leider mußte das Gespräch unterbrochen werden, da ein anderer Wächter den Maori ablöste. Dieser war ein Weißer. Er wirkte ebenso unangenehm wie der Mao ri angenehm. Sun Koh spürte jedenfalls keine Lust, mit ihm ebenfalls ein Gespräch zu beginnen. Sorgfältig überdachte er seine Lage. Dieses in sei ner Leidenschaft bösartige Weib hatte sicher die fe ste Absicht, ihn so lange festzuhalten, bis er mürbe war. Selbstverständlich würde er seinerseits alles versuchen, um schnellstens aus dem Gefängnis he rauszukommen. Der Maori Pohutu bot eine Chance. Der Mann lebte bestimmt nicht freiwillig hier und 153
legte kaum Wert darauf, sich vor der Lady auszu zeichnen. Er würde vielleicht früher oder später ein mal die Tür öffnen. Freilich, damit war nicht alles gewonnen. Das Tal konnte nur mit Flugzeugen verlassen werden. Man mußte also versuchen, an ein Flugzeug heranzukom men. Was dazu nötig war, ließ sich erst im letzten Augenblick entscheiden. Andererseits war der Maori, den Hill gefunden hatte, zu Fuß aus dem Tal entkommen. Was jenem gelungen war, mußte ihm erst recht gelingen. Die Zimmertür öffnete sich von neuem. Ein junges Maorimädchen von auffallender Schönheit erschien und brachte Speisen sowie Getränke, alles vom Fein sten und in reicher Auswahl. Sie setzte sie vor dem Gitter am Boden nieder und schob dann die einzel nen Teller und Gefäße durch die Stäbe hindurch. Sun Kohs Hoffnung, daß die Tür wenigstens auf kurze Zeit geöffnet werden würde, erfüllte sich nicht. Lady Houston war wirklich sehr vorsichtig. Er sprach das Mädchen an, aber sie schüttelte nur stumm den Kopf. Spät in der Nacht wurde der Wächter von einem dritten abgelöst. Am Morgen, nachdem Sun Koh be reits sein Bad genommen und sich rasiert hatte, ü bernahm wieder Pohutu die Wache. Das junge Mädchen brachte das Frühstück. Sie blieb stumm wie am Tag zuvor, aber sie wechselte 154
im Vorbeigehen mit Pohutu einen Blick, der Sun Koh mehr verriet als tausend Worte. Die beiden liebten sich. Als sie hinausgegangen war, nahm Sun Koh das Gespräch mit dem Maori wieder auf. »Wer ist das junge Mädchen, Pohutu?« fragte er. »Manuka, Herr.« »Sie ist schön.« Das ernste Gesicht leuchtete auf. »Sie ist schön, Herr.« »Und doch dient sie der Taramangu, anstatt deine Frau zu sein?« Der Maori sprang auf und ballte die Fäuste. »Ihre Augen sehen scharf, Herr. Doch warum quä len Sie mich damit?« Sun Koh sah ihm fest in die Augen. »Ich bin ein Gefangener der Taramangu und suche die Freiheit. Und was bist du?« Pohutu senkte den Kopf. »Wir sind auch Gefangene der Taramangu.« »Und dienst du?« »Ich muß.« »Warum suchst du nicht den Weg in die Freiheit?« »Es gibt keinen«, erwiderte der andere dumpf. »Mancher hat es versucht, aber sie sind alle gestor ben. Es ist keinem gelungen. Es gibt keinen Weg aus diesem Tal des trostlosen Herzens.« »Und doch wurde einer deines Stammes im Hoo 155
ker-Tal gefunden, der von hier kam, allerdings ster bend.« Der Maori blickte mit brennendem Interesse auf. »Irakei, es muß Irakei gewesen sein. Er versuchte es und kam nicht wieder. Es gibt also doch einen Weg?« »Es gibt auch Flugzeuge«, meinte Sun Koh bedeu tungsvoll. Der andere schüttelte den Kopf. »Niemand von uns kann sie bedienen.« »Ich kann es.« »Sie sind eingesperrt, Herr.« »Es liegt an dir, mein Gefängnis zu öffnen.« Pohutu lächelte traurig. »Nein, Herr, ich habe keinen Schlüssel zu dieser Tür. Die Taramangu allein trägt ihn bei sich.« Diese Mitteilung war ein harter Schlag für Sun Koh. Mit ihr entfielen verschiedene Möglichkeiten, die er sich zurechtgelegt hatte. Den Mut ließ er trotz dem nicht sinken. Wenn er in diesem Mann einen Verbündeten gewann, so war das schon allerhand wert. »Sie ist sehr vorsichtig«, sagte er langsam. »Und doch ist sie unvorsichtig genug, dich zu bewaffnen.« Pohutu zog seine Waffe und ließ die Kammer her ausschnappen. Sie war leer. »Ich trage die Waffe nur zum Schein«, erwiderte er finster. »Nur ihre Leute haben geladene Pistolen.« 156
»Ein Mann ist oft mehr wert als eine geladene Pi stole.« Der Maori schüttelte den Kopf. »Sie haben sich zu gut geschützt, außerdem müß ten wir für immer hier bleiben. Vor allem aber kann ein Mann sterben, aber er kann nicht den Tod eines jungen Mädchens auf sich nehmen. Manuka haftet dafür, daß Pohutu gehorsam bleibt.« »Erzähl mir deine Geschichte.« Der andere horchte nach draußen, dann stützte er die Ellbogen auf die Knie und begann düster: »Ich lebte wie die meisten, die noch von unserem großen Volk geblieben sind, auf der Nordinsel zwischen den weißen Terrassen und den kochenden Seen, da, wo die Fremden es nicht wagten hinzukommen. Ich lieb te Manuka, die schönste Blume der Insel, und sie liebte mich. Eines Tages, es sind schon lange Monate her, wanderten wir zu den heulenden Göttern von Karapiti. Unterwegs trafen wir die Frau, die wir Ta ramangu nennen. Sie unterhielt sich sehr freundlich mit uns und lockte uns zu ihrem Flugzeug. Wir wa ren neugierig, ahnten nichts Böses und ließen uns begierig die fremden Sachen zeigen. Plötzlich flogen wir in die Luft. Wir wagten nicht, etwas zu tun. Als wir wieder die Erde betraten, befanden wir uns hier.« »Und fügtet euch in das Unvermeidliche?« Pohutu machte eine leere Handbewegung. »Ich bin ein freier Mann, wie es meine Vorfahren 157
waren. Ich wehrte mich, aber sie hatten Waffen, und ich konnte Manuka nicht schützen. Die Frau ver sprach mir, daß sie uns nach einem Jahr wieder in unsere Heimat zurückbringen würde. Das Jahr ist noch nicht zu Ende. Wenn sie ihr Wort nicht hält, werde ich sie mit den bloßen Händen erdrosseln. Bis dahin werde ich ihr dienen.« »Armer Kerl!« sagte Sun Koh leise. Er kannte La dy Houston und wußte, daß sie schon längst verges sen hatte, was dem Maori versprochen worden war. Er unterhielt sich mit seinem Wächter an diesem und an den folgenden Tagen. Pohutu konnte ihm zwar nicht helfen, aber er berichtete ihm bereitwillig alles, was im Tal vor sich ging. Die Angaben jenes sterbenden Maori waren tat sächlich ziemlich genau gewesen. Am unteren Ende des Tales befand sich ein ergiebiges Goldbergwerk. Es wurde ziemlich primitiv ausschließlich durch un freiwillige Arbeiter betrieben, lieferte aber trotzdem reiche Ausbeute. Lady Houston herrschte als eine Art Königin. Sie hatte im Laufe der Zeit eine ganze Menge Menschen ins Tal gebracht, alles Maori, die nichts anderes als ihre Sklaven darstellten. Gegen etwaige Verzweif lungsausbrüche schützte sie sich durch eine Leibgar de von vier weißen Männern, zu denen noch zwei Piloten zu rechnen waren. Besonders liebenswürdige Exemplare der Gattung Mensch schienen sie nicht zu 158
sein, das sah er an den beiden Wächtern, die zu ihnen gehörten. Außer diesen Weißen lebten fast ständig Gäste in dem Tal, die gelegentlich wechselten. Pohutu wußte jedoch über diese nichts weiter zu sagen. Lady Houston als unumschränkte Herrscherin. Sun Koh wußte genug, auch ohne daß ihm der Maori Ein zelheiten erzählte. Diese Maori hatten nichts zu la chen. Sie waren voller Haß und Verachtung. Es war ein Wunder, daß es nicht schon zu einer Katastrophe gekommen war. Nach allen Andeutungen Pohutus fürchteten die Gefangenen nicht so sehr die Pistolen, sondern die Unmöglichkeit, jemals das Tal verlassen zu können. Gelegentlich und zu den verschiedensten Tages zeiten erschien die Lady, um sich mehr oder minder spöttisch nach dem Befinden Sun Kons zu erkundi gen. Da er sich auf die notwendigsten Antworten be schränkte, kam es nie zu einem richtigen Gespräch. Sie blieb auch nie lange. Ihr ganzes Benehmen deu tete darauf hin, daß sie sich auf einen längeren Zeit raum eingerichtet hatte. Sie war ihres Gefangenen sehr sicher. Schließlich hatte sie auch allen Grund dazu. Die einzige Möglichkeit für Sun Koh bestand darin, daß er versuchte, seine ungeheure Kraft gegen die stäh lernen Gitterstäbe einzusetzen. Es war fraglich, ob sie ausreichte, um sie auseinander zu biegen. Aber 159
auf die Dauer hoffte er doch, es zu schaffen. Nur – dann mußte Pohutu einverstanden sein und keinen Alarm schlagen. Daran hing es. Der Maori fürchtete, daß sich seine Pflichtverlet zung gegen das junge Mädchen seines Herzens aus wirken würde. Er traute Sun Koh nicht zu, daß es ihm gelingen könnte, die Taramangu und ihre Leute unschädlich zu machen, fürchtete einen Mißerfolg und lehnte daher alle Anbohrungen Sun Kohs ab. Gegen seinen Willen vermochte Sun Koh aber auch nichts zu unternehmen, denn dann mußte er damit rechnen, daß Pohutu überhaupt nicht mehr als Wäch ter erschien und damit die Verbindung mit der Au ßenwelt und eine immerhin wesentliche Hoffnung abgeschnitten wurde. So wartete er denn auf seine Gelegenheit. Eines Tages mußte ja auch Hilfe von außen kommen. Nach allen Äußerungen der Lady war anzunehmen, daß sich Hal und Nimba in Freiheit befanden. Er kannte seine Leute und wußte, daß diese nicht locker lassen würden. Wenn es nicht anders ging, setzten sie sich auch mit der Sonnenstadt in Verbindung. Wahr scheinlich aber trieben sie schon jetzt ein Flugzeug auf, um damit das Aorangi-Massiv planmäßig abzu suchen. Denn hier war die Lücke in den Sicherheitsmaß nahmen der Taramangu. Sie wußte nicht, daß Hill 160
und Sun Kohs Leuten die Erzählung des sterbenden Maori bekannt war, sie wußte nicht, daß sie sich auf der Suche nach eben diesem Tal befunden hatten. Lady Houston nahm wohl an, daß die Begleiter Sun Kohs den Verschwundenen draußen in der Welt su chen würden. Für diese konnte aber nichts näher lie gen, als die Entführung Sun Kohs mit jenem ge heimnisvollen Tal in Verbindung zu bringen. Hoffentlich. Tatsächlich zweifelten die vier am Fuße des Tas man-Gletschers auch nicht eine Sekunde ernsthaft daran, wo sie Sun Koh zu suchen hatten. Nein, sie zweifelten nicht daran, daß man Sun Koh hierher gelockt hatte, um ihn bequem und unauffällig in jenes Tal entführen zu können. »Selbstverständlich werden wir unseren Marsch fortsetzen«, gab Monty Hill seine Meinung kund. »Oder wollen Sie es aufgeben?« »Das glauben Sie wohl selbst nicht«, knurrte Nim ba. »Wir müssen Sun Koh finden. Selbst wenn Sie keine Lust hätten, würden wir ihn dort oben suchen. Von uns aus kann’s losgehen.« Hal Mervin legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nicht so hastig, Nimba. Ich überlege nämlich ge rade, ob es wirklich zweckmäßig ist, die Tour weiter zu machen.« »Du bist…« »Verrückt und so weiter«, unterbrach der Junge. 161
»Es handelt sich darum, daß er im Flugzeug fortge bracht wurde. Die Leute haben jedenfalls auf Kraxe lei verzichtet. Vielleicht ist es für uns auch empfeh lenswerter, ein Flugzeug zu benutzen. Wir würden dann erst noch mal umkehren, eine Maschine besor gen und mit ihr planmäßig alles abfliegen.« Nimba war überrascht. »Hm, gar nicht so dumm«, meinte er und versank in Nachdenken. Noch überraschter war Monty Hill. »Wie stellen Sie sich denn das vor?« sagte er voll Erstaunen und väterlicher Überlegenheit. »Haben Sie eine Ahnung, was so ein Flugzeug kostet?« Hal kniff die Augen zusammen. »Nichts, Mister Hill, wenn ich es bei unserer – hm, Lieferfirma in Amerika bestelle. Nur werden die ge rade eins losgeschickt haben, nach Sydney nämlich, und ich weiß nicht, ob die bei ihrer vielen Arbeit gleich zwei Maschinen entbehren können. Aber es genügt ja auch eine gewöhnliche Maschine. Und die kann man für tausend Pfund haben, nicht wahr?« Hill lachte kurz. »Kann man, wenn man das Geld in der Tasche hat.« Der Junge grinste. »Es genügt ja schließlich, daß es auf der Bank liegt.« Hal Mervin wurde ernst. Er zog sein Scheckbuch 162
aus der Tasche und klopfte damit auf die Knie. »Es ist vielleicht ganz gut, wenn Sie in der Hin sicht Bescheid wissen, Mister Hill, falls wir nämlich zufällig Ihre Zeit über Ihre eigentlichen Pläne hinaus in Anspruch nehmen müßten. Sehen Sie, wenn ich auf eines dieser Blätter hunderttausend Pfund schrei be und meinen Namen darunter setze, so wird mir diese Summe anstandslos von jeder Bank ausgezahlt werden. Und Nimba geht es nicht anders. Es ist nicht unser Geld, aber Sun Koh würde auch nicht mit ei nem Wort danach fragen, wenn es plötzlich alle wä re. Verstehen Sie jetzt?« Der Neuseeländer sah sprachlos in die Welt. »Ja, äh dann sind Sie doch reiche Leute?« Der Junge schmunzelte schon wieder. »Sind wir, bloß bilden wir uns nichts darauf ein. Wir brauchen das Geld nicht, es sei denn in besonde ren Fällen. Am Geld hängt’s also nicht, wenn wir ein Flugzeug kaufen wollen. Die Frage ist nur, ob es so oder so am zweckmäßigsten ist.« Sie überlegten eine Weile. Hill sagte schließlich: »Ich bin trotzdem gegen das Flugzeug. Wir würden einige Tage brauchen, bevor es uns zur Verfügung stände.« »Wir sind in zwei Tagen in Dunedin«, warf Hal ein. Monty schüttelte den Kopf. »Dort gibt es keine Maschine zu kaufen. Wir müß 163
ten uns schon nach Christchurch oder Wellington wenden.« »Telefonisch?« »Gewiß, aber trotzdem wird die Maschine nicht in drei Stunden da sein. Einige Tage Lieferzeit werden immer vergehen. Es müßte ein großer Zufall sein, wenn gerade ein Flugzeug, wie wir es brauchen, fix und fertig dastände. Unter einer Woche dürften wir es wohl kaum haben. In der Zeit wollen wir aber schon in dem Tal sein.« »In London kann man ein Flugzeug vom Fleck weg kaufen.« Hill hob die Schultern. »Neuseeland ist nicht England und Dunedin nicht London.« Sie redeten noch eine Zeitlang hin und her, muß ten dann die Gründe Hills anerkennen und beschlos sen schließlich, die Fußtour fortzusetzen. Also los! Der Marsch bereitete zunächst keine Schwierig keiten. Der Gletscher bot keine wesentlichen Hin dernisse, die kleinen Spalten und wirren Schrunden übersprangen sie gewandt. Ungemütlicher wurde es erst vom Hochstetter-Sturz ab in zweitausendacht hundert Meter Höhe. Der riesige Absturz über zacki ge Felsränder, der eine Höhe von fast tausend Metern hatte, erforderte viele Stunden angestrengtester Ar beit. Am Ende dieses Tages – der zweite nach Sun 164
Kohs Verschwinden – waren sie in der Luftlinie ge rechnet fast auf der gleichen Stelle geblieben, nur eben tausend Meter höher. Es gab mancherlei abenteuerliche Erlebnisse auf dieser Wanderung. Hill und sein Diener Jepp hielten sich außerordent lich gut, aber der Unterschied zwischen ihnen und den beiden Leuten Sun Kohs machte sich doch stark bemerkbar. Hal und Nimba waren gewissermaßen mit allen Wassern gewaschen, gelenkig, zäh, kraft voll und unerschrocken. Überhaupt – Monty Hill wäre mit seinem Diener wohl kaum weitergekommen, wenn er die Tour al lein unternommen hätte. Er stürzte manchesmal auch dort, wo er eigentlich nicht hätte stürzen dürfen, nämlich am freien Berg. Seine Hände und Füße wa ren eben doch nicht so sicher, wie es eigentlich nötig gewesen wäre. Jedenfalls setzte sich Hal am vierten Tag an die Spitze, und Hill hatte Einsehen genug, nichts dagegen zu sagen. An diesem Tag machte Nimba einen merkwürdi gen Fund. Rund zweihundert Meter seitlich von ih rem Marschweg hing über einer Felszacke ein Lei nensack mit Tragschnüren, eine Art selbstgefertigter Rucksack. Er war naß, zerrissen und verdreckt, aber der Stoff zeigte noch verhältnismäßige Neuheit. Seit Jahren hing er bestimmt nicht hier. Im Innern befan den sich zwei leere Konservenbüchsen und ein abge 165
brochenes Messer. Die vier schlossen mit Recht, daß dieser Sack dem geflohenen Maori gehört habe, daß sie sich also auf dem richtigen Weg befinden mußten. Am fünften Tag boten sich ihnen fast unüber windbare Hindernisse. Sie mußten in eine fünfhun dert Meter tiefe Senke hinunter. Am Morgen des sechsten Tages nahmen sie den Marsch durch die Senke auf. Nach einer Stunde wären sie um ein Haar, alle miteinander in das gesuchte Tal hinuntergefallen. Der ansteigende Hang riß jäh ab. Dahinter kam ein zweihundert Meter breiter Spalt, der sich leicht ge schwungen talwärts zog. Die Wände fielen tausend Meter fast senkrecht ab. Das Ganze sah aus, als habe einer mit einem Riesenbeil eine Kerbe in den Berg geschlagen. Trotzdem zweifelten sie nicht, am Ziel zu sein. »Am Ziel ist gut«, meinte Hal auf eine dahingehen de Bemerkung Jepps. »Wir müssen erst mal hinunter.« Der brave Diener setzte sich nieder. »Na prost Mahlzeit, ich werde hier oben Wache halten. Schließlich haben die dort unten keine Netze gespannt.« Sie legten sich auf den Bauch, schoben sich vor sichtig vor und prüften die Umgebung. »Es ist unmöglich«, stellte Monty Hill nach einer Weile bedenklich fest. »Dort drüben sieht es zwar 166
besser aus als hier, aber es wäre Selbstmord, sich dort hinunter zu wagen.« »Nichts ist unmöglich«, brummte Nimba. »Der Maori ist heraufgekommen, folglich kommen wir hinunter.« Hal nickte. »Das stimmt schon, aber bedenken Sie den Unter schied zwischen dem Maori und uns.« Der Neuseeländer schüttelte ernst den Kopf. »Wir müssen hinunter«, erklärte Hal nun kalt und abschließend. »Eine Debatte darüber ist völlig zwecklos. Das einzige, was wir tun können, ist, daß wir den bequemsten Weg suchen.« Nach langem hin und her meinte er: »Also, es hat alles keinen Zweck, wir müssen hinunter. Zurück können wir erst recht nicht, denn unsere Vorräte sind alle. Wir würden unterwegs verhungern. Wem es Spaß macht, der mag hier sitzen bleiben und langsam einschnurren, ich steige ab.« »Ich auch«, sagte Nimba. »Ich auch«, entschlossen sich Hill und sein Die ner. Sie fanden weiter oben, fast im Zusammenstoß der beiden Talwände, eine günstige Stelle. Da es noch früh am Tag war, begannen sie nach kurzer Mahlzeit den Abstieg. Die bisherige Ordnung wurde dabei aufrechterhalten, Hal stieg also voraus, Nimba kam als letzter. 167
Sie waren sehr vorsichtig. Hal kletterte am langen Seil voraus. Dann folgen vorsichtig die beiden Mit telleute, während Nimba oben noch für alle Fälle ge rüstet blieb. Erst wenn Jepp und Hill gleichfalls ver ankert waren, kam er nach. Dann ging Hai von neu em los. Auf diese Weise kamen sie zwar langsam hinun ter, aber wenigstens ohne wesentliche Unfälle. Ihre Hände sahen freilich bald wüst aus. Hal führte geradezu hervorragend. Allmählich bekamen sie freien Blick in das Tal. Meter für Meter ging es unter Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln abwärts. Darüber verging der Tag. Die Dunkelheit nahm zu, dann war die Nacht da. Die Talsohle befand sich aber immer noch zwei hundert Meter unter ihnen. Auf einem schräg in die Tiefe laufenden Band fan den sie sich alle zusammen. Es war immerhin fast einen halben Meter breit und annähernd zehn Meter lang. Die Nacht war kaum angebrochen, als sie bereits trotz Felsen und Kälte, trotz Hunger, Überanstren gung und Spannung schliefen. * Pohutu veränderte sich. Er wurde mürrischer, schweigsamer, finsterer. Sun Koh hatte den Ein 168
druck, daß eine innere Qual auf ihm laste. Am dritten Tag fiel ihm das zum erstenmal auf, am vierten Tag noch stärker. Nur wenn Manuka kam, hellte sich das Gesicht des Maori auf, um dann noch trüber zu wer den. Sun Koh stellte behutsame Fragen, aber Pohutu schwieg sich aus. Am fünften Tag erschien nicht Manuka, sondern ein anderes Maorimädchen, um das Essen zu brin gen. Sie streifte Pohutu mit mitleidigem Blick, dieser beachtete sie aber überhaupt nicht. Als sie draußen war, trat Sun Koh dicht an das Gitter und fragte mit ernstem Nachdruck: »Warum schweigst du so hartnäckig, Pohutu? Warum kommt Manuka nicht mehr? Ist ihr etwas geschehen?« Der Maori blickte auf. In seinen Augen flackerte es wild und verstört. Seine Hände spreizten sich und ballten sich wieder zu Fäusten, daß die Knöchel weiß wurden. Sun Koh hielt den unruhigen Blick festgebannt. Bestimmt wiederholte er seine Frage. Im Gesicht des Maori arbeitete es lange, bevor er herausstieß: »Es ist wegen Manuka, Herr. Sie soll…« Er brach ab, als weigere sich sein Innerstes, den Gedanken weiter zu denken oder gar auszusprechen. Sun Koh schwieg klugerweise. Das Eis war gebro chen, der Mann brauchte nur Zeit. Viele Fragen konnten ihn nur zurückscheuchen. Also wartete Sun Koh geduldig. 169
»Ein Fremder«, begann er endlich wieder leise und stockend. »Er ist seit einigen Tagen als Gast hier. Er hat Manuka gesehen und – will sie für sich haben. Und die Taramangu hat ihr befohlen, daß sie ihm dienen soll.« Diese wenigen Worte enthüllten eine ganze Tra gödie, aber zugleich auch die ganze Niedertracht und Gemeinheit, die sich die Herrin des Tales gegenüber ihren Sklaven erlaubte. »Sie wird sich wehren«, sprach Sun Koh eine Hoffnung aus, von der er selbst nichts hielt. Pohutus Gesicht wurde denn auch eher noch fin sterer. »Sie wird sich wehren, Herr. Manuka besitzt einen kleinen Dolch, damit wird sie den Mann töten, wenn er sie angreift. Aber dann – die Taramangu hat schon manchen zu Tode prügeln lassen. Es sind aber noch andere Männer da, die Manuka nachstellen. Die Ta ramangu wird sie dem Schlimmsten geben.« Sun Koh beugte sich herunter. »Siehst du nicht endlich ein, daß es für dich Zeit wird, mich aus diesem Gefängnis entfliehen zu las sen? Ihr beide seid so bedroht, daß ihr nichts mehr verlieren, sondern nur noch gewinnen könnt. Stell’ dich blind, ich will versuchen, die Stäbe auseinander zu drücken.« Pohutu schüttelte langsam den Kopf. »Nein, noch nicht. Ich muß erst mit der Taraman 170
gu sprechen. Es ist ein Mißverständnis. Sie wird sich erinnern, was sie uns versprochen hat.« Sun Koh zog die Brauen zusammen und sagte scharf: »Du bist ein Tor. Sie wird dich auslachen.« »Ich muß erst mit ihr sprechen«, beharrte der Ma ori eigensinnig. Es war zum Verzweifeln. Der kindliche Glaube dieses Mannes an das Wort der Taramangu war im mer noch stärker als die offensichtliche Gaunerei. Das Gespräch Pohutus mit der Frau konnte natürlich nur damit enden, daß der Maori ausgepeitscht wurde oder ähnliches und zugleich seinen Wächterposten verlor. Sun Koh versuchte es noch einmal, aber der ande re blieb starrköpfig. Er wollte erst die Taramangu zur Rede stellen. Sie kam nicht während dieser Wache. Pohutu wurde abgelöst. Der Tag verging und die Nacht. Mit dem neuen Morgen erschien auch Pohutu wieder. Sein Gesicht sprach von Qual, Wut und tiefster Er regung. »Hast du mit ihr gesprochen?« erkundigte sich Sun Koh gespannt. »Nein«, erwiderte der andere heiser, »sie war den ganzen Tag nicht im Tal, ich konnte sie nicht fin den.« »Und Manuka?« 171
»Sie stach den Mann in den Arm, als er gestern a bend zudringlich wurde. Dann floh sie. Ich habe sie versteckt. Vorläufig ist sie sicher, bis – die Taramangu wiederkommt. Aber dann werde ich mit ihr reden.« »Willst du mir noch immer nicht helfen?« Der Maori sah ihn fast flehend an. »Die Taramangu soll keinen Grund haben, mir ei nen Vorwurf zu machen. Ich muß wissen, ob sie ihr Wort hält.« Sun Koh trat schulterzuckend zurück. Fünf Stunden später trat Lady Houston ein. »Nun, teurer Freund«, sagte sie in dem ihr eigen tümlichen Tonfall zwischen Spott und Leidenschaft, »wie fühlen Sie sich? Keine Sehnsucht nach der Freiheit?« Sie hatte dabei den Maori gar nicht beachtet. Die ser ging jedoch nicht wie gewöhnlich sofort hinaus, sondern trat auf sie zu. Bittend, unterwürfig fast, sprach er sie an. »Taramangu, darf ich Sie etwas fragen?« Die Lady wandte sich erstaunt zu ihm um. Es war nicht der Name, der sie erstaunte, denn den war sie gewöhnt, sondern es war die Tatsache, daß der Wächter sie ansprach, anstatt sofort zu verschwin den. Das ging auch aus ihrer Äußerung hervor. »Pohutu? Was machst du denn noch hier?« Der Maori wurde noch demütiger, obgleich es ihm sicher schwer fiel. 172
»Ich bitte um Verzeihung, aber ich bin voller Sor gen.« Sie runzelte die Stirn. »Und da wagst du es, mich damit zu belästigen?« »Es ist wegen Manuka, Herrin. Haben wir beide nicht treu gedient, seit wir hier sind?« Sie winkte mit einer lässigen Bewegung ab. »Leicht möglich. Was hat das mit Manuka zu tun?« Die Stimme Pohutu verlor allmählich die wider wärtige Demut. Sie wurde männlich fest. »Wir lieben uns, Taramangu. Sie versprachen, daß Manuka nichts geschehen würde, und daß wir nach einem Jahr die Freiheit wieder haben sollten. Trotz dem befahlen Sie Manuka, einem Fremden zu die nen, der sie begehrt?« Die Frau lachte amüsiert auf. »Ach so, da liegt der Hase im Pfeffer? Du hast Angst um dein Liebchen? Nun, es wird ihr wohl nicht viel abgehen, wenn sie meinen Gast ein biß chen unterhält. Er frißt sie nicht gleich auf.« Pohutu war eine einzige, erschütternde Frage. Das Verständnis für das, was ihm die Frau ins Gesicht lachte, ging nur allmählich in ihm auf. Er glaubte nicht recht gehört zu haben. »Manuka – soll dem Fremden…« Lady Houston wandte sich verächtlich ab. »Natürlich soll sie, du Narr. Gönn ihr das Vergnü 173
gen! Und nun scher dich hinaus!« Ein unartikulierter Laut rang sich aus der Brust des gequälten Mannes. »Taramangu«, sagte er rauh und beschwörend. »Sie versprachen mir…« Mit kalter Miene sah sie ihn wieder an. »Bist du immer noch da? Hinaus! Sonst…« »Ah«, stöhnte der Maori auf und duckte sich. Sie griff nach ihrem Halsausschnitt und zog eine kleine Pfeife hervor. Der Mann kam ihr nun doch ein bißchen gefährlich vor. »Hüte dich!« warnte sie scharf. »Deine Haltung gefällt mir nicht. Du weißt, wenn ich pfeife, dann…« Da geschah es. Mit einem mächtigen Sprung schnellte Pohutu vor und warf sich auf die Lady. Sie brachte die Pfeife noch an die Lippen, aber es wurde kein Pfiff mehr, sondern nur noch ein kläglich abreißender Laut. Po hutu hatte zu schnell seine kräftigen Hände an ihrem Hals. Sie war durch den Anprall nach rückwärts ge stürzt, er kniete auf ihr und drosselte sie. Dabei mur melte er wilde Worte in seiner heimatlichen Sprache. Sun Koh ließ keine Sekunde ungenützt verstrei chen. Er faßte mit jeder Hand eine von zwei benach barten Stangen, stemmte sich ein und ballte seine ungeheure Kraft zusammen. Der Erfolg war verblüffend. Die Stangen selbst bogen sich nur ganz wenig aus, 174
aber von der Decke begann es stark herunter zu rie seln, kleinere und größere Kalkstückchen. Da merkte er, worauf es ankam, faßte von neuem, setzte aber seine Kräfte gegen ein anderes Ziel. Ein Ruck. Noch ein Ruck. Ein dritter. Dann kippte das ganze, quer durch den Raum lau fende Gitter nach Sun Kohs Seite herunter. Die Handwerker, die es oben an der Decke befestigt hat ten, waren erbärmliche Stümper gewesen. Das Gitter fiel gegen die Außenwand. Es war länger, als der Aufenthaltsraum Sun Kohs an Breite besaß. Für Sun Koh machte es jedoch nichts aus. Er zog sich rechtzeitig am Fenster hoch und schwang sich über das gleitende Gitter hinüber auf die andere Seite. Wie ein Junge rutschte er dann auf den Stäben herunter. Pohutu tobte noch immer über der Lady. Seine Hände lagen wie Schraubstöcke um ihren Hals. Ihr Gesicht war blau, die Zunge lag schwer und dick in dem geöffneten Mund. Hübsch sah sie wahrhaftig nicht aus. Sie war sicher tot. Sun Koh riß den Maori an der Schulter hoch. »Auf, wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müs sen die Leute der Taramangu überwältigen.« Der Maori ließ seine Beute nur widerwillig fahren. »Die Taramangu«, keuchte er, »Sie muß sterben.« Sun Koh schüttelte ihn. 175
»Aber Pohutu, komm zur Besinnung! Sie ist doch schon längst tot. Vorwärts, du mußt mich führen.« »Sie lebt noch«, murmelte der Maori, setzte sich jedoch in Bewegung. Sun Koh, der sich nicht unnötig aufhalten wollte, hielt die letzte Bemerkung für eine Äußerung der Verstörtheit, aber später erfuhr er, daß sie den Tatsachen entsprach. Er hatte sowohl die ver flossene Zeitdauer wie auch den Griff des Maori überschätzt. Lady Houston wäre einige Sekunden später wirklich tot gewesen, aber so hatte sie Sun Kohs Zugriff noch vor dem Äußersten bewahrt. Es blieb ein Lebensfunke in ihr, der bei der zähen Natur dieser Frau schnell wieder aufflackern sollte. Sun Koh hatte ihr das Leben gerettet, obgleich ihm gera de daran sehr wenig gelegen war. Sie eilten hinaus und die Treppe hinunter. Zwei Stock tiefer lief ihnen ein Mann in den Weg, ein ele gant gekleideter Bursche mit verlebtem Gesicht. Po hutu warf sich sofort mit einem Wutschrei auf den Überraschten. »Das ist der Fremde, der Manuka…« gurgelte er. Sun Koh schleuderte ihn mit einem Ruck gegen die Wand, hieb dem Mann die Faust gegen die Schläfe, daß er besinnungslos zusammensank, und nahm ihm die Pistole aus der Gesäßtasche, die er dort entdeckte. »Jetzt ist keine Zeit für eine Privatsache«, sagte er scharf zu dem hochtaumelnden Maori. »Vorwärts, wir brauchen Waffen. Wo ist der Waffenraum?« 176
Pohutu lief willig weiter, zeigte auf eine ver schlossene Tür im gleichen Geschoß. In dem Zimmer befanden sich mehrere Waffen schränke. Es gab genug Waffen, von der leichten Jagdflinte bis zur schweren Doppelbüchse und vom zierlichen Damenrevolver bis zum massigen Colt. Mit einem Griff hatten sich Sun Koh und Pohutu bewaffnet. »Nun zum Hangar«, wies Sun Koh ihn an. Sun Koh fürchtete nichts mehr, als daß die Leute der Lady zu schnell in Aufruhr gerieten und den wichtigsten Punkt des Tales, eben den Flugzeug schuppen, besetzten. Er eilte hinaus ins Freie. Der Hangar war halb ge öffnet. Ein Flugzeug stand im Freien, im Innern des Schuppens wurden andere sichtbar. An dem ersten Flugzeug arbeiteten zwei Leute in blauer Monteur kleidung. In dem offenen Tor stand ein dritter und wärmte seine Hände in den Hosentaschen. Die Männer wurden aufmerksam. Der einzelne Mann riß seine Hände heraus, neigte sich forschend vor und stieß dann einen warnenden Schrei aus. Sun Koh schoß im vollen Lauf. Der Mann brach zusammen. Die beiden anderen Monteure waren wohl ohne Waffen, denn sie wollten mit ihren Schraubenschlüs seln losgehen. Sun Koh unterlief den einen und schmetterte ihn gegen den ändern. Das genügte, bis 177
Pohutu herankam. Sun Koh warf einen Rundblick durch den Hangar. »Pohutu, wo sind die anderen?« rief er dem Maori entgegen. »Ich weiß nicht, Herr«, kam es atemlos zurück. »Binde diese Männer«, wies ihn Sun Koh an. Während sich der Maori an die Arbeit machte, zog Sun Koh das Flugzeug rückwärts in den Hangar hin ein und schloß das Tor. Pohutu schleppte die Gefes selten in den Schuppen hinein. »Pohutu?« »Ja, Herr?« »Lauf los und alarmiere ein paar von euren Män nern. Holt euch Waffen aus dem Haus und kommt dann hierher, ich halte den Hangar. Beeile dich aber!« Der Maori rannte los. Zehn Minuten später tauchte Pohutu wieder auf. An seiner Seite rannten einige Männer seiner Rasse. Programmgemäß verschwanden sie im Haus und er schienen sehr bald wieder, alle Hände voll Waffen. Hinter ihnen folgten einige Frauen. Sun Koh wollte diesen abwinken, aber plötzlich fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Er lauschte. Tatsächlich – in der Ferne fielen Schüsse. Sie ka men vom oberen Ende des Tales. Sun Koh dachte an seine Leute. Hastig wandte er sich an Pohutu. 178
»Höre, dort hinten wird geschossen. Ich muß hin. Bleib« du mit deinen Kameraden hier, um den Schuppen zu bewachen. Du bist mir verantwortlich für die Flugzeuge, verstanden?« Der Maori schwor eifrig. * Hal Mervin und die anderen waren am nächsten Morgen vollkommen steif. Sie mußten sich erst gründlich durchmassieren, bevor sie es wagen konn ten, ihren Marsch in die Tiefe fortzusetzen. Leider hatte der auftreffende Sonnenschein der er sten Morgenstunden auch seine Nachteile. Sie wur den entdeckt. Ohne Seil ging es behutsam und mit doppelter Vorsieht weiter. Jetzt nahm Nimba die Spitze, um einen Stürzenden unter Umständen noch halten zu können. Im übrigen blieben sie dicht beieinander. Als sie nur noch fünfzig Meter über dem Erdboden waren, stieß Nimba ein warnendes Zischen aus und flüsterte: »Laßt euch nichts anmerken, sucht aber so fort Deckung. Unten stehen Männer mit Gewehren.« Ein paar Schüsse prallten hoch und schlugen in unmittelbarer Nähe ein. Es waren fünf Männer unten, alle mit Pistolen und Gewehren bewaffnet. »Hallo, ihr dort oben, werft eure Waffen herun ter!« 179
»Damit ihr euch den Bauch vor Lachen haltet«, schrie Hal zurück. »Wir werden euch abschießen!« »Wenn ihr könnt!« Eine Salve gab Antwort. Doch dann zuckte es am Berg auf. Einer der Männer warf die Arme in die Luft, ein anderer ließ das Gewehr fallen und griff nach seiner Schulter. Die anderen gingen schleunigst in Deckung hinter die Stämme. Nimba und Hal hat ten gut gezielt. »Liegst du so, daß du deine Schüsse gut anbringen kannst?« »Ich denke doch«, meinte Nimba. »Na schön, dann werde ich absteigen. Einer von uns muß den Anfang machen, sonst liegen wir näch stes Frühjahr noch hier.« Jepp und Hill bemerkten mit Grausen, wie der Junge nach diesem Gespräch kaltblütig aus seiner Deckung herausstieg. Hal stieg an Nimba vorbei. Er stellte eine Bewegung dort unten fest, aber es war ihm nicht möglich, Genaues zu beobachten. Hal war nur noch zwanzig Meter über dem Boden. Plötzlich knallte ein Schuß, dem nach kurzer Pause mehrere schnell hintereinander folgten. Nimba richtete sich wild auf. Die Schüsse kamen von einer ganz anderen Stelle. Das war also der Trick. Die beiden Leute, die noch unten waren, hat 180
ten sich fortgeschlichen und schossen jetzt weiter seitlich. Ihre Deckung war so ausgezeichnet, daß Nimba nicht mehr bemerkte als das Aufblitzen der Schüsse. Sie hatten Hal gegolten, doch jetzt schlug es auch neben Nimba ein, so daß er schleunigst wieder Schutz suchte. Was machte Hal? »Hal?« »Schon gut, Nimba«, tönte es herauf. »Die Halun ken haben mir den Arm aufgeschossen, ich muß ihn erst etwas verbinden. Nicht der Rede wert.« Das Feuer begann von neuem. Nimba sah Hal wieder in Bewegung und schoß wie ein Wilder, aber er konnte die beiden Gewehre nicht zum Schweigen bringen. »Nimm doch Deckung!« brüllte er. »Ich sehe die Kerle nicht.« »Aber ich um so besser«, antwortete Hal und feu erte gleichzeitig. Ein Schrei und das Aufrucken eines Körpers bewiesen, daß er von seinem Standpunkt aus tatsächlich ein Ziel gefaßt haben mußte. Jetzt schoß nur noch einer, dieser dafür um so nachhaltiger. Es war selbst Hal nicht möglich, ihn zum Schweigen zu bringen. Er hatte sich so gut ein geschossen, daß es ratsam schien, vorläufig nicht weiter zu klettern. Kampfpause. 181
Dann kam unten ein einzelner Ruf und zwei Schüsse. Wieder ein Ruf: »Hal! Nimba! Nicht mehr schießen!« Sun Koh sprang auf die Halde. »Sir!« Schließlich stürzte Hal nun doch noch ab. Er hatte sich zu heftig hochgeschnellt, als er die Stimme Sun Kohs vernahm. Darüber kam er aus dem Gleichge wicht, sein kaputter Arm reagierte nicht schnell ge nug, und schon stürzte er. Sun Koh rannte mit Win deseile heran und fing ihn auf, so daß er unbeschä digt landete. Nacheinander stiegen nun Nimba, Jepp und Hill ab. Die gegenseitige Freude stand auf den Gesichtern und lag im Händedruck. Worte wurden darüber laut. Sie marschierten das Tal hinunter. Als sie aus dem Wald heraustraten, sahen sie über sich ein Flugzeug, das aufwärts stieg. Sun Kohs Miene wurde starr. Was war am Hangar in seiner Abwesenheit vorgegangen? Es war ganz einfach. Eine raffinierte Frau hatte Haß gegen Liebe oder richtige Liebe gegen Haß aus gespielt, und die Liebe hatte zu ihrem Nutzen ge siegt. Lady Houston war unter den Bemühungen ih rer Freunde zu sich gekommen und hatte gerettet, was zu retten war. Manuka hatte sich aus ihrem Ver steck hervorgewagt und war ihr gerade in die Arme gelaufen. Vom Haus aus konnte man alle Vorgänge beim Hangar beobachten. 182
Pohutu schloß die Geliebte seines Herzens in die Arme und verzichtete auf seine Rache. Ein Tag der Ruhe zog nun über das Tal. Dann begannen Sun Koh und Nimba ihre Flüge. Sie schafften die Maori nach Dunedin, setzten sie dort ab und versahen sie mit Geld, damit sie ihre Heimat erreichen konnten und nicht mit leeren Hän den dorthin kamen. Monty Hill machte einen der ersten Flüge mit, nachdem er sich von dem Vorhandensein der Gold mine überzeugt hatte. Er ließ das Tal und die Abbau rechte auf seinen Namen eintragen und kehrte später mit allem Erforderlichen zurück. Hal Mervin erholte sich bei Ruhe und gutem Essen sehr schnell. Seine Wunden hatten nur Fleischteile betroffen und waren nach einigen Tagen mehr unan genehm als gefährlich. Der letzte Flug brachte Sun Koh und seine beiden Leute für immer aus dem Tal heraus. Juan Garcia war noch nicht gestellt worden, doch der einzige Gewinn waren die Angaben der Lady Houston über dessen Aufenthaltsort, und dieser selbst war sehr fraglich. Ihr Ziel blieb auf alle Fälle Australien. * Oberinspektor Stenbrough kaute an seiner Oberlippe.
Das war eine liebe Gewohnheit von ihm. Er saß wie
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ein verirrtes Nilpferd auf einem lächerlich winzigen Kontorschemel und bekämpfte anscheinend mißver gnügt einen Anfall von Sodbrennen, aber seine Leute wußten, daß er nur darauf wartete, zu explodieren. Nebenbei studierte er freilich auch das stählerne Rechteck, das vor seinen Füßen lag. Es wurde etwas eigenartig umrahmt von vier keilförmigen Stücken, deren Länge ungefähr jener der Rechteckseiten ent sprach. Außerdem wäre noch ein schwerer Stahl schrank mit herausgezogenen Fächern zu erwähnen, von dessen Außentür nur noch eine handbreite Kante zu sehen war. Wenn man diese verschiedenen Teile zusammensetzte, wurde ein Geldschrank daraus. Seit einer Woche, genauer seit acht Tagen, fand Stenbrough nun den sechsten Geldschrank auf diese Weise säuberlich aufgeschnitten und ausgeleert. Und dabei hatte er bis heute nicht die geringste Ahnung, wer der Halunke sein konnte. Ein Einheimischer kam gar nicht in Frage. Deren Arbeit kannte man Gott sei Dank. Das hier war das Werk eines Fremden, der es darauf angelegt hatte, einen angesehenen Oberinspektor vorzeitig unter den Zylinderhut zu bringen. Der Oberinspektor knurrte wieder bedrohlich. »Feine Arbeit, nicht wahr?« Stenbrough warf sich wie ein gereiztes Nilpferd herum. Da stand mitten im Zimmer ein halbwüchsi ger Junge, sechzehn oder siebzehn Jahre alt, schlank, 184
geschmeidig, gut angezogen. Seine Haltung war von einer aufreizenden Sicherheit und Lässigkeit, und sein pfiffigkluges Abenteurergesicht mit dem rötli chen Haarschopf darüber wirkte wie ein rotes Tuch. »Wie kommst du hier herein?« brüllte der Oberin spektor. »Durch die Tür«, antwortete der angehende junge Mann harmlos. »Durch die Tür?« wiederholte Oberinspektor Sten brough mit gefährlicher Sanftmut. »Steht denn drau ßen keine Wache?« »Schon, schon, aber der Mann hat eben am Hinter kopf keine Augen.« »Ich bin Oberinspektor Stenbrough«, sagte er be herrscht. Hal Mervin ging willig auf den veränderten Ton ein und erwiderte sachlich: »Ich wollte mir den zer schnittenen Geldschrank ansehen.« Der Oberinspektor beugte sich vor. »Warum? Aber höre, mein Junge, erzähle mir nicht etwa, du wärst aus reiner Neugierde gekommen oder du wolltest gar deine ersten Versuche als Repor ter machen.« »Ihre Bemerkung reizte eigentlich dazu, sie zu be jahen«, meinte Hal freundlich, »aber ich will Ihnen nichts vorlügen. Die Sache ist die, daß ich über Ihren Fall eine ganze Masse weiß, nachdem ich nun den zerschnittenen Schrank gesehen habe.« 185
Stenbroughs Gesicht hellte sich etwas auf, dann brummte er nicht unfreundlich: »So? Na dann pack aus! Ich bin noch nie so neugierig gewesen.« Hal packte aus, und das löste nicht nur eine unge wöhnlich umfangreiche Polizeiaktion aus, sondern brachte auch Juan Garcia in Bewegung. Als er sein Bild in der Zeitung entdeckte, wußte er, daß es höch ste Zeit für ihn war, aus Sydney zu verschwinden. * Der Hafen von Sydney – in Wirklichkeit sind es gleich eine ganze Reihe – ist wundervoll. Man muß an den träumerischen Meeresbusen mit den blauen Wassern, den subtropischen Gärten mit den weißen Villen, den ständig wechselnden, fremdartigen Bil dern, den Felsennischen und Flußläufen, den Kasua rinen- und den Eukalyptuswäldern geatmet haben, um verstehen zu können, daß der Seemann den Ha fen von Sydney als den schönsten der Welt neben dem von Rio de Janeiro bezeichnet. Über all diese Dinge konnte Sun Koh nach seiner Ankunft in Sydney genug erfahren, als er sich nach den Blauen Bergen erkundigte. Er zog daraus die na türliche Folgerung, daß es zwecklos war, in dem rie sigen Höhlengebiet aufs Geradewohl nach Juan Gar cia zu suchen. Sun Koh erwartete nicht im entferntesten, daß es 186
der Polizei gelingen würde, Garcia zu fangen. Es wä re ihm auch gar nicht lieb gewesen, weil das erstens seine Abrechnung und zweitens die Wiedergewin nung seines Eigentums nur erschwert hätte. Anderer seits war der Nutzen einer Polizeiaktion unverkenn bar. Die Bahnhöfe und Landstraßen, die Eisenbahnen und Autos, die Sun Koh mit seinen Leuten unmög lich überwachen konnte, wurden zweckmäßigerweise von Polizisten kontrolliert. Sie brauchten den Mann ja nicht zu finden, es genügte, wenn dieser von der Überwachung wußte, denn dann war er gezwungen, den Luftweg zu benutzen, wenn er in die Blauen Berge wollte. Die Luft aber überwachte Sun Koh. Aber dann stieg eine Maschine aus einer Hafen bucht auf. Vermutlich war sie auf einer dort liegen den Jacht unter dem Sonnensegel versteckt gewesen. Das war die Maschine Sun Kohs. Und in ihr saß Juan Garcia. Aus dem immergrünen Tal stieg, abgelöst von den Ketten, eine einzelne Sandsteinbastion in die Höhe. Wie eine Kathedrale wirkte sie, deren vier Türme in weitem Abstand wie spitze Nadeln in die Luft sta chen. Hier unten stand die Maschine, mit der Juan Gar cia aus Sydney geflohen war. Das verfolgende Flugzeug fand unten nicht mehr Raum genug. Nimba setzte es daher am Fuße einer 187
Säule auf. Es war dort gut geborgen. Zu dritt stiegen sie in den Kessel hinab. »Hal, du bleibst hier und sorgst dafür, daß sich Garcia nicht wieder des Flugzeugs bemächtigen kann.« »Darauf können Sie sich verlassen, Sir«, versi cherte Hal. »Ich denke nur, Sie werden ihn schon vorher abfangen.« Sun Koh hob die Schultern. »Ich weiß nicht, ob man ihn hier unten überhaupt stellen kann. Es gibt sicher tausend Wege und Mög lichkeiten, um wieder zu diesem Ausgang zu gelan gen, und Garcia wird sie nutzen. Ich sehe an dieser Stelle die stärkste Chance, um ihn zu fangen.« Hal lachte. »Sie wollen mich trösten. Offengestanden, ich würde mich lieber an der Jagd beteiligen, als hier ge duldig zu warten.« »Das würde mir genau so gehen«, sagte Sun Koh. »Aber du mußt dich damit abfinden, ich brauche Nimbas Instinkt. Vorwärts, Nimba!« Der Boden fiel steil ab, war aber holprig genug, so daß es keine Schwierigkeiten bereitete, dem weiten Gang in die Tiefe zu folgen. Die beiden Männer mussten das Scheinwerferlicht vor ihre Füße blen den, damit sie den Weg sahen. Sie achteten vor allem auf etwaige abführende Gänge, aber in den Wänden ließ sich noch nicht ein 188
mal ein ansehnlicher Spalt erkennen. Ganz unvermittelt öffnete sich eine mächtige Höh le vor ihnen. Das Lichtbündel von Sun Kohs Scheinwerfer zeigte die Dimensionen eines riesigen Kirchenschiffs, das ein begnadeter und zugleich mit bizarren Einfallen begabter Künstler aus weißem Marmor herausgehauen zu haben schien. Eine Dop pelreihe starker Säulen stieg in die Höhe und stützte ein Gewölbe, an dem die Stalaktiten wie schimmernde Eiszapfen hingen. Von dieser Höhle führten nicht weniger als fünf Wege weiter, zwei davon in unmittelbar anschlie ßende Höhlen, drei in fortführende Gänge. Sun Koh und Nimba hatten jetzt noch keine Ver anlassung, unschlüssig zu sein. Ganz deutlich für ih re Augen führte eine Schrittspur mit Eindrücken und winzigen Erdresten in den einen Gang hinein, dem sie nun folgten. »Welche Richtung haben wir nach deiner Mei nung?« fragte Sun Koh. »Wir sind in der letzten Zeit nach Süden gegan gen«, erwiderte der Neger erwartungsgemäß. »Mei ner Schätzung nach müssen wir uns in der Linie des Höhenzuges bewegen.« Sun Koh nickte und sagte nachdenklich: »Sollte Garcia wirklich den weiten Weg in den Berg ma chen, obgleich wir doch bisher an genügend Verstek ken vorbeigekommen sind? Die Spur hat aufgehört, 189
und vor uns liegen tausend Möglichkeiten. Ich fürch te sehr, daß wir nach der falschen greifen. Ohne An halt können wir aber wochen- und monatelang hier herumirren, ohne unseren Mann gefunden zu haben.« Nimba zog ein verlegenes Gesicht. »Ich kann auch nichts mehr finden, Sir. Wollen wir umkehren?« »Laufen wir noch ein Stück aufs Geratewohl vor aus«, entschied Sun Koh. »Finden wir keine neue Spuren, dann kehren wir dorthin zurück, wo wir die letzten Merkmale fanden. Vielleicht zeigt sich dann in anderer Richtung ein Hinweis.« Sie durchschritten eine ganze Flucht kleinerer Höhlen, ohne daß sich ihre Hoffnung erfüllte. Darauf entschloß sich Sun Koh zur Umkehr. Sie waren noch nicht fünfzig Meter zurück, als Sun Koh plötzlich stehen blieb und lauschte. Ganz leise und verloren drang der Schall einer menschlichen Stimme an sein Ohr. Es war Gesang. Eine Frau summte irgendwo ein einfaches, melancholisches Liedchen. Geräuschlos, um den kaum vernehmbaren Rich tungsweiser nicht aus dem Ohr zu verlieren, schritten sie vorwärts. Es war nicht leicht, bei der verwirren den Akustik dieser Höhlen die Stelle zu finden, an der sich der Gesang verstärkte. Menschen waren nicht zu sehen. Die Sängerin muß te sich hinter einem der seitlichen Vorhänge befinden. 190
Wo hielt sich Garcia auf? Das war die brennendste Frage. Nichts verriet seine Anwesenheit. Sun Koh gab dem Neger einen Wink. Sie zogen ihre Waffen und traten in die Höhle ein. Fast im gleichen Augenblick verlosch das Licht. In instinktiver Reaktion sprang Sun Koh zur Seite, riß dabei seinen Begleiter mit und warf sich zu Bo den. Nimba ließ den Scheinwerfer aufflammen, aber Sun Koh legte sofort die Hand darüber und hauchte: »Kein Licht!« Er nahm an, daß im nächsten Moment ein Schuß zu ihnen herüberpeitschen würde, und wollte ihre Position nicht durch das Lichtzentrum verraten. Er hatte sich jedoch getäuscht. Ein Schuß fiel nicht, aber hinter ihnen ertönte kaum eine Sekunde später der dumpfe Knall einer schwachen Explosion, der das hellere Reißen von Stein und das schwere Zusam menprasseln von Trümmern folgte. Sun Koh flüsterte dem Neger ins Ohr: »Sieh nach, ob der Gang verschüttet ist.« Nimba entfernte sich lautlos. Die Frauenstimme sang unentwegt ihr kleines, me lancholisches Liedchen. Und da stutzte Sun Koh end lich. »Herzlich willkommen!« krächzte die scharfe Stimme des Mexikaners aus der Dunkelheit heraus. »Sie müssen den Teufel im Leib haben, daß Sie mei ne Spur fanden. Bemühen Sie sich aber nicht, mir die 191
Hand zu schütteln. Schießen können Sie soviel Sie wollen, ich habe mich gut vorgesehen. Aber es ist besser, Sie bleiben ruhig liegen, sonst müßte unsere angenehme Unterhaltung ein vorzeitiges Ende fin den. Was wollen Sie eigentlich hier, verehrter König von Atlantis?« Der Neger legte sich wieder neben Sun Koh. »Der Gang ist verschüttet«, berichtete er. »Juan Garcia«, sagte Sun Koh kalt und hart. »Sie stahlen mir mein Eigentum und gingen damit auf Raub aus.« »Von irgendwas muß man ja schließlich leben«, warf Garcia spöttisch ein. »Schade, daß Sie die Leute auf den Trichter gebracht haben, nun muß ich mir ein anderes Städtchen aussuchen.« »Sie werden dazu kaum imstande sein«, versicher te Sun Koh. »Ich habe das Messer bereits im Flug zeug gefunden.« »Verdammt, Sie haben es hoffentlich dort gelas sen?« »Auch das Flugzeug werden Sie nicht wieder be kommen.« »Das lassen Sie meine Sorge sein. Sie wissen wohl noch gar nicht, daß Sie schön in der Patsche sitzen?« Sun Koh hütete sich zu verraten, daß Hal die Flug zeuge bewachte. »Sie haben uns erwartet?« »Nein«, sagte Juan Garcia sichtlich vergnügt. »Ich hatte gehofft, daß Sie dort auf der Insel eine Schlank 192
heitskur durchmachen würden. Aber das holen Sie hoffentlich hier gründlich nach, hier gibt’s nämlich nichts zu essen. Jaja, jeder ist seines Glückes Schmied.« »Woher haben Sie das elektrische Licht?« fragte Sun Koh. »Aus der Imperial Cave natürlich«, gab Garcia be reitwillig Auskunft. »Dort machen sie feenhafte Be leuchtung. Ich brauchte dort die Leitung nur anzu zapfen, um hier kostenlos Licht zu haben.« »Die Imperial Cave liegt nicht weit von hier?« »Nur ein kleines halbes Stündchen entfernt, vor ausgesetzt, daß Sie sich durch den Berg hindurch ge arbeitet haben.« »Sie irren sich, Garcia«, erwiderte Sun Koh kalt. »Früher oder später werden wir uns wiedersehen – in Ihrer Todesstunde.« Ein feines Klirren scholl durch die Höhle. »Hahaha«, lachte Garcia gellend auf, »sind Sie losgekrochen, um mich zu finden? Haltet ihr Juan Garcia für so dumm? Viel Vergnügen!« Eine Sekunde tiefsten Schweigens folgte. Nimba hatte Pech gehabt. Er war auf einen Wink Sun Kohs tatsächlich vorwärtsgekrochen, um an Garcia heran zukommen, der irgendwo in einem Winkel stecken mußte. Den Draht, der in Kniehöhe quer über den Raum gespannt war, hatte er nicht sehen können. Dumpf krachte eine Explosion. 193
Juan Garcia hatte seine Haustür geschlossen. »Er hat uns eingesperrt«, stellte Nimba überflüssi gerweise fest. »Daran ist kaum zu zweifeln«, sagte Sun Koh. »Stell’ dieses eintönige Singen ab und beginne mit der Untersuchung, ich muß vor allem mit Hal spre chen.« Hal meldete sich sofort. Sun Koh berichtete ihm den Stand und empfahl ihm schärfste Aufmerksam keit. »Soll ich dann zu Hilfe kommen oder erst noch Leute herbeiholen?« fragte Hal. »Wenn du Garcia genügend gesichert hast, kommst du auf dem gezeichneten Weg nach«, erwi derte Sun Koh. »Wir können dann feststellen, wie weit der Gang verschüttet ist. Vor allem kommt es freilich auf Garcia an.« »Den werde ich mir schon greifen«, versicherte Hal. Sun Koh beteiligte sich an der Untersuchung der Höhlen. Es waren vier Stück, die rings um die Mit telhöhle lagen. Ohne viel Mühe fanden sie die Stelle, an der Gar cia die elektrische Leitung zerschnitten hatte. Sicher war bei dieser Gelegenheit ein Kurzschluß entstan den, für den sie in der Imperial Cave vergeblich nach einer Erklärung gesucht hatten. Mittlerweile waren allerdings die Sicherungen ausgewechselt worden. 194
Als Nimba mit bloßen Händen die Drähte wieder verband, flammte überall das Licht auf, und die Heizkörper begannen wieder zu glühen. Das wider sprach insofern den Erwartungen Sun Kohs, als er damit gerechnet hatte, daß die Explosion die Leitung zerstört haben müsse. Zwei Gänge führten aus den Höhlen heraus, und beide Gänge waren durch ein wüstes Durcheinander von Felsbrocken und Tropfsteingebilden verstopft. Natürlich konnte man den Versuch machen, die Trümmerstücke wegzuräumen, aber der Erfolg hing ganz davon ab, wieweit die Decke nachstürzte und auf welche Strecke der Gang verschüttet war. »Wir wollen damit warten«, entschied Sun Koh nach kurzer Prüfung. »Wenn Hal Garcia gefangen hat, kommt er nach, und dann können wir leicht fest stellen, ob es sich überhaupt lohnt, auf diesem Weg die Freiheit zu suchen.« »Wir könnten auch eine Wand anschneiden, um in eine Nachbarhöhle zu kommen«, schlug Nimba vor. »Daran dachte ich auch. Es wird eine mühsame Arbeit werden, da unsere Messer sehr kurz sind, aber vermutlich kommen wir so schneller hinaus, als wenn wir den Gang ausräumen. Wir wollen die Wände einmal durchprüfen.« Fünf Minuten später fanden sie die schwache Stel le in ihrem Gefängnis.
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Juan Garcia war alles andere als dumm. Er wußte, daß Sun Koh ihn bei der Landung beobachtet haben mußte und dann in unmittelbarer Nähe seines Flug zeuges gelandet war. Er wußte ferner, daß Sun Koh von Nimba und Hal Mervin begleitet wurde. Den Neger hatte er gesehen, nicht aber den Jungen. Dem nach war dieser bei den Flugzeugen als Wache. Ja, er rechnete unter Umständen sogar mit zwei Leuten, nämlich dann, wenn Sun Kohs Maschine aus der Sonnenstadt stammte. Endlich stand er geduckt an der Mündung des Ganges, die Pistole in der Hand, und spähte in den hellen Kessel hinein, in dem das Flugzeug stand. Sein Kopf kam ins Freie. Er wandte sich nach rechts, nach links – immer noch war niemand zu be merken. Oder waren die Narren tatsächlich hineinge laufen, ohne eine Wache zurückzulassen? Jetzt kam der ganze Körper heraus. Ein Geräusch im Rücken… Schon klammerten sich ein paar Arme von hinten um den Körper des Mexikaners, während Hal sagte: »Da hätten wir ja unseren Freund Garcia. Lassen Sie die Waffe fallen!« Der Mexikaner ließ sich nicht zum zweitenmal auffordern. Die Pistole klirrte herunter. Mit einem Ruck wirbelte ihn Hal herum. 196
Das war ein Fehler. Juan Garcia brachte seine rechte Hand herum. Ein feiner Nebelstrahl zischte auf Hals Gesicht zu. Doch Hal reagierte schnell. Er warf sich unverzüg lich zur Seite und entging dadurch der Hauptgefahr. Freilich konnte er nicht mehr vermeiden, daß ihn we nigstens ein Teil des Gases erreichte. Er sackte zusammen. Garcia gellte triumphierend auf und bückte sich, um ihm die Taschen zu durchsuchen. Doch da zwang Hal die letzten Reste seines Bewußtseins zurück. Er kam taumelnd hoch, suchte seinen Feind. Garcias Ring hatte sein Gift verspritzt, die Pistole lag noch auf der Erde. So schnell wie er die Gefahr begriff, so schnell hatte er sich auf die Waffe ge stürzt. Aber Hal war näher, erreichte sie noch vor ihm, stieß sie weg. Einen Augenblick lang sah es aus, als wollte sich der Mexikaner wütend auf Hal stürzen, der mühsam mit dem Bruchteil seiner Kraft wirtschaftete. Doch plötzliche Furcht ließ Garcia herumwerfen. Er floh. Juan Garcia ließ sich nun keine Zeit. Er eilte durch die Gänge und Höhlen. Joe Mixer, Wächter Nr. 18 der Imperial Cave, blinzelte mißtrauisch, als er den eigenartigen Frem den aus der hintersten Höhle herauskommen und langsam nach vorn schlendern sah. Den Mann hatte 197
er doch noch gar nicht bemerkt? Die letzte Führung war vor einer Stunde gewesen, und seitdem hatte be stimmt kein Mensch den Durchgang zur letzten Höh le passiert. Merkwürdig! »Hallo, wo kommen Sie denn her?« erkundigte er sich mißtrauisch. Juan Garcia winkte lässig ab und zog zugleich eine Pfundnote aus der Tasche, die er dem Wächter hin überreichte. »Ich glaube, ich habe eine Dummheit gemacht. Bin auf eigene Faust dort hinten weiter gegangen, wo der Spalt in den Berg führt, und fand nicht gleich wieder zurück. Ich bin froh, daß ich wieder heraus gekommen bin.« Wächter Nr. 18 entschied sich angesichts der Banknote für strafendes Wohlwollen. »Hm, das hätten Sie eigentlich nicht tun dürfen, Sir. Das ist verboten. Aber da es noch gut abgelaufen ist – vielen Dank – ich hoffe, es hat Ihnen gefallen.« Juan Garcia beeilte sich. Je mehr er sich dem Ausgang des Imperial Cave näherte, um so nachdenklicher wurde er. Immer stär ker wurde ihm bewußt, daß die größte Schwierigkeit noch vor ihm lag. Er winkte sich kurz vor dem Ausgang einen der müßig herumstehenden Wächter heran und drückte ihm eine Pfundnote in die Hand. »Hören Sie, haben Sie einen Regenschirm?« 198
Der Wächter blickte ihn verblüfft an. »Einen Regenschirm, Sir? Hm, draußen scheint die Sonne.« »Nehmen Sie an, daß ich ihn als Sonnenschirm be nutzen will«, gab Garcia scharf zurück. »Ich brauche einen Regenschirm. Sie können sich dabei noch ein Pfund verdienen.« Der Mann kratzte sich am Ohr. »Tja, ich habe da einen Schirm, den ich selbst ge legentlich benutze. Ich weiß nicht, ob er Ihnen gut genug sein wird, es ist ein Erbstück von meiner seli gen Schwiegermutter.« »Hat er Löcher?« »Das gerade nicht, aber…« »Dann genügt’s, bringen Sie den Schirm her und bestellen Sie gleichzeitig einen Wagen für mich. Er soll so dicht wie möglich heranfahren. Verstanden?« »Jawohl, Sir, wird alles besorgt.« Eine Weile später erschien er mit dem Schirm, ü berreichte ihn feierlich und meldete gleichzeitig, daß der Wagen bereit stände. Garcia gab ihm seine Pfundnote und spannte den Schirm auf. Noch nie hatte die Erscheinung Garcias so lächerlich gewirkt wie in diesen Minuten. Der Gegensatz zwischen dem satanischen Gesicht und dem Monstrum von Schirm war so schreiend, so scharf, daß man unmöglich das Gesicht noch ernst nehmen konnte. Es war kein Wunder, daß die Menschen ringsum grinsten. 199
Gewissenhaft deckte er sich bis zuletzt gegen Sicht von oben, und als er in den Wagen stieg, warf er sich sofort in die dunkelste Ecke zurück. Der Fahrer drehte sich um. »Fahren Sie los!« befahl Garcia. »Das Ziel gebe ich Ihnen später.« Der Wagen schoß vorwärts. Er war vielleicht fünfzig Meter vom Höhlenaus gang entfernt, als sich Juan Garcia umwandte und vorsichtig zum Rückfenster hinausblickte. Jäh schoß die Furcht wie ein eisiger Dorn in ihn hinein. Dort vor der Höhle standen zwei Männer. Ein Wächter stand neben ihnen und wies mit der Hand auf den sich entfernenden Wagen. Die beiden Männer waren Sun Koh und Nimba, der Neger. * Die Wand, hinter der sie den vermeintlichen Gesang zum erstenmal wahrgenommen hatten, war nichts an deres als ein Tropfsteingebilde. Hier setzten die bei den Männer ein. Ihre Messer schnitzten den Kalk stein mühelos, aber die Messer besaßen nur eine ge ringe Klingenlänge, so daß eine Unmasse Schnitte dazu gehörten, um ein leidliches Loch zu schaffen. Sie waren noch nicht weit gekommen, als Hal an 200
rief und kleinlaut von seinem Zusammenstoß mit Garcia berichtete. Sun Koh ersparte ihm jeden Vor wurf. »Bleib weiter auf dem Posten, Hal! Garcia darf keinesfalls an die Flugzeuge herankommen. Vermut lich wird er nun versuchen, einen anderen Ausgang zu benutzen.« »Gibt es einen solchen Ausgang?« »Garcia sprach davon, daß die Imperial Cave in der Nähe liege. Er bezieht den elektrischen Strom von dort und wird wissen, wie er dort hinauskommt. Wir werden uns beeilen, um ihm zu folgen. Halte dich bereit, damit du jederzeit hinter ihm her fliegen kannst.« Es wurde etwas später, bevor das Loch groß genug war, um auch Nimba hindurchzulassen, doch selbst so konnte der Vorsprung Garcias nur gering sein. Sie hatten Glück, daß sie auf der richtigen Seite begannen. Schon nach kurzer Zeit stießen sie auf die elektrische Leitung, die unmittelbar zur Imperial Ca ve führen mußte. Sie schlängelte sich am Boden hin, die beiden brauchten ihr nur zu folgen. Sie ließen sich keine Zeit dabei. Es kam ganz von selbst, daß sie ihr Tempo immer mehr beschleunig ten, bis sie endlich einen schnellen, zügigen Dauer lauf innehatten. Wächter Nr. 18 hatte zum zweitenmal an diesem Tag Gelegenheit, sich zu wundern, als die beiden 201
Männer aus der hinteren Höhle herausgerannt ka men, als seien sie im Endspurt eines Langstrecken rennens. Sie eilten auf ihn zu. »Haben Sie einen Mann mit auffallend bleichem Gesicht und schwarzen Haaren hier vorbeikommen sehen?« fragte Sun Koh hastig. »Allerdings, Sir«, erwiderte Mixer diensteifrig und hängte dann seine amtlichen Bedenken an: »Aber was haben Sie dort hinten…« »Er kam aus der gleichen Richtung wie wir?« ver gewisserte sich Sun Koh. »Gewiß, obgleich es streng verboten ist, über die Absperrketten hinauszu…« Sun Koh drückte ihm eine Note in die Hand. »Wo ist der Mann hin?« »Danke sehr, Euer Lordschaft, danke sehr. Er wollte zum Ausgang.« »Wann sprachen Sie ihn?« »Vor zehn Minuten ungefähr, aber warten Sie ich…« Sun Koh und Nimba warteten nicht, bis er um ständlich seinen Chronometer gezogen hatte, sondern liefen eilig davon. Sie sahen den Mexikaner eben davonfahren, waren aber ihrer Sache nicht sicher und befragten daher am Ausgang den Wärter, der mit höchstem Vergnügen hinter seiner Musspritze hergetrottet war. 202
»Das wird der Herr sein, den Sie suchen«, bestä tigte er und wies dabei hinter dem Wagen her. Sun Koh löste sich mit einem Trinkgeld und ging mit Nimba auf die einzige Kraftdroschke zu, die ei nigermaßen zu einer Verfolgung geeignet schien. Der Fahrer riß dienstbereit den Schlag auf. »Wir müssen einen Mann verfolgen und brauchen Ihren Wagen«, sagte Sun Koh kurz. »Was kostet er?« Der Mann war nicht auf den Kopf gefallen. »Hundert Pfund«, erwiderte er fast ohne Zögern. »Aber für ein anständiges Trinkgeld mache ich gern mit und fahre Sie gegen Taxe.« Sun Koh lächelte flüchtig. »Hier sind hundert Pfund.« Der Fahrer griff schnell zu und langte dann seine Brieftasche heraus. »Hier sind die Papiere.« »Können Sie behalten. Wir lassen den Wagen irgendwo stehen. Forschen Sie nach und nehmen Sie sich ihn wieder, falls es sich lohnt. Und nun schnell heraus!« »Einen Augenblick, einen Augenblick«, begann der andere zu stottern, der erst seine Siebensachen zusammenkramen wollte. »Schon vorbei«, rief Nimba grinsend und hob ihn mit einem Ruck heraus, wischte den ganzen Krempel nach und warf sich hinters Lenkrad. Ein sanfter Stoß Sun Kohs legte ihn jedoch auf die andere Seite. Sun Koh aber nahm das Steuer selbst. Dann ging’s los. 203
Sun Koh holte aus dem Wagen heraus, was her auszuholen war, dazu noch em gutes Stück mehr. Er entwickelte dabei eine ganz hübsche Geschwindig keit, aber diese war an sich nicht übermäßig beein druckend. Auf glatter Straße wäre sie kaum aufgefal len. Diese Straße am Berghang jedoch glich einem Darm, der sich fortwährend in Windungen schlängel te. Außerdem war sie ziemlich stark belebt. Lange konnte es nicht mehr dauern, dann mußte der Wagen mit Garcia in Sicht kommen. Juan Garcia kam in Sicht. Sein Wagen sauste, vermutlich von den Banknoten des Mexikaners angefeuert, eine Anhöhe hinauf und tauchte auf der anderen Seite wieder hinunter. So wohl Sun Koh wie Nimba bemerkten flüchtig das verzerrte Satansgesicht, das sich an das Rückfenster preßte. In wenigen Minuten hatte man ihn. Da kam ein Wagen über die Kimme hoch, kippte mit Tempo herunter. Dicht hinter ihm ein zweiter Wagen, der im Überholen begriffen war. Beide zu sammen sperrten die Straße. Und Sun Koh hatte voll aufgedreht. Die Zeit war für den ändern zu knapp, um zurück zufallen und die Straße freizugeben. Also legte sich Sun Koh in die Bremsen und riß seinen Wagen gleichzeitig zur Seite. Das war zuviel verlangt. 204
Mit einem hellen Aufschrei brach die linke Vor derachse, das Gestell wirbelte wie irrsinnig ein paarmal herum, überschlug sich, trudelte langsam den Abhang hinunter, überschlug sich noch einmal und streckte schließlich klagevoll alle viere zum Himmel. Die Straße erstarrte. Jemand kreischte auf, ein Fluch brach ab, dann schickten sich die ersten Helfer an, hinunter zu klettern. Sie zweifelten nicht im ge ringsten daran, daß ihnen heute das Abendbrot nicht mehr schmecken würde. Auf halbem Weg blieben sie verdutzt stehen. Das umgekrempelte Auto begann zu rumoren, das Fahrgestell schwankte hin und her, als rauften sich unter ihm ein paar herum, Holz quietschte kläglich auf, und nun kam ein blonder Jüngling unter dem Haufen hervorgekrochen. Er packte das Monstrum an einer Flanke, bog sich jäh zurück, und schon hob sich alles, und als zweiter Mann kam der Neger her ausgekrochen. »Schlechtes Fabrikat, Sir«, murrte Nimba, als er hochkam. »Scheint so.« Sun Koh nickte. »Welches Glück für Juan Garcia!« »Hm, so glücklich wird er auch nicht gerade sein. Schließlich haben wir ihm alles wieder abgejagt.« »Er hat heute Schlimmeres erlebt. Ist dir an sei nem Zusammenstoß mit Hal nichts aufgefallen?« 205
»Hm?« »Er hat viel zu schnell aufgegeben. Die Angst hat ihn plötzlich überwältigt. Und sie wird ihm stärker zu schaffen machen als alle Verluste.« »Hoffentlich bricht sie ihm das Genick«, murmelte Nimba. »Was machen wir mit diesem Schrotthau fen?« »Liegen lassen«, sagte Sun Koh. »Gehen wir.«
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Als SUN KOH-Taschenbuch Band 14 erscheint:
Freder van Holk
Der Atlantikpirat
Ein Tauchboot verschwindet. Der Atlantikpirat wird zum Schrecken des Meeres. Sun Koh ent deckt eine künstliche Insel, George Ketter erhält einen Auftrag, und Kapitän Blackeye lebt auf einem Vulkan. Nimba und Hal bauen sich ein Floß, finden aber eine Jacht, ziehen jedoch ein Flugzeug vor. In der Goldfabrik droht Meuterei, Sun Koh entgeht den Haien, Hal bekommt eine Ohrfeige und wagt sich mit Nimba in die Höhle des Löwen. Ein Mann schnappt über, Blackeye spielt Komödie und macht seine größte Beute, aber Sun Koh legt ihm das Handwerk. Die SUN KOH-Taschenbücher erscheinen vier wöchentlich und sind überall im Zeitschriftenund Bahnhofsbuchhandel erhältlich.