Die Spur des Tieres � von Adrian Doyle / Timothy Stahl
Heidelberg im Herbst des Jahres 1635 Über den Häusern rund um d...
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Die Spur des Tieres � von Adrian Doyle / Timothy Stahl
Heidelberg im Herbst des Jahres 1635 Über den Häusern rund um die Heiliggeistkirche lastete die Nacht in ganz eigener Weise: Sie schluckte nicht nur alles Licht, sondern fraß schier jeden Laut und selbst jede Regung. Zu einem Ort vollkommener Stille war das Viertel verkommen. Männer, seit dreizehn Jahren zu einer unseligen Loge verschworen, hatten diese Stille gesät. Wie tot lag alles da. Denn die Schläfer in den Häusern hatten ihr Atmen in den Kokons der Spinnen eingestellt. Kein Bürgerherz schlug mehr dort, wo die Saat aufgegangen war. Alles wartete. Auf drei, die eins werden sollten in dieser barbarischen Nacht …
Was bisher geschah � Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter aller Blutsauger, mit Gott versöhnt. Er »impft« den Lilienkelch, mit dem allein neue Vampire aus Menschenkindern entstehen können, mit einer Seuche, die alle Sippenoberhäupter rund um den Globus infiziert. Landru, Kelchhüter und einer der ältesten Vampire, setzt unwissentlich die Seuche frei. Sie wird von den Oberhäupter auf ihre Sippen übertragen. Die infizierten Vampire – bis auf die Anführer selbst – werden von einem unbändigen Durst nach Blut befallen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten. Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine, USA, gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind, das den todgeweihten Vampiren alle Kraft und Erfahrung raubt und dabei rasch zum Knaben heranwächst. Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer. Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet. Im Kloster befinden sich die Para-Träumer. Von ihnen erfährt Salvat vom Sterben der Vampire, von der Geburt des Kindes – und daß
das Tor bald geöffnet wird! Auch Lilith Eden kommt in den Träumen vor, was sie zum Kloster hinführt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der in dem Knaben den Messias der Vampire sieht, von ihm aber getäuscht und seiner Kräfte beraubt wird. Mit der Magie des Vampirs betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen. Eine ähnliche Erfahrung machte auch der Geist von Beth McKinsey, die von Lilith im Korridor der Zeit unter dem Einfluß des Lilienkelchs getötet wurde. Als Gott den Fluch von der Ur-Lilith nahm, »erwachte« Beth und wurde auf ein fernes Licht zugezogen – als plötzlich alle Türen aufsprangen und ihr Geistkörper in eine davon gesogen wurde. Ohne Erinnerung an ihr früheres Leben erwacht Beth im Jahre 1618 vor den Toren Prags. Um ihre Körperlichkeit wiederzugewinnen, raubt sie die Lebensenergie der Menschen, wird alsbald als Hexe verhaftet und eingekerkert. Ein Inquisitor soll mehr über sie in Erfahrung bringen. Doch nicht Beth ist das wahre Böse in Prag. Satan streckt seine Klauen nach dem Land aus. Mit Ränke verleitet er die Menschen zum »Prager Fenstersturz«, der zum Auslöser für den Dreißigjährigen Krieg wird. In den Wirren der Geschehnisse befreit Justus, der Eleve des Inquisitors, die junge Frau, die eine seltsame Macht auf ihn ausübt. Zum »Dank« saugt sie auch ihm das Leben aus … Jenseits des Tores im Monte Cargano erwarten Lilith und Landru ihre ganz persönlichen Alpträume; eine Welt, in der ihre schlimmsten Ängste Gestalt annehmen. Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit: eine »Oase« der Normalität, die einen Übergang in die Vergangenheit der Erde ermöglicht; nicht körperlich, nur geistig! Lilith folgt Landru durch diesen Schlund der Zeiten – und wird im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635 im Körper der jungen Zigeunerin Kathalena wiedergeboren. Auch Landru findet sich in einem fremden Körper – dem des
Vampirs Racoon – wieder, in derselben Zeit, aber vor den Toren von Paris. Dort wird er Zeuge, wie eine fremde, unendlich verderbliche Macht, die in Paris weilt, die dortige Vampirsippe abschlachtet. Er trifft auf eine Wanderschau von Freaks, der sich eine Frau angeschlossen hat, die Landru aus der Zukunft kennt. Zuletzt sah er sie dort als Tote mit gebrochenem Genick im Korridor der Zeit in Uruk: Beth MacKinsey! Doch Beth hat jede Erinnerung an ihr früheres Leben verloren. Landru hilft ihr dabei, sie wiederzuerlangen; schon im eigenen Interesse. Vielleicht gelingt es ihnen gemeinsam, den Weg in die Gegenwart zurückzufinden. Doch Beth ist auf der Suche nach dem leibhaftigen Satan, den sie in Paris vermutet und der ihr das Kind geraubt hat! Seine Spur weist nach Heidelberg. Dort bereitet eine »Loge der Nacht« – Menschen, die in den Kriegswirren einen Pakt mit Satan schlossen – seine Ankunft vor. Allerdings werden drei Manifestationen erwartet, die sich hier zu einer einzigen vereinen sollen. In Regensburg stößt Lilith in Lenas Körper auf eine Bruderschaft, die sie bereits aus der Gegenwart kennt: die Illuminati – und deren Anführer Salvat, der ebenfalls in dieser Zeit weilt! Warum, kann Lilith noch nicht ergründen. Sie schließt sich den Mönchen an, als diese nach Heidelberg ziehen. Dort also werden ihre Wege sich treffen: von Beth McKinsey und deren Sohn, Lilith und Salvat – und der drei Manifestationen Satans, der hier zu neuer Macht gelangen will. Allein Landru erlebt das Zusammentreffen nicht mehr. Als Beth auf den Vater ihres Kindes trifft, tötet dieser den mächtigen Vampir fast beiläufig …
Der Schlaf ist das Bild des Todes Cicero Scheintotartige Stille und Starre beherrschte das ganze östliche Viertel der Stadt – nicht nur die Häuser, die im täglichen Himmelslauf der Sonne vom kalten Schatten der Heiliggeistkirche berührt wurden. Unter dem Dach des Apothekers Gmelin regte sich schon seit Tagen und Nächten nicht mehr auch nur das Geringste; nicht einmal der leiseste Atemzug rührte die von verdorbenen Dämpfen zähe Luft. Bis zur heutigen Nacht. Bis – jetzt! Ein Sturmwind, eisig und mit widernatürlicher Gewalt vom nahen Gotteshaus herfauchend, drang in das Haus, nicht durch Ritzen im Mauerwerk, sondern durch Stein und Holz selbst. Er währte nur für die Dauer eines Lidschlags, und umgehend hielt Grabesstille wieder Einzug. Aber jene, die es anging, hatten das Signal vernommen – und reagierten. Ruhe und Reglosigkeit hielten noch Sekunden an. Dann hob ein Geräusch wie heimliches Wispern an. Vereinzelt erst, allmählich lauter werdend, ohne indes wirklich laut zu sein; hätte ein Mensch geatmet oder sich auch nur bewegt, selbst ohne etwas zu berühren, die Geräusche wären nicht mehr zu vernehmen gewesen. So aber erfüllte seidiges Rascheln die Schlafstube, worin der Apotheker und sein Eheweib nebst ihrer Tochter seit Nächten so tief und ungerührt schliefen, daß es beinahe schon dem Tode gleichkam. Die Bewegung, die das Rascheln verursachte, entstand unter grauweißem, wie festgebackenen Gespinst. Menschengroße Kokons, drei an der Zahl, die tage- und nächtelang reglos dagelegen hatten, rührten sich mit einemmal. Nicht so, daß es einem flüchtigen Blick aufgefallen wäre; aber nachdem alles lange wie unter einem lähmenden
Bann erstarrt gewesen war, geriet selbst solch geringe Bewegung zur Sinnfälligkeit. Fahle Dinge, kleiner als eine Kinderfaust, krochen unter den Hüllen aus Abertausenden miteinander verwobener Spinnfäden einher, allesamt den Kopfenden der Kokons zu. Dort angelangt, wuchs das Krabbeln sich zu einem Wimmeln und schließlich zu brodelnder Bewegung aus, die das Gespinst zu sprengen drohte – und es schließlich auch tat. Dürre Glieder sprossen von innen durch die seidigen Häute, weiteten die kleinen Löcher zu Rissen. Sie drückten und zerrten an den klebrigen Fetzen, bis die Gesichter darunter endlich freilagen. Die Gesichter des Apothekers Gmelin, seines Weibes und seiner Tochter Kristine. Gesichter, die selbst jetzt noch schreckensstarr waren. Als wären die Hirne jenseits der geronnenen Grimassen Stund’ um Stund’ heimgesucht und gepeinigt worden von Alpträumen, die in der tiefsten Hölle ihren Ursprung hatten. Spinnenbeine stakten über die gefrorenen Züge der drei Menschen und brachten die Illusion zuckender Bewegung hinein. Die Tiere, ein halbes Dutzend auf jedem Gesicht, richteten sich in Positur und spulten unter Zuhilfenahme des hinteren Gliederpaares borstendicke Fäden aus ihren Spinnwarzen. Dann verankerten sie die Enden dieser Fäden – – jenseits der Lippen der Schlafenden. – unter deren Augendeckeln. – und tief in den Nasenlöchern. Anschließend krochen die Spinnen von den Kokons, hinaus aus der Stube, die Treppe hinab und endlich ganz und gar aus dem Haus des Apothekers, die Fäden stetig abspulend. Draußen auf der Straße schlossen sie sich anderen ihrer Art an, die nach gleichem Werk aus weiteren Häusern der Umgegend gekrabbelt waren. Einer Flut kleiner Chitinpanzer gleich wälzten sie sich
dahin, in so großer Zahl, daß die Geräusche ihrer dürren Beine auf dem Pflaster als unruhiges Ticken die Nacht über diesem Teil der Stadt erfüllte. Doch gab es in den Häusern ringsum niemanden mehr, der es noch zu hören vermocht hätte. Spinnfäden zogen sich durchs Dunkel wie haarfeine Risse, hinter denen silbriges Licht glitzerte. Denn jeder einzelne Faden glomm, als fließe etwas in ihm. Etwas Lebendiges. Oder Leben selbst … Und sie alle verliefen schnurgerade, im Schlepp des Spinnenheeres, auf die Heiliggeistkirche zu.
* Die Kirche war nicht mehr dem geweiht, dem zu Ehren sie einst erbaut worden war. Alles von christlicher Symbolik war dem Blick entzogen. Riesige Tücher, löchrig wie von Motten zerfressen, verhüllten sämtliche Insignien, Kreuze, Heiligenbilder und selbst den Altar, in dessen Schatten Lilith Eden am Boden kauerte, unfähig etwas anderes zu tun, als nur zu starren, stumm vor – Entsetzen …? Auch; aber es war nicht allein Entsetzen, das die Eiseskälte in ihren Gliedern und ihrem Geist nährte und ihr Tun und Denken lähmte. Zumindest zum gleichen Teil rührte der Frost, der alles unter ihrer Haut ummantelte, von einem nie zuvor erfahrenen Gefühl her, das eine schaurige Abart von – Wiedersehensfreude sein mußte. »Das kann nicht sein …«, kam es beinahe tonlos über Liliths Lippen, »… es ist … unmöglich …« Und es DARF nicht sein! brüllte ein Gedanke in ihr, stumm und doch so laut, daß es schmerzte. Aber der Schmerz hatte noch andere Quellen, aus denen er hundertfach stärker floß und die in jeder Sekunde, die Lilith den Blick nicht abwenden konnte von dieser »Unmöglichkeit«, neu gespeist wurden. Als sollte der Schmerz daraus nicht mehr versiegen. Vielleicht würde er nie versiegen.
Denn Lilith hatte nie wirklich verwunden, was sie ihr angetan hatte. Ihr – Beth MacKinsey. Beth, von Kollegen, Freunden und auch Feinden oft »Macbeth« genannt, war Reporterin des Sydney Morning Herald gewesen, als Lilith sie damals (in der Zukunft) kennengelernt hatte. Schließlich waren sie zum vielleicht seltsamsten Liebespaar der Gegenwart geworden – allein deshalb schon, weil eine amouröse Beziehung zwischen einem Menschen und einem Vampir zu jeder Zeit etwas höchst Seltenes gewesen war. Freud und Leid hatten sie in der Folge geteilt. Mehr Leid denn Freud, wie Lilith im nachhinein bitter bekennen mußte. Das Leid hatte zuletzt im Tod Beth MacKinseys gegipfelt. Und Lilith Eden selbst hatte die Liebes- und Lebensgefährtin getötet! Obwohl es geschehen war, als Lilith nach dem Trunk aus dem Lilienkelch alles Menschliche eingebüßt hatte und nicht mehr sie selbst gewesen war, hatte sie sich die Untat nie verzeihen können. Nie hatte sie Beth’ Anblick vergessen, wie sie mit gebrochenem Hals im Korridor der Zeit bei Uruk gelegen hatte. Wohl hatte Lilith das vielleicht furchtbarste Bild ihres Lebens bisweilen verdrängen können, aber immer wieder war es in ihr aufgestiegen, wie ausgespien vom Unterbewußtsein, als wollte selbst dieser Teil ihres Seins sich nicht mit solcher Schuld besudeln. Wie froh hätte Lilith nun sein müssen – jetzt … … da Beth MacKinsey vor ihr stand! Lebend und unversehrt! Wenn auch – verändert … Transparent schien ihre Haut, fast gläsern, und etwas Unbeschreibliches umwehte sie, nicht zu sehen, aber spürbar – spürbar gefräßig, gierig … Nein, Lilith empfand keine wirkliche Freude ob dieser ungeheuer-
lichen Begegnung mit Beth. Wenn auch nur ein Funke davon in ihr war, so erstickte er im Chaos all jener Emotionen und Fragen, die in Lilith wirbelten wie von einem Orkan erfaßt. Wie kam es, daß Beth lebte? Wie konnte sie hier leben – in dieser längst vergangenen Zeit, in die es Lilith verschlagen hatte? Wie war sie in diese Kirche zu Heidelberg gelangt? Wer waren die drei unheimlichen Fremden, in deren Gesellschaft Beth aufgetaucht war – wie von einem jenseitigen Sturm hergetragen und aus dem Nichts hier hingespien? Lilith fand nicht auf eine einzige der Fragen, die sich in dieser Aufzählung noch lange nicht erschöpften, die Antwort. Dafür allerdings entdeckte sie tief in sich nun doch einen vagen Hauch von Freude – oder wenigstens Dankbarkeit. Zum allerersten Mal empfand sie es nämlich nicht als Fluch, in einen fremden Leib hineingeboren worden zu sein, nachdem sie der Hölle entkommen und in die Vergangenheit geraten war. Denn in dieser Larve – im Körper des Mädchens Lena, deren Ich Lilith verdrängt hatte – durfte sie sich sicher fühlen. Beth konnte nicht erkennen, auf wen sie da tatsächlich getroffen war. Und zumindest darüber war Lilith froh. Denn sie war nicht erpicht darauf zu erfahren, wie eine Tote reagierte, die unversehens wieder ihrer Mörderin gegenüberstand – und womöglich Gelegenheit erhielt, den eigenen Tod zu rächen … Aber so sehr Lilith sich von all diesen Fragen und Gefühlen auch erschlagen fühlte, fand sie doch kaum Zeit, sich damit zu befassen oder auch nur halbwegs Ordnung in das Durcheinander zu bringen. Denn die Dinge begannen sich bereits von neuem zu überschlagen. Wieder fing es mit einer Frage an, die augenblicklich weitere nach sich zog. Wie ging es an, daß Beth MacKinsey, aus Überzeugung der gleichgeschlechtlichen Liebe zugetan, – einen Sohn haben konnte?
Und wie um alles in der Welt konnte sie, die doch noch keine dreißig Jahre zählte, die Mutter eines – – alten, siechenden Mannes sein …?
* »Seid gegrüßt – Mutter.« Zäh sickerten die Worte des gebrechlichen Alten in Lydias Bewußtsein. Lydia … Noch immer hatte sie sich nicht gänzlich von diesem Namen lösen können. Jahrelang hatte sie ihn geführt, wohl wissend, daß es nicht ihr wirklicher war. Erst seit kurzem – kurz im Vergleich zu den langen Jahren, die sie nun schon diese andere Existenz führte und lebte – wußte sie, wer sie tatsächlich war, woher sie kam und wie es zu diesem zweiten Leben (wenn es denn ein Leben war mit all den Dingen, die es zur Hölle machten) hatte kommen können. Das Wissen um ihr früheres Leben half Beth MacKinsey jedoch nicht im Mindesten, dieses andere Leben wieder zu führen, oder auch nur wieder zu jener Beth MacKinsey zu werden, die sie einst gewesen war – oder einst sein würde, in der Zukunft, weit über dreihundert Jahre entfernt … In diesem Leben hier mußte sie für immer ein Ungeheuer bleiben, vor dem alle die Flucht ergreifen würden, wenn sie nur wüßten, wer ihnen da gegenüberstand – oder wozu diese »Frau ohne Haut« imstande war. Dieser Fluch würde für alle Zeit währen, im wortwörtlichsten Sinn. Denn Beth’ Zeit würde nie enden. Sie hatte Zeit wahrhaft im Überfluß, konnte aus aller Zeit der Welt schöpfen – nein, mußte sie sich nehmen, weil sie dazu verdammt war, es zu tun. Wie hatte sie sich deswegen selbst einmal so treffend genannt? Ach ja – eine Diebin der Zeit … Das Gegenwärtige kollidierte mit den Gedanken an Vergangenes,
verwob sich momentelang damit. Verwirrung war für Beth die Folge – und Unverständnis: Was redete der unübersehbar todkranke Alte da? Warum grüßte er sie als Mutter? Und – was war das überhaupt für ein Ort, an dem er sie willkommen hieß? Beth sah sich um, mühsam Erinnerung von Tatsächlichem trennend. Nur zögernd formte sich ein Bild ihrer Umgebung. Eine Kirche. Die Bänke mit Männern besetzt, zwei Dutzend vielleicht. Rissige Tücher hingen ringsher über allem (Tücher? Spinnweben – ohne Zweifel! Denn noch immer krabbelte und kroch es darin, wuchsen die Gespinste in alle Richtungen hin, so rasch, daß es mit bloßem Auge zu sehen war!). All dies jedoch verlor für Beth MacKinsey an Bedeutung, kaum daß sie es wahrgenommen hatte. Trotzdem all das erschreckend war, gab es etwas, das ihre Aufmerksamkeit in viel stärkerem Maße auf sich zog. Wie ein Magnet Eisenspäne zu sich zerrte, band es Beth’ Blicke mit unirdischer Gewalt an sich. Es – das waren die anderen. Die Drei. Drei Männer, die sich im Aussehen zwar voneinander unterschieden, denen aber doch eines gemein war: Etwas umwehte sie wie der Hauch unsichtbaren Giftes, spürbar gefährlich und stinkend. Und ihr pestilenzartiger Gestank war es, der Beth endlich ins Hier und Jetzt zurückriß. Denn dieser Gestank war ihr vertraut geworden in den vergangenen Jahren, zu ihrem steten Begleiter fast. Wie ein Jagdhund der Witterung des Wildes war sie diesem Geruch gefolgt, um den zu finden, der ihn allerorten hinterließ. Längst wußte Beth, daß er auf seinem Weg weit mehr zurückließ als nur seinen Brodem; es mochte auch so sein, daß alles andere diesem Gestank entwuchs: Zwietracht, Haß – und schließlich Krieg. Aber Beth war seiner Fährte nicht nachgegangen, um seinem unseligen Treiben Einhalt zu gebieten. Ein ganz persönlicher Grund hat-
te sie dazu veranlaßt; der persönlichste Grund wohl, der eine Frau bewegen konnte. Er, dem sie in den Kerkern zu Prag vor nunmehr 17 Jahren zum ersten Mal begegnet war, hatte ihr ein knappes Jahr danach bei ihrem zweiten Aufeinandertreffen ihr Kind genommen. Und fortan war sie auf seinen Wegen gewandelt, war ihm nachgegangen, mit dem Schwur im Herzen, nicht eher zu ruhen, bis daß sie ihn gestellt hatte. Bis er ihr verraten hatte, weshalb er ihr David genommen hatte. Und bis sie ihren Sohn wieder in Armen hielt. Vor den Toren von Paris hatte sie ihn endlich aufgespürt – vor wenigen Minuten erst! So vieles war geschehen in der einen Minute ihres Wiedersehens. Alles war anders geworden, ausgelöst allein von seiner Präsenz, die Beth während ihrer Suche oft aus dreierlei Richtung gespürt zu haben meinte. Nun wußte sie, wie es hatte sein können. Denn er war nicht allein, war nicht ein Einziger. Er war drei. Dreigestaltig. Und keine dieser drei Gestalten, in denen er sich hier zeigte, mochte seiner wahren auch nur annähernd gleichkommen. Einmal hatte er Beth gefragt, ob sie sein echtes Antlitz schauen mochte – und ihr zugleich prophezeit, daß sie damit den wahnsinnigsten aller Tode sterben würde … Sie hatte es nicht gewollt, und er hatte sie nicht gezwungen. Heute Nacht jedoch, in dieser entweihten Kirche, würde er sein wahres Gesicht zeigen – und mehr noch. Niemand hatte es Beth verraten, niemand auch nur heimlich davon gesprochen – aber es lag in der Luft. Der kündende Schatten von etwas Großem hing über allem, frostkalt und erfüllt von unzähligen anderen, unsagbaren Dingen … Wieder wurde Beth abgelenkt. Etwas, das vor Jahren brutal zerrissen worden war, begann sich zaghaft neu zu bilden: ein Band von jener Art, wie es nur für eine ganz besondere Verbindung zweier
Menschen steht – – und wie es doch unmöglich sein konnte! Nicht hier, nicht zwischen ihr und diesem … »Leugnest du die Liebe zu deinem Sohn, Mutter?« fragte der abgemagerte Alte, unverwandt lächelnd, wie er es schon bei seinen ersten Worten getan hatte. »Wie kann es …?« begann Beth, flüsternd nur, und doch hallte ihr Wispern gespenstisch von den Wänden des Kirchenschiffs wider. Kann es … kann es … kann es … »… sein, meinst du?« vollendete der von schlimmster Krankheit Gezeichnete Beth’ Frage. Sein Lächeln wuchs, und mehr denn zuvor ähnelte sein Gesicht nun einem grinsenden Totenschädel. Beth nickte, nachdem sie ihre Fassung zumindest einigermaßen wiedererlangt hatte. »Wie könntest du mein Sohn sein, Alter?« zischte sie. »Ich hätte nicht übel Lust, dir das bißchen Zeit zu nehmen, das dir noch bleiben mag, du …« Beth verstummte. Das Band, durchfuhr es sie, es wird – stärker … nein, bitte … nicht! »Du spürst es«, behauptete ihr Gegenüber, der jedes Zucken ihrer Miene richtig zu deuten vermochte, ganz so, als kenne er sie von Geburt an und mithin in- und auswendig. »Aber wie kannst du …«, erwiderte Beth verkrampft und stockend. »Mein Sohn müßte ein Junge, ein junger Bursche allenfalls sein …« Der Alte lachte ihr ins Gesicht, boshaft und schallend. »Glaubst du im Ernst, ein Kind, das deinem Schoß entschlüpfte, würde altern wie jedes andere? Meinst du nicht, daß die Zeit für deinen Sohn eine ganz besondere Rolle spielen würde?« Natürlich. Beth senkte den Blick, weil sie seinen Anblick nicht länger ertragen mochte. Wie hatte sie nur glauben können, ein Monstrum, wie sie es war, könnte ein normales Kind gebären – eines, das
sich normal entwickeln würde? Für einen Moment streiften Beth’ Augen die Drei, die – oder wenigstens doch einer von ihnen – ihr den Sohn geraubt hatten. Sie war nie gründlich der Frage nachgegangen, wessen Samen sie einst befruchtet hatte. Vielleicht hatte sie die Antwort geahnt, und womöglich hatte sie sich vor ihrer konkreten Formulierung insgeheim gefürchtet und sie deswegen nicht wirklich gesucht. Aber wenn es sich so verhielt, wie sie fürchtete, dann wußte Beth, daß es sich nicht um eine Vaterschaft handelte, wie sie in menschlichem Verständnis galt. Dann mußte ihre Art anders, entsetzlich sein, und Beth wollte niemals erfahren, wie es sich damit im einzelnen verhielt. Es war furchtbar genug, ansehen zu müssen, welchen Sohn ein solcher Vater gezeugt hatte. »David …«, flüsterte sie, ihrem Widerwillen trotzend und den lange vor seiner Zeit gealterten Mann wieder ansehend. Der schüttelte das gräßliche Haupt. »Diesen Namen gabst du mir, Mutter. Hier jedoch hieß man mich anders.« Beth erwiderte seinen Blick stumm fragend. »Man kennt mich als Charles Belier.« »Belier?« echote Beth. Sie war der Sprache, die in Frankreich gesprochen wurde, halbwegs mächtig geworden auf ihren Reisen. »Das bedeutet …« Der Alte nickte, abseitig lächelnd. »… Widder. Wie passend, nicht wahr?«
* Obwohl es in dem düsteren Licht im Inneren der Heiliggeistkirche schlicht unmöglich war, lag der Schatten seiner eigenen Hand um Balthasar Auers Hals. Der Schmied vermochte es nicht zu sehen, aber er spürte ihren jenseitskalten Griff. Und wie so oft in den vergangenen dreizehn Jahren hatte er das entsetzlich beklemmende Ge-
fühl, die Finger der Schattenhand würden sich immer enger um seine Kehle schließen, als wollten sie ihn erwürgen. Aber das würden sie freilich nicht tun. Sie trieben nur grausigen Schabernack mit ihm, denn nicht er befahl dieser Hand, sondern sie beherrschte ihn. Seit jener unheiligen Nacht im September des Jahres 1622 … Ums Haar hätte Balthasar Auer aufgeschluchzt, während er nun so dasaß in der Kirchenbank, in den Reihen all derer, die sich des gleichen Vergehens schuldig gemacht hatten wie er. Der Schatten der Hand erstickte ihm den Laut jedoch noch im Halse. Verdammte waren sie allesamt, die sich heute Nacht in der Kirche versammelt hatten – um den letzten Rest des Preises zu zahlen für das, worauf sie sich seinerzeit nur allzu willig eingelassen hatten. An besagtem Septembertag war der Krieg auch in Heidelberg eingezogen, und seine Hunde hatten gar fürchterlich gewütet und geaast in der Stadt. Marodierende Landsknechte hatten Leid und Tod in beinahe jedes Haus gebracht, und einer hatte Balthasar Auer die linke Hand abgeschlagen, ehe der Kaspar Henninger ihm wenigstens noch das Leben gerettet hatte. Den zweien war hernach ein eigentümlicher Geselle gegenübergetreten. Sie hatten sich täuschen lassen von der Gestalt des Edelmannes, derer er sich bedient hatte. Und nach all dem Schrecken, den ihnen dieser unselige Tag beschert hatte, waren sie ohne groß zu zaudern auf das Angebot eingegangen, das der Fremde den Männern angetragen hatte. Nie mehr, so hatte er gesagt, würden Krieg und Pest in Heidelberg einkehren, wenn sie ihm ihrerseits zu gegebener Zeit einen Dienst erweisen würden. Weitere Männer, die sich dem Pakt anschließen wollten, waren rasch gefunden in dieser Nacht, da viele nichts weiter hatten behalten dürfen als ihr Leben. Das Leid hatte sie anfällig gemacht für den obskuren Handel, und so hatten sie ihn besiegelt und als Pfand für
ihre Treue ihre eigenen Seelen gegeben. Narren, die wir waren, ging es Auer durch den Sinn, während die Finger seiner linken Hand ihm nun wie Spinnenglieder übers Bein krabbelten, ohne daß er sie daran hätte hindern können. Seine linke Hand … Der Schmied lachte stumm und voll Bitternis. Diese Hand war nicht die seine. Sie war es in all den Jahren nicht geworden, nachdem der Fremde sie damals aus seiner Rocktasche gezogen und Balthasar Auer an den blutigen Stumpf gesetzt hatte. Noch immer gehörte sie vielmehr dem anderen. Und sie war nicht das Einzige, über das jener andere in Heidelberg gebot. Im Grunde hatten die verschworenen Männer, die er als »Loge der Nacht« bezeichnet hatte, ihm ihre ganze Stadt quasi zum Fraße vorgeworfen. Und nun war er gekommen, um sich daran zu laben. Die Gedanken Auers krochen zurück aus der Vergangenheit, aber sie wandten sich ihr gleich wieder zu, kaum daß der Schmied den Blick nach vorne zum Altar gerichtet hatte. Dorthin, wo der Dreigestaltige erschienen war und sich jene seltsame Frau, die im Gefolge des einen gekommen war und beinahe gläsern wirkte, gerade mit Charles Belier unterhielt. Charles Belier … Er war das zweite »Geschenk« gewesen, das der Fremde in jener Nacht hier zurückgelassen hatte. Ein Kuckucksei von besonders übler Art hatte er den Heidelbergern mit ihm ins Nest gesetzt. Ein Jüngling war er damals gewesen, und unter dem Schutz der Loge war er zum Mann gereift, dutzendfach schneller als die menschliche Natur es vorgesehen hatte. Schließlich war er Manns genug gewesen, in die Öffentlichkeit entlassen zu werden, und fortan hatten ihn die ahnungslosen Bürger der Stadt für einen wohlhabenden Tuchhändler aus dem Frankenreich gehalten, der sich in Heidelberg niederließ. Daß er nichts anderes war als der Statthalter des Teufels, wußte niemand, der nicht der Loge angehörte.
Über die Jahre hatte der Pakt der Stadt einzig zum Vorteil gereicht. Denn in der Tat hatte der Krieg von dieser Septembernacht an einen Bogen um Heidelberg geschlagen, und auch sonst hatte es weder Leid noch auch nur Grund zur Klage hier gegeben. Dann jedoch war die Stunde gekommen, in der die Loge ihren Teil des Handels zu erfüllen hatte. Charles Belier hatte die betreffenden Männer zu sich befohlen und – Balthasar Auer spürte würgende Übelkeit in seiner Kehle aufsteigen, als er sich dieser Nacht entsann. Bittere Galle sammelte sich stechend auf seiner Zunge, ätzte seinen Gaumen. Belier, von plötzlichem Siechtum gezeichnet, hatte sich in ihrer Gegenwart übergeben, hatte die Saat erbrochen, die sie, die Logenbrüder, in die Häuser zu tragen hatten. Spinnen. Hunderte von dürrbeinigen Spinnen waren über die Leiber der Männer gekrochen, nachdem sie von Charles Beliers Lippen gefallen und zu ihnen hingekrabbelt waren. Einem jeden von ihnen hatte Belier die Häuser bezeichnet, das er aufsuchen sollte, um seine wimmelnde Last dort abzuladen. So war es geschehen. Stille hatte sich ausgebreitet in all jenen Häusern um die Heiliggeistkirche. Und heute Nacht nun war er (waren sie!) zurückgekehrt nach Heidelberg, um aus dieser Stille neue Kraft zu schöpfen. Nachdem sie ihre alte Macht allerorten hinterlassen hatten, um sich selbst den Boden zu bereiten, den sie als der Eine betreten würden, um darüber zu herrschen. Dies war die Nacht der Zusammenkunft und der Vereinigung des Dreigestaltigen. So hatte Charles Belier sie genannt. Sie würde die Welt draußen verändern. Und dem Tod die Türen öffnen in Heidelberg, hinein in all jene Häuser, in denen bislang nur
des Todes Bruder, der Schlaf, geherrscht hatte. Balthasar Auer schrak auf, und mit ihm rissen auch viele der Verbündeten, die um ihn her saßen und wohl ähnlichen Gedanken nachgehangen hatten wie er, die Köpfe hoch. Die Lautstärke von Beliers Stimme hatte sich verändert, war gewachsen, und sein Ton war befehlend gegenüber dem unheimlichen Weibe, das er vorhin »Mutter« geheißen hatte. »Geh und öffne das Tor!« wies er sie herrisch an. Seine totenbleiche Hand wies zum Kirchenportal hinab. Ohne ein Widerwort schritt die »Gläserne« den Mittelgang entlang, erreichte die Pforte, öffnete deren Flügel – – und ließ die wimmelnde Schar knisternder Leiber ein.
* Tobias Stifter hatte so manches Mal gehört, wie jemand erzählt hatte, daß ihm das Blut in den Adern geronnen wäre. Jeder einzelne von ihnen mußte gelogen haben. Denn wie es war, wenn einem tatsächlich alles Blut stockte und jede Ader verstopfte, anstatt darin zu fließen, konnte keiner von denen je wirklich erlebt haben. Weil’s kaum zu überleben war. Er selbst indes wußte, was es hieß. Seit ein paar Minuten. Nichts an Tobias Stifter erinnerte mehr an den Bruder Leichtfuß, als der er in den Augen der Heidelberger stets gegolten hatte. Entsetzen hatte die Lebenslust aus seinen Zügen getrieben, und die Weichheit der Jugend darin war harten Linien gewichen. Angst und Grauen hielten den jungen Burschen wie Fieber gepackt und rüttelten ihn durch, während er oben auf der Empore der Heiliggeistkirche hockte und den flackernden Blick unverwandt über die Brüstung hinab gerichtet hielt. Liebend gern hätte er weggeschaut und sich verkrochen in irgend-
einen Winkel, um nicht länger mitansehen zu müssen, was dort drunten an Ungeheuerlichem seinen Lauf nahm. Aber er konnte es nicht, kam nicht an gegen die Lähmung, die ihn erfaßt hatte und die nicht einmal sein übermächtiger Wille, dem sonst nichts und nie etwas gewachsen war, zu überwinden vermochte. Und so hockte er nur starr da, so wie er es tat, seitdem er aus Beliers Haus geflohen und der gespenstischen Prozession zur Kirche her gefolgt war. Er hatte die Rede des Tuchhändlers mitangehört, der ihn aufgenommen hatte, nachdem Tobias eine grausige Entdeckung gemacht hatte und mit Balthasar Auer aneinander geraten war. Bis vor kaum einer Stunde hatte der Junge gemeint, Charles Belier habe ihn schützen wollen vor dem Zugriff des Auers und des Henningers und wer auch immer noch mit ihnen unter einer Decke steckte, unter der sie gar Schreckliches treiben mochten. Inzwischen hatte Tobias jedoch auf furchtbare Weise erfahren, daß der Händler selbst mit all dem zu schaffen hatte, dem Anschein nach sogar die treibende Kraft war. Tobias schluckte bitteren Speichel, der sich ihm im Munde sammelte, als er daran dachte, daß er scheint’s auf ewig verflucht war. Seit jenem Tage, da der Krieg nach Heidelberg gekommen war und ihm die Eltern vor den unschuldigen Augen erschlagen worden waren. Sein Leidensweg schien nimmermehr enden zu wollen. Warum sonst hätte ausgerechnet er auf das Treiben dieser Männer aufmerksam werden sollen, als er in Sorge um seine Geliebte Kristine in deren Elternhaus eingedrungen war und dort die ganze Familie in große Spinnenkokons eingewoben vorgefunden hatte …? Spinnen … Diese Tiere (die Tobias erst seit jener Nacht als garstiges Getier empfand) spielten scheint’s eine höchst wichtige Rolle in der Sach’, die sich ihm zu Füßen zutrug und noch lange nicht zu Ende war. Die Frau, die mit einem der drei unheimlichen Kerle dort am Altar
im Sturmwind aus dem Nichts gekommen war, hatte gerade auf Beliers Geheiß hin das Kirchenportal geöffnet – – und nun floß es im Mittelgang dahin wie ein zäher Strom aus körnigem Brei. So wenigstens erweckte es den Eindruck von Tobias’ erhöhter Warte aus. Tatsächlich aber war es eine Flut von Hunderten, vielleicht Tausenden Spinnen, die allesamt dem Altar zukrochen, und jede von ihnen zog von draußen her einen glitzernden Faden nach sich, die nicht abrissen, obschon sie sich ineinander verwickelten und verknoteten. Trotzdem Tobias jedes Wort und selbst die Stimme Charles Beliers zutiefst anwiderte, seitdem er um dessen wahres Wesen wußte, empfand er eine Art absurder Dankbarkeit dafür, daß der gebrechliche Tuchhändler nun endlich wieder sprach. Denn das knackende und knisternde Schaben, mit dem die Spinnenleiber aneinanderrieben und das die Kirche wie ein jenseitiges Flüstern erfüllte, war noch um vieles grausiger anzuhören. »Seht sie euch an«, sagte Belier heiser und voll von unbegreiflicher Ehrfurcht, während er mit zittriger Geste den Gang hinabwies. »Sind sie nicht wunderbar anzuschauen?« Er wandte sich den Dreien zu, die bislang nur stumm dagestanden hatten. Stumm, aber keineswegs unauffällig. Im Gegenteil – Tobias Augenmerk hatte ihnen die ganze Zeit über sogar in besonderer Weise gegolten. Denn von ihnen ging spürbar der verdorbene Brodem aus, der das Gotteshaus erfüllte und mehr noch entweihte, als es die Verhüllung aller christlichen Symbole vermochte. Ihre Ankunft hatte die Kirche vollends ihres eigentlichen Sinns beraubt und sie zu einem Ort gemacht, der ganz und gar unheilig war – mehr noch: Die Gegenwart der Drei hatte alles, wofür dieses Bauwerk stand, ins Gegenteil verkehrt. Und das mochte man durchaus wörtlich nehmen können.
Dabei war an den drei Gestalten dem bloßen Augenschein nach nichts wirklich Absonderliches. Freilich, es waren finstere Gesellen, denen Verschlagenheit und Boshaftigkeit wie mit flammender Schrift auf die Stirne geschrieben stand. Aber trotzdem konnte man Männern ihrer Art auch draußen überall begegnen. Und noch etwas fiel Tobias an den Dreien auf: Sie wirkten, trotz der fast greifbaren Bedrohung, die ihnen anhing, müde. Regelrecht erschöpft sogar, beinahe schon krank. In recht ähnlicher Weise wie Charles Belier, auch wenn sie nicht in solchem Maße vom Siechtum gezeichnet waren wie der Tuchhändler. Aber wenn Tobias Stifter den Alten recht verstanden hatte, dann waren die Drei aus eben diesem Grunde nach Heidelberg gekommen: Damit ihre Schwäche eine Ende fand … Belier trat nun also zu den drei Männern hin, faßte zwei von ihnen an den Schultern und drängte sie dem dritten zu. »Es ist soweit«, sagte er. »Stellt euch hin, wie es sein muß, auf daß es beginnen kann – eine neue Zeit soll anbrechen.« Er schöpfte sichtlich Atem, ehe er weitersprach, laut und erfüllt von unheimlicher Kraft. »EURE Zeit, VATER!« Die drei Männer stellten sich mit den Gesichtern zueinander hin und reichten sich die Hände. Ihre Finger verschlangen sich ineinander – doch nur für einen Augenblick. Dann – verschmolzen sie miteinander! Als bestünden sie aus weichem Wachs, wurden je zwei Hände eins. Und schließlich verschwanden ihre Hände vollends, so daß ihre Arme wie miteinander verwachsen waren. Aber auch die bildeten sich zurück, soweit, bis die Drei buchstäblich Schulter an Schulter dastanden! Ganz nah waren ihre Gesichter nunmehr beieinander, und auch mit deren Zügen geschah Unfaßbares. Als zerrten unsichtbare Finger an den Wangen, Nasen und Lippen, wurden sie aufeinander zugezogen und wuchsen zusammen, bis sie eine fleischfarbene Einheit
waren, deren Form sich fortwährend veränderte, als kochte sie in höllischer Hitze. Derweil drehte Charles Belier sich dem Spinnenheer zu, das wie vor einer imaginären Schwelle Halt gemacht hatte, kaum einen Schritt von den Stufen zum Altarraum entfernt. Belier vollführte eine einladende Geste vor den Tieren und wies auf die Drei, die sich nun fast schon eine einzige monströse Gestalt teilten. »Gebt ihnen die Kraft!« rief Belier. Und die Spinnen setzten sich von neuem in Bewegung. Einer dunklen Masse gleich krochen sie die beiden Stufen hinauf und dann um die widerwärtige Gestalt herum. Erst als sie den Kreis am Boden geschlossen hatten, überwanden die Spinnen den handbreiten Streifen, den sie um die Dreigestalt freigelassen hatten – – und schließlich krabbelten sie an ihr empor. Und um sie herum. Für Tobias sah es aus, als fließe dunkler Schlamm an der absonderlichen Gestalt hinauf. Aber die Tiere taten freilich noch viel mehr, als nur über sie hinwegzukriechen. Sie spannen die verwachsene Dreigestalt ein. Erst waren es weißgraue Bänder, die sich um sie legten. Dann, in Windeseile fast, wuchsen diese Bänder in die Breite und aufeinander zu, bis sie eins wurden. Immer geringer wurde der sichtbare Teil der Gestalt, bis sie endlich zur Gänze in einen klebrigen Kokon eingewoben war, dessen einzelne Fäden glommen und schimmerten, als bestünden sie aus fahlem Licht. Auf Beliers Wink hin zog sich das Spinnengetier zurück, verschwand im Gewimmel der Netze ringsum und zwischen den Bänken, wo es eilends, beinahe wie besessen damit begann, neue Gespinste zu weben. Der menschengroße, unförmige Kokon am Altar stand reglos da. Sekundenlang.
Dann geschah etwas mit ihm. Im allerersten Moment fiel es nicht einmal auf. Erst nach einer Weile erkannte Tobias Stifter, daß er sich nicht getäuscht hatte. Die grauweiße, wie Sternenlicht schimmernde Hülle bewegte sich. Indes ohne sich von der Stelle zu rühren. Nein, sie – blähte sich. Wie eine Lunge, in die gierig Atem gesogen wurde. Oder – als schlüge ein monströses Herz in dem Balg. Und das Ding – wuchs. Kaum merklich. Aber stetig. Und mit jedem Stück, das der Kokon sich ausdehnte, verblaßte das Schimmern seiner Fäden. Als erlösche die »Kraft« darin. Tobias glaubte, etwas wie fernes Stöhnen zu hören, das wieder verwehte, um dann aber schon von anderem ersetzt zu werden. Die Laute erinnerten ihn an jene Nacht, in der seine Eltern hingeschlachtet worden waren. Als ihnen der letzte Atemzug von den Lippen gekommen war, hatte es ganz ähnlich geklungen … Nein, nicht ähnlich –, fuhr es ihm wie ein glühender Schnitt mitten hinein in die Brust und tiefer – – genau so! Sein nächster Eindruck war noch absonderlicher, schlicht unmöglich. Denn einer dieser Laute, die unhörbar und doch wahrnehmbar in der Luft schwebten, schien ihm vertraut. Er hatte ihn schon häufiger vernommen, ganz nah an seinem Ohr, immer dann – – wenn die schöne Kristine nach höchster Lust in seinen Armen niedergesunken war … NEIN! schrie es in ihm. Das konnte nicht sein! Und doch wußte er, daß es so war; wußte es mit größerer Bestimmtheit als er je zuvor etwas gewußt hatte. »Ihr Teufel«, entfuhr es ihm heiser, und der Zorn in seinen Worten erschreckte ihn selbst, weil er nicht gespürt hatte, wie er in ihm aufgestiegen war. Aus jenen dunklen Winkeln, in denen er diesen Zorn
und die besondere Macht selbst, die ihn zu schüren imstande war, zu halten und einzukerkern versuchte. Als Tobias sich hinter der Emporenbrüstung aufrichtete, war ihm, als beobachtete er sich selbst dabei wie ein Unbeteiligter. Und er tat es mit eisigem Schrecken in der Seele. Was, im Namen des Herrn, war er da nur drauf und dran zu tun? »Das werdet ihr büßen«, hörte Tobias Stifter sich selbst knurren, »und wenn’s das Letzte ist, was ich tu’ in diesem verfluchten Leben!« Er sah hinab. Noch hatte ihn niemand bemerkt. Er schätzte die Entfernung zum Boden und befand, daß sie mit einem kühnen Sprung zu überwinden war. Er mußte nur achtgeben, daß er im Gang und nicht zwischen den Bänken aufkam. Sein Blick ging vor zum Altar, wo der graue Balg sichtlich gedunsen war, fast zu doppelter Mannshöhe. Aber noch immer pulste es darin, während nur noch einzelne Fäden der Hülle glommen. Wenn der letzte erloschen war … Tobias wußte, daß es dann zu spät sein würde. Daß er bis dahin etwas getan haben mußte. Er wußte nicht, was er da zu verhindern trachtete. Ebensowenig wie er wußte, wie es anzustellen wäre. Mit einer willentlichen Anstrengung trennte er die letzten Fesseln, die den Zorn noch tief in ihm hielten. Wie angetrieben von dieser Kraft sprang er in die Tiefe – inmitten eines Regens vielfarbiger Glassplitter! Denn klirrend gingen genau in diesem Moment die hohen Fenster der Heiliggeistkirche zu Bruch! Kalte Nachtluft fegte herein. Und mit ihr etwas, das Tobias Stifter wie die gestaltgewordene Rache des Allmächtigen erschien!
*
Beth MacKinsey – Lydia! – hatte das Gefühl, sich aus der Welt in ein imaginäres Schneckenhaus zurückzuziehen. Sie wollte nicht mehr dort sein, wo sie ohne Zweifel war! Sie wollte nicht, daß die Suche, die sie seit 16 Jahren ohne Unterlaß betrieb und die sie in vieler Herren Länder geführt hatte, dieses Ende nahm …! Auf Satans Spuren war sie gewandelt, nur um eines Tages ihren Sohn David wieder in die Arme schließen zu können. Er war das Einzige, was sie je mit dem Geschick anderer Menschen verflochten und ihr zumindest für die Dauer ihrer Schwangerschaft und die kurze Zeit danach einen Anstrich von Normalität verliehen hatte. Zuvor hatte auch sie selbst nur ein Monster in sich gesehen. Eine Anomalie. Ein Ding, das nichts zu suchen hatte unter Mensch und Vampir! Als hätte sie Schiffbruch in einem tosenden Sturm erlitten, war sie 1618 vor den Toren Prags zu sich gekommen – und sofort, bar jeder Erinnerung, in einen teuflischen Reigen verstrickt worden, der ihren Verstand mit wahnsinnigen Visionen heimgesucht und geknebelt hatte … Bis Er gekommen war – und sie aus ihrer Kerkerzelle befreit hatte. Er, dessen Wesen sie damals, vor 17 Jahren, bei seinem ersten von zwei Besuchen noch nicht durchschaut hatte. Denn nach dem grausamen Martyrium, das die Hexenaustreiber in der Prager Burg mit ihr vollführt hatten*, war sie am Ende ihrer Kraft angekommen … Damals hatte sie eine Art Todesaura besessen, eine jenseitige Ausdünstung, die anfänglich jeden, der in ihre Nähe gekommen war, nicht nur rapide hatte altern lassen, sondern überdies auch zu blutrünstigen Taten angestachelt hatte. Diese »Aura«, so vermutete Beth inzwischen, hatte möglicherweise etwas mit der Art und Weise zu tun, wie sie hierher gelangt war. In die graue Vergangenheit, mit der sie – das glaubte sie mit Fug und Recht behaupten zu können – in ihrem Vorleben nicht das Mindeste zu schaffen gehabt hatte. *siehe VAMPIRA T16: »Die Zeit des Bösen«
Eigentlich bin ich tot, hielt sie sich vor Augen. Eigentlich bin ich längst verfault im Korridor bei Uruk. Dort, wo mir das Genick gebrochen wurde. Von IHR. Das Genick … In den fast zwei Jahrzehnten, die sie durch ein von Kriegen verheertes Europa gezogen war, hatten sie immer wieder phantomhafte Schmerzen im Nacken geplagt! Aber wie konnte das sein? Wäre ihr Körper wirklich im Tunnel der Zeit nahe Euphrat und Tigris den gewaltsamen Tod gestorben, an den sie sich wieder zu erinnern meinte, seit Landru die Blockade um ihr Gedächtnis gesprengt hatte – wie hätte dieser Leib dann hier, in dieser Zeit, nicht nur wieder leben, atmen und die Welt mit allen Sinnen wahrnehmen, sondern auch ein Kind heranreifen lassen und gebären können …? Sie war nicht normal. Nicht schwach und bis ins kleinste erklärbar wie andere Menschen. Doch damit hätte sie leben können. Die »Frau ohne Haut« zu sein, damit hatte sie sich in all den Jahren auch abgefunden. Aber sie war immer der Überzeugung gewesen, David mit einem ihrer Freier in der Herengracht zu Amsterdam gezeugt zu haben – aus dem Leichtsinn heraus, der ihrer Naivität und Verwirrtheit zu jener Zeit entsprungen war … Sie hatte es geglaubt und sich daran geklammert, doch im Kern ein Mensch zu sein und eines Menschen Kind ausgetragen zu haben! Bis heute, bis zu dieser Stunde, als sie das greise Wrack hatte rufen hören: »Seid gegrüßt – Mutter!« Und bis Belier beim Anblick der drei Monstrositäten, die sich vor ihren Augen zu einem einzigen, furchtbaren Geschöpf zusammengefügt hatten, gekrächzt hatte: »Stellt euch hin, wie es sein muß, auf daß es beginnen kann – eine neue Zeit soll anbrechen. Eure Zeit, Vater!« Vater …!
Hieß das, daß Er sie geschwängert hatte? Daß Er, der jetzt im gesponnenen Kokon widernatürlicher Spinnen verschwunden war, sie im Haus Herengracht 13 besucht hatte, in einer seiner … Masken? Daß David – dieses häßliche, siechende, von wächserner Haut umspannte wandelnde Skelett – SEIN Sohn war? Ein Kind des Teufels …? Der Gedanke schnürte ihr schier die Luft ab. Und dies, obwohl das Gespenst, in dessen Umarmung sie wie auf Flügeln binnen Sekunden von Paris hierher gereist war, die letzten Dämme in ihr niedergerissen hatte, die letzten Skrupel erstickt und sie zu einem grausigen Pakt genötigt hatte, ehe es selbst bereit gewesen war, sie mit ihrem verlorenen Sohn zusammenzuführen. Nach sechzehn Jahren, die für David wie hundert verflogen waren! Die Jahre waren ihm zerronnen wie jenen Unglücklichen, die Beth auf ihren Wegen bestohlen und um ihre Lebenszeit betrogen hatte … IHR Kind war nicht der Knabe, der Jüngling, den sie gesucht und ersehnt hatte, sondern ein sterbender Diener, ein schauriges Werkzeug desjenigen, der hierher geeilt war, um … … ja, um was zu tun? Sich mit zwei anderen seiner Natur zu vereinigen? Wie? Und warum? Und vor allen Dingen, wie würde es weitergehen? An diesem Punkt waren Beth’ Gedanken angelangt, als nicht nur die Fenster der Kirche barsten, sondern auch durch das Portal, das sie den Spinnen geöffnet hatte, etwas hereinstürmte. Männer! Mönche! Und ein … Beth taumelte fassungslos zurück. Sie bemerkte gar nicht, wie sie das Leuchten verlor, das ihren Körper umgeben hatte. Wie die
Transparenz ihrer Haut erlosch und der Blick auf das Darunter unmöglich wurde! Einem schrecklichen Fanal gleich, das alles Licht in seiner Umgebung an sich zog und aufzehrte, kam außer den Männern und Frauen noch etwas herein. Etwas unglaublich Zürnendes, Wütendes! Und es war bewaffnet – mit der schrecklichsten Waffe, die Beth in diesem oder in einem anderen Leben je erblickt hatte …!
* Der Scherbenregen, der auf sie niederprasselte, ritzte Lenas Haut. Lenas Haut? dachte Lilith benommen. MEINE Haut! Kathalena existiert nicht mehr! Ich habe sie ausgetrieben! Die Schnitte, aus denen hie und da etwas Blut sickerte, waren unbedeutende Wunden. Nichts im Vergleich zu dem, was den Menschen blühte, die sich in diesem Kirchengemäuer zusammengerottet hatten, um … ja, um was eigentlich zu tun? Wie ein alphafter Tagtraum nisteten die Bilder der VEREINIGUNG in ihrer Erinnerung. Unauslöschlich hatten sie sich dort eingebrannt. Und es kam gewiß nicht von ungefähr, daß sie plötzlich überzeugt war, diese Vermählung dreier Ungeheuer zu einem einzigen, gewaltigen sei der Grund, weshalb es Salvat und seine Bruderschaft nach Heidelberg gezogen hatte. Sie kannte die Illuminati und deren Anführer Salvat aus der Gegenwart des ausklingenden 20. Jahrhunderts. Seit Regensburg begleitete sie ihn und seine Anhängerschaft bereits. Sie hatte den hageren Alten gleich wiedererkannt, als sie ihm hier begegnet war. Ob er im Gegenzug sie erkannt hatte, dazu war ihre Meinung immer noch schwankend. Seine Andeutungen in den Gesprächen konnten so oder so gedeutet werden. Und wie kam es, daß Salvat, der in der Gegenwart das Tor zu einer
Dimension, die Lilith wie die Hölle vorgekommen war, bewachte, sich in dieser Zeit aufhielt? Auch er mußte ein Zeitreisender sein, denn sein Äußeres hatte sich in den Jahrhunderten nicht verändert. Oder … war er womöglich ein Vampir? schoß es durch Liliths Bewußtsein. Dies war der Moment, als sie sich von den steinernen Platten vor dem Kirchenaltar aufrichtete und die letzten Reste des klebrigen Kokons abstreifte, in den auch sie gewebt worden war, nachdem die Spinnen sie in einem der Häuser gebissen hatten. Inzwischen hatte ihr Körper das Gift der Spinnen neutralisiert. Sie hatte die Lähmung abschütteln und den Kokon zerfetzen können. Gerade rechtzeitig, bevor die Kirche gestürmt wurde, in der die dämonische Dreiheit die Kraft hunderter Bürger in sich aufsog, um sich neu zu formen. Lilith schüttelte sich wie ein nasser Hund, um die Glassplitter loszuwerden. Die Loge der Nacht, die die VEREINIGUNG des Dreifaltigen vorbereitet hatte, überwand ihre Überraschung, aufgepeitscht von dem Greis, der Beth Mutter genannt hatte! Und noch während die erbitterten Gegner aufeinanderprallten, griff auch Salvat in die Auseinandersetzung ein … Salvat? Lilith erkannte ihn, der an der Spitze der Bruderschaft hereingestürmt kam, kaum wieder. Mit Salvat hatte dieses zermalmende, götzenhafte Geschöpf, dessen beide Fäuste den Schaft einer rubinrot flammenden Klinge umfaßten, kaum noch etwas gemein! Was hier nahte, war ein Manifest der Rache. Ein Vollstrecker, an dem die Schatten zwischen den Furchen seines charismatischen Gesichts lebendiger wirkten als er selbst! »Salvat!« Heiser hatte Lenas Kehle den Namen ausgestoßen. Aber der Gerufene reagierte nicht. Ohne den Boden unter seinen
Füßen zu berühren, raste er auf das Unheil zu, das sich unter den bleichen Spinnfäden sammelte, vereinigte! Aus Salvats Schulterblättern sproß etwas, das Lilith erstarren ließ und sie geblendet hätte, wenn sie nur eine Sekunde länger darauf gestarrt hätte! Etwas, das einen Wind erzeugte, der weder Wärme noch Kälte enthielt und der durch das Gebälk der Kirche brauste wie Myriaden winzigster schillernder Vögel … Lilith fühlte sich davon zu Boden geworfen, und Lenas Körper schien plötzlich das Mannigfache seines früheren Gewichts zu besitzen. Sie klebte förmlich auf den steinernen Platten und begriff nicht, warum es Salvats Anhängern, die ebenfalls diesem tobenden, jenseitigen Flügelschlag ausgesetzt waren, nicht ebenso erging. Alles schien sich auf Salvat zu konzentrieren. Auf ihn und seinen Widerpart im Kokon, dessen äußerer Glanz Fadenlänge um Fadenlänge erlosch, indes die Bewegungen unter der seidig bleichen Hülle noch an Ungestüm zunahmen. Lilith war zum Zuschauen verdammt. Während ringsum der Kampf blutig wurde und mancher Schrei in warmem Schwall erstickte, begann es in den Grundfesten des Gemäuers zu rumoren und verhalten zu beben, als grollte ein Vulkan unter der schwarzen Oberfläche eines tiefen Sees. Salvat hatte den Kokon jetzt erreicht, und Lilith traute ihren Augen nicht, als sie sah, wer als einziger es wagte, sich ihm entgegenzustellen. Es war der siechende Alte. Belier. Beth’ Sohn …! Aber Salvat hatte nicht vor, sich aufhalten oder in seinem Vorhaben umstimmen zu lassen. Für jeden Beobachter mußte klar sein, daß Belier nur ein weiteres Opfer der Klinge aus lohendem Rubin werden würde. Und dann fauchte der Stahl, der in keiner irdischen Schmiede ge-
formt worden sein konnte, auch schon auf das schüttere Haar des angeblichen Tuchhändlers nieder – mit einer Wucht, die gewiß nicht nur genügte, um seinen Schädel zu spalten, sondern seinen ganzen Körper vom Scheitel bis zum Schritt in zwei exakt gleiche Hälften zu zerteilen … Jetzt! Jetzt würde das unmögliche Kind einer unmöglichen Frau und ihres höllischen Galans sterben …
* Ewigkeitslange Momente stand Beth da, einem grotesken Standbild gleich – und keineswegs wie gebannt, sondern wirklich und tatsächlich in Bann geschlagen von dem, was durch das Portal in die Kirche einfuhr. Anders war die Art dieses Auftrittes nicht zu nennen, und in gleicher Weise raste das monströse Geschöpf den Mittelgang zwischen den Bankreihen entlang – ohne daß es einer Bewegung seiner Füße oder auch nur einer Berührung des Bodens bedurfte. Es kam heran in einem Orkan, den es selbst entfesselte, auf eine Weise, die Beth’ Blick sich zu akzeptieren weigerte. Es war, als trüge eine brodelnde Wolke dieses Wesen, die es einhüllte, unsichtbar, aber spürbar vorhanden und gespeist von einer Macht, die Zorn und Haß von nichtirdischer Qualität war. Selbst die lohende Klinge in den Fäusten dieses Wesens (das Beth viel, sehr viel mehr schien denn ein Mann) bezog ihre Energie offenbar aus dieser kochenden Aura. Als wollte die Schneide bersten unter dieser Kraft, ästelten sich Blitze durch ihre Rubinröte wie feine Sprünge. Gleich würde die gesamte verheerende Gewalt der Klinge in eben jenem Streich explodieren, zu dem sehnige Fäuste sie schon in die Höhe gerissen hatten. Und es konnte längst keinen Zweifel mehr daran geben, wem dieser vernichtende Hieb galt.
Denn der Blick dieses zürnenden Wesens bohrte sich schon jetzt tief hinein in das, was es mit der lohenden Klinge zu zerschlagen und zerstören trachtete. Den Kokon … Ohne ein Glied rühren zu können richtete Beth ihre Augen auf den grauweißen Balg, in dessen Hülle es inzwischen nur noch vereinzelt fahl glomm. Zugleich nahm sie noch etwas anderes wahr: Das Blähen des Kokons hatte zugenommen; es ging nicht mehr ruhig und gleichmäßig vonstatten, sondern deutlich schneller, beinahe hektisch. Als wüßte das, was immer sich jenseits des Gespinstes entwickelte, daß nunmehr winzigste Sekundenbruchteile entscheidend sein würden … »Nein!« Beth glaubte zu schreien, aber es war kaum mehr als ein Hauch, der von ihren Lippen tropfte. Nur aus den Augenwinkeln hatte sie die Bewegung registriert. Und als wäre sie der Auslöser, zerbarst mit einemmal die lähmende Hülle um Beth. Sie sah, was geschehen war. Und sie wußte, was gleich geschehen würde. Charles Belier (David!) hatte sich mit einem grotesken Sprung in den Weg des Mannes mit dem Flammenschwert geworfen. Hinein in die Bahn der schon niederrasenden Klinge! Ein rotglosender Bogen hing einem höllischen Regenbogen gleich in der Luft. Und er raste geradewegs der fast kahlen Schädeldecke des Alten zu! In Beth erupierte ein Vulkan. Doch er gebar weder Glut und Feuer, noch Schmerz und Trauer ob des unvermeidlichen Todes ihres Sohnes. Was sich da auftat, schien ein geheimer Winkel tief in ihr zu sein, in dem seit 16 Jahren ein ganz besonderes Gefühl wohl verwahrt geschlummert hatte. Ein Gefühl, das sie zum letzten Mal erfahren hatte, als sie den kleinen David an ihre Brust gedrückt hatte.
Jetzt, binnen eines einzigen Augenblicks, kehrte es zurück! Und noch im selben Moment bestimmte es ihr Tun, dem kein Denken vorausgehen mußte, weil die Zeit nicht mehr für auch nur einen einzigen Gedanken reichte! Die Liebe einer Mutter zu ihrem Sohn erwies sich in diesem Sekundensplitter als übermächtig. Und sie befähigte Beth zu Dingen, die nicht einmal sie für möglich gehalten hätte. Stumm brüllend erwachte in ihr eine Kraft, an der selbst die Zeit zerbrach.
* Etwas … geschah. Es vollzog sich im kleinsten Teil einer Sekunde. Und doch hatte Lilith den Eindruck, als bliebe ihr selbst alle Zeit der Welt, es zu beobachten. Trotzdem reichte diese Zeit nicht, es zu begreifen oder auch nur im Ansatz zu verstehen. Ohne den Grund benennen zu können, wußte Lilith nur eines: Beth hatte es getan. Wofür dieses Es auch stehen mochte. Lilith erfuhr nur seine Auswirkungen – in letzter Konsequenz schließlich am eigenen Leibe … Zuvor jedoch wurde sie Zeuge, wie Beth MacKinsey den siechen Alten (ihren Sohn …) vor dem herabrasenden Flammenschwert Salvats rettete. Etwas schien die Zeit zu zertrümmern, als wäre sie genau in diesem Moment gefroren, erstarrt zu etwas Angreifbarem, das tatsächlich in Trümmer gehen konnte unter unvorstellbaren Gewalten. Und in jedem einzelnen dieser Splitter des Ganzen schien die Zeit in anderer Weise zu verstreichen. Während dieses unbeschreiblichen Momentes wähnte Lilith sich zumindest akustisch in einem Raum voll mit unzähligen Uhren, de-
ren Werke asynchron liefen. Die Geräusche des Tickens überlagerten einander, und doch war jedes einzelne dröhnend laut. Lilith sah, wie Beth sich mit gestreckten Armen nach vorne warf und gegen Charles Belier prallte, ihn fortstieß und beide zu Boden stürzten … … während der Hieb des Flammenschwertes in einem Maße verlangsamt war, daß der eben noch flirrende Halbkreis, den die Klinge be schrieb, wie ein Bogen glühenden, aber festen Metalls in der Luft hing! Erst in dem Moment, da Beth und der Alte auf den steinernen Boden schlugen und vom eigenen Schwung weitergetragen wurden, setzte sich die Bewegung der lohenden Klinge in ursprünglicher Geschwindigkeit fort und – Was im Weiteren geschah, vermochte Lilith nicht zu verfolgen. Denn der Bruch in der Zeit erreichte nun auch sie, als verliefe er in der Form eines Blitzes, dessen Spur sich erst jetzt bis zu ihr hingefressen hatte. Und der »Kontakt« blieb für sie nicht ohne Auswirkung. Zerstörte Zeit und die Macht des Sturmes, der Lilith nach wie vor wie an den Boden nagelte, kollidierten. Kräfte, weit jenseits aller Vorstellung, entluden sich. Und Lilith Eden wurde zu ihrem Spielball. Die unsichtbaren Bande, die sie bislang niedergehalten hatten, zerrissen. Der Stein unter ihr schien sich aufzubäumen – nicht als drücke etwas von unten einfach nur dagegen, sondern als explodiere unter seiner Oberfläche etwas in einer gewaltigen Detonation. Die Gewalt des Sturms verkehrte sich ins Gegenteil, riß Lilith empor. Rubinrotes Leuchten füllte für einen Augenblick Liliths Gesichtsfeld zur Gänze aus. Glut, wie sie vom ärgsten Feuer nicht ausgehen konnte, sengte über ihre Haut. Und dann – eine Berührung, übergehend in brennenden Schmerz. Unter ihr färbte sich das Gespinst des monströsen Kokons dunkel, wo ein blutiger Schwall ihn traf. Das Ende ihres linken Armes schien in Flammen zu stehen – dort,
wo eben noch … Lilith brachte den entsetzlichen Gedanken nicht zu Ende. Der Sturm ließ sie aus seinen wütenden Krallen, spie sie aus. Holz ging unter der Wucht ihres Aufpralls splitternd und krachend in die Brüche. Ihr Bewußtsein erlosch, ehe die Schmerzen es über alle Grenzen hinaus füllen konnten. Reglos blieb Lilith in den Trümmern der Kirchenbank liegen – inmitten eines Dutzends lebloser Männer, deren Seelen nicht länger Pfand in einem unheiligen Handel waren.
* Tobias Stifter glaubte sich umweht von kaltem Hauch, der unmittelbar dem Jenseits zu entströmen schien. Es mußte seine Pforten weit geöffnet haben in dieser Nacht, denn Seele um Seele entstieg rings um ihn her ihrem irdischen Kerker, kaum daß der letzte Funke von Leben darin erloschen war. Er wußte nicht, wie lange er schon so kauerte, nachdem er von der Empore gesprungen war und sich instinktiv zwischen zwei Bänken verkrochen hatte. Denn die Heiliggeistkirche hatte sich in der Dauer seines Sprunges in ein Schlachtfeld verwandelt; ein Kampf war entbrannt, der unweigerlich auch ihm zum Verhängnis werden würde, wenn er es auch nur wagte, den Kopf zu heben. So bekam Tobias in seinem notdürftigen Versteck nicht alles mit von dem, was um ihn herum vorging. Er empfand es als Gnade. Denn was er sah, genügte vollauf, um das entsetzliche Ausmaß und die barbarische Härte dieses Schlachtens zu erahnen. Und was er hörte, ergänzte das Bild in seiner Vorstellung mit grausigen Details. Mönche in langen, erdfarbenen Kutten waren in das Gotteshaus eingefallen wie die Heerscharen des Krieges selbst. Nicht eine Sekunde hatten sie gezögert, auf die in den Bänken hockenden Menschen loszugehen, mit blankgezogenen Klingen, über die Schatten
krochen wie lebende Dinge – und darüber hinaus mit Kräften, die sich himmelweit unterschieden von purer Waffengewalt. Tobias’ zorngeborene Entschlossenheit, ins Geschehen hier unten einzugreifen, war in ihrem Ansturm vergangen wie ein Kerzenflämmlein. Noch ehe die hier versammelten Heidelberger, die Tobias bis vor kurzem samt und sonders noch für ehrbare Leut’ gehalten hatte, auch nur begriffen hatten, daß sie angegriffen wurden, waren die ersten schon tot hingesunken. Und bevor sie sich endlich zur Wehr setzten, hatte der Tod schon die nächsten ereilt. Erlöst … Tobias fröstelte unablässig. Ein ganz eigentümlicher Schrei zog Tobias’ Aufmerksamkeit auf sich. Vordergründig klang er nach Wut und schien erfüllt von eisernem Willen, ein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Dahinter jedoch, als stoße ihn eine andere, eine unterdrückte Stimme aus, meinte Tobias Verzweiflung zu hören. Kaspar Henninger war es, der da so seltsam wie mit zwei Zungen schrie. Einem Gespenst gleich, warf er sich durch eine der längst schon deckenhoch gewachsenen Spinnweben. In den hochgereckten Fäusten hielt er einen eisernen Kerzenständer, mannslang beinahe, und damit rannte er los auf den Angreifer, der ihm am nächsten stand. Der junge Mönch, mit dunklem Haar und fremdländischen Zügen, mußte im Hinterkopf Augen haben. Denn er wirbelte genau in dem Moment herum, als Henninger seine behelfsmäßige Waffe niedersausen ließ. Der Hieb hätte dem anderen ohne Zweifel den Schädel zerschlagen. So aber kreuzte seine Klinge die Bahn und lenkte den Schlag ab. Funken stoben, als das Eisen Splitter aus dem Steinboden schlug. Der Angegriffene holte zum Stich aus. Mitten in die Brust würde er dem Henninger die Klinge treiben, wie um ihm die verfluchte Seele aus dem Leib zu schneiden.
Doch der Streich des Kuttenträgers ging ins Leere. Wie an einem unsichtbaren Seil in die Höhe gerissen, verlor Kaspar Henninger den Boden unter den Füßen. Schreiend und strampelnd schoß er auf. Gleich mußte sein Schädel von unten gegen die Kanzel schlagen, und die Gewalt würde reichen, ihm dabei den Hals zu brechen …! Doch dazu kam es nicht. Etwas Glühendes von der Länge einer Hand sirrte auf Henningers Brust zu und tötete ihn, noch bevor sein Kopf oben anschlug. Ein Seufzen wehte ihm noch von den Lippen, das Tobias selbst über dem Kampfeslärm ringsum vernahm. Die ungeheuerliche Kraft ließ Kaspar Henninger aus ihren Händen. Schwer stürzte der Leichnam zwischen die Bänke. Erst jetzt gewahrte Tobias Stifter das Weib in der Kutte, das nicht weit entfernt stand und gerade eine Armbrust sinken ließ. Zwischen ihr und dem Mann, dem der Henninger den Schädel hatte einschlagen wollen, ging ein stummer Blick hin und her; ganz kurz nur, aber spürbar beseelt von etwas, das Tobias den immerwährenden Jenseitshauch für einen Moment wenigstens vergessen ließ. Dann wurde er von neuem abgelenkt. Von einem Krachen und Splittern, das noch in derselben Sekunde in den dumpfen Laut eines schweren Aufpralls mündete. Die Bänke links und rechts, die Tobias bislang als Deckung gedient hatten, zerbarsten. Hastig wandte er sich im Hocken um und sah in das leblose Gesicht eines betörend schönen Mädchens – – dem die linke Hand abgeschlagen worden war!
* Blut pulste aus dem Stumpf und sammelte sich auf dem kalten Steinboden zu einer dunklen, dampfenden Lache, die schon Tobias’ Knie näßte.
Dumpf erinnerte er sich dieses Gesichts. Er hatte von der Empore aus beobachtet, wie das Mädchen in dem Kokon hinter dem Altar erwacht war und sich befreit hatte. Bekannt war ihm das sündhaft schöne Geschöpf indes nicht. Was hieß, daß das Mädchen nicht in Heidelberg daheim sein konnte. Dann nämlich hätte ein Herzensbrecher wie Tobias Stifter es ganz bestimmt gekannt … Er wußte nicht, auf welche Art das arme Ding die Hand verloren hatte; aber das zählte jetzt auch nicht. Er mußte die Blutung stillen, sonst lief das bißchen Leben, das noch in ihr war, buchstäblich aus dem Leib, in dem gewiß ein Dutzend Knochen gebrochen waren bei dem Sturz. Aus welcher Höhe mag sie herabgestürzt sein? fragte sich Tobias. Er sah nach oben und schauderte unwillkürlich, als sein Blick bei der dritten Empore anlangte. Die Höhe mochte hinkommen … Ein Ruck durchlief den jungen Mann. Was kam’s denn darauf an, von wo das Mädchen gefallen war und was es da oben zu schaffen gehabt hatte? Hilfe brauchte die Fremde, sonst nichts. Und er war der einzige, der sie ihr geben konnte. Womit konnte er den Blutfluß aufhalten? Tobias sah sich hastig um. Hinter den Trümmern der Bänke hing über einer anderen tot der Korbinian Troeltsch. Schuster war er zu Lebzeiten gewesen. Wie mein Vater, ging es Tobias unwillkürlich durch den Sinn. Er vertrieb den Gedanken an seine Eltern und auch den Schmerz, der noch immer damit einherging … Auf allen Vieren kroch Tobias hin zum Troeltsch und zerrte den mageren Leichnam herab. Mit zitternden Händen riß er dem Toten das grobgewebte Hemd vom Leib. Dann kroch er, den Fetzen mit sich zerrend, zurück und – Ein Kübel eiskalten Wassers, der ihm unversehens über den Kopf gegossen worden wäre, hätte ihn nicht mehr erschrecken können als der Anblick, der sich ihm bot.
Der Armstumpf des Mädchens blutete nicht mehr. Konnte nicht mehr bluten, weil – – eine Hand daran saß! � Festgewachsen, ohne Naht oder Narbe, als wäre sie schon immer � dagewesen. Aber es war ohne jeden Zweifel nicht die Hand des Mädchens! Dunkle Haare sprossen aus der Haut, fast wie die Borsten eines Tieres. Kräftig und rissig waren die Finger, offenbar an hartes Zupacken gewöhnt. Tobias schauderte. Nicht allein, weil diese Hand wie hingezaubert am Arm des Mädchens saß. Sondern weil sie schauderhafte Erinnerungen in ihm weckte. An den Auer, der ihn vor Tagen mit seiner Hand – ebenfalls der linken! – berührt und gepackt hatte, nachdem er, Tobias, auf das Grauen im Haus des Apothekers gestoßen war … Der Auer … Die Hand … Ein plötzlicher Zwang ließ Tobias alle bisherige Vorsicht vergessen. Er erhob sich und schaute sich um, so bestimmt, als wüßte er längst, wonach er Ausschau hielt. Dort, ein Stück entfernt im Mittelgang fand er ihn. Balthasar Auer, den linken Arm steif gegen die Brust gepreßt. Dunkle Male am Hals, vier rechts und eines links, rahmten den zerquetschten Knorpel seines Kehlkopfes ein. Tot lag der Schmied da, erwürgt von eigener Hand. Diese Hand jedoch – – fehlte ihm!
* Lilith hätte sich gewünscht, nicht wieder inmitten des Schlachtfelds zu sich zu kommen, dem sie ohnehin nur für kurze Dauer – und auch nur scheinbar – durch den Sturz in die Ohnmacht hatte entrin-
nen können. Als sie jetzt die Augen aufschlug, züngelte ihr suchender Blick förmlich über Lenas linken Arm dorthin, wo das sengende Schwert die Hand vom Gelenk getrennt, einen blutigen Stumpf hinterlassen und eine Schockwelle durch Leib und Seele gepflanzt hatte! Träumte sie? Hatte sie den Hieb der Klinge, die fürchterliche Amputation nur geträumt? Ihr reflexartiger Versuch, die fremden Finger zu spreizen, scheiterte. Die Hand, die Lenas Arm abschloß, verweigerte jede Regung! Eine Hand, viel zu groß, viel zu derb für den Arm, an dem sie festhielt und den keine Narbe, keine noch so winzige Naht als nicht dazugehörig auswies! Nur die Hand selbst tat dies, denn sie war abstoßend häßlich im Vergleich zu dem, was Lilith von Kathalena gewohnt war …! Der Schrei, der sich aus ihrer Kehle quälen wollte, schaffte es nicht ganz. Er krepierte regelrecht im Hals, und fast hätte Lilith gehofft, der Schmerz, den sie beim Niederfahren der rubinroten Klinge gespürt hatte, würde immer noch in ihr pulsieren – als Beweis, daß es geschehen war! Daß sie nicht dabei war, den Verstand zu verlieren! Aber da waren weder Schmerz noch Taubheit. Die neue Hand, die an die Stelle der alten getreten war, ruhte einfach. Sie war fühlbar da, auch wenn sie sich weigerte, den kleinsten Finger zu krümmen … »Ich bin Tobias. Wer … bist du? Zu wem gehörst du? Du mußt dich … in acht nehmen vor dieser Hand …!« Liliths Blick fand den jungen Burschen, der ihr die Worte schrill zugerufen hatte und dessen Augen unablässig zwischen ihr und einem etwas entfernter am Boden liegenden Toten hin und her gingen. Schon ein flüchtiger Blick genügte, um auch Lilith begreifen zu lassen, was dieser Tobias noch vor ihr erkannt hatte: Die Hand, die dem Leichnam dort verblieben war, paßte vom Aussehen her per-
fekt zu der, die jetzt Lenas Arm anhaftete! Lilith wollte etwas antworten, doch die Ereignisse, für die Salvat verantwortlich war, lenkten sie ab. Unwiderstehlich wurde ihr Blick dorthin gezogen, wo der Geflügelte schwebte, dessen aus den Schulterblättern gebrochene Schwingen weder aus ledriger Haut noch aus Federn bestanden, vielmehr aus etwas, das sich unaufhörlich ineinander wand und schlängelte und knotete, als schaute man in eine Grube voller Schlangen. Aus den Augenwinkeln glaubte Lilith zu sehen, wie auch der bei ihr stehende Jüngling das Gesicht dorthin drehte, wo Salvat wütete … … oder vielmehr in seinem Wüten innegehalten hatte! Warum zögerte er plötzlich, die Klinge aus Rubin (alles in Lilith sträubte sich, den Ausdruck Flammenschwert noch einmal zu gebrauchen) gegen den Kokon zu richten? Ihn zu zerteilen und die darin befindliche Brut gleich mit zu spalten, wie es ganz offenbar in seiner ursprünglichen Absicht gelegen hatte? Beeindruckte es ihn so nachhaltig, daß er Lilith verletzt hatte? Unsinn! DIESER Salvat hätte noch ganz andere Opfer gebracht, darauf hätte Lilith jeden Eid geschworen! Sie hatte ja selbst schon fast verdrängt, was sie einander in den zurückliegenden Nächten geschenkt hatten. Sie und der andere Salvat, der sich von diesem berserkerhaften Wüterich unterschied wie der Tag von der Nacht! Schon nach der Dauer weniger Herzschläge wurde Lilith siedend heiß klar, daß auch dieser Salvat nicht unbezwingbar und bei weitem nicht so mächtig war, wie sein Auftreten hatte glauben machen sollen. Salvat zögerte nicht etwa, den Kokon zu zerstören, weil er urplötzlich den Sinn seines Vorhabens in Frage gestellt hätte. Sondern weil das, was sich in der sich pulsierenden Hülle verbarg, seinem Wollen etwas gleich Mächtiges entgegensetzte!
Die Brut darin hatte begonnen, sich zu wehren! Kaum noch ein Faden glomm. Der Prozeß, aus dem etwas hervorgehen würde, was auf dieser Welt ohnegleichen war, stand unmittelbar vor seinem Abschluß. Vielleicht war er bereits vollendet, und das Biest (wie sonst sollte man es nennen?) holte bereits aus, den Kokon selbst zu zerfetzen … Salvat war in Gefahr! Und er wußte es! Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet, wie verzweifelt er gegen den Willen anfocht, der sich aus dem bleichen Sack heraus in seinen eigenen gegraben hatte, als wollte er ihn zwingen, die Klinge, die seit Minuten wie eingefroren in der Luft hing, gegen sich selbst zu führen! Das durfte nicht geschehen. Niemals. Und ganz bestimmt nicht hier, denn wer außer diesem geflügelten Zerrbild Salvats hätte diesem Ding, das unter dem Kokon ausgebrütet wurde und eine überwältigende animalische Kraft ausströmte, noch die Stirn bieten sollen? Ich ganz bestimmt nicht! dachte Lilith, mit Gedanken so vehement und lautlos wie das Verderben, das vor ihren und den Augen der Bruderschaft die Oberhand über Salvat zu erringen drohte. Und dann – mit einem Schrei, einem Gebrüll, das auch noch jene Scheiben zum Bersten brachte, die dem ersten Ansturm widerstanden hatten, löste sich Salvat doch aus seiner Erstarrung und gebrauchte die Waffe, die zu keinem anderen Zweck erschaffen schien. Aber würde er sie auch in den Kokon schlagen können, an dem in diesem Moment auch der allerletzte Spinnfaden aufhörte, gespenstisch kalt zu leuchten? Oder würde sie sich nun doch gegen Salvat selbst wenden, gelenkt von der ehernen Bosheit, die in dem Kokon atmete und zuckte?
* Zur gleichen Zeit Die Augen des zum Greis gewordenen Kindes waren rot unterlaufen. Manche der Äderchen schienen nicht nur geschwollen zu sein, sondern unter gewaltigem Überdruck zerplatzt. Dabei hatten sie Segmente der Augäpfel in Blut getränkt, das sich seither schlierenartig in den Gilb der Iris fraß. Dennoch: Davids Pupillen taxierten scharf. Ihnen entging nichts, keine noch so geheime Regung, die sich dort, wohin er blickte, auch nur andeutete! »Mutter?« Beth schrak zusammen, als wäre nicht die Stimme ihres Sohnes, sondern ein Hagel eisiger Splitter in ihr Gehör gedrungen. Vielleicht entsetzte es sie so extrem, weil sie einen absurden Moment lang fürchtete, dieses von einem baldigen Tod gezeichnete Wesen, in dessen blutunterlaufenen Augen sich nur noch ein zaghafter Lebensfunke spiegelte, könnte ihre Gedanken lesen. Doch diese Furcht blieb weiter unbeweisbare Spekulation. David tat nichts mehr, was den Verdacht geschürt hätte, aber auch nichts, um ihn zu widerlegen. Er sah sie nur an. Beth seufzte tief: »Was hat er dir nur angetan?« »Er?« Für einen Moment wirkte Davids Blick verhangen, als würde er über etwas nachsinnen, was nicht hier und jetzt, sondern vor langer Zeit geschehen war. Dann schüttelte er langsam den Kopf, und trotz dieser Langsamkeit glaubte Beth ein Knirschen zu hören, als riebe Knochen auf Knochen. »Du«, fügte ihr Sohn schließlich hinzu, »du hast mir das angetan, Mutter, nicht er. Er hat es nur vorhergesehen. Und er hat mir die Frist genannt – als ich reif genug war, es zu ertragen. Ich kenne Tag
und Stunde meines Todes, aber ich fürchte ihn nicht. Der Tod ist nicht das Ende. Nicht für mich.« »Was … heißt das? Was hat er dir erzählt? Was weißt du überhaupt von ihm? Ist er tatsächlich der, für den ich ihn halte?« Beth erzitterte in Erwartung von Davids Antworten. Kurz schweifte ihr Blick von ihm ab. Wo waren sie überhaupt? Sie hatte den Mann, der sich Charles Belier nannte (Widder, rief sich Beth in Erinnerung), aus der tödlichen Kurve der herabsausenden Klinge gerissen – aber danach, draußen vor der Kirche, hatte plötzlich er sie vom Ort des Geschehens weggelenkt. Hatte ihr den Weg die Hauptstraße hinab bis zu einem großen Platz gewiesen, an dessen Rand sich ein mehrstöckiges Haus erhob. In der steinernen Fassade hatte Beth die von Künstlerhand eingemeißelten Porträts eines Mannes und einer Frau erblickt. Bei dem männlichen Konterfei handelte es sich unzweifelhaft um David in bereits fortgeschrittenem Alter, die Frau jedoch war Beth unbekannt. »Ist das – dein Geschäft?« fragte sie, da ihr vergreister Sohn nicht sogleich auf die gestellten Fragen einging. Er nickte. Wieder knirschte es. Das Geräusch, obgleich kaum wirklich laut, schien von den Wänden nicht nur zurückgeworfen, sondern im Widerhall gar noch verstärkt zu werden. Das ganze Viertel – die ganze nächtliche Stadt! – mußte es hören. Beth fröstelte. Ihre Knochen waren kalt wie Porzellan. Waren sie auch so spröde und zerbrechlich geworden … wie die Davids? Sie konnte sich nicht länger der Wahrheit verweigern! Ihr Sohn war ein Greis. Sein Leben, das sie ihm unter Schmerzen geschenkt hatte, neigte sich bereits dem Ende zu. Doch vielleicht gab es einen Weg … »Ich kann dir helfen«, sagte sie, ein wenig verwundert und noch mehr bestürzt über ihre eigenen Worte. Sie waren umgeben von Tuchballen, von gefärbten Stoffen und
solchen, die in ihren Naturton behalten hatten. Hatte David dieses Kontor als Scheinexistenz aufgebaut, allzeit in Erwartung des Augenblicks, den sein Vater ihm dereinst prophezeit hatte? »Helfen?« wiederholte David. »Wobei?« Er umfaßte immer noch ihre Hand. Obwohl er ihr gerade vorgeworfen hatte, daß sie die Schuld an seiner Vergreisung trug, schien er sie trotzdem keineswegs zu hassen. Durch die Entstellungen des Alters hindurch versuchte Beth, einen Blick auf ihn zu werfen. Auf die Person, die sie vor anderthalb Jahrzehnten erst im Arm gewiegt und an ihren Brüsten gesäugt hatte. Und tatsächlich, es schien zu gelingen! Die abstoßende Kruste brach auf. Beth wußte kaum, wie ihr geschah, aber mit einemmal schmeckte sie Tränen auf ihrer Zunge. Tränen, die ihre Wangen herabliefen und ihre Lippen näßten. »Ich kann«, sagte sie mit halb erstickter Stimme, »dir vielleicht wiedergeben, was du so früh schon verloren hast!« »Was?« »Deine … Jugend! Dein Körper mag gealtert sein – aber deine Seele ist immer noch jung! Sie ist erst sechzehn Jahre alt, David – sechzehn Jahre! Das Schicksal, nicht ich, hat dich um alles betrogen, was einem Menschen an Schönem widerfahren kann. Aber das muß nicht so bleiben. Noch ist Zeit!« »Zeit?« echote er verständnislos, nein, schlimmer: abwehrend. »Ja!« Ihre Stimme wurde schrill vor Erregung. Sie suchte die Frische eines Sechzehnjährigen in den Augen des Greises und war entsetzt, dort nur den stumpfen, erloschenen Glanz eines Hundertjährigen zu finden. Und dann, fast schon verzweifelt, unterbreitete sie ihm das Angebot, das sie vor sechzehn Jahren schon Juilette hatte machen wollen, in der Gewitternacht, als die Alte aus Morlaix von Davids dämonischem Vater getötet worden war. »Ich werde versuchen«, sagte Beth, »dir die verlorene und verflos-
sene Zeit zurückzugeben! Damit du keine Angst mehr vor dem Sterben haben mußt. Damit du –« »Ich habe keine Angst!« Davids Schrei, die Hysterie einer brüchigen, aller Kraft beraubten Stimme brachte sie zum Schweigen. Jetzt zerrte er doch seine Hand aus der ihren. »Du begreifst nicht«, keuchte er. »Du hast nichts verstanden! Mein Körper mag von Maden und Würmern zerfressen werden, aber ich werde ewig existieren! In jedem Körper, den ich mir nur wünsche – und wo immer ich sein will! Das hat er mir versprochen, und er hält seine Schwüre! Er nimmt nicht nur, er gibt auch so viel …« Beth krümmte sich leicht. Davids Worte erinnerten sie daran, was das negierende Wesen, diese Urkraft auch ihr gegeben, nein angetan hatte. Macht! Aber dafür würde IHM auch ewig ein Teil von ihr gehören! Er tat nichts umsonst – niemals und bei niemandem! »Du bist verloren, wenn du das glaubst«, rann es über ihre Lippen. »Und du bist verloren, wenn du glaubst, ihn betrügen zu können«, erwiderte David wieder ruhig und gefaßt, »wie du es mit der Zeit zu tun gelernt hast …« Sie grub ihre Blicke wie Dorne in sein verfallenes Antlitz. Die Illusion, dahinterblicken und das freischürfen zu können, was Falten und welke Haut verbargen, schwand wie ein Sonnenstrahl, der vom Schatten einer Wolke erstickt wird. Beth war allein, unsagbar allein, denn gerade hatte der Alte neben ihr aufgehört, David zu sein. »Ich wünschte«, flüsterte sie, »ich wäre dir nie mehr begegnet …«
* Die Klinge aus flammendem Rubin teilte das aufgeblähte, straff ge-
spannte Spinngewebe – die Hülle, deren einzelne Fäden für einen monströsen Moment, und nachdem sie ihren kühlen Glanz verloren hatten, wie Adern aussahen. Adern, durch die das Blut aller eingewebten Bewohner dieses Viertels strömte …? Nein, befand Lilith, die Salvats mit aller Wucht geführten Streich aus Lenas weit aufgerissenen Augen verfolgte. Blut war es nicht, was die ehemals silbrigen Fäden transportierten. Was dann? Kraft! antwortete sie sich erneut selbst. Das, was hier neu und verändert geboren wurde, brauchte Kraft. Und die stahl es den Heidelbergern! Stahl sie, um aus einem vermutlich kräftezehrenden Akt der Vereinigung nicht völlig geschwächt und wehrlos hervorzugehen, sondern … Aus dem Mund des jungen Mannes neben Lilith rann ein Laut baffen Entsetzens. Lilith erging es kaum besser. Die weiche Schale, in die Salvats Klinge eingedrungen war, erinnerte mehr denn je an die Puppe eines Insekts. Und welche schreckliche Form sich aus der »Larve« entwickelt hatte, enthüllte nun der tiefe Schnitt der Klinge, die sich geradezu grotesk langsam durch den ihr entgegengesetzten Widerstand (aus Fleisch und Blut und Knochen?) senkte. Die Metamorphose im Innern des nackten, dämonischen Uterus war abgeschlossen. Vielleicht hatte dem »fertigen« Geschöpf darin nur noch eine einzige Sekunde gefehlt, ehe es den Kokon selbst zerteilt hätte, um zu entschlüpfen. Salvats Klinge machte dieses Vorhaben zunichte. Sie hinterließ auf ihrem Weg durch den Körper dieser … Brut eine klaffende Wunde! Lilith blinzelte. Sie versuchte zu sehen, was dort in der erschlaffenden Hülle lauerte, aber gab es überhaupt Worte, um es zu beschreiben?
Eine Ausgeburt der Hölle. Animalisch. Furchteinflößend. Beispiellos in Form und Gebaren. Hoch aufgerichtet hätte dieses wie ein Embryo zusammengekrümmte Geschöpf Salvat wohl um die Länge seines knöchernen Hauptes überragt. Und nur der soeben unter die schuppige Haut gedrungene Stahl verhinderte, daß es sich zu seiner unheilvollen Größe erhob. Es hatte zwei Beine und zwei Arme – möglicherweise aber auch vier Beine und gar keinen Arm. Äußere Geschlechtsmerkmale suchte der Blick vergebens, dennoch wirkte die Gestalt in ihrer mörderischen Dominanz maskulin; selbst auf Lilith, die nie in den Fehler verfallen wäre, dem Femininen weniger Heimtücke und Potenz zuzutrauen. Die Brut im Spinnenkokon mochte beide Geschlechter in sich vereinigen, und doch nichts von beidem wirklich sein. »Animalisch« umschrieb seine morbid-verdorbene Ausstrahlung noch am ehesten. Vielleicht hätte es selbst einen Giganten der Vorzeit durch seine bloße Erscheinung das Fürchten gelehrt. Hier und jetzt schockte es zumindest jeden, der sein Antlitz schaute, bis ins Mark. Schleim überzog seine grüngraue Panzerhaut. Ein Überbleibsel des Gebärprozesses. Die Gliedmaßen wirkten übertrieben lang, dürr und sehnig, aber die Muskel- und Sehnenstränge betonten die darin schlummernde Gewaltbereitschaft, die sich jeden Moment in einer verheerenden Explosion entladen konnte. So zuckte und wand sich die Brut unter der rubinrot pulsierenden Klinge, die von oben – dort, wo eines Menschen Schlüsselbein zu finden war – in die mächtig gewölbte Brust gefahren war. Plötzlich schnellten zwei der Gliedmaßen mit ihren dornenspitzen Klauen empor und pickten wie die gebogenen Schnäbel von Raubvögeln nach Salvat. Beim ersten Versuch verfehlten sie noch. Aber ihre Länge im ausgestreckten Zustand war beängstigend. Das Rückgrat dieses abnormen Geschöpfes lief vom Hinterschädel
bis zum Steiß nicht etwa innerhalb des Körpers, sondern fischgrätenartig, als wäre es aufgesetzt worden, außerhalb. Aus der Stirn des Scheusals sprossen zwei Hörner, mächtig wie die eines Ochsenbullen. Dazwischen glotzte zyklopenhaft ein Auge, das aussah, als wäre es in unzählige, wabenartige Segmente aufgespalten, aber doch völlig anders als das Facettenauge eines Insekts. Die einzelnen Segmente spiegelten in einem Moment das Geschehen in der Kirche wider – um im nächsten Spiegelungen zu zeigen, die nicht von dieser Welt stammen konnten. Die Schreie der Kreatur hallten erst Sekunden nach Salvats Schwerthieb durch die Kirche. Urschreie. Lilith richtete ihre erschrockenen Blicke hinauf zur kunstvoll bemalten Decke. Vielleicht täuschte sie sich, aber ihr war, als würden sich die eindimensionalen Darstellungen biblischer Themen von Gips und Stein wegbiegen und aufbäumen – wie Abziehbilder, die der Fläche, auf die sie gebannt worden waren, zu entkommen versuchten. Dumpfes Heulen und Brausen erfüllte das Kirchenschiff. Nicht mehr jenem Sog ähnlich, der Lilith kurzzeitig am Boden gehalten hatte, sondern ein Wind, der Schwefeldämpfe mit sich zu führen schien. Ein Sturm, der Salvat entgegenblies und die Umgebung nur streifte … Lilith rang nach Luft. Neben ihr keuchte Tobias: »Wir müssen verschwinden! Wir müssen hier raus – sofort!« Diesen Gedanken fand Lilith beinahe lächerlich in seiner Unbedarftheit. Niemand würde von hier entkommen können, solange das in Gang gesetzte Spektakel (das Ritual?) nicht ein blutiges Ende gefunden hatte. Aber wer es zu seinem Vorteil beschließen, wer den Sieg erringen und davontragen würde, war ungewisser denn je! Als hätten Lenas Füße Wurzeln ausgetrieben, die sich nun wie stählerne Anker in den Boden der Kirche bohrten, stand sie da – un-
fähig, auch nur einen Schritt auf die Altarempore zuzutun, wo sich die Brut in diesem Augenblick dem Schwert noch entgegenstemmte und – ungeachtet der Klinge, die totes Gewebe hinterließ – Salvat ansprang! »Wir … müssen …« Tobias’ Stimme verlor sich im Gekreische des Ungetüms, dem es in diesem Moment gelang, über die Schneide des Schwertes hinweg eines von Salvats Beinen habhaft zu werden und die Nägel einer der Klauen hineinzubohren. Klauen, die aussahen, als würde schon der Dreck unter ihren Nägeln genügen, um Salvats Blut auf ewig zu vergiften – ihn elend dahinsiechen und zugrunde gehen zu lassen! Lilith war hin und her gerissen zwischen dem Bedürfnis, einzuschreiten, und der Überzeugung, nichts tun zu können. Oder waren dies Zweifel, die ES in ihr säte? Zweifel, mit denen der Gestank des Ungetüms sie lähmte und am Eingreifen hinderte? So wie auch die anderen Angehörigen der Bruderschaft … Alle standen sie da, stierten zu ihrem Anführer und schienen nicht fassen zu können, mit welch zäher Vehemenz und mit welchem Erfolg sich ihm das Ungeheuer aus dem Kokon widersetzte. Hatten sie sich den Sieg über das, was sie bis nach Heidelberg verfolgt hatten, leichter vorgestellt? Hatten sie überhaupt gewußt, was für ein Gegner ihnen hier erwachsen würde? Lilith bezweifelte es. Nur Salvat hatte es vermutlich gewußt, und wäre er früher eingetroffen, wäre er erschienen, als diese höllische Brut noch drei gewesen war, womöglich hätte er mit der zahlenmäßigen Übermacht weniger Mühe gehabt als mit diesem Einen! Salvats Züge verzerrten sich. Sie zeigten stumm die Qual, die die Klauen ihm zufügten. Seine beiden Fäuste hielten den Schaft des Schwertes umklammert. Und jetzt drehten sie die Klinge im Leib des Leibhaftigen … Glühender Schmerz vernebelte Liliths Sicht der Dinge. Ihr schos-
sen heiße Tränen in die Augen, und sie glaubte eine Stimme in sich zu hören, ähnlich eisig, ähnlich haarsträubend wie der Wind, der durch die Kirche pfiff. Eine Stimme, die raunte: HILF MIR! Salvat? Lilith war unschlüssig. Aber plötzlich konnte sie sich wieder bewegen. Die Tränenschleier wichen. Kristallklar nahm sie ihre Umgebung wahr. Die Kirche war zu einem Hort des Grauens verkommen. Salvat und sein Gegenspieler bildeten den Mittelpunkt. Ihr Kampf war alles, was zählte. Alle anderen Gefechte waren längst entschieden. Von zwei Bruderschaften, zwei Logen, existierte nur noch eine. Salvats Illuminati, mit der Lilith gen Heidelberg gezogen war, hatte ein Geplänkel für sich entschieden, einen Nebenkriegsschauplatz. Aber der Ausgang der Schlacht hing von anderen ab. Von Engel und Teufel, dachte Lilith abstrakt und immer noch den tieferen Blick auf das schlangenhafte Gewimmel der Flügel meidend, die aus Salvats Schultern sprossen. HILF MIR! tönte es noch einmal wie der Schlag einer erzenen Glocke durch ihr Denken. Lilith sah sich selbst dabei zu, wie sie Fuß vor Fuß setzte. Sie war nicht die einzige. Und ein jeder, der dem Ruf folgte, war überzeugt, ganz persönlich angesprochen zu sein …
* Der Auer war tot, seiner gespenstischen Hand beraubt, die nun vom Arm einer Fremden zu Tobias herüberdrohte – eines liederlichen Mädchens, wie Tobias noch keins erblickt hatte. Er leckte sich über die Lippen. Außer Salz schmeckte er auch Blut. Ungeachtet dessen und des Höllenpfuhls, der sich inmitten des Gotteshauses aufgetan hatte, war Tobias entschlossen, nicht zuzulassen,
daß das fremde Weibsbild schnurstracks in sein Verderben rannte. Und wenn’s das letzte ist, was ich in diesem verfluchten Leben tu’! wiederholte er seinen Schwur, den er schon hervorgestoßen hatte, bevor er von der Balustrade gesprungen war. Das Mädchen erinnerte ihn in keiner Weise an Kristine. Kristine war behütet und in gutbürgerlichem Wohlstand aufgewachsen – dieses Luder mit den Hexenaugen bestimmt nicht! Bestimmt nicht … warum kümmert sie dich dann? Sie hat Auers Hand – die Hand, die ihn umgebracht … die Hand, die dir weh getan hat … Hast du das schon vergessen? Nein, wie könnte er! Trotzdem ließ ihn etwas inständig hoffen, daß ausgerechnet dieses Mädchen, das Anmut und Verruchtheit in sich vereinte, auf seiner Seite stehen könnte. Und so eilte er ihr hinterdrein. Rechts, links, vor und hinter ihm erhoben sich andere, die denselben Weg einschlugen.
* Ich schaffe es, dachte Salvat. Ich muß es schaffen, sonst … Sonst würde diese Welt nie mehr ihre Not, ihre Krankheit und blinde Zerstörungssucht abschütteln. Die Menschen würden sich weiter gegenseitig hinmetzeln, und diejenigen, die noch Kraft und Zuversicht aus ihrem Glauben – dem mächtigsten Bollwerk überhaupt – schöpften, würden mit jedem Tag, jedem Monat, jedem Jahr weniger werden. Und dann … Der Gedanke, zu spät gekommen zu sein, nagte tief in Salvat. Hilf mir! wandte er sich an den, der ihn entsandt hatte – nicht nur, um die Illuminaten unter den Menschen aufzuspüren und um sich zu scharen; nicht nur, um mit deren Hilfe das Siegel im Fels zu bewachen – das untilgbare Schrecknis, das an den Tag und die Stunde
gemahnte, als die Welt schon einmal nah am Abgrund gestanden hatte … So etwas durfte sich nicht wiederholen – nie wieder! Aber damals waren wir viele, dachte Salvat. Einer allein hätte die klaffende Wunde in der Schöpfung nicht zu schließen vermocht, jenes ruchhafte Stigma, das Kainsmal … WARUM HILFT MIR JETZT NIEMAND? ALLMÄCHTIGER VATER, STEH MIR BEI, ICH BITTE DICH! ENTSENDE DEINE HEERSCHAREN WIE EINST! ICH … BRAUCHE … HILFE …! ES IST … SO STARK …! Er bäumte sich auf. Noch nie hatte er Schmerzen wie diese verspürt. Und das Monstrum, das sie ihm zufügte, weidete sich an seiner Qual. Es starrte ihn aus seinen boshaft triefenden Augen an, und selbst Salvat, der wußte, wessen Zerrbild diese Monstrosität war, fühlte sich außerstande, IHN darin wiederzuerkennen. IHN, der sich selbst in die Gebärmutter eines Tieres gepflanzt hatte, damit es ihn zur Welt bringen konnte … Es war immer ein Tier gewesen, auch bei allen Versuchen davor, denn kein Mensch hätte eine Frucht wie diese ertragen. Ich muß es töten, peitschte er sich noch einmal selbst auf. Ich muß es vernichten! Es darf nicht entkommen – darf nicht die Ernte einholen, die es gesät hat …! Das Flammenschwert! TÖTE ES DAMIT! Das Schwert selbst schien es ihm zuzurufen. Aber Salvat war nicht imstande, den Blick vom Auge des TIERS zu lösen, das seine Klauen und Zähne in sein linkes Bein gegraben hatte und … … sich an dem Stoff labte, der Salvats Körper als Blutersatz durchströmte. Es trank die Macht aus ihm heraus – und wurde selbst mit jeder Sekunde mächtiger! Salvat fühlte, wie die Erdanziehung stärker wurde, wie der Schlag seiner Flügel erlahmte und das Gefühl der Schwebe dem Gefühl der
Schwere wich. TÖTE ES, SONST … TÖTET ES DICH! Ich weiß, dachte Salvat dumpf. Aber er hatte vergessen, was er dagegen tun konnte. Das Auge ließ ihn nicht los. Das Auge schien noch begieriger als das Maul der Kreatur – unersättlich. Es hypnotisierte. Es schmeichelte und drohte. Bis –
* Lilith bemerkte beiläufig, wie Tobias ihr folgte. Ihr Hauptaugenmerk aber galt Salvat. Und dem, was dem Kokon entschlüpft war. Sie hatte noch nie etwas gesehen, was abstoßender gewesen wäre. Es hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den drei Erscheinungen, aus denen es hervorgegangen war. Dies hier schien nicht mehr darauf angewiesen, sich zu verstellen und die menschliche Gestalt wie eine Maske überzustülpen. Es war abgrundtief häßlich, die Haut schorfig, dick und ledern wie die eines alten Elefanten, aber bei weitem nicht plump. Sein Bewegungsablauf, das Spiel der unter der Haut erkennbaren Muskeln war elegant und von schauriger Eindruckskraft. Seine Ausdünstung unterstrich und machte glaubhaft, daß es sich dabei tatsächlich um die Ausgeburt der Hölle, um das geballte und personifizierte Böse handelte. Das Urböse. … BRAUCHE HILFE! … IST SO STARK …! Lilith meinte, unter der Wucht des stimmlosen Schreis zerquetscht zu werden. Nur noch wenige Schritte trennten sie von beiden Ungeheuerlichkeiten – denn auch Salvat war zu etwas entartet, was es schwermachte, ihm die Treue zu halten. Lilith lachte gallebitter auf. Auch ihre Lippen verließ dabei kein Laut. Die Bitternis wie auch die Angst verschanzten sich hinter der
Lena-Fassade. Der Hülle, die sich Lilith Untertan gemacht hatte. Weil auch ich ein Biest bin! Salvat kann nicht mehr Monstrum sein als ich …! (Oder Beth … Beth? Wo war sie? Was war aus ihr und diesem Mann geworden, der vorgab, ihr Sohn zu sein?) »Komm zurück! Wir müssen verschwinden! Du darfst dich nicht einmischen!« Die Rufe des Burschen, von dem sie nicht einmal den Namen kannte, wogten kurz in ihr auf, blieben dann aber wieder hinter ihr zurück. Fern jeder wahren Bedeutung. Lilith spürte mit jeder Faser von Kathalenas Körper, daß es auf Sekunden ankam, darauf, daß sie jetzt nichts falsch machte. Das Wesen, das in Salvats Klinge zuckte, war trotz übelster Verletzung dabei, die Oberhand über seinen Widersacher zu erringen! Und Salvats Kräfte schwanden sichtbar! Er schwebte schon nicht mehr, sondern stand mit seinen Füßen fest auf dem Altarpodest. Deutlicher aber noch als dies verriet der Zustand seiner »Flügel«, wie es um ihn bestellt war: Schlaff, wie tot hingen sie an seinem Rücken herab. Die Bewegung, die imstande gewesen wäre, jeden Menschenverstand in den Wahnsinn zu stürzen, wirkte wie geronnen. »Salvat!« Liliths Schrei erreichte ihn nicht, und Salvats Waffe glomm schon schwächer – nicht mehr rubinrot, sondern mitternachtsblau, fast schwarz. Das Schwert, auf dem der Satan selbst aufgespießt zu zappeln schien … Lilith wunderte sich, wie sehr sie sich Gewißheit über die Identität dieses Wesens wünschte – wunderte sich auch, daß die Bruderschaft, die ihren Kampf gegen die Ortsansässigen längst entschieden hatte, nicht weiter mit ihr vorrückte, um ihrem Führer beizustehen. Als sie die beiden Gegner erreichte, die sich wie Feuer und Eis, wie Himmel und Hölle gegenüberstanden, war sie ganz … fast ganz
allein. Salvat sah jetzt beinahe wieder menschlich aus. Aber sein linkes Bein war bis zu den Knien im Rachen der unseligen Brut verschwunden – wie im Schlund einer Riesenschlange. Es sah aus, als wollte das Ungeheuer es nicht bei dem Bein bewenden lassen. Seine Augen fieberten in einem Licht, das Lilith an ihren Aufenthalt jenseits des Tors erinnerte – an die Zwischenwelt, in der sie durch knöchernen Staub gewatet war. Und für einen flüchtigen Moment schien es ihr, als wären diese Augen nichts anderes als Fenster, um etwas von drüben nach hüben schauen zu lassen … »Was hast du vor?« Erst Tobias’ von Panik gefärbter Schrei machte ihr bewußt, wonach ihre Hand gegriffen hatte. Sie stemmte sich Salvats um den Griff des Schwertes geschlossenen Händen entgegen, um ihn zu zwingen, die Klinge aus dem Leib des Tierhaften zurückzuziehen! Ihre Hand? In Gottes Namen – nein! Das, was fremd und nach ihrem Gefühl immer noch wie tot an ihrem Armstumpf klebte, war in Wirklichkeit erwacht – und dabei, Salvats Niederlage zu besiegeln. »Ich wußte es …« Das war wieder die Stimme von Tobias, der ihr wie von einem Magneten angezogen folgte. »Sie lebt! Habe ich dich nicht gewarnt? Sie gehörte dem Auer – bis sie ihn erwürgte … Hier, fang auf! Schneid sie dir ab, es ist deine letzte Chance!« Etwas flog durch die Luft. Lilith reagierte reflexartig. Die Rechte gehorchte ihr. Aber die Rechte verfehlte die ihr zugeworfene Klinge, einen Dolch, der Tobias gehört hatte. Und die Linke … hatte anderes im Sinn … Lilith hörte lästerliches Fluchen, während in ihr ein Mahlstrom
von Gefühlen tobte. Emotionen, die Kathalenas Herzschlag ein ums andere Mal zum Stillstand brachten! Lilith hatte außerkörperliche Erlebnisse wie noch nie, sah die Hülle, in die sie wider Willen eingepfercht worden war, von einer erhöhten Warte aus, und auf dem Höhepunkt dieses Wahns meinte sie zu beobachten, wie sich Lenas Physiognomie umformte. Wie sich Liliths wahrhaftige Züge darunter hervorschälten, erst anmutig und charismatisch, dann – in der nächsten Sequenz – plötzlich in die vampirische Metamorphose übertretend. Grimassenschneidend. Zähnefletschend … In dieser Phase des ständigen Wechsels zwischen Halluzination und Wirklichkeit war Lilith überzeugt, daß das Chaos ihrer aufgerührten Gedanken nach Lenas Geist nun auch noch deren Körper vernichten würde, den Körper, in dem Lilith nur ein unfreundlicher Gast war … … und dann? Was würde dann geschehen – mit ihr? Würde sie auch elend zugrunde gehen – oder »nur« zurückgeschleudert werden in ihre immer noch irgendwo existente eigene Hülle? Irgendwo in jenem surrealen Reich hinter dem Tor …? Sie hatte gelernt, stets den schlimmst denkbaren Fall anzunehmen, deshalb baute sie lieber nicht darauf, daß sie ihr Leben nicht wirklich verlieren konnte – höchstens in dieser Zeit –, denn sie wußte es definitiv nicht. Vielleicht würde sie nach Lenas Tod auch einfach in den nächstbesten lebenden Menschen (oder Vampir?) geschleudert werden … Sie empfand es selbst als absurd, über all dies nachdenken zu können, während sie ihren Untergang geradezu provozierte, indem sie dort hingegangen war, wo die beiden Erzfeinde miteinander rangen! Mit einemmal erschien ihr alles so irreal – der Zeitablauf so schleichend –, daß sie sich fragte, ob sie ihren Aufenthalt im Deutschland
des 30jährigen Krieges nicht einfach nur träumte. Ob sie nicht nur glaubte, hier zu agieren und Einfluß auf längst vergangene Geschehnisse zu nehmen, in Wahrheit aber irgendwo hingesunken lag und darum kämpfte, endlich wieder aus ihren widernatürlichem Schlaf zu erwachen … Traum und Wirklichkeit. Lug und Trug … Genug! Sie ertrug es nicht mehr, neben sich zu stehen. Indirekten Verrat gegen Salvat zu begehen. Und diesem … TIER zu helfen! »Neeeeiiinnn!« Ihr Schrei gellte durch die Kirche, so inbrünstig und entschieden, daß selbst die Hand, die sich wie ein Blutegel an Lenas Stumpf festgesogen hatte, für den Bruchteil einer Sekunde innezuhalten schien. Dies mochte Einbildung sein, aber es änderte nichts daran, daß Liliths umherrudernde Rechte ein Stück der geborstenen Kirchenbänke zu fassen bekam und es geistesgegenwärtig in die einzige auch nur annähernd weich und verletzlich wirkende Stelle des Ungetüms rammte. In das Auge, das Salvat anglotzte. Das Auge, in dem der Urtrieb des Bösen und die Sehnsucht nach der Weltherrschaft so kalt wie flüssiger Stickstoff wogte! Und dieses unmenschliche, dieses zyklopenhaft starrende Auge … zerplatzte mit einem schrecklichen Geräusch, während das stumpfe Holz schmatzend hineinstieß. Und schrecklich waren auch die Folgen …
* Der Bann erlosch, als der Blick erlosch. Das Ungetüm löste seine Klauen aus Salvats Oberschenkel und spie aus, was von dessen Bein noch übriggeblieben war! Erschöpft zog Salvat die immer schwärzer gewordene Klinge aus dem Körper des Geschlüpften, entledigte sich in einem Aufbäumen
des Widerstands, den Kathalenas Linke entgegensetzte, und ließ das Schwert auf die gerade erblindete Kreatur hinabfahren, die im Zurückweichen getroffen wurde. Aber zu flüchtig, zu ungenau, um sie wirklich zu besiegen. Die Klinge durchtrennte die halbe Schulter – ein für einen Menschen absolut tödlicher Streich, aber dies war kein Mensch. Es lebte nicht einmal ein Leben, das dem eines Menschen nahegekommen wäre. Es war, und dieses Sein zu beenden, dafür fehlte es Salvat bereits an Mitteln, denn er selbst … Er strauchelte. Die Kreatur sprang vom Altarpodest, mitten hinein in die Menge, von der ihr Bann nun auch gewichen war. Mitten unter die Illuminaten, die sich ihm sofort entgegenwarfen, todesmutig, mit den Waffen, die Salvats Arsenal entstammten, die aber nichts waren im Vergleich mit dem Schwert … das in diesem Moment aus seinen Fäusten verschwand! Eine Sekunde, bevor auch Salvat zusammenbrach und reglos, wie tot, auf dem Steinboden liegenblieb.
* Ich muß etwas tun, dachte Lilith. Aber was konnte sie tun? Was ließ diese Hand überhaupt zu, die sich, kaum daß sie den Kontakt zu Salvat aufgegeben hatte, am Altarstein festklammerte, als wollte sie unter keinen Umständen zulassen, daß sich Lilith an dem Kampf zwischen der weichenden Kreatur und der Bruderschaft beteiligte? Einen Augenblick lang erinnerte die Hand an den Symbionten, der Lilith fast zwei Jahre ihres Lebens begleitet hatte und den sie mit ihrem Körper verloren hatte. Auch er war ein Geschenk mit Tücken gewesen. Man hatte ihr nie die Wahl gelassen, ob sie es überhaupt
haben wollte. Es war untrennbarer Bestandteil von ihr geworden, vom ersten Augenblick an, da sie es sich wie ein mimikryfähiges Kleid angelegt hatte … Noch während sich Lilith gegen die Fessel zur Wehr setzte, die sie an den Altarstein band, noch während sie mitbekam, wie die ersten Kuttenträger, die Salvat um sich geschart hatte, der wütenden Kreatur zum Opfer fielen, tauchte neben ihr schattenhaft schnell eine Gestalt auf. Es war Tobias, der den Dolch, den er Lilith zugeworfen hatte, selbst wieder aufgehoben hatte und nun … »Nein!« schrie Lilith. »Bist du …?« Aber Tobias ließ sich nicht beirren. »Tut mir leid, aber du mußt verrückt sein, wenn du immer noch an der Notwendigkeit zweifelst!« Noch bevor er ausgesprochen hatte, drang die von ihm gelenkte Klinge in die Stelle, wo der mutmaßliche Übergang zwischen Lenas Unterarm und Auers Hand bestand! Noch einmal durchzuckte Lilith ein ähnlicher Schmerz wie in dem Moment, als Salvats Schwert Lenas Hand abgetrennt hatte. Sie verlor fast das Bewußtsein, als sich das erneute Martyrium tief in ihr Nervengeflecht krallte. Nichts ist schlimmer, als wenn zweimal in dieselbe Wunde gestochen wird … Und Tobias begnügte sich nicht mit einem Stich. Während er Liliths Arm, der nach ihm schlagen wollte, festhielt, versuchte er, Fleisch und Knochen zu durchsägen. Noch während Lilith wünschte, er hätte statt des Dolchs ein Schwert benutzt, reagierte die Hand und löste sich von Lenas Arm. Noch im Abfallen sah es aus, als wollte sie sich drehen und irgendwie in Hautkontakt mit Tobias kommen. Aber der Jüngling sprang entschlossen zur Seite und riß Lilith im selben Schwung mit sich außer Reichweite der Hand, die auf den Boden klatschte, aber immer noch nicht aufgab, sondern mit Hilfe
der sich spinnenbeinhaft krümmenden Finger versuchte, Lilith – oder Tobias – zu folgen. Lilith war kaum fähig, etwas zu sagen. Sie sah nur das aus ihrem wieder bloßgelegten Armstumpf schießende Blut und verfolgte fast paralysiert die Bemühungen von Tobias, ihren Arm mit einem Stoffetzen, den er sich vom eigenen Hemd trennte, abzubinden, den Blutfluß zu knebeln. Kurz darauf versiegte der Strom allmählich, und Tobias zog Lilith erneut ein Stück von der mühsam, aber beharrlich folgenden Hand am Boden weg. »Danke«, sagte Lilith, der Ohnmacht nahe. Viel Blut war bereits verloren, und die Schwäche zog sie wie ein Zentnergewicht nach unten. Als sie ihren Blick ins Kirchenschiff richtete, sah sie Tote und Verwundete, aber von der Brut, die dem Kokon entschlüpft war, nur noch einen huschenden Schemen, der zum Kirchenportal hinausfloh. »Wir müssen … Wir können ihn nicht …« Mehr brachte Lilith nicht mehr hervor, denn in diesem Augenblick senkte sich doch noch das rabenschwarze Vergessen über ihre Sinne. Sie sah nur noch, wie Tobias eine der in Wandhaltern steckenden Fackeln an sich riß und damit auf die Hand am Boden losging. Und als wirklich Allerletztes glaubte sie eine Stimme zu hören (Salvat?), die feststellte: »Wenn du das tust, stirbt sie!« Sie?
* »Wer – ist das?« flüsterte Beth. Charles Belier reagierte nicht. Die Schritte kamen näher; aus dem oberen Stockwerk die Treppe hinab in den Laden, in dem geheimnisvolle Düfte schwebten, so als
lagerten hier nicht einfache Stoffe, sondern rare Gewürze aus aller Herren Länder. »Wer ist das?« drängte Beth erneut. Sie kauerte neben ihrem greisen Sohn hinter einer langgezogenen Verkaufstheke aus Palisanderholz. Ihr Arm hätte den Mann, der um seine Kindheit und mehr betrogen worden war, nicht einmal ausgestreckt erreichen können – zu groß war auch die räumliche Kluft, die sich zwischen ihnen aufgetan hatte. Belier (Es ist nicht David! trichterte sich Beth ein, wiewohl ihr klar war, daß dieser Versuch eines Selbstbetrugs scheitern mußte) kauerte neben ihr im trüben Schein, den ihr Körper ausströmte, als liefen unter der durchlässigen Haut phosphoreszierende Prozesse ab. »Rede! Ist … er es?« herrschte sie ihren verlorenen Sohn an, nun kaum mehr auf Flüstern bedacht, denn das Licht war ein Wegweiser für jeden, der den Laden betrat. Es ließ sich nicht unterdrücken – nicht mehr seit ihrer zweiten Begegnung mit IHM, als in Morlaix wieder neu entfacht und geschürt wurde, was Beth schon beinahe überwunden geglaubt hatte.* Nun war es – vor den Toren von Paris – zur dritten Konfrontation mit dem gekommen, der ihr das Kind genommen hatte – weil er ein natürliches Anrecht als Vaters darauf besaß … Beth wünschte, sie hätte ein Grausen bei diesem Gedanken verspürt. Aber sie war nicht mehr der Schmied des eigenen Geschicks – vielleicht war sie es nie gewesen. Im Grunde war sie nichts anderes als ein ruheloser Geist, dem eine unbekannte Magie gestattet hatte, dem Korridor der Zeit, in dem sie gestorben war, zu entfliehen. Aber warum ihr Geist sich hier und in dieser Zeit materialisiert hatte, wußte sie immer noch nicht. Im Grunde blieb nur die Erklärung, daß es SEIN Plan gewesen war. Und bei ihrer ersten Begegnung in Prag hatte er dann das in ihr schlummernde Potential ausgelotet und entschieden, es für sich *siehe VAMPIRA T20: »Die Loge der Nacht«
nutzbar zu machen. In der ersten Zeit hatte Beth mit sich gehadert, ob es nicht besser gewesen wäre, tot geblieben zu sein. Inzwischen hing sie an diesem Dasein, das sich so völlig von ihrem vorherigen unterschied: von ihrem Leben als engagierte Journalistin Beth MacKinsey, die das Pech gehabt hatte, eines Tages auf ein Halbwesen namens Lilith Eden zu treffen … »Nein«, sagte Bélier. Nein? Beth mußte erst einmal aus den Verstrickungen ihrer Gedanken zurückfinden, um zu begreifen, daß der Greis auf ihre eben gestellte Frage geantwortet hatte. Sie blickte dorthin, wo die Schritte lauter wurden, und machte sich keine Gedanken über Flucht oder ähnlichen Unfug. IHM konnte man nicht entkommen. Wenn Er es war … Die Gestalt, die sich in die von Beth erzeugte trübe Helligkeit schob, schied nicht jenen Gestank aus, der IHN kennzeichnete. Beth blinzelte kurz, dann glaubte sie zu wissen, woran die furchenübersäte ältliche Frau sie erinnerte: an das Porträt, das neben Beliers eigenem Abbild in die Fassade dieses Hauses gehauen war. Als die aus der Dunkelheit Kommende in den schmalen Gang hinter der Theke einbog und stumm, fast unterwürfig, bei Belier stehenblieb, räusperte sich Beth. »Ist das – deine Frau?« In den Augen ihres Sohnes bewegten sich Schlieren wie kleine weiße Maden. »Mein Vater schenkte sie mir, damit ich nicht allein sei«, sagte er. »Wie fürsorglich«, konnte sich Beth ihren Sarkasmus nicht verkneifen. Aber eigentlich war die Bemerkung nur Ausdruck ihres Unbehagens – ihrer Hilflosigkeit einer Frau gegenüber, die Tisch und Bett eines seit Jahren unablässig Sterbenden geteilt hatte. Wie hatte sie das ertragen können, wie hatte er es ihr erklärt? »Sie weiß, wer du bist?«
Beth blickte das faltige Gesicht der Frau zwar an, fühlte sich aber außerstande, sie direkt anzusprechen. »Sie weiß alles, was ich weiß«, hörte sie Beliers Antwort, und etwas darin ging ihr so nahe, daß sie den vor wenigen Minuten Verstoßenen am liebsten wieder in ihr Herz geschlossen und in ihre Arme genommen hätte – aller äußeren und inneren Abkehr zum Trotz. »Wie heißt sie?« »Ich nannte sie Beatrice.« Ich nannte sie … Die Seltsamkeit der Formulierung verursachte Beth ein sich wieder verstärkendes Unwohlsein. Auch war es ihr, als sei die Frau, mit der ihr Sohn nach eigenem Bekunden vermählt war, gar nicht wirklich bei ihnen – als unterhielten sie sich über etwas so Abstraktes wie ein Bild an der Wand. Vielleicht weil die verleugnete Nähe dieser Frau plötzlich etwas Erstickendes hatte, wechselte Beth das Thema. »Überleg es dir noch einmal«, wandte sie sich eindringlich an David. »Schwöre diesem Ungeheuer, das vorgibt, dein Vater zu sein, ab! Lebe dein Leben – laß mich wenigstens versuchen, es dir wiederzuschenken!« David sah sie so unverblümt an wie in den vergangenen Stunden noch kein anderes Mal. Für einen Moment verbannte sein Wille sogar die Altersschlieren aus seinem Blick. »Du bist dir nicht sicher, ob es überhaupt gelingen könnte, oder? Du hast es noch nie versucht?« Beth wußte nicht, was das für ein Schmerz war, den seine Worte auslösten. Vielleicht peinigten sie gerade die Klarheit, mit der sein Verstand noch in diesem greisen Schädel arbeitete, und die Leichtigkeit, mit der er sie durchschaute. »Nein«, gab sie zu, »sicher bin ich nicht. Es fehlte an Gelegenheiten, es zu erproben. Aber was hast du zu verlieren?« »Ich fürchte, das würdest du nicht verstehen.« »Versuch es. Erklär es mir.« »Ich hätte ihn zu verlieren«, sagte David mit brüchiger Stimme.
»Um nach dem Strohhalm zu greifen, den du mir entgegenhältst, müßte ich ihn zuerst fallen lassen. Und das …« … würde er nie tun, vollendete Beth das Unausgesprochene. Zugleich war sie – ihr fiel kein anderes Wort ein – erleichtert. Er hatte sich endgültig gegen sie ausgesprochen. Er wollte die Chance nicht, die sie ihm bot. Er vertraute auf das, was sein Vater ihm versprochen hatte. »Mein Körper mag von Maden und Würmern zerfressen werden, aber ich werde ewig existieren! In jedem Körper, den ich mir nur wünsche – und wo immer ich sein will! Das hat er mir versprochen, und er hält seine Schwüre! Er nimmt nicht nur, er gibt auch so viel …« Narren sterben, dachte Beth. »Der Tag meines Todes«, sagte David in diesem Augenblick, »der mir vorherbestimmt und genannt wurde, ist heute. In dieser Stunde. Es wird auch ihr Ende sein …« Er hob seinen Arm und zeigte auf Beatrice, deren Augen kalt und unberührt blieben. »Du willst sie mit in den Tod reißen?« »Es läßt sich nicht vermeiden.« »Warum nicht?« David lächelte mit einem Hauch jener Bosheit, die er geerbt hatte. »Du willst es wirklich wissen?« »Ich will es wissen.« Er überlegte kurz, zuckte dann die Schultern. »Vielleicht hilft es dir, dich von mir zu trennen …« Aber er kam nicht dazu, sein Vorhaben auszuführen, denn in diesem Augenblick … verdarben all die betörenden und auf angenehme Weise die Sinne reizenden Düfte des Kontors. ZZZUUUWWW! Von einem Herzschlag zum nächsten nistete nur noch höllischer Gestank in jedem dunklen Winkel des Ladens. Keine drei Schritte von Beth entfernt zerriß eine von der Decke über der Theke herabhängende Stoffbahn.
Und im Widerschein ihres eigenen Lichts sah Beth in das zerstörte Auge Satans.
* Lilith erwachte aus kurzer Ohnmacht. Sie war immer noch gefangen in Kathalenas Hülle, und dies war die Kirche, die den Aufeinanderprall zweier Urgewalten erlebt hatte. Die Toten, die dies gekostet hatte, lagen da wie zum Zählen aufgebahrt. Die Verletzten auch. Der Schmerz lenkte Liliths Blick zum Stumpf. Der ganze linke Arm war geschwollen und tat weh – am schlimmsten schmerzte die Stelle, wo das fauchende Schwert gewütet hatte, aber auch eine Elle darüber pochte es, weil sich die von Tobias durchgeführte Maßnahme als unzureichend entpuppte. Der Versuch, die Schlagader abzupressen und ein Verbluten zu verhindern, mußte scheitern, weil … »… weil der Stumpf nicht heilen wird! Niemals!« Salvat mußte ihre Gedanken gelesen haben. Er regte sich unweit auf einem Lager, das ein ähnliches Provisorium darstellte wie Liliths Wundversorgung. Auch Salvat war als Verlierer aus dem Kampf hervorgegangen. Eine Decke, die zuvor den Altar geschmückt hatte, verbarg das Bein, das ein Stück weit im Schlund der Bestie gesteckt hatte. Salvat Züge wirkten wächsern. Auch er sah nur noch wie ein Schatten seiner selbst aus. Gibt es überhaupt einen Gewinner? Lilith war geneigt, dies zu verneinen. Dem hier vereinigten Geschöpf war die Flucht gelungen – und Salvats Anhängerschar war zuvor noch empfindlich von ihm dezimiert worden. Liliths Blick suchte und fand Tobias. Doch sie verweilte nur kurz auf dem bei Salvat stehenden Jüngling, dessen Motive ihr noch nicht ganz klar geworden waren. Er gehörte nicht zu Salvats Leuten, schi-
en ein Bürger dieser Stadt zu sein. Aber letztlich zählte nur, daß er nicht zu der Loge gehörte, die sich hier versammelt hatte, um der Kreatur aus dem Kokon den Weg zu bereiten. Liliths Blick schweifte durch die Kirche. »Die Spinnen«, sagte sie rauh. »Was ist aus all den Spinnen geworden?« »Sie sind nicht mehr«, sagte Salvat, dann winkte er sie herbei. »Sie haben ihren Zweck erfüllt.« Als Lilith nicht auf den Wink reagierte, drängte Tobias: »Komm schon! Hör dir an, was er zu sagen hat! So wie er sprach, während du bewußtlos warst, kennt ihr euch. Dann weißt du besser als ich, was von seiner Behauptung zu halten ist …« Täuschte sie sich, oder bildete sich auf Salvats Zügen tatsächlich ein hauchdünnes Lächeln, während er Tobias’ Worten lauschte? »Welche Behauptung?« Jede Bewegung war Schmerz; dennoch richtete sich Lilith auf. Schwäche und Schwindelgefühle waren beherrschbar geworden. Nur der Stumpf brannte wie ein unlöschbares chemisches Feuer. Gerade so, als glühte immer noch die Macht des Schwertes in ihm nach. Was war überhaupt aus der Waffe geworden, mit der Salvat gegen die Brut aus dem Kokon vorgegangen war? Wer war Salvat? Nach dem Torwächter der fernen Zukunft hatte auch der Salvat dieser Zeit Eigenheiten offenbart, die es unmöglich machten, länger einen Menschen in ihm zu sehen. All die Eindrücke, die Lilith während des Marsches gen Heidelberg gesammelt hatte, waren hinfällig geworden. Sie hatte sich etwas hingegeben, was im nachhinein keinen Ekel, aber Angst und Mißtrauen in ihr weckte. »Wir unterhielten uns gerade darüber«, antwortete Salvat an Tobias’ statt, »daß sich das Teufelsgeschenk, das er dir vom Leib schaff-
te, zuvor unentbehrlich gemacht hat.« Das Teufelsgeschenk … die Hand. »Was meinst du mit ›unentbehrlich‹?« »Es floh – und es wird ohne Wirt zugrunde gehen. So wie der Wirt ohne es.« Solche Abhängigkeiten waren Lilith nicht fremd. Dennoch sagte sie: »Warum? Ich sehe keine Notwendigkeit, daß dieser Körper sterben muß! Wenn der Stumpf nicht heilt, besteht immer noch die Möglichkeit, ihn mit einem glühenden Eisen –« »Dieser Körper?« unterbrach Salvat sie. Lilith wurde bewußt, daß auch sie noch immer das Geheimnis ihrer Herkunft vor Salvat verwahrt hielt. »Mein Körper!« betonte sie und hob den Stumpf. Die Schnittstelle war roh und voller Blut, das nicht gerinnen wollte. Das immer noch nachdrängte, wenn auch längst nicht mehr so vehement wie vor dem Provisorium, das den Arm schnürte und sich schon fingerbreit ins Fleisch geschnitten hatte. »Worauf wartet ihr also noch? Besorgt Hilfe! Es kann doch nicht sein, daß die ganze Stadt dieser Spinneninvasion zum Opfer gefallen ist! Irgendwo muß es einen Arzt geben, der sich darauf versteht –« »Ich verstehe mich besser darauf«, beharrte Salvat, »und ich sage dir, nicht einmal ich kann diese Wunde schließen. Es sei denn …« »Was?« Tobias stöhnte leise auf. Gleichzeitig löste er sich von der Stelle, wo er gestanden hatte, und machte zwei Schritte auf Lilith zu, ehe er wieder abrupt zum Stehen kam, als hätte er vergessen, wohin er wollte. »Sag es!« verlangte Lilith, während sie sich tastend auf Salvat zubewegte. Bei der leisesten Anstrengung verstärkte sich das Pochen in dem abgebundenen Arm. Salvat sah ihr tief in die Augen. Er versenkte sich regelrecht darin.
»Die Knebelung der Blutung wird nicht lange nützen. Dann bricht sie wieder auf, und ich kenne keine Möglichkeit, sie noch einmal zu stoppen – es sei denn …«, er schwieg kurz, dann fuhr er fort: »… du erbarmst dich ihrer.« Er schlug die Decke zurück und offenbarte dadurch nicht nur das eigene verstümmelte Bein, sondern auch das, was zwischen seinen beiden leicht geöffneten Schenkeln lag. Die Hand. »Du meinst … du glaubst …?« stammelte Lilith. Als sie zu Tobias blickte, preßte dieser die Faust vor den Mund, als könnte er nur so das Grauen im Zaum halten, das aus ihm herausdrängte. »Sie würde dich sofort wieder nehmen.« »Woher willst du das wissen?« »Das Böse ist aus ihr vertrieben«, sagte Salvat, und auch wenn es sehr bestimmt klang, spürte Lilith, daß ihr Salvat etwas vorenthielt. »Wo – ist der Haken?« fragte sie. »Es gibt keinen Haken.« »Das glaube ich nicht!« Salvat verzog die Mundwinkel beinahe abfällig, und es verletzte Lilith tief, als er sagte: »Wenn du im Besitz des wahren Glauben wärst, hätte es dich gar nicht befallen können. Es riecht die Ungläubigen! Auch sein vorheriger Wirt hatte dem Herrn entsagt, bevor er das Geschenk erhielt … Lehnst du immer noch ab?« Lilith zögerte. Salvat rief einen der Illuminaten herbei, die überlebt hatten. Auch er war nicht völlig ungeschoren davongekommen, dennoch hatte er im Vergleich zu den meisten seiner Gefährten Glück gehabt. (Oder den wahren Glauben?) Lilith hörte Salvats Befehl. »Nein!« rief sie, als er verlangte, ein kleines Feuer zu entfachen, in das er die Hand, die ihren ersten Besitzer erwürgt hatte, werfen
wollte. »Warte!« »Worauf?« fragte Salvat. Aber das Erstaunen, das er mimte, war mühelos zu durchschauen. »Ich dachte, du hättest dich dazu entschieden, lieber gleich zu sterben. Hier …« Er heftete den Blick auf das Tuch, das Liliths Armstumpf abband und das im selben Moment – Zufall? – knirschend barst, als wäre es plötzlich morsch geworden. Das zuvor gestaute Blut platzte förmlich aus der zerschnittenen Ader. Lilith unterdrückte den Schrei, der ihr auf der Zunge lag. Für eine Sekunde verschmolz ihr Blick mit dem Salvats, und sie begriff, daß sie nie etwas verbunden hatte, was zwischen zwei Menschen der Erwähnung wert gewesen wäre. Im nachhinein bezweifelte sie sogar, daß seine Leidenschaft, die er ihr bewiesen hatte, etwas anderem als purem Kalkül entsprungen war. Mit sehr widersprüchlichen Gefühlen im Herzen forderte sie ihn auf: »Ich sehe, du willst mir keine Wahl lassen. Also her damit! Es wird sich zeigen, ob sie mich ›wieder nimmt‹ – und ob ihre erste Fingerübung nicht darin besteht, dir deinen verfluchten Hals umzudrehen …!«
* Der Anblick dessen, was sich aus drei Wesen heraus entwickelt hatte, kostete Beth mehr Kraft, als sie es nach all den Kriegsgreueln, die sie gesehen hatte, noch erwartet hätte. Die infernalische Art, mit der die schwefelstinkende Kreatur diesseits der Ladentheke landete, ließ kaum einen Zweifel daran, daß sie des Tötens wegen gekommen war. Das zerquetschte Auge zwischen dem Gehörn wässerte so abscheulich, daß es Beth den Magen umdrehte – obwohl dieser Magen kaum Inhalt besaß. Auch sie lebte ja in der Hauptsache von etwas, das sich nicht greifen und nicht be-
rühren ließ: Zeit. Die Zeit anderer … Instinktiv versuchte sie, diese Fähigkeit jetzt gegen das Ungetüm zu richten, in dem auch etwas von Davids Vater steckte – etwas von dem, was Beth in der Herengracht besucht hatte und … Sie schob entschieden jede Erinnerung daran von sich. Ich habe nicht mit dem Teufel gebuhlt, dachte sie. Es ist eine Lüge, mit der er mich und David quälen will! Er ist nicht sein Vater. David wurde von einem Menschen gezeugt – und dieser Teuflische hier entführte ihn nur! Es ist nicht wahr, daß – »Es ist wahr!« Nicht nur die Stimme, auch die Erkenntnis, daß ihre Fähigkeit, Zeit zu stehlen oder zu manipulieren, an IHM versagen würde, ließ Beth taumeln. Vor ihren Augen verwandelte sich das schreckliche Tier in einen Mann mittleren Alters, mit graumelierten Schläfen und stechend grünen Augen. Beth erkannte ihn sofort wieder, obwohl zwischen der letzten und der jetzigen Begegnung sechzehn Jahre lagen. Er war einer ihrer Freier in der Amsterdamer Herengracht gewesen – ein äußerst kundiger Liebhaber, dem es dennoch – wie überhaupt jedem ihrer Kunden – schwergefallen war, tiefere Lust in Beth zu entfachen. Damals hatte sie sich noch Lydia nennen lassen und nichts von ihrer wahren sexuellen Passion geahnt, die auf Frauen ausgerichtet war. Die Gestalt vor ihr hatte sich in den anderthalb Jahrzehnten so wenig verändert wie sie selbst. »Brauchst du noch mehr Beweise?« Beth starrte auf die Augen ihres Gegenübers. Blinde Blicke kreuzten sich mit ihren. Die Augen des Gestaltwandlers erinnerten an die zerstörte Gallertmasse des Zyklopenauges, in das Beth zuvor geschaut hatte. Die Tatsache, daß dieses Wesen nicht fähig schien, alles zu reparieren, was ihm angetan wurde, hatte etwas ebenso Tröstliches wie Bestürzendes. Bestürzend deshalb, weil ihr Sohn – Beth
blickte zu David, dem der Speichel vor Verzücken aus dem greisen Mund troff – sich auf die Allmacht seines Vaters verließ. Beth hingegen war überzeugt, daß dieses Wesen ihn betrügen würde. Weil es jeden betrog. Die »Geschäfte«, die dieses Geschöpf – in welcher Gestalt auch immer – abwickelte, endeten letztlich alle zu seinem Vorteil! »Deshalb nennt man mich ja den –« »Teufel?« »Ich habe viele Namen …« »… und viele Gesichter.« Beth nickte. »Darüber sprachen wir schon einmal.« »Ein Teil von mir sprach mit dir darüber – als es die Frucht seiner Saat von dir forderte und erhielt.« »Ihn?« Beth zeigte auf David. »Ihn«, bestätigte die Stimme, die noch kein lautes Wort verloren hatte. Dennoch fiel Beth – außer den Augen – noch eine Veränderung an diesem Satan in Menschengestalt auf. Erstens hatte es bei genauerem Hinsehen den Anschein, als würden die Konturen seiner Maske flimmern – und zum anderen wies die Maske noch einen weiteren Makel auf, den die Illusion einer zeitgemäßen Kleidung zu kaschieren versuchte. »Was ist mit deiner Schulter?« fragte Beth. Die blinden Augen glommen auf, und aus dem Mund des »Mannes« löste sich der erste Laut, der nicht souverän oder kontrolliert klang. Ein Fauchen. Hörbar ausgestoßener Atem, der deutlich machte, daß auch dieses Wesen – woher auch immer es letztlich kam und welche Macht es wirklich in sich vereinte – den Gesetzmäßigkeiten dieser Welt unterworfen war. Aber stimmte die Schlußfolgerung, die Beth daraus ableitete, wirklich? Es atmet – also braucht es Luft zum Leben!
Aus ihrem vormaligen Dasein in einer Welt, die mehr als drei Jahrhunderte von dieser entfernt lag, wußte Beth, daß es viele Extremspielarten des Lebens gab. Auch Pseudoleben, wie es Vampiren oder, in einer noch krasseren Form der Täuschung, Dienerkreaturen eingehaucht wurde. Es gab auch Lebensformen, die sich dem Verstehen völlig entzogen: Ghouls und Dämonen etwa. Darüber hinaus existierten Menschen, die einen Fluch im Blut trugen, der eng mit dem Lauf der Gestirne, insbesondere des Mondes, verknüpft war. Verdammte, die – ähnlich und doch ganz anders wie Vampire – von Blutdurst und kannibalischen Gelüsten getrieben, Jagd auf Mitmenschen machten und auch einer gewissen Metamorphose mächtig waren … »Sie hängt … schief«, sagte Beth. Sie verstand es nicht, aber sie war die Ruhe selbst. In ihr schien sich der Deckel einer geheimen Truhe geöffnet zu haben, und jetzt strömten daraus unablässig Selbstbewußtsein und Vertrauen in ihr eigenes Vermögen. Nein, dachte sie. Ich brauche ihn nicht zu fürchten. Er kann mich töten. Aber er kann nicht meine Seele knechten. Ich bin sicher: Ich habe keinen Pakt mit ihm geschlossen! Was er mir schenkte, war schon vorher in mir! Er hat es nur geweckt und deshalb keinen Anspruch auf ein Pfand! Und … er weiß es! Deshalb ist er so … verhalten. Er braucht mich! Wofür? Das Lachen kam anschwellend wie ein noch ferner, aber unaufhaltsam näherrückender Erdrutsch aus seinem Mund, seinem Menschenmund, der wie alles an ihm flimmerte, und zwischen diesem Flimmern schien ab und zu das Maul, die raubtierhafte Schnauze, die seine wahre Natur verriet, durchzublicken. »Du hast recht: Ich brauche dich. Aber ich bin nicht auf deine Bereitschaft angewiesen – ich kann dich zwingen, und es kostet mich nicht mehr als einen Gedanken!« »Warum bist du gekommen?« Er lachte jetzt beinahe meckernd, und Beth fragte sich, was noch an den Angstvorstellungen und Überlieferungen stimmen mochte,
die diesem Wesen ein unsterbliches Andenken gesetzt hatten. Der Bocksbeinige, der Widderköpfige … Wie oft schon hatten vergangene Generationen in dieses Antlitz geschaut? Wie groß war das Repertoire seiner Masken? Es mußte unendlich sein. Und doch … hier und heute hatte er Schwierigkeiten. Seine Probleme waren nicht einfach nur zu sehen, sie waren – zumindest für Beth – durchaus auch spürbar. »Seinetwegen.« Der Teuflische nickte in Davids Richtung. »Ich halte meine Versprechen.« In Beth’ Brust legte sich etwas kalt um ihr Herz. Ein Ring aus Eisen, ein Ring aus Qual. »Du willst ihn wahrhaftig töten? Nachdem er dir so getreulich gedient hat?« »Warum nicht? Du verwechselt Lohn mit Strafe.« Er log. Die Lüge stand ihm ins Gesicht geschrieben! Und dann hörte sie sich sagen: »Vielleicht wäre ich zu einem Pakt bereit – unter gewissen Umständen.« Aus den geronnenen Augen schien etwas zu ihr herüberzuspüren. Schon vorher hatte Beth bemerkt, daß sie dieses Wesen kaum betrügen konnte. Es wußte jederzeit alles, was auch sie wußte, wohingegen es umgekehrt gerade einmal darauf hinauslief, daß sie sich einbildete, Lüge von Wahrheit unterscheiden zu können. Aber konnte dieser Teufel wirklich ihre Gedanken lesen? Besaß er tatsächlich solche Allmacht, oder interpretierte auch er – nur um vieles perfekter als sie – Stimmungslagen, Gesten, Blicke …? »Welche Umstände?« Beth formulierte die Antwort in Gedanken. Nur in Gedanken. Er reagierte nicht. »Welche Umstände?« Sie straffte sich. Dann wies sie zu David, der hier in Heidelberg als hugenottischer Tuchhändler Charles Belier bekannt war und es zu großem Wohlstand gebracht hatte. »Er ist der Preis«, sagte sie und versuchte sich nicht anmerken zu
lassen, wieviel ihr an diesem Handel gelegen hätte. Der flimmernde Mann schüttelte den Kopf. »Das ist nicht möglich. Er ist todgeweiht. Er hat alle Energie, die in ihm steckte, abgebrannt, um das Feld für meine Ankunft und Wiedervereinigung zu bereiten. Er wird sterben – heute Nacht. Und selbst wenn ich ihm nicht das Leben zur vorbestimmten Stunde nähme, würde ihm nur noch eine karge Frist bleiben. Du brauchst ihn nur anzusehen. Es wäre dumm, dafür die eigene Seele in die Waagschale zu werfen!« Beth schüttelte langsam den Kopf. Es irritierte sie, daß dieses Wesen nicht blind nach jedem Pfand griff, das ihm angeboten wurde, sondern sie – im Gegenteil – fast noch davon abbringen wollte. »Du kannst abgelaufenen Uhren nicht rückwärts laufen lassen?« »Nein«, sagte er, und es schien die Wahrheit. »Vielleicht kann ich es – und ich verlange nicht mehr von dir, als daß du ihn schonst und mich gewähren läßt! Laß mich versuchen, ob ich ihm wiedergeben kann, was eine Laune der Natur ihm nahm!« »Nein!« Diesmal klirrte die Stimme, die bei ihren bisherigen Begegnungen nie ein lautes Wort verloren hatte. Aber dieses Treffen stand unter anderen Vorzeichen. Was war in der Kirche passiert? Hatte das Schwert, das um ein Haar David getötet hätte, IHN getroffen? Lag die Schiefe seines Anblicks, das Flimmern seiner Maske, die Blindheit seiner Augen daran? »Warum nicht?« fragte Beth. »Weil dein Talent zu kostbar ist, um es zu vergeuden! Und weil –«, er stockte kurz, »– dies kein Ort für Experimente, kein Ort zum Verweilen ist …!« Zum erstenmal hatte Beth das Gefühl, daß dem Teuflischen die Zeit unter den Nägeln brannte, und es freute sie diebisch. Für eine Sekunde. Dann trat wieder ihre Sorge in den Vordergrund. Die Sorge um
David. Und erstaunlicherweise achtete sie erst jetzt wieder auf die Frau, die an der Seite ihres Sohnes stand: Beatrice Belier, seine hagere, faltenübersäte, ansonsten aber unscheinbare Gemahlin, die dastand, als ginge sie dies alles nichts an. Als beträfe es nur andere – und das war fast noch verrückter als alles sonstige, was sich in diesem Kontor zutrug! »Wirst du auch seine Frau töten?« fragte sie. Ihr Gegenüber war geübt in menschlicher Gestik. Seine Handbewegung signalisierte, daß er ihr Unwissen fast mitleidig fand. »Das erübrigt sich.« »Erübrigt sich?« »Du hast sie nicht erkannt? Du weißt nicht, wer die wenigen Jahre, die ihm zugestanden waren, an seiner Seite lebte?« »Nein …« Obwohl Beth nach diesen Worten Beatrice schärfer ins Auge faßte, mußte sie verneinen. Diese Gestalt war ihr in gewisser Hinsicht vertraut – aber doch erst, seit sie ihr Porträt draußen in der Hausfassade erblickt hatte, oder? SEIN Gelächter zerstörte den Versuch, mehr darin zu sehen. Doch im nächsten Moment … veränderte sich Beatrice Belier. Es war, als liefe ein Film rückwärts – und im ersten Moment sah es aus, als strafte der Teuflische seine eigene Behauptung, er könnte verlorene Lebenszeit nicht zurückgeben, Lügen. Doch noch während sich die Züge von Davids »Gemahlin« immer mehr verjüngten, sich immer stärker glätteten und die Alterspatina abschüttelten, desto offensichtlicher wurde die Farce. Der Betrug, dem sich David hingegeben hatte. Und die Perversion, die dahintersteckte. Jünger und jünger wurde das Antlitz der Frau, die nicht echt sein konnte, weil sie sich mehr und mehr in einen Spiegel verwandelte. Einen Spiegel, in dem Beth … mit sich selbst konfrontiert wurde! »Ich?« rann es über ihre Lippen. Sie begriff es nicht. Sie verstand
auch nicht, warum sie sich – fast so alt wie David in seinem verfallenen Körper – nicht schon früher wiedererkannt hatte. »Der Mensch verdrängt sein Schicksal allzu bereitwillig«, leistete der Teuflische ihr Hilfestellung zu einer Erklärung. »Mitunter glaubt er nicht einmal von seinem wahren Spiegelbild, daß es ihn darstellt. Meist fühlt er sich unvorteilhaft wiedergegeben …« Beth hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie stützte sich auf die hölzerne Theke zur Linken und gegen die Regalwand zur Rechten. »Ich biete dir meine Seele!« Ihre Stimme überschlug sich, während ihr Blick nicht von der Erscheinung an Davids Seite abließ. »Wenn du das abschlägst …« »Was dann?« zischte es aus dem nun immer hektischer flimmernden Mund, dem es schwerfiel, die Form zu wahren. Und schließlich sagte dieser Mund etwas, was Beth endgültig aus der Bahn warf, so sehr, daß sie die nächsten Sekunden nur dastand und zusah, was der Teuflische ihrem Sohn antat. Ihrem verzückt lächelnden Kind … »Wie könnte ich etwas zum Pfand nehmen, was du gar nicht besitzt?« Die Frage hallte noch nach, als der Vater den Sohn bereits umarmte. Als die Menschenmaske fiel und ein Tier zubiß. Nur ein einziges Mal, aber heftig genug, um Davids Genick zu zerbrechen und ihn mit einem leisen Seufzer zusammensinken zu lassen. Sein Mörder gab ihn sofort wieder frei. Der greise Körper fiel zu Boden. Als Beth, wie gelähmt vor Wut und Trauer, hochblickte, war Beatrice verschwunden. Die Stelle, wo sie gestanden hatte, war leer und verlassen, als hätte es sie nie gegeben. Ein Schritt, ausgreifend, wie es eigentlich unmöglich war, brachte das Ungeheuer zu Beth zurück. Es hatte leichtes Spiel, ihren Widerstand zu brechen – weil es diesen Widerstand nur als unausgegore-
nen Vorsatz in einem abgeschiedenen Bereich ihres Denkens gab. »Wie könnte ich etwas zum Pfand nehmen, was du gar nicht besitzt?« Beth schauderte. Sie schauderte noch, als die Tür des Ladens längst hinter ihr und IHM zugefallen war, und so entgingen ihr die kurzen Eruptionen, die Davids Körper erschütterten, als müßte er sich selbst im Tod noch übergeben …
* Es war geschehen! Sie hatte wieder zwei Hände – aber eine davon war ein Killer. Mehr noch: ein schlummerndes Verhängnis, dessen Erwachen nicht vorhersehbar war – und doch hatte Salvat darauf gedrängt, daß Lilith dieses Dilemma akzeptierte und auf sich nahm, um einen sofortigen Tod zu umgehen! »Warum?« fragte sie bei dem erfolglosen Bemühen, Gewalt über die Hand zu erringen. Es gelang ihr nicht. Wie schon einmal war der Kontakt zur Linken unterbrochen, gleichwohl sie das Verbluten verhindert hatte und nun wieder, wie von Salvat angekündigt, an dem Stumpf klebte. »Warum war dir mein Weiterleben so wichtig? Diese Hand hat versucht, dich in den Untergang zu reißen!« Auf Salvats von tiefer Erschöpfung gezeichneten Zügen erschien ein Anflug von Heiterkeit, von dem sich nicht sagen ließ, ob er echt oder vorgetäuscht war. »Ich bin nicht nachtragend.« »Er ist unglaublich!« stöhnte Tobias, der die Hand mit vielleicht noch mehr Argwohn und Abscheu betrachtete als Lilith selbst. Salvat schüttelte den Kopf, taxierte erst Tobias, dann Lilith und meinte: »Ihr seid unglaublich! Ihr beide! Vielleicht wißt ihr nicht einmal selbst, wie ungewöhnlich ihr seid, sicher aber ist, daß ihr als einzige dem Bann des Satans widerstehen konntet! Alle, die ihr sonst hier seht, alle, die ihr Leben ließen oder ihre Wunden lecken, wur-
den davon überrascht! Wer weiß, wie es ausgegangen wäre, wenn du nicht –«, er nickte Lilith zu, »– eingegriffen hättest.« Es fiel Lilith immens schwer, sich überhaupt an das, was sie getan und was sich sonst noch in der Kirche abgespielt hatte, zu erinnern. »Du kannst dir dein Lob sparen«, sagte sie. »Verrate lieber, mit wem wir es gerade zu tun hatten. – Und weil wir vorhin von Glauben sprachen: Ich glaube an die Macht des Bösen wie die des Guten – aber nicht an eine Person, die das Böse ist.« »So wie es das Gute und seine Manifestationen gibt, verhält es sich auch beim Bösen«, sagte Salvat. »Was verstehst du unter Manifestation?« »Das, was sich hier wiedervereinigt hat.« »Wiedervereinigt?« »Der, von dem ich rede, kann sich spalten, so daß drei von ihm zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten ihre Ränke zu schmieden vermögen. Ihre Kriegshetze. Die Saat, die Er, sobald er wieder verschmilzt, ernten will, um in Zukunft noch mächtiger, noch gewaltiger über die Menschen zu kommen, bis ihm eines Tages jede Seele, die Ungeborenen ausgenommen, gehört!« »Wozu?« Lilith schüttelte den Kopf. »Was hätte er davon?« »Die Weltherrschaft?« »Es gibt schon ein Volk, das darauf Anspruch erhebt – und das im geheimen längst herrscht …« »Die Vampire?« Salvat wirkte nicht sehr beeindruckt. »Sie wähnen sich als Herrscher, gewiß, doch dabei übersehen sie, daß sie nur deshalb noch existieren, weil Er sie in Seinen Plan eingebunden hat. Manchmal denke ich, Er wartet nur den Tag, die Stunde ab, da die Vampire alle maßgeblichen Positionen unterwandert haben, um dann zuzuschlagen. Um die blutgierigen Sippen auszulöschen – und durch das Verwaisen aller bedeutenden Ämter die Menschheit ins völlige Chaos zu stürzen. Krieg, Chaos und Niedergang müßten die Folgen sein, rund um den Erdball – der ideale Nährboden also, um
Seine Macht ins Unendliche zu steigern!« Lilith fröstelte, als sie begriff, welches Szenario Salvat gerade vorweggenommen hatte. Das Sterben der Vampire in der Zukunft! Aber nicht Satan, sondern GOTT hat deren Untergang beschlossen, dachte sie. Und wie durch ein Wunder sind Chaos und Kriege ausgeblieben. Die Welt ist noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen … War sie das wirklich? Mußte die Welt, die sie verlassen hatte, nicht erst noch aus dem, was hier, heute und in den nächsten Jahrhunderten geschah, erwachsen? Die Gegenwart ist die Summe der Vergangenheiten, dachte Lilith. Aber was wurde aus der Zukunft, wenn Details der Vergangenheit verändert wurden? Zum Beispiel durch ihr Eingreifen in die Geschichte …? Die Problematik des Zeitparadoxons beschäftigte dort, woher sie kam, vornehmlich phantasiebegabte Schriftsteller. Im Grunde hielt Lilith es für unmöglich, etwas zu verändern, was von ihrer Warte aus bereits geschehen war. Stimmte das, würde nichts und niemand die Zukunft verändern können. Aber falls es doch Wege der nachträglichen »Korrektur«, Wege der Manipulation gab … was dann? Was hätte ich dann seit meiner Ankunft bereits angerichtet? Welche irreparablen Schäden hätte ich verursacht? WIE WÜRDE DIE ZUKUNFT AUSSEHEN, IN DIE SIE UNTER ALLEN UMSTÄNDEN ZURÜCKKEHREN WOLLTE? »Ich tue mir schwer, den Satan als gegeben hinzunehmen«, sagte Lilith. »Das ist … normal«, nickte Salvat. Das kurze Stocken erinnerte Lilith daran, daß Salvats Attacke gegen die Brut aus dem Kokon nicht folgenlos geblieben war. Er mußte fürchterlichen Raubbau mit seinen Kräften betrieben haben. In seinen Augen war kaum noch Glanz.
»Ich hatte schon mit Dämonen zu tun. Könnte es sich bei dem, der all dies hier inszenierte, nicht auch um einen Dämon handeln? Ein Wesen aus einer Zwischenwelt?« Salvat schüttelte entschieden den Kopf. »Nein.« »Was macht dich so sicher?« »Wir standen uns nicht zum ersten Mal gegenüber.« »Nicht zum ersten Mal …?« »Natürlich nicht. Er vertritt seine Interessen seit Urzeiten.« Lilith wechselte einen Blick mit Tobias. Auch der junge Heidelberger mußte hören, was Salvat preisgab. Aber vermutlich schwirrte ihm der Kopf schon genügend von den vorherigen Ereignissen. Er zuckte hilflos mit den Schultern. Lilith wandte sich wieder Salvat zu. »Dann müßtest du selbst …« Salvats Züge wirkten wie aus Blei gegossen. »… auch uralt sein!« vollendete Lilith ihren Satz. »Das tut nichts zur Sache«, wiegelte er ab. Für mich schon, dachte Lilith. Es wäre eine Erklärung, warum ich dir in der Zukunft begegnet bin und du aussahst wie heute. Der Salvat, mit dem sie von Regensburg bis nach Heidelberg gereist war, hatte sich, was Ausstrahlung und Verhalten anging, von dem Salvat der Zukunft unterschieden. Inzwischen ähnelte er ihm jedoch zusehends mehr – seit das Ungeheuer ihn beinahe in den Untergang gerissen hätte. Seit die Schwäche in ihm fraß und er sich vorwerfen mußte, versagt zu haben. »Seit sich unsere Wege getroffen haben«, erhob Salvat erneut die Stimme, »frage ich mich, was dich so außergewöhnlich macht, Lilena.« »So heißt du also«, meldete sich wie auf Stichwort Tobias zu Wort, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. Wären die Umstände nicht eher zum Heulen gewesen, Lilith hätte vielleicht laut losgeprustet. Als sie sich Salvat vorgestellt hatte, war ihr beinahe ihr wahrer Name herausgerutscht, und als sie mit »Lena« korrigiert hatte, war
»Lilena« daraus geworden. Seit sie um den Bestand der Zukunft fürchtete, wagte sie weniger denn je, sich Geschöpfen, die in dieser Zeit verwurzelt waren, zu offenbaren. Nun schien es ihr von fast existentieller Bedeutung, es nicht zu verraten. Mochte man weiter glauben, sie sei das durchtriebene kleine Luder Lilena … »Ich bin nichts Besonderes«, sagte sie in die Pause hinein, die Salvat einlegte. »Daran glaubst du wohl selbst nicht«, erwiderte er. »Du und Tobias seid die einzigen, denen ich es in dieser Situation noch zutrauen würde, ihn einzuholen, bevor er sich von der beigebrachten Scharte wieder erholen kann!« Während Tobias hörbar die Luft einsog, schloß Lilith kurz die Augen. Warum bin ich hier? fragte sie sich. Warum bin ich der Bruderschaft nach Heidelberg gefolgt? Sie kannte die Antwort: Weil sie Wege suchte – Wege zurück. Sie war nicht hier, weil sie es für notwendig erachtet hatte, in die Vergangenheit vorzustoßen, sondern weil das Tor im Monte Cargano sie ungefragt verschlungen hatte! Das Tor, das der Salvat der Zukunft hütete und bewachte. Was lag also näher, den Salvat dieser Zeit darum zu bitten, ihr den Rückweg zu ebnen? Den Transfer dorthin, wo ihr wahrer Körper auf sie wartete – und von dort aus weiter in die Gegenwart, die für sie galt … Sie entschloß sich zu einem Test. »Sagt dir Monte Cargano etwa?« fragte sie. In Salvats Augen blitzte es auf. »Ja. Aber es dürfte dir nichts sagen.« Sie hatte genug erfahren. »Vielleicht nützt es dir mehr als mir, wenn der Flüchtige gestellt und unschädlich gemacht werden könnte«, sagte sie.
»Das ist eine sehr kurzsichtige Denkweise«, tadelte Salvat. »Mag sein. Jedenfalls knüpfe ich eine Bedingung an ein Bündnis mit dir.« »Ich habe dir das Leben gerettet«, erinnerte sie Salvat. »Du hast diesem Körper das Leben gerettet«, versetzte sie, »nachdem ich dir das Leben rettete! Also sind wir quitt. Und so betrachtet hätte meine weitere Unterstützung wohl einen Lohn verdient.« »Welchen?« »Das sage ich dir, wenn wir Erfolg hatten.« Sie nickte Tobias zu. »Falls er überhaupt mit von der Partie ist …« Tobias zog wie frierend den Kopf zwischen die Schultern. »Du hast einen Wunsch frei«, akzeptierte Salvat ihr Pokern. »Und er auch. Wenn ihr die euch gestellte Aufgabe erfüllt habt. Und da es euch offenbar beiden nicht genügt, die Welt zu retten …« »Die Welt«, erwiderte Lilith trocken, »habe ich schon einmal gerettet. Ich suche neue Herausforderungen.«
* »Was war das für ein Schwert vorhin?« fragte Lilith, als Salvat von zwei Angehörigen seiner Bruderschaft auf eine provisorische Trage gehoben wurde, mit der sie ihn allem Anschein nach aus der Kirche, vielleicht auch ohne Umweg und weiteren Aufenthalt aus der Stadt befördern wollten. »Kannst du es uns mitgeben?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil ich das Schwert war. Es erlischt, wenn meine Kräfte versiegen …« Es klang wie die Wahrheit und erklärte auch die beobachteten Veränderungen, die Salvats Klinge während der Auseinandersetzung durchlaufen hatte. »Deine Anhänger haben allesamt seltsame Waffen – aber sie nütz-
ten nicht viel, als es ernst wurde. Kannst du uns etwas mitgeben, was den Teufel stärker beeindruckt?« Salvat lächelte unergründlich, und ebenso undurchsichtig sagte er: »Das habe ich bereits.« Lilith sah ihn an. »Was ich euch außerdem noch mitgeben kann«, fuhr er mit ersterbender Stimme fort, ohne auf ihren fragenden Blick einzugehen, »ist seine Witterung.« Er erzitterte. Aus seinem Mund trat etwas, das wie schwarzer Schaum aussah. »Tretet näher – beide.« Sie gehorchten zögerlich. Lilith sah die Schlagader an Tobias’ Hals in einer Geschwindigkeit pochen, die den Grad seiner Erregung deutlich machte. Sie selbst hatte sich etwas besser unter Kontrolle, dennoch … »Was hast du vor?« Er dirigierte sie gestikulierend, bis sie rechts und links der Trage Aufstellung genommen hatten. Dann hob er seine Hände und berührte ihre Stirne. Was sich dann aus ihm entlud, kostete ihn auch noch die letzte verbliebene Kraft. Zwei geradlinigen Blitzen gleich bohrte sich etwas in die Hirne von Lilith und Tobias und überstrahlte ihr Bewußtsein … Sie erwachten zur gleichen Sekunde und nebeneinander. Einiges an Zeit mußte vergangen sein. Von Salvat und seinen Anhängern waren nur noch die Toten da. Sie lagen zwischen den Leichen der Heidelberger, die hier auf Satans Geheiß gewirkt hatten, und durch die geborstenen Fenster der Heiliggeistkirche kroch bereits das erste trübe Grau eines ungewissen Morgens …
* Tobias blieb stehen. Vor ihnen lagen der Marktplatz und Beliers �
Haus zum Ritter, und hie und da waren die vertrockneten Überreste von Spinnen zu sehen. Obwohl die Sonne sich noch nicht über den Zinnen der Ostmauer zeigte, war es bereits taghell, und ein kühler Wind blies den beiden Gestalten auf der menschenleeren Straße entgegen. Nirgends war ein Laut zu hören, keine fremden Schritte, keine Stimmen … nicht einmal ein Hahnenschrei aus einem der Hinterhöfe. Es war immer noch so still wie in der zurückliegenden Nacht, als sich Tobias voller dunkler Befürchtungen an die Fersen des Tuchhändlers geheftet hatte. »Du bist hier aufgewachsen?« fragte Lilena. Er nickte. »Wann haben die Spinnen begonnen, das Viertel lahmzulegen?« »Die ersten Anzeichen gab es schon vor etlichen Tagen«, sagte er und dachte an Kristine. Er seufzte. »Sich vorzustellen, daß sie alle eingesponnen in den Häusern liegen …« Das Mädchen, dessen beunruhigende Schönheit nur von Balthasar Auers Hand gestört wurde, setzte zu einer Erwiderung an. Doch in diesem Moment veränderte sich etwas spürbar. Etwas, das sich für Tobias anfühlte, als würde in seinem Hinterkopf die straff gespannte Saite eines Instruments bersten. Danach … … besaß die Stille plötzlich eine andere, wieder fast gewohnte Qualität. Lilena schien vergessen zu haben, was sie ursprünglich hatte sagen wollen. »Was war das?« fragte sie. Er zuckte die Achseln. Stumm setzten sie ihren Weg fort, der »Witterung« folgend, die sie schnurstracks auf Charles Beliers Haus zuzog. Schon von weitem war zu sehen, daß die Ladentür weit offen stand.
»Was tun wir, wenn er noch da ist?« fragte Lilena mit rauchiger Stimme. Tobias blieb noch einmal kurz stehen. Er versuchte in sich eine Antwort auf Lilenas Frage aufzuspüren, aber alles, was er fand, war eine durch nichts erklärte Zuversicht. Was hatte Salvat mit ihnen getan? »Da! Da vorn! Sieh nur!« rief Lilena aus. Tobias folgte der angegebenen Richtung und sah, wie sich in diesem Moment die Tür eines anderen Hauses öffnete. Eine Frau wankte wie trunken ins Freie. Das Licht schien ihr wehzutun, denn sie bildete mit beiden Händen einen Schutz über den Augen und drehte sich desorientiert um die eigene Achse. Hinter ihr in der Tür erschien ein Kind mit ähnlichen Symptomen. Sein Weinen klang bis zu Beliers Haus. »Sie sind gar nicht tot! Er hat sie gar nicht … umgebracht«, rann es ungläubig über Tobias’ Lippen, während Lilena zum Weitergehen drängte. »Die Spur führt in das Gebäude hinein, aber auch wieder heraus und weiter die Straße hinab … Wir sollten trotzdem kurz nachsehen.« Noch während sie sprach, übertrat sie bereits die Schwelle des Ladens. Tobias zollte ihrem Mut keinerlei Bewunderung. Er wußte ja, daß sie nicht anders handeln konnte. Nicht mehr. So wenig wie er selbst. Und so fanden sie den Kokon, der sich von allen anderen dieses Viertels schon deshalb unterschied, weil er noch im Entstehen begriffen und folglich unvollendet war …
* Lilith blickte auf den Toten, der eine andere Tote – Beth MacKinsey – Mutter genannt hatte.
Antlitz und Körper waren von den Fäden einer Spinne überspannt, die den Eintritt von zwei Menschen in das Kontor bemerkt hatte und seither regungslos verharrte, mit jedem ihrer acht Beine auf einem anderen der kreuz und quer verlaufenden Schnüre. Nicht einmal das leiseste Zittern durchlief das lückenreiche Netz, aus dem heraus zwei Augen starrten, die den Anschein erweckten, als wäre hier ein alter Mann friedlich entschlafen. Dem widersprach die gräßliche Wunde jedoch dramatisch, die den Kopf in unmöglichem Winkel abstehen ließ und auch verantwortlich für die riesige Blutlache war, in der die Leiche ruhte. Lilith bemerkte, wie ihr Begleiter die Farbe wechselte und hervorstieß: »Warum ist er nackt?« Als Lilith nichts darauf entgegnete, ereiferte sich Tobias weiter: »Dieses scheußliche Getier! Was tut es da? Hatten wir nicht gehofft, der Spuk sei vorbei? Wir haben uns getäuscht! Ein Teil der Spinnenbrut lebt offenbar immer noch …« Er machte einen Schritt auf die weiterhin unbeweglich, wie lauernd dasitzende Spinne zu – und zertrat sie unter der Sohle seiner Sandale. Als er aber ausrief: »Das genügt nicht! Ich will, daß das ganze Haus brennt! Wer weiß, was sich noch alles darin verbirgt!« widersetzte sich Lilith. »Nein«, lehnte sie kategorisch ab. »Die Häuser kleben hier eins am anderen. Wir würden eine Feuersbrunst riskieren, die die halbe Stadt in Schutt und Asche legt. Kaum jemand wäre in der Lage, Löscharbeiten durchzuführen. Was glaubst du, wie viele Unschuldige sterben müßten!« »Wissen wir denn, ob sie noch unschuldig sind?« gab Tobias ebenso mürrisch wie betont zurück. Der Anblick der Spinne hatte ihn völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. »Gut, sie scheinen nach und nach zu erwachen. Aber erwachen heißt nicht, daß sie auch wieder so sein müssen wie vorher!« Obwohl Lilith ihm im stillen recht gab, blieb sie dabei: »Kein Feuer!«
Und während Tobias mißmutig neben Belier niederkniete und dessen Leichnam untersuchte, als könnte er Argumente finden, die Lilith doch noch umstimmen würden, durchkämmte sie den kompletten Ladenbereich auf der Suche nach Beth. Sie hatte sich erinnert, daß Belier nicht allein aus der Kirche verschwunden war. Als sie nichts fand, was mit Beth in Zusammenhang zu bringen war, kehrte sie zu Tobias zurück, in dessen Gesicht die Ungeduld wie eine körperliche Anstrengung zu lesen war. »Etwas stimmt nicht damit«, sagte er. »Womit? Mit Belier?« »Ja.« Er winkte sie näher. »Sieh es dir selbst an!« Lilith bückte sich, und es dauerte nicht lange, dann hatte sie begriffen, worauf Tobias anspielte. Er hatte sich bemüht, die Fäden, die bereits gewoben waren, unversehrt zu lassen, und so hatte es im ersten Moment den Anschein, als würde das hereinströmende Licht Schatten auf Beliers Leichnam werfen – dunkle Linien, deren Muster von den Spinnfäden bestimmt wurden. Daß es eine Wechselwirkung zwischen dem löchrigen Gespinst und dem Leichenmuster gab, konnte kaum geleugnet werden. Aber ebensowenig, daß diese optische Auffälligkeit nichts mit Schatten zu tun hatte. »Seine Haut, sein Fleisch, selbst die grauenhafte Wunde im Nacken …« Lilith schürzte die Lippen. »Überall dort, wo die Fäden gesponnen sind, hat sich das darunterliegende Gewebe des Leichnams verändert. Es sieht …« »… lebendig aus!« Tobias schien den Verdacht, den er selbst hegte, in Liliths Worten bestätigt zu finden. »Würde man den kompletten Leichnam mit einer einzigen großen Wunde vergleichen, könnte man sagen, einzelne Bereiche hätten bereits begonnen zu heilen …« Er schluckte hörbar. Lilith richtete sich wieder auf. Sie hatte eine Gänsehaut. »Wenn
wir recht hätten«, sagte sie, »und wenn es der Spinne gelungen wäre, ihr Werk zu vollenden … Aber nein, das ist absurd!« »Belier nannte den Teufel Vater«, gab Tobias das wieder, was er aus seinem Versteck in der Kirche heraus erlauscht hatte. »Wenn er wirklich der Sohn dieses Ungeheuers war …« Er sprach nicht weiter. »Warum hätte sein ›Vater‹ ihn umbringen sollen?« »Ich weiß es nicht.« »Ich auch nicht.« Lilith nahm einen auf der Theke liegenden Stock, in den eine Maßskala zum Bemessen des Tuches gekerbt war, und stocherte damit so lange in dem Gespinst herum, bis es vollkommen zerfetzt und der Leichnam im großen und ganzen davon gesäubert war. Das Muster auf dem nackten Körper blieb davon unbeeinträchtigt. Einer plötzlichen Eingebung folgend, legte sie den Stock wieder beiseite und bewegte ihren linken Arm so gezielt, daß der Mittelfinger der tauben Hand mit einer der ›genesenen‹ Stellen in Berührung kam. Im nächsten Moment zuckte sie verblüfft zurück. Sie hatte nicht das geringste gefühlt, aber dort, wo die Hand des Auers mit dem rosigen Gewebe des Leichnams in Kontakt gestanden hatte, war die lebendige Frische gewichen, und der Bereich unterschied sich nicht mehr von den Leichenteilen, die bereits in allmähliche Verwesung übergingen. »Die Auferstehung ist gestrichen – ersatzlos!« Ihr launiger Ausruf täuschte darüber hinweg, wie wacklig sie plötzlich in den Knien geworden war. Tobias fragte auch nicht, woher sie gewußt hatte, was passieren würde. Wahrscheinlich ahnte er, daß sie es gar nicht gewußt hatte. »Gehen wir«, drängte er. Ja, gehen wir. Lilith lenkte ihre Schritte zum Ausgang. Noch zur selben Stunde verließen Tobias und sie Heidelberg
durch das untere Tor. Als sie der Stadt der Schläfer den Rücken kehrten, war dies für den Mann an ihrer Seite ein Abschied, der etwas Endgültiges hatte und ihn entsprechend schmerzte. Er war nie weiter gekommen als bis zu einem nahen Wäldchen, in dem er mit Kristine … Tobias verkrampfte. Der Gedanke, die Tochter des Apothekers könnte gerade aus der Tür ihres Elternhauses treten und verwirrt ins Frühlicht blinzeln, zerriß ihm schier das Herz. Doch ein Zurück gab es nicht mehr. Der Blitz, der von Salvat auf ihn übergesprungen war, wand sich immer noch zuckend in seinem Kopf und erinnerte ihn an die Aufgabe, der er sich stellen mußte. Die Welt war in Gefahr! Und auch wenn Tobias fand, daß er ein ziemlich armseliger Held war, setzte er doch getreulich Fuß vor Fuß, dem Gestank folgend, der sie irgendwann zu IHM führen mußte. Und dann, daran gab es kaum einen Zweifel, würden ihre Schwierigkeiten erst richtig beginnen …
* Dieser Oktober hatte schon eisig kalte Tage, aber noch schwerer zu ertragen waren die Nächte. Die erste Zeit der Hetzjagd auf den Spuren des tierhaften Satans, den zu finden und zu besiegen Salvat zum höchsten Ziel erklärt hatte, war von einem vorsichtigen gegenseitigen Abtasten zwischen Lilith und Tobias Stifter geprägt. Sie kannten einander ja erst seit dem Debakel in der Kirche, und der Auftrag, der sie zu Verbündeten machte, schweißte nicht automatisch auch zusammen. Dennoch entdeckte Lilith relativ bald, daß Tobias’ Charakter ihr zusagte. Und umgekehrt … nun, anfangs hatte es durchaus den Anschein, als würde der junge Heidelberger sich nicht die Mühe machen, hinter die attraktive Fassade zu blicken, die nicht einmal Li-
liths echte war. Kathalena war ein schönes Kind, und auch wenn diese Kathalena offenbar Liliths ungestümem Eroberungsdrang zum Opfer gefallen und aus ihrer Hülle vertrieben worden war: Ihr Körper hatte dadurch nichts von seiner liederlichen Anziehungskraft eingebüßt. Im Gegenteil. Das neu hineingepflanzte Bewußtsein färbte auf das Äußere ab und belegte es mit einem zusätzlichen Reiz. Davon war Lilith überzeugt, auch wenn es tausendmal wichtigere Dinge in diesen Zeiten zu bedenken gab. Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen. In einem Spiegel – denn Lena war noch immer Mensch und nicht den Gesetzmäßigkeiten der Vampire unterworfen. Verstohlen spähte sie zur anderen Seite des Feuers, wo Tobias gedankenverloren in der Glut herumstocherte. Auch er ahnte nicht, welches Geheimnis sie ihm und allen Menschen dieser Zeit vorenthielt. Daß sie aus der Zukunft kam. Einer Zukunft, in der der Satan nicht – oder zumindest noch nicht – die erstrebte Weltherrschaft angetreten hatte … Oder täuschte sie sich? Wieder schauderte sie zusammen, als sie sich an Salvats düsteres Credo erinnerte. Manchmal, so hatte er ausgeführt, käme es ihm vor, als wartete der Teufel nur ab, bis die Vampire endlich alle maßgeblichen Machtpositionen unterwandert und sich darin etabliert hätten. Wenn er dann die Alte Rasse eliminierte, konnte er die entscheidungsuntüchtig gewordenen Menschen ins völlige Chaos treiben … Mit klammem Unbehagen fragte sie sich, ob nicht auch genau das inzwischen geschehen sein könnte. Ob das Sippensterben der Zukunft denn wirklich von Gott ausgelöst worden war – oder ob nicht auch sein Antipol, der Satan, dahinterstecken konnte? Was war wirklich am Anfang der Zeit geschehen? Sie merkte nicht, wie sie die eine Faust, die ihr gehorchte, ballte und leise aufstöhnte.
Sie bemerkte auch Tobias’ Blicke nicht. Genug! dachte sie. Salvat hatte recht: Mir fehlt der wahre Glaube, sonst würde ich nicht bei erstbester Gelegenheit alles, aber auch wirklich alles, was den Sinn meines Daseins ausmacht, in Frage stellen! Nicht Satan, Gott hatte den Vampiren die Seuche gesandt, an der das Gros von ihnen zeitrafferschnell und elendiglich, wie es ihre Untaten als Sühne forderten, krepiert waren! »Was hast du?« Lilith schrak zusammen. Jenseits des Feuers sah sie Tobias’ Züge, die in anderer Weise als ihre eigenen angespannt wirkten. Zwei Leben, dachte sie vage. Zwei völlig verschiedene Sichtweisen dessen, was wir hier durchmachen … das ist normal. Normal! Sie kam nicht dazu, ihre Frustration noch mehr überschäumen zu lassen. Als sie nicht antwortete, erhob sich Tobias, umrundete das Feuer und setzte sich direkt neben sie auf den in einem Sturm umgestürzten Stamm einer Buche. Es war kein plumper Annäherungsversuch, nicht einmal ansatzweise. Um so verwunderter war Lilith, als Tobias ihre (Lenas!) Hand nahm und in einem Ton, der keine Ablehnung ertragen hätte, bat: »Ich werd’ nicht damit fertig! Kannst du mir sagen, wie du das erträgst?« »Was meinst du?« Er setzte zweimal zum Sprechen an, ehe er leise sagte: »Den Verlust … Ich … ich hab’ alles verloren – alles, woran ich einmal geglaubt hab’. Geht es dir so anders? Hast du soviel erlebt, daß das hier … normal für dich ist?« Der Druck seiner Hände nahm zu. Und da war auch wieder dieses Wort, das Lilith wie der nackte Hohn vorkam – nicht erst seit heute, eigentlich schon so lange sie zurückdenken konnte: normal. Seine ganze Haltung, die von den prasselnden Flammen des Feu-
ers beschienene Mimik waren ein einziger Hilfeschrei. Sie zog ihre Hand zurück – aber nur, um den Arm um Tobias zu legen. Er lehnte sich an sie, schmiegte seine Wange gegen ihre Schulter und richtete den Blick in die wabernde Glut unter dem übereinandergeschichteten Brennholz. Auch ihm stand der Sinn nach nichts anderem als Nähe. Halt. Er suchte Halt. Der Stamm, auf dem sie saßen, war ein in finsterster Nacht durch einen unermeßlichen Ozeans treibendes Boot mit zwei vom Zufall zusammengewürfelten wildfremden Menschen an Bord. Menschen, die sich kennenlernen und verstehen mußten, wenn sie je wieder Land sehen und Boden unter die Füße bekommen wollten … Liliths Herzschlag beschleunigte sich. »Ich habe sehr viel erlebt, ja«, sagte sie. »Manchmal denke ich, zuviel.« Tobias hob den Kopf und sah sie unverwandt an, als hätte ein kurzer Moment größtmöglicher Nähe genügt, das Zutrauen zu fassen, das bisher gefehlt hatte. »Wo kommst du her? Wie bist du zu – ihnen gekommen?« Er meinte die Bruderschaft, die Salvat um sich geschart hatte und die im Moment der ersten ernsthaften Bewährungsprobe doch geradezu läppisch versagt hatte. Vielleicht hatte er auf die Falschen gesetzt und zu sehr auf den ›wahren Glauben‹ gesetzt. Möglicherweise würde er in Zukunft umdenken müssen und seine Anhänger nach anderen Kriterien auswählen. Nach Begabung. Nach Fähigkeiten, wie sie unter Millionen vielleicht nur ein einziger besaß … Lilith kappte den Fluß solcher gegenwärtig mehr als müßigen Gedanken. »Der Zufall führte mich mit ihnen zusammen«, sagte sie. Es war die Wahrheit. »Und meine Herkunft … das ist eine lange Geschichte, die ich dir erzählen werde, wenn wir das hier überstanden haben.«
»Du glaubst, daß wir es schaffen können?« Sie zuckte die Achseln. »Was wirst du von dem, der uns aussandte, verlangen, wenn wir erfolgreich waren?« Lilith lächelte versonnen. »Daß er mir ein Tor öffnet.« »Ein Tor?« Ihr Lächeln wurde bitter. »Ich weiß nicht einmal, ob er den Schlüssel besitzt. Und wenn, ob er sein Versprechen halten wird. Aber eine andere Hoffnung als ihn habe ich momentan nicht, je wieder zurückkehren zu können.« »Wohin?« »Nach Hause.« Auch das klang bitter, weil sie im Grunde nirgends zu Hause war. Tobias rückte plötzlich und ohne ersichtlichen Grund ein wenig von ihr ab. »Ich will nicht, daß du denkst, ich wollte nur …« Sie preßte einen Finger gegen ihre Lippen und brachte ihn mit einem leisen »Schsch!« zum Schweigen, bevor er allzu großen Unsinn verzapfen konnte. »Es wäre dumm«, sagte sie, »nur auf ein Feuer zu vertrauen, wenn es uns nach Wärme verlangt. Komm wieder her! Mich friert genauso wie dir. Und vielleicht haben wir nicht mehr allzuviele Gelegenheiten, Partner kennenzulernen …«
* In dieser Nacht, es war die achte, seit sie Heidelberg verlassen hatten, schliefen sie nicht miteinander, teilten aber dennoch das Lager wie zwei Liebende und schenkten sich die Zärtlichkeit, nach der sie beide hungerten. Lilith war berauscht von Tobias’ Küssen und von der behutsam fordernden Art seiner Streicheleien. Auch sie liebkoste mit Händen, Lippen und Zunge. Aber weder sie noch er verlangte es nach dem
letzten, gerade so, als hätten sie Angst, damit das zarte Pflänzchen zu zertreten, das gerade am Aufblühen war. Lena hatte anders geformte Brüste als Lilith – aber als Tobias sie massierte, fand Lilith in der Lust, die sie durchflutete, keine Unterschiede. Am meisten verblüffte sie aber etwas anderes: Wie selbstverständlich Tobias auch die Monstrosität akzeptierte, in die ihr linker Arm mündete. Die Hand, die der Teufel dem Auer geschenkt und die ihren Vorbesitzer umgebracht hatte! Wenn Salvats Behauptung zu trauen war, hatte er das Böse daraus vertrieben. Fest stand für Lilith auf jeden Fall, daß er ihr diese lebende Prothese nicht ohne Hintergedanken angepriesen hatte. Hing Tobias’ Akzeptanz dieses Dings, das ihn zuvor spürbar das Grauen gelehrt hatte, möglicherweise auch mit dem Blitz zusammen, mit dem Salvat sie in die Lage versetzt hatte, dem Gestank des Satans zu folgen? Hatte er mehr in ihnen verändert als angekündigt? Ihre Persönlichkeiten …? Nein, beruhigte sich Lilith, so mächtig war er nicht mehr, als er uns verließ. Er hat etwas in uns gesehen, wovon er meinte, es könnte genügen, das fleischgewordene Böse einzuholen und ihm den Todesstoß zu versetzen. Es wird sich zeigen, ob er recht behält. Sie hörte auf, darüber nachzudenken, und brachte sich ganz in das Spiel ein, das so alt war wie die Menschen. Im ersten Morgengrauen setzten sie ihren Weg fort. Sie mieden die öffentlichen Straßen, weil auch der Teufel offenbar lieber abseits gelegene Pfade beschritt und sich den Weg durch Waldesdickicht oder über Wiesen bahnte. Den Weg wohin? »Es zieht ihn zur Grenze«, sagte Tobias an diesem Morgen und blieb stehen, um von einer Anhöhe aus über die Herbstlandschaft zu blicken, die sich vor ihnen erstreckte. Nur die Tannenwälder boten noch Grün; die anderen Bäume und das meiste Gesträuch hatten
sich ihres Laubes entledigt und griffen wie entblößte Knochen hoch zur Sonne. »Es ist nun eindeutig, denn in dieser Richtung liegt das Frankenreich. Ein paar Kilometer noch, und wir begegnen einem anderen, aber nicht minder grausamen Feind …« Lilith verstand manchen Ausdruck in seinen Augen besser seit der Nacht, die hinter ihnen lag. Tobias hatte ihr von seiner Kindheit erzählt, die lange Zeit vom Kriegstreiben überschattet gewesen war. Auch seine Eltern waren den Landsknechten zum Opfer gefallen, die vor dreizehn Jahren in Heidelberg eingefallen waren. Er selbst war wie durch ein Wunder davongekommen. Ein Wunder, das mit dem Talent zusammenhängen mag, das Salvat in ihm erspäht hat, dachte Lilith, immer noch unschlüssig darüber, welche Gabe Salvat ihr zuschrieb. Sie hielt es für denkbar, daß er ihre Ausstrahlung mißgedeutet und ihr mehr Gewicht zuerkannt hatte, als dahintersteckte. Eine Frau, in der sich ein fremdes Bewußtsein eingenistet hatte, besaß das Potential für einige Irritationen … »Willst du aufgeben?« fragte sie und meinte es ehrlich, als sie hinzufügte: »Niemand kann es dir verdenken, wenn du dich entscheidest, dein Leben zu leben. Du bist noch so jung …« Er blinzelte. »Und du?« Er hätte es nicht verstanden, wenn sie ihm ihr wahres Alter genannt hätte, das sie zum Großteil träumend und schlafend verbracht hatte. »Ich muß es tun.« »Um wieder nach Hause zu kommen?« Sie nickte. »Dann muß ich es auch tun.« »Dazu besteht keine Not.« »O doch.« »Warum?« »Vielleicht, um ein neues Zuhause zu finden?« Er nahm den Marsch wieder auf. »Nach Heidelberg, das weiß ich sicher, will ich
nie mehr zurück …« �
* Zwei Tage später Der Wind wisperte in den Weiden eines schmalen Bachlaufs, und auf den brachliegenden Äckern zu beiden Seiten hockten Schwärme von Raben, die mit ihren klobigen Schnäbeln Futter aus dem hartgefrorenen Boden meißelten. Der Krieg hatte die Bauern der Umgebung vertrieben oder umgebracht. »Hier wurd’ schon lang kein Feld mehr bestellt«, flüsterte Tobias. Liliths Hand kniff ihm in den Arm, um ihn zum Schweigen zu bringen, denn die Raben waren gefährlich. Weil sie nicht allein waren. Hinter ihnen erhoben sich diesseits des Ufers Zelte und Fahnenstangen, aber es brannten keine Feuer, wieherten keine Pferde, und in den provisorischen Gattern war auch sonst kein Vieh zu sehen. Das Gras stand hoch. Halme wiegten sich in den frostklirrenden Böen, die aber weder Branntweingerüche noch Stimmen, Gesänge oder Gelächter herübertrugen. Es war totenstill, als hätte der Heerführer befohlen, allergrößtes Stillschweigen zu bewahren, um das Hiersein zu verschleiern … Die Spur führte geradewegs durch das Lager hindurch. Offenbar war der Teuflische hier vorbeigekommen, bevor die französischen Landsknechte ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die Banner, die im Wind flatterten, hielten die Raben offenbar fern, aber eine einzige unbedachte Bewegung von Lilith oder Tobias konnte sie aufschrecken, und dann mochte es mit der Ruhe im Lager vorbei sein. »Wir warten die Dunkelheit ab und umgehen die Truppen dann
weiträumig«, schlug Tobias, noch leiser als eben, vor. Lilith nickte nur. Seit sie der Fährte folgten und sich wie Bluthunde an die Fersen des Entsetzlichen geheftet hatten, war die Witterung immer gleich stark gewesen, und auch jetzt fehlte jedes Indiz, ob sie zu dem Flüchtigen aufgeholt hatten oder ob die Distanz zwischen ihnen vielleicht sogar noch größer geworden war. Hätte er die Art der Fortbewegung, mit der er dreigestaltig in der Kirche zu Heidelberg erschienen war, noch immer uneingeschränkt beherrscht, so wäre die Hoffnung, ihn je einzuholen, wohl illusorisch gewesen. ZZZUUUWWW! Das haarsträubende Geräusch ging Lilith nicht mehr aus dem Ohr, seit sie es dreimal hintereinander vernommen hatte. Und immer häufiger beschäftigte sie sich in Gedanken mit Beth’ ungewissem Schicksal. Beth’ Anwesenheit in dieser Zeit war das Rätsel schlechthin. Wie konnte sie hier agieren und sogar einen Sohn zeugen, wo sie doch bei Uruk … ZZZUUUWWW! Lilith schüttelte sich und rettete sich in die Erinnerung an das satanische Geräusch, um nicht darüber nachdenken zu müssen, daß sie Beth getötet und einfach am Eingang zum Korridor der Zeit hatte liegen lassen. Es war eine Schuld, die ihr nichts und niemand je abnehmen würde. Es war auch nichts, womit sie je fertig werden konnte. Dieser Stachel in der Seele würde sie ewig begleiten. Selbst noch in ihr Menschsein, so sie es dereinst erlangen sollte! Eng aneinandergeschmiegt und steifgefroren sehnten sie den Einbruch der Dämmerung herbei. Mit der Zeit stieg die Überzeugung, daß das Lager vor ihnen – so intakt es, was die Bauten anging, auch schien – verlassen war. Trotzdem wagten sie es nicht, sich darauf zu verlassen, sondern hielten
an ihrem einmal gefaßten Plan fest. Erst als die sternenklare Dunkelheit einen genügend dichten Mantel um sie herum gewebt hatte, setzten sie ihren unterbrochenen Marsch steifgefroren und von Hunger und Durst geplagt fort. Sie machten einen großen Bogen um das schweigende Camp. Kein Rabe stieg wegen ihnen in die Lüfte. Doch dann, auf der anderen Seite wieder in Ufernähe angekommen, mußten sie feststellen, daß der Faden gerissen war. Die Spur, der sie seit zehn Tagen folgten, existierte nicht mehr! Oder sie war … Lilith blieb stehen, als wäre sie gegen eine Mauer gerannt. »Wir Idioten«, stieß sie hervor, packte Tobias am Hemdkragen und zog sein Gesicht so energisch nah dem ihren, daß er um ihren Verstand fürchten mochte – und auch um seinen eigenen, denn die Hand, die ihn unterhalb der Kehle gepackt hielt, war die … des Auers!
* Lilena schien überhaupt nicht zu merken, was sie tat. »Wir Dummköpfe!« schimpfte sie noch einmal. Danach erst ging ihr auf, was geschehen war, und sie wich entsetzt zurück. Die Teufelshand gab Tobias bereitwillig frei, und er hatte nichts Eiligeres zu tun, als seine eigene hochzureißen und die Stelle zu befühlen, an der sich das Ding um seinen Kragen gekrampft hatte. »Sie … gehorcht mir«, staunte das Mädchen mit den Hexenaugen. Tobias erkannte beunruhigt, daß er plötzlich wieder an der Harmlosigkeit dieser Hand zweifelte. Eine Weile war sie ihm nicht mehr als Störfaktor erschienen, höchstens noch als eine Disharmonie im Erscheinungsbild Lilenas. Doch nun … »Daß sie erwacht ist«, versuchte er richtigzustellen, »heißt nicht,
daß sie auch gehorcht!« »Du verstehst nicht …« Sie schien ihre eigene Verblüffung zu überwinden, ballte die Hand zur Faust. »Es ist nicht wie … schon einmal. Es ist nicht so, daß sie sich einfach bewegt oder etwas tut … Ich kann sie fühlen. Ich fühle sie genauso klar wie meine rechte Hand! Wenn ich nicht sähe, daß es immer noch eine Männerhand ist, müßte ich glauben, das Schwert habe die richtige Hand nie abgehackt …!« Tobias trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Sein Blick glitt an Lilena vorbei dorthin, wo sich Schatten in der Nacht auftürmten. Zelte. »Er ist dort«, sagte er benommen. »Ich wünschte, ich würde mich täuschen, aber … er muß dort sein! Die Spur geht hier nicht weiter – nirgends! Ist es nicht wahnsinnig, daß wir uns stundenlang in seiner Reichweite versteckten und …« Er brach ab. Dann schürzte er die Lippen und antwortete seiner eigenen Frage: »Nein, es war nicht wahnsinnig, es war schlau. Es war das Beste, was wir tun konnten, denn sonst wären wir vielleicht schon …« Es sah aus, als achtete Lilena darauf, daß sie ihn diesmal mit ihrer Hand zu fassen bekam. Grob schüttelte sie ihn durch und fauchte: »Hör auf! Dreh jetzt nur nicht durch! Wir wollten ihn finden, und nun sieht es aus, als hätten wir ihn gefunden! Wir werden aus zwei Richtungen auf das Lager zugehen und uns zunächst einen Überblick verschaffen. Es kann sein, daß dort niemand mehr lebt. Wir müssen damit rechnen, daß er alle getötet hat!« »Ein ganzes Heer?« »Es waren nur Menschen. Soldaten, die andere Gegner gewohnt sind.« Tobias lachte unterdrückt auf. »Nur Menschen … du hast recht. Und jetzt wird er es gleich mit Göttern zu tun bekommen, immerhin
…!« »Mit Halbgöttern«, schränkte Lilena ein. Natürlich klang es nur ernstgemeint. Tobias’ Augen suchten noch einmal ihre Hand. Das Licht der Sterne schien davon abzuperlen wie Wasser von einer Wachshaut. »Glaubst du, es ist Zufall, daß sie gerade jetzt … erwacht ist?« »Nein«, sagte Lilena. Mit einer Geste gab sie ihm zu verstehen, daß sie nicht länger reden wollte, und trennte sich von ihm. Tobias’ harrte noch ein paar Sekunden dort, wo er stand, aus. Dann schlug er auch den Weg zum Lager ein. Irgend etwas in ihm widersetzte sich immer noch dem Begreifen, daß sie gefunden hatten, wonach sie seit Tagen suchten. Irgend etwas in ihm drängte feige zur Flucht … … solange noch Zeit war.
* Zeit … Sie badete in Zeit … fremder, elektrisierender Zeit, die in sie geflossen war und nun wieder – durch ein Loch, klein wie ein Nadelöhr – aus ihr entwich, ohne daß sie es verhindern konnte. Sie war … irgendwo. Sie war nicht allein. Aber einsam. Eine Tote in Gesellschaft Toter. Eine Diebin, die bestohlen wurde. Ein … Gespenst bei Tag wie bei Nacht. Die erste richtige Mahlzeit seit langem hatte gemundet – bis sie erkannt hatte, wofür das geraubte Gut mißbraucht wurde. Zeit … Ich wünschte, ich hätte selbst noch etwas Zeit! dachte die Diebin. Aber sie wußte, was ihr blühte, sobald der Kindsmörder die Scharten ausgewetzt hatte, die ihm zugefügt worden waren.
Er hatte sich ihr offenbart. Paris … Prag … Nürnberg … Die Namen der Städte und Stätten, wo er in den letzten siebzehn Jahren seine Abdrücke hinterlassen hatte, waren Legion. Aber wenn er erst wieder der langen, schnellen Reisen mächtig war – ZZZUUUWWW! – würde er sich im Flug zurückholen, was immer er an Kräften dort vergeudet hatte. Und dann …
* Es war nicht nur verrückt, es war geradezu grotesk, dem Teufel – egal, in welches Korsett einer Maske er momentan gequetscht sein mochte – mit bloßen Händen entgegentreten zu wollen. Doch seit die Hand an ihrem Stumpf erwacht war und Gehorsam signalisiert hatte, wagte Lilith zu hoffen, daß der Begriff ›mit bloßen Händen‹ eine neue Bedeutung erhalten würde. Zumindest in ihrem ganz speziellen Fall … Als sie sich umdrehte, war von Tobias nichts mehr zu sehen. Auch nichts zu hören. Es war nicht einmal sicher, ob er sich auf den Weg gemacht hatte. Vielleicht stand er immer noch dort, wo sie sich von ihm getrennt hatte, und haderte mit seinem Mut. Lilith maßte sich nicht an, ihn absolut zu verstehen. Diese Zeit war anders als die, in der sie ihre ersten Erfahrungen mit dem Übersinnlichen und Übernatürlichen gesammelt hatte. Daß die Menschen dieser Epoche an Teufelswerk, Dämonen, Hexen, Vampire, Werwölfe und Geister glaubten und diesen Aberglauben in ihren Alltag einbezogen hatten, machte es für Tobias keineswegs leichter, diesen Gewalten zu trotzen. Im Gegenteil: Er mußte zergehen vor Furcht! Lilith stolperte über etwas Weiches, konnte aber einen Sturz verhindern. Als sie sich bückte, tauchten ihre Hand in struppiges Gefieder. Federn lösten sich beim geringsten Druck, als Lilith den Fund
hochhob, um ihn im vagen Licht der Sterne zu betrachten. Sehen zu können wie früher hätte einiges erleichtert. Aber Kathalenas Augen waren nicht geschaffen für die Nacht, und selbst der Magie, die ihre Energie aus Liliths Seele zog, gelang es nicht, daran etwas zu ändern … Lilith fragte sich, wie lange der Rabe schon tot im Gras gelegen hatte, um zu diesem Aussehen zu gelangen. Er zerbrach regelrecht dort, wo sie zu fest zupackte. Im Ägyptischen Museum von Kairo hatte sie Vogelmumien gesehen, die verschiedenen Pharaonen als Grabbeigabe gedient hatten. Genauso vertrocknet wie jene religiös verbrämten Mumien sah auch dieser Rabe aus. Lilith war sogar sicher, daß er sich genauso anfühlte. Als sie den verdorrt wirkenden Kadaver mit der anderen Hand berühren wollte, war ihr kurz ganz sonderbar zumute – und im nächsten Moment rieselte nur noch Staub durch ihre Finger. Zeit wie Staub … Ihr schwindelte. Dann setzte sie ihren Weg fort und erreichte bald die ersten Zelte. Und das Heer der Sterbenden.
* Tobias überschritt die Grenze unwissentlich. Denn sie war nicht sichtbar. Ihm widerfuhr dasselbe wie an einer anderen Stelle des Heerlagers etwa zur gleichen Zeit Lilith. Die Stille endete zwischen zwei Schritten. Plötzlich war überall ein Heulen und Zähneklappern, ein Wimmern und Gestöhn, daß es ihm wie Stiche durchs Herz fuhr. Gleichzeitig schien sich ein Ring um seinen Kopf zu spannen und langsam enger geschraubt zu werden. Höllisches Gewicht drückte plötzlich auf ihn nieder, und in seinem Gedärm nistete Übelkeit, die nach oben drängte.
Nur Übelkeit? Tobias hatte plötzlich die alptraumhafte Vorstellung, er könnte schon die ganzen Tage etwas in sich tragen, das dem ähnlich war, was der Tuchhändler Belier erbrochen hatte. Vielleicht hatte es die ganze Zeit in ihm gereift. Vielleicht schlüpften nun die Spinnen … In seinem Kopf dröhnte ein dumpfer Klang, als wäre ein Kirchturm in einem tiefen See versunken und die Glocke klänge gedämpft und verzerrt bis zur Oberfläche empor. Seine anfängliche Vorsicht schwand. Er stolperte nur noch über den holprigen Wiesenboden und kämpfte darum, nicht von dem fürchterlichen Druck in seinem Schädel zerrissen zu werden. Was war das? Durch tränenverschleierte Augen nahm er das Heerlager in sich auf. Hier schien ein andere Realität zu herrschen als draußen, hinter der unsichtbaren Markierung, die Tobias überschritten hatte. Eine kleine, besiegte Armee lag, kauerte und zuckte in und zwischen den Zelten, neben erloschenen Feuern. Franzosen. Sie hatten hier campiert, wohl um in Kürze eine andere, von Menschen gemachte Grenze zu überschreiten und Teil der Kriegsfurie zu werden, die Deutschland überrannte. Seit die Schweden und die Franzosen sich gegen König Ferdinand II. verbündet hatten, mußten die kriegsgebeutelten Deutschen und ihre Nachbarn die Hoffnung auf einen baldigen Frieden zu Grabe tragen. Noch ärger als in den vergangenen Jahren wütete der Terror in Stadt und Land. Dazu kam die mancherorts grassierende Pest, die im letzten, schwülheißen Sommer Abertausende das Leben gekostet hatte und gewiß noch nicht überwunden war … Tobias wischte sich die Augen mit den Handrücken trocken. Zuerst glaubte er, seine Sinne hätten ihm einen Streich gespielt. Doch dann … nein, er hatte sich nicht getäuscht. Er hatte sich nicht
geirrt, was die Soldaten anging. Aber … er verstand es nicht. Lagen die Franzmänner schon so danieder, daß sie … … halbtote Greise ins Feld schicken mußten …? Wohin Tobias auch blickte, überall bot sich ihm dasselbe Bild: Augen, vom Alter getrübt, starrten ihm entgegen, ohne ihn wirklich zu sehe. Aus eingefallenen, zerfransten Mündern drang wimmerndes Flehen. Ab und zu ein Husten, das die von ihrer Schwäche an den Boden genagelten Leiber zu zerreißen drohte … Waren das die gestandenen Kämpfer, vor denen sich auch die Heidelberger gefürchtet hatten, wenn über den Weitergang des Krieges debattiert worden war? War das Frankenreich so ausgeblutet, daß es solche Armeen entsenden mußte …? Verfluchter Unsinn! dachte Tobias. Er hat das getan! – Aber wenn Er dessen mächtig ist … Sein Blick ging an sich selbst herab. Er riß Mantel und Hemd auf und entblößte seine Haut, um zu sehen, ob – Dem Himmel sei Dank, nein. Sein Fleisch war immer noch straff und gesund. Ihn hatte die Heimtücke des Teufels noch nicht getroffen. Noch nicht? Eine Hand spannte sich jäh um Tobias’ rechten Knöchel. So überraschend, daß er erstickt aufschrie und in einer ersten Regung blindlings zutreten wollte. Aber der Soldat, dem die dürren Knochenfinger gehörten, bleckte die wenigen schwärzlichen Zähne, die sich noch in seinem furunkelübersäten Mund befanden und röchelte: »Mon frère, au secours …! Je te supplie …«* Tobias hatte das Gefühl, ohnmächtig werden zu müssen. Aber er kämpfte die Dunkelheit, die in ihm wogte, zurück, bückte sich und löste behutsam Finger für Finger der Soldatenhand von seinem Bein. Der Kopf des Sterbenden sank, noch während Tobias zugange war, zur Seite, und der entsagungsvolle Seufzer sowie das Ende der an*»Bruder, hilf mir …! Bitte …«
fallartigen Zuckungen deutete darauf hin, daß er gerade sein Leben ausgehaucht hatte. Tobias wußte, daß er ohnehin nichts mehr für ihn hätte tun können. Dennoch zog sich der Ring um seinen Kopf, der Ring um sein Herz noch ein bißchen enger. Nur die Übelkeit ließ allmählich nach, gerade so, als hätte sich sein Körper selbst gegen das Ungemach geholfen. Keine Spinnen, dachte Tobias dankbar. Wenigstens keine Spinnen … Es geschah unbewußt, daß er auf dasselbe Zelt zuwankte, das Lilena, von anderer Seite kommend, bereits erreicht hatte …
* Den Druck, den Tobias verspürte, bemerkte Lilith Eden nicht. Sie fühlte sich, seit sie das Lager betreten hatte, sogar sonderbar leicht und beschwingt, aller Sorgen ledig, die sie bis dahin an den Gestaden der Zeit, an denen sie gestrandet war, belastet hatten. Aber gerade dieses fast an Euphorie grenzende Hochgefühl war ihr nicht geheuer, sondern verdächtig, und so befahl sie sich, noch größere Vorsicht walten zu lassen. Der Gestank, auf den ihre Witterung ansprach, betäubte schier die Sinne, so übermächtig hing er zwischen den Zelten. Außerdem schien es innerhalb des Heerlagers dunkler als draußen zu sein – eine Vorstellung, die Lilith solange absurd fand, bis sie zum Himmel hinaufschaute und den Eindruck gewann, als hätte sich etwas wie Rauch – Wolkendunst sah anders aus – zwischen Sterne und Erde gelegt. Und dann – erlebte sie die Finsternis in ihrer vielleicht radikalsten und brachialsten Form. Es mußte das Zelt des Heerführers sein, auf die es sie zuzog, denn es war größer und sogar mit Stickereien verziert. In dem absonderlichen Zustand vollkommener Balance, in dem Lilith es erreichte, war
sie gar nicht fähig, innezuhalten oder in anderer Weise zu zögern. Dort war das Wild, das sie in Salvats Auftrag jagten. Dort hinter der Haut des Zeltes … … existierte eine zweite Haut, die Lilith im selben Moment gewahr wurde, als sie das Eingangstuch zurückschlug. Es war, als würde sie in einen Abgrund starren. Viel mehr als nur gähnende Dunkelheit, viel mehr als ein einfacher Filz aus Schwärze, lauerte im Innern des Zeltbaus … es schien sich wirklich und wahrhaftig um ein ans Absolute grenzendes NICHTS zu handeln! Liliths Vorwärtsdrang wurde abrupt gestoppt. Ihre eigene (Lenas) Hand hielt sich am oberen Gestänge des Eingangs fest, während die Hand, die Lilith von Auer übernommen hatte, nach Wünschelrutenmanier auszuschlagen begann und versuchte, ihre Trägerin auf das Absolutum zuzuziehen! Der Widerstand in Lilith erhielt keine Gelegenheit, sich zu formieren. Salvat hatte ganze Arbeit geleistet, und wie eine elektrische Schlange wand sich der nie erloschene Blitz in ihrem Schädel, erstickte jeden aufkeimenden Zweifel. Lilith löste die Hand von dem Querholm, der den Eingang stützte. SIE wollte es nicht – aber der Wille, der sie begleitete, erwies sich als mächtiger. Zwei Schritte, und sie durchstieß die Membran, die ein Nichts vorgaukelte. Zwei Schritte, und sie war dort, wo Er sich aufhielt. Und sie … Der Anblick verschlug Lilith den Atem. Und zugleich begriff sie, daß alles umsonst gewesen war. Die Gestalt vor ihr zeigte von Schwäche keine Spur mehr, obwohl sie nackt war, hemmungslos entblößt. Kein Makel störte die dunkle Lust, die dieser Körper an sich selbst empfand. Die Wunden, vom Flammenschwert beigebracht, waren spurlos verheilt. Eine letzte kleine Narbe konnte Lilith
just in dem Moment verschwinden sehen, als sie in dieses sonderbare Gespinst, in diesen neugeschaffenen Kokon trat. Der Teufel lächelte. Sein Kopf ruhte im Schoß einer Frau, und beide Gesichter blickten Lilith unverwandt entgegen, das eine fast erschrocken, das andere – das Ihm gehörte – beängstigend gefaßt. Auf dieser Seite der Membran herrschte eine Helligkeit, die jeder Physik hohngesprochen hätte. Dennoch vermochte Lilith hier selbst Details kristallklar zu erkennen. »Beth …« Der Blick der Ex-Geliebten flackerte kurz. Für den flüchtigen Moment, ehe Er seine Stimme erhob, schien sich ein Band zwischen ihnen zu knüpfen, das die alten Zeiten wieder aufleben ließ … … aber dann wurde es, noch im Entstehen, brutal zerschnitten.
* »Ich wußte, daß wir uns wiedersehen«, sagt die Stimme, die nie ein lautes Wort verliert. »Ich wußte, daß du mir zurückbringst, was nur eine Leihgabe war und mir gehört.« … gehört … gehört … Er streckt die Hand aus. Er ist Hidden Moon, den ich verlor und wiederfinden möchte. Eines Tages. »Komm her. Keine Angst. Niemand braucht mich zu fürchten. Warum mißversteht ein jeder, was mich leitet? Komm. Meine Hand nimmt dir die deine ab …« Er ist Duncan Luther, den ich … Ich gehe ihm entgegen. Er hebt den Kopf aus ihrem Schoß. Zart wie Geschmeide, von völliger Kontrolle gezeichnet ist jede Bewegung. Erst sitzt er da, dann steht er. Steht auf und gleitet mir entgegen. Er ist kein Tier!
Salvat, du eifersüchtiger Narr! »Du bist nicht zu lesen«, sagt er. »Verrate mir dein Geheimnis.« Ich weiß nicht, was er meint – ich weiß nur, daß ich ihm gehöre. Ich will ihn. Er ist der, den ich immer suchte und nie fand. Seine Haut glänzt wie schwarzes Öl. Kein Haar sprießt an diesem Körper, auch dort nicht, wo ein Glied zu sehen ist, das schon mannigfachen Nachwuchs zeugte und von dem ich weiß, es wird auch mich beglücken. Ich schweige, denn eine Frau wahrt, wenn sie klug ist, ihr Geheimnis. Selbst wenn sie keines hätte, würde ihr Schweigen eines schaffen … »Die Hand …« Er hebt die eigene und hält sie mir entgegen. Er ist so nah, daß ich im Pochen seines Herzens versinken möchte. Er ist nicht nur größer als ich, auch stärker, athletischer. Seine Augen starren von überallher zu mir, nicht nur aus seinem Kopf. Es ist, als verfügte er über Sinne, von denen ich noch nie hörte, von denen ich nicht einmal weiß, daß es sie gibt. »Die Hand …« Kein lautes Wort aus diesem Mund. Niemals. Mein Schoß ist brennend heiß, und mir ist, als sickere die Hitze des Verlangens bereits aus ihm heraus, so begierig bin ich, Ihn zu empfangen. Ihm alles zu geben. Nicht nur diese dumme, häßliche Faust, zu der sich das geliehene Ding geballt hat … Ein sonderbarer Laut läßt mich an ihm vorbei zu Beth blicken. Sie sitzt auf einem Schemel. Offenbar rätselt sie noch immer, woher ich ihren Namen weiß. Ihre Zunge. Warum muß ich gerade jetzt an ihre Zunge denken, die mir das Rinnsal von der Haut lecken könnte – wie einst? »Ihr kennt euch?« fragt der Ewige und erstickt auch diesen Blickwechsel im Ansatz.
»Nein«, sagt Beth. »Ja«, sagte ich. Seine Hand ist immer noch gehoben und offen. Jetzt windet sie sich hin zu Beth, und der sündhafte Mund sagt: »Auch sie birgt ein Geheimnis. Vielleicht ist es sogar größer als deines. Sie stiehlt anderer Leute Zeit und schmiedet sie wie Stahl in einer Esse … Ich werde ihr Rätsel ergründen, und wenn ich weiß, wie sie es macht, wird mich nichts mehr aufhalten. Niemand – nie mehr. Meine Wunden sind unter dem Pflaster fremder Zeit genesen – schneller, als ich es zu hoffen wagte. Nun kann ich darangehen, die Ernte einzuholen. Fangen wir bei dir an. Gib mir die Hand. Jeder Mensch stirbt anders. Manche erheben es zur Kunst. Laß mich sehen, was du daraus machst …« Ich lächle. Sein Charme ist unbeschreiblich. Die Hand, natürlich. Ich gebe sie ihm. ICH – GEBE – ES – IHM …!
* Tobias hatte das Zelt gerade erreicht, als es explodierte. Im ersten Moment dachte er an einen Blitz, der warnungslos aus dunkler Nacht mit Wucht, aber ohne einen Donner vor ihm eingeschlagen hatte – oder an ein Pulverfaß, das lautlos detoniert war. Schwärze wölkte auf wie fetter Rauch – – und war schon einen Wimpernschlag danach wieder verschwunden. Das Zelt erhob sich gänzlich unversehrt aus dem Boden. Ebenso düster und vage erkennbar wie alles übrige im Umkreis. Aber der Druck in Tobias’ Schädel war ein wenig erträglicher geworden. Auch das nervenzermürbende Gestöhn der Alten in den Unifor-
men war verstummt. Vielleicht, weil sie jetzt tot waren. Vielleicht hatte die Detonation ihren letzten Lebensfunken erstickt … In diesem Augenblick hörte Tobias einen Schrei. Es war Lilenas Stimme, und sie kam aus dem Zelt, in dem gerade ein sonderbares Licht aufglomm und Schatten gegen die innere Wand warf. Schatten, die auch von außen zu sehen waren. Die eine Silhouette gehörte Lilena. Die andere … Seine Augen konnten wieder vieles sehen, was ihnen noch kurze Zeit zuvor entgangen war. Es mochte an dem Druck liegen, der gewichen war, jedenfalls schien es insgesamt heller geworden zu sein. Die Sterne am Himmel … »Tobias! Komm!« Er verlor keine Zeit mehr. In Nähe des Eingangs lehnte eine Hellebarde. Tobias schnappte sie sich im Rennen und stürmte das Zelt. Jeder Gedanke, was ihm selbst dort drinnen drohte, war ausgeschaltet. Er war bereit, sein Leben zu opfern. Nicht nur für Lilena, auch für … die Welt.
* Warum schreit er nicht? Warum füllt nur der Irrsinn meiner Stimme dieses Zelt? Ich sehe, wie seine Züge zerlaufen. Ich sehe das Antlitz, das ich vergessen hatte. Es war immer da, unter der Schminke. Haß ist zur Tierfratze geronnen! Haß! Ein solches Ungeheuer wollte ich an mich lassen …? Ich werde hin und her geschleudert von seinen tobenden Ausbrü-
chen. Aber die Hand, die es forderte, die Hand, die mir beim zweiten Mal von Salvat überreicht wurde, hält ehern an mir fest. Und an IHM! Der mittlere Finger mit dem scharfen, gebogenen Nagel steckt in seiner Brust. In seinem … Herzen! Ich weiß nicht, wie es genau geschah. Ich wollte es ja nicht. Die Hand tat es! Nur sie allein! Und jetzt glüht sie auf. In einem Licht, das selbst der Teufel fürchtet, rot wie Rubin … Tobias fällt mir ein. Ich rufe seinen Namen. Ich schreie um Hilfe. Wo ist er? Wo bleibt er? Wenn er nicht gleich einschreitet … Dieses Wesen ist wahnsinnig in seinem Haß auf mich. Ich habe es betrogen, ganz gleich, ob ich mir dessen bewußt war oder nicht … Und noch während ich mich nicht frage, ob, sondern auf welche Weise mich dieses Monstrum töten wird, taucht plötzlich ein Schemen im Zelt auf. Er hält ein Spielzeug in Händen. Wie kann er nur glauben …? Allmächtiger im Himmel, wir werden beide sterben! Jetzt bemerkt Er den Eindringling. Und reißt mich mit sich auf ihn zu …
* Tobias hatte nie geahnt, wieviel Salvat ihm von sich selbst mitgegeben hatte. Oder hatte er das gar nicht? Kam das, was aus seinen Händen in die primitive Waffe floß … ganz aus ihm selbst? Hatte Salvat es nur erkannt und dafür gesorgt, daß es im rechten Moment erwachte? Knistern brach sich die Energie Bahn durch das harte Holz des Hellebardenschafts und tauchte auch die Axtklinge an der Spitze in dieses Licht, das wie ein Abglanz dessen wirkte, was aus dem Flammenschwert geströmt war. Bin ich das? dachte Tobias noch einmal.
Dann lenkte er sein Augenmerk auf Lilena. Auf den Teufel in der entartenden Tiergestalt. Und auf … sich selbst. Denn er agierte ohne sein bewußtes Zutun. Er holte mit der Waffe, die ein Teil von ihm geworden war, aus und – ließ sie auf den Tollwütigen hinabfahren, dessen stumm brüllender Rachen Tobias Pest und Tod entgegenspie.
* Beth MacKinsey saß auf dem Schemel, als wäre sie darauf festgefroren. Sie war zu keiner Bewegung fähig, denn Er hatte sie hierher gesetzt: der Vater und Mörder ihres Sohnes … Woher kennt sie meinen Namen? dachte sie, die Augen auf das verruchte Mädchen geheftet, das sie schon in der Kirche zu Heidelberg flüchtig erblickt hatte. Und warum … ist auch mir, als müßte ich dieses Geschöpf kennen? Sie fand keine Antwort, und staunend sah sie, wie die Unbekannte den Satan mit einer Waffe attackierte, die wohl nicht einmal er selbst als Bedrohung in Erwägung gezogen hatte. Sie richtete die Hand gegen ihn, die ihren ansonsten bildhübschen Körper verunstaltete, und rammte ihm einen der Finger wie einen spitzen Pfahl in die Brust …! Die Maske des Teufels zerfiel. Er schüttelte sich wie ein Berserker. Dann erschien noch jemand, auch mit einer Waffe, deren Gefährlichkeit erst sichtbar wurde, als sie bereits auf den Leibhaftigen herabfuhr! Alles ging so schnell, daß Beth gar nicht mehr fähig war, die Dinge, die sie beobachtete, auch zu bewerten. Sie sah – und ließ sich von dem Geschehen mitreißen, auch wenn sie selbst regungslos auf dem Schemel klebte. Würde die rubinrote Klinge der Hellebarde ihren Peiniger spalten? Nein! Im letzten Moment vollführte er eine Ausweichbewegung und bog
sich förmlich aus der Bahn der herabfauchenden Klinge. Ob es Absicht war, daß statt ihm die Hand getroffen wurde, genauer: der Finger, der sich in sein Fleisch getrieben hatte, war letztlich unerheblich. Was zählte, war die Tatsache als solche. Sengend durchtrennte das Eisen Fleisch und Knochen. Die Bestie war plötzlich wieder frei, nicht mehr in ihren Bewegungen eingeschränkt, aber doch beeindruckt, sonst hätte sie nicht – Nein, durchzuckte es Beth. Nicht mich! Nicht schon wieder … mich! Bleib mir endlich … vom Leib …! Er dachte nicht daran. Er stierte sie an, und sie wußte, was er von ihr erwartete – wußte auch, daß sie gar nicht anders konnte, als ihm zu gehorchen. Nur über ihre Lippen rann ein Nein. Und dann brachen in ihr alle Dämme.
* Dieser Teufel war schnell – schneller, als Tobias zum nächsten Schlag ausholen konnte, hatte er sich mit einem Satz neben die gläsern wirkende Frau gebracht, mit der er aus Heidelberg geflohen war. Wie eine freiwillige Verbündete sah sie nicht gerade aus, eher wie eine Gefangene. Lilena war zu Boden gestürzt, stand noch halb unter Schock und fuchtelte jetzt im Aufstehen mit ihrer nur noch vierfingrigen Hand in der Luft. »Schnell!« keuchte sie. »Er darf ihr nichts antun!« Tobias entgegnete nichts. Er hatte sich ohnehin schon neu orientiert. Die Menschmaske des Satans existierte fast nicht mehr. Jetzt ähnelte er wieder jener gehörnten Brut aus dem Kokon, deren bloßer Anblick genügt hätte, die meisten Menschen zu töten … Plötzlich schrie Lilena auf: »Er verschwindet! Nein! Schnell!« Dort, wo der Teufel stand – dort, wo die gläserne Frau saß, tat sich ein Riß auf. Ein wabernder Spalt, der den Anschein erweckte, als
gäbe es noch einmal eine identische Welt neben dieser … oder eine zumindest ähnliche. Tobias schleuderte die Hellebarde mit einem wuchtigen Wurf hinter dem in diesen Riß tauchenden Teufel her. Vergeblich. Sie verschwand ebenso. Und dann … »Ihm nach! Los! Ich … weiß nicht, wie lange ich es noch … aufrechterhalten kann …« Die krächzende Stimme gehörte der Frau auf dem Schemel, die jetzt beinahe so alt und ausgebrannt wirkte wie die Soldaten draußen vor dem Zelt. Lilena zauderte nicht. Sie schrie noch etwas, das nicht für Tobias, sondern für die Alte auf dem Schemel bestimmt zu sein schien, dann warf sie sich blindlings in den gleißenden Spalt hinein, der sich unmittelbar hinter ihr wie das Lid eines senkrechten Auges schloß. Und Tobias allein mit der gläsernen Alten zurückließ. Lilena war verschwunden. Spurlos. Er konnte noch nicht ahnen, daß er ein Leben lang nach ihr suchen, aber sie nie mehr finden würde …
* Beth starrte immer noch auf die Stelle, wo sie die Zeit entladen hatte, die ihr zuvor aus den Körpern der sterbenden Soldaten zugeflossen war. Er hatte sie gezwungen, diesen Fluchtweg zu öffnen und solange aufzuhalten bis, er ihn passiert hatte. Beth hatte ihn länger aufgehalten. Und dafür mit ihrer eigenen Zeit bezahlt. Vielleicht war es reparabel. Sie dachte nicht darüber nach. Jetzt nicht. Ihr hallte immer noch der Ruf des Mädchens im Ohr, bevor es sich dem Satan gefolgt war.
Ein Keulenschlag hätte Beth nicht mehr erschüttern können. Es ist unmöglich, dachte sie. Aber war sie nicht selbst etwas, was andere unmöglich fanden? Immer wieder wiederholte sie im Geiste, was das Mädchen geschrien hatte. »Verzeih Uruk!« ENDE
Die Verdammnis � von Timothy Stahl Für einen Menschen mag Verdammnis sich auf vielerlei Art zeigen, und jedes einzelne ihrer Gesichter wäre grauenvoll. Was aber kann Verdammnis einer Kreatur bedeuten, die zu Lebzeiten selbst das Grauen über die Welt gebracht hat – weit über tausend Jahre lang? Landru, der einstige Hüter des Lilienkelchs, muß erfahren, in welche Verdammnis ein Wesen seiner Art gestürzt werden muß – und fortan übertrifft sein Dasein jeden seiner schlimmsten Alpträume. Denn Landru, der Mächtigste unter den Vampiren, wird Mensch! Und seine erbittertste Feindin Lilith Eden kann triumphieren, denn nun endlich vermag sie ihn mit seinen ureigenen Mitteln zu schlagen!