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Die Inseln des Teufels Burt Frederick Dieses Mal hatten Philip Hasard Killigrew und seine Männer eine harte Nuß zu knacken, denn ihr Gegner-Juan Vargas, Kapitän der spanischen Handelsgaleone „Santa Barbara" spielte geradezu teuflisch seine Trümpfe aus. Seine Trümpfe waren vierzig junge Indianerinnen vom Stamm der Arawaks. Sechs von ihnen ließ er über Bord stoßen, und seine Rechnung ging auf, als er sah, wie das Korsarenschiff die Verfolgung der „Santa Barbara" abbrach, um die sechs Frauen aus dem Wasser zu bergen. Jetzt hatte er noch vierunddreißig „Weiber" an Bord und konnte dieses satanische Spiel beliebig lange fortsetzen vielleicht bis zum Einbruch der Dunkelheit, die ihm die Möglichkeit bieten würde, mit einer Kursänderung ungesehen zu verschwinden... 1. Dieser Vormittag des 5. Mai 1595 sah nicht danach aus, als würde sich im weiteren Verlauf des Tages noch etwas Vielversprechendes ereignen. Ringsum war die Kimm leer. Nur am nördlichen Horizont hatte Dan O'Flynn mit seinem gewohnt scharfen Blick ein paar hauchdünne Nadelspitzen entdeckt Mastspitzen von . .mehreren Einzelfahrern. Seit der Versenkung der Frachtgaleone „Santa Barbara" waren die „Isabella", die „Chubasco" und der Viermaster „Eiliger Drache über den Wassern" Ostkurs gesegelt. Die derzeitige Position der drei Schiffe des Bundes der Korsaren war annähernd einhundertzwanzig Meilen südsüdwestlich der Bermuda-Inseln. Die Arwenacks und ihre Freunde hofften, auf Einzelfahrer des mittlerweile zersprengten Geleitzugs zu stoßen, um sie auszunehmen. Ohnehin war das allgemeine Interesse an Bord der „Isabella" ganz und gar nicht auf das mögliche Auftauchen lohnender Objekte gerichtet, die sich in Form von Mastspitzen über der Kimm angekündigt hätten. Bis auf wenige Ausnahmen hatten die Män-
ner sowieso damit zu tun, sich auf jene Arbeiten zu konzentrieren, die sie befehls- und routinemäßig auszuführen hatten. Die Hauptpersonen des Romans: Philip Hasard Killigrew besucht eine spanische Handelsgaleone und interessiert sich für einen „reichen Bürger". Mac Pellew paßt als Hahn im Korb auf sein Hühnervölkchen auf und bekommt Arger. Don Juan de Alcazar hat hart zu schlucken, weil er einen .alten Freund" entdeckt. Pioviro Valenzueta ein Capitan, der Mühe hat, nicht aus der Haut zu fahren. Taina die junge Indianerin spürt, daß sie und ihre Gefährtinnen unter Freunden sind. Denn seit der Begegnung mit jener „Santa Barbara" hatte sich das Geschehen an Bord grundlegend gewandelt. Da gab es eine munter plappernde Schar von Schönheiten, bei deren Anblick jedem Seemann auf den Weltmeeren einfach die Augen übergehen mußten. Wenn sich die Arwenacks als wahre Gentlemen zeigten und die Ladys nicht einmal mit einer vorwitzigen Bemerkung bedachten, so lag es an dem, was sie über ihre weiblichen Gäste an Bord wußten. Was die neununddreißig Indianerinnen vom Stamm der Arawak hinter sich hatten, mußte grauenvoll gewesen sein. Und noch düsterer war das Schicksal gewesen, das ihre spanischen Entführer ihnen zugedacht hatten. * Der Seewolf sah voraus, was sich abspielen würde. Das war in dem Moment, in dem Sam Roskill aus der Grätingsluke vor der Nagelbank des Großmasts auftauchte und sich schnell und verstohlen umsah. In einem unbeobachteten Augenblick hatte er sich davongeschlichen, und da auch jetzt alle Aufmerksamkeit zur Back gerichtet war, hatte Sam keine Mühe, sich heimlich vor den festgezurrten Beibooten aufzurichten.
Hasard konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, fuhr aber fort, so zu tun, als beobachtete er voller Interesse die nördliche Kimm. Scheinbar hingebungsvoll hantierte er an seinem Spektiv, das irgendwie zu klemmen schien. Was sich da unten auf der Kuhl anbahnte, war schon lange fällig. Hasard wußte indessen, daß er nicht einzugreifen brauchte. Denn für einen solchen Fall hatte er bestens vorgesorgt. Sam Roskill, der schlanke Draufgänger mit dem dunklen Haar und den dunklen Augen, hatte sich ausgerüstet. Lange hatte er nachgedacht, bis er auf die zündende Idee verfallen war. Teufel auch, dieser Plan mußte klappen! In beiden Händen, als sei es besonders zerbrechlich, trug er das Werkzeug, das er sich unter Deck besorgt hatte Holzhammer und Zangen zum Demontieren des Hinterlader-Verschlußstücks und einen Rohrwischer. Gerade in der jüngsten Vergangenheit waren die Drehbassen auf der Back besonders häufig benutzt worden. Al Conroy hatte sie mehrfach und mit besonderem Erfolg für seine höchst wirksamen „Achterstiche" eingesetzt. Diese Methode, sich von achtern an einen Gegner heranzupirschen und ihm die Ruderanlage zu zerschießen, hatte im Fall des Geleitzuges jedesmal von neuem gewirkt. Das hatte so weit geführt, daß der Seewolf bereits überlegt hatte, diese Taktik in ein noch zu verfassendes Seekriegshandbuch aufzunehmen. Allerdings waren die besonderen Fähigkeiten Big Old Shanes und Batutis mit ihren englischen Langbögen wesentlicher Bestandteil dieser Taktik, vor allem jedoch die überragenden Fähigkeiten des schwarzhaarigen Stückmeisters. Die beiden Drehbassen auf der Back, so hatte Sam Roskill messerscharf überlegt, bedurften dringend einer gründlichen Pflege. Während er an der Steuerbordseite der Kuhl zielstrebig losmarschierte, war er seiner Sache bereits völlig sicher. Keiner der Kerle würde ihn durch eine dämliche Bemerkung zurückhalten. Denn interessiert waren sie letzten Endes alle genauso wie er. Und wenn seine Methode funktionierte, dann würden die Nachahmer mit ähnlichen Ideen im Handumdrehen folgen. Die ersten Schritte klappten reibungslos. Sam fühlte sich bestärkt und schritt rascher aus. Ringsum verstummten die Gespräche. Er fühlte die staunenden und bewundernden Blicke, die ihm folgten.
Staunt nur, ihr einfallslosen Kakerlaken, dachte er voller Stolz, Ideen muß der Mensch haben, dann erreicht er auch was. Im nächsten Moment vollführte sein Herz einen Freudenhüpfer. Das Kombüsenschott stand halb offen, und von drinnen war deutliches Klappern zu hören. Der Mann, der dort drinnen hantierte, konnte niemand anders als Mac Pellew sein, der Sauertopf vom Dienst. Sam hatte von Anfang an damit gerechnet, sich den Weg freikämpfen zu müssen mit Worten natürlich. Und jetzt gab es nicht einmal ein Hindernis. Wahrscheinlich war der Griesgram soeben damit beschäftigt, für seine liebreizenden Schutzbefohlenen einen Leckerbissen zuzubereiten. Das tat er natürlich voller Hingabe, und er hatte sicherlich weder Augen noch Ohren für seine Umgebung. Eingedenk des nicht vorhandenen Hindernisses konzentrierte sich Sam nun auf das verlockende Ziel, das greifbar nahe war. Ihr heiteres Geplapper war so rein wie heller Glockenklang. Ihre Haut schimmerte bronzefarben im milden Sonnenlicht, und ihr Haar glänzte wie Seide. Von jener bronzenen Haut zeigten sie überhaupt sehr viel, und sie taten es auf eine so natürliche Weise, daß es den Arwenacks keinen Moment als Grund für krumme Gedanken erschienen war. Die jungen Frauen hatten sich auf der Back versammelt, wie es der Seewolf angeordnet hatte. Sie genossen die frische Luft, ordneten ihr Haar und besserten ihre Kleidung aus. Das Leben war ihnen wiedergeschenkt worden, und sie würden die stickigen Unterdecksräume der spanischen Handelsgaleone rasch vergessen. Eine ihrer Leidensgefährtinnen war von dem teuflischen Capitan Vargas erschossen worden als Geisel, um den großen schwarzhaarigen Engländer an seiner Rettungsaktion zu hindern. Die Trauer der überlebenden Frauen gehörte nicht etwa der Vergangenheit an. Aber Vargas hatte für sein Verbrechen bezahlt. Und sie wußten, daß sie sich mit ganzem Mut auf einen neuen Lebensabschnitt vorbereiten mußten. Mit jedem Schritt, den sich Sam Roskill dem Steuerbordniedergang zur Back näherte, wuchs seine Faszination. Was sich seinen immer größer werdenden Augen da auftat, mußte er erst einmal verdauen. Himmel, diese Ladys waren Schönheiten, eine wie die andere. In der allgemeinen Wuhling bei ihrer Rettung hatte man darauf gar nicht so sehr geachtet. Jetzt aber, da er den Vorzug
ausgiebiger Blicke aus unmittelbarer Nähe genießen durfte, wurde Sam Roskill klar, welchen kostbaren Schatz sie hier an Bord genommen hatten. Die jungen Frauen vom Stamm der Arawak-Indianer waren samt und sonders jung, gutgewachsen und ausnehmend hübsch. Sam Roskill konnte sich nicht erinnern, so etwas jemals an Bord eines Segelschiffes erlebt zu haben. Und er war immerhin schon Pirat in der Karibik gewesen, bevor er sich dem Seewolf und seinen Männern angeschlossen hatte. Gewiß, da hatte es einige Begegnungen mit der holden Weiblichkeit gegeben. Sam dachte an die Galeone der Komödianten. Eine muntere Schar, in der besonders die männerhungrigen Schauspielerinnen aufgefallen waren. Die Timucua-Indianer waren auf Coral Island mit ihren Frauen unter sich geblieben. Und jene Galeone, die seinerzeit käufliche Damen aus dem alten Paris nach Tortuga gebracht hatte, war ein Segen gewesen. Manon und die anderen lebten noch immer auf der SchildkrötenInsel, wie sich vor kurzem bei einem Abstecher ergeben hatte. Aber in ihrer besonderen Art von Abgebrühtheit waren sie ein völlig anderer Schlag als diese jungen Arawak-Frauen in ihrer Natürlichkeit. Sam Roskill bemerkte, daß die ersten von ihnen ihre Gespräche unterbrachen und sich zu ihm umsahen. Das muntere Geplapper verstummte nach und nach, und interessierte Blicke aus glutvollen schwarzen Augen richteten sich auf den schlanken, gutaussehenden Mann, der offenbar mit einem besonderen Auftrag auf die Back zustrebte. Sam spürte das Interesse, das er erweckte, und ein Gefühl innerer Wärme erfaßte ihn. Er fühlte sich bestärkt in seinem Beschluß, denn natürlich bewunderten ihn die Ladys wegen seines Wagemuts. Bestimmt wußten sie, daß es der Crew ausdrücklich verboten worden war, sich den weiblichen Gästen an Bord mit eindeutigen oder zweideutigen Angeboten zu nähern. Mac Pellew, die Essiggurke, führte sich auf wie ein Gockel, weil Hasard ihn zum Verantwortlichen für das Wohlergehen der Ladys ernannt hatte. Seitdem spielte der Kombüsenstint den Wichtigtuer, spreizte sich regelrecht und hatte bei Hasard sogar durchgesetzt, daß der Mannschaft das Betreten des jeweiligen Bereichs untersagt wurde, in dem sich die Frauen gerade aufhielten.
Immer noch war das Klappern aus der Kombüse zu hören. Sam Roskill konnte es kaum glauben, aber er erreichte unbehelligt den Niedergang. Die Stille an Bord war wie zum Schneiden. Hinter ihm kriegten die Kerle immer längere Stielaugen. Und vor ihm bestaunten ihn die Ladys wie ein Wundertier. Mit gewinnendem Lächeln enterte er über den Niedergang auf und verharrte auf der ersten Planke. Beim Klabautermann, das war ein Anblick, der einen zum Jodeln bringen konnte. Diese Glutblicke, diese ebenmäßigen Gesichter, diese jugendlich straffe Haut und diese festen hüllenlosen Brüste! Sam spürte das Verlangen, sich zu kneifen, um festzustellen, ob es nicht vielleicht doch ein Traum war. Von der Galion war das helle Keckern des Schimpansen zu hören. Arwenack genoß als einziges männliches Wesen an Bord der „Isabella" den Vorzug, ständig mit den Ladys Zusammensein zu dürfen. Einige von ihnen schienen auf der Galion beschäftigt zu sein. Ihre Kleidung mußte nach dem Zwangsaufenthalt in den stickig-stinkigen Laderäumen der Spaniergaleone dringend gewaschen werden. Das Lachen der Indianerinnen begleitete die Laute des Schimpansen. Seine Späße erweckten ihre Heiterkeit. Sam Roskill gab sich einen Ruck und wandte sich Taina zu, die mit dem Einverständnis ihrer Leidensgefährtinnen so etwas wie eine Anführerin und Sprecherin geworden war. Außerdem beherrschte sie die spanische Sprache, was eine Verständigung mit Hasard und seinen Männern erleichterte. „Bitte um Verzeihung", sagte Sam mit einer angedeuteten Verbeugung. Seine Stimme klang seltsam heiser, er fühlte sich tapsig und unbeholfen wie ein Walroß beim Landgang. Er beherrschte die spanische Sprache ebenfalls perfekt, und so hätte es ihm eigentlich keine Mühe bereiten dürfen, das auszudrücken, was er sagen wollte. Aber angesichts der vielen freundlich-interessierten Blicke aus diesen sinneslähmenden Glutaugen wurde er auf eine Weise verlegen, wie sie ihm völlig unbekannt war. Er suchte nach Worten und fand sie nicht. Sein Schädel war auf einmal wie leergebrannt, und er brachte nicht mehr als ein langgezogenes „Äh mhm äh, also..." zustande. Taina richtete sich mit verständnisvollem Lächeln vor ihm auf. Auch ihr Oberkörper war unverhüllt, sie trug lediglich einen Len-
denschurz aus inzwischen gewaschenem und getrocknetem buntem Tuch. „Sie brauchen sich nicht zu verzeihen, Señor", sagte Taina. „Sie haben eine Arbeit zu erledigen, nicht wahr? Also, fangen Sie nur an, wenn wir Sie nicht dabei stören." Sam Roskill mußte lachen. Das Eis war gebrochen. „Stören? Sie mich?" entgegnete er nach kurzem Zögern. „Eher umgekehrt, Señorita." Taina sah ihn forschend an. Ihr Lächeln wich einem Stirnrunzeln. „Ich habe etwas Falsches gesagt, nicht wahr? Warum verbessern Sie mich nicht? Ich lerne gern." Ihre Offenheit verblüffte ihn. Teufel auch, da dachte man als höflichkeitsbeflissener Gentleman dreimal um die Ecke, um nur niemanden zu beleidigen, und diese Naturkinder sagten es einem rundheraus ins Gesicht, was sie dachten und empfanden. Bestimmt die bessere Art zu leben, dachte Sam Roskill. „Nur eine Kleinigkeit", antwortete er. „Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, heißt das. Ich bitte zwar um Verzeihung, aber verzeihen können nur Sie mir, nicht ich mir selbst. Das ist so, weil man sich entschuldigt, wenn man jemanden um Verzeihung bittet. Ich meine, ich verzeihe mir äh entschuldige mich nicht..." Er unterbrach sich und kratzte sich mit der freien Hand den Kopf. Taina lachte voller Heiterkeit. „Ich habe nichts verstanden, Señor." „Sam Roskill", entgegnete er mit einer erneut angedeuteten Verbeugung. „Aber sagen Sie Sam zu mir, Señorita Taina. Meine Erklärung war großer Mist, das gebe ich zu. Ich werde das hier oben mal sortieren", er klopfte sich mit der Faust auf den Kopf, „und dann gebe ich Ihnen eine kleine Unterrichtsstunde in Spanisch. Einverstanden?" „O ja!" rief Taina begeistert. „Und viele meiner Gefährtinnen werden bestimmt auch gern unterrichten." „Unterrichtet werden." „Ja?" „Auch so ein Problemfall", sagte Sam und nickte, schon ganz mit schulmeisterhafter Miene. „Natürlich beherrschen Sie die spanische Sprache schon hervorragend, Taina, aber die Feinheiten sind es noch, die ein bißchen zurechtgeschliffen werden müssen."
„Mehr als nur Feinheiten", widersprach Taina. „Mein Spanisch ist miserabel. Ich muß noch viel gelehrt werden." „Lernen." Sam lachte und vollführte eine wegwerfende Handbewegung. „Keine Sorge, das kriegen wir hin. Schließlich haben wir bei Ihnen die besten Voraussetzungen, Taina. Aber jetzt werde ich mich erst mal um unsere Feuerrohre kümmern, damit wir bei nächster Gelegenheit den Spaniern wieder Dampf unter dem oh, Verzeihung wieder einheizen können." Taina forderte die anderen Frauen in ihrer indianischen Sprache auf, dem hochgewachsenen Mann den Weg freizugeben. Aber Sam Roskill schaffte nur drei Schritte. Eine ätzende Stimme traf ihn wie ein Stich in den Rücken und nagelte ihn auf den Planken fest. „Ich bitte um Verzeihung, Mister Roskill, aber mir scheint, du wandelst auf verbotenen Pfaden." Sam sah die bestürzten Mienen der Frauen, und sein Gefühl einer sich anbahnenden glorreichen Eroberung schwand dahin. Langsam drehte er sich um. Mac Pellews Gesicht hatte die Freundlichkeit eines lauernden Krokodils, das nur auf eine Bewegung seines Opfers wartet, um es packen zu können. „Ich habe einen Auftrag auszuführen, Mister Pellew", erwiderte Sam so lässig wie möglich. Im nächsten Atemzug ritt ihn der Teufel. „Du brauchst dich also nicht dafür zu entschuldigen, daß du mich aufhältst." Mac sah aus, als würde er tatsächlich zupacken. Er wippte auf den Zehenspitzen, ballte die Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. „Mister Roskill!" rief er und spie die Worte geradezu aus. „Ich fordere dich hiermit auf: Verlasse sofort die Back! Auf der Stelle! Oder..." „Oder was?" entgegnete Sam mit herausforderndem Knurren. „Oder ich muß Zwangsmaßnahmen einleiten." Sams Kinnlade sackte nach unten. Ungläubig starrte er den Mann aus der Kombüse an. Dessen ständiges Zusammensein mit dem Kutscher, der derzeit allerdings mit Old O'Flynn und seinen Männern unterwegs war, schien irgendwie abgefärbt zu haben. Zumindest sprachlich. „Dann leite mal ein", sagte Sam munter, nachdem er sich von seiner Verblüffung erholt hatte. Und er äffte den geschraubten
Tonfall Mac Pellews nach: „Ich weise nochmals darauf hin, daß ich einen Auftrag auszuführen habe." Mac blinzelte unwillig. Die Standhaftigkeit des schlanken Mannes, der von den Frauen so offenkundig angehimmelt wurde, irritierte ihn. „Was für einen Auftrag?" rief er erbost. Sam konnte nicht sofort antworten. Von der Galion turnte Arwenack geschickt herauf, offenbar durch den Wortwechsel angelockt. Er eilte von hinten auf Sam Roskill zu, ergriff wie kumpelhaft seine freie Hand, hüpfte neben ihm auf und ab und zu stimmte ein Keckem an, das wie ein meckerndes Lachen klang. „Sei bloß still, Mister Arwenack", sagte Sam warnend. „Könnte nämlich sein, daß du dich sonst bei Mister Pellew noch entschuldigen mußt. Der versteht heute nämlich keinen Spaß." Arwenack verstummte tatsächlich. Statt dessen fletschte er die Zähne. In dem Rhythmus, in dem er sein mächtiges Gebiß entblößte, klatschte er sich immer wieder mit der flachen Hand auf den schwarzen Rundschädel. Taina und die anderen jungen Frauen lachten fröhlich. Mac Pellew verzog das Gesicht, als hätte er soeben einen zu sauren Hering vertilgt. „Arwenack!" rief er energisch. „Verschwinde! Los, los, hau ab!" Der Schimpanse barg sein Gesicht unter beiden Armen, duckte sich und tat, als müßte er sich vor zu erwartenden Hieben schützen. „Los, Befehl ausführen", sagte Sam und versetzte dem Affen einen freundschaftlichen Schubs. „Sonst kriegst du gleich die Zwangsmaßnahmen unseres sehr verehrten Mister Pellew zu spüren." Die Indianerinnen wollten sich ausschütten vor Lachen, als Arwenack einen Moment die Hände hob, ein erschrockenes Gesicht zog und dann wie in wilder Flucht in Richtung Galion davonhüpfte. Erst als er dort unten in Sicherheit war, ertönte wieder sein herausforderndes Keckern. „Mister Roskill", sagte der Kombüsenmann gefährlich leise, „ich warne dich. Wenn du mich verscheißern willst..." „Mister Pellew!" fiel ihm Sam vorwurfsvoll ins Wort. „Ich muß doch sehr bitten. Es sind Ladys an Bord. Deine Sprache ist nicht gerade passend."
Mac Pellew wippte heftiger auf den Zehenspitzen, die Fäuste in die Hüften gestemmt. „Meine Sprache geht dich einen Scheißdreck an!" brüllte er, und es kümmerte ihn nicht, daß einige der Indianerinnen zusammenzuckten. „Verschwinde jetzt von der Back, du Täuberich! Ich habe keine Lust, mich von dir an der Nase herumführen zu lassen. Ist das klar?" „Überhaupt nicht", erwiderte Sam trocken. „Was?" Mac schnappte nach Luft wie eine Makrele im Fischernetz. „Du hast hier nichts zu suchen. Was soll daran unklar sein?" „Und ich sagte dir, daß ich einen Auftrag habe. Was soll daran unklar sein?" „Auftrag? Von wem?" Sam wußte, daß für ihn jetzt unter Umständen alles in die Hose ging. Aber er mußte es riskieren. Die Männer an Bord der „Isabella" kannten sich gut genug, um zu wissen, wie weit sie sich aufeinander verlassen konnten. „Von Al Conroy", behauptete Sam laut und vernehmlich. „Drehbassen zerlegen, überprüfen und reinigen." Er hatte gesehen, daß sich Al auf der Kuhl aufhielt und es folglich mithören mußte. Die Blicke der Frauen wurden zunehmend verständnislos, denn sie begriffen nicht mehr, um was es ging. Da die Männer überdies zur englischen Sprache übergegangen waren, ließ sich aus ihren Gesten nicht mehr viel folgern. „Willst du das im Ernst behaupten?" entgegnete Mac Pellew mit gefährlichem Unterton. „Ich behaupte gar nichts", erwiderte Sam Roskill. „Ich sage, wie es ist." Ruckartig wandte sich der Kombüsenmann zur Kuhl um, die Fäuste immer noch in den Hüften. „Mister Conroy!" rief er gebieterisch und mit herausfordernd vorgerecktem Kinn, etwa in der Art, wie es der ebenfalls nicht anwesende Ed Carberry zu tun pflegte. „Sofort zu mir! Ich verlange eine Erklärung!" Die Männer wechselten vielsagende Blicke. Der schwarzhaarige Stückmeister erhob sich grinsend von einer Taurolle, schob beide Hände in die Taschen seiner Hosen und schlenderte auf den Niedergang zu. Mit drei Schritten Abstand blieb er stehen und blickte zu dem zähneknirschenden Haremswächter hoch.
„Erst einmal hast du mir eine Frage zu beantworten", sagte Al ruhig. „Wüßte nicht, welche", entgegnete Mac gereizt. „Ich schon." Al grinste noch breiter. „Und zwar folgende: Welche stinkige Bö hat dir den Verstand aus dem Schädel geblasen? Den Blödsinn, den du verzapfst, rieche ich auf zehn Yards gegen den Westwind." Mac lief krebsrot an. Wie er heftig Atem holte, sah er aus, als puste er sich bis zum Platzen auf. „Das ist eine Beleidigung!" schrie er. „Entweder, du entschuldigst dich, oder..." „Oder was?" „Oder die Sache ist für ihn erledigt", sagte Sam Roskill und lachte glucksend. Mac Pellew wollte herumwirbeln, doch dieses entsetzlich spöttische Grinsen des Stückmeisters nagelte ihn auf der Stelle fest. „Hast du ihm den Auftrag erteilt?" rief er mit sich überschlagender Stimme. „Natürlich", erwiderte Al Conroy ohne das winzigste Muskelzucken im Gesicht. „Glaubst du etwa, er würde so was eigenmächtig tun? Sich eine Arbeit aufhalsen, wenn er doch faul in der Sonne liegen könnte?" Abermals schnappte Mac nach Luft. „Es besteht eine klare Anweisung des Kapitäns", sagte er keuchend. „In der Nähe der Frauen hat außer mir keiner etwas zu suchen. Ich habe dafür aufzupassen, daß die Anweisung eingehalten wird." „Bist du da so sicher?" entgegnete Al Conroy gelassen. „Jedenfalls kannst du den armen Sam nicht für etwas verantwortlich machen, was ich angeordnet habe. Und als Stückmeister, das dürfte dir bekannt sein, bin ich für den ordnungsgemäßen Zustand aller Geschütze an Bord verantwortlich." Da ein Ende des Streitgesprächs nicht abzusehen war, beendete Hasard es, indem er seine Donnerstimme über die Decks schallen ließ. „Schluß der Debatte! Der arme Sam verläßt sofort die Back! Mister Pellew, du brauchst es nicht zu übertreiben, und Mister Conroy, du versuchst dich daran zu erinnern, ob sich nicht alle Geschütze längst in ordnungsgemäßem Zustand befinden." Es reichte.
Sekunden nach dieser Anordnung waren die Ladys wieder allein auf der Back. Mac Pellew stolzierte mit geschwellter Brust vor den Niedergängen auf und ab, und die Arwenacks hockten im Halbkreis um den Draufgänger Sam Roskill, um sich von ihm schildern zu lassen, wie die Ladys aus der Nähe aussahen. 2. Der Seewolf stützte sich vorgebeugt auf die Querbalustrade des Achterdecks und beobachtete die Szenerie. Mac Pellew übertrieb es tatsächlich. Die Verantwortung für das Wohlergehen der Ladys war offenbar zuviel für ihn. In der Art, wie er da umherstolzierte, wirkte er wie ein Obergockel mit geschwollenem Kamm. In dieser Eigenschaft hielt er es für so etwas wie seine Pflicht, sein munteres Hühnervölkchen eifersüchtig zu bewachen. Sam Roskill mußte soeben einen besonders eindrucksvollen Teil seines Augenzeugenberichts abgegeben haben, denn alle Köpfe seiner Zuhörer ruckten plötzlich herum, Richtung Back zweifellos, um sich von der Wahrheit von Sams Schilderung zu überzeugen. Mac Pellew verharrte jäh. Mit einer ruckhaften Bewegung verschränkte er die Arme vor der Brust, und seine Zornesadern schwollen an. „Wollt ihr euch wohl umdrehen!" brüllte er. „Schämt ihr euch nicht, ihr Gaffer! Anständige Ladys werden nicht auf diese unanständige Art und Weise beäugt. So was tut man nicht, verstanden!" Macs Stimme wurde schriller. Er steigerte sich regelrecht in Raserei. „Umdrehen, habe ich gesagt! Wenn ihr nicht pariert, kriegt ihr Carberrys Neunschwänzige zu spüren. Ist das klar?" Jetzt richteten sich alle Augenpaare auf ihn. Mac schluckte und verstummte. Er wußte, daß er sich zuviel herausgenommen hatte. Obwohl dem Profos auch an Bord der „Isabella" der Gebrauch der Neunschwänzigen rechtmäßig zustand, war dieses Zuchtmittel unter dem Kommando des Seewolfs schon seit langer Zeit nicht mehr angewendet worden. Hasard sah ein, daß es so nicht weiterging. Neununddreißig junge Frauen an Bord eines einzigen Schiffes waren ganz einfach ein Problem, dessen Lösung man nicht aus dem Ärmel schütteln konnte.
Gewiß, er hatte Mac mit der Betreuung der geretteten Frauen beauftragt. Insbesondere deshalb, weil er der geeignete Mann war. Als Feldscher und Koch sorgte er sowohl für die Ausheilung etwaiger Wunden als auch für eine gute, nahrhafte Kost. Und Hasard hatte ihm für diese neue Zuständigkeit jene besondere Mahnung mit auf den Weg gegeben: Was etwaige Annäherungsversuche und Ähnliches von Seiten der Arwenacks betreffe, so spiele sich in dieser Beziehung an Bord überhaupt nichts ab. Man habe sich schließlich bis zur Rückkehr in die Cherokee-Bucht zu gedulden, wo darüber zu beraten sei, was mit den Ladys weiter geschehen solle. Und Mac übertrieb es ganz gewaltig mit der Wahrnehmung seines Aufpasseramts. „Herhören!" rief der Seewolf mit metallisch klingender Stimme. „Ihr wißt, daß ich Mister Pellew klare Anweisungen gegeben habe, was das Verhalten gegenüber den Ladys betrifft. Ich erwarte, daß jeder einzelne sich daran hält. Andererseits, Mister Pellew, hast du kein Recht, mit der Neunschwänzigen zu drohen. Ich sehe aber ein, daß das Problem in der augenblicklichen Form nicht zu lösen ist. Wir werden einen anderen Weg finden." Er winkte Dan O'Flynn zu sich, der sich mit dem derzeitigen Rudergänger Luke Morgan unterhalten hatte. „Sir?" sagte Dan O'Flynn, nachdem er auf den Seewolf zugetreten war. „Tu mir einen Gefallen, Dan, und hole mir die Wortführerin der Frauen aufs Achterdeck." „Aye, aye, Sir." Dan enterte über den Steuerbordniedergang zur Kuhl ab, und es folgten ihm ähnlich gespannte und aufmerksame Blicke„ wie das erst vor wenigen Minuten bei Sam Roskills einsamem Vorstoß der Fall gewesen war. Gleich darauf führte es zu massiertem Auftreten von Stielaugen, als Dan mit der leichtgeschürzten Taina zum Achterdeck zurückkehrte. Doch es wollten keine neuen Gespräche aufkommen. Die Männer schienen zu spüren, daß sich Entscheidendes anbahnte, was die Zukunft der Frauen betraf. Taina senkte ehrerbietig den Blick, als sie vor den Seewolf hintrat. Sie hatte bereits unmittelbar nach der Rettung einige Worte mit ihm gewechselt, und er wußte, daß sie die spanische Sprache beherrschte, die auch alle Arwenacks fließend sprachen. Dies jedoch war die erste Unterredung, die Taina allein mit dem hünen-
haften Engländer führte, dem sie mit dem Scheitel ihres jettschwarzen Haars gerade bis zum mächtigen Brustkasten reichte. Es stört Taina nicht im mindesten, daß Dan O'Flynn dabei war, dieser sympathische Mann, den alle Frauen von Anfang an mit besonderer Aufmerksamkeit und nicht geringerer Bewunderung beobachtet hatten. Auch nach ihren Idealvorstellungen vom Aussehen eines Mannes war dieser Mister O'Flynn einen längeren Blick wert. Eigentlich galt das für die meisten Männer an Bord, allen voran der Seewolf selbst. Hasard wußte um diese Wechselwirkung zwischen Männern und Frauen an Bord. Er konnte das Knistern buchstäblich hören, und er war sich darüber im klaren, daß der Abstand vom Zündfunken zum Pulverfaß immer geringer wurde. „Taina", sagte Hasard ruhig. „Ich habe etwas Wichtiges mit Ihnen zu besprechen." Die hübsche junge Frau vom Stamm der Arawak hob den Kopf und blickte zu ihm auf. „Ich habe es erwartet", erwiderte sie leise. „Es geht um unsere Vergangenheit, nicht wahr?" Hasard schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, um eure Zukunft. Das ist das Wort für das, was vor euch liegt. Vergangenheit ist das spanische Wort für alles, was schon gewesen ist." Sie legte erschrocken die flache Hand vor den Mund und lachte. „Ich hoffe, Señor Capitán, daß Sie mich überhaupt richtig verstehen können. Sagen Sie es mir, wenn ich zu viele Fehler mache." „Ihr Spanisch ist ausgezeichnet", entgegnete der Seewolf. „Jedenfalls so gut, daß Sie sich den Sprachunterricht bei Sam Roskill schenken können. Er ist selbst überhaupt nicht perfekt." „Aber Sie werden ihn doch nicht bestrafen? Er ist so ein netter Mann. War es denn so schlimm, daß er unbelaubt zu uns kam?" „Unerlaubt", sagte Dan O'Flynn. Er erntete einen mahnenden Seitenblick des Seewolfs. Dan kannte Hasards Meinung. Einen kleinen Fehler mußte man jemandem nicht unbedingt vorhalten, nur um sich selbst in ein tadelloses Licht zu rücken. Taina lächelte Dan O'Flynn dennoch dankbar zu.
„Nein", sagte Hasard, „Sam wird nicht bestraft. Im Übrigen lassen Sie den Capitán weg, Taina. Mein Name ist Hasard, und der vorlaute Bursche an meiner Seite heißt Dan." „Hasard und Dan", wiederholte Taina die beiden Namen mit fast andächtig klingender Stimme. „Das sind englische Namen, nicht wahr?" Hasard nickte. „Wir sind Engländer, und wir sind Feinde der Spanier. Damit wären wir auch beim Thema." Er deutete mit knappen Handbewegungen nach Backbord und nach Steuerbord, wo die „Chubasco" und „Eiliger Drache" segelten. „Zu uns gehören weitere Männer und weitere Schiffe. Alle gemeinsam bilden den Bund der Korsaren, der zur Zeit einen neuen Stützpunkt auf Great Abaco errichtet." „Bedeutet das, daß auch Sie eine andere Heimat verlassen mußten?" „Ja", erwiderte er verhalten. „Es war mehr als nur eine Heimat." Mit knappen Worten schilderte er ihr, wie sie auf der SchlangenInsel mit Arkana, Araua und den Schlangenkriegerinnen- und Kriegern gelebt hatten, wie sie von der Timucua-Indianern auf Coral Island versorgt worden waren und wie das alles durch ein Seebeben zerstört worden war. Taina sah ihn entsetzt an. „Und niemand hat übergelebt?" hauchte sie. Hasard verbesserte ihren Fehler nicht, und auch Dan hielt sich diesmal zurück. „Nein", erwiderte der Seewolf, „niemand." Die drei Brieftauben, die sie lebend geborgen hatten, erwähnte er nicht. Ebensowenig Arne von Manteuffel und die Aufgabe, die er mit seinen beiden Helfern in Havanna erfüllte. Das waren Einzelheiten, die nur ein Mitglied1 des Bundes der Korsaren erfahren durfte. Aber so weit waren Taina und ihre Leidensgefährtinnen noch nicht. Hasard wollte sie vor allem nicht zu einer Entscheidung drängen. Die Indianerin sah ihn offen an. „Sie und Ihre Freunde sind nicht wie die Spanier, die mein Volk quälen und unterdrücken. Das spüre ich, ohne daß Sie es mir sagen müssen." Er nickte und lächelte.
„Sie und die anderen Frauen sind völlig frei. Das einzige, was wir Ihnen vorschreiben, ist, daß Sie sich an Bord meinen Anweisungen zu fügen haben. Ob Sie aber bei uns bleiben oder nach Puerto Rico oder auf eine andere Insel zurückkehren das sollen Sie allein und ohne jeden Einfluß von unserer Seite entscheiden." „Ich danke Ihnen", sagte Taina und erwiderte das Lächeln des Seewolfs. „Ich weiß noch nicht, wie unser Beschluß sein wird, denn ich erkenne nicht alle Meinungen meiner Gefährtinnen. Aber ich weiß, daß wir bei Ihnen gut aufgehoben wären." Dan schluckte das verbessernde „kenne" hinunter, das er schon auf der Zunge hatte. „Wenn Sie bei uns bleiben", sagte Hasard ernst, „dann können wir Ihnen zumindest einen gewissen Schutz vor den Übergriffen der Spanier bieten." „Seit wir uns in der Karibik aufhalten, haben die Dons uns nicht kleinkriegen können", fügte Dan hinzu. „Und ohne zu prahlen: Sie haben inzwischen Respekt vor uns." „Wir haben das gemerkt, als Sie die vielen Schiffe des Geleitzuges versenkten", entgegnete Taina. Sie räusperte sich. „Ich werde alles mit meinen Schwestern besprechen. Wann erwarten Sie unsere Entscheidung?" „Es hat keine Eile", erwiderte der Seewolf. „Es ist nicht erforderlich, bevor wir die Cherokee-Bucht erreichen." „Sie sind sehr großzügig. Ich will nichts vorwegnehmen, aber ich muß sagen, daß wir bei unserem Entschluß wirklich völlig unabhängig sein werden. Denn unsere Familien existieren praktisch nicht mehr. Unsere Väter und Brüder wurden in die Bergwerke und Minen der Spanier verschleppt, und unser Stamm wurde auf Puerto Rico in alle Winde verstreut. Es ist also so, daß unser Volk ausgelöscht wurde. Als eine Einheit wird es die Arawaks wohl nie wieder geben." Hasard wechselte einen Blick mit Dan. Die Worte Tainas bestätigten aufs Neue, auf welche unbarmherzige Weise sich die Spanier in der Neuen Welt als Unterdrücker und Plünderer zeigten. Für die Arwenacks und ihre Freunde galt folglich unverändert der Grundsatz der Zurückhaltung. Denn diese jungen Frauen, die vor einer grauenvollen Zukunft bewahrt worden waren, sollten Zutrauen gewinnen und vor allem begreifen, daß sie nicht vom Regen in die Traufe geraten waren.
Taina war denn auch sofort einverstanden, als Hasard ihr eine Änderung vorschlug, die zur beiderseitigen Erleichterung der Umstände beitragen sollte. Neununddreißig Frauen auf nur einem Schiff waren zuviel. Taina pflichtete dem Seewolf bei, daß eine „Entkrampfung" der Lage leicht zu erreichen war, indem man die Geretteten gleichmäßig auf die drei Schiffe verteilte. Nach kurzer Verständigung mit Ben Brighton und Don Juan de Alcazar auf der „Chubasco" und Thorfin Njal auf „Eiliger Drache" wurde Hasards Vorschlag in die Tat umgesetzt. Jeweils dreizehn Frauen wurden in den Beibooten zu der Karavelle und zum Viermaster hinübergepullt. Taina setzte mit zwölf ihrer Gefährtinnen zur „Chubasco" über. Hasard und seine Männer konnten zu diesem Zeitpunkt indessen noch nicht wissen, daß Old O'Flynn bei seiner Erkundung des südwestlichen Bereichs von Great Abaco auf Andros auf einen Arawakstamm unter seinem Häuptling Coanabo gestoßen war. Durch den Kutscher und seine „Medizin" waren die Männer vom Bund der Korsaren und die Indianer Freunde geworden. * Nach der „Frauen-Neuordnung" gingen die drei Schiffe des Bundes der Korsaren auf Kurs Nordnordost. Die Lage war unverändert. Noch immer war die Kimm an diesem Vormittag des 5. Mai 1595 leer bis auf jene hauchdünnen Nadelspitzen im Norden, die sich etwa in Richtung der Bermudas befanden. Sowohl Hasard als auch Dan und die anderen hatten ihre Hoffnung aufgegeben, daß sie im Verlauf dieses Tages noch auf versprengte Einzelfahrer des nicht mehr existierenden spanischen Geleitzuges stoßen würden. „Bist du sicher, daß sie auf die Bermudas zusteuern?" fragte Dan, nachdem er wie Hasard eine Weile die nördliche Kimm mit dem Kieker abgesucht und die kaum wahrnehmbaren Mastspitzen beobachtet hatte. „Ziemlich sicher", antwortete der Seewolf und nickte. „Du weißt, für die spanischen Geleitzüge sind die Bermudas bei ihren Heimfahrten so etwas wie ein Ansteuerungspunkt."
„Meistens gehen sie nördlich der Inseln auf Ostkurs", sagte Dan und ließ sein Spektiv sinken. „Und zwar etwa in Höhe des dreiunddreißigsten bis fünfunddreißigsten Breitengrades. Dabei nutzen sie den Westwind und den Golfstrom mit seiner ostwärts setzenden Drift." „Und den Westwind nutzen wir jetzt ebenfalls", sagte der Seewolf und legte den Kopf in den Nacken. Wie die beiden anderen Schiffe auch, segelte die „Isabella" unter Vollzeug über Steuerbordbug. Es war ein majestätischer Anblick, den die schlanke Galeone von der ehemaligen Werft des alten Hesekiel Ramsgate in Plymouth bot. Die Segel standen straff gebaucht, wie von einem Bildhauer aus seidengrauem Holz modelliert. Der stetige Westwind sang sein Lied in Wanten und Pardunen, und das Knarren von stehendem und laufendem Gut bildete einen beinahe gleichmäßigen Rhythmus dazu. „Mal sehen, ob wir ein paar von den spanischen Schatzgaleonen noch bei den Bermudas erwischen", sagte Dan und blickte den Seewolf an. Hasard nickte. „Das hoffe ich auch. Jedenfalls brechen wir die Jagd noch nicht ab nicht vor den Bermudas. Die Inseln sind es wert, daß man sie einmal näher erkundet." Dan hob erneut den Kieker und spähte voraus. Er erinnerte sich, daß sie die Bermudas lediglich einmal flüchtig gestreift hatten. Das war damals gewesen, als sie von der Schlangen-Insel zu ihrer zweiten Weltumsegelung aufgebrochen waren und das Eisland hoch oben im Norden durchquert hatten. 3. Eine halbe Stunde später übergab der Seewolf das Kommando an Bord an Big Old Shane. Die Mastspitzen waren mittlerweile mit bloßem Auge zu erkennen, allerdings nur undeutlich und nur deshalb, weil man sie vorher durch das Spektiv gesehen hatte. Sobald der geringste Dunststreifen über der Kimm aufzog, würde es mit der guten Sicht sowieso vorbei sein. Hasard und Dan enterten vom Achterdeck ab und zogen sich in die Kapitänskammer zurück. Ohne Umschweife nahm Dan die vorhandenen Seekarten vom Gebiet der Bermudas aus dem Navigationsschapp, glättete sie auf
dem Zeichenpult und beschwerte die hochrollenden Enden mit Bleistücken. Der Seewolf stand unterdessen vor seinem Bücherschapp und studierte intensiv die Beschriftung der ledergebundenen Rücken. „Wollen doch mal sehen", murmelte er, „was wir über die Bermudas haben." „Bestimmt findest du etwas in dem Karibikhandbuch", sagte Dan, ohne zur Seite zu blicken. Er studierte bereits die erste Karte. Hasard brummte zustimmend und zog einen schweren Folianten aus dem Schapp. Er wuchtete das in England gedruckte Werk auf seinen Schreibtisch und begann, das alphabetische Register durchzublättern. „Hier wäre schon einiges", sagte er gleich darauf und schlug die im Verzeichnis angegebene Seite des Folianten auf. Das wertvolle Büttenpapier knisterte trocken beim Blättern. Dan richtete sich am Pult auf und wandte sich interessiert dem Seewolf zu. „Der spanische Seefahrer Juan de Bermudez", las Hasard vor, „entdeckte Anno 1503 auf seinem Weg in die Karibik eine hinterhältige Ansammlung von Riffen und Inseln im Atlantik und erstattete darüber in Spanien Bericht." „Bermudez", wiederholte Dan gedehnt, „daher also der Name der Inseln. Aber wurden und werden sie nicht auch die .Inseln des Teufels' genannt?" „Genau", erwiderte Hasard und überflog die weiteren Zeilen im Folianten. „Hier heißt es, daß andere Seefahrer zu Beginn unseres Jahrhunderts von ihren Begegnungen mit den .Inseln des Teufels' berichtet hätten. Dieser Name habe sich bis heute gehalten." „Kein Wunder also, daß er mir geläufig ist", sagte Dan und lächelte. „Jedenfalls", fuhr Hasard fort, „wurden die Inseln erstmals unter der Bezeichnung Bermudas in den Chroniken des Peter Martyr erwähnt." „Das sind diese Berichte über die Ereignisse in der Neuen Welt?" „Richtig." „Und was wurde über die Bermudas berichtet?" „Daß die Dons vor ihnen von Anfang an einen heillosen Respekt hatten zum einen wegen des Kranzes von Korallenriffen um die
Inseln und zum anderen wegen der magnetischen Anomalien in diesem Bereich." „Das bringt die Kompasse zum Törnen", sagte Dan, „davon habe ich schon gehört. Es soll ebenso leicht sein, an den Bermudas vorbeizusegeln, ohne sie überhaupt zu bemerken, wie auf ihnen zu stranden." Der Seewolf nickte. „Und dabei muß man bedenken, daß die Inseln winzig sind! In der Weite des Atlantik praktisch nicht mehr als ein Stecknadelkopf." „Und was macht sie so verdammt gefährlich?" Hasard beugte sich wieder über das Buch und las weiter. „Der Böschungswinkel des Inselsockels beträgt rund 84 Grad. Der Grund steigt auf einer Kabellänge über See von zweihundert Meter Tiefe auf Null tiefe an. Ein Heranloten an die Küste ist daher so gut wie unmöglich." „Verstehe", sagte Dan, „für unsere sehr verehrten Dons sind die Bermudas deshalb nicht mehr als eine Navigationshilfe ein brauchbarer Wegweiser allerdings, an den man sich jedoch nicht zu nahe heranwagen sollte." „Einen Haken hat die Sache allerdings", sagte Hasard, „der höchste Gipfel auf den Bermudas ist nur zweihundertsechzig Fuß hoch." „Zweihundertsechzig Fuß niedrig", sagte Dan lachend. „Eben drum. Ist die Sicht schlecht, und geht man zu dicht heran, dann kann das auf den Riffs der Anfang vom Ende sein." „Soll ja schon fast ein Schiffsfriedhof sein, das Gebiet rings um die Bermudas." „Vor allem auf der West-, der Süd- und der Ostseite der Inseln." Hasard blätterte die Seite im Folianten um. „Noch eins ist in diesem Zusammenhang wichtig, Dan. Hier heißt es, daß Nebelbildungen im Bermuda-Gebiet nicht auszuschließen seien. Wörtlich: Im Mai streicht warme Luft über kälteres Wasser und ruft Nebel hervor." „Ach, du lieber Himmel!" rief Dan stöhnend. „Und ausgerechnet jetzt haben wir den Wonnemonat Mai! Dann gute Nacht." *
Was die Nachtstunden betraf, so blieben die äußeren Umstände für die drei Schiffe vom Bund der Korsaren in der Tat noch gut. Der klare samtschwarze Himmel und das matte Licht von Mond und Sternen reichten für eine einwandfreie Navigation aus. In der vierten Morgenstunde des 6. Mai 1595 bewahrheitete sich der Hinweis in dem Folianten für den Seewolf und seine Gefährten. Mit Freude hatten es die Männer auf der „Isabella", der „Chubasco" und dem Schwarzen Segler noch aufgenommen, als sich bereits gegen drei Uhr der erste Streifen grauer Helligkeit über der östlichen Kimm gezeigt hatte. Doch aus dem grauen Streifen war sehr bald eine Milchsuppe mit beträchtlicher Wasserbeigabe geworden. London im November konnte nicht schlimmer sein, abgesehen von den Temperaturen, die in der Alten Welt doch wesentlich unangenehmer waren als in diesen milden Breiten. Um vier Uhr morgens war die Sichtweite auf eine halbe Kabellänge zusammengeschmolzen. Dan O'Flynn verließ die Kapitänskammer, wo er noch einmal alles verfügbare Material gesichtet hatte. Im Eilschritt begab er sich zu Hasard auf das Achterdeck. „Wir sind nahe dran an den Bermudas", sagte Dan atemlos. „Nach meinen Berechnungen stehen wir knapp acht Meilen südwestlich von der Westküste der Inseln." „Das ist nicht alles", entgegnete Hasard, „ich sehe es dir an der Nasenspitze an." Dan lächelte nur flüchtig und nickte. „Nach allem, was ich gelesen habe, sind wir den Korallenriffs verteufelt nah. Wir sollten nicht mehr das geringste Risiko eingehen, vor allem nicht bei dieser Suppe." Hasard faßte seinen Entschluß, ohne lange zu zögern, und verständigte sich durch Zuruf mit Ben Brighton und dem Wikinger. Für die Frauen bestand ab sofort strikte Anweisung, in den Unterdecksräumen zu bleiben, die man ihnen zugewiesen hatte. Hasard ließ die Segel der „Isabella" aufgeien und ging vor Treibanker. Vereinbarungsgemäß folgten Thorfin Njal und Ben Brighton seinem Beispiel. Alle drei Schiffe blieben dicht zusammen auf Sicht- und Rufweite. Bereits eine halbe Stunde nach dem Aufgeien der Segel betrug die Sicht nur noch knapp zwanzig Yards.
Einen winzigen Vorteil gab es für die Männer vom Bund der Korsaren: Da der Wind nunmehr aus Nordwesten heranstrich, brauchten sie bei ihrer derzeitigen Position nicht zu befürchten, auf die Riffs getrieben zu werden. Allenfalls wurden sie nach Südosten versetzt, also weg von den Bermudas, und das konnte keinen Schaden bringen. „Eiliger Drache" und die „Chubasco" befanden sich an Backbord der „Isabella". Die drei Schiffe dümpelten auf der See und waren dabei in trübgraue Watte verpackt. Die Männer an Bord lauschten nach Osten. Auf beklemmende Weise wurde ihnen deutlich, wie hilflos sich viele Seefahrer in diesem Gebiet gefühlt haben mußten. Der Nebel konnte manchmal tagelang anhalten, und wenn man dann bei wechselnden Windrichtungen die Orientierung verlor, weil die Kompaßnadel verrückt i spielte und das verfluchte Grau von allen Seiten auf einen eindrang, dann war es nur noch ein kurzer Schritt, bis man auf den teuflischen Riffs endete. Denn wer war unter solchen Umständen schon völlig sicher, immer genau zu wissen aus welcher Richtung der Wind wehte? * Batuti und Sam Roskill waren zur Galion abgeentert, wo sie von den Eigengeräuschen der „Isabella" durch das aufragende Vorkastell weitgehend abgeschirmt waren. Die Sichtweite hatte sich in der zurückliegenden Viertelstunde noch mehr verschlechtert Thorfin Njals Viermaster war an Backbord nur noch schemenhaft zu erkennen. Und die weiter querab dümpelnde „Chubasco" konnten die beiden Männer auf der Galion bestenfalls ahnen. Masten und Rahen des Schwarzen Seglers schienen aus fließenden Linien zu bestehen, die sich ständig verformten. Nichts war mehr einheitlich waagerecht öder senkrecht, was durch die wabernden dichten Nebelschwaden verursacht wurde. Der Rumpf des Viermasters wirkte noch düsterer als sonst, die Männer an Deck waren bewegungslose Schatten. Ihre Bewegungslosigkeit rührte daher, daß der Wikinger angeordnet hatte, „kein verlauster Torfkopp solle sich vom Fleck rühren, damit man mitkriegen könne, was in diesem rattengrauen Waschzuber vor sich gehe."
„Ein Geisterschiff", flüsterte Sam Roskill. „Mann o Mann, wenn ich abergläubisch wäre und das sehen würde ich würd's für ein Geisterschiff halten." Der Gambianeger grinste, und seine perlweißen Zähne leuchteten im trüben Licht. „Erzähle bloß nicht, du wärst nicht abergläubisch. Freu dich, daß der alte O'Flynn nicht an Bord ist. Der würde jetzt seine Schauermärchen vom Stapel lassen, und dir liefe es eiskalt den Rücken runter." „Unsinn", entgegnete Sam mit leisem Protest. „Daß das da drüben der Schwarze Segler ist, weiß ich genau. Also könnte mich auch Old Donegal nicht zum Zittern bringen." Der schwarze Herkules aus Gambia lachte leise. „Ich sage dir, bei so einem Nebel sind schon die härtesten Kerle weich geworden. Hast du mal gehört, was über die Bermudagegend so erzählt wird?" „Alles Gerede", wehrte Sam ab, doch es klang nicht sonderlich überzeugend. „Glaube ich nicht", sagte Batuti beharrlich. „Wo sollten denn all die verschwundenen Schiffe geblieben sein? Wenn ein Eimer auf die Riffs brummt, dann findet man immer irgendwelche Wrackteile, oder es konnten sich sogar Überlebende an Land retten. Aber wenn ein Kahn einfach weg ist was dann?" „Dann ist er wahrscheinlich abgesoffen. Mit Mann und Maus." „Und wenn in der fraglichen Zeit kein Sturm geherrscht hat, sondern sogar Windstille? Wenn man gesucht hat und auf den Riffs kein Wrack entdecken konnte? He, was dann?" .Ammenmärchen", entgegnete Sam unwirsch. „Fang bloß nicht an, den alten O'Flynn nachzuahmen. Dir kauft's nämlich keiner ab." „Da bin ich nicht so sicher", widersprach Batuti und kicherte hinter der hohlen Hand. „Du wärst mein erstes Opfer, Mister Roskill. Weißt du, daß du schon eine ganz weiße Nase hast?" „Himmel, Herrgott noch mall" rief Sam aufbrausend. „Wenn du nicht gleich aufhörst, verhole ich mich. Dann kannst du allein auf der Galion hocken und Löcher in die Suppe gaffen." „Mit dem Gaffen hat es nicht viel Sinn. Besser verläßt man sich auf seine Ohren." Sam Roskill blies die Luft durch die Nase.
„Was soll dabei schon herauskommen? Bislang haben meine Lauscher nichts..." Batuti packte ihn jäh am Oberarm. „Still!" zischte er. „Hörst du das?" Sam riß sich mit einem Ruck los. „Bist du verrückt geworden? Willst du dich jetzt aufspielen? Da war nichts, und da ist nichts. Alles mucksmäuschenstill." Batuti antwortete nicht. Sam starrte ihn eine Weile an, dann schüttelte er nur verständnislos den Kopf, blieb aber stumm. Er horchte jetzt selbst angestrengt, vermochte aber beim besten Willen nichts wahrzunehmen. „Da sind Schreie", flüsterte der Gambianeger nach Minuten. „Wo?" „Steuerbord voraus." „Du spinnst." „Sei still. Ich muß mich konzentrieren, dann kriege ich es auch richtig mit", brummte Batuti. Sam Roskill gehorchte achselzuckend, konnte sich aber des Verdachts nicht erwehren, daß ihn Batuti zum Narren halten wollte. Denn außer dem ewigen Knarren und Ächzen, das das Schiff selbst verursachte, war wirklich nichts zu hören. Davon war Sam überzeugt. „Das sind Menschen, die da schreien", sagte Batuti dennoch, nachdem er mehrere Minuten regungslos ausgeharrt hatte. Sam Roskill ging diese penetrante Ausdauer des Negers bereits auf die Nerven. Denn es schien immer klarer zu werden, daß Batuti ihm jetzt auf besonders raffinierte Weise Geisterfurcht einjagen wollte. „Klar doch", flüsterte Sam daher bissig, „das sind die armen Seelen der Verstorbenen, der Ertrunkenen. Das sind alle die, die vor den Bermudas spurlos verschwunden sind. Auf diese Weise wollen sie auf sich aufmerksam machen. Stimmt's?" „Halt die Klappe", sagte Batuti ärgerlich. „Nein, das ist wahr", fuhr Sam Roskill fort. „Du hast es vorhin selbst angedeutet. Nur jeder der die Ertrunkenen schreien hört, wird das gleiche Schicksal erleiden. Denn in dem Moment, da er beschließt, ihnen zu helfen, wird er selbst ein Opfer. Deshalb ist nie was bekannt geworden über die spurlos Verschwundenen. Weil ihre toten Seelen sich immer, neue Opfer suchen." Sam kicherte hinter der hohlen Hand. „O Mann, das muß ich dem alten
Donegal erzählen. Der fällt mir glatt um den Hals dafür, daß ich das entdeckt habe." „Jetzt reicht es", sagte Batuti. „Entweder du schließt das Schott dicht oder..." „Oder was?" rief Sam aufbrausend. Mit einem federnden Satz war er auf den Beinen. „Hör mal, wenn du mit mir Streit anfangen willst, brauchst du bloß Bescheid zu sagen. Denkst du, du kannst mich mit deinem Gespensterkram verschaukeln? Dafür bin ich dir gut genug, was? Aber wenn du's dann mit gleicher Münze zurückkriegst, bist du eingeschnappt." Batuti richtete sich gleichfalls auf. Mit einem jähen Ruck packte er Sams Oberarme, rollte mit den Augen und entblößte drohend das perlweiße Gebiß. „Ruhig jetzt!" brüllte der schwarze Herkules. „Hölle und Teufel, du bist sofort still, verdammt noch mal! Sonst drehe ich dir..." Polternde Schritte, die knapp über den beiden Streithähnen endeten, ließen ihn abbrechen. Beide Köpfe ruckten hoch. Smoky war es, der sich breit und drohend über die Querbalustrade beugte. „Seid ihr nicht ganz bei Trost?" sagte der Decksälteste grollend. „Was fällt euch ein, so einen Lärm zu veranstalten?" Bevor einer der beiden antworten konnte, dröhnte die Stimme des Wikingers von dem „Geisterschiff" herüber. „He, ihr ausgetrockneten Torfköppe! Habt ihr Schlick im Schädel? Oder was? Wenn es jetzt mit der großen Brüllerei losgehen soll, kann unsereins auch ein bißchen mitmischen!" Vom Achterdeck der „Isabella" antwortete der Seewolf mit Donnerstimme. „Schlag dir das aus dem Kopf, Thorfin! Hier gibt's kein Brüllfest! Auch bei uns herrscht ab sofort völlige Ruhe!" Von „Eiliger Drache" ertönte kein gegröltes Widerwort, und auch an Bord der „Isabella" blieb es nun still. Auf Anordnung von Smoky verließen die beiden Geisterschiffdiskutanten die Galion. Während die Männer an Deck horchend ausharrten, begab sich Batuti auf leisen Sohlen lautlos zum Achterdeck. Flüsternd holte er sich die Genehmigung des Seewolfs, aufentern zu dürfen. „Ich habe Schreie gehört", meldete der Gambianeger leise. „Von Steuerbord voraus." „Bist du sicher?" entgegnete Hasard.
„Völlig sicher, Sir." Der Gambianeger grinste und nickte Dan zu. „Wenn er scharfe Augen hat, dann habe ich ein scharfes Gehör." In dem Punkt konnte auch Dan O'Flynn nicht widersprechen. „Und wenn es nun gar keine menschlichen Schreie waren? In diesem Nebel können manchmal auch Möwen verdammt menschlich klingen." „Ich weiß", sagte Batuti, „aber ich habe lange genug hingehört, um es genau herauszufinden. Wenn ich nicht wüßte, daß Menschen geschrien haben, hätte ich nichts gemeldet." „Danke, Batuti", sagte der Seewolf. „Geh wieder nach vorn und halte die Ohren offen." Der Gambianeger verschwand nach einer lautlosen Kehrtwendung. Hasard ordnete an, daß ab sofort völliges Stillschweigen zu bewahren sei. Jeder einzelne an Bord der „Isabella" sollte darauf achten, ob sich die Wahrnehmung des Gambianegers bestätigte. So harrten die Männer regungslos auf den Decks der schlanken Galeone aus. Mac Pellew, der seiner Funktion als Obergockel zur Zeit beraubt war, da sich seine reduzierte „Hühnchenschar" unter Deck befand, hatte angefangen, in der Kombüse zu hantieren. Die Kerls würden es begrüßen, rechtzeitig einen guten Happen zwischen die Zähne zu kriegen. Das war nach seiner Erfahrung ein Weg, in ihrem Ansehen wieder zu steigen. Daß sein Ruf durch das Privileg der Frauenbewachung erheblich geschädigt war, stand für ihn fest. Ebenso, daß die Meute höllisch eifersüchtig auf ihn war. Die Männer, so glaubte er, waren überzeugt davon, daß er mit den gutgewachsenen jungen Dingern längst etwas gehabt hätte. Dabei trauten sie dem Griesgram unter normalen Umständen nicht einmal zu, daß er mit einem Hafenmädchen erfolgreich anbändelte. Aus der guten Gewohnheit der vergangenen Tage stand das Kombüsenschott wieder halb offen. Das Unglück wollte es, daß der Kombüsenmann ein wenig zu intensiv an seine weiblichen Schützlinge dachte und daher mit den Gedanken nicht genügend bei der Sache war. Der Henkel eines leeren Kessels entglitt seinen Fingern, und das schwere Ding fiel zu Boden. Wie ein peitschender Schuß hallte das Scheppern aus der Kombüse über Kuhl und Achterdeck der „Isabella".
Die Männer zuckten zusammen, und jeder einzelne von ihnen hätte dem Kerl in der Kombüse am liebsten den Hals umgedreht. Aber keiner riskierte es, auch nur einen Fluch von sich zu geben. Denn der Befehl des Seewolfs stand dagegen. Zerknirscht und mit eingezogenem Kopf erschien Mac Pellew im halboffenen Kombüsenschott und entschuldigte sich mit einem Handzeichen. Der Seewolf zeigte klar. Auf der Kuhl war es Sam Roskill, der sich eins grinste. Noch vor wenigen Stunden hätte der sauertöpfische Mac nicht im Traum daran gedacht, sich für etwas entschuldigen zu müssen. Dabei hatte er doch so aufmerksam die Ohren gespitzt, als ein Fachmann im Gespräch mit Taina die Bedeutung der Vokabeln „Entschuldigung" und „Verzeihung" erörtert hatte. Ihm, dem Fachmann Sam Roskill, würde es schon noch gelingen, seine sprachlichen Kenntnisse in beschaulichen Unterrichtsstunden mit einer oder mehreren Indianerinnen anzuwenden. Irgendwann war es so weit, daß Mac der Aufpasserposten entzogen wurde. Hasard hatte unterdessen versucht, die Schreie zu hören, von denen Batuti gesprochen hatte. „Da war etwas", sagte Dan O'Flynn leise. „Ich bin mir aber nicht sicher." Hasard nickte. Es schien tatsächlich so, als ob Menschen dort an Steuerbord voraus schrien. Aber der verdammte Nebel täuschte gewaltig. Möglich auch, daß die kaum wahrnehmbaren Laute doch von Möwen herrührten. Oder aber, es handelte sich um eine Sinnestäuschung, die durch den undurchdringlichen Nebel hervorgerufen wurde. Es war wie verhext. Der Nebel wirkte so, als würde er sich nie wieder lichten. Hasard erinnerte sich an Berichte von Seeleuten, die die Bermudas kannten. Diese miese Milchsuppe sollte Menschen hier wahrhaftig zum Wahnsinn gebracht haben. Der Nebel konnte stundenlang anhalten, und dann durfte man noch von Glück reden, wenn es eben nur Stunden waren. In extremen Fällen sollte die Nebelbildung im Bermuda-Gebiet tagelang anhalten. Es war dann, als ob das Grau ein Schiff umklammerte ein Pakt zwischen den Naturgewalten. Nach der Umklammerung war dann schließlich die See auf dem Plan, um das
Schiff mitsamt Besatzung auf Nimmerwiedersehen in die Tiefe zu reißen. Der Seewolf kannte diese Geschichten, an die manch abergläubische Seele in der Seefahrt felsenfest glaubte. Er war froh, daß sich Old Donegal Daniel O'Flynn nicht an Bord befand. Normalerweise fand der Alte mit seinen Gruselmärchen kaum noch Gehör bei dem Männern. Aber angesichts der beklemmenden Lage, in der man war, hätte sich das eine oder andere Ohr doch bereitwillig geöffnet. Die Frage blieb, wie lange der Nebel anhalten würde. Davon hing es ab, wie man sich weiter zu verhalten hatte. Denn als Frage Nummer zwei stand im Hintergrund die Überlegung, ob es nach Auflösen des Nebels überhaupt noch sinnvoll sein würde, zu versuchen, Schiffe des Geleitzuges zu erwischen. Denn der Konvoi war endgültig auseinandergesprengt. Daran gab es keinen Zweifel. Man mußte also in jedem Fall auf Einzeljagd gehen. Immerhin hatten sie gestern vormittag jene Mastspitzen gesichtet, denen sie auch gefolgt waren. Es hatte sich um eine Gruppe von Frachtseglern gehandelt. Langsam waren diese Galeonen auf keinen Fall gesegelt, denn sonst hätte man sie bereits vor Beginn der Nebelbildung eingeholt. Wenn die undurchdringliche Suppe nicht länger als bis in die Vormittagsstunden dieses 6. Mai andauern würde, so beschloß der Seewolf, dann würde er die Jagd auf die Dons noch um einen Tag fortsetzen. Auf jeden Fall lohnte es sich, noch eine oder zwei Galeonen auszunehmen. Nachdem die Schlangen-Insel und Coral Island untergegangen waren, besaß der Bund der Korsaren nur das an Vorräten und Schätzen, was in den Laderäumen der Schiffe übriggeblieben war. Ein neuer Anfang mußte gemacht werden. Wenn man einen Stützpunkt aufbauen und den möglichen Nachstellungen der Spanier trotzen wollte, brauchte man ausreichendes Kapital. Und das beschaffte man sich am besten bei denen, gegen die man sich wappnen mußte. Gewiß, an Bord der „Isabella" befand sich bereits die Schatzbeute aus der „Santa Barbara". Hasard war sich auch darüber im klaren, daß man nicht zu gierig sein sollte. Überdies war es sicherlich nicht ratsam, sich zu weit von Great Abaco zu entfernen. Auf der anderen Seite der Überlegungen stand jedoch der zügige
Ausbau des neuen Stützpunkts, den man mit aller Kraft betreiben mußte. Auch Dan O'Flynn war der Meinung, daß man die Jagd noch einen Tag fortsetzen sollte. Ein Gespräch mit den Männern auf der Kuhl ergab rasch Einigkeit über diesen Punkt, und es beseelte jeden einzelnen in der Hoffnung, daß mit zunehmender Kraft der Morgensonne der Nebel nachlassen werde. Durch Zuruf verständigte sich der Seewolf mit dem Wikinger und mit Ben Brighton. Wenn man schon einmal da war, darin stimmten alle überein, dann sollte man auf jeden Fall die Bermudas kurz „besichtigen". Stieß man bei dieser Gelegenheit in der Nähe auch noch auf flüchtige spanische Frachtgaleonen um so besser. 4. Es war ein grandioses Schauspiel, das sich den Männern vom Bund der Korsaren einige Zeit später an diesem Morgen des 6. Mai 1595 bot. Staunend standen sie auf der „Isabella", der „Chubasco" und dem Schwarzen Segler an Deck und beobachteten den Kampf, den die Natur mit ihren unterschiedlichen Mitteln gegen sich selbst auszufechten schien. Gegen acht Uhr morgens fing es an mit einer seltsamen Veränderung des Lichts. Das trübe Grau, das die drei Schiffe und ihre Besatzungen bislang eingeschlossen hatte, wechselte zunächst in ein milchiges Weiß über. Dabei blieb es für etwa eine halbe Stunde. Der Wind aus Nordwesten ließ fast vollständig nach. Die Oberfläche der See, soweit sie zwischen den Außenbeplankungen der Schiffe und unter den milchigen Schwaden zu erkennen war, hatte eine spiegelnde Glätte angenommen. Sekundenlang waren plötzlich laute Stimmen zu hören wie Befehle, die gebrüllt wurden. Und die Stimmen ertönten etwa aus jener Richtung, aus der Batuti Stunden zuvor die Schreie vernommen hatte. Unvermittelt war der Wind wieder zur Stelle, und die Stimmen schienen vom Nebel aufgesogen worden zu sein. Die Wasseroberfläche kräuselte sich. Kleine Wellen schmatzten gegen die Beplankung der vor Treibanker dümpelnden Segler. Erste Böen kamen auf. Wie ein belebender Atem strichen sie in die Gassen zwischen den Schiffen und warfen Wellen auf, die mit
immer wieder nachsetzenden Schlägen gegen das milchige Weiß anzukämpfen schienen. Gleichzeitig ging eine erneute Veränderung des Lichts vor sich. Anfangs von den meisten Männern noch unbemerkt, entstand im Osten ein blaßrosa Schimmer. Aus dem Schimmer wurde ein Lichtkranz, dessen Färbung an Intensität rasch zunahm. Und dann, plötzlich, explodierte es gleißend rot über der östlichen Kimm. Der Feuerball der Sonne hatte gesiegt. So jedenfalls wirkte es auf die Beobachter, die stumm dastanden und zusahen, wie das aus der Kimm aufsteigende feurige Rot den Nebel zu verzehren schien. Immer weiter breitete sich das Sonnenlicht fächerförmig in die nördlichen, westlichen und südlichen Richtungen aus, verlor dabei an Röte und nahm das milchige Weiß von der Wasseroberfläche. Dann, wie auf ein geheimes Zeichen, ließen die Böen nach. Der Wind wehte wieder aus Nordwesten, ohne jedoch zu unberechenbaren Tücken anzusetzen. Es war neun Uhr morgens, als der Nebel auch über der nördlichen Kimm endgültig verflogen war. Sobald die Sicht klar geworden war, hoben Hasard und Dan ihre Spektive, um sich einen Überblick zu verschaffen. „Wir sind also tatsächlich nach Südosten gedriftet", murmelte der Seewolf, ohne den Kieker abzusetzen. Die langgezogene Inselkette der Bermudas befand sich jetzt in guter Sichtweite genau nördlich voraus. Dan O'Flynn ließ sein Spektiv sinken. „Wenn du einverstanden bist, entere ich in den Großmars auf." „Nichts dagegen einzuwenden", entgegnete Hasard und lächelte. Wenn sich Batuti durch ein besonders scharfes Gehör auszeichnete, dann gab es im gesamten Bund der Korsaren in der Tat niemanden, der es an Sehkraft mit Dan O'Flynn aufnehmen konnte. Mit katzenhafter Gewandtheit enterte Dan über die Backbordwanten in den Mars auf, der wegen des Nebels bis zu diesem Zeitpunkt noch unbesetzt geblieben war. Sekunden später hatte er noch mehr gesichtet, als vom Achterdeck der „Isabella" aus mit den Spektiven zu erkennen gewesen war.
„Schiffe vor der Westküste der Inseln!" meldete er mit vernehmlicher Stimme. Auf der Kuhl eilten die Männer an die Verschanzungen, starrten sich die Augen aus dem Kopf und konnten zunächst doch noch nichts erkennen. Auch auf „Eiliger Drache" und der „Chubasco" waren Schiffsführung und Crew aufmerksam geworden. Der Seewolf stieg kurz entschlossen in die Wanten auf, bis er die Höhe des Marses neben Dan erreicht hatte. Er hob den Kieker und spähte nach Norden. Die Westküste der Inseln krümmte sich wie der Schwanz eines Skorpions in östliche Richtung um. „Vier Schiffe", sagte Dan. Hasard nickte. .Aber die segeln nicht, und sie treiben auch nicht", murmelte er. Dan lachte leise. „Ganz klar, Sir, die sind aufgebrummt." Es gab keinen Zweifel. Hasard erkannte bei längerem Hinsehen, daß zwei der gestrandeten Frachtschiffe erhebliche Krängung aufwiesen. Daher also die Schreie, die man gehört hatte! Und die Befehlsstimmen, die sekundenlang von einer Bö herübergetragen worden waren. Denn, soviel wurde nun erkennbar, die vier aufgebrummten Segler waren nicht allein. Drei andere Galeonen befanden sich weiter westlich, schwammen frei und hatten es sich offenbar zum Ziel gesetzt, den aufgelaufenen Schiffen Hilfe zu leisten und die Mannschaften abzubergen. Zwischen den frei vor Treibanker liegenden Galeonen und den Aufgelaufenen war ein reger Pendelverkehr mit Jollen eingerichtet worden. „Du meine Güte", brummte Hasard mit verdutztem Kopfschütteln. Er hatte den Kieker heruntergenommen und sah Dan an. „Da haben wir mal wieder so eine richtig schön verrückte Situation. Statt angreifen und in die Vollen gehen zu können, müssen wir auf die Schiffbrüchigen Rücksicht nehmen." „Na und?" entgegnete Dan in herausforderndem Tonfall. „Ist doch bestens so!" „Wie meinst du das?" „Ganz einfach. Wir warten, bis sie ihre Leute abgeborgen haben, und dann holen wir uns die feinen Sachen aus den Wracks. Wir brauchen praktisch nur noch abzuräumen vom gedeckten Tisch."
„Klingt ja höllisch einfach", entgegnete der Seewolf und grinste. „Wie sieht dein Rezept für den Fall aus, daß sie selber abzuräumen gedenken?" Dan O'Flynn grinste zurück. „So was müssen wir ihnen natürlich verbieten. Ausdrücklich, Sir." Hasard stieß lächelnd die Luft durch die Nase, gab ihm einen Wink, und gemeinsam enterten sie ab. Auf ein Handzeichen des Seewolfs übernahm Bob Grey den Posten des Ausgucks im Mars. Hasard begab sich unterdessen zur Backbordverschanzung des Achterdecks und unterrichtete Thorfin und Ben über die Einzelheiten, die Dan und er erspäht hatten. Beide waren sofort mit dem Vorschlag des Seewolfs einverstanden. Befehlsstimmen ertönten auf den Decks. Die Treibanker wurden hochgeholt, gleichzeitig flitzten die Hands in den Wanten hoch, um die Segel zu setzen. Hart am Wind törnten die drei Schiffe gleich darauf über Backbordbug westwärts. Die Zeit bis zur ersten Wende nutzten die Männer an Bord der „Isabella", um vorsorglich Gefechtsbereitschaft herzustellen. Die Crews der „Chubasco" und von „Eiliger Drache" folgten ihrem Beispiel. Wenn es hart auf hart gehen sollte, mußte man unliebsamen Überraschungen vorbeugen. Zwar handelte es sich bei den drei freiliegenden Galeonen um Handelssegler mit sicherlich geringer Armierung. Doch das Beispiel der „Santa Barbara" hatte gezeigt, daß auch zwei Culverinen erheblichen Schaden anrichten konnten, wenn einem durch eine Teufelei des Gegners die Hände gebunden waren. Auf der „Isabella" war es Al Conroy, der mit gewohnter Umsicht und doch zügig die Klarierung der Geschütze überwachte. Auf beiden Seiten wurden die 17-Pfünder und die 25-Pfünder geladen und die Stückpforten geöffnet. Sand wurde auf den Decksplanken ausgestreut, Pützen mit Wasser zum Löschen etwaiger Brände bereitgestellt In der Kombüse war Mac Pellew damit beschäftigt, die gußeisernen Becken mit der i glühenden Holzkohle zu füllen, die dann den Geschützmannschaften zum Entfachen ihrer Lunten dienen würden. Während weitere Männer eine Kette bildeten und Kugeln und Kartuschen aus Munitionskammer und Pulverkammer an Deck beförderten, harrten die jungen Frauen vom Stamm der Arawakindianer angstvoll im Mannschaftslogis aus.
Auf Anweisung des Seewolfs hatten sie dort zu bleiben, bis eine gegenteilige Order erfolgte. Zwar wußten die Ladys, daß ein Gefecht nur bei Gegenwehr stattfinden würde, doch sie waren realistisch genug, auch zu wissen, daß die Entscheidung darüber von winzigen Kleinigkeiten abhängen konnte. Und manchmal ergaben sich solche Entscheidungen, ohne daß die Beteiligten es wirklich wollten. Die Arawaks waren keine Seefahrer, doch sie hatten ihre Erfahrungen mit der See ebenso wie mit Auseinandersetzungen mit Feinden, die von See her gegen sie vorgedrungen waren. Rechtzeitig vor der Wende war die Gefechtsbereitschaft an Bord der drei Schiffe des Bundes der Korsaren hergestellt. Schön mit dem nächsten Schlag konnten Hasard und seine Gefährten die Schiffe an der Westküste der Bermudas anliegen. Natürlich hatten die Spanier sie inzwischen längst gesichtet. Das Ergebnis dieser Feststellung war offenkundig. Grinsend beobachteten die Arwenacks und ihre Freunde, wie der JollenPendelverkehr zwischen den aufgebrummten und den freien Galeonen immer hektischer wurde. Die Offiziere auf den Achterduchten schrien sich die Kehle aus dem Hals, um die armen Kerle an den Riemen zu noch höherer Schlagzahl anzutreiben. Die Riemenblätter peitschten das Wasser, und die Bootsgasten pullten, als säße ihnen der Gehörnte bereits im Nacken. Aber letzteres lag weniger an den Befehlen ihrer Vorgesetzten als vielmehr am Anblick der herannahenden Segler, die Flagge gesetzt hatten. Diese Flagge zeigte auf schwarzem Grund goldfarbene gekreuzte Säbel. Es war das Symbol des Bundes der Korsaren, das bei den Spaniern allmählich bekannt war und für angemessenen Respekt sorgte. Im Fall des Geleitzuges war die Erinnerung so frisch, daß den Bootsinsassen trotz ihres perlenden Schweißes ein kalter Schauer über den Rücken lief. Die höhere Schlagzahl nutzte ihnen herzlich wenig. Mit den Schiffbrüchigen waren die Jollen derart überladen, daß sie plump und schwer im Wasser lagen. Die panikartigen Anstrengungen erschienen den Beobachtern geradezu sinnlos. „Die haben mal wieder eine schlechte Meinung von uns", sagte Dan O'Flynn kopfschüttelnd.
„Dabei sollte man sich wirklich fragen, wie sie darauf kommen", entgegnete der Seewolf. „Haben wir jemals auf Schiffbrüchige gefeuert? Oder überhaupt auf Wehrlose?" „Ich glaube, das ist nicht der Punkt", sagte Dan. „Bist du sicher, daß die Señores da drüben wirklich nur Angst um ihr Leben haben? Denen geht es doch wohl eher um den Mammon, den sie in ihrem Mutterland anlegen und sichern wollen. Jetzt sehen sie ihren Wohlstand in weite Ferne gerückt, vielleicht für immer unerreichbar." Hasard nickte lächelnd. „Schlimme Aussichten, die für diese Leute wirklich ein Grund zur Panik sind. Du hast recht, Dan. Manche denken in ihrer unbeschreiblichen Gier nur an Gold, Silber und Perlen und wissen den Wert des Lebens an sich überhaupt nicht zu schätzen." Weder Hasard noch einer der anderen konnte zu diesem Zeitpunkt auch nur im entferntesten ahnen, welches Paradebeispiel für diese Denkweise ihnen sehr bald begegnen sollte. Hasard verständigte sich mit Ben Brighton, der mit der „Chubasco" jetzt an Steuerbord der „Isabella" segelte. „Ben!" rief der Seewolf, indem er mit den Handflächen einen Trichter vor dem Mund formte. „Du hast mit der Karavelle den geringsten Tiefgang." „Schon verstanden, Sir!" rief Ben zurück. „Wir stoßen vor und sehen ein bißchen nach dem Rechten." „Verklart den Dons, daß sie ihre Leute in Ruhe abbergen können. Aber die Fracht hat unangetastet zu bleiben." „Aye, aye, Sir!" war Bens Antwort. Dann waren nur noch seine Befehle zu hören. Die „Chubasco" nahm direkten Kurs auf die drei vor Treibanker liegenden Frachtgaleonen. 5. Vom Achterdeck der Karavelle aus beobachteten Ben Brighton und Don Juan de Alcazar gemeinsam das Geschehen. Die Reaktion der Spanier an Bord der Frachtgaleonen konnte bei ihnen nur ein mitleidiges Lächeln erwecken. Wuhling war an Bord der drei Segler entstanden. Befehle gellten, und die Decksleute jagten in wilder Hast die Wanten hinauf, um Segel zu setzen.
„Die wollen allen Ernstes die Flucht ergreifen", sagte Don Juan ungläubig. Ben Brighton nickte. „Ihre Nerven sind wahrscheinlich nicht mehr die besten. Bestimmt haben sie nur unsere offenen Stückpforten gesehen. Das reicht ihnen, um restlos durchzudrehen." „Stimmt. Dabei müßten sie genauso gut erkennen können, daß sie der „Chubasco" nicht davonlaufen können." Die Besatzungen der Frachtgaleonen schafften es nicht einmal mehr rechtzeitig, die Geitaue zu lösen, da war die Karavelle bereits auf Rufweite heran. Ben Brighton preite das Achterdeck der Galeone an, die ihnen am nächsten war. „Wer ist euer Capitän?" Seine Stimme dröhnte mit metallischem Klang über die Wasserfläche. Eine der betreßten Figuren trat an die Steuerbordverschanzung des Achterdecks und hob den rechten Arm. „Hier, Señor! Capitán Ernesto Villado zu Ihren Diensten!" „Welch ausgesuchte Höflichkeit", sagte Don Juan leise und grinste dabei. „Ein vernünftiger Mann", entgegnete Ben Brighton. „Er weiß eben, wie man sein Mäntelchen richtig in den Wind hängt." Laut antwortete Ben, der spanischen Galeone zugewandt: „Ausgezeichnet, Capitán! Wir sind Korsaren. Im Namen meiner Gefährten erteile ich Ihnen folgende Order: Die Fracht auf den aufgelaufenen Galeonen bleibt von Ihnen unangetastet. Im übrigen haben wir nicht die Absicht, das Abbergen der Mannschaften zu stören oder ein Blutbad anzurichten. Bin ich verstanden worden?" „Jawohl, Señor!" brüllte der Capitán zurück, und es klang beinahe erfreut. Don Juan hatte sein Spektiv angesetzt. „Die sind regelrecht erleichtert", stellte er fest. „Da geht das allgemeine Aufatmen um." „Kein Wunder", entgegnete Ben, „wenn man immer nur an die Märchen von den blutrünstigen Piraten glaubt." Mit einem Handzeichen gab er den Spaniern zu verstehen, daß sie das Abbergen fortsetzen sollten. Die Decksleute enterten aus den Wanten ab. Kurze Zeit später wurde der Pendelverkehr zwischen den Wracks und den drei freien Galeonen wieder aufgenommen.
Die weitere Entwicklung der Dinge bahnte sich ohne jegliche Schwierigkeiten an, und es schien, als würde das Vorhaben der Arwenacks und ihrer Gefährten reibungslos vonstatten gehen. Ben Brighton ließ sich mit der „Chubasco" sacken, so daß er vor Treibanker eine Position achteraus zwischen den drei freiliegenden Schiffen und dem Riffbereich einnahm. Auf diese Weise konnte der Pendelverkehr am besten beobachtet werden. Ben und Don Juan würden sich für die Dauer der Bergungsmaßnahmen mit dem Spektiv abwechseln. Möglich war immerhin, daß die Dons in dem wachsenden Sicherheitsgefühl, das ihnen die entspannte Situation bot, hinterlistig wurden. Sie konnten sich also zum Mogeln verleiten lassen und trotz allem versuchen, gewisse Kisten zu den .drei Galeonen hinüberzuschmuggeln. Die „Isabella" und „Eiliger Drache" geiten nun ebenfalls die Segel auf. In Luv der drei Galeonen, also an Backbord der Karavelle, gingen Hasard und der Wikinger vor Treibanker. Während Don Juan den nach wie vor ordnungsgemäßen Pendelverkehr der Schiffbrüchigen und ihrer Retter im Auge behielt, studierte Ben Brighton mit seinem Kieker die Riffzone. Deutlich war schon mit bloßem Auge zu erkennen, daß das Wasser im Riffbereich einen wesentlich helleren Farbton hatte. Damit hob es sich zumindest bei Tageslicht klar von der Tiefwasserzone ab. Und es gab eine weitere, noch eindeutigere Markierung der Gefahrenzone: Am Rand der Bänke brach sich das Wasser, so daß eine Art Schaumgürtel entstand. Bei Tage waren all diese Einzelheiten sichtbar und folglich weniger gefährlich vorausgesetzt, es herrschten einigermaßen gute Sicht- und Wetterverhältnisse. Schon bei Sturm war es aus mit den Markierungen, nach denen man sich richten konnte. Noch schlimmer wurde es bei Nebel, und nicht minder gefährlich war dieses Seegebiet vor der Küste der Bermuda-Inseln bei Nacht. Bis zur Küste waren es schätzungsweise an die vier, fünf Meilen - jedenfalls hier auf der Westseite. Man würde diese Küste nur mit einer Jolle erreichen können, soviel stand fest. Ein weiteres Herantasten würde selbst für die „Chubasco" zu riskant werden. Don Juan de Alcazar widmete seine Beobachtertätigkeit unterdessen hingebungsvoll der Bergungsaktion seiner Landsleute.
Durch die meisterhaft geschliffenen Linsen des Spektivs sah er die Szenen so deutlich wie aus unmittelbarer Nähe. Auch in den Gesichtern der Bootsgasten war eine gewisse Erleichterung zu erkennen. Hatten sie anfangs noch damit rechnen müssen, nicht nur die Mannschaften, sondern auch noch die gesamte Ladung der havarierten Frachtschiffe zu bergen, so war jetzt ein klares Ende abzusehen. Wenn der letzte Mann von Bord der aufgebrummten Kähne geholt worden war, bedeutete das Verschnaufen, Pause! Die freundlichen Korsaren hatten dies ermöglicht. Don Juan lächelte bei dem Gedanken. Natürlich hegten die Kapitäne und Offiziere solche positiven Gedanken nicht. Aber sie hatten es auch nicht nötig, selbst Hand anzulegen. Ein Mann von Rang und Adel war eben nicht dazu ausersehen, sich die Finger zu beschmutzen. Das galt auch in Krisen oder sogar Katastrophensituationen. Don Juan de Alcazar empfand Abscheu. Diese Kavaliere in ihrer bemerkenswert guten Kleidung zu sehen, wie sie die Leute antrieben und mit Schimpfworten traktierten, weckte in ihm häßliche Erinnerungen. Er hatte selbst einmal auf diese Seite gehört, und er hatte nichts begriffen. Erst die Jagd auf einen Mann, der weisungsgemäß sein Todfeind sein sollte, hatte für ihn den Anfang einer neuen Denkweise gebracht. Und nach und nach war es dann diesem Todfeind und seinen Verbündeten gelungen, ihm die Augen zu öffnen jenem Philip Hasard Killigrew, der heute sein Freund war, wie alle anderen aus dem Bund der Korsaren. Die vier Galeonen waren hoffnungslos aufgebrummt. Das bedeutete, daß sie sich unter gar keinen Umständen mehr von den Riffs ziehen ließen. Das war allein schon deshalb nicht möglich, weil die dickbäuchigen Segler zum Teil schwere Lecks haben mußten. Bei allen vier Galeonen stand das Wasser mit Sicherheit auch mehr als knietief in den Laderäumen. 'Da war es für Leckarbeiten ohnehin zu spät. Ohne die Riffs, denen sie letztlich zum Opfer gefallen waren, würden alle vier Havaristen zweifellos sofort separat auf Tiefe gehen. Die Kapitäne hatten dementsprechend richtig gehandelt, als sie beschlossen, die beschädigten Galeonen aufzugeben. Der Zahn der Zeit würde den Wracks den Rest geben. Stürme und Brandung würden beharrlich ihre Arbeit leisten, bis von diesen
Seglern nichts mehr zu sehen war wie von so vielen anderen, die auf dem berüchtigten Schiffsfriedhof ihr nasses Grab gefunden hatten. Don Juans Optik erfaßte eine Galeone, die besonders stark nach Steuerbord krängte. An eben jener Seite legten auch die Boote an, die zur Rettung der Besatzung eintrafen. Geradezu bequem konnten die Schiffbrüchigen vom Schanzkleid des Wracks aus in die Jollen steigen. Unvermittelt wurde dort ein Pulk von Männern erkennbar, der sich mit viel Gestikulieren und hektischem Hin und Her besagtem Steuerbordschanzkleid näherte. Beinahe belustigt sah Don Juan die Ursache des Theaters, als sich das Gedränge ein wenig lichtete. Der, um den so viel Aufhebens gemacht wurde, war ein unglaublich dicker Kerl. Das ließ mehrere Rückschlüsse zu. Erstens mußte es sich um eine hochgestellte Persönlichkeit handeln, denn nur solche konnten es sich leisten, dem Nichtstun zu frönen und sich einen so ungeheuren Wanst anzufressen. Zweitens mußte der Fettsack trotz seines Äußeren mächtigen Respekt genießen. Denn die Decksleute behandelten ihn mit hündischer Unterwürfigkeit, obwohl gerade sie allen Grund hatten, sich seinetwegen vor Lachen auszuschütten. Da der Dicke im Gegensatz zu den einfachen Decksleuten keinerlei körperliche Tätigkeit gewohnt zu sein schien, mußten sie ihm helfen, über das Schanzkleid zu steigen. Damit allein war das Problem aber noch nicht gelöst. Es mußte den Leuten auch noch gelingen, ihn dergestalt in die Jolle zu bugsieren, daß diese nicht kenterte. Keine einfache Sache. Wenn sie nicht aufpaßten, plumpste ihnen die Last von schätzungsweise drei Zentnern haltlos auf die Duchten. Den Dicken dann auch noch vor dem Absaufen zu bewahren, würde eine schier unlösbare Aufgabe sein. Es sei denn, man schaffte es noch, ihn mittels eines Seils und einer Rahnock aus dem nassen Element zu hieven. Ihn auf eben jene Weise ins Boot zu fieren, schien wegen der Schräglage der Galeone zu große Schwierigkeiten zu bereiten. Don Juan konnte den offenbar hochwohlgeborenen Fettsack nur von hinten und von der Seite sehen. Prächtig genug gekleidet war er allemal. Das bestickte Wams war jedoch sichtlich geknautscht und zerknittert, und die Perücke schien auch ein wenig verrutscht
zu sein. Über der rechten Schulter des Dicken baumelten zwei Säcke, die er krampfhaft festhielt. Einer der Säcke hing vor seinem mächtigen Bauch, der andere auf dem Rücken. Über den Inhalt der Säcke konnte Don Juan nur rätseln. Daß es sich aber um etwas Wertvolles handelte, war offenkundig. Diesen einen Mann ins Boot zu bringen, dauerte länger als das Abbergen von jeweils zehn Mann bei einer der übrigen Jollen. Es gelang dem halben Dutzend Helfer schließlich, den Dicken auf die Achterducht des Bootes zu bugsieren. Don Juan fragte sich, wie man bei dem dicken Achtersteven des Kerls auch noch die Ruderpinne bedienen sollte. Just in diesem Augenblick ließ sich der Dicke schnaufend sinken. Unter der vollen Last seines Gewichts stieg der Bug der Jolle hoch ungeachtet der Bootsgasten, die mit beigelegten Riemen auf den Duchten ausharrten. Diese Art des aufsteigenden Bugs war Don Juan nicht unbekannt. Während er versuchte, sich zu erinnern, woher es ihm so vertraut war, sah er zum ersten Male das Gesicht des Dicken, als die Jolle vom Wrack abgestoßen wurde und auf Kurs ging. Vor Überraschung stieß Don Juan einen langgezogenen Pfiff aus. Ben Brighton sah ihn verblüfft von der Seite an. „He, was haut dich aus den Stiefeln? Du wirst ja ganz blaß um die Nase." Der hochgewachsene Spanier holte tief Luft. „Jetzt halt dich fest, Ben", sagte er tonlos. „Der Dicke da im Beiboot..." „In welchem?" „Es legt gerade von der Galeone ab, die ganz an Steuerbord der gestrandeten Schiffe liegt." Ben hob sein Spektiv und blickte in die angegebene Richtung. „Wahrhaftig, ein Koloß", murmelte er. „Erkennst du ihn nicht?" „Nein." Ben Brighton setzte den Kieker an und sah seinen Nebenmann wieder an, mit gefurchter Stirn diesmal. „Sag mal, du willst doch nicht etwa behaupten. Don Juan schüttelte energisch den Kopf. „Ich behaupte gar nichts. Ich stelle ganz einfach fest. Dieser Fettwanst... dort auf der Achterducht der Jolle ist kein anderer als
Don Antonio de Quintanilla, seines Zeichens Gouverneur von Kuba!" * Für den Zweiten Offizier jener Galeone, zu der das Beiboot gehörte, war zwangsläufig kein Platz mehr auf der Achterducht. So war er gezwungen, sich mit dem Rücken zur Fahrtrichtung auf die nächste Ducht zu setzen und die Ruderpinne in gebeugter Haltung zu bedienen. In kurzen Abständen mußte er sich umdrehen und aufrichten, da es ihm anders nicht möglich war, das Einhalten des Kurses zu überwachen. Don Antonio de Quintanilla betrachtete den geplagten Offizier mit der trägen Gleichgültigkeit einer Kröte, die eine Fliege vor sich krabbeln sieht und sie mit Mißachtung straft, da ihr von vornherein klar ist, daß sie der Beweglichkeit eines solchen Insekts nichts Ebenbürtiges entgegenzusetzen hat. Mit einer knappen Bewegung, die sein mächtiges Kinn dennoch in schwabbelndes Wogen brachte, hob Don Antonio den Kopf. Sein Blick aus wäßrigen Augen glitt über die Bootsgasten, die keuchend pullten und die letzten Kraftreserven mobilisierten. Jene, die nahe am Bug saßen, hatten zusätzliche Schwierigkeiten dadurch, daß sie die Riemen steiler halten mußten. Wenn eine kräftigere Woge unter den hochstehenden Bug rollte, zuckten die Männer unwillkürlich zusammen. Würde der Fettsack mit seinem Gewicht das Boot achtern vollaufen lassen? Auf alle Fälle würden sie erst dann aufatmen, wenn sie das wabbelige Monstrum an Bord ihrer Galeone abgeliefert hatten. Aber bis zu dem Zeitpunkt, das stand zu befürchten, war es noch ein weiter Weg. Einige schnaufende Atemzüge lang betrachtete de Quintanilla die Bootsgasten mit seiner krötenhaften Gleichgültigkeit. „Schneller", sagte er unvermittelt. Die Männer wunderten sich lediglich über den unangenehmen hohen Klang seiner Stimme. Die Bedeutung des Wortes war ihnen nicht einmal bewußt geworden, da es so beiläufig geklungen hatte. Während sie in gleichbleibendem Rhythmus weiterpullten, richteten sich ihre Blicke mit ungläubigem Blinzeln auf den Feisten.
Weltvergessen griff dieser in eine bauchige Tasche seines Wamses und brachte einen kleinen Lederbeutel zum Vorschein. Mit seinen fleischigen Fingern zupfte er aus der Öffnung des Beutels hauchdünnes Fettpapier und griff dann mit Daumen und Zeigefinger der Rechten tief hinein. Den Männern sackten die Kinnladen weg. Um ein Haar hätten sie das Pullen vergessen. Der Zweite Offizier vergaß seinen Kontrollblick nach vorn und konnte nur noch auf das leuchtend rote Kügelchen starren, das der Koloß da unmittelbar vor seiner Nase zum Vorschein gebracht hatte. Das Kügelchen strömte einen süßlichen Duft aus. Der Offizier überlegte, um was es sich handeln könne. Als der Dicke das zweite Kügelchen hervorholte und zwischen seine genußvoll gespitzten Lippen stopfte, fiel es ihm ein. Kandierte Kirschen! Weder der Offizier noch einer der Bootsgasten hatten so etwas jemals erlebt. Da holten sie einen Schiffbrüchigen von einem fast abgesoffenen Kahn, und der hatte von seinen Habseligkeiten ausgerechnet kandierte Kirschen gerettet! Bevor er das dritte Kügelchen schmatzend hinter seinen Wulstlippen verschwinden ließ, hob Don Antonio den Kopf und blickte blinzelnd auf das niedere Volk, als sei ihm etwas höchst Unbotmäßiges aufgefallen. „Schneller, hatte ich befohlen", sagte er näselnd. Der Zweite Offizier, der ihm in seiner unbequemen Haltung ohne große Anstrengung die Schnallenschuhe hätte küssen können, räusperte sich. Don Antonios Blick fiel voller Unwillen auf ihn. „Haben Sie etwas zu bemerken, Offizier? Wenn es so sein sollte, dann dürfte es sich höchstens um eine Erklärung handeln, warum mein Befehl nicht ausgeführt wird." Laut schmatzend verschlang er die dritte kandierte Kirsche. Der Zweite richtete sich auf und gab sich einen innerlichen Ruck. „Verzeihung, Señor Gouverneur", sagte er standhaft, „die Männer können nicht schneller pullen." Don Antonio hielt mitten in der Bewegung inne, mit der er Kirsche Nummer vier aus dem Beutel pflücken wollte. Jetzt sah er etwa so aus, wie man sich einen lauernden Kraken vorstellt, der
seine eigentliche Masse nicht bewegt, sondern nur einen Fangarm ausfährt, sobald er sich seines Opfers sicher ist. „Habe ich richtig gehört?" rief er schrill. „Sie können nicht? Sprachen Sie von Männern? Meinten Sie nicht eher Waschlappen?" Es gab niemanden unter den Bootsgasten, der dem Fettsack in diesem Moment nicht mit Wonne die Gurgel umgedreht hätte wenn er nur gekonnt hätte. „Ich bitte nochmals um Verzeihung, Señor Gouverneur", erwiderte der Offizier. „Die Männer haben bereits etwa fünfzig Personen abgeborgen. Ein gewisses Erlahmen der Kräfte ist bei einer solchen Leistung nicht zu vermeiden." „Erlahmen" der Kräfte?" wiederholte Don Antonio bissig. „Das Gegenteil sollte der Fall sein, Mann! Die Ehre, den Gouverneur von Kuba retten zu dürfen, müßte zu Höchstleistungen beflügeln. Ist das klar?" Der Offizier sah ein, daß es keinen Sinn hatte. „Jawohl, Señor Gouverneur." Er wandte sich halb zu den Bootsgasten um. „Ihr habt es gehört, Männer. Schlagzahl erhöhen!" Die Männer versuchten es, denn der Zweite hatte einen guten Ruf bei ihnen. Er war kein Schinder, und sie wollten ihn auf keinen Fall in die Pfanne hauen, indem sie sich seinen Anordnungen widersetzten. Es gelang ihnen tatsächlich, die Fahrt der Jolle noch ein wenig zu beschleunigen. Don Antonio de Quintanilla quittierte es mit einem zufriedenen Grinsen und stopfte die schon ins Auge gefaßte vierte kandierte Kirsche in seinen Mund. „Welch ein Süßer!" sagte eine laute und vernehmliche Stimme von einer der Duchten. Don Antonio zuckte zusammen. Um ein Haar verschluckte er sich. Ruckendes Auf und Ab seines Adamsapfels versetzte sein Mehrfachkinn in wellenartige Bewegungen. Die Schweinsaugen schienen hinter ihren Fettwülsten hervorzuquellen. Gleich darauf entrang sich seinem mächtigen Leib ein dröhnendes Rülpsen, da er zu hastig geschluckt hatte. „Wer war das?" keifte er, und kein Marktweib auf einer der Plazas von Havanna hätte unangenehmer geklungen. Die Gesichter der Bootsgasten waren wie eine starre, undurchdringliche Wand. Niemand antwortete, niemand gab auch nur mit
einem Zucken der Mundwinkel zu erkennen, daß er sich angesprochen fühlte. Der Zweite Offizier saß geduckt da. Er wagte nicht, den Kopf zu heben. In seiner Befürchtung, eines geradezu furchterregenden Gesichtsausdrucks gewahr zu werden, täuschte er sich keineswegs. Das feiste Gesicht des Fettsacks war zur Fratze verzerrt. Zu normalen Zeiten hatte er Aufsässige von dieser Sorte nach allen mörderischen Regeln hinrichten lassen. Erst ein bißchen Pranger zum Vorkochen. Dann ein paar Tage Folter zum Weichkochen. Und schließlich ein hübscher Scheiterhaufen zum Garen. Beispielsweise. Nicht weniger vergnüglich war es gewesen, die Delinquenten mit Hilfe stämmiger Ackergäule zu vierteilen. Das Rädern war ebenfalls eine köstliche Prozedur gewesen. Dabei hatte man besonders das Konzert der lang anhaltenden Todesschreie genießen können. Nichts dergleichen konnte man an Bord eines Schiffes veranstalten. Das Kielholen war nach Meinung von Don Antonio de Quintanilla eine langweilige Angelegenheit, daß er sich nichts Rechtes darunter vorstellen konnte. Nun gut, dann mußte man den Betreffenden eben auspeitschen lassen. Besser als nichts. „Ich frage zum letzten Mal", sagte er gefährlich leise. „Wer war das?" Wieder dachte keiner daran, auch nur einen Ton von sich zu geben. Doch wenn die Männer angenommen hatten, daß der Dicke so gemütlich war, wie sein Äußeres vermuten ließ, dann hatten sie sich getäuscht. „Wie ihr wollt, ihr Bastarde", erklärte er beinahe belustigt. „Dann werdet ihr eben allesamt ausgepeitscht. Mitgefangen, mitgehangen, wie man so schön sagt. Alle für einen, nicht wahr? Es sei denn, einer entschließt sich, den Mund aufzutun." Seine wäßrigen Schweinsaugen nahmen einen lauernden Ausdruck an. Doch er sah sich seinerseits getäuscht, wenn er geglaubt hatte, einen bereitwilligen Denunzianten wachgerüttelt zu haben. Lieber nahmen sie alle die Peitsche hin, als daß sie einen der ihren verrieten. „Offizier", sagte de Quintanilla gallig. „Sie werden die Angelegenheit klären. Ausgepeitscht werden die verfluchten Bastarde so
oder so. Ihre Frechheit genügt. Von Ihnen erwarte ich trotzdem, daß Sie den Kerl herausfinden, der sich diese Unverschämtheit geleistet hat." Der Zweite straffte seine Haltung. „Ich fürchte, dazu werde ich nicht in der Lage sein, Señor Gouverneur." Der Dicke stierte ihn an. „Ist das Ihr Ernst, Kerl? Sich selbst ein Armutszeugnis auszustellen? Widerrufen Sie, dann will ich diesen Unsinn nicht gehört haben, den Sie da eben von sich gegeben haben." „Tut mir leid, Señor Gouverneur, aber ich kann Ihnen keine andere Antwort geben. Niemand wird in der Lage sein, den Schuldigen zu finden, wenn er sich nicht freiwillig meldet." Der Dicke lief krebsrot an, und die Explosion äußerte sich bei ihm in einer schrillen Tirade, die allen Männern im Boot unangenehm in die Trommelfelle stach. „Sie sind unfähig, Sie Schwachkopf! Als Schiffsoffizier müssen Sie wissen, wie man dieses Pack zur Räson bringt! Außerdem ist Ihr Verhalten Befehlsverweigerung! Ich werde dafür sorgen, daß Sie degradiert werden, zum einfachen Seemann, darauf können Sie sich verlassen! Aus der Traum von der Karriere! Capitán werden Sie nie im Leben, darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel." „Jawohl, Señor Gouverneur", sagte der Zweite nur. Aus unerfindlichem Grund begann die Jolle plötzlich zu schwanken. Mit knapper Mühe konnte sich Don Antonio festhalten, um nicht außenbords zu kippen. Als er den Kopf hob, sah er daß sie alle grinsten. Richtig unverschämt. „Ihr Lumpenhunde!" schrie er mit sich überschlagender Stimme. „Ich bringe euch alle an den Galgen! Ihr verfluchten Bastarde, ihr Drecksäcke! Jetzt seid ihr reif! Jetzt habt ihr euch selbst das Grab geschaufelt, das schwöre ich euch!" Je mehr er sich in seine Raserei steigerte, desto weniger nahmen sie ihn von nun an ernst. Sie wußten, daß ihr Kapitän andere Sorgen hatte, als sich den Wutausbrüchen dieses geifernden Kolosses zu beugen und einen Teil seiner Mannschaft aus lächerlichen Gründen zu bestrafen. 6.
Ben Brighton hatte das Gefühl, vor Verblüffung nach Luft schnappen zu müssen. „Das gibt's doch gar nicht!" stieß er hervor. „Das ist doch einfach nicht möglich." „Doch, das gibt es", entgegnete Don Juan verbissen. „Vielleicht eine Verwechslung", sagte Ben. Minutenlang hatte er sich den Dicken durch das Spektiv angesehen, diese widerliche fette Kröte, die die Bootsgasten offenbar wie den letzten Dreck behandelte. All das paßte zu de Quintanilla das abstoßende Äußere und das menschenverachtende Verhalten. Aber ein so unglaublicher Zufall gab denn doch Anlaß zum Zweifeln. Konnte es nicht sein, daß es Fettsäcke gab, die dem sehr ehrenwerten Gouverneur von Kuba ähnelten? Bei dem feinen Leben, das die hochwohlgeborenen Dons in der Neuen Welt führten, war das nicht einmal ausgeschlossen. „Keine Verwechslung möglich", widersprach Don Juan. „Ein solches Gesicht vergißt man nicht, Ben. Nein, ich muß mich verbessern: eine solche Visage!" Ben setzte noch einmal das Spektiv an und spähte zu der Jolle hinüber. Offenbar hatte der Fettsack seine Keiferei jetzt aufgegeben. Die Männer pullten stumm und verbissen, und das achterlastige Boot schob sich unter den Riemenschlägen schwerfällig durch die Fluten. Aufgedunsen wie eine gestrandete Qualle hockte das feiste Monstrum auf der Achterducht. Der Offizier, der die Ruderpinne in so unbequemer Haltung bediente, hatte zwar keine schwere körperliche Arbeit zu leisten, aber leid tun konnte er einem trotzdem. Ben Brighton war nun endgültig überzeugt. „In Ordnung", sagte er. „Wir haben Grund genug, unseren Beobachtungsposten vorübergehend zu verlassen. Der Seewolf muß informiert werden. Und zwar schleunigst." Im Handumdrehen wußten auch die Männer an Deck Bescheid. Die unglaubliche Neuigkeit verhalf ihnen zu ebensolcher Schnelligkeit. Selten zuvor hatten sie in einer solchen Windeseile den Anker aufgeholt und die Segel gesetzt. Minuten später enterten sie bereits von neuem in die Wanten auf, um das Tuch zu bergen, als die „Chubasco" an Backbord der „Isabella" längsseits ging. Die knappen Worte, die Ben Brighton dem Seewolf zurief, versetzten sämtliche Arwenacks in grenzenloses Staunen. Kaum an-
ders erging es auch dem Wikinger und seinen Mannen, die es gleichfalls mithörten. Hasards Reaktion war im ersten Moment nicht anders als die von Ben Brighton. Doch dann genügte ein Blick in Don Juans Gesicht, um zu wissen, daß der Freund sich nicht täuschte. „Bist du völlig sicher, Juan?" fragte Hasard dennoch. „Einen heiligen Eid darauf!" erwiderte der hochgewachsene Spanier mit metallen klingender Stimme. Der Seewolf nickte. Natürlich kannte Don Juan den fetten Bastard aus Havanna viel zu genau. Ein Irrtum war wirklich ausgeschlossen. Was der Kerl allerdings ausgerechnet auf einer Frachtgaleone innerhalb des Geleitzugs zu suchen hatte, war schleierhaft im Moment jedoch unwichtig. Nach Spanien würde er jedenfalls nicht segeln. Das stand fest. „Wir holen ihn uns", sagte der Seewolf. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Männer an Bord der drei Schiffe wären in freudiges Gebrüll ausgebrochen. Denn ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt war keiner von ihnen darauf gefaßt gewesen, daß man plötzlich Gelegenheit erhalten würde, dem Bastard de Quintanilla seine Schandtaten heimzuzahlen. Die Arwenacks und ihre Freunde bewahrten Ruhe, denn sie wollten dem fetten Monstrum unter keinen Umständen den Gefallen tun, ihn frühzeitig zu warnen. Nach knapper Absprache nahm Ben Brighton mit der „Chubasco" wieder die alte Position ein, den Beobachtungsstandort hinter den Galeonen der Spanier. Die kurze Zeit, in der die Karavelle diese Position verlassen hatte, konnte nicht ausgereicht haben, um nennenswerte Schätze von den gestrandeten Frachtschiffen verschwinden zu lassen. * Auf Anweisung Hasards begab sich Dan O'Flynn wieder hinauf in den Großmars. Von nun an mußte lückenlos beobachtet werden, was sich an Bord jener Galeone abspielte, die für den feisten de Quintanilla Zufluchtsort geworden war. „Jakobsleiter an Steuerbord ausgebracht!" war denn auch Dons erste Meldung.
Hasard zeigte klar und hob das Spektiv wieder ans Auge. Er hatte gesehen, wie das Boot mit Don Antonio auf die betreffende Galeone zugepullt worden War. Jetzt war die Jolle bereits längsseits gegangen. Da die „Isabella" in Luv der drei spanischen Galeonen lag, war jene Steuerbordseite von ihrer Position aus nicht überschaubar. Was sich auf dem Achterdeck und auf der Kuhl des Spaniers abspielte, konnte Hasard jedoch sehen. Ausgesprochenes Durcheinander herrschte dort, und es bestand kaum ein Zweifel, daß der Fettsack de Quintanilla die Ursache war. Sogar der Capitän und seine Offiziere hatten ihren angestammten Platz auf dem Achterdeck verlassen. Gestikulierend mischten sie sich unter die Mannschaften an Deck. Insgesamt erweckten die Dons in ihrer Wuhling einen kopflosen Eindruck. Ben hatte berichtet, daß Don Antonio Ärger mit den Bootsgasten gehabt hatte. Handelte es sich jetzt darum, daß er auf einer sofortigen Bestrafungsaktion bestand, wie das zu seiner Art paßte? Dan O'Flynn belehrte den Seewolf gleich darauf eines besseren. „Die kriegen ihn nicht an Bord!" rief Dan, und die gesamte Meute an Bord der „Isabella" mußte sich beherrschen, um nicht in brüllendes Gelächter auszubrechen. Dan schilderte ihnen, was sich abspielte, soweit er es erkennen konnte. Nach wortreichem Hin und Her schien der Capitän einen Entschluß gefaßt zu haben. Einige Decksleute mußten dem hohen Gast entgegenklettern, und offenbar wurde von unten kräftig nachgeschoben. Die Spannung, die über Gelingen oder Nichtgelingen der Aktion an Bord des Spaniers herrschte, griff dank Dans detailgetreuer Schilderung auch auf die Arwenacks über. „... jetzt zupft der Capitän sorgenvoll an seinem Knebelbart ein Offizier hält sich erschrocken die Hand vor den Mund zwei Decksleute flüchten nach Backbord die sehen so aus, als ob sie gleich loswiehern..." „Und was tun sie dagegen?" rief Smoky. „Verdammt, das Rezept könnte uns vielleicht auch helfen." Noch drohender war die Gefahr eines schallenden Gelächters durch die Bemerkung des Decksältesten. Doch Dan O'Flynn fand die richtige Abhilfe.
„Die haben sich Lappen in den Mund gestopft! Sind schon richtig rot, die armen Kerle!" Niemand nahm ihm die Behauptung ab. Aber immerhin konnte man sich nun wieder auf die weitere Schilderung des Geschehens konzentrieren. Kapitän und Offiziere der Frachtgaleone spähten in angespannter Haltung über das Schanzkleid. Nicht alle Decksleute waren gleichermaßen interessiert. Einige wandten sich ab und waren nach der anfänglichen Belustigung über das Schauspiel offenbar angewidert. Andere, die weiter abseits standen, schlossen Wetten ab. Über die Frage, welchen Inhalt diese Wetten hatten, brauchten die Arwenacks nicht lange nachzudenken. Würden die Helfer es schaffen, den Dicken an Bord zu bringen? Oder würde er auf halbem Weg abstürzen und in einer Riesenfontäne in den Fluten versinken? Letzteres mußte aber nicht unbedingt die Folge eines Absturzes sein. Denen, die von unten nachschoben, konnte es passieren, daß er sie mitriß und in der Jolle unter sich begrub. Für jene, die sich unterhalb des mehrere Zentner schweren Kolosses befanden, war es also durchaus keine ungefährliche Angelegenheit. Minuten reihten sich wie eine kleine Ewigkeit aneinander. Dan O'Flynn mußte seine Szenenbeschreibung einstellen, da sich nichts mehr tat. An Bord der spanischen Galeone starrten sie lediglich weiter über die Verschanzung, und die Wetter erhöhten ihre Einsätze. Dann, endlich, wurden die ersten Männer sichtbar, die hinuntergeklettert waren, um dem Dicken zu helfen. Ihre Gesichter waren rot vor Anstrengung. Selbst auf die Entfernung war zu erkennen, daß sie keuchten und ächzten. Sie hatten sich Taue diagonal über den Rücken gelegt und die Tampen offenbar unter dem Riesenhintern des Dicken verknotet. Männer an Deck packten zu und halfen den Keuchenden, die kurz vor der völligen Erschöpfung zu stehen schienen. „Eins begreife ich nicht, Dan!" rief der Seewolf. „Warum läßt der Capitän ihn nicht über die Großrahnock an Bord hieven?" „Vielleicht denkt er, die Großrah sei nicht stabil genug", erwiderte Dan. „Aber ich nehme an, es hat noch einen anderen Grund. Bestimmt weigert sich der Dicke, wie ein Rindvieh an Bord gebracht zu werden.
Seiner Würde als Gouverneur entspricht doch als mindestens die Jakobsleiter." „Rindvieh?" rief Sam Roskill prustend. „Ich würde diesen Kerl eher mit einem Walroß oder einer Seekuh vergleichen." Die Männer lachten glucksend und mußten sich abermals mächtig anstrengen, um nicht in einen dröhnenden Heiterkeitsausbruch zu verfallen. Nach weiteren Minuten näherte sich die schweißtreibende Schinderei der bedauernswerten spanischen Decksleute ihrem Ende. Das Wabbelgesicht des sehr ehrenwerten Gouverneurs tauchte über der Verschanzung auf. Es war gerötet, als hätte er selbst einen Teil der Anstrengung zu tragen. Die Schweinsaugen weit aufgerissen, griff er mit den wie Teigbeutel aussehenden Händen nach dem Schanzkleid. Die Helfer an Bord waren aufgeentert und sicherten den Koloß mit den Tauen, während die anderen von unten weiter nachschoben. Mit einer letzten gemeinsamen Anstrengung aller Beteiligten wurde es dann geschafft, den massigen Körper de Quintanillas über die Verschanzung zu wuchten. * Fluchtartig wichen Kapitän, Offiziere und Decksleute auseinander, als der Koloß Übergewicht kriegte und der Länge und Breite nach auf die Decksplanken rollte. Einer der Helfer konnte sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen. Die gewaltige Körpermasse des Dicken erfaßte seine Beine, walzte ihn nieder und hielt ihn erbarmungslos fest. Nur der Oberkörper des Mannes war noch frei. Er schrie und zappelte verzweifelt. Beherzt sprangen zwei Hands hinzu und versuchten, ihn freizuziehen. Doch sie mußten einsehen, daß sie dem armen Kerl eher die Arme ausgekugelt als einen Erfolg errungen hätten. Don Antonio de Quintanilla spielte unterdessen den Ohnmächtigen. Erst als ihn auf Anweisung des Kapitäns sechs Männer in die Senkrechte gewuchtet hatten, „erwachte" er wieder. Augenblicklich griff er nach den Säcken, die er sich über die Schultern ge-
hängt hatte. Zufriedenheit leuchtete aus seinem feisten Gesicht, als er feststellte, daß beide Säcke noch vorhanden waren. Den fast plattgewalzten Decksmann beachtete er nicht. Die anderen halfen dem vor Schmerzen wimmernden Mann auf die Beine und stellten zunächst einmal fest, daß er sich nichts gebrochen hatte. Die Quetschungen würde der Feldscher mit lindernden Mitteln versorgen. Don Antonio bedachte den Kapitän und die Offiziere mit einem beiläufigen Nicken. Sie hatten mit drei Schritten Abstand in der Nähe des Steuerbordniedergangs zum Achterdeck Aufstellung genommen. „Sie wissen, wen Sie vor sich haben?" sagte er näselnd, nahm sein Lederbeutelchen aus der Wamstasche, zupfte eine kandierte Kirsche heraus und stülpte seine Wulstlippen über das süße rote Etwas. Kapitän und Offiziere beobachteten es voller Faszination. Ein derartiges Zerrbild menschlicher Existenz kannten sie bislang nur vom Hörensagen. „Jawohl, Señor", antwortete der Kapitän. „Sie sind Don Antonio de Quintanilla, Gouverneur von Kuba. Natürlich hat es sich herumgesprochen, daß unser Geleitzug die Ehre hat, Sie als Passagier befördern zu dürfen." Der Anflug eines herablassenden Lächelns glitt über Don Antonios feistes Gesicht. „Nun denn", sagte er, nachdem er eine weitere kandierte Kirsche schmatzend zermalmt hatte. „Sie haben nunmehr die noch größere Ehre, den Gouverneur von Kuba von einem gestrandeten Schiff geborgen und in Sicherheit gebracht zu haben." Kapitän und Offiziere verneigten sich. Worin der Fettsack die Sicherheit sah, konnten sie zwar nicht ganz nachvollziehen. Doch sie widersprachen ihm nicht. Wahrscheinlich hatte er in der Sorge um Leib und Leben noch gar nicht mitgekriegt, daß drei Korsarenschiffe ganz in der Nähe vor Treibanker lagen. „Wir sind uns der Ehre bewußt, Señor Gouverneur", erwiderte der Kapitän mit einer nochmaligen Verbeugung. „Selbstverständlich stehen wir voll und ganz zu Ihren Diensten. Wenn ich mir allerdings den Hinweis erlauben darf..." Don Antonio unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung. Er stopfte seinen Kirschenbeutel in die Tasche zurück.
„Für Ihre Hinweise ist noch Zeit genug, Capitán. Zunächst dürfte es der Würde eines hohen Gastes an Bord wohl angemessen sein, daß man ihn im Kapitänssalon empfängt." Die Offiziere wechselten einen Blick mit ihrem Capitán. Jeder von ihnen dachte das gleiche. Sie hatten verdammt andere Sorgen, als ausgerechnet jetzt an einen Empfang zu denken. Aber Kerle wie dieser Fettsack waren wie eine Katze mit neun Leben. Sie fielen immer wieder auf die Füße, und man mußte sich höllisch vor ihnen hüten. Solche Widerlinge gelangten selbst aus den ungünstigsten Bedingungen heraus wieder zu Macht und Einfluß, und dann konnte es jedem schlecht ergehen, der es einmal gewagt hatte, sich gegen sie zu stellen. „Aber selbstverständlich, Señor Gouverneur", sagte der Capitán, und es gelang ihm, einen höflich-unterwürfigen Ton anzuschlagen. „Haben Sie einen besonderen Wunsch, was Speisen und Getränke zum Empfang betrifft? Unsere Kombüsenmannschaft ist natürlich umgehend zu Diensten, um für Ihr leibliches Wohl zu sorgen." „Angemessen", antwortete de Quintanilla mit gnädigem Nicken. „Ich beschränke mich zu dieser Tageszeit gewöhnlich auf zwei Flaschen Rotwein, einen gedünsteten Pökelschinken und ein paar Beilagen. Was die letzteren betrifft, mag Ihr Koch das verwenden, was an Bord vorrätig ist. Man darf auf See schließlich nicht allzu wählerisch sein. Habe ich recht?" „Jawohl, Señor Gouverneur", entgegnete der Capitän mit mühsam erzwungener Haltung. „Ich werde trotzdem veranlassen, daß das möglichste für Sie getan wird." Er gab die Order an den Dritten Offizier weiter, der höchstpersönlich in Richtung Kombüse loseilte. Der Zweite Offizier ließ aus der Jolle heraus über einen der Decksleute bei der Verschanzung nachfragen, ob er mit dem Abbergen der Schiffbrüchigen fortfahren solle. „Damit ist jetzt Schluß", sagte Don Antonio energisch, bevor der Kapitän eine Antwort geben konnte. Entgeistert sahen ihn der Capitän und der Erste Offizier an. „Ich verstehe nicht, Señor Gouverneur..." Der Dicke sah ihn aus zusammengekniffenen Schweinsaugen an. „Entscheidungen der Schiffsführung pflege ich nicht im Beisein von Mannschaftsdienstgraden zu erörtern, Capitän. Ich darf Sie
an den Empfang im Kapitänssalon erinnern. Dort ist Zeit und Gelegenheit." Der Capitän fügte sich und gab dem Decksmann ein Handzeichen, der Zweite möge mit der Jolle längsseits warten. Mit gnädigem Nicken gestattete es Don Antonio dem Kapitän, die Führung zu den Achterdecksräumen zu übernehmen. Der Kapitänssalon grenzte unmittelbar an die Heckgalerie, durch die Bleiglasfenster hatte man einen weiten Rundumblick. An Backbord waren die vor Treibanker liegenden Schiffe der Korsaren zu sehen. Die schwarze Flagge mit den gekreuzten Säbeln sprach eine eindeutige Sprache. Don Antonio sah sich um. Seine Prüfung des Salons schien zur Zufriedenheit ausgefallen zu sein, denn er gab dem Capitän mit einem Wink Anweisung, einen Lehnstuhl zurechtzurücken. Schnaufend ließ sich der Feiste dann auf seinen gigantischen Achtersteven sinken. Er blickte den Ersten Offizier an, der in respektvoller Haltung beim Schott stehengeblieben war. „Geben Sie Order, daß das Beiboot an Bord gehievt wird. Diese Galeone übernimmt keine weiteren Schiffbrüchigen. Außerdem wird die gesamte Bootsbesatzung sofort unter Arrest gestellt einschließlich des Zweiten Offiziers. Er mag der Ordnung halber in seiner eigenen Kammer arrestiert werden." Der Erste starrte den Feisten mit geweiteten Augen an, sperrte den Mund auf und kriegte ihn nicht wieder zu. Dann sah er hilfesuchend den Kapitän an. Der gab sich einen Ruck und trat vor den Koloß hin. „Weisungen an die Offiziere, Señor Gouverneur, werden stets vom Kapitän erteilt." Don Antonio winkte unwillig ab, ohne den Kopf zu heben. Er war bereits wieder mit seinem Kirschenbeutel beschäftigt und stopfte ein glänzendrotes Kügelchen in seinen Mund. „Papperlapapp", sagte er schmatzend und mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Sie haben es gehört, Capitän. Gehen Sie mir nicht auf die Nerven. Meinetwegen erteile ich Ihnen die Order, und Sie geben sie an Ihren verdammten Offizier weiter. Los, los, nun beeilen Sie sich!" „Señor Gouverneur", entgegnete der Capitän tonlos. „Da es um meine Mannschaft geht, habe ich ein Recht zu erfahren, warum
der Zweite Offizier und die komplette Bootsbesatzung unter Arrest gestellt werden sollen." Don Antonio de Quintanilla schmatzte ungeniert weiter. „Ungebührliches Benehmen", nuschelte er, „fortgesetzte Beleidigung einer hochgestellten Persönlichkeit. Die ganze Bande von Bastarden wird mit dem Tode bestraft, wenn wir wieder unter Segeln sind." Der Capitän und der Erste erbleichten, bewahrten aber noch die Fassung. „Nach den allgemeinen Geboten der Menschlichkeit, Señor Gouverneur, sind wir verpflichtet, Schiffbrüchige zu bergen, solange es in unserer Macht steht und wir nicht unser eigenes Leben gefährden." „Interessiert mich nicht", sagte de Quintanilla gleichgültig brummend. „Befolgen Sie meine Anordnungen, Capitän, und hören Sie auf, eigene Überlegungen anzustellen. Die Ehre, den Gouverneur von Kuba an Bord zu haben, ist auch eine große Verpflichtung zu unbedingtem Gehorsam nämlich." Der Kapitän verneigte sich. „Jawohl, Señor Gouverneur." Es klang wie ein Zähneknirschen. „Na also. Dann geben Sie jetzt endlich Order. Wir nehmen keine Schiffbrüchigen mehr auf und segeln sofort weiter." „Wenn es sein muß, erteile ich einen solchen Befehl, Señor Gouverneur. Allerdings nur unter Protest und unter Hinweis auf meine Hilfspflicht. Mein Erster Offizier ist Zeuge." Don Antonio hob ruckartig den Kopf. Seine Fleischmassen wackelten. „Wollen Sie mir drohen?" „Keinesfalls, Señor Gouverneur", beeilte sich der Capitán zu versichern. „Ich muß mich gegebenenfalls nur dafür rechtfertigen können, daß ich den Richtlinien der Hilfe in Seenot zuwidergehandelt habe." „Berufen Sie sich meinetwegen auf mich." „Wie Sie wünschen, Señor Gouverneur. Ich bitte jedoch darum, die Bootsbesatzung nicht arrestieren zu müssen, da wir nach der Disziplinarordnung erst die Beweisaufnahme durchzuführen haben." Einen Augenblick schien es, als wollte Don Antonio vor Wut losbrüllen. Doch er überlegte es sich anders.
„Aufgeschoben ist nicht aufgehoben", sagte er grinsend. „Denken Sie bloß nicht, daß ich es vergesse. Aber ich muß mich sowieso erst einmal stärken. Wenn wir auf offener See sind, werden wir uns näher mit dem unverschämten Pack befassen. Diesen Bastarden darf man nichts durchgehen lassen, verstehen Sie? Nichts!" „Auf offener See?" wiederholte der Capitán verdutzt. Er gab dem Ersten mit einem Handzeichen Anweisung, das Beiboot an Bord hieven zu lassen. Der Offizier eilte los und wirkte erleichtert, den Kapitänssalon verlassen zu dürfen. „Natürlich gehen wir sofort ankerauf", sagte Don Antonio. „Ich denke nicht daran, Zeit zu verschwenden. Lassen Sie die Anker lichten, sobald die Jolle an Bord ist." „Die Entscheidung darüber kann ich nicht treffen", erwiderte der Capitán. Don Antonio hieb mit seiner Teigbeutelhand auf den Tisch. Es entstand lediglich ein schwaches Patschen. „Verdammt noch mal!" schrie er schrill. „Über was dürfen Sie eigentlich entscheiden, Mann? Wird dieses Schiff von einem Kapitän geführt oder von einem Waschlappen?" Die Miene des knebelbärtigen Mannes verriet, daß seine Geduld nahezu am Ende war. Er nahm sich mit letzter innerer Kraftanstrengung zusammen. „Ich weise Sie darauf hin, Señor Gouverneur", sagte er mit rasselnder Stimme, „daß wir uns in der Gewalt von Korsaren befinden. Wenn Sie gütigst einen Blick nach Backbord werfen wollen, werden Sie das selbst feststellen. Wir haben die Erlaubnis erhalten, Schiffbrüchige abzubergen. Man will kein Blutvergießen." „Na, prächtig!" sagte Don Antonio und grinste. „Dann begeben Sie sich aufs Achterdeck, und verklaren Sie dem Korsarenpack, daß Sie keine Schiffbrüchigen mehr aufnehmen können. Das Schiff ist eben voll bis obenhin. So viel Überzeugungskraft werden Sie doch wohl noch zustande bringen." „Jawohl, Señor Gouverneur", sagte der Capitán und konnte sich gerade noch beherrschen, nicht die Augen zu verdrehen und klagend zu seufzen. „Noch etwas", rief Don Antonio, als sich der Capitän bereits zum Gehen wandte. „Nach meiner kleinen Zwischenmahlzeit wünsche ich eine frisch hergerichtete Kammer zu beziehen. Ich bin es ge-
wohnt, nach den Mahlzeiten jeweils vorübergehend zu ruhen. Wegen der Verdauung, Sie verstehen?" Der Capitän würgte ein abermaliges „Jawohl, Señor Gouverneur" hervor und stürzte aus dem Salon. Er war sicher, daß er sich nicht länger hätte beherrschen können und dem Fettsack an die Gurgel gesprungen wäre, wenn er dessen Ungeheuerlichkeiten noch weiter hätte ertragen müssen. 7. Nachdem der sehr ehrenwerte Gouverneur mit dem Kapitän und dem Offizier in den Achterdecksräumen verschwunden war, dauerte es geraume Zeit, bis die Männer an Bord der „Isabella" und des Schwarzen Seglers beobachten konnten, daß sich wieder etwas tat. Erstaunlicherweise war das Beiboot an Bord gehievt worden, obwohl der Pendelverkehr zwischen den übrigen Galeonen noch längst nicht eingestellt war. Hasard und seine Gefährten konnten sich keinen Reim darauf bilden. Kurze Zeit später erschien jedoch der Kapitän auf dem Achterdeck, hob ein Sprachrohr, das wie eine große Blechtüte aussah, und wandte sich der „Isabella" zu. „Ich bitte Ihren Kommandanten, mich anzuhören!" klang es hohl herüber. Der Seewolf trat an die Steuerbordverschanzung des Achterdecks und hob den rechten Arm, um zu zeigen, daß er zuhöre. „Ich bitte darum, weitersegeln zu dürfen", fuhr der Capitán mit seiner Blechtütenstimme fort. „Wir können keine weiteren Schiffbrüchigen an Bord nehmen. Das Schiff ist restlos ausgelastet, Señor!" Hasard überlegte nicht lange. Er formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund. „Bringen Sie an Backbord Fender aus, Capitán! Wir gehen längsseits!" Atemzüge lang wirkte der Spanier drüben auf dem Achterdeck völlig perplex. Dann aber zuckte er nur resignierend mit den Schultern und zeigte klar. Seine Bewegungen wirkten unendlich müde, als er das Sprachrohr sinken ließ und sich umwandte, um die erforderlichen Befehle zu erteilen.
„Merkwürdig!" rief Dan O'Flynn aus dem Großmars. „Der Kerl sieht aus wie ein armer Sünder, der mit seinem Latein restlos am Ende ist." Hasard grinste und dachte sich seinen Teil. Wo der feiste de Quintanilla auftauchte, trieb er die Menschen in seiner Umgebung zur Verzweiflung. Nach Don Juans Schilderungen war der Fettsack ein Teufel, der nur auf den ersten Blick etwas von der Gutmütigkeit eines Walrosses zu haben schien. Hasard gab Order, den Anker zu lichten. Er ließ Groß- und Focksegel setzen und gleich darauf wieder aufgeien, als sich die „Isabella" elegant der Backbordseite der Frachtgaleone näherte. Auf der Kuhl und auf der Back standen die Arwenacks mit schußbereiten Musketen und Pistolen, die Entersäbel baumelten an ihren Gürteln. Nicht minder deutlich waren auch die geöffneten Geschützpforten und die allerdings noch nicht ausgerannten Kanonen. Luke Morgan, der am Ruder stand, ließ die „Isabella" sacht gegen die inzwischen ordnungsgemäß ausgebrachten Fender gleiten: Taue wurden hinübergeworfen, und die spanischen Decksleute packten bereitwillig zu. Jedem an Bord der Frachtgaleone war klar, daß jeglicher Widerstand absolut sinnlos war und einem Selbstmord gleichkam. So eindrucksvoll wie dieses furchteinflößende Schiff waren auch die Kerle an Deck. Immerhin, das wußten die Spanier nur zu gut, hatten sie es gemeinsam mit ihren Verbündeten an Bord der beiden anderen Segler geschafft, zehn Kriegsgaleonen und auch noch das Flaggschiff, diese schwimmende Riesenfestung, zu versenken. Ja, diese Korsaren waren von der härtesten Sorte, die man sich nur vorstellen konnte. Doch Heimtücke und Hinterlist zählten fraglos nicht zu ihren Eigenschaften. Denn wie anders war es zu erklären, daß sie sich so vollkommen ritterlich verhielten und zuließen, daß man die Schiffbrüchigen abbarg? Nach allem, was man von Piraten, Korsaren, Freibeutern, Bukaniern und anderen Karibikwölfen gehört oder gar am eigenen Leib erfahren hatte, konnte man soviel Nachsicht und Menschlichkeit keineswegs als selbstverständlich voraussetzen. Daß es sich an Bord jener schlanken Galeone um eine außergewöhnliche Crew handelte, wurde auch durch ihren Kapitän deutlich. Ein schwarzhaariger Riese, dessen Schläfenhaar sich silber-
grau und scharf gezeichnet abhob. Mit geradezu spielerischer Leichtigkeit ergriff er ein Fall und schwang sich hinüber. Mit der federnden Gewandtheit einer Katze landete er auf den Achterdecksplanken der Frachtgaleone. Der Capitán und die Offiziere mußten sich zusammenreißen, um nicht vor Ehrfurcht zu erschauern. Allein das Äußere dieses Mannes flößte Respekt ein und brachte einen dazu, Hochachtung zu empfinden, ohne daß auch nur ein Wort gefallen war. Reflexartig nahmen der spanische Kapitän und seine Offiziere Haltung an und grüßten. Geradezu andächtig starrten sie ihn an. In seinem Gesicht fiel eine erst vor kurzer Zeit zur Narbe verheilte Schnittwunde auf. Darunter verlief eine ältere Narbe, die sich von der rechten Stirn über die linke Augenbraue und die linke Wange hinzog. Die eisblauen Augen erweckten den Eindruck, als gäbe es nichts, was man vor diesem Mann verbergen könne. „Ich danke Ihnen für den freundlichen Empfang an Bord, Señores", sagte der breitschultrige Riese in tadellosem Spanisch. Sein Lächeln war versöhnlich und beruhigend zu gleich. Nichts war in seiner Stimme, was auch nur den leisesten Hauch von Spott hätte erkennen lassen. Er wandte sich dem Capitän zu. Der knebelbärtige Spanier verneigte sich. „Capitän Roviro Valenzuela zu Ihren Diensten, Señor. Im Namen meiner Mannschaft danke ich für Ihr ehrenvolles Verhalten." „Sie sind mir keinen Dank schuldig", entgegnete der hünenhafte Korsar. „Es versteht sich von selbst, daß man sich nicht an Schiffbrüchigen und Wehrlosen vergreift. Im übrigen werden Sie Verständnis dafür haben, daß ich Ihnen meinen Namen nicht nennen möchte." Mein Gott, dachte Valenzuela ergriffen, was für ein Mann, welch ein Kavalier! Fasziniert starrte er in das scharfgeschnittene Gesicht hoch ein Gesicht, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Es war geprägt von Leiden und Verzicht, von Stolz, Unbeugsamkeit und Energie und von Adel. Nein, dieser Mann war kein blutrünstiger Pirat und erst recht kein Lumpenhund oder gar ein schmieriger Halunke von jener Sorte, wie man sie in karibischen Breiten nur allzu häufig antraf. Dieser Mann, so stellte Capitän Valenzuela voller Ehrfurcht fest, hatte das Äußere und den Charakter eines Königs. Dieser Mann war ein König.
Capitän Roviro Valenzuela konnte nicht anders, er mußte sich vor dem König verneigen. In seiner Geste lag nichts Unterwürfiges, es war einfach der Respekt, den eine solche überragende Persönlichkeit einem Gesprächspartner abverlangte. Die Offiziere folgten dem Beispiel ihres Kapitäns. „Bitte nennen Sie Ihre Wünsche, Señor", sagte Valenzuela. * Hasard hörte allein aus dem Klang der Stimme seines Gegenübers, daß es keine leere Phrase war. Dieser Capitán war das sichtbare Beispiel für den Grundsatz, daß man keinen Feind über einen Kamm scheren durfte. Die Spanier waren nicht ausnahmslos raffgierige Plünderer und skrupellose Eroberer, denen kein Blutopfer zu hoch war. Nein, es gab unter ihnen viele Ehrenmänner wie Don Juan de Alcázar. Wenn man den Rahmen einfacher zog, gehörte dieser Capitán zweifellos auch dazu. Der Seewolf lächelte erneut. „Sie haben soeben einen Schiffbrüchigen übernommen, Señor Valenzuela, einen ungeheuer dicken Menschen, der sich jetzt in einem Achterdecksraum befindet. Wer ist das?" Capitán Valenzuela schluckte trocken. Sekundenlang blickte er verlegen auf die Planken und suchte offenbar verzweifelt nach einer unverfänglichen Antwort. „Nun", sagte er schließlich stockend, „das ist das ist ein sehr reicher Bürger aus Havanna auf Kuba. Er ist jetzt im Begriff, nach Spanien zurückzukehren." Das Lächeln des Seewolfs hielt an, nur in seinen Augen entstand ein harter und eisiger Glanz. „Daß dieser Mann reich ist, stimmt", sagte er mit unvermittelt metallischem Klang. „Aber ein Bürger ist er nur dann, wenn man in der allgemein üblichen Rangordnung den Gouverneur einem Bürger gleichstellt. Habe ich recht, Señor Valenzuela?" Der, Capitán erbleichte. Seine Gesichtshaut wurde geradezu käsig, und seine Mundwinkel begannen unkontrolliert zu zucken. Hasard wußte in diesem Moment, daß sich Don Juan nicht geirrt hatte. Der Fettsack von der gestrandeten Galeone war eindeutig Don Antonio de Quintanilla.
„Ich - ich -", stammelte der Kapitän, „muß Ihnen das erklären..." „Nicht nötig", sagte der Seewolf, immer noch lächelnd. Der metallische Klang wich aus seiner Stimme. „Lassen Sie den Bürger Gouverneur holen. Ich übernehme ihn." Und liebenswürdig, ohne es hinterhältig zu meinen, fügte er hinzu: „Notfalls müßte ich das mit Gewalt durchsetzen." „Selbstverständlich, Señor", erwiderte der Capitán hastig, froh, sich für die Anwesenheit des Dicken nicht weiter rechtfertigen zu müssen. Er gab den beiden Offizieren einen Wink. Nach einer knappen Verbeugung vor dem Seewolf marschierten sie los und enterten über den Backbordniedergang ab. Hasard forderte unterdessen den Capitán mit einer höflichen Handbewegung auf, sich gemeinsam mit ihm zur Heckbalustrade zu begeben. Valenzuela verlor seine Unsicherheit, denn er spürte, daß dieser Mann ihn weder verhöhnen noch in die Enge treiben wollte. Jede seiner Gesten und jedes seiner Worte waren einfach ehrlich gemeint. Und nach anfänglicher Verblüffung empfand es Capitán Valenzuela auf einmal als völlig selbstverständlich, daß der hochgewachsene Fremde eine höfliche Plauderei begann gerade so, als sei man sich daheim im altvertrauten Europa zufällig auf einer Promenade begegnet und wechsele unverbindliche Worte über die Schönheit der Anlagen, über das Wetter und über die herrliche Sonne. „Wie ist das passiert?" fragte Hasard und deutete mit einer Handbewegung auf die gestrandeten Frachtschiffe. Der Capitán hob bedauernd die Hände. „Ein schlimmer Navigationsfehler, Señor. Es war kurz nach Mitternacht, als diese vier Schiffe innerhalb kürzester Zeit auf die Riffs liefen." „Sind Ihnen die Gefahren dieses Seegebiets denn nicht bekannt?" „Aber ja, Señor. Wir hatten angenommen, mindestens etwa fünfzehn Meilen querab von den Inseln des Teufels zu sein. Das Ergebnis unseres Irrtums sehen Sie vor sich." Der Seewolf nickte. „Für meine Freunde und mich ein sicherlich lohnendes Ergebnis. Abgesehen davon, daß wir das unerwartete Vergnügen haben, dem Gouverneur von Kuba zu begegnen."
Valenzuela zog die Stirn kraus. „Dieses Vergnügen meinen Sie doch nicht etwa im wirklichen Sinn des Wortes, Señor?" Hasard lachte leise. „Sie haben ihn also bereits kennengelernt?" „Zur Genüge. Ich glaube, er ist ein Menschenschinder. Offen gestanden bin ich froh, wenn Sie ihn mir abnehmen. Er hat angekündigt, die gesamte Bootsbesatzung einschließlich meines Zweiten Offiziers hinrichten zu lassen. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten hätte, wenn er es tatsächlich soweit getrieben hätte." „Das kann ich Ihnen nachfühlen", sagte Hasard. „Mir ist einiges über ihn bekannt. Wissen Sie übrigens, welche Fracht sich an Bord des Havaristen befindet, auf dem der Gouverneur Passagier war?" Valenzuela schüttelte den Kopf. „Nein, Señor, darüber weiß ich nichts. Es wurde geheimgehalten. Aber ich nehme an, Ihre Männer werden sich ein Bild verschaffen." „Allerdings. Sobald das Abbergen der Schiffbrüchigen beendet ist." „Ich muß Ihnen dafür noch einmal meinen ausdrücklichen Dank aussprechen, Señor." Hasard lächelte. „Tun Sie es lieber nicht zu laut. Ihr König wird nicht sonderlich erbaut darüber sein, daß wir einen seiner prachtvollen Geleitzüge gerupft haben." Capitán Valenzuela schwieg einen Augenblick, ehe er antwortete. „Ich habe Ihnen meine private Meinung gesagt, Señor. Und ich glaube Sie richtig einzuschätzen, wenn ich davon ausgehe, daß Sie es nicht hinausposaunen werden, so daß es bis nach Spanien durchdringen könnte." Der Seewolf lachte leise. „Ihr Einschätzungsvermögen ist beachtlich, Señor Valenzuela. Ich kann Ihnen im Grunde nur empfehlen, in diesem höllischen Winkel der See künftig vorsichtiger zu sein vor allem bei Nebel oder bei Dunkelheit. Wenn Sie auf Heimatkurs sind, wird es auf jeden Fall sicherer sein, noch weiter westlich zu halten." „Sie können mir glauben", seufzte Valenzuela, „daß ich mir das hinter die Ohren schreiben werde."
Das Gespräch der beiden Männer wurde in diesem Moment unterbrochen, denn die Offiziere kehrten auf das Achterdeck zurück. Beide salutierten vor ihrem Capitán und dem Seewolf. „Es gibt Schwierigkeiten", sagte Valenzuela dumpf. Er hatte die Offiziere nur anzusehen brauchen, um das zu wissen. „Was ist geschehen?" „Der Señor Gouverneur weigert sich", sagte der Erste Offizier. „Wir trafen ihn im Kapitänssalon noch bei seiner hm Zwischenmahlzeit an." „Ist ihm das Längsseitsgehen unserer Galeone etwa entgangen?" fragte Hasard verblüfft. „Ich weiß es nicht, Señor", erwiderte der Erste und zog die Schultern hoch. „Bei diesem Mann weiß man überhaupt nicht, woran man ist. Als der Dritte und ich den Salon betraten, tat er zuerst, als seien wir Luft." „Ein merkwürdiges Gefühl", sagte der Dritte mit eifrigem Nicken. „Es war so, als existierten wir überhaupt nicht. Man kommt sich klein und häßlich vor, richtig unwichtig." „Ich sagte ihm", fuhr der Erste fort, „der Kapitän der Korsaren wünsche ihn auf dem Achterdeck zu sprechen. Erst als er das hörte, schien der Señor Gouverneur wach zu werden. Er verlangte plötzlich, in seine Kammer geführt zu werden." „Weil er angeblich auf einmal müde sei", fügte der Dritte hinzu und grinste. „Er schaffte es sogar, zu gähnen." „Sie hätten ihm unmißverständlich klarmachen müssen..." setzte der Capitán an. „Das haben wir, das haben wir wirklich", sagte der Erste hastig. „Auf dem Weg zu der Kammer haben wir ihn noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß den Anordnungen der Korsaren mit Verlaub, Señor", er warf dem Seewolf einen kurzen Blick zu, „unbedingt Folge zu leisten sei. Das schien er zu verstehen. Denn auf einmal schlüpfte er blitzschnell in die Kammer und knallte das Schott zu. Wir hörten deutlich, wie er abschloß und verriegelte." „Dann drohte er", sagte der Dritte, „er werde jeden niederschießen, der versuche, gewaltsam einzudringen. Ja, und dann hat er noch verlangt, daß unsere Galeone sofort weitersegeln solle. Anderenfalls werde er Seiner Allerkatholischsten Majestät berichten, daß Capitán Valenzuela seine Pflichten gröblichst vernachlässigt habe."
Valenzuela wurde weiß im Gesicht, als er dies hörte. „Es tut mir außerordentlich leid", sagte er zähneknirschend, „daß ich diesem aufgeblasenen Kerl nicht von Anfang an erklärt habe, wie hier der Wind weht." Die beiden Offiziere sahen ihren Kapitän mit anerkennendem Nicken an. „Auf jeden Fall scheint er ein sehr einflußreicher .Bürger' zu sein", sagte Hasard spöttisch und zwinkerte Valenzuela zu. „Wenn er sogar direkten Kontakt zu Ihrem König hat, sollte man sich vor ihm in acht nehmen, nicht wahr? Aber keine Sorge, ich werde Sie von dieser Last befreien, Señores. Ich hole ihn mir allein. Dann wird keiner von Ihnen Schaden erleiden, falls der ,Bürger' in seiner Kammer tatsächlich schießen sollte." Capitán Roviro Valenzuela wußte nichts zu erwidern. Er schluckte trocken und konnte sich nur schweigend und voller Dankbarkeit verbeugen. Die beiden Offiziere standen wie vom Donner gerührt und blickten dem hochgewachsenen Mann mit den breiten Schultern und den schmalen Hüften nach. Seine Schritte waren von federnder Elastizität und ließen ahnen, welche unbändige Muskelkraft dieser geschmeidige Körper barg. 8. Hasard öffnete das nur angelehnte Schott, das zu den Achterdecksräumen führte. Er spürte die Blicke, die ihm folgten. Es war eine merkwürdige Situation. Er befand sich an Bord eines im Grunde feindlichen Schiffes, und doch war man ihm dankbar für das, was er tat. Denn auch die Decksleute schienen mitgekriegt zu haben, was sich abspielte. Nach ihren unliebsamen Erfahrungen mit dem Fettsack aus Havanna schienen sie heilfroh zu sein, daß jemand erschienen war, der ihnen offenbar die bedrückende Last abnehmen wollte. Auf diese Weise war der hünenhafte Fremde so etwas wie ein gütiger Fingerzeig des Himmels. Lächelnd verharrte der Seewolf sekundenlang am Beginn des düsteren Ganges, von dem die einzelnen Achterdeckskammern abzweigten.
Kein Geräusch war zu hören. Licht fiel nur durch das Bleiglasfenster in der Tür ganz achtern herein. Dort mußte sich die Kapitänskammer befinden, die unmittelbar an die Heckgalerie grenzte. Hasard zögerte keinen Atemzug lang. Er begann, die einzelnen Schotts zu den Kammern zu überprüfen, indem er jeweils abwechselnd beiderseits rüttelte. Vier Schotts an Steuerbord und drei an Backbord ließen sich öffnen. Nummer vier an Backbord war verschlossen. Ein hartes Lächeln kerbte sich in die Mundwinkel des Seewolfs. Er wich zurück, an die gegenüberliegende Wand, außerhalb der möglichen Schußbahnen. Im selben Atemzug ertönte eine kreischende Stimme. Es klang wie das Quieken eines Ferkels, das in einem Holzkasten abtransportiert wird, um es am Spieß zu braten. „Wer ist da? Was wollen Sie?" „Kein guter Freund", erwiderte Hasard kalt. „Wenn Sie nicht augenblicklich öffnen, hole ich Sie heraus, de Quintanilla!" Die kreischende Ferkelstimme überschlug sich. „Verschwinde, elender Bastard! Verschwinde, oder ich schieße!" Hasard beschloß, den Nerven des Dicken endgültig den Rest zu geben. „Öffne, Fettsack!" brüllte er mit Donnerstimme, und bestimmt hörten sie es auch auf Deck, „öffne, oder ich schleife dich auf allen vieren hinaus an Deck!" Atemzüge lang blieb es still in der Kammer. „Meine letzte Warnung!" kreischte de Quintanilla im nächsten Moment. „Ich schieße!" Zur Antwort trat Hasard seitlich neben das Kammerschott, packte seine Pistole an den Doppelläufen und schlug mit dem eisernen Sockel des Griff Stücks gegen das Schott. Der Schlag hallte dröhnend. Noch in den Nachhall hinein bellte der Schuß. Mit einem kleinen weißfaserigen Splitterregen fuhr die Kugel auf der Gangseite aus dem Holz und fiel an der gegenüberliegenden Wand zu Boden. Hasard grinste. Der sehr ehrenwerte Señor Gouverneur hatte sich täuschen lassen und geglaubt, das Schott fliege schon auf. Dennoch war der Seewolf nicht weltfremd genug, um anzunehmen, daß mit Gegenwehr nicht mehr zu rechnen sei.
Mit einem federnden Satz war er auf der anderen Seite des Ganges, stieß sich ab und sprengte das Schott der Kammer mit einem einzigen Fußtritt auf. Ein schrilles Ferkelquieken tönte ihm entgegen. Voller panischer Angst. Hasard wich mit einem reaktionsschnellen Sprung beiseite. Keine Sekunde zu spät. Abermals peitschte ein Schuß, diesmal grub sich die Kugel tief in das Holz der gegenüberliegenden Wand. Stinkender Schwarzpulverrauch breitete sich aus. Der Fettwanst verfügte entweder über eine doppelläufige oder über eine zweite Pistole. Oder über beides. Und für Hinterhältigkeiten jeglicher Art war er ohnehin gut. Regungslos verharrte der Seewolf links von dem offenen Schott. Das Schloß war herausgebrochen, soviel konnte er erkennen. Vermutlich war auch die innere Riegelhalterung herausgerissen. Jedenfalls konnte der Dicke das Schott nicht wieder zuschlagen. „Gib auf, de Quintanilla", sagte Hasard kalt. Stille. Dann, plötzlich, ein Kichern. „Ich denke, du willst mich holen, Bastard? Los, auf was wartest du?" „Darauf, daß du dein Pulver verschießt." Wieder ein Kichern, schriller diesmal. „Weise, wirklich sehr weise! Aber das wird dir nichts nützen, Bastard. Ich erwische dich so oder so. Meinetwegen kannst du warten, bis du schwarz wirst. Auf deinen Empfang habe ich mich jedenfalls vorbereitet. Es wird ein gebührender Empfang werden, das versichere ich dir!" Hasard schwieg einen Moment. Dann ließ er einen Seufzer hören. „Also dann", sagte er. „Bringen wir es hinter uns. Jetzt hole ich dich, Fettsack!" Er bewegte die Beine, ließ das Stiefelleder vernehmlich knarren, blieb jedoch auf demselben Fleck. Die Reaktion des überreizten Dicken erfolgte prompt. Ein funkensprühendes und zischendes Ding flog in hohem Bogen in den Gang. Eine Wurfgranate. Hasard brauchte nicht erst lange hinzusehen, um es zu erkennen. Und ein schneller Schritt vorwärts genügte. Er erwischte das
kreuzgefährliche Ding mit dem Fuß und beförderte es mit einem Tritt zurück in die Kammer. Im nächsten Atemzug preßte er sich mit dem Rücken an die Wand neben dem offenen Schott. In der Enge des Raumes klang die Detonation wie ein urgewaltiger Donnerschlag. An Deck sperrten sie jetzt wahrscheinlich die Münder auf. Vielleicht glaubten sie, daß Don Antonio de Quintanilla vor lauter Aufregung geplatzt sei. Hasard mußte grinsen bei dem Gedanken. Beißender Pulverrauch waberte in Schwaden aus der Kammer. Hasard hatte nur Lidschläge lang gewartet, die Doppelläufige unter den Gurt geschoben. Mit einem genau berechneten Satz hechtete er in die Kammer. Auf harten Planken rollte er sich ab, federte hoch und richtete sich auf. Rasch sah er sich um. Schränke, Schapps, ein umgestürzter Tisch, zerborstene Schemel. Jäh begriff er. Er stöhnte auf wie ein Schwerverletzter. Die Reaktion folgte im nächsten Atemzug. Knarrend öffnete sich eine Schranktür, nur einen Spalt breit. In dem Moment, in dem der Doppellauf einer Pistole erschien, warf Hasard sich zur Seite. Der Schuß krachte. Grellrot stach das Mündungsfeuer aus dem Türschlitz des Schranks. Die Kugel durchbohrte schmetternd die Platte des umgestürzten Tisches. Hasard rappelte sich daneben auf. Sein Blick fiel auf eine kostbar ziselierte Pistole, die vor der Koje lag. Ebenfalls eine doppelläufige Waffe. Geräuschlos hob Hasard sie auf. Er brauchte nur oberflächlich an den Mündungen zu riechen, um festzustellen, daß beide Läufe abgefeuert waren. Der Dicke hatte also noch eine weitere Kugel im Lauf. In diesem Augenblick fiel die Schranktür krachend zu. Die Ratte saß in der Falle. Eine fette Ratte allerdings, die in die Schrankfalle kaum hineinpaßte. Der feiste Kerl mußte sich regelrecht hineingepreßt haben. Hasard versuchte es mit einer Finte. „Kommen Sie raus, de Quintanilla", sagte er kalt. „Wenn Sie nicht sofort rauskommen, stoße ich meinen Degen durch die Tür!" Zur Unterstreichung seiner Worte zog er tatsächlich blank. Das metallische Schaben, mit dem der Degen aus der Scheide glitt, war nicht zu überhören.
Noch während er die letzte Silbe aussprach, sprang Hasard nach rechts genau dorthin, wo die Tür in den Raum klappte. Eine grellrote Feuerblume erblühte im Halbdunkel des Schranks. Der Schuß krachte so ohrenbetäubend, daß das Klatschen, mit dem sich die Kugel in das Wandholz grub, nicht zu vernehmen war. Hasard schnellte mit einem pantherhaften Satz um die offene Schranktür herum. Wie eine gigantisch-monströse Qualle hockte der Dicke in dem engen Holzgehäuse. Rühren oder gar wehren konnte er sich ohnehin nicht. Hasard ließ seine rechte Handkante herabsausen. Schmetternd traf der Hieb das Handgelenk, dessen Faust die Doppelläufige hielt. Der Dicke schrie gellend auf. Die Pistole polterte zu Boden. Hasard stieß den Degen zurück in die Scheide und packte zu. Der Dicke schrie wie am Spieß. Ob es mehr vor Schmerzen oder mehr vor Schreck geschah, war nicht zu ergründen. Hasard erwischte ihn mit seinen Fäusten nicht sofort. Diese Schultern, die er zu greifen versuchte, waren wie eine weiche, nachgiebige Masse, die sich dem Zupacken durch gallertartige Schlüpfrigkeit entzog. Deshalb packte er ihn kurz entschlossen am Kragen des kostbaren Wamses. Das Geschrei des Dicken steigerte sich zu schrillem Diskant. Um ein Haar wäre der Schrank aus der Wand gebrochen, als Hasard den Kerl herauszog. Und dann war es mit dem Geschrei sehr schnell vorbei. Eine Serie gnadenlos harter Maulschellen ließ den Dicken in sich zusammensacken. Vor der Koje blieb er hocken, nur noch ein klägliches Wimmern drang tief aus der Masse seines Leibes. Der Seewolf erinnerte sich, durch das Spektiv die beiden Säcke gesehen zu haben, die de Quintanilla über der Schulter getragen hatte. Er brauchte nicht lange danach zu suchen. Sie befanden sich in dem offenen Schrank. Der Dicke mußte auf ihnen gesessen haben, vielleicht in der aberwitzigen Hoffnung, sie dadurch schützen zu können.
Hasard untersuchte die beiden Säcke, öffnete sie und glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Beide Säcke waren randvoll mit erlesenen Perlen, keine kleiner als eine Eichel. Ein Vermögen, daß der Dicke da mit sich herumgeschleppt hatte, überlegte Hasard. Diese Perlen übertrafen weitaus den Wert von zwei entsprechenden Säcken voller Golddublonen. Aber dennoch der Reichtum des Kerls war größer als zwei Säcke voller erlesener übergroßer Perlen. Eine höchst merkwürdige Geschichte war das. Der Seewolf verschwendete seine Zeit jedoch nicht mit sinnlosem Nachdenken. Er warf sich die beiden schweren Säcke über die Schulter. Dann packte er den wimmernden Dicken am Kragen, hievte ihn auf die stummelartigen Beine und schleifte ihn hinaus. Die wäßrigen Augen des Fettsacks waren verschleiert, immer wieder verdrehte er sie, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen. Von seiner Umgebung kriegte er jedenfalls kaum noch etwas mit. Den Decksleuten sah Hasard an, daß sie am liebsten lautstark Beifall gebrüllt hätten, als er den Dicken über den Niedergang an Backbord zum Achterdeck hinauf bugsierte. Der Beifall erfolgte indessen von Bord der „Isabella". „Ar we nack! Ar we nack!" tönte donnernd der alte Kampfruf aus Cornwall, dann gingen die heiseren Stimmen der Seewölfe in ein begeistertes Grölen über. Vor den Augen des Kapitäns und seiner Offiziere nahm Hasard unterdessen das Besanfall der Galeone und knüpfte es dem Dicken unter den Achseln hindurch. Don Antonio de Quintanilla quiekte und zappelte, als der Seewolf ihn mit unbändiger Kraft hochhievte und in Schwung versetzte. Die spanischen Decksleute standen mit aufgesperrten Mündern und kreisrunden Augen da. Die Arwenacks klatschten derweil den Takt beim Schwungholen, bis der Fettsack wie eine riesengroße Flunder zum Achterdeck der „Isabella" hinübersegelte. Dort wurde er von Ferris Tucker und Big Old Shane in Empfang genommen und losgeknüpft. Das freie Besanfall pendelte zurück. Hasard ergriff es und wandte sich noch einmal dem Kapitän zu. Die Worte des Seewolfs klangen geradezu galant, als er sich von Roviro Valenzuela verabschiedete. „Sicherlich ist es beinahe überflüssig, zu erklären, Señor Valenzuela.
Aber seien Sie versichert, daß der Señor Gouverneur bei uns in bestem Gewahrsam ist. Auf jeden Fall werden wir zu verhindern wissen, daß er weitere Schandtaten begeht. Ich denke zum Beispiel nur an seine unheilige Allianz mit einer gewissen Black Queen. Mit ihr hat er sich seinerzeit verbündet nur, um noch mehr Reichtum zusammenzuraffen." „O ja", erwiderte Capitän Valenzuela erschauernd, „von diesem fürchterlichen Piratenweib habe ich gehört." Hasard nickte und öffnete die beiden Säcke. Dem Capitän quollen beinahe die Augen über, als er die Perlen sah. „Das ist nur ein kleiner Teil des Reichtums, den der Halunke ergaunert hat", sagte Hasard trocken. Er warf sich die Säcke wieder über die Schulter und griff nach dem Besanfall. „Ach ja, mir fällt ein, daß Ihr Schiff angeblich überbelegt sein soll." Valenzuela blickte verlegen zu Boden. „Ehrlich gesagt...", murmelte er und suchte krampfhaft nach Worten. Hasard winkte ab. „Ich weiß, ich weiß", sagte er lächelnd. „Das war nur eine Anordnung unseres gemeinsamen Freundes de Quintanilla, weil er möglichst schnell verschwinden wollte. Dabei entsprach es ganz seiner bekannten Art, daß ihn die restlichen Schiffbrüchigen einen Dreck interessierten. Kurzum, Capitän Valenzuela: Sie segeln erst ab, wenn alle Schiffbrüchigen abgeborgen sind. Im übrigen werden wir Sie nicht weiter behelligen." Der Seewolf nickte dem staunenden Mann mit dem Knebelbart noch einmal zu. Dann ergriff er das Besanfall und schwang sich mit einer eleganten, fließenden Bewegung hinüber auf das Achterdeck der „Isabella"... Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 486 In Ketten von Fred McMason Kein Zweifel, in der Vorpiek der auf die Riffs gebrummten Galeone befanden sich noch Menschen. Aber die Piek war mit einem Eichenschott verrammelt, zwei mächtige Riegel mit zwei schwe-
ren Trumms von Eisenschlössern versperrten den Zugang. Ferris Tucker hielt sich nicht lange damit auf. Er hatte seine Zimmermannsaxt dabei und schlug mit der stumpfen Seite zu, daß die Funken stoben. Mit ein paar Schlägen zersprengte er die beiden Schlösser. Der Seewolf schob die Riegel zurück und riß das Schott mit einem Ruck auf. Ein infernalischer Geruch drang ihnen in die Nase und dann sahen sie die Gestalten, hohlwangig, bärtig, nur noch dreckige Lumpen am Körper, und sie waren in Ketten gelegt... Diesen Roman mit einem neuen spannenden Abenteuer des Seewolfs und seiner Crew erhalten Sie bereits in der nächsten Woche bei Ihrem Zeitschriftenhändler sowie in allen Bahnhofsbuchhandlungen.