Die Entstehung modernistischer Ästhetik und ihre Umsetzung in die Prosa in Mexiko
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Internationale Forschungen zur ...
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik und ihre Umsetzung in die Prosa in Mexiko
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Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft
In Verbindung mit Norbert Bachleitner (Universität Wien), Dietrich Briesemeister (Friedrich Schiller-Universität Jena), Francis Claudon (Université Paris XII), Joachim Knape (Universität Tübingen), Klaus Ley (Johannes Gutenberg-Universität Mainz), John A. McCarthy (Vanderbilt University), Alfred Noe (Universität Wien), Manfred Pfister (Freie Universität Berlin), Sven H. Rossel (Universität Wien) herausgegeben von
Alberto Martino (Universität Wien)
Redaktion: Ernst Grabovszki Anschrift der Redaktion: Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft, Berggasse 11/5, A-1090 Wien
Die Entstehung modernistischer Ästhetik und ihre Umsetzung in die Prosa in Mexiko Die Verarbeitung der französischen Literatur des fin de siècle
Andreas Kurz
Amsterdam - New York, NY 2005
Le papier sur lequel le présent ouvrage est imprimé remplit les prescriptions de “ISO 9706:1994, Information et documentation - Papier pour documents Prescriptions pour la permanence”. The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents - Requirements for permanence”. ISBN: 90-420-1724-4 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2005 Printed in The Netherlands
IN MEMORIAM MEINEM BRUDER WERNER (1964–2004) Ich widme diese Arbeit meiner Frau Aracely als Anerkennung ihrer Geduld, die sie dank ihrer in den letzten Jahren benötigte, sowie meinen Eltern, deren Beispiel einer bescheidenen und arbeitssamen Existenz hoffentlich auch mein Leben bestimmt. Ich spreche der Universität Wien, insbesondere meinen beiden Betreuern, Prof. Alberto Martino und Prof. Michael Roessner, meinen ehrlichen Dank für ihre Unterstützung aus und für ihre Bereitschaft, eine Dissertation aus der Ferne zu akzeptieren.
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Inhalt
Vorwort 1. 1.1. 1.2. 1.2.1. 1.2.2. 1.2.3. 1.2.4. 1.2.5. 1.2.6. 1.2.7. 2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.1.4. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4.
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit. Die Diskussion einer mexikanischen Nationalliteratur nach der politischen Autonomie Einführung Die Definition einer mexikanischen Nationalliteratur als Reflex der Auseinandersetzung mit der Kultur Frankreichs Die Anfänge eines literarischen Journalismus in Mexiko Die erste „romantische“ Gruppe Mexikos El Recreo de las Familias Beispiele der frühen romantischen Erzählliteratur in Mexiko Die Jahre vor dem „Imperio“ Altamiranos El Renacimiento Konsequenzen aus El Renacimiento Die literarischen Zeitschriften des mexikanischen Modernismo: Revista Azul und Revista Moderna Die Revista Azul Vorbemerkungen Der Stellenwert der französischen Kultur innerhalb der Revista Azul Baudelaires Ästhetik und ihr Reflex in der Revista Azul Das Publikum der Revista Azul: Exklusivismus? Die Revista Moderna Einführung und Statistik Die Anfänge: Die Revista Moderna als Anthologie der französischen Literatur (1898/1899). Der Weg in den Selbstbetrug Der Selbstbetrug festigt sich: Die Revista Moderna im Jahr 1900 Die Revista Moderna auf solider Basis (1901-1903)
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos: Campos, Valenzuela, Tablada, Gamboa 3.1. Die Memoiren Rubén M. Campos und Jesús E. Valenzuelas: Nostalgie, Glorifizierung und Ablehnung des Modernismo 3.1.1. Rubén M. Campos: Die Bar als kulturelles und soziales Zentrum 3.1.2. Jesús E. Valenzuela: Bürger und Bohémien 3.2. Die autobiografischen Schriften José Juan Tabladas: der Modernismo als Thema für die Fiktion 3.2.1. Nachträgliche Definition der modernistischen Ästhetik durch Tablada
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11 11 13 13 18 20 32 39 43 57
62 62 62 64 73 78 82 82 86 104 114
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3.2.2. Der französische Kanon um Baudelaire im autobiografischen Werk Tabladas 3.3. Das Tagebuch Federico Gamboas: der Versuch einer umfassenden Epochenbeschreibung 4. 4.1. 4.1.1. 4.1.2. 4.1.3. 4.1.4. 4.2.
Von der romantischen zur modernistischen Erzählkunst Die romantische Narrativik Lateinamerikas – eine Skizze Vorbemerkungen Esteban Echeverría: ‘El matadero’ Cirilo Villaverde: Cecilia Valdés Ignacio Manuel Altamirano: El Zarco Die Grauzone zwischen Romantik und Modernismo: Manuel Gutiérrez Nájera und José Martí 4.2.1. Joris Karl Huysmans in der Revista Moderna 4.2.2. Manuel Gutiérrez Nájera und seine französische Quelle 4.2.3. Rubén Darío: Zwischen Emelina und ‘El hombre de oro’
5. 5.1. 5.2. 5.3.
Der erzählerische Entwurf der Modernisten Amado Nervo: Die ironische Distanz zu den Quellen Bernardo Couto Castillo: Wie würde sich Des Esseintes in Mexiko verhalten? Drei Texte modernistischer Prosa nach Couto Castillo: Alberto Leduc, Rubén M. Campos und Efrén Rebolledo
157 162 181 181 181 183 186 187 190 208 210 215 221 221 227 238
Zusammenfassung
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Bibliografie
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Vorwort
„No hay modernismo sino modernismos“ (Es gibt keinen Modernismo,1 sondern Modernismen). So beginnt José Emilio Pacheco die Einleitung zu seiner Anthologie des mexikanischen Modernismo, die 1970 erstmals von der UNAM veröffentlicht wurde. Man darf den Lyriker und Essayisten nicht missverstehen. Er versucht nicht, dem Modernismo den Charakter einer Bewegung abzusprechen, indem er die Individualität seiner Autoren unterstreicht. Binsenweisheiten dieser Art sind nicht Pachecos Angelegenheit. Er stellt vielmehr den Modernismo in einen weiteren Zusammenhang: den der Internationalisierung der Kommunikation – und mit ihr der Kultur – am Ende des 19. Jahrhunderts. Autoren, die sich ausschließlich um die eigene literarische Tradition kümmern, gehören der Vergangenheit an. Pacheco interpretiert den Modernismo als ein Synonym für kulturelle Kommunikation. Seine Absichten werden klarer, wenn man den zitierten Satz im Zusammenhang liest: No hay modernismo sino modernismos: los de cada poeta importante que comienza a escribir en lengua española entre 1880 y 1910. Como los románticos, parnasianos y simbolistas franceses, los poetas modernistas son distintos entre sí y adoptan a su propia circunstancia lecciones aprendidas en otras literaturas. Su originalidad se logra en un momento de circulación universal de ideas y estilos. (Es gibt keinen Modernismo, sondern Modernismen: die jedes wichtigen Dichters, der zwischen 1880 und 1910 auf Spanisch zu schreiben beginnt. Wie die Romantiker, die Parnass-Dichter und die französischen Symbolisten, sind auch die modernistischen Dichter untereinander verschieden und passen in anderen Literaturen gelernte Lektionen ihren eigenen Umständen an. Sie erreichen ihre Originalität zu einem Zeitpunkt der universell zirkulierenden Ideen und Stile.)2
Das Ziel der vorliegenden Arbeit soll es nicht sein zu zeigen, dass der Modernismo ein Schema geschaffen hat, dem Schriftsteller aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern folgen konnten. Es kann auch nicht darum gehen, die Individualität einiger mexikanischer Autoren dieser Zeit zu beweisen, oder ihre leider auch von Pacheco immer noch bemühte Originalität. Ich versuche vielmehr zu zeigen, dass literarische Ideen und Tendenzen um 1900 von einem Kontinent zum anderen transportiert werden konnten, um in Mexiko zur Entstehung der modernistischen Periode des Landes beizutragen. Eine konkrete Fragestellung ist: Wie entscheidend war die Rolle der französischen Kultur für die Entwicklung des mexikanischen Modernismo? Vor allem zwei Sprachrohre der modernistischen Gruppe, Revista Azul und Revista Moderna, sollen die Basis für diese Untersuchung sein. Der engere zeitliche Rahmen der Studie umfasst die Jahre von 1894 bis 1903. Es soll dargestellt werden, dass in diesen Jahren der Modernismo in Mexiko ein 1 2
Ich behalte die spanische Schreibweise in der Übersetzung bei, um einer Verwechslung mit dem religiös motivierten Modernismus oder mit der Lyrik um Ezra Pound und T. S. Eliot vorzubeugen. José Emilio Pacheco, Antología del modernismo 1884-1921 (México: UNAM/Ediciones Era, 1999 [erste Ausgabe in zwei Bänden, México, 1970]), S. XI.
Die Entstehung modernistischer Ästhetik
ästhetisches und ideologisches Profil konstruierte, das zu seiner Konsolidierung als dominante kulturelle Bewegung des Landes führte. Die beiden Zeitschriften machten im Rahmen der politischen und sozialen Umstände des Porfiriats eine derartige Entwicklung möglich. Paradoxerweise trägt gerade der bestimmende Einfluss der französischen Literatur in dieser Zeit zur Überwindung des „afrancesamiento“ im Mexiko des 19. Jahrhunderts bei. Pacheco merkt an: „la influencia francesa [...] significó la liberación del afrancesamiento casi exclusivo de los siglos XVIII y XIX“ (der französische Einfluss [...] bedeutete die Befreiung von einer fast exklusiven Französierung im 18. und 19. Jahrhundert).3 Über die Analyse der Zeitschriften und der autobiografischen Literatur der Gruppe versuche ich zu zeigen, dass sich die modernistische Prosa ab etwa 1885 deutlich von ihrer romantischen Vorgängerin zu unterscheiden beginnt. Der Übergang wird anhand der Romane von Gutiérrez Nájera und José Martí verdeutlicht. Romane und Erzählungen von Amado Nervo, Bernardo Couto Castillo, Rubén M. Campos und Efrén Rebolledo sollen das Bild der modernistischen Prosa Mexikos abrunden. Nur kurz wird auf die wichtigsten lateinamerikanischen Prosatexte – Rubén Darío und José Asunción Silva – eingegangen, die einer der mexikanischen ähnlichen Entwicklung folgen. In diesem Zusammenhang soll auch der Frage nach der Selbständigwerdung des Modernismo am Rande nachgegangen werden, also der Bedeutung literarischer Symbolfiguren wie Darío, Lugones oder auch Asunción Silva. Die Rolle von Joris Karl Huysmans Roman À rebours (1884) als entscheidender Einschnitt zwischen romantischer und modernistischer Prosa ist herauszuarbeiten. Mit Hilfe der Thesen Paul Bénichous soll gleichzeitig der Versuch unternommen werden, den Modernismo als eigentliche romantische Periode der mexikanischen Literaturgeschichte zu interpretieren; romantisch im Sinne insbesondere der deutschen und englischen Romantik, deren Rezeption in Mexiko erst sehr spät oder über französische und vor allem spanische Vermittler erfolgte, wodurch die Romantik des mittelamerikanischen Landes nur einzelne Aspekte der europäischen Bewegung verarbeiten konnte. Der Ursprung der vorliegenden Arbeit geht auf die Jahre 1992 und 1993 zurück, auf eine unterbrochene Doktorarbeit an der Universität Wien, deren thematischer Rahmen zu weit gesteckt war. Bei der Wiederaufnahme des Projektes boten sich Mexiko und die modernistische Prosa als Limitierungen an. Die Arbeit versucht keine konkrete Methode anzuwenden, da die besprochenen Texte zu heterogen dafür sind. Ihre ideologische und soziale Interpretation ist jedoch Grundlage aller meiner Ausführungen. Konkret orientiere ich mich an den Theorien Pierre Bourdieus zum literarischen Feld, das in ein größeres soziales Feld eingebettet erscheint. Die Beziehung des Autors zu Publikum und diversen politischen und sozialen Machtinstanzen hängt demnach von ihrer Entscheidung für oder gegen reales oder symbolisches Kapital ihres Schaffens ab. Dieser Prozess lässt sich im Rahmen des mexikanischen Porfiriats, dessen Regeln die modernistischen Autoren unterstellt waren, gut nachvollziehen. Ich gehe von einer Dreiteilung des literarischen Phänomens aus, die sich in ihren materiellen Trägern etabliert: Zeitschriften, theoretische oder autobiografische Texte der 3
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Pacheco, Antología, S. XV.
Vorwort
Autoren und Fiktion. Selbstverständlich müssen die drei Rubriken des Phänomens ohne qualitative oder ästhetische Vorurteile betrachtet werden. Auch darf man nicht vergessen, dass das Buch für viele mexikanische Autoren der Jahrhundertwende eine Illusion bleiben musste, dass also die Periodika als Träger von literarischer Theorie und Praxis vorherbestimmt waren. Für den Dekadenzbegriff fühle ich mich den Ausführungen des venezolanischen Philosophen Josu Landa verpflichtet, der in seinem Ensayo sobre la decadencia argumentiert, dass sich das Individuum in einer dekadenten Epoche am Ende der Geschichte angelangt sieht und daher versucht, die Grenzen der eigenen Existenz in der Realität abzustecken.4 Genau dies scheint mir die wesentliche „Motivation“ eines Des Esseintes in Frankreich oder eines José Fernández in Lateinamerika zu sein. Landa schreibt: „Todo el orden moral, político, axiológico, cultural, vigente pierde completamente su sentido, se torna en un monstruoso absurdo, para el espíritu que vive la decadencia hasta sus últimas consecuencias“ (Jegliche bestehende moralische, politische oder axiologische Ordnung verliert ihren Sinn und wird für den Geist, der die Dekadenz bis zu ihren letzten Konsequenzen lebt, zu einer monströsen Absurdität).5 Das Individuum hat nur eine Möglichkeit, aus dieser Situation Nutzen zu ziehen: „creando positivamente las imágenes del naufragio, del mundo cultural actual en proceso de declive“ (positiv die Bilder des Schiffbruchs schaffend, der aktuellen kulturellen Welt, die im Begriff ist unterzugehen).6 Aus dem Untergang entsteht der „goce estético de las imágenes de la debacle, el testimonio voluptuoso“ (das ästhetische Vergnügen an den Bildern des Debakels, das lustvolle Zeugnis).7 Die modernistische Generation der mexikanischen Literatur erfüllte diese Aufgabe ähnlich wie die romantischen Generationen Europas. Davon ausgehend erscheint die Kulturgeschichte Europas und Lateinamerikas ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wie eine kontinuierliche Dekadenz, die sich zu jeder Jahrhundertwende akzentuiert und künstlerisch äußert. Es gibt chronologische Differenzen (etwa Frankreich um 1800 und Mexiko um 1900), aber die Richtungen, die der von Landa apostrofierte „goce estético de las imágenes de la debacle“ nimmt, ähneln sich: Mystizismus und Esoterik in der deutschen, englischen und französischen Romantik; 50 Jahre später in Frankreich ästhetische Finesse, l’art pour l’art, ästhetische und/oder erotische Perversionen, Diabolismus. Einige Jahre später finden sich die gleichen Tendenzen in Lateinamerika wieder, wenn auch abgewandelt durch die sozialen und politischen Umstände der Länder und Autoren. Am Ende des 19. Jahrhunderts verringern sich die chronologischen Differenzen. Die Internationalisierung der Kultur macht eine unmittelbarere Reaktion auf fremde kulturelle Erscheinungsformen möglich. Insbesondere die lateinamerikanische Kultur kann die darin liegenden Möglichkeiten ausschöpfen. Die extrem umfangreiche Bibliografie über den Modernismo macht sein Studium als Gesamtphänomen praktisch unmöglich. Max Henríquez-Ureñas Breve historia del 4 5 6 7
Josu Landa, Ensayo sobre la decadencia y otros escritos (México: Editora de Letras, Ideas e Imágenes, 1987), S. 128. Landa, Ensayo sobre la decadencia, S. 133. Landa, Ensayo sobre la decadencia, S. 147. Landa, Ensayo sobre la decadencia, S. 157.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
modernismo von 1954 darf immer noch als gelungenste Gesamtdarstellung gelten. Eine lange Reihe spezialisierter Studien versucht, neue Aspekte aufzuzeigen und Fehler zu korrigieren, die in der globalen Darstellung fehlten oder gemacht wurden. Auch die vorliegende Arbeit will nicht mehr, als sich in diese Serie einordnen.
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1. Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit. Die Diskussion einer mexikanischen Nationalliteratur nach der politischen Autonomie
1.1. Einführung Als am Ende des 19. Jahrhunderts in Mexiko Revista Azul und Revista Moderna erscheinen, symbolisieren beide Organe einen Paradigmenwechsel innerhalb der mexikanischen (und lateinamerikanischen) Literatur, der sich vor allem in meist kurzlebigen Periodika vollzog. Der Klassizismus und die Spätromantik des 19. Jahrhunderts sahen sich zunehmend mit einer neuen Art des kulturellen und literarischen Journalismus konfrontiert, der aktuelle Tendenzen der spanischsprachigen Prosa und Lyrik verarbeitete, die sich ab etwa 1885 durchsetzten, und die heute unter den Namen Modernismo, Dekadentismus oder Symbolismus bekannt sind.8 Es wäre jedoch falsch, die Revista Azul und ihren Gründer, Manuel Gutiérrez Nájera, als die definitiven Vollzieher des erwähnten Paradigmenwechsels darzustellen, wie dies in der mexikanischen Kritik immer noch geschieht. Der als Kulturjournalist sehr erfahrene Gutiérrez Nájera und sein Mitherausgeber Carlos Díaz Dufoo können 1894 bereits auf eine relativ lange Tradition mehr oder weniger kulturell orientierter Publikationen zurückgreifen, die immer wieder versuchten, die Position der mexikanischen Literatur auszuloten und ihren Stellenwert im Vergleich mit der europäischen, v. a. französischen, Literatur darzustellen. Die Auseinandersetzung mit der Kultur Frankreichs gewann nach der Unabhängigkeit Mexikos eine unerwartet politische Dimension, da sie in den Kontext der problematischen und schwer fassbaren Beziehungen mit Spanien gestellt wurde. Es war unvermeidlich, dass die literarisch orientierten Zeitschriften des 19. Jahrhunderts auf die wechselnden politischen Konstellationen zwischen der neuen Nation Mexiko, dem alten Kolonialherrn Spanien und dem sehr an Mexiko interessierten Frankreich reagierten. In der Tat bestimmten auf diese Weise die Politik und die Suche nach einer mexikanischen Idiosynkrasie die Urteile über die französische Kultur in den Periodika des 19. Jahrhunderts. Um den erwähnten Paradigmenwechsel zu beschreiben, ist eine möglichst genaue Analyse von Revista Azul und Revista Moderna unbedingt notwendig, jedoch nicht genug. 8
Diese Bezeichnungen besitzen für die mexikanische Literatur der Jahrhundertwende nur relativen Wert. In einem Essay über die Beiträge der Antagonisten Manuel Gutiérrez Nájera und Ángel de Campo (Micrós) in der Revista Azul, konnte Adela Pineda zeigen, dass Gutiérrez Nájera, einer der Initiatoren des Modernismo, und den Realisten Micrós zumindest ein Thema verbindet: die Suche nach einem Platz für den Künstler in der positivistisch orientierten Gesellschaft des Porfiriats. Vgl. Adela Pineda, Modernismo, realismo costumbrista y los límites de su antagonismo: Un análisis de la coexistencia discursiva de Manuel Gutiérrez Nájera y Ángel de Campo (Micrós) en la Revista Azul (México, 1894-96). Verfügbar in: www.mailweb.udlap.mx/~adelap/articulos/art1.html.
Die Entstehung modernistischer Ästhetik
Der wechselnde Stellenwert der französischen Kultur vor den beiden großen modernistischen Sprachrohren muss zumindest an einigen wenigen Beispielen aufgezeigt werden. Die Bedeutung der französischen Literatur für die Entwicklung des lateinamerikanischen Modernismo kann nicht unterschätzt und noch viel weniger negiert werden.9 Es wäre jedoch bei dieser Bewegung wenig zufriedenstellend und, bedenkt man das Ausmaß der rezipierten Autoren und Werke, wohl auch unmöglich, die konkreten Einflüsse der französischen Literatur auf den mexikanischen Modernismo nachzeichnen zu wollen. Eine Reihe von spezialisierten Studien, beginnend mit dem Standardwerk von Max Henríquez-Ureña, hat dies bereits sehr ausführlich unternommen. Vielmehr möchte ich versuchen aufzuzeigen, wie sich das Frankreichbild Mexikos in einem Zeitraum von etwa 100 Jahren zwangsläufig veränderte und wie der Modernismo am Ende des Jahrhunderts erstmals fordern konnte, eine Trennung von Politik und Kultur in diesem Zusammenhang konsequent durchzusetzen und zu einem Teil seines literarischen Programms zu erheben. Außerdem muss man berücksichtigen, dass die verschiedenen literarischen Schulen und Gruppen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa zum Teil unversöhnlich gegenüberstanden, in Mexiko als eine Einheit rezipiert wurden, die man sehr vage mit dem Begriff Modernität umschreiben kann. Anders gesagt: Die große geografische Distanz zwischen Europa und Lateinamerika (viel größer als in Zeiten des globalen Dorfes) spielt eine banale, aber entscheidene Rolle, da sie eine ganz andere, vielleicht klarere Sicht auf die diversen -Ismen der Epoche mit sich bringt, als die ihrer aktiven Vertreter. In einer sehr ambitionierten Studie stellt Matei Calinescu fest, dass der Modernismo eine gut gelungene Synthese diverser französischer -Ismen ist, jedoch ohne deren Korpsgeist, der zu zahlreichen Disputen zwischen den Gruppen führte, mitzuübernehmen. Nach Calinescu stellt der Modernismo „a synthesis of all the major innovative tendencies that manifested themselves in late nineteenth-century France“ dar (eine Synthese aller wesentlichen innovativen Tendenzen, die im Frankreich des späten 19. Jahrhunderts auftraten).10 Diese Definition scheint mir das Wesen des Modernismo besser zu umschreiben, als die simple Feststellung, er sei eine literarische Bewegung, die auf der französischen Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts basiert. Die modernistische Synthese, von der Calinescu spricht, war wiederum nur möglich, weil zahlreiche Vorfahren von Revista Azul und Revista Moderna sich intensiv mit der französischen Kultur auseinandergesetzt hatten, das heißt, die Periodika der Jahrhundertwende konnten auf einen bereits vorhandenen Diskurs zurückgreifen, der in der ersten Phase der mexikanischen Unabhängigkeit erst mühsam in Gang gesetzt wurde. Das vorliegende Kapitel diskutiert in Kürze die Ursprünge eines spezifisch literarischen Journalismus in Mexiko und präsentiert als synchrone Einschnitte zwei Zeitschriften: El 9
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Einige Literaturgeschichten und Lexika sehen in der französischen Literatur den einzigen Ursprung des Modernismo. So etwa Gero von Wilpert, der in seinem weit verbreiteten Sachwörterbuch der Literatur definiert: „Epoche der lat.-amerikan. Lit. ab 1880 unter franz. Einfluß, gekennzeichnet durch Streben nach Musikalität der Sprache in kurzen Sätzen und exotisches Milieu …“ (Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart: Alfred Kröner, 1979, S. 519). Matei Calinescu, Five faces of modernity. Modernism, avant-garde, decadence, Kitsch, postmodernism (Duke University Press, 1987), S. 70.
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit
Recreo de las Familias (1838) und Ignacio Manuel Altamiranos El Renacimiento (1869), der als unmittelbarer Vorgänger der modernistischen Publikationen angesehen werden kann.
1.2. Die Definition einer mexikanischen Nationalliteratur als Reflex der Auseinandersetzung mit der Kultur Frankreichs 1.2.1. Die Anfänge eines literarischen Journalismus in Mexiko Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts waren zahlreiche Periodika und wissenschaftliche Institutionen die Träger der aus Europa importierten aufklärerischen Ideen in Mexiko. Alberto Saladino García beschreibt die lateinamerikanische Aufklärung als eklektisch, das heißt, sie wählte aus und gewann auf diese Weise einen äußerst religiösen und nationalistischen Charakterzug.11 Der Wissenschaftshistoriker zeichnet ein sehr positives Bild der Kultur in den spanischen Kolonien in der Zeit von etwa 1770 bis 1800: La situación cultural en las principales ciudades coloniales americanas era halagüeña ya que contaban con instituciones educativas de nivel superior, con profesores capacitados, imprentas de buen nivel que editaban libros y publicaciones periódicas, librerías bien dotadas y la capital de Nueva Granada abrió el 9 de Enero de 1777 la primera biblioteca pública del continente fundada por Francisco Moreno y Escandón. (Die kulturelle Lage in den wesentlichen amerikanischen Kolonialstädten war erfreulich, da sie mit Erziehungseinrichtungen hohen Niveaus, mit vorbereiteten Professoren, mit guten Druckereien, die Bücher und Periodika edierten, mit gut bestückten Bibliotheken rechnen konnten; und am 9. Jänner 1777 eröffnete in der Hauptstadt Neu Granadas die erste von Francisco Moreno y Escandón gegründete öffentliche Bibliothek.)12
Spanische, französische, englische und nordamerikanische Journale waren in den Kolonien verbreitet und übernahmen in erster Linie erzieherische und soziale Funktionen. Ihr Publikum setzte sich aus der unzufriedenen kriolischen Mittelschicht zusammen, deren Unabhängigkeitsdrang auf diese Weise neue Nahrung fand.13 Das von Saladino García gezeichnete Bild ist ohne Zweifel etwas zu optimistisch, zumindest für Mexiko. José Joaquín Fernández de Lizardi, der Pensador Mexicano, korrigiert es in zahlreichen Artikeln und vor allem in seinem pikaresken Roman El Periquillo Sarniento (1818), der nicht zuletzt das sehr mangelhafte und rückständige Schulwesen sowie die Nichtexistenz von Wissenschaft und Forschung in der mexikanischen Kolonie parodiert. Der Alltag eines mexikanischen Schülers um 1800 dürfte eher dem folgenden Bild entsprechen, in dem Periquillo seine ersten Lehrer beschreibt, als der von Saladino García aufgezeigten Idylle: 11 12 13
Alberto Saladino García, Ciencia y prensa durante la ilustración latinoamericana (Toluca: Universidad Autónoma del Estado de México, 1996), S. 40 und S. 325. Saladino García, Ciencia y prensa, S. 60f. Saladino García, Ciencia y prensa, S. 66ff. Die in Mexiko am weitesten verbreiteten Periodika dürften der Diario de México mit 671 Abonnenten, die Gazeta de México (400) und der Jornal Económico y Mercantil de Veracruz (233) gewesen sein (Saladino García, Ciencia y prensa, S. 72).
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
Este mi nuevo maestro era alto, seco, entrecano, bastante bilioso e hipocondríaco, hombre de bien a toda prueba, arrogante lector, famoso pendolista, aritmético diestro y muy regular estudiante; pero todas estas prendas las deslucía su genio tétrico y duro. [...] Era de aquellos que llevan como infalible el cruel y vulgar axioma de que la letra con sangre entra, y bajo este sistema era muy raro el día que no nos atormentaba. La disciplina, la palmeta, las orejas de burro y todos los instrumentos punitorios estaban en continuo movimiento sobre nosotros. (Mein neuer Lehrer war groß, trocken und graumeliert, ziemlich gallig und hypochondrisch, ein allseits erprobter guter Mann, ein arroganter Leser, berühmter Schönschreiber, geschickter Rechner und sehr gewissenhafter Student; aber alle diese Eigenschaften verdunkelte sein trübseliger und harter Geist [...] Er gehörte zu denen, die das grausame und vulgäre Axiom, wonach das Wissen mit Blut erworben wird, als unfehlbar für sich halten, und es verging kein Tag, an dem er uns nicht mit diesem System folterte. Die Disziplin, die Rute, die Eselsohren und alle Strafinstrumente waren in ständiger Bewegung über uns.)14
Der Lateinunterricht erweist sich als unproduktives Gedächtnistraining, in der Philosophie dominiert die Scholastik und Naturwissenschaften nimmt weder die Schule, noch die Universität ernst.15 El Periquillo Sarniento präsentiert die Lage der Kultur in den letzten Jahren der Kolonie weitaus pessimistischer, und weitaus realistischer, als die Monografie Saladinos.16 Lizardis journalistische und literarische Projekte, wie sein Calendario Histórico y Político oder der Correo semanario de México,17 hatten ganz überwiegend pädogogische und politische Zielsetzungen: die Verbreitung der Lektüre innerhalb der Schicht der criollos, der er selbst angehörte, sowie die Propaganda für die nationale Unabhängigkeit über die Einschränkungen der Zensur hinweg.18 Von einer Diskussion literarischer 14 15
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José Joaquín Fernández de Lizardi, El Periquillo Sarniento (México: Editores Mexicanos Unidos, 2002), S. 26. Die zahlreichen Wortspiele und Doppelbedeutungen des Abschnitts sind praktisch unübersetzbar. Luis G. Urbina beschreibt in seiner Einführung zur Antología del Centenario im Jahr 1910 die um 1800 dominante Pädagogik wie folgt: „En México se cantaba y se vivía á la antigua. La educación jesuítica marcó profundamente sus huellas en el alma de los colonos españoles en los criollos y mestizos que pasaron por las aulas universitarias mexicanas, donde la metafísica sumergía el pensamiento en profundidades de penumbra azul, y la dialéctica era como una malla de razonadas sutilezas. La filosofía escolástica imperaba en toda su magnificencia. Aristóteles y Santo Tomás dividíanse el señorío espiritual“ (In Mexiko sang und lebte man nach alter Art. Die Erziehung der Jesuiten hat tiefe Spuren in der Seele der spanischen Siedler, in den Kriolen und Mestizen, die durch die mexikanischen Universitätshallen gingen, hinterlassen. In ihnen versenkte die Metaphysik das Denken in Tiefen aus blauer Dämmerung. Die scholastische Philosophie herrschte in all ihrer Pracht. Aristoteles und der heilige Thomas teilten sich die geistige Herrschaft; Luis G. Urbina, ‘Estudio Preliminar’, in Antología del Centenario, hg. v. Justo Sierra, Luis G. Urbina, Pedro Henríquez-Ureña, Nicolás Rangel, Faksimileausgabe, Bd. 1, México: Miguel Ángel Porrúa, 1985, S. I-CCLVI, hier S. XIV). Diese Einschätzung schmälert nicht die Verdienste des Historikers, dessen Arbeit sehr wertvolle Daten enthält. Lizardi veröffentlichte praktisch im Alleingang vier Kalender und sechs Zeitschriften, neben vier Romanen, einigen dramatischen Werken und Fabeln (Vgl. Rosa Beltrán, ‘Prólogo’, in Lizardi: El Periquillo Sarniento, S. XII). Lizardi gründete auch im Jahr 1820 den kurzlebigen Lesezirkel Sociedad Pública de Lectura, der für einen geringen monatlichen Beitrag von drei Pesos Zeitungen und Bücher zur Verfügung stellte oder für einen Tag an seine Mitglieder auslieh (Vgl. Alicia Perales Ojeda, Las asociaciones literarias mexicanas, México: UNAM, 2000, S. 61). Um die Zensur umgehen zu können, erwarb Lizardi eine eigene Druckerpresse (vgl. Beltrán, ‘Prólogo’, S. XIII). Die summarische Arbeit von Eloy Caloca über die Geschichte der mexikanischen Presse notiert zu
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit
Tendenzen, etwa der in Europa entstehenden Romantik, kann aus offensichtlichen Gründen noch nicht gesprochen werden. Einige Jahre vor Lizardi war José Antonio Alzate y Ramírez, ein 1737 in der Nähe der Hauptstadt geborener Geistlicher, der mütterlicherseits aus der Familie von Sor Juana Inés de la Cruz stammt, darum bemüht, wissenschaftliche Kenntnisse aus einer langen Reihe von Disziplinen (v. a. Botanik und Mineralogie) populär zu machen.19 Die Titel seiner Zeitschriftenprojekte sind irreführend. Schon 1768 publizierte er ein Diario literario de México, das nach nur acht Nummern eingestellt wurde, und über das praktisch keine Daten erhalten sind.20 Zu Beginn des Jahres 1788 beginnt er mit der Herausgabe seiner Gaceta de Literatura, die bis 1795 Bestand hatte. Es handelt sich dabei um das Werk eines sehr regen und vielseitig interessierten, aber weitgehend isolierten Gelehrten. Von den 507 Artikeln, die in seiner Gaceta erschienen, verfasste Alzate selbst 395.21 Bei den restlichen Texten handelt es sich oft um Übersetzungen aus dem Lateinischen oder Französischen, die ebenfalls Alzate besorgte. Der mexikanische Priester verstand den Begriff Literatur in einem sehr weiten Sinn: Texte, die dazu beitragen, nützliche Kenntnisse aus verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen zu verbreiten. Mit dieser Idee steht Alzate zur Gänze in der Tradition der lateinamerikanischen Aufklärung, da er bestimmte Themen – religiöser Natur, die nationale Unabhängigkeit usw. – ausschließen musste, um das Fortbestehen seiner Zeitschrift nicht zu gefährden. Spezifisch literarische Themen werden behandelt, bilden aber eine verschwindende Minderheit innerhalb der drei Bände der Gaceta de Literatura. Der vom Instituto Mora zusammengestellte Index verzeichnet außer Übersetzungen von Horaz und Vergil, sowie eines Nachrufes in Versen auf den 1791 in Madrid verstorbenen Fabeldichter Tomás de Iriarte, keine Primärtexte. Jedoch zeigt auch eine limitierte Analyse des Inhaltes der Gaceta de Literatura, dass sich in ihr ein geisteswissenschaftlicher Disput widerspiegelt, der mit einiger Verspätung auch in den spanischen Kolonien ausgetragen wurde. In einer Reihe von Artikeln spricht sich Alzate gegen die Scholastik und die peripathetische Methodik aus, die das aristotelische Gedankengut auch Ende des 18. Jahrhunderts in der philosophischen Praxis beibehalten wollte. Im zweiten Band der Gaceta (Jahre 1790-1792) findet sich ein Beitrag Alzates, den
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diesem Thema, dass die in der Constitución de Cádiz von 1812 verankerte Druckerfreiheit zu einem Anstieg der in den Kolonien publizierten Periodika geführt habe, aber: „Dada la abundancia de material informativo, el virrey Vinegas suspendió la libertad de imprenta el 5 de diciembre de ese año [1812] y desató una persecución en contra de algunos periodistas, entre ellos Fernández de Lizardi, a quien mandó encarcelar“ (Durch das Ausmaß des informativen Materials suspendierte der Vizekönig Vinegas am 5. Dezember 1812 die Druckerfreiheit und ließ einige Journalisten verfolgen, unter ihnen Fernández de Lizardi, den er ins Gefängnis schickte; Eloy Caloca Carrasco, Recuento histórico del periodismo, México: Instituto Politécnico Nacional, 2003, S. 136). Der Historiker Roberto Moreno de los Arces hat sich bis zu seinem Tod um das Werk Alzates bemüht. Die hier enthaltenen Daten stammen aus seiner Antrittsrede in der Academia Mexicana de la Historia aus dem Jahr 1979. Roberto Moreno de los Arces, ‘Un eclesiástico frente al estado borbón’, in Índices de las Gacetas de Literatura de México de José Antonio Alzate y Ramírez, hg. v. Ramón Aureliano (México: Instituto Mora, 1996), S. 13-35, hier S. 20. Aureliano, Índices de las Gacetas de Literatura, S. 8.
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die Herausgeber des Index wie folgt zusammenfassen: „Señala que en México, aunque hubo filósofos que juraban ciegamente en las palabras de Aristóteles, la filosofía moderna no encontró tantos obstáculos“ (Er zeigt auf, dass die moderne Philosophie in Mexiko, auch wenn es Philosophen gab, die den Worten Aristoteles blind verfallen waren, nicht so viele Hindernisse vorfand).22 Dieser und andere Artikel richten sich gegen die wissenschaftliche Bevormundung Mexikos durch das spanische Mutterland; der criollo Alzate beginnt, die kulturelle Eigenständigkeit der Kolonie zu formulieren. Dieser frühe kulturelle Nationalismus zeigt sich noch deutlicher in Beiträgen, die der Bedeutung der präkolumbianischen Gesellschaften gewidmet sind. Alzate verteidigt die mexikanische Frühkultur gegenüber Vorwürfen, die diese als rückständig abqualifizieren. In einer ‘Descripción de las antigüedades de Xochicalco dedicada a los señores de la actual espedición marítima alrededor del orbe’ betont er, dass ausländische Autoren den Wert der indigenen Kulturen willkürlich herabgesetzt haben23 und unterstreicht, dass das Aztekenreich nicht von barbarischen Abenteurern erobert wurde, sondern: „existieron razones circunstanciales que hicieron posible la conquista, y que los sacrificios humanos eran una práctica común en las naciones antiguas“ (es gab Umstände, die die Eroberung möglich machten und die Menschenopfer waren eine gängige Praxis in den alten Nationen).24 Diese deutliche qualitative Aufwertung der präkolumbianischen Vergangenheit des Landes zeigt, wie sehr Alzate bereits um die Definition einer mexikanischen Idiosynkrasie bemüht war. „Desmentir las falsedades proferidas contra Nueva España por los extranjeros, y [...] reconocer las capacidades y riquezas de su nación“ (Die gegen Neu Spanien verbreiteten Falschheiten widerlegen, [...] die Möglichkeiten und Reichtümer seiner Nation anerkennen)25 werden folgerichtig als die Hauptanliegen der Gaceta beschrieben. In diesem Kontext zeigt Alzate auch die Ignoranz einiger europäischer Mexikoreisender auf, etwa des französischen Geistlichen De la Porte, dem die Befähigung, über die spanische Kolonie zu schreiben, abgesprochen wird.26 Wenn auch die ehrgeizige Gaceta de Literatura noch keinerlei Diskussion der aus Europa kommenden literarischen Produktion in ihre Seiten aufnimmt, kann sie dennoch die Rolle eines Wegbereiters für den interkontinentalen Diskurs, speziell mit Frankreich, übernehmen. Als 1795 die Gaceta von Madrid aus eingestellt wurde, geschah dies möglicherweise aus Furcht vor dem Gedankengut der französischen Revolution.27 Es wäre Unsinn, aus diesem Grund Alzate in eine Reihe mit Morelos und Hidalgo, die beiden Priester der mexikanischen Unabhängigkeit, zu stellen; es darf jedoch festgehalten werden, dass seine Gaceta de Literatura nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung mit einem negativen und oberflächlichen Mexikobild in Europa und dessen Widerlegung dem Nationalismus der criollos Nahrung gab und sie in ihrem Unabhängigkeitsdrang bestärkte. Die oft vertretene These von Frankreich als Leitbild der mexikanischen Kultur relativiert sich zumindest in dieser frühen Phase. Die sehr einge22 23 24 25 26 27
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Aureliano, Índices de las Gacetas de Literatura, S. 64. Aureliano, Índices de las Gacetas de Literatura, S. 75. Aureliano, Índices de las Gacetas de Literatura, S. 76. Aureliano, Índices de las Gacetas de Literatura, S. 127f. Aureliano, Índices de las Gacetas de Literatura, S. 88. Roberto Moreno de los Arces, ‘Un eclesiástico frente al estado borbón’, S. 33.
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit
schränkten Möglichkeiten einer Diskussion der Ideen und Ergebnisse der französischen Revolution lassen Frankreich viel eher als ein Land erscheinen, in dem falsche Informationen über Mexiko verbreitet werden, denen in Amerika mit einer stärkeren Betonung der kulturellen Eigenständigkeit begegnet werden muss. In den ersten Jahren und Jahrzehnten nach der Unabhängigkeitsbewegung steigt die Zahl der neu entstehenden mexikanischen Periodika deutlich an, und erstmals nimmt die Literatur einen prominenten Platz innerhalb der Zeitungen und Zeitschriften ein. In den Sammlungen der Hemeroteca Nacional in Mexiko-Stadt sind 342 Periodika registriert, die zwischen 1822 und 1855 entstanden.28 Auch wenn viele von ihnen nach nur wenigen Wochen oder Monaten ihr Erscheinen wieder einstellen mussten, verdeutlicht diese Zahl doch, dass, zumindest in der Theorie, in der ersten Phase der nationalen Unabhängigkeit ein Forum für die Diskussion ästhetischer und literarischer Ideen vorhanden war. Die Tatsache, dass viele der Periodika, auch solche, die in erster Linie dem Tagesgeschehen gewidmet waren, die Wörter „Literatur“ oder „Kunst“ in ihre Titel integrierten, verstärkt diesen Eindruck. Eine kleine Auswahl der Titel liefert ein Bild davon: La Águila mexicana. Periódico cuotidiano político y literario (1823-1828); Indicador federal. Diario político, económico y literario de Mégico (1825); El Amigo del pueblo. Periódico mexicano, literario, científico, de política y comercio (1827-1828); El Gladiador, o sea El Verdadero federalista. Diario político, crítico, literario y económico de México (1830-1831); Registro trimestre. O colección de memorias de historia, literatura, ciencias y artes (1832-1833); La Antorcha. Periódico religioso, político y literario (1833); Revista mexicana. Periódico científico y literario (1835-1836); El Diorama. Semanario histórico, geográfico y literario (1837), usw.29 Unabhängig von der politischen Tendenz dieser Periodika war die Aufnahme des Passus „für Literatur“ in den Titel unumgänglich. In den meisten Publikationen spielte jedoch die literarische Produktion des Landes und ihre Diskussion keinerlei Rolle. Die Herausgeber verstanden den Begriff „Literatur“ immer noch mehr im Sinne des geistlichen Gelehrten Alzate, als in dem der „bellas letras“. Erst mit den Aktivitäten des kubanischen Dichters José María de Heredia (1803-1839),30 den u. a. José Luis Martínez als „acaso el primer romántico de lengua española“ (vielleicht der erste Romantiker in spanischer Sprache) präsentiert,31 während Ruiz Castañeda und Celia Miranda Cárabes in ihm noch einen politisch liberalen, aber literarisch klassizistischen Autor sehen,32 kann von einem 28
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Miguel Ángel Castro und Guadalupe Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX: 1822-1855 (México: UNAM, 2000), S. XIII. Der Fortsetzungsband dieses Registers, der die Jahre 1856 bis 1876 erfasst, erschien im Jahr 2004 (im Buch wird 2003 als Erscheinungsjahr angegeben) und wertet 203 von mehr als 500 für diesen Zeitraum erhaltenen Periodika aus. Die Titel wurden dem ausgezeichneten Index von Castro und Curiel entnommen. Heredia kam in Kuba zur Welt, verbrachte aber seine kurze Existenz praktisch zur Gänze im Exil. Er kam 1819 erstmals nach Mexiko, reiste nach einem kurzen Aufenthalt in Kuba durch die USA, wo sein bekanntestes Gedicht ‘Al Niágara’ entstand. Ab 1825 lebte er in Mexiko, wo er 1839 in Toluca starb. Vgl. Alicia Perales Ojeda, Las asociaciones literarias mexicanas, S. 62. José Luis Martínez, ‘México en busca de su expresión’, in Historia General de México, koordiniert von Daniel Cosío Villegas, 2 Bde. (México: El Colegio de México, 1981), Bd. 2, S 1017-1073, hier S. 1037. María del Carmen Ruiz Castañeda, ‘Estudio preliminar’, in El Recreo de las Familias, Faksimileausgabe, hg. v. Instituto de Investigaciones Bibliográficas (México: UNAM, 1995), S. XI-LVIII, passim. Celia
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literarisch orientierten Journalismus in Mexiko die Rede sein. Das erste Projekt Heredias stellt El Iris dar, eine zweimal pro Woche erscheinende Zeitschrift, die er 1826 gemeinsam mit seinen Landsleuten Linati und Galli ins Leben rief. Ihr Untertitel lautete Periódico crítico y literario. Bis August 1826 erschienen 40 Nummern, dann verließen ihre Herausgeber Mexiko und El Iris wurde eingestellt. Heredia hatte schon zuvor die Publikation verlassen, womit sie – laut Castro und Curiel – ihren dezidiert literarischen Charakter verlor.33 Heredia schrieb den literarischen Teil der Zeitschrift praktisch im Alleingang. Der Kubaner beteiligte sich nach seinem Ausscheiden aus El Iris unter anderem an der Redaktion von El Amigo del pueblo, einer 1827 und 1828 wöchentlich erscheinenden Zeitschrift, von der 57 Nummern entstanden.34 Unabhängig von der Diskussion um die Zugehörigkeit Heredias zu Klassizismus oder Romantik belebte der Kubaner ohne Zweifel mit seinen Projekten, sowie mit seinen Studien zu europäischen Autoren die mexikanische Literaturszene. Er stand in Kontakt mit einigen Vertretern der nur drei Jahre vor seinem Tod gegründeten Academia de San Juan de Letrán, insbesondere mit Ignacio Rodríguez Galván, dem Gründer des Recreo de las Familias, in dem diese erste „romantische“ Generation Mexikos ein kurzlebiges Forum fand, ohne sich jedoch dezidiert dieser Gruppe anzuschließen.35
1.2.2. Die erste „romantische“ Gruppe Mexikos In der Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass die mexikanische Romantik ein unmittelbares Produkt des Unabhängigkeitskrieges war. So stellt José Luis Martínez fest: „Para ser románticos les bastaba exagerar sólo un poco su propio sentimentalismo, melancolía e introspección. La reciente independencia política y las luchas internas y externas que debieron sostenerse para afianzar la independencia concordaron con el viento de rebeldía y libertad de la musa romántica“ (Um Romantiker zu sein, war es genug, ein wenig ihren eigenen Sentimentalismus, ihre Melancholie und Innenschau zu übertreiben. Die junge politische Unabhängigkeit und die inneren und äußeren Kämpfe, die sie ausfechten mussten, um die Unabhängigkeit zu vertiefen, trafen sich mit dem rebellischen und freiheitsliebenden Wind der romantischen Muse).36 Seine Schülerin Alicia Perales Ojeda findet die gleichen Entstehungsgründe für die mexikanische Romantik und betont ebenfalls ihre Symbiose mit der Unabhängigkeitsbewegung und der unruhigen ersten Phase der politischen Autonomie: „Las luchas intestinas poco propicias al cultivo de las letras crearon también un clima romántico“ (Die der literarischen Praxis ungünstigen Grabenkämpfe erzeugten ebenfalls ein romantisches Klima).37 Beide Historiker übersehen
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Miranda Cárabes, ‘Estudio preliminar’, in La novela corta en el primer romanticismo mexicano, hg. v. Celia Miranda Cárabes (México: UNAM, 1998), S. 7-51, passim. Castro und Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX: 1822-1855, S. 234f. Castro und Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX: 1822-1855, S. 17f. Ruiz Castañeda, ‘Estudio preliminar’, S. XVI. Martínez, ‘México en busca de su expresión’, S. 1037. Perales Ojeda, Las asociaciones literarias mexicanas, S. 81.
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit
hier, dass die mexikanische „musa romántica“ sehr gut mit der Muse der vorhergehenden Generation zusammenleben konnte. Es gab keine aggressiv geführte Diskussion zwischen ältereren und neueren literarischen Strömungen. Ein vages „romantisches Klima“ bei den jüngeren Autoren war mit Sicherheit nicht Grund genug, um den Bruch mit ihren Vorgängern zu suchen. Ein Blick auf den historischen Kontext deckt einen Grund für diese Harmonie auf. Ohne Zweifel ist die Erfahrung des Unabhängigkeitskampfes ein einigendes Element, man darf aber nicht übersehen, dass die meisten Autoren der ersten romantischen Generation ihn nur als Kinder miterlebt haben. Die labile Anfangsphase der Republik dürfte ausschlaggebender für die Kooperation zwischen „jungen“ und „alten“ Autoren gewesen sein, als ein nicht fassbarer vager rebellischer Geist, der dem Kampf gegen Spanien entsprungen wäre. Die Beziehungen mit Frankreich spielen in diesem Zusammenhang bekanntermaßen eine entscheidendere Rolle, als der überstandene Krieg mit dem früheren Kolonialherrn. In seiner ausgezeichnet dokumentierten Studie ‘Reiseberichte als historische Quellengattung für Mexiko im 19. Jahrhundert’ kann Walther L. Bernecker aufzeigen, dass schon kurz nach der Unabhängigkeit Mexikos das wirtschaftliche Interesse der europäischen Mächte und der USA an dem neuen Land deutlich zunimmt.38 Der Mythos vom mexikanischen Reichtum entsteht. Zahlreiche französische, deutsche, englische und nordamerikanische Reisende konnten das ökonomische Potential des Landes nicht hoch genug einschätzen: Die meisten Reisenden sprachen von Mexiko in romantisierender Form als von einem Traumland, betonten die Schönheit der Landschaft, priesen die verschiedenen Klimazonen und die Fruchtbarkeit des Bodens, zählten die Edelmetallbergwerke auf, wiesen auf die großartigen Chancen im Land hin. Mathieu de Fossey etwa schrieb, zehn Jahre Mexikoaufenthalt würden ausreichen, um ein Vermögen zu machen, und Michel Chevalier betonte, die enormen Reichtümer Mexikos würden von der einheimischen Bevölkerung, der der nordamerikanische Unternehmungsgeist fehle, nicht genutzt und stünden somit ausländischer Initiative offen.39
Auch diplomatische Noten und Berichte aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprechen von den praktisch unbegrenzten Möglichkeiten Mexikos. Die logische Konsequenz dieser Einschätzung war eine teilweise sehr aggressive Politik der Einmischung, vor allem seitens Frankreichs, das die Autonomie Mexikos bis 1839 nicht anerkannte. Der französische Gesandte Deffaudis, „persona desagradable y poco apta para tratar los asuntos“ (eine unerfreuliche und für die Behandlung der Angelegenheiten wenig geeignte Person),40 unterstützte die übertriebenen Reparationsforderungen, die französische Staatsbürger wegen während des Unabhängigkeitskrieges erlittener Schäden an die mexikanische 38
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Das Manuskript der Studie wurde mir freundlicherweise von Prof. Bernecker zur Verfügung gestellt. Ein sehr guter Überblick über seine Arbeiten zu den deutsch-mexikanischen Wirtschaftsbeziehungen findet sich im Sammelband Las relaciones germano-mexicanas desde el aporte de los hermanos Humboldt hasta el presente, der von Colegio de Méxiko, DAAD und UNAM im Jahr 2001 ediert wurde. Walther L. Bernecker, ‘Reiseberichte als historische Quellengattung für Mexiko im 19. Jahrhundert’, Manuskript, o. J., S. 9. Josefina Zoraida Vázquez, ‘Los primeros tropiezos’, in Historia general de México, koordiniert von Daniel Cosío Villegas, 2 Bde. (México: El Colegio de México, 1981), Bd. 2, S 735-819, hier S. 808.
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Regierung stellten.41 Der Konflikt eskalierte, als Deffaudis im März 1838 ein Ultimatum stellte und die Zahlung von 600.000 Pesos forderte. Vázquez kommentiert dazu: „México alegó que daba protección a los extranjeros, pero que carecía de fondos para indemnizar daños ocasionados por algunos criminales; pero el ultimátum era tan insultante, que el congreso se sintió obligado a declarar la guerra“ (Mexiko argumentierte, dass es die Ausländer schützte, aber dass es keine Reserven hatte, um die von einigen Kriminellen verursachten Schäden wiedergutzumachen; aber das Ultimatum war derart beleidigend, dass der Kongress sich gezwungen sah, den Krieg zu erklären).42 Das französische Heer belagerte die Hafenstadt Veracruz und einmal mehr sollte der Langzeitdiktator Santa Anna die Situation für Mexiko retten. Im März 1839 unterzeichneten die beiden Länder einen Friedensvertrag, in dem Mexiko die französischen Forderungen akzeptierte und Frankreich im Gegenzug die Anerkennung der mexikanischen Autonomie in Aussicht stellte.43 Die äußerst problematischen politischen Beziehungen zwischen Mexiko und Frankreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mussten sich in den Zeitungen und Zeitschriften der Epoche niederschlagen. Es ist anzunehmen, dass auch der kulturelle Aspekt der Beziehungen zwischen den beiden Ländern unter dieser Situation litt. Eine genauere Analyse des 1838, also genau in der „heißen Phase“ des französisch-mexikanischen Konfliktes publizierten Recreo de las Familias, soll diese Annahme bestätigen.
1.2.3. El Recreo de las Familias El Recreo erschien zweiwöchentlich vom 1. November 1837 bis April 1838. Zwölf Nummern mit je 42 Seiten und einigen Lithografien wurden produziert. Praktisch alleinverantwortlich für die Zeitschrift war Ignacio Rodríguez Galván (1816-1842), der seit seiner Kindheit in der Druckerei seines Onkels Mariano Galván Rivera arbeitete.44 Laut Ruiz 41
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Dieser Konflikt bekam den scherzhaften Namen „guerra de los pasteles“, der Kuchenkrieg, wegen der angeblichen Schadensersatzforderungen eines in Puebla ansässigen französischen Bäckers (Vázquez, ‘Los primeros tropiezos’, S. 808). Vázquez, ‘Los primeros tropiezos’, S. 808f. Vázquez, ‘Los primeros tropiezos’, S. 809. In der Tat erfolgte die Anerkennung noch im gleichen Jahr 1839. Die Druckerei Galván war Konkurrent des Marktführers Ignacio Cumplido (1811-1887). Beide Institutionen erzielten beachtliche Fortschritte in der Qualität ihrer Publikationen. Eines der Prestigeobjekte Cumplidos war ein zweibändiger Quijote aus dem Jahr 1842, heute als vom Verleger Miguel Ángel Porrúa betreute Faksimileausgabe erhältlich. Außerdem betreute Cumplido die drei Bände von El Presente amistoso (1847, 1851 und 1852), eine an das feminine Publikum gerichtete Publikation, die von Castro und Curiel als drucktechnische Sensation eingestuft wird (Vgl. Castro und Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX: 1822-1855, S. 336f.). Als gelungenstes Projekt Galváns gelten die vier Bände von El año nuevo (1837-1840), um deren Nachdruck sich die UNAM bemühte. Ich verweise für die Firmengeschichte der Druckerei Galván auf das Vorwort von María del Carmen Ruiz Castañeda zur Faksimileausgabe des Recreo aus dem Jahr 1995. Alicia Perales Ojeda nennt als führende Drucker der Zeit neben Cumplido auch Manuel Murguía (1807-1860) und Vicente García Torres (1811-1893). Außerdem stellt sie fest, dass sich in den drei Jahrzehnten von 1821 bis 1853 insgesamt 350 Druckereien in der mexikanischen Hauptstadt etablierten, die neben Zeitschriften in erster Linie Predigtliteratur, Aufrufe und Gesetzestexte herstellten (Vgl. Alicia Perales Ojeda, Las asociaciones literarias mexicanas, S. 19ff.).
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Castañeda war Rodríguez Galván Autodidakt, der sich selbst Französisch, Englisch und Italienisch beibrachte und auch über einige Lateinkenntnisse verfügte.45 Der junge Galván gilt als einer der Hauptvertreter der ersten romantischen Generation der mexikanischen Literatur, die sich ab 1836 in der Academia de San Juan de Letrán zu einer Gruppe zusammenschloss. Diese „Frühromantik“ entstand aber, ganz im Gegensatz zu den europäischen Romantiken, ohne Konflikte: Die mexikanische Literaturgeschichte verzeichnet in dieser Phase keine querelle, keinen Streit zwischen Alten und Neuen.46 Die Tatsache, dass der klassizistische Dichter und Politiker Andrés Quintana Roo erster Vorsitzender der Academia war, verdeutlicht die relative Harmonie unter den mexikanischen Literaten der Zeit.47 Francisco Ortega (1793-1849), Manuel Carpio (1791-1860), der Conde de Cortina (1799-1860) u. a. vertraten den klassischen Geschmack innerhalb der Academia. Guillermo Prieto (1818-1897), Fernando Calderón (1809-1845), Ignacio Ramírez (1818-1879), Manuel Payno (1810-1894), Rodríguez Galván u. v. m. können als Repräsentanten einer neuen Ästhetik innerhalb der Gruppe gelten, jedoch ohne dass es zu künstlerischen Konflikten zwischen den beiden Teilen gekommen wäre.48 Perales Ojeda berichtet zwar von einem Skandal in der Academia um den jungen Ignacio Ramírez („El Nigromante“, 1818-1879), der mit einem atheistischen Gedicht um seine Aufnahme ansuchte, was bei den meisten Akademiemitgliedern Empörung hervorrief; der Text selbst aber sei in perfekter klassizistischer Form geschrieben gewesen.49 Religiöse Werte waren unantastbar, egal in welchem Stil sie in Frage gestellt wurden. Die Unterscheidung zwischen „romantisch“ und „klassizistisch“ ist in dieser Hinsicht nebensächlich und bezieht sich nur auf eine schwer messbare Graduierung von sentimentaler Exaltiertheit. Die Werke der Academia fanden zunächst in El mosaico mexicano Aufnahme.50 Die Zeitschrift, gedruckt von Ignacio Cumplido, erschien zweiwöchentlich von Oktober 1836 bis März 1837, wurde jedoch dann eingestellt und erst ab Jänner 1840 wieder publiziert.51 Wenige Monate nach der Einstellung fanden ihre Autoren im Recreo ein neues Forum.
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Ruiz Castañeda, ‘Estudio preliminar’, S. XIIf. Vgl. dazu Celia Miranda Cárabes, ‘Estudio preliminar’, in La novela corta en el primer romanticismo mexicano, hg. v. Celia Miranda Cárabes (México: UNAM, 1998), S. 7-51, hier S. 21. Guillermo Prieto beschreibt in seinen Memoiren die „Wahl“ Quintana Roos zum Vorsitzenden der Academia wie folgt: „La academia se puso en pie y prorrumpió en estrepitosos aplausos que conmovieron visiblemente al anciano ... El nombre de Quintana Roo, que tal era nuestro visitante, fué pronunciado por todos los labios, y por aclamación irresistible fué elegido nuestro presidente perpetuo./El júbilo por este nombramiento fué tan ardiente como sincero; nos parecía la visita cariñosa de la Patria“ (Die Akademie erhob sich und brach in stürmerischen Applaus aus, der den Greis sichtlich bewegte ... Der Name Quintana Roos, denn er war unser Besucher, wurde von allen Lippen ausgesprochen und, per unwiderstehlicher Akklamation, wurde er zu unserem Präsidenten auf Lebenszeit gewählt./Der Jubel wegen dieser Ernennung war ebenso heftig, wie ehrlich. Es erschien uns der zärtliche Besuch des Vaterlandes; Guillermo Prieto, Memorias de mis tiempos, México: Porrúa, 1958, S. 124.) Auch noch José Sebastián Segura (1822-1889), der als erster in Mexiko Schiller direkt aus dem Deutschen übersetzte, gehörte zur Gruppe. Perales Ojeda, Las asociaciones literarias, S. 76ff. Ruiz Castañeda, ‘Estudio preliminar’, S. XV. Vgl. dazu Castro und Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX: 1822-1855, S. 268.
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Trotz der Präsenz der Autoren der Academia erhielt Galván zu wenige nationale Beiträge, um eine Nummer des Recreo zum Großteil mit mexikanischen Artikeln füllen zu können. Er war gezwungen, Artikel aus europäischen Zeitschriften zu übernehmen, was natürlich – berücksichtigt man die in Lateinamerika im 19. Jahrhundert praktisch nicht vorhandenen Autorenrechte – ohne Quellenangaben geschah. Besonders die spanische Zeitschrift El Artista, die ihrerseits eine Nachahmung der Pariser L’Artiste war, war für Galván eine reichhaltige Fundgrube.52 Trotzdem betont Galván in seiner programmatischen Einführung, dass es sich beim Recreo um ein nationales Projekt handelt, das vor allem europäische Vorurteile gegenüber der jungen mexikanischen Nation widerlegen soll: En medio de este movimiento, de esta revolucion, de este incendio, cada megicano desea tener una parte, aunque sea pequeña, en el engrandeciemiento de su nacion; porque están persuadidos de que cada ciudadano debe hacer lo que pueda en favor de su pais, sin cuidarse de que sus compatriotas hagan lo mismo que él, ó que permanezcan en vergonzosa inaccion. Unicamente de esta manera podremos desmentir algun dia, llenos de placer y de orgullo, á esas naciones que nos deprimen sin conocernos; que olvidando los dias de su infancia, solo se acuerdan de su actual poder, y que debian avergonzarse al contemplar lo que fueron en las circunstancias en que nosotros nos hallamos. (Inmitten dieser Bewegung, dieser Revolution, dieses Brandes möchte jeder Mexikaner einen, wenn auch noch so kleinen Teil, an der Vergrößerung der Nation haben; weil sie davon überzeugt sind, dass jeder Bürger, was in seiner Kraft steht, für das Land machen muss, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass seine Landsleute ein Gleiches tun oder in beschämender Untätigkeit verharren. Nur so können wir eines Tages, voll Vergnügen und Stolz, den Nationen widersprechen, die uns herabdrücken, ohne uns zu kennen; die, indem sie die Tage ihrer eigenen Kindheit vergessen, nur an ihre gegenwärtige Macht denken und sich schämen sollten, wenn sie betrachten, was sie unter den Unmständen, in denen wir uns befinden, waren.)53
Unschwer lässt sich Frankreich als eine der machtvollen Nationen, die das neue Land Mexiko unterdrücken, identifizieren. Die französische Literatur spielt folgerichtig eine sehr untergeordnete Rolle in den Seiten des Recreo, obwohl sich auf dem Titelblatt ein in der Originalsprache abgedrucktes Zitat von La Fontaine als Motto der Publikation findet: „est bien fou du cerveau qui prétend contenter tout le monde“ (und ziemlich verrückt im Geiste, wer alle Welt zufriedenstellen möchte). Kurze Texte von Lamartine, Voltaire, Rousseau und Pascal dienen als Lückenfüller. In der ersten Nummer findet sich eine Übersetzung der ‘Pensée des morts’ von Lamartine. Das Gedicht erschien 1830 in den Harmonies poétiques et religieuses; als Übersetzer scheint der 1782 in Morelia geborene Francisco Manuel Sánchez de Tagle auf, der möglicherweise auch die kürzeren Texte für den Recreo aus dem Französischen ins Spanische übertrug. In einer knappen Note urteilen die Herausgeber über das Gedicht, gehen dabei jedoch nicht auf Lamartine ein, sondern ausschließlich auf die Qualität der Übersetzung Tagles. Es heißt dort: „la traduccion [...] nos parece de mérito; y aun, si se esceptua uno que otro descuido perdonable de prosodia, creemos que puede servir de modelo á los que se dedican á esta 52 53
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Ruiz Castañeda, ‘Estudio preliminar’, S. XLV. Ein Vergleich der Lebensdauer der drei Periodika ist aufschlussreich: L´Artiste 1831-1904, El Artista 15 Monate, El Recreo sechs Monate. El Recreo de las Familias, Faksimileausgabe (México: Instituto de Investigaciones Bibliográficas, UNAM, 1995), S. 2. Die Orthografie und die den heutigen Normen nicht mehr entsprechende Akzentsetzung des Originals werden in den Zitaten beibehalten.
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clase de trabajo“ (die Übersetzung [...] scheint uns verdienstvoll zu sein; und, sogar wenn man die eine oder andere verzeihliche prosodische Nachlässigkeit ausnimmt, glauben wir, dass sie ein Modell für diejenigen sein kann, die sich dieser Art Arbeit widmen).54 Außerdem betont der anonyme Verfasser dieser Anmerkung den großen Bekanntheitsgrad von Andrés Quintana Roo, dem die Übertragung gewidmet ist, und der „en toda la república, y hasta en Europa“ (in der ganzen Republik und sogar in Europa) hochgeschätzt werde. Kein Wort fällt über die Rolle Lamartines innerhalb der damals aktuellen französischen Literatur und ebensowenig wird der Wert des originalen Textes besprochen. Die Übersetzung, die nicht zuletzt einen Prüfstein für die Literaturfähigkeit des Spanischen im Vergleich mit dem Französischen darstellt, steht im Mittelpunkt. In der zweiten Nummer des Recreo erscheint ein kurzer Text mit dem Titel ‘El Incendio’ von Charles Marguerite Dupaty.55 Es handelt sich dabei um eine Mischung aus Chronik und Erzählung: Dupaty schildert in plastischen Bildern eine Brandkatastrofe in Rom und erwähnt erst am Ende seines Textes, dass es sich in Wirklichkeit um die Beschreibung eines im Vatikan befindlichen Gemäldes von Rafael handelte. Der Recreo weist Dupaty als Autor aus, „versteckt“ aber seinen Namen am Ende der Erzählung und unterdrückt die Vornamen des Franzosen, sowie jegliche biografische oder kritische Angabe zu seiner Person.56 Die Zeitschrift Galváns vermeidet lange Zeit eine Diskussion der neueren Tendenzen der französischen Literatur, scheint insbesondere den Disput um die neu entstandene romantische Schule nicht erwähnen zu wollen. Das Bild von Frankreich als politischer Gegner Mexikos, als Invasor, dominiert und verhindert zunächst eine seriöse Rezeption und Diskussion der literarischen Tendenzen des Landes aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Besonders deutlich zeigt sich dies in der dritten Nummer, die den Text ‘Cómicos franceses en España’ beinhaltet. Es handelt sich dabei um die Chronik eines Reisenden, des Vaudeville-Autors Jules Edouard Alboise du Pujol (1805-1854), der von den Erfolgen (oder Misserfolgen) einiger französischer Theatergruppen in Spanien berichtet und nicht zuletzt das unzivilisierte und pittoreske Verhalten des spanischen Publikums und seinen fragwürdigen Geschmack karikiert, sowie die Überlegenheit der französischen Kultur und Sitten betont: Los palcos preparados expresamente y llenos de imágenes de santos, les sirven para rezar en el primer entreacto, dormir en el segundo, y recibir á sus amantes durante el tercero. Ellas se complacen con los largos dramas, con las innumerables variaciones, con los desafios, y sobre todo, con los bailes voluptuosos de su pátria. Cuando las piezas que se representan no agradan al público, en los entreactos hacen bailar el bolero y el fandango. Paréceme que el teatro frances que se acaba de establecer en Madrid es imposible que subsista, á pesar de que esta ciudad es la que conserva ménos las costumbres del pais, y la que se acerca mas á las de Francia. (Die speziell vorbereiteten und mit Heiligenbildern vollen Logen dienen ihnen im ersten Akt zum beten, im zweiten zum schlafen und im dritten, um ihre Liebhaber zu empfangen. Die langen Dramen gefallen ihnen, mit zahllosen Variationen, mit Herausforderungen und vor allem mit den lüsternen Tänzen ihrer Heimat.
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El Recreo, S. 19. Dupaty lebte von 1744 bis 1788, war Parlamentspräsident in Bordeaux und Freund von D´Alembert, sowie Übersetzer aus dem Italienischen. Als Übersetzer lässt sich Rodríguez Galván selbst identifizieren.
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Wenn die gespielten Stücke dem Publikum nicht gefallen, so lassen sie in den Zwischenakten den Bolero und Fandango tanzen. Es erscheint mir unmöglich, dass das gerade in Madrid etablierte französische Theater überlebt, obwohl diese Stadt am wenigsten die Sitten des Landes beibehält und sich am meisten denen Frankreichs annähert.)57
Es kann nicht überraschen, dass derartige Bemerkungen Pujols bei den Herausgebern der mexikanischen Zeitschrift auf wenig Verständnis trafen.58 Gleichzeitig ist es sehr wahrscheinlich, dass Rodríguez Galván diesen Bericht mit voller Absicht ausgewählt hat, um mit ihm das hochmütige Verhalten der französischen Literaten einerseits, den Fehler, sie nachahmen zu wollen andererseits, zu illustrieren. Die Anmerkung des Übersetzers zu diesem Text könnte denn auch nicht deutlicher ausfallen: „Es lo peor que puede tener Madrid, lo que por desgracia va teniendo nuestro país: bueno es que imitemos de los estrangeros lo útil; pero costumbres y modas que el clima ó la educacion exigen únicamente, parece necedad imitar de quien quiera que sean “ (Das Schlechteste, was Madrid haben kann, wird leider unser Land haben: es ist gut, wenn wir von den Ausländern das Nützliche imitieren, aber es ist Sturheit, Sitten und Moden zu imitieren, von wem auch immer, die nur dem Klima und der Erziehung gehorchen ).59 Erneut kann von einer Diskussion der französischen Kultur nicht die Rede sein, noch viel weniger natürlich von „afrancesamiento“, einem Vorwurf, dem die mexikanische Literatur des ganzen 19. Jahrhunderts ausgesetzt war und ist. Aus verständlichen Gründen versucht Galván, den Stellenwert der französischen Kultur zu relativieren, indem er die nationalistischen Gefühle seiner Leser anspricht. Spanien, dessen Kolonialherrschaft nur wenige Jahre zurückliegt, stellt sich in diesem Kontext als in zweifacher Hinsicht willkommener Verbündeter heraus: Einerseits kann er auf diese Weise den Wert des Spanischen als eigenständige Literatursprache andeuten, den das europäische Mutterland durch seine zu enge Anlehnung an Frankreich im Begriff ist zu verlieren. Andererseits bietet ihm der Vergleich mit Spanien die Möglichkeit, die kulturelle Autonomie Mexikos in Aussicht zu stellen, die paradoxerweise gerade in einer neuerlichen Annäherung an Spanien und einer gleichzeitigen Distanzierung von Frankreich zu finden sein könnte. Dass derartige Überlegungen jedoch in erster Linie der labilen politischen Situation des Landes, v. a. der Gefahr einer französischen Invasion entspringen, und nur in zweiter Hinsicht der Sorge um die kulturelle Entwicklung des Landes zu verdanken sind, steht außer Frage. Das Frankreichbild in Galváns Recreo de las Familias kreist konsequenterweise auch in den folgenden Nummern ganz überwiegend um die Themen der kulturellen Arroganz Frankreichs und um die lächerliche Nachahmung französischer Sitten und Lebensstile in Mexiko, die auch die Imitation als oberflächlich empfundener literarischer Tendenzen miteinschließt. 57 58
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El Recreo, S. 111f. Schon in der sechsten Nummer des Recreo findet sich ein Beitrag, den die Herausgeber dem 1834 von Nerval gegründeten Le Monde Dramatique entnahmen (vom 1. Jänner 1838, die Zeitschrift gelangte also mit nur sehr geringer Verzögerung nach Mexiko), der unter dem Titel ‘Una fiesta y una representacion teatral en los bosques de Megico’ die Rückständigkeit Mexikos beklagt. Der anonyme Übersetzer merkt dazu an, dass es sich um eine Beleidigung seines Landes handelt und fordert die berühmten Herausgeber der französischen Zeitschrift auf, ihre Publikation nicht mehr mit derartigen Lügen zu beschmutzen (Vgl. El Recreo, S. 235). El Recreo, S. 112.
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Die deutlichste Verarbeitung dieses Themas stellt die in den Nummern 10 und 11 abgedruckte Erzählung ‘Mi paisano’ dar. Der Text weist die Initialen F. C. als Autor auf. Es handelt sich möglicherweise um Fernando Calderón (1809-1845), der in erster Linie als Dramatiker Erfolge feierte und als einer der Initiatoren einer mexikanischen Romantik gilt. ‘Mi paisano’ ist eine Satire um einen untalentierten und beschäftigungslosen Millionärssohn, der sich in Paris und Madrid als Theaterautor versucht, aber beim europäischen Publikum sang- und klanglos durchfällt. Trotz seiner Misserfolge fühlt er sich, zurück in Mexiko, gerade wegen seines Aufenthaltes in Frankreich seinen Landsleuten überlegen. Er bemitleidet sich selbst: „lastimándome de no encontrar un amigo para ir hablando con él en voz alta de lo que había visto en Francia, apocando todo lo de mi pais“ (mich selbst bemitleidend, weil ich keinen Freund fand, mit dem ich laut über das in Frankreich Gesehene sprechen und alles in meinem Land heruntermachen konnte).60 Der eingebildete Protagonist macht jedoch eine höchst lächerliche Figur in seinem Vaterland, er fällt von einem Unglück ins andere und erntet dabei immer den Spott der von ihm verachteten mexikanischen Gesellschaft. Seine Missgeschicke werden stets von einem alten Bekannten verursacht, dem er aus dem Weg gehen will, aber nicht kann. Unschwer lässt sich an dieser Konstellation der zum Scheitern verurteilte Versuch ablesen, die zwangsweise fremde französische Kultur in Mexiko zu integrieren, einem Land, das F.C. als eine eigenständige und sehr originelle kulturelle Einheit präsentiert, die sich europäischen Einflüssen immer entgegenstellen wird. Der etwas plumpe „alte Bekannte“, also Spanien, ist dabei dem neuen Gegner Frankreich trotz seines ungeschickten Auftretens vorzuziehen. Unmittelbar an ‘Mi paisano’ anschließend macht Rodríguez Galván selbst klar, um welche französische Kultur es sich handelt: nicht um Lamartine oder Victor Hugo, um Voltaire oder Rousseau, sondern um das Frankreich eines oberflächlichen und frivolen Geschmacks in Literatur und Kunst. In der knappen Skizze ‘El zapatero literato’ ist folgende prägnante Charakterisierung des kulturellen Mittelmaßes zu lesen: „Leía con gusto las novelas de P. de Cock, las tragedias de Ancelot, devoraba los comediones del sanguinario y no poco celebrado Victor Ducange; y se quedaba dormido todas las tardes sobre La Revista de París“ (Er las mit Gefallen die Romane P. de Cocks, die Tragödien Ancelots, er verschlang die Komödien des blutdürstigen und nicht wenig gefeierten Victor Ducange und schlief jeden Abend über der Revue de Paris ein).61 Kulturelle Referenzen, die 50 bis 60 Jahre später dem lateinamerikanischen Modernismo als spielerische Verweise auf eine als Idyll empfundene Epoche dienen werden, spielen im Jahr 1838 noch eine negative Rolle, die vor der unüberlegten Übernahme französischer literarischer und allgemein kultureller Modelle warnt. Eine Allianz mit Spanien scheint den Autoren des Recreo weitaus empfehlenswerter. Folgerichtig widmen sie nur eines der zwölf ausführlichen Porträts, die den einzelnen Exemplaren voranstehen, einem französischen Künstler: Victor Hugo in der sechsten Nummer. Neun Biografien beschäftigen sich mit Figuren der spanischen Kultur: die Klassiker Calderón und Lope de Vega (Nummern 1 und 11), die Maler Velázquez und Murillo (2 und 5), der Dramatiker Bretón de los Herreros (12), sowie die Dichter Juan 60 61
El Recreo, S. 374. El Recreo, S. 385.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
Nicasio Gallego, Telésforo Trueba de Cosío, Manuel José Quintana und Ángel de Saavedra/Duque de Rivas.62 Die Nummer 7 beschäftigt sich mit dem kubanischen Poeten José María de Heredia, die achte Ausgabe ist Lord Byron gewidmet. Bei dem Porträt Victor Hugos handelt es sich um eine Studie des einflussreichen Kritikers und Romanciers Jules Gabriel Janin (1804-1874), die 1832 in der ersten Ausgabe des Dictionnaire de la Conversation veröffentlicht wurde. Als Übersetzer zeichnet der Jurist und Politiker Isidro Rafael Gondra (1788-1861). Janins Urteil über den jungen Hugo fällt unentschieden aus. Er betont, dass er als Dramatiker versagt habe, auch mit Cromwell, das von seinem Vorwort „begraben“ werde, und mit Hernani, das Janin noch mit deutlich klassizistischen Kriterien misst: Con todo, el éxito de Hernani no fué decisivo: se encontraban en él á la verdad muchas de las grandes cualidades del poeta lírico, el entusiasmo, el golpe de vista y los acontecimientos de la historia, la digna admiracion por los grandes hombres, y la afeccion profunda y bien sentida á los destinos y al porvenir de los grandes pueblos: de cuando en cuando algunos dulces y tiernos afectos de un amor exaltado, y pasiones dramáticas de un jóven corazon: sin embargo, su tragedia era larga é inverosímil, mal combinada, su desenlace imposible, y á pesar de esta afectacion de verdad, no era el Cid de Corneille [...] Como dramaturgo, Victor Hugo está muy léjos de Ducange y de Güilvert. (Bei all dem war der Erfolg Hernanis nicht entscheidend: in ihm fanden sich wahrlich viele Qualitäten des lyrischen Dichters, der Enthusiasmus, der Augenschlag und die historischen Ereignisse, die würdige Bewunderung für die großen Männer und die tiefe und gefühlte Betroffenheit für das Schicksal und die Zukunft der großen Völker: manchmal einige süße und zärtliche Affekte einer übertriebenen Liebe und dramatische Leidenschaften eines jungen Herzens: trotzdem war seine Tragödie lang, unwahrscheinlich und schlecht kombiniert, ihr Ausgang war unmöglich und trotz dieser wahrhaften Betroffenheit war sie nicht der Cid des Corneille [...] Als Dramaturg ist Victor Hugo weit von Ducange oder von Güilvert entfernt.)63
Der Kritiker zieht eindeutig den Dichter Hugo vor, als dessen Meisterwerk er allerdings nicht die 1829 erschienen Les Orientales, sondern die zwei Jahre später publizierten Feuilles d´autome einstuft.64 Der beste Hugo, so Janin, zeige sich aber in Notre-Dame de Paris.65 Die Verantwortlichen des Recreo dürften mit diesem Urteil einverstanden gewesen sein, da es keine erläuternden Noten zu dem Artikel gibt und auch keine Aktualisierung der Ausführungen Janins, d. h. die nach 1831 erschienen Werke Hugos werden von der mexikanischen Zeitschrift noch ignoriert.66 Der Recreo nimmt eine völlig neutrale, phasenweise sogar uninteressierte Position im Zusammenhang mit dem Disput um die romantische Bewegung in der französischen Literatur ein. Victor Hugo kann zwar mit einem äußerst hohen Bekanntheitsgrad auch in Mexiko rechnen, er hat 1838 ohne Zweifel 62
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Die Auswahl dieser vier Autoren ist bezeichnend, da sich alle im Kampf gegen die napoleonische Herrschaft ausgezeichnet haben. So verfasste der Priester Gallego das Gedicht ‘El 2 de Mayo’, das an die Ereignisse des 2. Mai 1808 erinnert und den Mut der spanischen Freiheitskämpfer verherrlicht. Vgl. ‘Juan Nicasio Gallego’, in New Advent. Catholic Encyclopedia. Verfügbar in: http://www.newadvent.org/ cathen/06350a.htm. El Recreo, S. 205. El Recreo, S. 210. El Recreo, S. 207. Bis 1838 erschienen v. a. Le Roi s’amuse, Marie Tudor, Chants du crépuscule. Ruy Blas entstand im Herbst 1838, konnte als von den Redakteuren des Recreo beim besten Willen noch nicht rezipiert werden.
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit
bereits die Position des hervorragendsten Vertreters der französischen Literatur inne, ist aber ebenso ohne Zweifel noch weit von der fast religiösen Verehrung entfernt, die ihm die lateinamerikanischen Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und auch noch die Modernisten der Jahrhundertwende entgegenbringen. Das Fehlen von Primärtexten Hugos in der mexikanischen Publikation, die – mit einer Ausnahme – sehr marginalen Beiträge Lamartines bestätigen die oberflächliche und überraschend nüchtern geführte Rezeption der französischen Romantik, die, wie zu zeigen sein wird, dem Wesen der frühen romantischen Bewegung in Mexiko entspricht. Ein wirklicher Disput, dem in Frankreich vergleichbar, wird erst Jahrzehnte später und mit dem Romantikstreit sehr verwandten Argumenten von der Modernistengruppe nachgeholt. Sehr deutlich zeigt sich der neutrale literarische Standpunkt der Publikation in dieser Hinsicht in der vierten Nummer, in der der spanische Kritiker Eugenio de Ochoa (18151872), einer der meistpublizierten Autoren im Recreo und ein Wegbereiter der spanischen Romantik,67 in einem schlicht ‘Literatura’ betitelten Aufsatz zur Auseinandersetzung zwischen Klassikern und Romantikern Stellung nimmt. Ochoa macht von Anfang an klar, dass die beiden Begriffe nur sehr relativen Wert besitzen. Er reproduziert das altbekannte Argument, dass es nur zwei Arten von Literatur gebe, die gute und die schlechte. Gut und schlecht finde sich zu allen Zeiten und in allen Kulturen und auch innerhalb einer Autorenpersönlichkeit. Niemand wisse in Wirklichkeit, was die Begriffe klassisch und romantisch konkret sagen wollen: Todavía no se ha definido con claridad lo que quieren decir los nombres clásico y romántico, porque no se ha querido disipar esa especie de horror misterioso en que van envueltos para los que no los entienden: porque se ha querido sustituir las pasiones á la razon. Pero es evidente que si por clásico se entiende „digno de ser estudiado“, clásicas son las obras de todos los grandes ingenios habidos y por haber: que si por romántico se entiende malo y monstruoso, románticos son aun los autores mas clásicos ó mejores en todas las ocasiones en que no anduvieran muy acertados, como les sucedió con harta frecuencia á Corneille y Voltaire en sus tragedias, y á todos los autores del mundo. (Es wurde noch nicht deutlich definiert, was die Namen klassisch und romantisch sagen wollen, weil man diese Art geheimnisvollen Horror, in dem sie für die Uneingeweihten eingehüllt sind, nicht auflösen möchte; weil die Leidenschaften die Vernunft vertreten sollten. Aber es ist offensichtlich, dass, wenn man unter klassisch “des Studiums würdig” versteht, die Werke aller großen Geister klassisch sind; wenn man unter romantisch schlecht und monströs versteht, die klassischsten und besten Autoren an den Stellen romantisch sind, in denen sie nicht sehr treffsicher waren, wie dies mit großer Häufigkeit Corneille und Voltaire in ihren Tragödien und allen Autoren der Welt passiert.)68
Der Spanier sieht hinter der Frage um klassisch oder romantisch in erster Linie ein Problem des literarischen Kanons, womit er eine durchaus moderne Position einnimmt. Niemand, kein Kritiker, kein Literat habe das Recht, die Regeln des guten Geschmacks ein für allemal zu definieren. Diese Regeln seien, wie alles, dem Wandel der Zeit ausgeliefert und daher 67
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Die Beiträge Ochoas entnahm Rodríguez Galván, wie einleitend erwähnt, der Madrider Zeitschrift El artista, die 1835 von Ochoa selbst und Federico de Madrazo ins Leben gerufen wurde und Artikel u. a. von Espronceda und José Zorrilla enthält. Vgl. Donald L. Shaw, El siglo XIX, in Historia de la literatura española, Bd. 5 (Barcelona: Ariel, 91986), S. 54. El Recreo, S. 153.
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ihrerseits flexibel und veränderbar. Der Unterschied zwischen den beiden Schulen liege demnach einzig und allein darin, dass die „clasiquistas“ glauben, die Normen des guten Geschmacks in der Kunst seien für immer von Autoren wie Aristoteles, Horaz oder Boileau festgelegt, während die Romantiker von einem nur relativen Wert der ästhetischen Normen ausgehen: „se imaginan que no solo no estan fijados y previstos todos los casos, sino que es imposible hacerlo de un modo satisfactorio para nuestra época y para las que la sucedan por siempre jamas amén“ (sie stellen sich nicht nur vor, dass sie nicht festgelegt und für alle Fälle vorhergesehen sind, sondern auch, dass es unmöglich ist, sie für unsere Zeit und für die folgenden zufriedenstellend zu fixieren, bis in alle Ewigkeit. Amen).69 Ochoa scheint einen neutralen Standpunkt zu vertreten, dennoch kann er seine Vorliebe für die romantische Schule nicht verbergen. Die klassizistische Poetik, so argumentiert er, habe nicht verstanden, dass das Christentum eine völlig neue Basis für die Literatur geschaffen habe. Die klassische antike Literatur sei eine „poesía de los sentidos“ (Sinnesdichtung) gewesen, die chrisliche eine „poesía del corazon“ (Herzensdichtung).70 Insbesondere die französische Literatur habe den Fehler begangen, das Ideal der griechischen Poesie in einer Epoche anwenden zu wollen, der dieses von Grund aus fremd war: „Hé aquí por qué no basta en el dia la tan decantada literatura del siglo de Luis XIV, porque como fundada en el paganismo, era hija del entendimiento, no del corazon; porque era mas bien la espresion de una sociedad idólatra y democrática, que no de una sociedad monárquica y cristiana; en una palabra, porque estaba fundada en el error“ (Darum ist heute die so gerühmte Literatur des Jahrhunderts Ludwigs XIV nicht genug, weil sie im Heidentum gründet, Tochter des Verstandes war, nicht des Herzens, weil sie eher der Ausdruck einer anbetenden und demokratischen Gesellschaft, als der einer monarchischen und christlichen war; mit einem Wort, weil sie auf dem Irrtum gründete).71 Das gleiche Argument gelte auch für die zeitgenössische Literatur, womit der Begriff „clasiquista“ (Ochoa vermeidet bewusst das Wort „clásico“) zu einem Synonym für „imitador“, „romántico“ dagegen gleichbedeutend mit „inventor“ werde.72 Schlechte Imitationen der Tragödien von Sophokles oder Euripides seien im 19. Jahrhundert völlig sinnlos. Ochoa betont, dass er damit keineswegs den Wert der antiken Literatur schmälern, sondern nur seine Hypothese von der Wandelbarkeit der ästhetischen Normen bestätigen wolle. Gott, Liebe und Freiheit müssen die Themen einer aktuellen Literatur sein, die keine Imitation des antiken Geschmacks abdecken könne. Ochoa verteidigt am Ende die romantischen Autoren gegen den Vorwurf der Regellosigkeit und schließt seine Reflexionen mit einem Lob der Originalität, das ihn – vielleicht gegen seine Intentionen – letztendlich doch als überzeugten Anhänger der romantischen Schule enttarnt: No necesitan los románticos que nadie venga á decirles que en toda clase de composiciones deben observarse, no los caprichos de la moda, sino las reglas del buen gusto; saben muy bien que todo escritor debe estudiar las obras de los grandes ingenios de la antigüedad; que debe respetarse la delicadeza pública, algo mas de lo que la respetaron tal vez los poetas antiguos y los clasiquistas modernos; pero les causa desprecio é indignacion el
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El Recreo, S. 154. El Recreo, S. 155. El Recreo, S. 156. El Recreo, S. 157.
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ver á algunos hombres que, conociéndose incapaces de producir nada de suyo, se contentan con poner trabas al genio, y hacerse, por medio de esta ruin superchería, partícipes de la gloria que puedan adquirir los que con sobrada credulidad se conforman á sus opiniones. (Die Romantiker haben es nicht nötig, dass man ihnen sagt, dass in allen Kompositionen nicht die Willkür der Mode, sondern die Regeln des guten Geschmacks befolgt werden müssen. Sie wissen genau, dass jeder Schriftsteller die Werke der großen Geister der Antike studieren, dass er den öffentlichen Takt respektieren muss, etwas mehr vielleicht, als dies die antiken Dichter und die modernen Klassiker getan haben; aber es verursacht ihnen Abscheu und Empörung, wenn einige Männer, die unfähig sind, selbst etwas zu produzieren, dem Genie Fesseln anlegen und durch diesen niedrigen Betrug am Ruhm derer teilnehmen, die sich mit übermäßiger Naivität ihren Meinungen anschließen.)73
Es ist nicht schwer, das Gedankengut insbesondere der deutschen Romantik in diesen Reflexionen Ochoas wiederzuerkennen.74 Es erscheint mir gleichfalls wenig riskant, eine Rezeptionslinie von der deutschen über die französische zur spanischen und von dieser schließlich zur mexikanischen Romantik festzulegen. Das heißt, sie kommt gleichsam gezähmt und neutralisiert auf den amerikanischen Kontinent.75 Die Ausführungen Ochoas im Recreo de las Familias entsprechen der Zusammensetzung der Academia de San Juan de Letrán: ein problemloses Nebeneinander von etablierten klassizistisch orientierten Autoren, wie Quintana Roo oder dem Conde de Cortina, die in den letzten Jahrzehnen des 18. Jahrhunderts zur Welt kamen, und jungen Dichtern wie Rodríguez Galván oder Prieto, die sich der französischen und vor allem der spanischen Romantik verpflichtet fühlen. Die folgenreiche Forderung nach künstlerischer Originalität, sowie der nationale Unabhängigkeitsgedanke konnten in Mexiko diese heterogenen Gruppen einen. Vor allem das zweite Kriterium trug dazu bei, dass sich der Recreo bei der Auswahl der von ihm wiedergegebenen europäischen Autoren in erster Linie von nationalistischen Kriterien leiten ließ. Die spanischen „Mitarbeiter“ hatten sich um die Autonomie ihres Landes von Frankreich bemüht gemacht, Lord Byron opferte sich im griechischen Freiheitskampf, der Franzose Lamartine (und nur in zweiter Linie auch Hugo) war intensiv in die politischen Debatten seines Landes verwickelt. Die militärische Bedrohung seitens Frankreichs, der Mexiko 1838 ausgesetzt war, die noch sehr unstabile Unabhängigkeit der Republik führten dazu, dass politische Aspekte eine tiefergehende literarisch-ästhetische Debatte überlagerten. Auch die etwas überraschende Präsenz deutscher Autoren im Recreo kann in diesem Kontext gesehen werden. Kurze Texte von Goethe, aber auch die ästhetischen Über-
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El Recreo, S. 158. Ochoas Erzählung ‘Luisa’, abgedruckt in der neunten Nummer des Recreo, verdeutlicht diesen zumindest indirekten und oberflächlichen Einfluss der deutschen Romantik: das geheimnisvolle und zauberhafte Deutschland, „la triste, la nebulosa Alemania” (El Recreo, S. 345) dient als Schauplatz des Textes. Desgleichen macht sich die anonyme, wahrscheinlich spanische Erzählung ‘Lo que vio el pintor Wildherr en un antiguo castillo de la Selva Negra’ dieses Ambiente zu Nutzen (El Recreo, S. 418-425). Bezeichnenderweise gibt der Recreo auch eine die Romantik eher negativ bewertende Position wieder. In seiner neunten Ausgabe druckt er einen Artikel aus der Pariser Le National vom 21. September 1837 (so die Anmerkung des Übersetzers I. R. Gondra) nach, dessen Verfasser ein sehr pessimistisches Bild der europäischen Literatur zeichnet, die er in einem immer ausgeprägteren Individualismus gefangen sieht (Vgl. ‘Estado actual de la literatura en Europa’, in El Recreo, S. 330- 334).
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legungen Winckelmanns und Tiecks Leben und Tod der heiligen Genoveva76 können als Versuch der mexikanischen Zeitschrift interpretiert werden, eine Alternative zur französischen Literatur zu suchen, um dem politischen Gegner zumindest kulturell aus dem Weg zu gehen. Wie zu zeigen sein wird, verwandelt sich diese im Recreo angedeutete Tendenz 30 Jahre später in einen Bestandteil des Programms von Altamiranos El Renacimiento. Das illusorische Ziel, eine zur Gänze auf nationalen Beiträgen basierende Publikation zu schaffen, das wohl auch dem romantischen Originalitätsgedanken verpflichtet ist, kann verständlicherweise 1838 noch nicht erreicht werden. Doch zeigt sich, wie auch schon in den Projekten Alzates und Lizardis, dass Frankreich durchaus keine unkritisch hingenommene kulturelle Hegemonie auf Mexiko ausübt; ganz im Gegenteil versucht zumindest ein Teil der mexikanischen Presse, diesen Einfluss zu reduzieren, um auf kulturellem Wege einen Beitrag zur Entwicklung des nationalen Selbstwertgefühles zu leisten. In seinem Abschiedsartikel gesteht Rodríguez Galván ein, dass der Recreo als nationales Zeitschriftenprojekt gescheitert ist, sieht die Ursache dafür aber nicht in der mangelnden Produktivität der mexikanischen Autoren, sondern – sehr simpel – in der geringen Publikumsakzeptanz, die zum finanziellen Bankrott der Zeitschrift führen musste: Nuestra intencion era, como lo dijimos otra vez, nacionalizar este periódico hasta el grado que nos fuera posible. Queriamos dar á luz retratos y biografias de los buenos artistas y literatos que tenemos; pero no hemos podido realizarlo, porque necesitábamos para ello algun tiempo, y este nos faltaba. A pesar de todo, con el auxilio de algunos señores que iban á tener la bondad de asociársenos para la redaccion del segundo tomo, creíamos poner en práctica nuestro pensamiento: Cabrera, Juarez, Clavigero, Alarcon, Alconedo, D. A. Ochoa, &c. &c. &c., hubieran aparecido en el Recreo; así como uno que otro de los que viven, entre los cuales hay uno cuyo retrato poseemos ya. Tambien se hubieran publicado muchos artículos originales, y relativos á nuestra nacion; pero nada de esto podemos efectuar: con vergüenza lo decimos, nuestros compatriotas no nos han ayudado en esta empresa; y un periódico (el único que en nuestra época se publicaba en nuestra nacion) no encontró en toda ella el número necesario de suscritores para poderse costear únicamente [...] en lo que no cabe duda es en que este periódico muere, y que entre otras muchas causas que tiene para morir, la principal es la falta de suscritores. ¿Y en qué consiste esta falta? ¿en que el público no quiere leer, ó en que el Recreo no es leible de puro malo? (Unsere Absicht war es, wie wir gesagt haben, diese Zeitung möglichst zu nationalisieren. Wir wollten Porträts und Biografien der guten Künstler und Literaten, die wir haben, veröffentlichen; aber wir konnten es nicht verwirklichen, weil wir dafür Zeit gebraucht hätten, und diese fehlte uns. Trotzdem dachten wir, mit der Hilfe einiger Herren, die die Güte hatten, sich der Abfassung des zweiten Bandes anzuschließen, unseren Gedanken in die Praxis umsetzen zu können: Cabrera, Juarez, Clavigero, Alarcon, Alconedo, D. A. Ochoa, &c. &c. &c., wären im Recreo erschienen und der eine oder andere der Lebenden, es gibt einen, dessen Porträt wir schon besitzen. Auch viele originale und unsere Nation betreffende Artikel wären publiziert worden; aber nichts davon können wir wahr machen; verschämt sagen wir es: unsere Landsleute haben uns bei diesem Unternehmen nicht geholfen und eine Zeitung (die einzige in unserer Zeit in unserer Nation publizierte) fand nicht die nötige Zahl an Abonnenten, um sich selbst finanzieren zu können [...] es besteht kein Zweifel daran, dass diese Zeitung stirbt und dass, unter vielen Todesursachen, die hauptsächliche das Fehlen der Abonnenten ist. Und worin besteht dieser Fehler? Darin, dass das Publikum nicht lesen will, oder dass der Recreo nicht leserlich ist, weil er so schlecht ist?)77 76 77
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Tiecks Drama trägt im Recreo den Titel ‘Genoveva de Brabante’; es handelt sich um ein Kompendium mit einigen von Rodríguez Galván aus dem Französischen übersetzten Fragmenten (Vgl. El Recreo, S. 426-435). El Recreo, S. 474f. Aus heutiger Sicht muss die Klage Galváns, das mexikanische Publikum wolle nicht lesen, in das mexikanische Publikum konnte nicht lesen, umgewandelt werden. Eine hohe Analphabetenrate
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Rodríguez Galván hätte ohne den weit verbreiteten Rückgriff auf Nachdrucke von Artikeln aus europäischen (spanischen und französischen) Periodika die Seiten seiner Zeitschrift nicht füllen können. Auch aus dieser Hinsicht kann man vom Recreo noch keine tiefergreifende Diskussion literarischer Tendenzen erwarten, auch wenn Galván betont, dass die Einstellung des Recreo nicht auf ein Problem der mangelnden nationalen Produktion zurückzuführen ist. Seine Bemerkung, dass im zweiten Band auch „uno que otro“ der lebenden Autoren vertreten gewesen wäre, lässt doch darauf schließen, dass die mexikanischen Beiträge nur sehr spärlich in der Redaktion eintrafen. Der kubanische Dichter und Dramaturg Antón Arrufat deutet noch einen anderen Grund für die in Lateinamerika generell überraschend oberflächlich verlaufende Rezeption der europäischen Romantik an. Gerade die Konzentration auf einige wenige französische Autoren (Lamartine und Hugo in erster Linie) und die Vermittlung Spaniens verhindern, dass die Romantikdiskussion in Lateinamerika Eingang findet. Es handelt sich um eine Frage der Qualität, der Logistik und der Sprachenkenntnisse. In den Worten Arrufats, der sich hier auf Gertrudis Gómez de Avellaneda bezieht, aber seine Ausführungen in den Kontext der gesamten lateinamerikanischen Romantik stellt: el romanticismo francés no fue el mejor de los romanticismos. (Por supuesto, el español fue peor.) Con él nuestra modernidad – opina Roland Barthes – tiene pocas afinidades. La poesía de Lamartine, que admiró, imitó y tradujo [la Avellaneda], carente de conciencia crítica, sentimental y monótona, apenas sobrevive actualmente [...] Si hubo un romanticismo francés más perdurable, la obra de Gérard de Nerval por ejemplo, que alcanza en el presente una resonancia que en su momento no tuvo, la Avellaneda no lo conoció (die französische Romantik war nicht die beste. (Natürlich war die spanische schlechter.) Mit ihr hat unsere Modernität – meint Roland Barthes – wenig Gemeinsamkeiten. Die Dichtung Lamartines, den sie bewunderte, imitierte und übersetzte, hat kein kritisches Bewusstsein, ist sentimental und eintönig, sie überlebt heute gerade noch [...] Wenn es eine standfestere französische Romantik gab, das Werk Gérard de Nervals zum Beispiel, das in der Gegenwart eine Wirkung erreicht, die es zu seiner Zeit nicht hatte, kannte die Avellaneda sie nicht).78
Desgleichen mussten große Teile der englischen und besonders der deutschen Romantik, die die Diskussion in Lateinamerika beleben hätten können, weitgehend unbekannt blei-
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und geringe Einkünfte mussten jedes Zeitschriftenprojekt zu einem finanziellen Risiko machen. Vgl. zu Analphabetismus und Einkommenssituation im ersten Drittel des 19. Jhs. Vázquez, ‘Los primeros tropiezos’, S. 784ff. Zuverlässige Statistiken liegen erst für die letzten Jahre des Jahrhunderts vor. So betrug die Alphabetisierungsrate im Jahr 1895 nur knapp 14 % (Vgl. Mílada Bazant, Historia de la educación durante el Porfiriato, México: El Colegio de México, 1993, S. 95ff.). Im Vergleich mit anderen Periodika der Zeit verfügte der Recreo über eine relativ gute Logistik: er konnte in 36 Orten der Republik empfangen werden, in 16 von ihnen war es möglich, die Zeitschrift zu abonnieren, was bei den meisten Periodika der Zeit nur in der Hauptstadt funktionierte (Castro und Curiel: Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX, S. 345). Der Recreo hatte in den sechs Monaten seines Bestehens insgesamt 211 Abonnenten, 130 in Mexiko-Stadt und 81 in den Ländern, wie aus der am Ende der Veröffentlichung abgedruckten Liste hervorgeht. Unter ihnen befand sich auch der damalige mexikanische Präsident Anastasio Bustamante, der dem Druck Santa Annas 1841 nachgab und ins Pariser Exil ging, sowie der damals 24-jährige spätere liberale Freiheitsheld Melchor Ocampo. Antón Arrufat, ‘Para una lectura de la Avellaneda’, in Crítica, 100, August/September 2003, S. 57-84, hier S. 81f.
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ben.79 Arrufat begeht zwar in seinem Avellaneda-Aufsatz den Fehler einer nachträglichen qualitativen Revision der literarischen Verbreitung, dennoch enthält dieser Ansatz wertvolle Überlegungen, die sich auf den Charakter insbesondere der Narrativik der mexikanischen Romantik und, wie sich hoffentlich zeigen wird, auch des Modernismo anwenden lassen. Dafür ist jedoch zunächst ein Blick auf die dezidiert romantische Produktion der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in Mexiko von Nöten.
1.2.4. Beispiele der frühen romantischen Erzählliteratur in Mexiko Der Recreo de las Familias bietet sehr wenige Beispiele einer nationalen romantischen Erzählkunst. Schon erwähnt wurde ‘Mi paisano’, in dem es ausschließlich um die Karikatur eines lächerlichen und überheblichen Beau geht, der wegen seines Frankreichaufenthaltes glaubt, in Mexiko eine privilegierte soziale Stellung einnehmen zu können. Rodríguez Galváns ‘El zapatero literato’ wiederum trägt mehr den Charakter einer knappen Satire, als den einer Erzählung. Bleibt nur noch ‘Lo que soñé una noche’, ein kurzer Text, als dessen Autor Manuel María Andrade y Pastor (1809-1848) fungiert, und der in ironischem Ton über die Illusionen des Erzählers berichtet, als dieser als 18-Jähriger in Paris vor dem Grab von Abelard und Heloise steht. In seinen Träumen umarmt er jedoch statt der idealisierten Kammerfrau Heloises seinen abstoßend hässlichen und schlecht riechenden Portier Antenógenes.80 Die kleine Erzählung kann durchaus als Parodie romantischer Themen angesehen werden. Auch die Erzählstruktur spricht für diese These: der Erzähler transportiert sich in ein Erlebnis seiner idealistischen Jugendzeit, jedoch übernimmt die Stelle des Publikums, das in der Regel aus einem illustren Freundeskreis bestand, unfreiwilligerweise der skurrile Antenógenes. Die Kopie und manchmal unabsichtliche Parodie romantischer Stereotypen liegen in der mexikanischen Narrativik des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts eng zusammen. Ein Blick auf den 1998 von der UNAM edierten Sammelband La novela corta en el primer romanticismo mexicano soll in unserem Zusammenhang genügen, um diese Behauptung zu illustrieren. In den Periodika der Zeit veröffentlichte Erzählungen der Mitglieder der Academia de San Juan de Letrán bilden den Kern dieses aufschlussreichen Bandes, der die von der mexikanischen Kritik sehr stiefmütterlich behandelte Erzählkunst der ersten romantischen Gruppe des Landes aufwerten möchte. Jorge Ruedas de la Serna stellt zutreffend fest, dass sich die mexikanischen Erzähler einem ganz anderen Publikum gegenübersahen, als die europäischen. Es handelte sich in erster Linie um ein „público femenino perteneciente a las capas altas de una sociedad caracterizada, todavía, por su sólida inmovilidad social“ (den hohen gesellschaftlichen Schichten, die sich immer noch durch ihre soziale Unbeweglichkeit charakterisierte, angehöriges weibliches Publikum). Der Kritiker unterstreicht die großen Unterschiede 79 80
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Von einer Novalis-Rezeption etwa kann in der Tat erst ab Ende des Jahrhunderts gesprochen werden. Die Revista Moderna präsentiert Novalis seinem Publikum zusammen mit Nietzsche. El Recreo, S. 354-356.
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speziell zum Publikum des französischen Feuilletonromans: „Si la novela de folletín francesa reclutó a sus lectores predilectos entre las clases populares de donde emergían y comenzaban a delinearse las modernas clases medias, esto, evidentemente, no podía ocurrir en una sociedad de fuerte raigambre tradicional y de población mayoritaria depauperada y analfabeta“ (wenn der französische Feuilletonroman seine bevorzugten Leser aus den populären Klassen bezog, aus denen die modernen Mittelschichten hervorgingen, so war dies offensichtlich in einer traditionell verankerten Gesellschaft mit mehrheitlich verarmter und analphabetischer Bevölkerung nicht möglich).81 Die Ausrichtung auf ein feminines Publikum brachte mit sich, dass die Autoren bestimmte Grenzen bei Themen wie Familie, Moral oder Religion einhalten mussten. Nur religiöse „Verirrungen“, wie die spanische Inquisition, durften demnach kritisiert werden.82 Ganz in diesem Sinne zeichnet José Joaquín Pesado in seiner historischen, im Jahr 1648 angesiedelten Erzählung ‘El inquisidor de México’ das Portrait des fanatischen Inquisitors Ruiz de Guevara, der, ohne es zu wissen, seine eigene Tochter Sara zum Feuertod verurteilt. Erst als er in seine Vaterschaft eingeweiht wird, holt er sie vom Scheiterhaufen und erlangt kurz vor ihrem Tod ihr Vergeben, das ihn zur wahren christlichen Religion der Liebe bekehrt.83 Pesados Erzählung propagiert einerseits die liberale Forderung nach religiöser Toleranz, andererseits greift sie auf das sehr populäre Motiv der unbekannten, geheimnisvollen Abstammung eines Protagonisten zurück, das die 15 Texte des Bandes in verschiedenen Abwandlungen präsentieren. Eine interessante Spielart verwendet Ignacio Rodríguez Galván in ‘Manolito el pisaverde’, das erstmals 1838 in El Año Nuevo erschien.84 Manolito stellt sich bei ihm als Manolita heraus, die als Mann verkleidet ihrem Gatten von Guatemala nach Mexiko gefolgt ist, um ihn wegen seiner Untreue zur Rede zu stellen. Als sie merkt, dass der ehrgeizige Jacinto in Mexiko eine neue Existenz (mit neuer Frau) beginnen wollte, kommt es zu einer tragischen Auseinandersetzung, in der beide den Tod finden. Die Autoren machen vor dem delikaten Thema des Ehebruchs Halt. Entweder wird er im letzten Moment verhindert, oder – wenn es doch dazu kam – wird das Vergehen gegen die familiäre Harmonie drakonisch bestraft. Neben der stereotypen Wiederholung des Motivs der unbekannten Abstammung, stellt vor allem das Thema der nationalen Unabhängigkeit das einigende Element der Erzählungen dar. Einerseits geht es darum, sich mittels phasenweise grotesker Übertreibungen der 81
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Jorge Ruedas de la Serna, ‘La novela corta de la Academia de Letrán’, in La novela corta en el primer romanticismo mexicano, hg. v. Celia Miranda Cárabes, Nueva Biblioteca Mexicana 96 (México: UNAM, 1998), S. 53-72, hier S. 62. Um die Verbreitung des französischen Feuilletonromans in Mexiko machte sich vor allem die führende Tageszeitung El siglo diez y nueve bemüht, in der ab dem 16. September 1845, nur zwei Jahre nach Abschluss der Publikation des Originals im Journal des débats, Sues Les Mystères de Paris veröffentlicht wurden. Außerdem finden sich in ihr Paul Févals Mystères de Londres, sowie Texte von Vigny und Dumas père (Castro und Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX, S. 400). Die Daten über Sue entstammen dem Internet-Artikel ‘Les romans d’aventures dans les bas-fonds de la ville: les <<mystères urbains>>’ von Riccardo N. Barbagallo, verfügbar in: http://membres.lycos.fr/ adventur/typesra/myst-urb/mysteres-urbains-vf.htm. Ruedas de la Serna, ‘La novela corta de la Academia de Letrán’, S. 70f. Erstmals abgedruckt in El Año Nuevo von 1837. Im Sammelband der UNAM: S. 207-229. S. 275-297 in der UNAM-Ausgabe.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
„dunklen“ spanischen Geschichte vom früheren Kolonialherrn zu distanzieren, andererseits muss der neue politische Gegner Frankreich karikiert werden. Neben dem bereits erwähnten Thema der Inquisition bietet sich für den ersten Komplex insbesondere die „conquista“ an. Ein beinahe skurriles Beispiel dafür findet sich in José María Lacunzas ‘Netzula’.85 Der Erzähler versetzt die Handlung in die letzte Phase der Eroberung des Aztekenreiches. Netzula ist die Tochter des alten Kriegers Ixtlou. Sie soll Oxfeler, den Sohn Ogaules,86 ein Gefährte ihres Vaters, heiraten, obwohl sie diesen, der gegen die Spanier kämpft, noch nie gesehen hat. Sie verliebt sich jedoch heftig in einen unbekannten Krieger, der noch dazu ihrer Mutter und ihr selbst das Leben rettet. Netzula erträgt den Konflikt zwischen der Verpflichtung ihrem Vater gegenüber und ihren Gefühlen nicht und findet einen Ausweg nur in einer präkolumbianischen Version des Klostereintritts: sie wird „sacerdotisa del sol“ (Sonnenpriesterin). In der entscheidenden Schlacht gegen die Spanier stirbt Oxfeler in den Armen Netzulas, die diesen noch rechtzeitig vor ihrem eigenen Tod als den unbekannten Krieger erkennt. Die Erzählung folgt romantischen Stereotypen: geheimnisvolle Abstammung, fatalistische Verwechslung, Flucht ins „Kloster“, Auflösung des Knotens kurz vor dem Tod der Protagonisten. Der Schauplatz ist ungewöhnlich, jedoch handelt es sich bei Lacunzas Mittelamerika um eine sehr europäisierte Kultur. Beinahe groteske historische und erzähltechnische Fehler belegen dies. So verteidigen die Aztekenkrieger nicht nur Tenochtitlán, sondern gleich ganz Amerika, wie aus einem Monolog Ogaules hervorgeht: „la espada del enemigo estaba muchas veces a mis pies, y mis manos se empaparon en la sangre de los osos: la patria jamás clamó entonces en vano, jamás Ogaule llegó el segundo a las filas de los guerreros; pero hoy los años me han arrebatado mi fuerza, y no puedo hacer otra cosa que exhalar vanos suspiros por la felicidad de la América“ (das Schwert des Feindes war oft zu meinen Füssen und meine Hände tränkten sich oft mit dem Blut des Bären: das Vaterland rief damals nie vergebens, niemals kam Ogaule als zweiter in die Reihen der Krieger; aber heute haben mir die Jahre meine Kräfte geraubt und ich kann nur noch vergebliche Seufzer für das Glück Amerikas ausstoßen).87 Lacunza transportiert die noch aktuelle Erfahrung des mexikanischen Unabhängigkeitskrieges in eine ihm völlig fremde Kultur, die mit der sozialen Situation der indígenas seiner Zeit nichts zu tun hat, die nur die gerade erst überstandene Auseinandersetzung mit Spanien widerspiegelt und rechtfertigt. Konzepte des europäischen Nationalstaates, wie Patriotismus und die Ehre, im Kampf für das Vaterland zu sterben, werden ohne historische Reflexion auf Mexiko und in einem Zug auch auf die vorkolumbianische Kultur angewendet: Mexiko als neue Nation erlangt auf diese Weise seine seit Jahrhunderten existierende geschichtliche Rechtfertigung. 85
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Der aus Puebla stammende Lacunza (1813-1875) gehörte dem weiteren Kreis um die Academia de San Juan de Letrán an. Er war Außenminister unter Comonfort und Lerdo de Tejada, sowie erster Direktor der mexikanischen Nationalbibliothek. Vgl. Ángel Muñoz Fernández, Fichero bio-bibliográfico de la literatura mexicana del siglo XIX, 2 Bde (México: Factoria Editores, 1995), hier Bd. 1, S. 359. ‘Netzula’ wurde erstmals 1837 in El Año Nuevo veröffentlicht, dürfte aber schon 1832 geschrieben worden sein. UNAM: S. 129-151. Lacunzas Namensgebung übergeht großzügig die linguistischen Gegebenheiten seiner Umwelt. José María Lacunza, ‘Netzula’, in La novela corta en el primer romanticismo mexicano, S. 129-151, hier S. 133.
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit
Die Darstellung der spanischen Soldaten als dem patriotischen Ideal unzugängliche Söldner, die blind und ohne wirkliches Ehrgefühl ihre Gegner töten, passt in dieses Bild der historischen Manipulation. Als Netzula in die Hände der Spanier gerät, bleibt ihr nur die Resignation vor ihrem unausweichlich gewalttätigen und entehrenden Ende: no puede dudarlo, ha caído en manos de los españoles: conoce todo el horror de su desgracia, y se resigna al sufrimiento: todo lo ha perdido para siempre, sus padres, su patria y aun su amante. La memoria de la aflicción de su querida madre no es el menor de sus tormentos. Inclina la cabeza, derrama una lágrima, y marcha como la víctima al sacrificio del sol. (sie kann nicht daran zweifeln, sie ist in die Hände der Spanier gefallen: sie kennt das Fürchterliche ihres Unglücks und sie fügt sich in ihr Leiden: alles hat sie für immer verloren, ihre Eltern, ihre Heimat und sogar ihren Geliebten. Der Gedanke an die Verzweiflung ihrer geliebten Mutter ist nicht die geringste ihrer Foltern. Sie neigt den Kopf, vergießt eine Träne und geht als Leidende zum Sonnenopfer.)88
Familie, Vaterland, Liebe: Lacunza integriert in die resignative Haltung Netzulas auch eine Wertehierarchie, die vorbildhaft für die entstehende Nation sein soll. Die mutige und ehrenvolle Haltung Oxfelers wiederum, der Netzula befreit, illustriert die zumindest potentielle kulturelle Überlegenheit des amerikanischen Landes gegenüber seinem europäischen Eroberer, die Lacunzas Mexiko in die Praxis umsetzten sollte: nationale Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein gegenüber den europäischen Mächten werden propagiert. Die romantischen Stereotype der Erzählung dienen so zur Gänze dem politischen Ideal der Schaffung eines nationalen Bewusstseins, das in der labilen Situation Mexikos zu Beginn seiner Autonomie dringender sein musste, als die Rezeption der ästhetischen oder philosophischen Ideen der europäischen Romantik Wenn Lacunza in erster Linie die Distanz zu Spanien hervorstreicht, so sucht Rodríguez Galván in ‘La procesión’89 in teilweise sehr aggressivem Ton die Auseinandersetzung mit Frankreich. Wieder bildet das Thema der unbekannten Abstammung den Kern der Erzählung. Doña Joaquina verlor 18 Jahre vor dem Einsetzen der Geschichte ihre Tochter Dorotea in einer turbulenten Prozession; ihr Ziehsohn Julián ist in Isabel, die Tochter eines Spaniers verliebt, die sich am Ende als die totgeglaubte Dorotea herausstellt. Isabel ist dem arroganten Franzosen Le Braconier versprochen, allerdings ihrerseits in Julián verliebt. Der idealistische Julián provoziert den Franzosen und landet dafür im Gefängnis, aus dem ihn nur das Versprechen, sich bei Le Braconier zu entschuldigen, befreit. Julián willigt ein, nur um sofort nach seiner Entlassung seinem Gegner eine Tracht Prügel zu versetzen, die den Franzosen als Feigling enttarnt. Als sich die Identität Isabels klärt, steht einer Heirat mit Julián nichts mehr im Wege. Hinter diesem erzählerischen Skelett verbirgt sich eine klare Attacke Galváns gegen die französische Präsenz in Mexiko. Europa generell, Frankreich und auch Italien speziell, sind – laut einer Nebenfigur der Erzählung – dem mexikanischen Wesen von Grund auf fremd. Während im alten Kontinent Lüge und Intrige vorherrschen, zeichne sich der mexikanische Charakter durch seine Geradlinigkeit aus. Interessanterweise wird das zeitgenössische Spanien von dieser Kritik ausgenommen: 88 89
Lacunza, ‘Netzula’, S. 145. Erstmals in El Año Nuevo von 1839 veröffentlicht, in der UNAM-Ausgabe: S. 299-329.
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si ustedes hubieran nacido en Europa, principalmente en Francia o Italia, oirían lo que les cuento ahora como quien oye decir que llueve en agosto y hiela en diciembre. En aquellos países civilizados se acostumbra derribar, sin consideración ninguna, el obstáculo que se presente en el camino de la fortuna; pero como nosotros somos salvajes, siempre buscamos el camino recto, y no usamos jamás del veneno, cosa tan necesaria a un francés, como la espada a un español de los siglos medios, o como la reata a un campesino nuestro. (wenn ihr in Europa, besonders in Frankreich oder Italien, geboren wärt, würdet ihr, was ich jetzt erzähle, hören, so als ob ich sagte, es regnet im August und friert im Dezember. In jenen zivilisierten Ländern pflegt man, jedes Hindernis, das dem Weg des Glücks erscheint, ohne Rücksicht zu zerstören; aber weil wir die Wilden sind, suchen wir immer den geraden Weg und verwenden kein Gift, das dem Franzosen so notwendig ist, wie dem Spanier des Mittelalters sein Schwert oder unserem Bauern die Koppel.)90
Galván erklärt wenig später, warum er Italien in seine Kritik miteinbezieht. Napoleon war Italiener, so der Mexikaner, und Napoleon ist, genauso wie die französische Revolution, eine geschichtliche Verirrung. Im Haus Santiagos, des Ziehvaters Isabels/Doroteas fehlt jeglicher Verweis auf die mexikanische Geschichte und Kultur, dagegen ist es voll von französischer Dekoration. Ein Beispiel: veíanse también un eterno clave de cola, rinconeras magníficas con floreros o estatuas de porcelana, un reloj de mesa que representaba la catedral de Nuestra Señora de París [...] Una preciosa alfombra cubría el pavimento, y las paredes color de rosa estaban adornadas con varios cuadros que representaban diversas batallas ganadas por los franceses, y ni una que hubieran perdido. (man sah auch den üblichen Flügel, Eckmöbel mit Blumenvasen und Porzelanstatuen, eine Tischuhr, die Nôtre Dame darstellte […] Ein prächtiger Teppich bedeckte den Boden und die rosa Wände waren mit verschiedenen Bildern dekoriert, die diverse von den Franzosen gewonnene Schlachten darstellten, aber keine, die sie verloren haben.)91
Galván stellt hier keineswegs den künstlerischen oder dekorativen Geschmack des Eigentümers in Frage, sondern konstatiert die Unangebrachtheit eines derartigen Interieurs in einem mexikanischen Haus, in dem – angesichts des aggressiven Auftretens Frankreichs in der ersten Phase der Unabhängigkeit Mexikos – die Verherrlichung der Geschichte des europäischen Landes völlig fehl am Platz wirken musste. Rodríguez Galván karikiert folgerichtig die Figur Napoleons und den historischen Chauvinismus Frankreichs, wie die Fortsetzung des obigen Zitates zeigt: en todos los cuadros estaba repetida hasta el fastidio una figura redonda y chaparra, con levitón blanco y sombrero de tres vientos, de aire fanfarrón y con pretensiones de fantástico: ya se deja entender que este hombre era el italiano Napoleón. No había papirote dado por los franceses que no estuviera pintado allí; pero no lo estaban las muchas batallas en que han corrido vilmente; no lo estaban tampoco los hechos escandalosos y sin ejemplo que han hecho temblar de indignación al mundo, y que para perpetuo monumento de la degradación humana, nos lo presenta la historia de su sangrienta revolución y la de sus efímeras conquistas. (in allen Bildern war bis zum Überdruss eine rundliche und kleine Figur wiederholt, mit weißem Gehrock und Dreieckshut, mit angeberischem Charakter und den Ansprüchen eines Fantasten: man versteht schon, dass
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Ignacio Rodríguez Galván, ‘La procesión’, in La novela corta en el primer romanticismo mexicano, S. 299329, hier S. 308. Die Verwendung der mexikanischen Form „ustedes“ an Stelle des spanischen „vosotros“ ist auffällig, da diese Form noch um 1900 in literarischen Texten als Fehler angesehen wurde, obwohl sie längst der sprachlichen Realität des Landes angehörte. Rodríguez Galván, ‘La procesión’, S. 310.
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dieser Mann der Italiener Napoleon war. Es gab kein Scharmützel der Franzosen, das hier nicht dargestellt wäre, aber die vielen Schlachten, bei denen sie feige gelaufen sind, waren da nicht; auch nicht die skandalösen und beispiellosen Taten, die die ganze Welt vor Empörung zittern ließen, die uns die Geschichte ihrer blutigen Revolution und ihrer kurzlebigen Eroberungen als dauerhaftes Denkmal ihrer Degradierung vor Augen führen.)92
Derartige Angriffe sind nicht zuletzt als ein Appell Galváns an seine Landsleute zu verstehen, den oberflächlichen französischen Geschmack nicht kopieren zu wollen, sondern an seiner Stelle auf spanische oder schon vorhandene nationale Modelle zurückzugreifen: „Mas ¿qué mucho que en aquella sala se vieran tales figuras, cuando semejantes mamarrachos franceses habían sustituido a hermosas copias de Murillo y de Velázquez, y a bellos originales de los mexicanos Cabrera y Juárez?“ (Aber was für ein Wunder, dass solche Figuren in diesem Salon zu sehen waren, wenn derartige französische Schmierfinken schöne Kopien Murillos und Velázquez und Originale der Mexikaner Cabrera und Juárez ersetzt haben).93 Auch der Theatergeschmack des mexikanischen Publikums lasse sich zu sehr von französischen Trivialitäten verführen, anstatt sich auf die spanische Tradition zu besinnen. Ein ähnlicher Verweis auf die Oberflächlichkeit der französischen Kunstszene fand sich bereits in der knappen Skizze ‘El zapatero literato’ in Galváns Recreo de las Familias und lässt erneut auf eine diferenziert verlaufende Rezeption der französischen Kultur nach der mexikanischen Unabhängigkeit schließen. Die Übernahme der Pariser Moden und mit ihr eine Kopie gesellschaftlicher Verhaltensweisen wird von den Autoren um die Academia de San Juan de Letrán dezidiert abgelehnt und parodiert, desgleichen stößt die Vorliebe des Publikums für das Boulevardtheater und den Feuilletonroman auf wenig Gegenliebe bei Rodríguez Galván und seinen Kollegen. Lamartine und Hugo stehen auf der anderen Seite der Medaille; die wenigen literarischen Zeitschriften der Epoche drucken sie ab und beginnen vereinzelt – wie im Falle des Recreo – ihre Werke zu diskutieren, auch wenn eine derartige Auseinandersetzung meistens noch den spanischen (oder französischen) Kollegen überlassen wird. Eine romantische Bewegung in Mexiko, so man von dieser sprechen will, definiert sich jedoch ausschließlich durch eine Wiederholung schon erwähnter Stereotypen – geheimnisvolle Beziehungen unter den Protagonisten, von sozialen Vorurteilen bedrängte Paare, übersensible und emotionale Helden usw. –, sowie besonders durch die Notwendigkeit einer Absetzung von Europa, speziell von Frankreich, dessen Einflusswirkung insbesondere auf den mexikanischen Alltag als störend und arrogant behandelt wird.
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Rodríguez Galván, ‘La procesión’, S. 310. Erneut fällt die Verwendung typisch mexikanischer Formen auf. Das Adjektiv „chaparro“ (von sehr geringer Statur) ist im 19 Jh. ein durchaus nicht literaturfähiges Wort. „Papirote” wird von der Real Academia Española als „golpe en la cabeza“, aber auch als „persona tonta, boba, corta de ingenio“ definiert. Unschwer lässt sich in diesem Doppelsinn eine weitere Attacke Galváns auf die französische Kultur erkennen. Auch ein mögliches Anagramm von Le Braconier als beleidigendes „el cabrón ríe“ ist in diesem Kontext zu sehen. Der mexikanische Erzähler nimmt mit derartigen Wortspielen und ironischen Verweisen, sowie mit seiner Insitenz auf die mexikanische Variante des Spanischen eine Sonderstellung innerhalb der Narrativik seiner Zeit ein. Rodríguez Galván, ‘La procesión’, S. 310f.
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Schon in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts kann Francisco Zarco (1829-1869) mit ‘La ocasión hace al ladrón’ die Parodie einer romantischen Erzählung verfassen.94 In ihr bilden der alternde Geschäftsmann Melitón und die junge oberflächliche Pepita ein gegensätzliches Paar. Keine Gefühle sind bei ihrer Heirat im Spiel, sondern sie schließen schlicht und einfach ein Geschäft ab. Melitón muss sich mit dem resignierten Spruch von der Gelegenheit, die den Dieb macht, mit der Untreue seiner frivolen Frau abfinden. Unschwer lassen sich in Zarcos Darstellung Pepitas die für das mexikanische Familienleben als fatal empfundenen Auswirkungen der unüberlegten Übernahme französischer Moden und Verhaltensmuster ablesen. Die Warnungen und Parodien Rodríguez Galváns, Prietos, Zarcos u. v. m. konnten jedoch nicht verhindern, dass sich die mexikanische Gesellschaft im Laufe des Jahrhunders immer mehr „französierte“.95 Mit den Worten Perales Ojedas, die sich speziell auf die Position der Frau in dieser Gesellschaft bezieht: La cultura femenina de la primera mitad del siglo XIX se vio influida por dos corrientes: la europeizante del romanticismo que dio lugar a publicaciones dedicadas especialmente a las señoritas mexicanas96 [...], donde se exaltó el modelo francés del vestir, de adornarse y aun del físico, difícil de copiar por las condiciones económicas y físicas de la mujer de la clase media mexicana. Por otra parte, la lectura para ellas fue un lujo, no abundaban las lectoras, más bien gustaban de ver las ilustraciones, por eso tan llamativas, de donde obtuvieron información para que las acercara al modelo europeo. (Die weibliche Kultur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde von zwei Strömungen beeinflusst: die europäisierende der Romantik, die speziell an ein weibliches Publikum gerichtete Publikationen ermöglichte […], in denen die französische Art der Kleidung, des Schmucks und auch des Körpers übertrieben wurden, die wegen der ökonomischen und physischen Konditionen der Frau der mexikanischen Mittelklasse schwer zu kopieren waren. Andererseits war die Lektüre für sie ein Luxus, es gab nicht viele Leserinnen, viel leber sahen sie die Illustrationen, die deshalb so auffällig waren, in denen sie Informationen bekamen, um sich dem europäischen Modell annähern zu können.)97
Die mexikanische Forscherin übersieht hier, dass gerade die erste romantische Gruppe aus nationalistischen Gründen gegen eine derartige Übernahme europäischer Moden auftrat, dürfte aber mit ihrem Urteil, dass der Alltag der mexikanischen Mittelschicht immer „französischer“ wurde, völlig im Recht sein.
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Zarcos Text wurde unter dem Pseudonym „Fortún“ 1852 in La Ilustración Mexicana publiziert. Im Sammelband der UNAM: S. 375-391. Der Historiker und Journalist Zarco gehörte zu den prominentesten Figuren der zweiten romantischen Gruppe Mexikos, die sich um das Liceo Hidalgo bildete. Vgl. Muñoz Fernández, Fichero bio-bibliográfico, Bd. 2, S. 780f. „Afrancesamiento“, „afrancesado“, „afrancesar(se)“ sind gängige Termini, die für das gesamte 19. Jahrhundert und den Modernismo in der lateinamerikanischen Literaturkritik ihre manchmal unüberlegte Anwendung finden. La Semana de las señoritas mejicanas (1850-1852) oder Semanario de las señoritas mejicanas (1840-1842) sind typische Titel für diese von Perales Ojeda erwähnten Publikationen. La Semana enthält Texte u. a. von Dumas und Nodier. Vgl. Castro und Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX, S. 386ff. und 394f. Alicia Perales Ojeda, Las asociaciones literarias mexicanas (México: UNAM, 2000), S. 20f.
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1.2.5. Die Jahre vor dem „Imperio“ Wenn auch der politische Konflikt mit Frankreich vorübergehend beigelegt werden konnte und die sich immer problematischer gestaltenden Beziehungen mit den USA in den Mittelpunkt des Interesses rückten, scheint sich die Rezeption der französischen Kultur unverändert zwiespältig zu gestalten. Etwas überspitzt formuliert, aber sicher nicht gänzlich verfehlt, könnte man festlegen: Sue und Dumas (Vater) auf der einen Seite, Hugo und Lamartine auf der anderen. El Monitor republicano,98 neben El Siglo diez y nueve die meist verbreitete Tageszeitung des 19. Jahrhunderts, publizierte in seinem Feuilleton die Romane Sues, sowie Dumas Comte de Monte-Cristo und Les trois Mousquetaires. Eine literarisch orientierte wöchentlich erscheinende Zeitschrift wie El Museo Mexicano (1843-1846) andererseits, deren Gründer Guillermo Prieto und Manuel Payno sind, zwei „alte“ Akademiker, druckte Übersetzungen von Hugo, Lamartine und Chateaubriand ab.99 Im Jahr 1849 kommt es zur Gründung des Liceo Hidalgo,100 in dem sich die zwite romantische Generation Mexikos trifft. Im Wesentlichen handelt es sich um eine Verlängerung der Academia de San Juan de Letrán, erweitert um die ab etwa 1820 geborenen Autoren, wie z. B. Francisco Zarco. Bezeichnenderweise wird der Liceo kurz nach der Beendigung des Konfliktes mit den USA, in dem Mexiko etwa die Hälfte seines Territoriums verlor, ins Leben gerufen.101 Neuerlich hat ein politischer Konflikt die Entwicklung einer mexikanischen Literatur nachhaltig beeinflusst und gebremst. Erneut steht nicht die Diskussion neuer künstlerischer Ideen im Mittelpunkt, sondern die Notwendigkeit, einen Korpus zu schaffen, der es erst ermöglichte, von einer nationalen Literatur in Mexiko zu sprechen. Der erste Präsident des Liceo war Francisco Granados Maldonado,102 aber schon 1851 übernahm der damals erst 22-jährige Zarco die Präsidentschaft. In seiner Antrittsrede nahm er zur Situation der mexikanischen Literatur Stellung. Dieser Text fasst Mitte des 98
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Der Monitor existierte mit Unterbrechungen von 1844 bis 1896 und stellte im gleichen Jahr wie El Siglo diez y nueve sein Erscheinen ein (Vgl. Castro und Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX, S. 260ff.). Grund für dieses kleine „Zeitungssterben“ ist v. a. das Aufkommen einer von Reyes Spíndola nach US-Vorbild geformten Presse, die auch modernistische Autoren wie Tablada und Nervo anzog. Castro und Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX, S. 276ff. Die Autorenliste der Zeitschrift liest sich wie ein Who is who der damaligen mexikanischen Literatur, ohne dass jedoch Tendenzen vorgeschrieben worden wären. Nach wie vor gilt das Nebeneinander von klassizistisch und romantisch orientierten Autoren, die keinen literarischen Disput führen. Nach wie vor gilt auch, wie für den älteren Recreo de las Familias, dass eine derartige Publikation ihre Seiten nicht ausschließlich mit nationalen Autoren füllen kann. Castro und Curiel erwähnen englische, deutsche und französische Periodika, die Material für El Museo Mexicano bereitstellen mussten. Über das Gründungsjahr herrscht Uneinigkeit. Castro und Curiel legen es mit 1849 fest, da ein Dokument aus dem Jahr 1850 existiert, in dem von der ersten Jahresfeier des Liceo die Rede ist. Perales Ojeda besteht auf 1850, da die Statuten der Vereinigung diese Zahl aufweisen. Der Friedensvertrag wurde am 2. Februar 1848 unterzeichnet. Mexiko verlor Texas, New Mexico und Teile Kaliforniens. Vgl. Lilia Díaz, ‘El liberalismo militante’, in Historia General de México, koordiniert von Daniel Cosío Villegas, 2 Bde. (México: El Colegio de México, 1981), Bd. 2, S. 819-897, hier S. 821. Granados Maldonado starb 1872. Geburtsjahr und –ort sind unbekannt. Er hatte v. a. als Theaterautor einigen Erfolg. Vgl. Muñoz Fernández, Fichero bio-bibliográfico, Bd. 1, S. 316f.
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Jahrhunderts nicht nur die Entwicklung der nationalen Literatur zusammen, sondern ist auch ein wichtiges Dokument, um das Vorhandensein einer Romantikdiskussion im Land werten zu können. Zarco übernimmt zunächst das Goethesche Konzept der Weltliteratur, das er mit der Idee von einer globalen politischen Brüderschaft paart. Der Passus erinnert auch in der Wortwahl an Goethes berühme Äußerung Eckermann gegenüber:103 Nuestra época, más que ninguna otra, está llamada a revestir la literatura de una forma universal. Los pueblos de la Tierra ya no viven aislados; ni hay nación que llame bárbaras a las demás; los intereses mutuos producen una unión que hace de los hombres una misma familia; y así las obras del poeta, del historiador o del filósofo, no están destinadas al estrecho límite de una ciudad o de una provincia, sino que auxiliado el genio por la maravillosa invención de la imprenta, derrama sus producciones por el mundo entero, por donde quiera que haya corazones que sientan, cerebros que discurran (Unsere Epoche, mehr als jede andere, ist dazu aufgerufen, die Literatur mit einer universellen Form zu umgeben. Die Völker der Erde leben nicht mehr isoliert, es gibt keine Nation, die eine andere barbarisch nennen dürfte, die gegenseitigen Interessen erzeugen eine Vereinigung, die die Menschen zu einer Familie macht; und auch die Werke des Dichters, Historikers oder Philosophen sind nicht für die engen Grenzen einer Stadt oder einer Provinz bestimmt, sondern das Genie, mit Hilfe der großartigen Erfindung der Druckerei, verbreitet seine Produkte über die ganze Welt, wo immer Herzen sind, die fühlen, Geister, die denken.)104
Eine Nation, die den Anschluss an diese „Globalisierung“ im 19. Jahrhundert nicht verlieren möchte, muss in der Lage sein, auf eine eigenständige Literatur verweisen zu können: Nationalliteratur als erster Schritt zur Weltliteratur: „No puedo concebir, señores, la existencia, no digo de un gran pueblo, ni de una tribu que comience a gozar de civilización, sin una literatura, naciente o vigorosa, perfecta o imperfecta, oral o escrita, porque, la literatura no es más que la expresión del pensamiento“ (Ich kann mir, meine Herren, die Existenz eines großen Volkes oder eines Stammes, der gerade erst die Zivilisation zu genießen beginnt, ohne eine Literatur nicht vorstellen: erst geboren oder kräftig, perfekt oder nicht, mündlich oder geschrieben, denn die Literatur ist der Ausdruck des Denkens).105 Folgerichtig fordert Zarco am Ende seiner Ausführungen von den Mitgliedern des Liceo Hidalgo in erster Linie Anstrengungen, um das Ziel einer mexikanischen Nationalliteratur zu verwirklichen: „Antes de concluir, señores, permitidme expresar la halagadora esperanza de que México, antes de mucho, pueda enorgullecerse con una literatura propia, de que ella lleve el sello filosófico de nuestra época, y de que los primeros resplandores de esa vivísima luz, manen puros y deslumbrantes del LICEO HIDALGO“ (Bevor ich schließe, meine Herren, erlaubt mir meiner erfreulichen Hoffnung Ausdruck zu geben, dass Mexiko bald auf eine eigene Literatur stolz sein kann, dass diese das philosophische Siegel unserer Epoche trägt und dass der erste Schein dieses lebendigen 103
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Zum Vergleich Goethes Äußerung gegenüber Eckermann vom 31. Jänner 1827: „Ich sehe immer mehr [...], dass die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist und dass sie überall und zu allen Zeiten in Hunderten und aber Hunderten von Menschen hervortritt. [...] Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun. Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen“ (Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, insel taschenbuch 500, (Frankfurt: Insel Verlag, 1981), S. 211. Francisco Zarco, Escritos literarios, in „Sepan Cuantos...“, 90 (México: Porrúa, 1980), S. 226. Zarco, Escritos literarios, S.226.
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Lichtes rein und blendend aus dem LICEO HIDALGO hervorgeht).106 Auch noch um 1850 muss das erste Ziel für die mexikanischen Literaten die Schaffung eines Korpus sein. Für eine Diskussion um die ästhetischen und philosophischen Prinzipien der europäischen Romantik ist auch weiterhin kein Platz, sieht man vom immer vorhandenen Gedanken der nationalen Freiheit ab, der im Mexiko der ersten Jahrzehnte nach dem Unabhängigkeitskrieg sicher nicht mehr der Rezeption europäischer Ideen bedurfte. Der Freiheitsgedanke im Zusammenhang mit der Dichtung findet sich explizit in Zarcos Aufsatz ‘Guía y maestro. El poeta’, in dem er als oberste Qualitätskriterien für einen Dichter moralische Integrität und politische Unabhängigkeit etabliert.107 Nur wenn ein Schriftsteller diese Voraussetzungen erfüllt, erweist er sich seiner privilegierten Schöpferstellung als würdig. Zarco schränkt also die äußerst erfolgreiche romantische Genieästhetik durch ein politisches Kriterium ein; etwas ironisch formuliert: Genie ist nur, wer auch ohne drei Mahlzeiten am Tag auskommen kann.108 Der Mexikaner definiert sein Dichterbild wie folgt: El poeta siente con vehemencia; sin sentimiento no hay poesía. Ésta es el eco, la expresión de las pasiones y del entusiasmo, expresión que no imitarán jamás las almas frías, como no se imita la voz del océano, ni de las cataratas espumosas. Nunca la frente del poeta se inclina humilde ante el tirano; nunca las cuerdas de su lira lo arrullan blandamente, sino que, por el contrario, despiertan y animan a los pueblos para que quebranten sus cadenas [...] ¡Pobre poeta! Amor, gloria y libertad, bastarían a tu corazón y a tu genio ... y nada de lo que anhelas encontrarás en el mundo. Tal vez al dejar la Tierra, gozarás de esos ensueños de ventura. ¡Pobre poeta! (Der Dichter fühlt mit Ungestüm; ohne Gefühl gibt es keine Dichtung. Diese ist das Echo, der Ausdruck der Leidenschaften und des Enthusiasmus, ein Ausdruck, den die kalten Seelen nie nachahmen werden, so wie die Stimme des Ozeans und der schäumenden Wasserfälle nicht imitiert wird. Die Stirn des Dichters beugt sich niemals bescheiden vor dem Tyrannen; die Saiten seiner Leier wiegen ihn nicht sanft in den Schlaf, sondern sie erwecken im Gegenteil die Völker und ermutigen sie, damit sie ihre Ketten sprengen [...] Armer Dichter! Liebe, Ruhm und Freiheit wären deinem Herzen und deinem Geist genug ... und nichts davon wirst du in der Welt finden. Vielleicht wirst du, wenn du die Erde verlässt, diese Glücksträume genießen.)109
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Zarco, Escritos literarios, S. 233f. Zarco kommt zu diesem Schluß nach einem komprimierten Abriss der europäischen Literaturgeschichte, in dem er keine Nation privilegiert – Italien, Frankreich, England, Spanien und Deutschland seien geichrangig (S. 229) –, und in dem er versucht, das Gedankengut der französischen Revolution für das katholische Mexiko zu retten. Er argumentiert, dass die Revolution keineswegs die Religion abschaffen, sondern nur humaner machen wollte (S. 230). Auch in ‘De la protección a la literatura’ besteht er darauf, dass der Schriftsteller sich keinerlei politischer Institution oder Figur verpflichten darf. Jegliches Mäzenatentum lehnt Zarco strikt ab: „La miseria no es una disculpa“ (Das Elend ist keine Entschuldigung; Zarco, Escritos literarios, S. 243). Vorbildwirkung haben für ihn in diesem Kontext Victor Hugo und Eugène Sue: „sean cuales fueren sus errores, no son comparables con los escritores asalariados“ (was auch immer ihre Fehler sind, sie sind nicht mit den Lohnschriftstellern zu vergleichen; S. 243). Zarco nennt eine Reihe von mexikanischen und europäischen Autoren, die seiner Meinung nach dieser Forderung gerecht werden: aus der französischen Literatur Chateaubriand, Hugo, Lamartine, Bernardin de St Pierre, Mme de Staël, Madame Dacier; aus Deutschland: Klopstock und Goethe; aus England: Milton und Byron; aus Italien: Foscolo, usw. (S. 223f.) Das Eklektische dieser Auswahl ist unschwer zu erkennen. Seine wahrscheinliche Kenntnis des Werkes der Madame de Staël lässt zwar auf eine ausführlichere RomantikRezeption schließen, ohne dass es jedoch dadurch zu einer Schulenbildung gekommen wäre. Zarco, Escritos literarios, S. 224f.
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Zarco, ohne Zweifel einer der bestinformierten mexikanischen Intellektuellen seiner Zeit, legt die dichterischen Normen für den Liceo Hidalgo fest, der ab 1850, wenn auch mit Unterbrechungen, das literarische Geschehen des Landes bestimmt. Vor allem drei Prinzipien dominieren diese Normen: das der Gefühlsdichtung, der Freiheitsgedanke und die Vorstellung von einem notwendigerweise unverstandenen Dichter. Mit Sicherheit verdanken diese Punkte der romantischen Ästhetik Europas ihren Ursprung. Andererseits kann nicht übersehen werden, dass es sich dabei um eine Rezeption handelt, die in erster Linie den politischen Gegebenheiten des Landes entspricht, sowie dass sie zu einem Zeitpunkt erfolgt, als die romantische Schule in Europa längst keinen Modernitätsanspruch mehr hat, was die Möglichkeit einer polemisch geführten Debatte um sie in Lateinamerika de facto ausschließt. Auf ironische Weise stellte Zarco den längst überholten Konflikt zwischen Klassizisten und Romantikern in seinem langen, in La Ilustración Mexicana veröffentlichten Artikel ‘Tramitología’ dar. Ein „klassischer“ Autor müsse demnach ein antiquiertes Spanisch mit Entlehnungen aus Cervantes und dem Arcipreste de Hita sprechen und dürfe in seinem Leben nur sechs oder acht Sonette mit historischen Themen verfassen. Das genüge, um seinen Ruf als gewichtiger Denker zu begründen.110 Von einem romantischen Dichter dagegen heißt es: El escritor romántico ha de ser de genio precoz, sus primeras y más bellas inspiraciones ha de haberlas tenido a los siete u ocho meses de nacido. [...] Debe ser flaco, pálido, barbudo, pobre y muy desesperado, y más que desesperado fecundo en escribir, sin seguir ninguna clase de regla, sin sujetarse a precepto alguno. Hará endecasílabos de veinte sílabas, y octosílabos de cinco, porque su genio es superior a todos los que antes que él vinieran al mundo. (Der romantische Schriftsteller hat ein frühreifes Genie zu sein, seine ersten und schönsten Eingebungen muss er sieben oder acht Monate nach der Geburt gehabt haben. [...] Er muss dürr, blass, bärtig, arm und sehr verzweifelt sein, und mehr noch als verzweifelt fruchtbar im Schreiben, ohne irgendeiner Regel zu folgen, ohne sich irgendeiner Vorschrift unterzuordnen. Er wird Elfsilber aus 20 Silben machen und Achtsilber aus fünf, weil sein Genie allen anderen, die vor ihm auf die Welt kamen, überlegen ist.)111
Angesichts einer derartigen Parodie fällt es schwer, vom Chef des Liceo Hidalgo als von einem romantischen Autor, der eine romantische Gruppe anführt, zu sprechen. Die von Zarco erhobenen Ansprüche werden immer noch von der Forderung nach der dringend notwendigen Erstellung eines literarischen Korpus überdeckt, die durch die französische Intervention der 60er Jahre erneut hinausgeschoben werden musste. Erst nach 1867 kann Ignacio Manuel Altamirano die von Francisco Zarco eingeleitete Entwicklung weiterführen. Die Autoren des Liceo Hidalgo veröffentlichten v. a. in der von Ignacio Cumplido betreuten La Ilustración Mexicana (1851-1855), ebenfalls ein Projekt Zarcos und wie seine Vorgänger ein Versuch, eine nationale literarische Zeitschrift zu publizieren. Die Autorenliste der Ilustración bestätigt einerseits, dass dieses Ziel nun erreichbar scheint, andererseits, dass von einer dogmatisch sich abgrenzenden romantischen Gruppe in Mexiko keine 110 111
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Francisco Zarco, ‘Tramitología’, in Castillos en el aire y otros textos mordaces (México: Ediciones Coyoacán, 2000), S. 25-73, hier S. 61. Zarco, ‘Tramitología’, S. 62f.
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit
Rede sein kann. Andrés Quintana Roo, Pantaleón Tovar (1828-1876),112 Sánchez de Tagle, Manuel Carpio, José Sebastián Segura113 u. a. finden genauso Aufnahme wie Guillermo Prieto, Justo Sierra (Vater) oder Fernando Orozco y Berra. Auch die das ganze 19. Jahrhundert kennzeichnende strenge politische Polarisierung in konservativ und liberal (phasenweise monarchisch und republikanisch) lässt sich anhand der Autorenliste der Ilustración nicht nachvollziehen. Die ausländische Literatur ist besonders durch Spanien vertreten: Zorrilla, Campoamor, Espronceda.114 Andererseits scheint sich La Ilustración Mexicana speziell an ein weibliches Publikum zu richten und die Dominanz französischer Moden in Mexiko zu akzeptieren. Castro und Curiel berichten: „La publicación se acompañaba de bellas litografías que mostraban la moda parisiense y formaban parte de la sección titulada Revista de modas, posteriormente Últimas modas de París; se insertaban consejos útiles para el „bello secso“ sobre química doméstica, así como sentencias de carácter moral“ (Die Veröffentlichung wurde von schönen Lithografien begleitet, die die Pariser Moden zeigten und Teil einer Revista de modas und später Últimas modas de París betitelten Sektion waren; nützliche Ratschläge für das „schöne Geschlecht” den Haushalt betreffend, sowie Sentenzen mit moralischem Charakter wurden eingefügt).115
1.2.6. Altamiranos El Renacimiento Viele der in Zarcos Zeitschrift schreibenden Autoren finden sich einige Jahre später in Ignacio Manuel Altamiranos El Renacimiento wieder.116 Auch wenn die Zeitschrift nur ein knappes Jahr (1869) erschien, bildet sie doch eine deutliche Zäsur innerhalb der mexikanischen Literaturgeschichte. Mit dem Abzug der französischen Truppen und der Hinrichtung Maximilians in Querétaro am 19. Juni 1867 schien die unstabile erste Phase der Unabhängigkeit ein Ende gefunden zu haben. Dass nur eineinhalb Jahre nach diesen Ereignissen eine feindliche Haltung gegenüber der französischen Kultur in El Renacimiento erkennbar 112
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Tovar, der sich aktiv an den kriegerischen Auseinandersetzungen mit den USA und Frankreich beteiligte, war noch in seinem Todesjahr in eine literarische Diskussion mit dem jungen Manuel Gutiérrez Nájera verwickelt, in der ein Teil der Kritik das erste Programm des literarischen Modernismo sehen möchte, die aber in Wirklichkeit einen verspäteten Disput um einige romantische Prinzipien darstellt. Tovar vertrat in ihm eine sehr rationalistische, anti-romantische Position. Vgl. Irma Contreras García, La prosa de Gutiérrez Nájera en la prensa nacional (México: UNAM, 1998), S. 98ff. Segura war u. a. auch Mitglied der konservativen und streng klassizistisch orientierten Sociedad Católica. Castro und Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX, S. 217. Castro und Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX, S. 218. Die Schreibweise „secso“, genauso wie die Varianten „Méjico“ und „Mégico“ für México können als Versuch einer linguistischen Abgrenzung von Spanien interpretiert werden, da der Buchstabe „x“ in der sprachlichen Realität Mexikos zumeist das Phonem [s] repräsentiert. Derartige Reformversuche waren allerdings von geringer Lebensdauer: Die rasche kulturelle und politische Aussöhnung mit der „madre patria“ machten sie überflüssig. Mit der Gründung der Academia Mexicana de la Lengua, Correspondiente de la Española am 13. April 1875, geraten derartige Schreibweisen endgültig in den Ruf orthografischer Verirrungen. Vgl. Perales Ojeda, Las asociaciones literarias mexicanas, S. 147ff. Altamirano übernahm 1870 die Präsidentschaft des Liceo Hidalgo, der noch bis 1892 Bestand hatte.
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ist, kann nicht überraschen, ebensowenig dass Altamirano erneut das Ziel einer nationalen literarischen Zeitschrift postuliert, überraschend ist jedoch die Art, in der die Rezeption europäischen Gedankenguts abläuft, speziell der Versuch, Alternativen zur französischen Literatur aufzuzeigen. Der aus einer indigenen Familie in Guerrero stammende Altamirano trat erstmals 1857 in Erscheinung, als er im Colegio de Letrán unter dem Titel El Circuito Juvenil de Letrán einen losen literarischen Zirkel organisierte, an dem u. a. der jung verstorbene Marcos Arróniz teilnahm.117 Am 2. Jänner 1869 beginnt der als Schriftsteller und Pädagoge bereits etablierte Altamirano als alleinverantwortlicher Herausgeber mit der Publikation von El Renacimiento.118 Die wöchentlich erscheinende Zeitschrift machte Mitte des Jahres Pleite, aber Altamirano konnte sie an ihren Drucker verkaufen und noch bis Ende 1869 unverändert weiter edieren.119 Trotz ihrer relativen Kurzlebigkeit übte El Renacimiento nachhaltigen Einfluss in der mexikanischen Literaturszene aus. So berichtet Huberto Batis, dass noch in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts 35 weitere literarische Zeitschriften nach Vorbild der Publikation Altamiranos in Mexiko gegründet wurden.120 Als Altamirano 1893 in San Remo starb, rief der Drucker Olavarría y Ferrari zu einer Wiederbelebung von El Renacimiento auf: Die neue Zeitschrift existierte von Jänner bis Juni 1894.121 Auf Umwegen wurde damit El Renacimiento zum unmittelbaren Vorgänger von Gutiérrez Nájeras Revista Azul. In der Tat darf schon Altamiranos Zeitschrift als Vorbereiterin der modernistischen Periodika angesehen werden. El Renacimiento ist eine exklusiv kulturelle Publikation, die in ihren Seiten fast ausschließlich Beiträge zu Literatur und Kunst bereitstellt. Die politische Diskussion wird ausgeschlossen, sofern sie nicht dem Postulat der nationalen Unabhängigkeit und allgemein pädagogischen Fragen dient. Der erzieherische Charakter der Publikation ist offensichtlich und wird von Altamirano als ungeschriebenes Publikationskriterium speziell für die Erzählliteratur festgelegt. Huberto Batis fasst es in seiner Präsentation der Faksimileausgabe zusammen: „Tras la fantasía debía estar la historia, la moral, la política, el análisis social; nivelar las clases, educar las costumbres, buscar la mejora de la humanidad, a ejemplo de Voltaire y Rousseau, debía ser la intención principal de los ‘libros de masas’“ (Hinter der Fantasie mussten die Geschichte, die Moral, die Politik, die soziale Analyse stehen; die ‘Massenbücher’ hatten die vorrangige Absicht, nach dem Vorbild Voltaires und Rousseaus, die Klassen auszugleichen, die Sitten zu bilden, die Verbesserung der Menschheit zu suchen).122 El Renacimiento nährt sich vom naiven Fortschrittsglauben seines Herausgebers, der davon überzeugt ist, dass Mexiko nach dem 117 118
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Perales Ojeda, Las asociaciones literarias mexicanas, S. 94f. Dem Erscheinen der Zeitschrift gingen von Altamirano organisierte veladas literarias voraus. Zwölf dieser informalen Treffen fanden zwischen November 1867 und April 1868 u. a. in den Häusern von Altamirano selbst, von Manuel Payno, Ignacio Ramírez und Vicente Riva Palacio statt. Vgl. Perales Ojeda, Las asociaciones literarias mexicanas, S. 103ff. Huberto Batis, ‘Presentación’, in El Renacimiento, Faksimileausgabe (México: Coordinación de Humanidades, Instituto de Investigaciones Filológicas, UNAM, 1993), S. VII-XXVI, hier S. XI. Batis, ‘Presentación’, S. XXV. Batis, ‘Presentación’, S. XXVI. Batis, ‘Presentación’, S. XV.
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit
unruhigen Beginn seiner Unabhängigkeit dazu befähigt ist, eine wichtige Stelle innerhalb – und gegenüber – der westlichen Kultur einzunehmen. Um dies zu erreichen, muss ein Kanon gefunden, müssen Abgrenzungen und Annäherungen festgelegt, muss die Haltung Mexikos zur europäischen und speziell französischen Kultur definiert werden. In seinem schlicht ‘Introducción’ betitelten Einleitungsartikel weist Altamirano auf die turbulente politische Situation hin, die der Entwicklung der mexikanischen Literatur hinderlich entgegenstand: „los demás discípulos de las musas habían colgado sus liras de los sauces extranjeros, ó las habían arrojado para empeñar el sable. Hondo silencio reinaba en la república de las letras“ (die anderen Musenschüler hatten ihre Leiern an die ausländischen Trauerweiden gehängt oder sie weggeworfen und für den Säbel eingelöst. Tiefe Stille herrschte in der literarischen Republik).123 Die „sauces extranjeros“ sind zweifelsohne französischen Ursprungs. Altamirano beklagt die arrogante Haltung der französischen Invasoren, die ihre Kultur in Mexiko etablieren wollten und dem mittelamerikanischen Land die Rolle eines unterentwickelten Volkes zuschrieben, das Frankreich für seine interventionistische Politik dankbar sein müsste. Das vorrangige Ziel von El Renacimiento müsse demnach sein: „vindicar á nuestra querida patria de la acusación de barbárie con que han pretendido infamarla los escritores franceses, que en su rabioso despecho quieren deturpar al noble pueblo á quien no pudieron vencer los ejércitos de su nacion“ (unser geliebtes Vaterland gegen die Anklage der Barbarei verteidigen, mit der die französischen Schriftsteller das noble Volk, das die Heere ihrer Nation nicht besiegen konnten, difamieren wollen; I, S. 5). Derartige Äußerungen lassen unschwer erkennen, dass der französischen Kultur – wie 30 Jahre zuvor in El Recreo de las Familias – ihre Vorbildwirkung und führende Stellung in Lateinamerika abgesprochen werden soll. Altamirano betont zwar nachdrücklich, dass die Politik keinen Platz in seiner Zeitschrift haben werde, aber natürlich kann man auch diese Kampfansage an Frankreich als politische Äußerung interpretieren. Kulturelle Erscheinungen übernehmen auf diese Art immer deutlicher eine Stellvertreterfunktion: Der kulturelle „Krieg“ ersetzt und ergänzt die militärische und diplomatische Auseinandersetzung. Schon in seiner ersten ‘Crónica de la Semana’ (wöchentliche Chronik) macht Altamirano klar, dass Mexiko auf der Suche nach anderen kulturellen Vorbildern ist. Er konstituiert dabei die Chronikstruktur, die einige Jahre später die modernistische Generation perfektionieren sollte. Ein alltägliches Ereignis (Hochzeit, Taufe, Eröffnungen, Bälle, usw.) ist der Initiator, der ihn in freier Assoziation zu allgemein kulturellen und spezifisch literarischen Fragestellungen und Reflexionen führt.124 In seiner Chronik vom 2. Jänner 123
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El Renacimiento, Faksimileausgabe (México: Coordinación de Humanidades, Instituto de Investigaciones Filológicas, UNAM, 1993), ‘Presentación’ von Huberto Batis, S. 4. Die Seitenangabe der Zeitschrift beginnt ab ihrer zweiten Epoche, nach ihrem Verkauf, wieder mit 1. Bei den folgenden Zitaten beziehe ich mich im Haupttext (in Klammer oder [eckiger Klammer]) mit I oder II, sowie mit der Seitenzahl auf sie. Altamirano soll damit nicht als der Erfinder der Chronik in Mexiko präsentiert werden, schon lange vor ihm publizierten die Periodika Texte über soziale Ereignisse, die sich am Ende weit von ihrem Ausgangsthema entfernten, um ganz andere Problematiken zu behandeln. Der Umfang der Chroniken Altamiranos, ihr über eine relativ lange Phase regelmäßiges Erscheinen, die Dominanz literarischer Themen in ihnen, sowie der intensiv geführte Dialog mit anderen Publikationen seiner Zeit, stellen das eigentlich „Neue“ in den Chroniken von El Renacimiento dar.
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1869 behandelt er das Thema der Neujahrsbräuche in Mexiko und Europa und spricht sich – wie zu erwarten war – gegen eine Nachahmung der französischen Traditionen aus, um im gleichen Atemzug die Unversöhnlichkeit seiner Stellung gegenüber Frankreich zu betonen: „La costumbre francesa [...] de hacerse regalos [...] no se ha naturalizado en nuestro país, lo mismo que la de hacerse visitas y de besar á los conocidos, lo cual será muy bello, pero nunca podrá aceptarse, y menos con los recuerdos que dejó aquella guerra de invasion, que nunca se borrarán de nuestra memoria./Nosotros seguimos la costumbre española, que es tambien la inglesa y la alemana“ (Der französische Brauch, sich zu beschenken, wurde in unserem Land nicht heimisch, ebenso wie der, sich gegenseitig zu besuchen und die Bekannten zu küssen, was sehr schön wäre, aber niemals akzeptiert werden kann, viel weniger noch mit der Erinnerung an diesen Invasionskrieg, der nie aus unserem Gedächtnis getilgt sein wird./Wir folgen dem spanischen Brauch, der auch der englische und deutsche ist; I, S. 7). Altamirano deutet die Frivolität der französischen Sitten an: durchaus keine originelle oder neuartige Feststellung; Frankreich mit frivol gleichzusetzen war schon im 19. Jahrhundert ein Gemeinplatz. Auch die Behauptung, spanischen Bräuchen zu folgen, fand sich schon bald nach Beendigung des Unabhängigkeitskampfes. Dass aber nun dezidiert England und Deutschland als Vorbilder miteinbezogen werden, spricht von einer stärkeren Absetzung von Frankreich und gleichzeitig von dem Versuch, die Rezeption der europäischen Kultur auszudehnen und dem intellektuellen Publikum der Zeitschrift Alternativen zu Frankreich vor Augen zu führen. Es kann daher nicht überraschen, dass der erste ausländische Autor des Renacimiento ein Deutscher ist: der Theologe und Autor christlicher Parabeln Friedrich Adolf Krummacher (1767-1845). In unregelmäßigen Abständen druckt El Renacimiento sieben seiner Parabeln ab. Ihr Übersetzer, José Sebastián Segura,125 stellt in der dritten Nummer der Zeitschrift eine kleine Einführung in die deutsche Literatur dem Text Krummachers voran, in der Schiller, Jean Paul, Bürger und Klopstock neben dem heute fast vergessenen Krummacher als führende Vertreter genannt werden. Diese Mischung, sowie das Fehlen Goethes, lassen auf einen unsystematisch und dem Zufall überlassenen Beginn der Rezeption der deutschen Literatur in Mexiko schließen. Von einer Verarbeitung spezifisch romantischen Gedankenguts kann auf keinem Fall die Rede sein. Dennoch ist Seguras Empfehlung an das Publikum der Zeitschrift, die deutsche Literatur und Sprache zu studieren, aufschlussreich. Die französische Literatur sei nur deswegen bekannter als die deutsche, weil ihre Sprache viel verbreiteter sei. Was die Qualität betrifft, sei die deutsche aber zumindest gleichrangig: Entre las naciones modernas quizás no hay otra que posea un tesoro literario tan rico como Alemania [...] Nada es difícil para el germano [...] La literatura germánica no es tan popular como la francesa; porque el idioma de Schiller no es tan conocido como el de Racine. Los que ignoran la lengua alemana la tienen por bárbara, pobre é ingrata al oido. Baste decir que entre las vivas es una de las mas copiosas, expresivas y elegantes. Los bardos alemanes imitan admirablemente los bellísimos metros de los griegos [...] En otra 125
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Der 1822 in Veracruz geborene Segura war Bergbauingenieur und Kongressabgeordneter. Er trat v. a. als Übersetzer aus dem Lateinischen, Italienischen und Französischen hervor. Als seine beste Leistung gelten jedoch seine Übertragungen Schillers, mit einiger Sicherheit zum ersten Mal in Mexiko direkt aus dem Deutschen. Segura starb 1889 in Mexiko-Stadt. Vgl. die Mitgliederliste der Academia Mexicana de la Lengua, verfügbar in: http://www.academia.org.mx/ Academicos/AcaSemblanza/Segura.htm.
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ocasion nos ocuparemos de tan interesantes trabajos, para que nuestros jóvenes literatos aumenten el caudal de su instruccion. (Unter den modernen Nationen hat vielleicht keine einen derart prächtigen literarischen Schatz wie Deutschland [...] Nichts ist schwierig für den Germanen [...] Die deutsche Literatur ist nicht so populär wie die französische, weil die Sprache Schillers nicht so bekannt ist wie die Racines. Wer die deutsche Sprache nicht kennt, hält sie für barbarisch, karg und unharmonisch. Es ist genug damit gesagt, dass sie unter den lebenden eine der umfangreichsten, ausdruckstärksten und elegantesten ist. Die deutschen Barden ahmen die wunderschönen Maße der Griechen bewundernswert nach [...] Ein anderes Mal werden wir uns mit so interessanten Arbeiten beschäftigen, damit unsere jungen Literaten die Fülle ihrer Bildung erweitern können; I, S. 37f).
Die mexikanischen Autoren müssen den Kanon ihrer Lektüren erweitern, dürfen sich v. a. nicht mehr nur auf französische Vorbilder beschränken, um ihrerseits einen Kanon der mexikanischen Literatur schaffen zu können. Die Suche nach literarischen Alternativen kann natürlich nicht bedeuten, dass die französische Literatur von den Seiten des Renacimiento ausgeschlossen wird. Dennoch ist ihre quantitative Präsenz in der Zeitschrift sehr gering. In einem Aufsatz über die böhmischen Glasbläser in der zweiten Nummer zitiert Justo Sierra den katholischen Autor Lamennais und integriert damit zum ersten Mal, im Text Nummer 17 der Zeitschrift, die französische Literatur in einem positiven Kontext in El Renacimiento. Altamiranos ‘Boletín Bibliográfico’, der Versuch einer Bestandsaufnahme des in Mexiko Publizierten, nimmt auch die populäre Serie Biblioteca para todos auf, in der französische Trivialromane veröffentlicht wurden. Der erste ausführlichere Verweis auf einen französischen Primärtext findet sich jedoch erst in der vierten Nummer. Es handelt sich um ein Gedicht Mussets, das in Fragmenten in Gonzalo A. Estevas Erzählung ‘Amor que mata’ eingefügt ist. Musset dient hier in erster Linie der Ambientierung. Er wird als prototypischer Dichter der französischen Romantik in den Text des Mexikaners aufgenommen, um dessen sentimentalistische Protagonisten genau charakterisieren zu können: „Leiamos una noche las poesías de Alfredo de Musset. Aquellos versos en que el sentimiento se desborda del alma del poeta, y corre sobre cada estrofa, como por un cauce, en torrentes de armonía“ (Wir lasen eines Nachts die Gedichte Alfred de Mussets. Jene Verse, in denen das Gefühl aus der Seele des Dichters überfließt und über jede Strofe in harmonischen Strömen, wie in einem Flussbett, läuft) (I, S. 64). Esteva zitiert wenig später Teile des von seinen Figuren gelesenen Gedichts in der Originalsprache; es handelt sich um ‘Lucie’ aus den Poésies Nouvelles von 1835.126 Der Name Musset und die mit ihm verbundenen Assoziationen liefern hier dem mexikanischen Erzähler ein einfaches und effektvolles Instrument der literarischen Charakterisierung. In der siebenten Nummer von El Renacimiento findet sich der erste komplett abgedruckte Text eines französischen Autors: ein Gedicht Victor Hugos, das Isabel Prieto
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Esteva zitiert zwei Verse des Gedichts: „Ta mort fut un sourire aussi doux que ta vie/Et tu fus rapportée à Dieu dans ton berceau“ [Dein Tod war ein Lächeln so süß wie dein Leben und du wurdest Gott in deiner Wiege zurückgegeben] (I, S. 64). Ich gebe Lyrik annäherungsweise in Prosa wieder.
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de Landázuri127 unter dem Titel ‘A....’ ins Spanische übertrug (I, S. 101). Übersetzungen von französischen Autoren sind in Altamiranos Zeitschrift Mangelware, noch viel mehr natürlich Originaltexte. Von den knapp 550 Texten, die den Korpus der Publikation ausmachen, stammen nur acht von französischen Autoren. Bei einem handelt es sich um eine freie Übertragung von Mussets ‘Le Poète’ aus den Poésies Nouvelles, die Manuel M. Flores in der Nummer 27 publizierte. Eine Gegenüberstellung zeigt, dass es sich in der Tat um eine sehr freie Bearbeitung der letzten drei Strophen des Gedichtes handelt:128 Ô Muse! que m'importe ou la mort ou la vie ? J'aime, et je veux pâlir ; j'aime et je veux souffrir ; J'aime, et pour un baiser je donne mon génie ; J'aime, et je veux sentir sur ma joue amaigrie Ruisseler une source impossible à tarir. J'aime, et je veux chanter la joie et la paresse, Ma folle expérience et mes soucis d'un jour, Et je veux raconter et répéter sans cesse Qu'après avoir juré de vivre sans maîtresse, J'ai fait serment de vivre et de mourir d'amour. Dépouille devant tous l'orgueil qui te dévore, Coeur gonflé d'amertume et qui t'es cru fermé. Aime, et tu renaîtras ; fais-toi fleur pour éclore. Après avoir souffert, il faut souffrir encore; Il faut aimer sans cesse, après avoir aimé.
... ¿Qué me importa la muerte? ... qué la vida? Quiero amar, y de amor palidecer; Por un beso tan solo, yo daria La idea que siento en mi cerebro arder. Quiero por mi mejilla enflaquecida De la pasion las lágrimas sentir; Quiero gozar la incomprensible dicha De por amar con frenesí, sufrir. Quiero contar que en pos de un desengaño Juró no amar mi corazon jamás; Y que ahora es el juramento que hago No vivir un instante sin amar. Corazon desbordado de amargura, Despójate de orgullo y de desden; Rasga ya la mortaja que te enluta, Vuelve á la vida y al amor tambien. Despues de haber sufrido – es el destino – ¡Ay! es preciso sin cesar sufrir; Despues de haber amado ¡ay! es preciso Amar, y siempre amar, hasta morir (I, S. 429).
Isabel Prieto übersetzte vier Gedichte Victor Hugos, drei kurz hintereinander in den Nummern sieben und acht, das letzte in der Nummer elf des zweiten Bandes der Zeischrift. Der konservative Politiker José María Roa Bárcena129 schrieb ‘Graziella’, eine spanische Version von Lamartines ‘Le premier regret’ aus den Harmonies poétiques et religieuses von 1830 (I, S. 214f.); und Ricardo Ituarte schließlich veröffentliche in der zwölften Aus127
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Prieto de Landázuri lebte von 1833 bis 1876. Sie wurde in Spanien geboren, kam aber noch als Kind nach Mexiko, wo sie den Diplomaten Pedro Landázuri heiratete. Sie verstarb in Hamburg. Vgl. Muñoz Fernández, Fichero bio-bibliográfico, Bd.2, S. 563f. Der französische Text wurde der Internet-Seite http://w3.teaser.fr/~vdisanzo/spiral35.html entnommen. Ich verzichte in diesem Fall auf eine deutsche Übertagung, die nur mehr Verwirrung stiften würde. Roa Bárcena (1827-1908) ist einer der produktivsten Autoren des Renacimiento. Die Aufnahme des Anhängers der französischen Invasion, der sich weigerte ein Amt im Kabinett Maximilians anzunehmen, weil dieser eine zu liberale Richtung einschlug, spricht für eine politisch versöhnliche Haltung der Zeitschrift, die jedoch nicht auf Frankreich selbst ausgedehnt wurde. Zu Roa Bárcena vgl. Muñoz Fernández, Fichero bio-bibliográfico, Bd. 2, S. 616ff.
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit
gabe des ersten Bandes seine Übertragung von Lamartines ‘Le Lac’ aus den Méditations poétiques von 1820. Nur in diesem Fall druckt El Renacimiento das Original und die Übersetzung in Gegenüberstellung ab (I, S. 164-166). Der achte Text schließlich ist eine von Altamirano selbst übersetzte Chronik eines Eugène Cortet,130 die er in der Osterwoche an die Stelle seines eigenen Textes setzte. ‘La Semana Santa’ ist eine Abhandlung über die Geschichte verschiedener europäischer Osterbräuche, die keinerlei literarisches Interesse besitzt (I, S. 173-176).131 Keineswegs ist es möglich, Altamiranos Wochenblatt als „afrancesado“ einzustufen. Die neben der spanischen am stärksten repräsentierte Literatur in El Renacimiento ist ohne Zweifel die deutsche. Die eingangs erwähnten Übersetzungen der Krummacher-Parabeln bilden den Anfang; die herausragende Leistung in diesem Kontext stellen jedoch die Schiller-Übersetzungen Seguras dar. Mit dem Verweis „traducida directamente del aleman“ (direkt aus dem Deutschen übersetzt) findet sich in der siebenten Nummer ‘Das Lied von der Glocke’ (I, S. 94-98). Weitere von Segura übertragene Gedichte Schillers sind: ‘Der Taucher’ (‘El Buzo’, I, S. 204f.), ‘Der Handschuh’ (‘El Guante’, I, S. 218), ‘Ritter Toggenburg’ (‘El Caballero de Toggenburgo’, I, S. 226f.), ‘Das Mädchen aus der Fremde’ (‘La Joven Forastera’, I, S. 240), sowie eine nicht identifizierbare ‘Fantasía Fúnebre’ (I, S. 256f.). Außerdem übertrug Segura Goethes ‘Erlkönig’ unter dem Titel ‘El Rey de los Duendes’ (I, S. 218f.). Ein weiterer germanophiler Autor des Renacimiento war Rafael de Zayas,132 der Gedichte von Uhland und Freiligrath für die Zeitschrift übersetzte.133 El Renacimiento bietet seinen Lesern die deutsche Literatur, zusammen mit der englischen, als Alternative an, um ein Gegenwicht zu den in Mexiko traditionell dominierenden Texten aus der französischen Kultur anzuregen.134 Die intellektuelle Auseinander130
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Zu Cortet konnten keine Daten gefunden werden. Altamirano verzeichnet seine Quelle nicht. Mit Sicherheit entnahm er den Text einer der zahlreichen französischen Zeitschriften, die in der Redaktion von El Renacimiento eintrafen. Um Übersetzungen aus dem Französischen handelt es sich auch bei den Chroniken des polnischen Baron Gostkowski, die unter dem Titel ‘Humoradas Dominicales’ im liberalen Monitor Republicano erschienen. El Renacimiento druckte in seiner vorletzten Nummer eine von ihnen nach (Vgl. II, S. 249f.). Altamirano hatte eine sehr hohe Meinung vom literarischen Talent des Polen. Im Vergleich mit den Artikeln Gostkowskis seien seine eigenen Chroniken „pálidos y tristes“ (bleich und traurig). Er schließt daraus auf eine ausgezeichnete literarische Erziehung in Europa, die in Mexiko von den politischen Umständen verhindert wird: „y podemos medir la distancia que hay de la educación literaria que se recibe en las naciones más cultas de Europa, y la que se recibe en México incompleta e interrumpida por las agitaciones de la vida política“ (und wir können daraus die Distanz ermessen, die zwischen der literarischen Erziehung, die man in den gebildetsten Nationen Europas erhält, und der unvollständigen und von den Unruhen des politischen Lebens unterbrochenen in Mexiko liegt; II, S. 193.) Rafael de Zayas Enríquez (1848-1932) wurde in Veracruz geboren und starb in New York. Er war Abgeordneter und Diplomat unter Porfirio Díaz und lebte phasenweise in Deutschland. Vgl. Muñoz Fernández, Fichero bio-bibliográfico, Bd. 2, S. 784f. Es handelt sich um ‘Des Sängers Fluch’ (bei Zayas: ‘La Maldición del Bardo’, I, S. 389f.) und um Ferdinand Freiligraths ‘Löwenritt’ (‘La Cabalgata del León’, II, S. 253f.). Die relativ zahlreichen und ausführlichen Übertragungen deutscher Texte widersprechen einem Vorhaben, das Altamirano in seiner Chronik vom 28. August formuliert hatte: „procuraremos que nuestra publicacion sea compuesta casi toda de materias originales, circunstancia que la ha distinguido desde el principio, de otras publicaciones de igual género que se han hecho en los tiempos pasados en la República: pues si alguna
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setzung konzentriert sich jedoch immer noch ganz überwiegend auf eben diese französische Kultur und verläuft in einem oft aggressiven und polemischen Ton, besonders in den Beiträgen des überzeugten Nationalisten Altamirano. Eine chronologisch angeordnete Auswahl der „Attacken“ gegen die französische Kultur kann diesen Ansatz bestätigen. In seiner ‘Crónica de la Semana’ zu Beginn der neunten Nummer nimmt Altamirano zu einer Selbstmordwelle in der mexikanischen Hauptstadt Stellung. Er interpretiert diese Vorkommnisse als literarische Hysterie, als unüberlegte Nachahmungen von Stereotypen romantischer Geschichten. Der Suizid einer 75-Jährigen lässt ihn ausrufen: „¿Qué leyenda francesa es capaz de presentar el ejemplo de una Cleopatra de setenta inviernos, de modo que causara tentación de imitarla á esta venerable señora de la Villa?“ (Welche französische Legende war in der Lage, einer Kleopatra mit 70 Wintern das Beispiel zu geben, sodass es diese ehrenwerte Dame der Villa verführte, sie zu imitieren; I, S. 119). Aus Frankreich unreflektiert übernomme literarische Moden haben laut Altamirano den Selbstmord in Mexiko „populär“ gemacht. Es ist kein Zufall, dass er in der gleichen Chronik versucht, die Aufmerksamkeit seiner Leser auf die eigene kulturelle Tradition zu richten. Einerseits berichtet er von L´Independent, einer Zeitschrift des Baron Gostkowski, die auf Französisch geschrieben in Europa von den Fortschritten der amerikanischen Kulturen berichten sollte (I, S. 120f.), andererseits stellt er die Forderung auf, dass sich die mexikanische Forschung intensiv um die präkolumbianische Vergangenheit bemühen müsse, um dieses Feld nicht auch den Europäern zu überlassen (I, S. 121). Die ohnehin verspätete Rezeption der romantischen Schule des alten Kontinents stehe der Besinnung auf die eigene Kultur nur im Wege. Altamirano stellt zwei Wochen später kategorisch fest: „el romanticismo no es de esta época“ (...die Romantik gehört nicht unserer Epoche an; I, S. 145). Man darf ergänzen: Sie ist nicht mehr aktuell in Europa, und sie ist – zumindest in seiner französischen Variante – fehl am Platz in Mexiko. Auch Gonzalo A. Esteva konstatiert in seiner Erzählung ‘María Ana’ die Dekadenz der französischen Kultur. Er beschreibt die Aristokratie des Landes als geldgierig und stellt fest, dass sie auch Emporkömmlinge in ihren Kreisen akzeptiert, sofern diese ein Vermögen besitzen. Frankreich marschiere dem Untergang inmitten einer Orgie entgegen: „Como la Babilonia de los Asirios, como la Roma de los emperadores, la Francia marcha á la muerte coronada de flores y con la copa en la mano, y morirá en un festín inmenso “ (Wie das Babylon der Syrer, wie das Rom der Kaiser, so marschiert auch Frankreich mit Blumen gekränzt und mit dem Glas in der Hand dem Tod entgegen und wird in einem riesigen Fest sterben; I, S. 191).135 Esteva folgt in seinen
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vez hemos dado lugar en nuestras columnas á pequeñas traducciones, estas han sido tan pocas que no llegan á diez, y ademas algunas de ellas tienen el mérito de estar hechas en versos castellanos“ (wir werden versuchen, dass unsere Publikation fast nur aus Originalmaterial besteht, ein Umstand, der sie von Beginn an vor anderen Publikationen gleicher Art, die in vergangenen Zeiten in der Republik gemacht wurden, ausgezeichnet hat. Wenn wir manchmal in unseren Spalten kleine Übersetzungen aufgenommen haben, so waren es wenige, nicht mehr als zehn, einige von ihnen hatten außerdem das Verdienst, in spanischen Versen gemacht zu sein; I, S. 498). Der Vergleich Paris-Babylon wird zu einem Gemeinplatz der modernistischen Ezählliteratur; die von Esteva beklagte Dekadenz Frankreichs jedoch verwandelt sich in ein literarisches Motiv von hohem ästhetischen Wert. Die Idee von Paris als modernem Babylon und vom Kapitalismus der französischen Kultur wiederholt sich im Romanfragment ‘¡Amor de Ángel!’ von Emilio Rey, in dem es u. a. heißt: „esa nueva Babilonia que
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Erzählungen und Chroniken noch ganz den erwähnten romantischen Stereotypen (geheimnisvolle Abstammung, unmögliche Liebe, politischer Freiheitsgedanke), doch lehnt er Frankreich als Modell ab. In seinen ‘Recuerdos de un Viaje’ (Reiseerinnerungen) berichtet er auch von Heidelberg und versucht, seinen Lesern die deutsche Stadt als prototypischen Hintergrund einer romantischen Erzählung zu vermitteln (I, S. 213f.). Altamirano seinerseits findet das ideale Symbol für die französische Dekadenz im unsittlichen Cancan. In seiner Chronik vom dritten Juli spottet er über den neuen französischen Kunstgeschmack, der sich für ihn in der Frivolität des Tanzes offenbart. Zum Unglück Mexikos sei der Einfluss dieses Geschmacks aber viel gefährlicher als die französischen Truppen und habe das Land definitiv erobern können: „México habrá podido combatir la intervención política de la Francia; pero será impotente para combatir la intervención moral. Vestimos á la francesa, comemos á la francesa, vivimos á la francesa, pensamos á la francesa“ (Mexiko mag die politische Intervention Frankreichs bekämpft haben können, aber es wird machtlos sein, die moralische Intervention zu bekämpfen. Wir kleiden uns französisch, wir essen französisch, wir leben französisch, wir denken französisch; I, S. 373).136 Um derartige Erscheinungen zu karikieren, führt Altamirano einen Monat später die Figur Enriques, des lächerlichen Fürsprechers der französischen Moden und Sitten (speziell des Cancan) in Mexiko ein, dessen Argumente immer von der Oberflächlichkeit seines Charakters sprechen. Auch im zweiten Band der Zeitschrift fehlen die Angriffe auf die französische Kultur nicht. So ruft Altamirano am 9. Oktober anklagend aus: „¡Ah Francia! ¿el virus de tu civilización y de tu viejo refinamiento nos ha envenenado?“ (Frankreich! Hat uns der Virus deiner Zivilisation und deiner alten Verfeinerung vergiftet?; II, S. 81). Der oft aggressive Ton gegenüber Frankreich in Altamiranos Chroniken konnte nicht ohne Reaktion bleiben.
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traga tantas fortunas y tantas vidas, en esa ciudad de calculadores egoistas que se llama Paris, donde se trafica con todo, hasta con los sentimientos mas nobles y mas dignos“ (dieses neue Babylon, das so viele Vermögen und Leben verschluckt, in dieser Stadt des berechnenden Egoismus, die Paris heißt, in der mit allem gehandelt wird, sogar mit den edelsten und würdigsten Gefühlen; I, S. 273). Interessanterweise macht Altamirano im gleichen Atemzug Propaganda für die französische Buchhandlung Garnier Hermanos, einer Zweigstelle des Pariser Geschäfts, in der französische Texte sehr billig bezogen werden konnten. In der Tat dürften französische und englische Bücher in Mexiko bis ins 20. Jahrhundert hinein leichter und vor allem billiger zu kaufen gewesen sein als spanische, wie besonders aus den Memoiren José Juan Tabladas abzulesen ist. Die Verbreitung erfolgte mit sehr geringer zeitlicher Verspätung, wie auch aus einer Anzeige in El Renacimiento hervorgeht, in der die Leser auf das im Zentrum der Stadt gelegene „gabinete de lectura“ von Isidoro Devaux verwiesen werden, um ein Exemplar von Hugos 1869 erschienenem L’Homme qui rit zu erwerben (I, S. 388). Wer Bücher im Wert von mehr als 100 Francs (!) kaufte, bekam ein Gratisexemplar. El Hombre que ríe, die spanische Version von Manuel Valle, erschien nur wenige Wochen später und war ebenfalls im Zentrum der Stadt zu beziehen, allerdings nicht als wohl zu kostspieliges Buch, sondern in der Form wöchentlicher Abschnitte mit einem Umfang von 32 Seiten, und ohne dass bei ihrem Kauf eine „Draufgabe“ zu erwarten gewesen wäre (Vgl. I, S. 509f.). Im gleichen Artikel, der der Ausgabe vom 10. Juli entstammt, verweisen die Autoren auf L’Illustration vom 22. Mai des Jahres. Die Dominanz der französischen Kultur im mexikanischen Alltag scheint so weit gegangen zu sein, dass einige ihrer Produkte leichter und schneller zu beziehen waren als nationale Hervorbringungen.
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Der Trait d’Union, eine Zeitschrift der französischen Kolonie in Mexiko,137 klagte den Herausgeber von El Renacimiento deswegen an. Altamirano verteidigte sich mit einem schon bekannten Argument: Er wolle nicht das intellektuelle und wissenschaftliche Frankreich angreifen, das er respektiere, sondern „nur“ aufzeigen, dass die Apathie und Konsumsucht der mexikanischen Jugend aus Frankreich importiert worden seien (II, S. 115f.). Diese Feststellung wiederholt eine bereits im Recreo de las Familias erkennbar gewesene Tendenz. Frankreichs Literatur beschränkt sich in El Renacimiento de facto auf zwei Autoren: Hugo und Lamartine. Alles andere, speziell die neueren Tendenzen aus der zweiten Jahrhunderthälfte, wird in die mit „Cancan“ überschriebene Kategorie der Frivolität und kulturellen Dekadenz, die für die Entwicklung Mexikos schadhaft sein müssen, eingeordnet. Die unmittelbare kulturelle Vergangenheit Frankreichs wiederum, die romantische Gruppe, wird als nicht mehr aktuell betrachtet und nur ihre beiden wichtigsten Protagonisten verdienen eine Aufnahme und ihre Diskussion in den Seiten der Zeitschrift. Dass andererseits die in der Publikation vertretene mexikanische Erzählliteratur noch ganz den stereotypen romantischen Modellen der Gruppe um die Academia de San Juan de Letrán gehorcht, zeigt, dass die Rezeption der verschiedenen literarischen Strömungen Europas in Mexiko stark von der politischen Einmischung Frankreichs manipuliert wurde. Nationalistische Intellektuelle wie Altamirano „müssen“ gegen den eben erst zurückgewiesenen Gegner in Erscheinung treten, „müssen“ sich gegen die Verbreitung seiner Kultur in Mexiko wenden, können aber nicht verhindern, dass im mexikanischen Alltag französische Moden dominieren und in der nationalen Erzählliteratur Stereotypen der besonders von Spanien vermittelten französischen Romantik weiterleben.138 Der Versuch, deutsche Literatur als Alternative anzubieten, muss noch aus logistischen Gründen und wegen der sprachlichen Unzugänglichkeit der Texte scheitern: Übersetzer wie Segura oder Zayas waren Mangelware. Altamirano überließ die intensivste Auseinandersetzung mit der französischen Literatur seinem Schüler, dem damals 21-jährigen Justo Sierra. Der spätere Erziehungsminister unter Porfirio Díaz verfasste zwei ausführliche Artikel über – und es könnte nicht anders sein – Lamartine und Victor Hugo, sowie eine knappe literaturgeschichtliche Skizze unter dem Titel ‘Los Poetas’. Sierras als Biografie bezeichneter Nachruf auf Lamartine erscheint in 137
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Neben dem Trait d´Union existierte in späteren Jahren auch der Courrier du Mexique als Organ der französischen Kolonie in Mexiko. Allerdings wurde er nur von März bis Juni 1874 veröffentlicht. Auch hinter dem Courrier stand der Baron Gostkowski als treibende Kraft. Vgl. dazu Miguel Ángel Castro und Guadalupe Curiel, Publicaciones periódicas mexicanas del siglo XIX: 1856-1876 [Parte 1] (México: UNAM, 2003), S. 222. Francisco Sosa illustriert diesen Weg in einem Artikel über die Mode der literarischen Alben: „pasó de Alemania á Francia la moda de los albums; de Francia pasó á España, su imitadora, y llegó por último hasta nosotros“ (die Mode der Alben kam von Deutschland nach Frankreich, von Frankreich nach Spanien, seinem Nachahmer, und am Ende kam sie bis zu uns; II, S. 231). Auf sehr ironische Weise findet sich dieser Weg auch in Altamiranos Chronik vom 7. August, die einmal mehr vom negativen Einfluss des Cancan berichtet. In den mexikanischen Theatern sei das klassische spanische und französische Drama von der Zarzuela verdrängt worden und diese wiederum müsse dem Cancan weichen (I, S. 450). In Abwandlung von Edward Saids „Travelling Theory“ könnte man in diesem Kontext die Reiseroute Deutschland-Frankreich-SpanienMexiko als in erster Linie von Pauschaltouristen frequentiert interpretieren.
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vier Teilen noch im ersten Band der Zeitschrift. Sie beginnt mit einer sehr negativen Bestandsaufnahme der aktuellen französischen Literatur, deren Dekadenz unübersehbar sei: Una gran esterilidad literaria es el carácter distintivo en Francia, de la generación que ha sucedido á aquella que en otra época hacía estremecer al mundo con las estrofas sublimes de Hugo, llorar con los melancólicos cantares de Lamartine y reir de placer con los versos alegres y voluptuosos de Musset, el Beranger del gran mundo. (Eine große literarische Sterilität ist in Frankreich der wesentliche Charakterzug der Generation, die jener nachfolgte, die in einer anderen Epoche die Welt mit den sublimen Strophen Hugos zum Zittern brachte, mit den melancholischen Gesängen Lamartines zum Weinen und mit den fröhlichen und üppigen Versen Mussets, dem Beranger der großen Welt, zum vergnügt Lachen; I, S. 333.)
Die „neuen“ Autoren, auf die sich Sierra bezieht, seien geschmacklos und frivol, ihr typischster Vertretrer könne in Alexandre Dumas (fils) gefunden werden (I, S. 334). Mit Lamartine sei einer der letzten Vertreter der „sublimen“ romantischen Generation Frankreichs verstorben. Justo Sierras Anliegen besteht darin zu überprüfen, ob das Leben Lamartines seinem poetischen Werk gerecht werden kann, ein Biografismus wie er in einem Text dieser Art (Nekrolog) auch nicht anders zu erwarten gewesen wäre. Seine Quelle ist in erster Linie Jules Janin, der einflussreiche Kritiker des Journal des Débats, dessen Einschätzungen des Werkes Lamartines er ausführlich übersetzt. Sierras Analyse konzentriert sich auf drei Aspekte im Werk des Franzosen, die deckungsgleich mit den Prämissen von Academia de San Juan de Letrán und Liceo Hidalgo sind: Gott, Liebe und Vaterland. Lamartine habe diese Themen gelebt und sich vom Dichter der Liebe zu einem parlamentarischen Tribun verwandelt: „El hombre que habia dado todo su corazon á la poesía, iba á dar toda su inteligencia á la patria. La lucha, el trabajo, el valor, la abnegacion, la política, lo esperaban. El poeta del corazon se habia eclipsado. El poeta de la tribuna iba á comenzar“ (Der Mann, der sein ganzes Herz der Dichtung gegeben hatte, sollte seine ganze Intelligenz dem Vaterland geben. Ihn erwarteten der Kampf, die Arbeit, der Mut, der Verzicht. Der Dichter des Herzens hatte sich verdunkelt. Der Dichter der Tribüne sollte beginnen; I, S. 346). Der liberale Politiker Sierra interessiert sich im Folgenden mehr für die öffentliche Figur Lamartine, als für den Dichter. Den dritten Teil seiner Studie widmet er ausschließlich dem Politiker, wobei er einen Werdegang vom Monarchisten über den Demokraten zum Sozialisten konstatiert. Lamartines erfolglose Episode als Außenminister seines Landes interpretiert Sierra jedoch als den Triumph der Poesie über die Politik: „cuando la posteridad lo llamase al tribunal de la Historia, solo al poeta se perdonaria la triste influencia que tuvo el hombre público en los destinos de su país“ (wenn ihn die Nachwelt vor das Tribunal der Geschichte ruft, wird sie nur dem Dichter den traurigen Einfluss verzeihen, den die öffentliche Figur auf die Geschicke ihres Landes ausübte; I, S. 380). Der letzte Teil der Biografie beschreibt einen zurückgezogenen, verschuldeten und von vielen Seiten attackierten Lamartine, der sich in „su propio panegirista“ (seinen eigenen Lobredner; I, S. 408) verwandelt habe. Sierra zitiert am Ende aus einem von Dumas verfassten Nachruf auf Lamartine und schließt mit der rhetorischen Feststellung, dass auch in Mexiko der Poet den Politiker überleben werde (I, S. 411). Sierras Nekrolog lässt besonders einen Aspekt im mexikanischen Frankreichbild nach 1867 überdeutlich werden: 53
Die Entstehung modernistischer Ästhetik
Lamartine kann unabhängig von der politischen Konstellation als „großer Mann“ und genialer Dichter rezipiert werden; sein Tod verdeutlicht jedoch auch, dass die französische Literaturszene ab etwa 1850 mit der Ausnahme der Vaterfigur Victor Hugo sehr arm ist und für die mexikanischen Autoren wenig Interessantes zu bieten hat. Auch in seinem literarhistorischen Abriss ‘Los Poetas’ erwähnt Sierra nur Lamartine und Hugo als einflussreiche Vertreter der französischen Literatur. Vor allem jener habe die Lehren des Christentums ernst genommen und in seiner Poesie den Konzepten Frau und Vaterland eine neue Bedeutung gegeben (II, S. 103f.). Erneut etabliert Sierra damit die drei Grundpfeiler einer mexikanischen Nationalliteratur: Gott, Liebe und Vaterland. Politisch liberale Autoren wie Sierra und Altamirano und konservative Mitarbeiter des Renacimiento wie Roa Bárcena konnten sich gleichermaßen mit diesen Konzepten identifizieren. Damit ensprechen die Attacken gegen Frankreich nach außen hin der politischen Stellvertreterrolle der Literatur, während nach innen hin mit der Verherrlichung einiger weniger „großer Männer“139 und ihrer literarischen Konzepte auf Einheit abgezielt wird, was natürlich auch die Möglichkeit literarischer Debatten von vornherein einschränkt. Besonders das überzeitliche Gefühl der Liebe eignet sich bestens, um jede Art von Parteiendenken innerhalb der mexikanischen Kultur zu verhindern. Folgerichtig endet Justo Sierras ‘Los Poetas’ mit den berühmten Schlussversen aus ‘Le Lac’: „Que le vent qui gémit, le roseau qui soupire,/Que les parfums légers de ton air embaumé,/Que tout ce qu’on entend, l’on voit ou l’on respire,/Tout dise: Ils ont aimé!“ (Der Wind, der stöhnt; das Schilf, das seufzt; die von deinem Hauch erfüllten Düfte; alles, was man hört, sieht und atmet, soll sagen: Sie haben geliebt; II, S. 104). In Sierras Aufsatz über Victor Hugo zeigt sich die Idee eines über den Nationen und politischen Konflikten stehenden Genies noch deutlicher als bei seinen Überlegungen zu Lamartine.140 Er apostrofiert Hugo als Poeten der Zukunft, der über seiner Zeit steht, um fast gleichzeitig auf die tadellosen liberalen politischen Haltungen des Franzosen hinzuwiesen, von dem er gelernt habe, Napoleon III zu hassen (II, S. 181). Hugo vervollständige in Frankreich eine Linie, die von Musset über Lamartine zu ihm führte (II, S. 182). Er sei als Schriftsteller und Philosoph nur mit Shakespeare zu vergleichen: „Si algun nombre podia escribirse sin temblar en la fé de bautismo de aquel gigante, es el de Shakespeare, ese hijo póstumo de Esquilo“ (Wenn man einen Namen, ohne zu zittern, in den Taufschein dieses Giganten schreiben konnte, ist es der Shakespeares, dieses posthumen Sohnes Aischylos; II,
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Paul Bénichou sieht das Konzept des „großen Mannes“ als konstitutiv für die Frühphase der französischen Romantik innerhalb eines laizistischen Staates (Vgl. besonders das fünfte Kapitel von La coronación del escritor). In Mexiko wäre es trotz der Reformgesetzgebung unter Benito Juárez auch in liberalen intellektuellen Kreisen schwer vorstellbar, dass einige auserwählte „Genies“ an die Stelle der christlichen Heiligenverehrung gesetzt werden. Die „großen Männer“ Lamartine und Hugo werden eingesetzt, um Teile der französischen Literatur auch nach der Invasion für die liberal orientierten mexikanischen Autoren rezipierbar zu machen. Der Beitrag wurde in vier Teilen veröffentlicht, war jedoch weit umfangreicher konzipiert. Die labile finanzielle Situation der Zeitschrift veranlasste Altamirano, ihn in der letzten Nummer von El Renacimiento vorzeitig abzuschließen. Bezeichnenderweise ist Sierras Aufsatz der einzige in Fortsetzung erscheinende Text, der auf diese Art noch zu einem Ende gebracht wird; die Abschiedsnummer der Zeitschrift besteht ansonsten nur aus den letzten Kapiteln von Altamiranos Clemencia.
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S. 182). Die Figur Hugos wird ganz im Zeichen des Geniekults gesehen und Genialität wiederum bedeutet Freiheit von allen ästhetischen oder ideologischen Normen: La luz agregada á la luz puede producir oscuridad. Por eso un ilustre poeta me decia poco tiempo hace: „Hay capítulos de Víctor Hugo que se parecen á la noche; muchas ideas, muchas estrellas, y detrás el fondo negro de lo desconocido.“/A mí me causan grande risa todos esos apóstoles de la oficina del fiel-contraste en literatura, que quieren aplicar sus medidas pequeñitas á lo que ha nacido con esta condicion esencial: la libertad. Genio, quiere decir libre. (Licht zum Licht gegeben kann Dunkelheit erzeugen. Darum sagte mir ein berühmter Dichter vor kurzem: „Es gibt Kapitel in Victor Hugo, die der Nacht gleichen: viele Ideen, viele Sterne und dahinter der schwarze Grund des Unbekannten.“/Diese Apostel der Abteilung des treuen Kontrastes in der Literatur bringen mich zum laut Lachen. Sie wollen ihre kleinen Maße auf das anwenden, was mit dieser wesentlichen Bedingung geboren wurde: Freiheit. Genie will frei sagen; II, S. 214.)
Diese Freiheit habe es Hugo ermöglicht, das Hässliche zu einem literarisch-philosophischen Thema zu machen, insbesondere in Notre-Dame de Paris (II, S. 247). Sierra betrachtet Hugo als eigentlichen Begründer der europäischen Romantik, der in Frankreich nur auf das Werk Lamartines zurückgreifen konnte: De repente un muchacho que venia de Italia se lanzó por una ventana del templo cristiano, y cantando á su Elvira huyó por los espacios; otro cuyas alas eran tan grandes que la jaula no podia contenerle se lanzó fuera de ella, y pronto una parvada de ruiseñores en libertad impregnó de armonías todos los horizontes de la Europa./Esto se llama el romanticismo, es decir, la emancipacion. (Plötzlich stürzte sich ein Knabe, der aus Italien kam, durch ein Fenster des christlichen Tempels und, seine Elvira singend, floh er durch die Räume; ein anderer, dessen Flügel zu groß waren, als dass der Käfig ihn halten konnte, stürzte sich aus ihm heraus und bald erfüllte eine Schar freier Nachtigallen alle Horizonte Europas mit Harmonien./Das heißt Romantik, also Emanzipation; II, S. 248.)
Der Freiheitsbegriff ist bei Sierra ein Synonym für Christentum, dessen Konzepte der Nächstenliebe und des freien Willens die antike Ananke, also die Idee der fatalen Notwendigkeit aller menschlichen Handlungen, abgelöst haben (II, S. 247). Damit gelingt es dem jungen mexikanischen Historiker, ein Romantikkonzept anzudenken, das nationale Unabhängigkeit, individuelle Freiheit und christliches Gedankengut harmonisch paart, das demnach mit einer sehr breiten Akzeptanz unter seinen Zeitgenossen rechnen durfte. Die Tatsache, dass Sierra in Hugo den Ausgangspunkt der europäischen Romantik sieht, spricht andererseits gegen eine differenzierte Rezeption der Bewegung in Mexiko: Autoren wie Byron oder Schiller werden in erster Linie in ihrer Rolle als Freiheitsdenker und -dichter gesehen, die erst in dem französischen Poeten zu einem literarischen System umgestaltet wird. Der letzte Teil der Hugo-Studie in El Renacimiento gestaltet sich konsequenterweise als Apotheose des Genies Hugo, der ein Unsterblicher zu Lebzeiten sei (II, S. 259), der den Ausgleich zwischen Norden und Süden vollzogen habe (II, S. 258), der aus allen persönlichen Katastrofen ohne Makel hervorgegangen sei (II, S. 260). Die dominierende Gestalt Hugos (und in seinem Schatten Lamartine und mit großem Abstand Musset) verhindert in Mexiko nach 1867 nicht nur eine genauere Rezeption der europäischen Romantiken, sondern auch die Auseinandersetzung mit den neueren Tendenzen der französischen Literatur, die ab etwa 1850 die romantische Bewegung in Frage 55
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stellten. Die Poèmes Antiques von Leconte de Lisle erschienen 1852, im gleichen Jahr Gautiers Emaux et Camées, 1857 publizierte Baudelaire die erste Ausgabe seiner Fleurs du Mal, 1862 Leconte de Lisle die Poèmes barbares und noch 1867 erschien Zolas Thérèse Raquin. Keines dieser Werke oder ihre Autoren werden in El Renacimiento erwähnt,141 sie dürften für seine Redakteure Bestandteil der „gran esterilidad literaria“ Frankreichs sein, von der Justo Sierra in seiner Lamartine-Studie ausgeht. Die mexikanischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts waren nicht auf Übersetzungen angewiesen;142 wie für Hugos L’Homme qui rit angemerkt wurde, dürfte es auch kein Distributionsproblem für französische Texte gegeben haben. Die Entscheidung, Baudelaire, den Parnass oder neue realistische Tendenzen in der Erzählliteratur nicht in El Renacimiento zu besprechen, basiert daher mit einiger Sicherheit auf ideologisch-ästhetischen Kriterien Altamiranos, Sierras und anderer Autoren der Zeitschrift. Die Diskussion dieser Tendenzen wird noch etwa 15 bis 20 Jahre auf sich warten lassen und setzt erst mit dem Disput über den Modernismo der neueren literarischen Generationen ein. Dass diese Diskussion auch mit einer differenzierteren Rezeption der europäischen Romantik verbunden ist und für eine Spaltung innerhalb der mexikanischen Literaturszene sorgt, die mit etwa 50-jähriger Verspätung ein Pendant zu den europäischen Romantikdisputen darstellt, soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit gezeigt werden. In seiner ‘Despedida’ stellt Altamirano zufrieden fest, dass El Renacimiento alle seine Ziele erreicht habe, dass nun in der Tat von einer mexikanischen Literatur gesprochen werden könne: El objeto á que aspiramos al fundar el RENACIMIENTO, que fué el de impulsar el progreso de la bella literatura en México, se halla completamente realizado, el movimiento literario que se nota por todas partes es verdaderamente inaudito, y al desaparecer nuestro periódico, los que hemos escrito en él, llevamos la satisfaccion, que no querrá negarnos la justicia pública, de haber contribuido empeñosamente á favorecer ese movimiento, por cuantos medios nos han sido posibles, luchando con las dificultades que en nuestro país todavía son grandes para que una empresa literaria tenga éxito, y no perdonando sacrificios, que en nuestra humilde posicion fueron de alguna cuantía. (Das Ziel, das wir mit der Gründung des RENACIMIENTO erreichen wollten, war es, den Fortschritt der schönen Literatur in Mexiko anzuregen. Es ist zur Gänze erreicht, die literarische Bewegung, die man überall erkennt, ist wahrhaft unerhört. Da unsere Zeitschrift verschwindet haben wir, die wir in ihr geschrieben haben, die Befriedung, die uns die öffentliche Gerechtigkeit nicht verweigern wird, mit Eifer zur Begünstigung dieser Bewegung beigetragen zu haben: mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln, gegen die Schwierigkeiten kämpfend, die in unserem Land noch groß sind, damit ein literarisches Unternehmen Erfolg hat, und kein Opfer scheuend, das in unserer bescheidenen Lage von einigem Ausmaß war; II, S. 257.)
Altamirano weist im besonderen darauf hin, dass El Renacimiento sowohl in der Hauptstadt, als auch in den Ländern zahlreiche Nachahmer gefunden hat, „que honran con sus producciones las letras mexicanas“ (die mit ihren Erzeugnissen die mexikanische
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Baudelaire starb 1867, aber auch dieses sehr kurz zurückliegende Datum ist für die Autoren der Zeitschrift kein Grund, um einen Artikel über ihn zu veröffentlichen. Die langen Zitate aus den Originalen in den Texten über Lamartine und Hugo, sowie in einigen anderen Beiträgen (besonders Erzählungen) belegen die guten Französischkenntnisse ihrer Autoren.
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Literatur ehren; II, S. 257).143 Nach nur einem Jahr regelmäßigen Erscheinens seiner Zeitschrift spricht Altamirano wie selbstverständlich von einer mexikanischen Literatur. Er habe das Ziel einer fast ausschließlich auf nationalen Beiträgen basierenden Publikation erreicht und könne nun beruhigt das Feld anderen überlassen. Man muss Altamirano teilweise recht geben, da im Gegensatz zu früheren Periodika der Anteil der in El Renacimiento veröffentlichten ausländischen Literatur in der Tat sehr gering ist, andererseits darf man nicht übersehen, dass die manchmal aggressiv geführte Auseinandersetzung mit der französischen Kultur, sowie die gleichsam offizielle Einsetzung von Lamartine und besonders Hugo als vorbildhafte „große Männer“ sehr wesentlich zum Erfolg des Projekts beigetragen haben.
1.2.7. Konsequenzen aus El Renacimiento Ignacio Manuel Altamirano kann bis zu seinem Tod im Jahr 1893 eine fast monopolartige Stellung innerhalb des mexikanischen Kulturbetriebs bewahren.144 Als Präsident und treibende Kraft des Liceo Hidalgo übt er nachhaltigen Einfluss auf die mexikanische Literatur aus. Noch zu Lebzeiten, im Jahr 1889, wird zu seinen Ehren der Liceo Altamirano gegründet, der bis 1905 bestand und vor allem unter der Führung seines Schwiegersohns Joaquín Casasús stand, einem wichtigen Mäzen der Modernistengruppe.145 Die von Altamirano in El Renacimiento aufgestellten Richtlinien dürfen für die 70er und 80er Jahre des 19. Jahrhunderts als normativ gelten. Die Festlegung auf Geniekult und literarischen Nationalismus hat unvermeidliche Konsequenzen: in erster Linie das Fehlen einer neutralen, analytischen Kritik. Ein Kanon der mexikanischen Literatur ist nun zumindest in Ansätzen vorhanden, er könnte zur intellektuellen und ästhetischen Diskussion gestellt werden, jedoch fehlt lange Zeit eine Kritik, die dieser Aufgabe gewachsen wäre. Die ersten Äußerungen einer modernistischen Ästhetik lassen sich in Mexiko auf eben dieses kritische Vakuum zurückführen. Ironischerweise erkennt ausgerechnet der an der französischen Regelpoetik eines Boileau orientierte Manuel Puga y Acal, der später der
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Wohl die wichtigste Nachfolgerin von El Renacimiento ist El Domingo, mit dem Untertitel: Revista literaria mexicana. Die Zeitschrift erschien wöchentlich vom 12. Februar 1871 bis zum 12. Oktober 1873. Sie veröffentlichte 131 Autoren, davon 50 Ausländer. Ihr Herausgeber war Baron Gostkowski. Es kann daher nicht überraschen, dass etwa die Hälfte der publizierten europäischen Beiträge aus Frankreich stammt, während nur je fünf aus dem deutschen und englischen Sprachraum kommen. Die Vertreter der nachromantischen französischen Literatur sucht man jedoch auch in El Domingo vergeblich: Hugo, Lamartine, Paul de Saint-Victor, Dumas (fils) dominieren. Die Aufnahme George Sands, bzw. prominenter Vertreter der Wissenschaften, wie Jules Michelet und Sainte-Beuve, weicht dagegen von den Richtlinien der Publikation Altamiranos ab. Vgl. María del Carmen Millán, hg., Índices de „El Domingo“, (México: Imprenta Universitaria, 1959), S. 7ff. Wichtige politische Ämter garantierten ihm diese Position. Er war Kongressabgeordneter, Präsident des Obersten Gerichtshofs und, am Ende seines Lebens, Konsul in Barcelona und Paris. Vgl. Muñoz Fernández, Fichero bio-bibliográfico, Bd. 1, S. 23ff. Vgl. Perales Ojeda, Las asociaciones literarias mexicanas, S. 186.
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Modernistengruppe als Kritiker und Dichter unentschieden gegenüberstand,146 als erster mit aller Deutlichkeit, dass der literarische Nationalismus Mexikos zur intellektuellen Selbstverherrlichung ausgeartet ist: Wer „große Männer“ verehrt, sieht entweder überall Genies am Werk oder verachtet diejenigen, die keine sind. Puga y Acal147 fühlte sich 1888 veranlasst, unter dem Titel Los Poetas Mexicanos Contemporáneos drei seiner Kritiken über Salvador Díaz Mirón, Manuel Gutiérrez Nájera und Juan de Dios Peza, sowie die teils beleidigten und beleidigenden Reaktionen auf sie zu publizieren.148 Wichtiger als die normativen Kritiken Pugas zu den drei Autoren, die insbesondere um den Begriff des „sentido común“ kreisen, der sich gegen unklare Metafern und Adjektivhäufungen wendet, ist in unserem Zusammenhang zunächst eine Äußerung Pugas im ‘Liminar’ zu seiner Sammlung.149 Der Kritiker nützt seine ausgezeichneten Kenntnisse des französischen Literaturbetriebs aus und stellt fest, dass die mexikanische Szene zu einer „Sociedad de elogios mutuos“ (Gesellschaft des gegenseitigen Lobs) geworden sei, die entweder eine Heiligenverehrung der Dichter betreibt oder diese persönlich attackiert, die in keinem Fall in der Lage ist, von der Person des Autors zu abstrahieren.150 Die ihm bekannte europäische Kritik sei der mexikanischen in diesem Sinne weit überlegen: Mientras Lemaitre, Brunetière y Montaigne, en Francia, y Valera en España, señalaban las manchas de esos astros de primera magnitud que se llamaron Víctor Hugo, Lamartine, Musset; mientras Palacio Valdez y Leopoldo Alas analizaban la luz que irradian los Núñez de Arce y los Campoamor, aquí, en México, brillaban con luz indeficiente en cielo sin nubes, al lado de verdaderos astros, lunas de teatro, asteroides y aun asteriscos. (Während Lemaitre, Brunetière und Montaigne in Frankreich und Valera in Spanien die Flecken in Sternen erster Größe, die Víctor Hugo, Lamartine, Musset heißen, aufzeigen; während Palacio Valdez und Leopoldo Alas das Licht analysieren, das Núñez de Arce und Campoamor ausstrahlen, scheinen hier in Mexiko mit ungenügendem Licht an einem wolkenlosen Himmel neben wirklichen Sternen auch Theaterrmonde, Asteroiden und Sternchen.)151
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Noch später zeigte sich Puga als unversöhnlicher Gegner der literarischen Avantgarden Europas und seines Landes, besonders im Vorwort zu seinen 1923 publizierten Lirismos de antaño. Puga y Acal wurde 1860 in Guadalajara geboren, wuchs jedoch in Frankreich und Belgien auf und verfasste seine ersten publizierten Gedichte auf Französisch. Er war Übersetzer von u. a. Musset, Baudelaire und Rollinat. Puga y Acal starb 1930 in Mexiko-Stadt. Vgl. das Vorwort von Eugenia Revueltas zu Los Poetas Mexicanos Contemporáneos und Muñoz Fernández, Fichero bio-bibliográfico, Bd. 2, S. 568f. Das Fehlen einer literarischen Kritik in Mexiko wurde schon Jahre vor Puga y Acal beklagt, auch Dispute zwischen Autoren sind 1888 keine Neuigkeit mehr –ich verweise hier auf den schon erwähnten Streit zwischen Pantaleón Tovar und Gutiérrez Nájera im Jahr 1876-, jedoch gebührt Puga y Acal der Verdienst, die Gründe dieses Mangels aufgezeigt und mit seinen modellhaften Kritiken unmittelbare Reaktionen bewirkt zu haben. Puga y Acal veröffentlichte seine Kritiken unter den Pseudonymen Brummel und Facistol. Beide haben klar definierte Eigenschaften: Brummel ist der nüchterne, technisch urteilende Kritiker, während Facistol die polemische Auseinandersetzung mit den besprochenen Autoren sucht. Gutiérrez Nájera wollte zur gleichen Zeit seinen zahlreichen Pseudonymen klar erkennbare literarische Persönlichkeiten verleihen. Manuel Puga y Acal, Los poetas mexicanos contemporáneos, präsentiert von Eugenia Revueltas (México: UNAM, 1999), S. 3. Puga y Acal, Los poetas mexicanos contemporáneos, S. 3. Das vulgäre Wortspiel um “asterisco” lässt sich auf Deutsch nicht wiedegeben.
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Puga widerspricht dem Optimismus Altamiranos, der die Existenz einer mexikanischen Nationalliteratur als gesichert ansah, indem er feststellt, dass diese ohne eine wirkungsvolle und konstruktive Kritik nicht existieren kann: „Si alguna vez la literatura mexicana llega a tener forma propia y genuina, y a merecer que se le cite al lado de las que han contribuido al progreso del arte en el mundo, tal acontecimiento sólo podrá realizarse con ayuda de la crítica y a la luz de su mirada escudriñadora y luminosa“ (Wenn einmal die mexikanische Literatur eine eigene und eigenständige Form gewinnt und würdig ist, an der Seite derer zitiert zu werden, die zum Fortschritt der Kunst in der Welt beigetragen haben, so wird dieses Ereignis nur mit Hilfe der Kritik und dem Licht ihres forschenden und erhellenden Blicks verwirklicht werden).152 Mit seinen eigenen Kritiken will Puga y Acal nicht zuletzt aufzeigen, dass es möglich sein muss, auch die Fehler eines Victor Hugo zu analysieren, ohne der Anklage der Majestätsbeleidigung ausgesetzt zu werden. Folgerichtig stellt er in seinem Aufsatz über Díaz Mirón fest: „el defecto más saliente de Víctor Hugo, como poeta, es el abuso de las metáforas y antítesis“ (der klarste Fehler Victor Hugos als Dichter ist sein Missbrauch der Metafern und Antithesen).153 Puga schreibt gegen die unüberlegte Verehrung des Genies an und gibt seinen Zeitgenossen zu verstehen, dass Literatur nicht nur „Inspiration“, sondern auch Technik und Arbeit ist. Bezeichnenderweise insistiert Díaz Mirón in seiner Antwort erneut auf dem Geniekult. Er negiert zunächst Einflüsse anderer Autoren und präsentiert sich selbst als autonomen Dichter: „En cuanto a mis metáforas, declaro sinceramente que empleo las que me vienen a la mente, cuando me parecen propias para determinar los efectos que deseo producir, y que en esto no sigo más huellas que las de mi pensamiento, ni más consejos que los de mi gusto. – El estilo es el hombre“ (Was meine Metafern betrifft erkläre ich ehrlich, dass ich die verwende, die mir in den Sinn kommen, wenn sie mir geeignet erscheinen, die Effekte, die ich hervorrufen möchte, zu bestimmen. Darin folge ich nur den Spuren meines Denkens, nur den Ratschlägen meines Geschmacks. – Der Mann ist der Stil).154 Díaz Mirón beschreibt sich als Schöpfer, der seine Verse von einer geheimnisvollen Macht empfängt und sie aufs Papier überträgt: „no los elaboro [die Verse], sino que me ocurren por misteriosa sugestión: imagínome que atraviesan alígeros y resplandecientes mi fantasía y que no hago más que percibirlos“ (ich erarbeite sie nicht, sondern sie fallen mir durch geheimnisvolle Eingebung zu: ich stelle mir vor, dass sie leicht und strahlend meine Fantasie durchstreifen und ich sie nur empfange).155 Dieser Gedanke einer unkontrollierbaren poetischen Inspiration erlaubt ihm das Genie als „raro, rarísimo, por soberana manera exaltado, penetrante y excelso“ (eigenartig, sehr eigenartig, auf großartige Weise exaltiert, durchdringend und auserlesen) zu definieren.156 Puga seinerseits reagiert auf die Vorstellungen Díaz Miróns, indem er die Idee eines „besessenen“ Poeten kategorisch ablehnt. Trotz Baudelaire, Richepin und Rollinat sei die literarische Arbeit kein
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Puga y Acal, Los poetas mexicanos contemporáneos, S. 3f. Puga y Acal, Los poetas mexicanos contemporáneos, S. 10. Salvador Díaz Mirón, ‘Mis versos “A Byron” y un juicio crítico de Brummel’, in Los poetas mexicanos contemporáneos, S. 15-23, hier S. 16. Díaz Mirón, ‘Mis versos “A Byron”’, S. 16. Díaz Mirón, ‘Mis versos “A Byron”’, S. 20.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
„mal de San Vito del espíritu“ (Veitstanz des Geistes), sondern basiere auf nüchterner intellektueller Reflexion.157 In seinem Aufsatz über Manuel Gutiérrez Nájera und dessen Gedicht ‘Tristissima Nox’ operiert Puga y Acal zwar wiederholt mit dem Begriff der Originalität, die am Ende des Jahrhunderts immer noch als allein gültiges Wertkriterium angesehen wurde, beendet aber seine Studie mit einem Lob des literarischen Eklektizismus, der den Duque Job auszeichne: Tantas han sido y son las impresiones que ha recibido y recibe diariamente su espíritu, que, a las veces, entre las irradiaciones de su luz propia, hay rayos de luz refleja. Esto, a mi ver, más bien que un defecto es una cualidad, y a aquellos que acusen a Gutiérrez Nájera de no ser siempre original, yo contestaré con este verso con que Alfredo de Musset contestaba a los que le hacían igual acusación: C´est imiter quelqu´un que de planter des choux. Verso que es una traducción exacta aunque libre del Nihil novum sub sole (So viele Eindrücke empfing und empfängt täglich sein Geist, dass es manchmal inmitten der Ausstrahlung seines eigenen Lichts Strahlen reflektierten Lichts gibt. Das ist meiner Ansicht nach kein Fehler, sondern Qualität und ich werde denjenigen, die Gutiérrez Nájera vorwerfen, er sei nicht immer originell, mit einem Vers antworten, mit dem Alfred de Musset denen entgegnete, die ihm gleiches vorwarfen: Jemanden imitieren ist wie Kohl anpflanzen. Der Vers ist eine genaue Übersetzung des Nihil novum sub sole.)158
Der Tenor der Argumente Pugas ist einfach: Der in Mexiko herrschende Geniekult, die Verehrung des „großen Mannes“ – und mit ihr der Originalität um jeden Preis – habe einen wirklichen literarischen Diskurs verhindert und zu unüberlegten Lobeshymnen der Autoren untereinander geführt. Eine Kritik, die diesen Namen verdient, muss vom Autor abstrahieren können und darf nur werkimmanente Kriterien anwenden. Nur unter dieser Voraussetzung kann Mexiko am literarischen Diskurs teilnehmen und die 1888 schon offensichtlichen aus Europa importierten literarischen Neuheiten adäquat rezipieren. Puga y Acal öffnet damit die mexikanische Literatur dem Disput, von dem die Modernistengeneration gerne Gebrauch macht. Als Übersetzer von Baudelaire und Rollinat teilt Puga einige literarische Vorlieben mit den Modernisten, tritt jedoch dennoch auch als deren Opponent auf, da er ihr schon von Díaz Mirón geäußertes Festhalten am literarischen Genie und der abstrakten Inspiration ablehnen musste. Sein Beitrag, der aus der in Mexiko traditionell vernachlässigten Provinz kommt, ist allerdings entscheidend, um die von Altamirano in El Renacimiento und Liceo Hidalgo etablierten Standards zu überwinden und den Durchbruch der von Gutiérrez Nájera vorbereiteten und teilweise vollzogenen modernistischen Erneuerung der mexikanischen Kultur zu ermöglichen. Damit Hand in Hand geht auch die Infragestellung des von Altamirano vertretenen literarischen Nationalismus, der eine Beschäftigung mit der französischen Literatur über Musset, Lamartine und Hugo hinausgehend sehr erschwerte. 157 158
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Puga y Acal, Los poetas mexicanos contemporáneos, S. 28. Puga y Acal, Los poetas mexicanos contemporáneos, S. 57f. Gutiérrez Nájera betonte in seiner Antwort auf Puga die Notwendigkeit des literarischen Eklektizismus für einen lateinamerikanischen Schriftsteller mit einem exotischen Vergleich: „en cuestiones estéticas debemos ser como los sultanes y tener un serrallo en el que quepan todas las bellezas; no casarnos con una sola y serle fieles“ (in ästhetischen Fragen müssen wie wie die Sultane sein und einen Harem halten, in den alle Schönheiten passen, uns mit keiner verheiraten und ihr treu sein; Manuel Gutiérrez Nájera, ‘Carta del Duque Job a Brummel’, in Los poetas mexicanos contemporáneos, S. 92-101, hier S. 100).
Auf dem Weg in die literarische Unabhängigkeit
Gutiérrez Nájera war 1888 bereits einer der populärsten Schriftsteller Mexikos, der unter zahlreichen Pseudonymen Lyrik, Erzählungen und Chroniken für die führenden Tageszeitungen und Zeitschriften verfasste. Seine Vorliebe für ein frivoles und verspieltes Frankreich ist bekannt und spiegelt sich, abgewandelt zu einem literarischen Motiv und umgeformt in ein französierendes oder manchmal auch anglizierendes Vokabular in einer Reihe seiner bekanntesten Gedichte wider. Als Beispiel sei hier nur auf ‘La Duquesa Job’ verwiesen, in dem sich Strophen wie die beiden folgenden finden: No tiene alhajas mi duquesita,/pero es tan guapa, y es tan bonita,/y tiene un cuerpo tan v´lan, tan pschutt;/de tal manera trasciende a Francia/que no la igualan en elegancia/ni las clientes de Hélène Kossut. // Desde las puertas de la Sorpresa/hasta la esquina del Jockey Club,/no hay española, yanqui o francesa,/ni más bonita, ni más traviesa/que la duquesa del Duque Job. (Meine Duquesita hat keinen Schmuck, aber sie ist so schön, so hübsch und hat einen Körper, der ist so v’lan und pschutt, sie strahlt so sehr Frankreich aus, dass nicht einmal die Kundinnen von Hélène Kossut sie an Eleganz übertreffen. Von den Toren der Sorpresa bis zur Ecke des Jockey Club gibt es keine Spanierin, Yanki oder Französin, die so hübsch, so keck wäre, wie die Duquesa des Duque Job.)159
Gutiérrez Nájera unterliegt zweifelsohne der Verführungskraft der von Altamirano 1869 kritisierten, aber als praktisch unvermeidlich hingenommenen Dominanz französischer Moden und Verhaltensweisen. Paradoxerweise leitet er aber auch die intensive Rezeption der nachromantischen französischen Literatur ein, die ihr primäres Motiv gerade in dieser Faszination fand und zu einer Ausdehnung des literarischen Diskurses mit Europa in Mexiko führte, die als Folge ausgerechnet die zumindest teilweise Überwindung des viel kritisierten (nicht zuletzt von Altamirano und seinen Mitstreitern) „afrancesamiento“ der Kultur des 19. Jahrhunderts hatte. Der Modernismo übernimmt Charakteristika der französischen und generell europäischen Romantik zusammen mit den neueren finisekulären Strömungen ab Baudelaire und integriert sie in seine Ästhetik, die damit die Funktion einer verspäteten, aber sehr wirkungsvollen mexikanischen Romantik übernimmt. Die beschriebene Entwicklung lässt sich erneut an den Zeitschriften der Generation ablesen: Revista Azul und besonders Revista Moderna.
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Manuel Gutiérrez Nájera, ‘La Duquesa Job’, in Antología del modernismo (1884-1921), hg. v. José Emilio Pacheco (México: UNAM/Ediciones Era, 1999), S. 9-13, hier S. 10.
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2. Die literarischen Zeitschriften des mexikanischen Modernismo: Revista Azul und Revista Moderna
2.1. Die Revista Azul 2.1.1. Vorbemerkungen Die Daten sind bekannt: Die erste Nummer der Revista Azul erschien mit dem Datum 6. Mai 1894 als Kulturbeilage von El Partido Liberal. Als Redakteure und Eigentümer erscheinen Manuel Gutiérrez Nájera und Carlos Díaz Dufoo, als Redaktionssekretär Luis G. Urbina, als Verwalter Lázaro Pavia. Sie wurde in der Druckerei des Partido Liberal in der Straße 3a de la Independencia Nummer 11 hergestellt. Ein Exemplar der Zeitschrift kostete 12 ½ Centavos. Es wird noch zu zeigen sein, wieviel 12 ½ Centavos im Jahr 1894 tatsächlich wert waren. Die Revista Azul stellte ohne Zweifel eine Neuheit dar, aber sie hatte dennoch zahlreiche Vorgänger. Die mexikanische Presse erlebte ihren ersten Höhepunkt in den 34 von Porfirio Díaz direkt oder indirekt beherrschten Jahren.160 Florence Toussaint registriert in ihrem Index insgesamt 2.579 Periodika, die in Mexiko zwischen 1876 und 1910 erschienen, 576 davon in der Hauptstadt.161 Sie charakterisiert die neue Presse unter Porfirio Díaz mit folgenden Worten: „la ligereza informativa por sobre la polémica, la inclusión de técnicas del periodismo amarillo- norteamericano, grandes tirajes, el menor precio posible, adhesión al poder camuflada tras la apariencia de la imparcialidad y el punto de vista objetivo“ (informative Leichtheit über Polemik, Miteinbeziehung von Techniken des nordamerikanischen Regenbogenjournalismus, große Auflagen, der kleinst mögliche Preis, Anbindung an die Macht hinter dem Schein der Unparteilichkeit und des objektiven Standpunkts).162 Die Presse spiegelte die Parteienkämpfe zwischen Liberalen und Konservativen wider; mit der sich konsolidierenden Macht des Präsidenten gestaltete sich die politische Diskussion in der Presse allerdings als Fassade, die von einer mehr oder weniger direkten Zensur manipuliert wurde. Ein klares Indiz dafür: Die Zahl der Publikationen nimmt in der zweiten Hälfte des Porfiriats deutlich ab, möglicherweise, weil der Präsident keine Unterstützung seitens der
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Die mexikanische Geschichtsschreibung umgrenzt das Porfiriat mit den Jahren 1876 und 1910. Im Jahr 1880 gab Díaz die Präsidentschaft an Manuel González ab, um sich ab 1884, nicht zuletzt mit der Hilfe der „científicos“, einer Gruppe junger, ausgezeichnet ausgebildeter Intellektueller wie Yves Limantour oder auch Justo Sierra, in manipulierten Wiederwahlen alle vier Jahre in der Macht zu bestätigen (Vgl. u. a. den Beitrag von Luis González im zweiten Band der Historia general de México, S. 897-1017). Florence Toussaint, Escenario de la prensa en el Porfiriato (México: Fundación Manuel Buendía, 1989), S. 12. Toussaint, Escenario de la prensa en el Porfiriato, S. 17.
Die literarischen Zeitschriften
Druckmedien mehr benötigte, und noch viel weniger natürlich Opposition.163 Die Debatte verlegte sich demnach auf das viel ungefährlichere Terrain der Kultur. Im Sinne des französischen Feuilleton konnten die Journalisten bei „harmlosen“ Themen wie Literatur und Kunst mit einer relativen Meinungsfreiheit rechnen. In diesem Sinne darf die Revista Azul als Feuilleton des Partido Liberal klassifiziert werden. Die politische Debatte verkleidete sich also immer mehr als kulturelle Debatte. Ein typisches Beispiel für diese Umwandlung findet sich in der Konkurrenzsituation zwischen der liberalen Revista Nacional de Letras y Ciencias (RNLC)164 und der sehr konservativen El Tiempo. Der politische Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen offenbart sich in einer polemisch geführten Diskussion zwischen „modernos“ und „castizos“. Einige Jahre vor der Revista Azul versucht die RNLC in ihrer bibliografischen Abteilung, damals aktuelle Tendenzen der französischen Literatur zu verbreiten, insbesondere die Erzählungen eines Anatole France.165 El Tiempo bestand dagegen auf einem „casticismo castellano“, der sich jeglicher Neuerung im Bereich der Literatur entgegenstellte. Unschwer lässt sich hinter diesem literarischen Streit die unterdrückte politische Konfrontation zwischen den Anhängern des Porfiriats und seiner schüchternen Opposition erkennen. Am 9. November 1889 kommentiert Manuel Gutiérrez Nájera sarkastisch in El Universal die Konfrontation der beiden Organe. Er führt den literarischen Konflikt auf einen zwischen „mochos“ und „puros“ zurück. Obwohl er selbst sich eindeutig zu den „modernos“ zählt, merkt er – wie kurz vor ihm auch Puga y Acal –, dass es in Mexiko noch keinen wirklichen literarischen Diskurs gibt, sondern nur die altbekannte politische Gegenüberstellung: „No estamos divididos en bandos literarios, no giramos en sendos y diferentes círculos artísticos; en México no hay naturalistas ni idealistas irreconciliables, no hay más que mochos y puros. La división de siempre: aquí El Tiempo; allí, El Combate“ (Wir sind nicht in literarische Gruppen geteilt, wir bewegen uns nicht in mächtigen und verschiedenen literarischen Zirkeln; es gibt in Mexiko keine unversöhnlichen Naturalisten und Idealisten, es gibt nur Frömmler und Reine. Die ewige Trennung: hier El Tiempo, dort El Combate).166 Und etwas später stellt er kategorisch fest: „Esto de involucrar la política y las letras es superlativamente tonto “ (Es ist extrem dumm, Politik und Literatur zu vermengen).167 Mexiko hatte noch keine funktionierende Kritik. Hinter der Literatur versteckte sich ein politischer Konflikt, der viel tiefer ging als jegliche Diskussion um ästhetische Probleme. Noch viel weniger existierte ein Organ für die literarische Diskussion. Die kulturellen Abteilungen der Tageszeitungen und der Zeitschriften waren, in Abwandlung eines berühmten Satzes, die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Ein gut informierter und hellhöriger Intellektueller, der Gutiérrez Nájera ohne Zweifel war, musste die 163 164 165 166 167
Toussaint, Escenario de la prensa en el Porfiriato, S. 21. Einer ihrer Mitarbeiter war Jesús E. Valenzuela, etwas später Eigentümer, Herausgeber und treibende Kraft der Revista Moderna. Vgl. den Índice de la Revista Nacional de Letras y Ciencias (1889-1890) von Celia Miranda Cárabes, publiziert 1980 von der UNAM, S. 82ff. Manuel Gutiérrez Nájera, Obras. Crítica literaria, hg. v. E.K. Mapes, in Obra, Bd. 1 (México: UNAM 1959), S. 375. Gutiérrez Nájera, Obras. Crítica literaria, S. 376.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
Notwendigkeit einer ausschließlich kulturell orientierten Zeitschrift fühlen, die die Literatur ernst nahm und sie nicht in Parteienkämpfe verwickelte, die ein für Schriftsteller aus verschiedenen sozialen, intellektuellen und ideologischen Hintergründen offenes Forum sein konnte. Kurz gesagt: eine von Literaten geschriebene und betreute Literaturzeitschrift: die Revista Azul.
2.1.2. Der Stellenwert der französischen Kultur innerhalb der Revista Azul168 Schon die ersten Nummern zeigen, dass zumindest quantitativ die französische Literatur eine dominierende Rolle in der Zeitschrift spielt. Gedichte, Erzählungen und Fragmente umfangreicherer Werke aus der französischen Produktion der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bilden de facto den Kern der Publikation, der nur – wieder quantitativ – von den eigenen Texten eines Gutiérrez Nájera, Luis G. Urbina, Díaz Dufoo oder Micrós überboten wird. Die französische Literatur wird sowohl in Originalfassungen, als auch in Übersetzungen veröffentlicht. Die Gebrüder Goncourt eröffnen am 6. Mai 1894 die Liste der französischen Autoren. Am 13. Mai finden sich bereits vier Beiträge französischen Ursprungs: wieder die Goncourts; Hippolyte Taine; eine Erzählung von Alphonse Daudet und, auf Französisch, ‘Suivant Petrarque’, eines der Sonette Hérédias. Bei der Erzählung Daudets handelt es sich um ‘Le porte-drapeau’, eine der 1873 publizierten Contes du lundi. Die RA druckt die ‘El abanderado’ betitelte Übersetzung des aus Guatemala stammenden Enrique Gómez Carrillo ab. Die Gründe für die Auswahl dieses Textes sind naheliegend, spielt doch in ihm der in Mexiko in schlechter Erinnerung gehaltene Marschall Bazaine als Verantwortlicher für die französische Niederlage gegen Preußen eine negative Rolle (Vgl. RA, Bd. 1, S. 22-24). Es wäre aber falsch, auch hier nationalistische Motive zu vermuten. Gutiérrez Nájeras Vorstellungen von einer kulturellen Zeitschrift schließen die Integration eines „feindlichen“ Textes aus Gründen des verletzten Nationalstolzes aus und überwinden damit eine in Altamiranos El Renacimiento etablierte Praxis. Daudets Erzählung und die Texte der Goncourts, neben vielen anderen, legen fest, dass das literarische Frankreich wieder einen festen Platz in der mexikanischen Kultur hat. Die Tendenzen sind dabei sekundär. Die erwähnten realistischen Texte stehen neben dem parnassien Hérédia. Am 20. Mai wird die Liste durch Musset, Marcel Prévost und Banville erweitert. Es hat wenig Sinn, mit dieser Statistik fortzufahren. Einerseits, weil verschiedene Indizi und Studien der RA vorhanden sind,169 andererseits, weil eine derartige Liste, auch wenn sie 168
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Im Folgenden als RA abgekürzt. Band- und Seitenangaben werden in Klammern gesetzt. Ich zitiere aus der 1988 erschienenen fünfbändigen Faksimileausgabe. Nur in Ausnahmefällen greife ich auf die im Colegio de México aufliegende fast vollständige Sammlung der Einzelausgaben der Zeitschrift zurück. Ich verweise auf den Index von A.E. Díaz Alejo und E. Prado Velázquez, Índice de la Revista Azul (18941896), 1968 in Mexiko-Stadt veröffentlicht; sowie auf die Studie von Boyd G. Carter, ‘El modernismo en las revistas literarias, 1894’, in Chasqui 8, 2. Februar 1979, S. 5-18.
Die literarischen Zeitschriften
durch ihren Umfang beeindrucken kann, relativ wenig über den Stellenwert der französischen Literatur in der RA und, in einem größeren Kontext, innerhalb der finisekulären Kultur Mexikos, aussagen würde. Die repräsentativsten Namen in der RA sind jedoch Baudelaire, die Gebrüder Goncourt, Catulle Mendès, Pierre Loti und, gegen Ende ihres Erscheinens, Émile Zola. Schon diese wenigen Namen spiegeln eine Mischung von literaturgeschichtlich kanonisierten (Baudelaire, Goncourt), teilweise vergessenen (Mendès) oder in den Bereich der Trivialliteratur verwiesenen (Loti) Autoren wider, die typisch für die Entwicklung des Modernismo in diversen lateinamerikanischen Ländern ist. Außerdem fällt die Verschiedenartigkeit der von den erwähnten Autoren vertretenen Richtungen auf. Trotzdem fehlen einige prominente Namen, vor allem der von Joris Karl Huysmans, dessen Roman À rebours und sein Held Des Esseintes eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der modernistischen Prosa spielten. Man kann Adela Pineda in diesem Zusammenhang Recht geben, die in einem Essay über den „afrancesamiento modernista“ der RA feststellt, dass die Auswahl der französischen Autoren sehr gemäßigten Kriterien gehorcht. Des Esseintes, der dekadentistische Prototyp, kommt in den Chroniken der RA als Referenz vor (das heißt, er kann keinen „Schaden“ anrichten), die radikale Ästhetik Huysmans dagegen fehlt in den Seiten der RA.170 Die intellektuelle Anarchie und die moralische Degenerierung der von dem belgisch-französischen Romancier geschaffenen Figur scheinen noch kein für die Leser der RA geeigneter Stoff gewesen zu sein. Sie konnten nicht nur épater le bourgeois, sondern auch épater l´artiste. Die dominierende Stellung der französischen Literatur in den Seiten der RA ist unbestreitbar, ebenso der oft angesprochene Eklektizismus des hispanoamerikanischen Modernismo, der sich in den Auswahlkriterien der Redakteure der RA wiederfindet. Trotzdem sollte man nicht annehmen, Gutiérrez Nájera und seine Mitarbeiter hätten die französischen (und generell europäischen) Beiträge für ihre Zeitschrift nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Ein Kriterium war ausschlaggebend: Die Kunst musste über die Interessen eines Alltags gestellt werden, der für viele mexikanische Schriftsteller der Jahrhundertwende frustrierend erschien. Die Interessen der Kunst mussten die in der RA publizierten Beiträge leiten. Pedro Henríquez-Ureña erkannte dieses Prinzip schon im Jahr 1922, als er die modernistischen Intellektuellen als Vagabunden beschrieb, die alle Schulen der Kunst besuchten: „Es la época de la Revista Azul y de la Revista Moderna. Reducida al mínimum la actividad política con el régimen de Díaz, los escritores disponen de vagar para cultivarse y para escribir: hay espacio para depurar la obra“ (Es ist die Epoche von Revista Azul und Revista Moderna. Mit dem Regime Díaz war die politische Aktivität auf ein Minimum reduziert, die Schriftsteller haben Muße, um sich zu bilden und um zu schreiben; es gibt Platz, um das Werk zu reinigen).171 In diesem Zusammenhang interessiert weniger, was die 170 171
Adela Pineda, ‘El afrancesamiento modernista de la Revista Azul (1894-96): ¿Un arte decadente o una apología del progreso positivista?’, verfügbar in: www.mailweb.udlap.mx/~adelap/articulos/art2.html. Pedro Henríquez-Ureña, Las corrientes literarias en la América Hispánica (México: FCE, 1954), S. 285. Paradoxerweise greift die Politik nach wie vor in die Interessen der Kunst ein, wenn auch indirekt, da nur die viel zitierte pax porfiriana den Intellektuellen der Zeit eine intensive künstlerische Tätigkeit ermöglichte. Auf diese Art werden die Künstler erneut in eine Abhängigkeit von der Politik getrieben, von der sie sich frei machen wollten.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
französischen Autoren in der RA schrieben, als was über sie geschrieben wurde. Die Chroniken der RA stellen eine erste theoretische Basis zur Verfügung, um die modernistische Literatur Lateinamerikas zu definieren, die etwa 15 Jahre vor dem Erscheinen der Eröffnungsnummer der mexikanischen Zeitschrift ihre ersten Lebenszeichen gab und noch weitere 15 Jahre die Kultur des neuen Kontinents bestimmen sollte. In anderen Worten: Die Zeitschrift stellt eine erste Zäsur dar, einen ersten Versuch, die schon vorhandene modernistische Praxis mit einem theoretischen Diskurs zu ergänzen. Dieser Versuch wird im Folgenden mittels einer Auswahl der in der RA erschienenen Chroniken, die sich an der französischen Literatur orientieren, erläutert.172 In seiner Einführung zum dritten Band des Gesamtwerks von Gutiérrez Nájera stellt Alfonso Rangel Guerra fest: Gutiérrez Nájera fue, sin lugar a dudas, lector regular y constante de La Revue de Deux Mondes y del “Journal Universel” L´Illustration, publicaciones con amplia información sobre las actividades teatrales en la capital francesa. Las crónicas de Lagenevais en La Revue de Deux Mondes, y las de Henri Lavoix („Savigny”), Raymond Berthier, Octave Mirbeau y Philibert Andebrand („Chapelle”), en L’Illustration, satisficieron en parte su deseo de conocer las actividades teatrales y artísticas parisienses. (Gutiérrez Nájera war ohne Zweifel ein fleißiger und regelmäßiger Leser der Revue de Deux Mondes und des “universellen Journals” L’Illustration, die großzügige Information über die Theateraktivitäten in der französischen Hauptstadt enthielten. Die Chroniken von Lagenevais in der Revue de Deux Mondes und die von Henri Lavoix („Savigny”), Raymond Berthier, Octave Mirbeau und Philibert Andebrand („Chapelle”) in L’Illustration konnten teilweise seinen Wunsch erfüllen, die Bühnen- und künstlerischen Aktivitäten in Paris zu kennen.)173
Diese Notwendigkeit, die Pariser Kulturszene zu kennen und zu assimilieren, bestimmt die RA ab ihrer ersten Nummer. Gutiérrez Nájera eröffnet die Zeitschrift in seinem oft zitierten Artikel ‘Al pie de la escalera’ mit einem Gedicht Théophile Gautiers. In dem 1838 publizierten ‘Barcarolle’ prophezeit der Franzose eine offene Zukunft für die Kunst, die die Fähigkeit habe, in unerwartete Höhen zu gelangen: „Dites, la jeune belle/Où voulez-vous aller?/La voile ouvre son aile,/La brise va souffler! // L’aviron est d’ivoire,/Le pavillon de moire,/Le gouvernail d’or fin;/J’ai pour lest une orange,/Pour voile une aile d’ange,/Pour mousse un sérafin”.174 Der Mexikaner macht von keinem Vertreter der zeitgenössischen französischen Literatur Gebrauch, sondern kehrt zur spätromantischen Generation des Landes zurück, um das Ziel der RA zu verdeutlichen, ein exklusives Forum für die Interessen der Kunst zu sein. Er möchte es vermeiden, eine neue dogmatische Schule zu bilden, die Kunst zu limitieren. Diese müsse sich öffnen und verschiedenen Wegen folgen. Die RA wolle kein symbolistisches oder dekadentistisches oder modernistisches Organ sein, sondern „einfach“ eine Kulturzeitschrift, die keine moderne Schule bevorzuge und nur
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Wie erwähnt ist die Rolle der französischen Literatur herausragend. Dennoch haben auch die englische, italienische und deutsche ihre, wenn auch reduzierten, Plätze in der Zeitschrift. Alfonso Rangel Guerra, ‘Introducción’, in Manuel Gutiérrez Nájera, Crónicas y artículos sobre teatro I (1876-1880), hg. v. Alfonso Rangel Guerra, in Obras, Bd. 3, (México: UNAM, 1974), S. XXII. Zitiert in Manuel Gutiérrez Nájera, Obras. Crítica literaria, hg. v. E.K. Mapes, in Obra, Bd. 1, (México: UNAM, 1959), S. 534. S. 2 (mit leichten Varianten) in der RA.
Die literarischen Zeitschriften
ausschließe, was nicht den gleichsam sakralen Wert der Kunst akzeptiere.175 Eineinhalb Monate später, in der Nummer 7 der RA, erklärt Gutiérrez Nájera den Ursprung des Namens der Zeitschrift. In ‘El bautismo de la Revista Azul’ nennt der Duque Job Victorien Sardou als Taufpaten der Publikation: „cierta frase que decía lindamente en Nos intimes: Un ciel tout bleu ... tout bleu ... tout bleu!/De aquel ¡azul! ... ¡azul! ... ¡azul! ... dicho en voz baja, nació, batiendo sus ligeras alas, la idea de la REVISTA!” (ein Satz, der in Nos intimes nett sagte: Ein ganz blauer, blauer, blauer Himmel. Von diesem leise ausgesprochenen blau, blau, blau kam, ihre leichten Schwingen schlagend, die Idee für die REVISTA; RA, Bd. 1, S. 97).176 Der Duque bezieht sich auf einen damals sehr erfolgreichen Theaterautor, dessen Drama Nos intimes 1894 in Mexiko aufgeführt wurde. Gutiérrez Nájera kündigte in El Partido Liberal die Inszenierung für den 25. März des Jahres an und es ist sehr wahrscheinlich, dass er ihr beiwohnte.177 Auf diese Weise sind Théophile Gautier und Victorien Sardou die intellektuellen Taufpaten der RA, das heißt, ein von der Literaturgeschichte kanonisierter Autor und ein Dramaturg, dessen Platz eher an ihrer Peripherie angesiedelt ist. Die eklektische Mischung der literarischen Referenzen des Modernismo ist von Beginn an präsent in der Zeitschrift, Gutiérrez Nájera graduiert keine künstlerischen Niveauunterschiede zwischen Gautier und Sardou. Der ästhetische Wert wird sekundär, wichtiger erscheint, dass ein Autor wie Sardou der Zeitschrift ein Pariser „Flair“ verleihen kann, dass er in den französischen Magazinen, die in der Redaktion der RA eintrafen, besprochen wurde. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Verantwortlichen der Publikation nähere Recherchen zu den von ihnen veröffentlichten Autoren anstellten. Die Tatsache, dass sie Teil der Pariser Kunstszene waren genügte, um sie zu publizieren und zu loben. Paris verwandelte sich so in die mythische „Ciudad Luz“ (Lichtstadt); in den Büros der RA gewann Paris eine fast onthologische Dimension als Weltkulturhauptstadt, die den sakralen Wert der Kunst repräsentieren konnte. In seinem Essay ‘The decay of Lying’ postuliert Oscar Wilde, dass das finisekuläre Japan eine Fiktion ist, die im realen Japan nicht existiert, sondern nur in London oder Paris zu finden ist.178 Auf die gleiche Weise stellt das Paris der Modernisten eine Fiktion dar, die oft genug durch den Kontakt mit der realen Stadt zerstört wurde. Das Aufwachen aus der ästhetischen Illusion war für viele Vertreter der modernistischen Generation eine schmerzhafte Erfahrung. Es ist bekannt, dass Rubén Darío das Griechenland der Franzosen mehr verehrte als das antike Griechenland, womit er die Fiktion verdoppelte: Darío verfällt einem Bild der französischen Kultur, das er selbst geschaffen hat, und das seinerseits eine antike Kultur repräsentiert, die weder Darío, noch die französischen Dichter erfahren konnten.
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Auf diese Art findet auch der erklärte Feind jeglichen Dekadentismus, der in Ungarn geborene Max Nordau, mit seinem Buch über die künstlerischen „Entartungen“ der Jahrhundertwende Eingang in die RA. Am 10. Juni 1894 kritisiert Díaz Dufoo das Buch Nordaus als faszinierend, aber wegen seiner zu polemischen Urteile unausgeglichen. Trotz dieser Feststellung Gutiérrez Nájeras sind auch andere Quellen für den Ursprung des Namens gültig: Ruben Daríos Azul... von 1888 in erster Linie. Vgl. Fußnote 5 des ersten Bandes des Gesamtwerkes, S. 538. Oscar Wilde, De Profundis and other writings (London: Penguin Books, 1986), S. 86.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
Am 10. Februar 1895 publiziert die RA eine fast zur Gänze dem verstorbenen Gutiérrez Nájera gewidmete Nummer. Díaz Dufoo unterstreicht in ihr die Notwendigkeit, dass die Zeitschrift trotz des Fehlens ihres Kopfes weitergeführt werden muss (RA, Bd. 2, S. 229f.). Diese Nummer stellt eine klare Zäsur innerhalb der Publikation dar, besonders weil in ihr das Gewicht des Duque Job bei der Auswahl und Einschätzung der französischen Beiträge klar wird. Gutiérrez Nájera hatte in erster Linie Baudelaire und Leconte de Lisle als Leitbilder der RA definiert. Nach seinem Tod nimmt die Erscheinungsfrequenz des Verfassers der Poèmes barbares ab, während der Name Baudelaires häufiger in der Zeitschrift zu finden ist. Die RA schlägt damit eine Richtung ein, die sich eher an als symbolistisch oder dekadentistisch umschreibbaren Tendenzen orientiert, während Romantik und Parnass zurückbleiben. Gutiérrez Nájera hatte derartige Limitierungen abgelehnt und den Versuch propagiert, die diversen literarischen Schulen und Moden des 19. Jahrhunderts in einer eklektischen Symbiose zu vereinen.179 Zwei Artikel über Leconte und Baudelaire, vom 12. August und 2. September 1894, sollen dies verdeutlichen. Im ersten der beiden Beiträge verteidigt Gutiérrez Nájera Leconte de Lisle gegen den Vorwurf, zu „kalt“ zu sein. Seine Kälte sei nur die Oberfläche, schreibt der Mexikaner, hinter der sich „el espanto“, der Schrecken, verbirgt (RA, Bd. 1, S. 233). Die Poèmes barbares und die Poèmes tragiques zeigen den Einfluss Schopenhauers und stellen „la forma moderna del pesimismo“ (die moderne Form des Pessimismus) dar (S. 234). Leconte greife auf eine perfekte Form zurück, um seine Umwelt, die der Künstler nicht mehr verstehen könne, zu ordnen: eine chaotische, erschreckende und immer geistlose Realität. Gutiérrez Nájera verbindet in diesem Kontext Leconte de Lisle mit André Chénier. Der französische Dichter (Chénier) habe in einer Epoche der Revolutionen leben müssen, die auch eine finisekuläre Epoche war, deren ethische Werte sich fast täglich veränderten. Daher habe er dem Dichter eine gleichsam göttliche Rolle als auserwähltes Wesen zugeschrieben, das in der Lage ist, einen Sinn hinter den widersprüchlichen und verwirrenden historischen Ereignissen zu formulieren. In den Worten Paul Bénichous: „equipara [Chénier] los procesos y las metamorfosis del genio poético con el universo entero, y da al poeta un acceso fulgurante a las verdades de la ciencia y a las fuentes del ser“ (Chénier setzt die Prozesse und Verwandlungen des poetischen Genies mit dem gesamten Universum gleich und er verleiht dem Dichter einen strahlenden Zugang zu den Wahrheiten der
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Der manchmal negativ besetzte Begriff des Eklektizismus wurde nur wenige Jahre nach dem Modernismo zu einem Bestandteil des Programms eines Teiles der literarischen Avantgarde Lateinamerikas. So schreibt Oliverio Girondo folgende Widmung zu seinen Veinte poemas para ser leídos en el tranvía (1922): „Cenáculo fraternal, con la certidumbre reconfortante de que, en nuestra calidad de latinoamericanos, poseemos el mejor estómago del mundo, un estómago ecléctico, libérrimo, capaz de digerir, y de digerir bien, tanto unos arenques septentrionales o un kouskous oriental, como una becasina cocinada en la llama o uno de esos chorizos épicos de Castilla“ (Brüderliche Gemeinschaft mit der tröstlichen Sicherheit, dass wir als Lateinamerikaner den besten Magen der Welt besitzen, einen eklektischen, freien Magen, der nordische Heringe und ein orientalisches Kouskous genauso verdauen, und gut verdauen kann, wie eine im Feuer gekochte becasina oder einen der epischen chorizos Kastiliens; Oliverio Girondo, Obras, Buenos Aires: Losada, 1998, S. 55).
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Wissenschaften und den Quellen des Seins).180 Am Ende des 19. Jahrhunderts wiederholt sich diese Konstellation. Sowohl Leconte de Lisle, als auch Gutiérrez Nájera fühlen sich in einer der Kunst ablehnend gegenüberstehenden Gesellschaft, die von dem Mexikaner als „positivistisch“ und „materialistisch“ umschrieben wird, fremd. Auf diese Weise erscheint das Porfiriat als eine späte Kopie von französischer und industrieller Revolution in Europa.181 Laut Gutiérrez Nájera hat der Künstler zwei Optionen: Er fügt sich in diese Umwelt ein oder er rebelliert offen gegen sie. Beide Möglichkeiten sind für ihn gültig. Der „klassische“ Stil Lecontes gibt einem anarchischen Inhalt Form: „En la poesía de Leconte de Lisle el espíritu expresa una de las actitudes del pensamiento moderno: la enormemente desesperanzada. La forma es neta y limpiamente griega, por más que á los pórticos, á las columnas y á los frisos, se prenda la vejetación [sic] lujuriosa de la India“ (In der Dichtung Leconte de Lisles drückt der Geist eine der Haltungen des modernen Denkens aus: die enorm verzweifelte. Die Form ist rein griechisch, auch wenn hinter den Säulengängen, an den Säulen und Fresken die lustvolle Vegetation Indiens wuchert; RA, Bd. 1, S. 235). Eine komplizierte Welt, eine der Kunst entfremdete Realität konnten den Panzer der ParnassDichtung Lecontes nicht zerstören, aber alleine die Notwendigkeit eines solchen Panzers zeigt schon, dass der Künstler seine Umwelt als immer erschreckender empfand.182 Der Aufsatz Gutiérrez Nájeras zeigt auch, wie weit sich die Frankreich-Rezeption in der RA von den Vorstellungen Altamiranos in El Renacimiento entfernt hat. Der Duque Job greift auf die Anfänge der französischen Romantik vor Lamartine und Hugo zurück, um das ihm zeitgenössische Phänomen des Parnass zu erklären. Die These des kubanischen Kritikers Antón Arrufat von der künstlerischen Zweitrangigkeit der rezipierten Quellen greift bei Gutiérrez Nájera nicht mehr, dessen literarischer Eklektizismus, der Altamiranos Nationalismus ablehnen musste, eine breitere und tiefer gehende Auseinandersetzung mit der französischen (und auch Teilen der englischen, deutschen und italienischen) Literatur seiner Zeit ermöglichte.
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Paul Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, aus dem Französischen von Aurelio Garzón del Camino (México: FCE, 1981), S. 47. Die Thesen Bénichous über die Entwicklung einer poetischen Priesterschaft verdienen eine separate Behandlung. Ihre Anwendbarkeit auf den lateinamerikanischen Modernismo fällt auf, wurde aber von der Kritik nicht berücksichtigt. Die Kunst „versteckt“ sich gleichsam in Publikationen wie der Revista Azul, die letztendlich nur die Beilage einer großen Tageszeitung war. Gutiérrez Nájera formulierte diese Position gegenüber Leconte de Lisle schon 1888, in seinem Disput mit Puga y Acal, in dem es zu dem französischen Dichter heißt: „Leconte de Lisle nos parece, a primera vista, un poeta impersonal; pero ya he dicho y ahora digo de nuevo, que no hay poesía impersonal. Lo que admiramos en sus poemas es la intelección de la belleza griega, es decir, la personalidad del poeta“ [Leconte de Lisle erscheint uns auf den ersten Blick wie ein unpersönlicher Dichter, aber ich habe es schon gesagt und ich sage es noch einmal, es gibt keine unpersönliche Dichtung. Was wir in seinen Gedichten bewundern ist die Vergeistigung der griechischen Schönheit, also die Persönlichkeit des Dichters] (in Puga y Acal, Los poetas mexicanos contemporáneos, S. 97). Gutiérrez Nájera zeigt hier eine kritische Distanz zu seinen Lektüren, die einigen Modernisten nach ihm abhanden kam, so auch wenn er von Rollinat schreibt: „Yo no veo como él gatos que me enroscan sus colas al cuello y que me ahogan, porque no padezco el delirium tremens; pero no puedo menos de admirar esa poesía neurótica, sobreexcitada, morfinomaniaca, que huele a éter y sabe a opio“ (S. 97f.).
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Im zweiten Teil einer Chronik über Lamartine vom 2. September 1894 zeigt sich Gutiérrez Nájera als Kenner der Gefahren der Modernität. Der Duque Job beschäftigt sich in diesem Text auch (oder gerade) mit der Ästhetik Baudelaires, die der Lamartines gegenübergestellt wird. Auch wenn er die Verse des Romantikers, insbesondere in ‘Le Lac’, sowie seinen Rafael als unübertrefflich einstuft, sieht er beide Darstellungsweisen als konträr, aber gleichermaßen gültig; sie seien logische Konsequenzen der unterschiedlichen historischen Umstände Lamartines und Baudelaires. Er verweist insbesondere auf das Gedicht ‘Don Juan aux enfers’ der Fleurs du mal. Der Mexikaner interpretiert den Tod Don Juans gleichzeitig als den Triumph seines Zynismus. Die Vitalität und die Persönlichkeit des Verführers triumfieren über den Tod und das Wort Liebe reduziert sich auf die Vorstellung eines dekadenten Erotismus, während zur gleichen Zeit traditionelle religiöse und soziale Werte keinerlei Rettung mehr bieten, wie dies bei Lamartine noch möglich war. Baudelaire mische – so Gutiérrez Nájera – das ursprünglich christliche Motiv des Don Juan mit paganistischen Bildern der griechischen Unterwelt und offenbare auf diese Weise, dass das Christentum in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts keinen Anspruch mehr erheben könne, ein universell gültiger Wert zu sein. Baudelaires Gedicht beginnt mit den folgenden Strophen, von denen Gutiérrez Nájera die zweite auf Französisch zitiert183 (Vgl.: S. 274 in der RA): Quand Don Juan descendit vers l´onde souterraine Et lorsqu´il eut donné son obole à Charon, Un sombre mendiant, l´œil fier comme Antisthène, D´un bras vengeur et fort saisit chaque aviron.
(Als Don Juan zum Acheron gefahren, Gab er dem Charon seinen Obolus, Ein Bettler mit Antisthenes’ Gebaren Setzt’ ihn als Rächer über jenen Fluß.
Montrant leurs seins pendants et leurs robes ouvertes, Des femmes se tordaient sous le noir firmament, Et, comme un grand troupeau de victimes offertes, Derrière lui traînaient un long mugissement.
Mit schlaffen Brüsten und mit offnem Kleid, So wanden sich die Frauen in der Nacht; Die dumpfen Klagelaute tönten weit, Als würden Opfertiere dargebracht.)184
Gutiérrez Nájera stellt das romantische Liebeskonzept Lamartines diesen infernalischen Bildern gegenüber. Er hält zwar beide Konzepte für vergleichbar, da sie aufzeigen, dass erst der Tod das Wesen (oder Unwesen) der Liebe offenbart, sieht aber gleichzeitig die Ästhetik Baudelaires als weitaus komplizierter, da der Tod Don Juans auch die erotische Abhängigkeit seiner früheren Geliebten aufzeige (Vgl. v. a. S. 275 der RA). Gutiérrez Nájera sieht jedoch diese Aspekte in der Dichtung Baudelaires nicht als feindliche Reaktion gegenüber der Romantik und noch viel weniger wertet er diese im Vergleich mit dem moderneren Konzept ab, sondern er versucht, die „neue“ Ästhetik Baudelaires mit ihren Vorgängern zu versöhnen. Aus der mexikanischen Perspektive des Duque Job mussten sich die Wider183
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Der in der RA zitierte Text entspricht nicht zur Gänze dem der modernen Ausgaben. Fehler gehen jedoch in erster Linie auf typografische Irrtümer als auf mangelnde Französischkenntnisse des Duque Job zurück. Eine vollständige Übersetzung der Fleurs du mal ins Spanische erschien erst 1905. Der spanische Dichter Eduardo Marquina stellte sie für den Madrider Verlag F. Beltrán zusammen. Vgl. Glyn Hambrook, ‘La obra de Charles Baudelaire traducida al español’, in Investigación Franco-Española, 4 (1991), S. 99-102. Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen, zweisprachige Ausgabe (Stuttgart: Philipp Reclam, 1980), S. 36. Die deutsche Fassung stammt aus dieser Ausgabe, S. 37.
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sprüche und Parteienkämpfe innerhalb der französischen Schulen relativieren. Sowohl der Parnass eines Leconte de Lisle, als auch die „dekadente“ Ästhetik eines Baudelaire mussten ihm als das Produkt eines für den Künstler verwirrenden sozialen Umfelds erscheinen. Was der Autor der Fleurs du Mal seiner Zeit vorausgreifend profezeite und analysierte, war für Leconte bereits eine konkrete Bedrohung, der er mit den perfekt konstruierten Versen des Parnass begegnete. Gutiérrez Nájera sah darin nur zwei Erscheinungsformen der gleichen Problematik.185 Nach dem Tod ihres prominentesten Redakteurs distanziert sich die RA allmählich von Romantik und Parnass, um sich der „Schule“ Baudelaires und seiner Nachfolger anzunähern. Der Verlust des Kritikers Gutiérrez Nájera sollte durch mehr von französischen Autoren gezeichnete Beiträge wettgemacht werden. Selbst bei der Auswahl romantischer Beiträge sind die Herausgeber darauf bedacht, Texte mit im weitesten Sinne dekadentem Charakter zu fördern. In diesem Sinne findet sich am 24. Februar 1895 ein Fragment der Confession d´un enfant du siècle Mussets, in dem es, in der Übersetzung der Zeitschrift, heißt: „no esperes á la vejez, ni dejes un hijo sobre la tierra: la sangre corrompida no debe ser fecunda. Desvanécete como el humo; no robes al grano de trigo que germina el aire y el sol de que tú disfrutas“ (warte nicht auf das Alter, lass kein Kind auf der Erde: das verfaulte Blut darf nicht fruchtbar sein. Löse dich wie der Rauch auf; stiehl dem treibenden Weizenkorn nicht die Luft und die Sonne, die du genießt; RA, Bd. 2, S. 266). Der Pessimismus dieses Abschnitts ist ein vorgezogener Reflex der schwermütigen Helden, die die Romane und Erzählungen der lateinamerikanischen Narrativik in den letzten Jahren des 19. und den ersten des 20. Jahrhunderts bevölkern, und die ihre Verwandtschaft mit Des Esseintes, dem Prototyp des dekadenten Helden, nicht verstecken können, noch wollen. Die RA bereitet das mexikanische Publikum auf die Rezeption einer radikaleren und mit ihren ästhetischen und ideologischen Zielen konsequenteren Literatur vor.186 Das letzte Wort gehört Baudelaire. Gegen Ende ihres knapp zweijährigen Erscheinens druckt die RA zwei Fragmente der mythischen Paradis artificiels des Franzosen ab. Am 29. September 1895 publiziert die Zeitschrift ‘El Haschisch’, ein irreführender Titel, da es sich auch um den gleichnamigen Text Théophile Gautiers handeln könnte. Die RA integrierte jedoch Teile von ‘Le Poëme du haschisch’, dem Kernstück der künstlichen Paradiese. Der von Baudelaire ‘Le théatre de Sérâphin’ betitelte Abschnitt, der die physiologischen und psychologischen Effekte des Drogenkonsums beschreibt, findet sich in der Publikation. Der Text stellt eine ästhetische Theorie dar, die in erster Linie die Überempfindlichkeit der
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Eine andere Reaktion, vielleicht die bequemste, stellt die Evasion dar, die in der RA besonders in den sehr positiven Verweisen auf die Romane Pierre Lotis präsent ist. Am 3. März 1895 empfiehlt ein mit A.C. gezeichneter Artikel die Romane Lotis als Medizin für Leser, die an der Dekadenz der Gattung leiden: „la novela afrodisíaca, la cantárida literaria, que empieza por el impudor y acaba con la náusea“ (der afrodisische Roman, die literarische Kantharide, die mit der Schamlosigkeit beginnt und mit dem Ekel endet) können mit der moralischen Gesundheit der Texte Lotis bekämpft werden (RA, Bd. 2, S. 277f.). Die Veröffentlichung von Couto Castillos ‘La canción del ajenjo’ am 31. Mai 1896 unter der bezeichnenden Rubrik ‘Poemas locos’ (Verrückte Gedichte) unterstreicht den Wandel der Zeitschrift. Vgl. RA, Bd. 5, S. 77f.
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Sinne unter Drogeneinfluss betont; die Sprache dient nicht mehr länger nur zur Kommunikation, sondern erlangt unerwartete Eigenschaften: Les mots les plus simples, les idées les plus triviales prennent une physionomie bizarre et nouvelle; vous vous étonnez même de les avoir jusqu´à présent trouvés si simples. Des ressemblances et des rapprochements incongrus, impossibles à prevoir, des jeux de mots interminables, des ébauches de comique, jaillissent continuellement de votre cerveau. Le démon vous a envahi. (Die einfachsten Wörter, die trivialsten Ideen gewinnen eine bizarre und neuartige Physiognomie; ihr überrascht euch sogar, sie bis jetzt so einfach gefunden zu haben. Ähnlichkeiten und ungehörige Annäherungen, die nicht vorherzusehen sind, nicht endende Wortspiele, komische Skizzen strömen ständig aus eurem Hirn. Der Dämon hat euch erobert.)187
In einer späteren Phase kommt es zu Übertragungen intellektueller Konzepte und v. a. zu synästhetischen Effekten. Die Musik wird besonders intensiv wahrgenommen: C´est alors que commencent les hallucinations. Les objets extérieurs prennent lentement, successivement, des apparences singulières; ils se déforment et se transforment. Puis arrivent les équivoques, les méprises et les transpositions d´idées. Les sons se revêtent de couleurs, et les couleurs contiennent une musique. (Nun beginnen die Halluzinationen. Die Objekte nehmen langsam, allmählich eigenartige Erscheinungen an, sie verformen und verwandeln sich. Danach kommen die Irrtümer, die Versehen und die Ideenübertragungen. Die Töne kleiden sich mit Farben und die Farben enthalten eine Musik.)188
Die Zeitwahrnehmung relativiert sich: In eine Stunde passt ein ganzes Menschenleben (S. 575). Baudelaires Faszination für die Droge ist offensichtlich. Seine künstlerischen Ideale scheinen sich in den Effekten des Haschisch wiederzufinden. Dennoch wehrt sich der Franzose gegen diese Verführung, da er in ihr auch die Versklavung des Intellekts erkennt. Baudelaire gibt sich nicht mit den bloßen Effekten zufrieden, er möchte sie auf bewusste Art und Weise herbeiführen. Er betont nachdrücklich die Überlegenheit des Intellekts über den Instinkt, über einen kurzlebigen von Haschisch oder Alkohol produzierten Drogenrausch. Schließlich beschreibt er den Haschischkonsum als langsamen Selbstmord auf individuellem Niveau und als intellektuellen Tod einer ganzen Gesellschaft.189 Die RA verschweigt Baudelaires Warnungen vor der Droge nicht, auch seine Zweifel an ihrem künstlerischen Wert finden sich. Dennoch mussten die beschriebenen Effekte des Haschisch – damals wie heute – die Leser mehr anziehen, als die katastrophalen Auswirkungen der Abhängigkeit. Baudelaires Ästhetik fand einen zu plastischen und auffälligen Ausdruck und konnte von Redakteuren und Lesern der RA als künstlerisches Manifest der Jahrhundertwende aufgenommen werden. Die stilistische Perfektion des Parnass und die Idyllen der Romantik bleiben hinter der Symbolfigur Baudelaire zurück, mit der die Zeitschrift der Herausforderung einer neuen Ästhetik begegnet. Im Sinne Gutiérrez Nájeras kommt es jedoch zu keiner Schulenbildung: Dekadentismus, Parnass und Romantik können 187 188 189
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Charles Baudelaire, Les Paradis artificiels, in Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 571f. Baudelaire, Les Paradis artificiels, S. 575. Baudelaire, Les Paradis artificiels, S. 583. Nicht umsonst betitelt sich der zweite Teil von Les Paradis artificiels ‘Un mangeur d´opium’, das heißt die Übersetzung von Teilen des berühmten Werkes Thomas de Quinceys, das „abschreckende“ Zeugnis eines Drogenabhängigen wird eingefügt.
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in den Seiten der RA immer noch nebeneinander existieren und unterstreichen damit einmal mehr den eklektischen Charakter des mexikanischen Modernismo. In diesen Kontext fällt auch die Publikation eines Textes von Catulle Mendès am 5. Jänner 1896 unter dem Titel ‘Lo que desean las lágrimas’.190 Der Wassertropfen verwandelt sich symbolisch in eine Perle und diese in eine Träne, die als unüberbietbarer Gipfel der Schönheit angesehen wird. Romantische Schönheit und finisekuläre Verzweiflung finden sich auf diese Weise Seite an Seite, doch das zweite Konzept dominiert. Diese Metafer, die keinerlei Gültigkeitsanspruch erhebt, kann immerhin die Ästhetik der RA am Ende des 19. Jahrhunderts verdeutlichen: eine sinnliche Ästhetik, die den Künstlern und Schriftstellern des Porfiriats erlaubte, außerhalb eines für sie frustrierenden und monotonen Alltags zu leben und zu produzieren. Der politische und gesellschaftliche Stillstand in der Ära Don Porfirios förderte diese Ästhetik, da er eine Beschäftigung mit sozialen Themen fast unmöglich machte, aber gleichzeitig die für den künstlerischen Produktionsprozess als notwendig erachtete Stabilität zu sichern schien. Die künstlichen Paradiese des Intellekts erwiesen sich als logischer Ausweg aus dieser ideologischen Falle Am 26. Jänner 1896 reproduziert die RA das berühmte Prosagedicht Baudelaires ‘Enivrez-vous’, das in diesem Zusammenhang als Programmschrift der um 1900 arbeitenden Autoren gelesen werden kann, die von vielen zu wörtlich genommen wurde: Il faut être toujours ivre. Tout est là: c´est l´unique question. Pour ne pas sentir l´horrible fardeau du Temps qui brise vos épaules et vous penche vers la terre, il faut vous enivrer sans trêve./Mais de quoi? De vin, de poésie ou de vertu, à votre guise. Mais enivrez-vous. (Man muss immer berauscht sein. Das ist alles: das ist die einzige Frage. Um die schreckliche Last der Zeit, die eure Schultern ermüdet und euch zu Boden drückt, nicht zu fühlen, müsst ihr euch ohne Unterlass berauschen./Aber womit? Mit Wein, mit Dichtung oder mit Tugend, nach eurem Geschmack.)191
Es wäre ein verhängnisvoller Fehler, aus diesem Text Baudelaires eine Ästhetik des Rausches und der Sucht ablesen zu wollen. Die Sinne befinden sich bei dem französischen Dichter immer auf einer dem Intellekt untergeordneten Ebene und illustrieren „nur“ das Potential der künstlerischen Arbeit. Die Bedeutung des Autors der Fleurs du Mal für die mexikanische Literatur der Jahrhundertwende, die aus seiner Stellung innerhalb der RA abzulesen ist, macht eine genauere Analyse seiner Ästhetik notwendig.
2.1.3. Baudelaires Ästhetik und ihr Reflex in der Revista Azul Für Matei Calinescu steht Baudelaire am Beginn einer paradoxen ästhetischen Moderne, da der Franzose künstlerisch modern, aber politisch reaktionär sein musste.192 Einerseits
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Mendès gehört ohne Zweifel zu den von den Modernisten bevorzugten Autoren. Seine heutige Randstellung innerhalb der Literaturkritik spielt dabei natürlich keine Rolle. Baudelaire: Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 173.
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akzeptiert Baudelaire die technologischen Neuerungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und versucht, sie in seine Poesie zu integrieren, andererseits kann er eine bürgerliche und merkantilistische Gesellschaft nicht gut heißen, die den „unproduktiven“ Künstler von diesem Fortschritt fernhält. Baudelaire war kein Maschinenstürmer, so Calinescu, im Gegenteil, er behandelte ein Gedicht wie eine gut konstruierte Maschine,193 aber er nahm dezidiert gegen eine utilitaristische bürgerliche Gesellschaft Stellung, die er besonders in den USA lokalisierte. Seine Schriften über Edgar Allan Poe zeigen dies mit einiger Deutlichkeit. Der nordamerikanische Dichter wird bei Baudelaire zum Prototyp des ausgegrenzten Künstlers, wobei seine Randstellung nicht auf einem freiwilligen Verzicht basiert, sondern aus einem Leben ohne Hoffnung auf Anerkennung und Verstehen besteht. 1852 vergleicht Baudelaire die US-Gesellschaft mit einem Gefängnis für den genialen Künstler Poe: „les États-Unis furent pour Poe une vaste cage, un grand établissement de comptabilité, et qu’il fut toute sa vie de sinistres efforts pour échapper à l’influence de cette atmosphère antipathique“ (die USA waren für Poe ein weiter Käfig, ein großes Buchhaltungsbüro und er hat sein ganzes Leben lang unheimliche Anstrengungen unternommen, um dieser antipathischen Atmosphäre zu entkommen).194 Der französische Dichter klagt die Ideologie des time is money an, vor der Poe in den Alkohol geflüchtet sei. Für Baudelaire ist Poe der erste bewusste Bohémien, der sich systematisch unter Drogeneinfluss begibt, um dichterische Visionen zu finden, die ihm seine Umgebung nicht bieten kann.195 Viele Jahre vor Huysmans stellt sich Poe in den Texten Baudelaires als das eigentliche Modell des dekadenten Helden dar: isoliert innerhalb einer bürgerlichen Gesellschaft, die die ästhetischen und idealistischen Werte des Künstlers nicht verstehen kann und will, und deshalb Zuflucht suchend in den künstlichen Paradiesen. Nur dessen fabelhaftes Vermögen fehlte Poe, um sich in einen Des Esseintes avant la lettre zu verwandeln. Der Vergleich Edgar Allan Poe/Des Esseintes kann die von Calinescu nicht berücksichtigte paradoxe Situation der europäischen und lateinamerikanischen Jahrhundertwende illustrieren. Der Künstler träumt davon, ein dandy, ein flâneur zu sein, ein gelangweilter Dekadenter, der in extravaganten ästhetischen (und erotischen) Finessen sein Vergnügen sucht; aber seine tatsächliche ökonomische Lage widerspricht diesem Traum auf beinahe groteske Art und Weise.196 Schon Baudelaire analysierte den brutalen Kontrast zwischen poetischer Illusion und ökonomischer Realität des Künstlers, indem er wie nebenbei Edgar Allan Poe einen messianischen Status verlieh: „Edgar Poe, ivrogne, pauvre, persécuté, paria, me plaît plus que calme et vertueux, un Goethe ou un W. Scott. Je dirais volontiers de lui et d´une classe particulière d’hommes, ce que le catéchisme de notre Dieu: <>“ (Der betrunkene, arme, verfolgte Edgar Poe, ein Paria, gefällt mir mehr als die ruhigen und tugendhaften Goethe und W. Scott. Ich würde von ihm und 192 193 194 195 196
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Matei Calinescu, Five faces of modernity. Modernism, avant-garde, decadence, Kitsch, postmodernism (Duke University Press, 1987), S. 56. Calinescu, Five faces of modernity, S. 57f. Baudelaire, Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 320. Baudelaire, Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 328f. Ich verweise v. a. auf die Memoiren Campos und Tabladas, in denen sich zahlreiche Beispiele aus der modernistischen Szene Mexikos finden, die diese Situation verdeutlichen.
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von einem speziellen Menschenschlag das sagen, was der Katechismus von unserem Gott sagt: „Er hat zu viel für uns gelitten“).197 Die von dem französischen Dichter beschriebene Figur wird sowohl in der französischen, als auch in der lateinamerikanischen Literatur zahlreiche Manifestationen haben: der Pauvre Lelian Verlaine und der halbwüchsige „Zombi“ Couto Castillo, der in den Bars der mexikanischen Haupstadt herumzog, sind nur zwei Beispiele unter vielen. Die Theorien Baudelaires gewinnen in den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts Gestalt, ohne Zweifel dank seiner Lektüre Edgar Allan Poes. Sie zeichneten sich zuvor insbesondere in seinen Schriften über die plastischen Künste ab. Die Entwicklung der Thesen des Franzosen lässt sich an zwei Artikeln, die er über die Pariser Kunstsalone der Jahre 1846 und 1859 schrieb, nachzeichnen. In ‘Salon de 1846’ zeigt sich der Kunstkritiker Baudelaire noch als Erbe der Romantik. Die Kunst müsse die Schönheit mittels der Gefühle, der Leidenschaften und der Träume des Individuums ausdrücken.198 Trotz dieser romantischen Spuren entfernt sich Baudelaire in ‘Salon de 1846’ zunehmend von einer Ästhetik, die das Genie und einen Schaffensprozess in den Mittelpunkt stellt, der in Wirklichkeit kein Prozess ist, da er auf einer momentanen Inspiration beruht. Baudelaire unterstreicht seinerseits, dass der Künstler auch ein sehr bewusster Arbeiter ist. Es gibt keinen Zufall, stellt er kategorisch fest, die künstlerischen Effekte in Malerei, Bildhauerei und Dichtung sind das Resultat des „raisonnement“.199 Dieses Nachdenken könne die in allem verborgene Poesie offenbaren. Die bekannten correspondances, die keineswegs eine Erfindung Baudelaires sind,200 197
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Baudelaire, Œuvres complètes (Paris, Éditions du Seuil, 1968), S. 336. An anderer Stelle, im Zusammenhang mit dem Maler Constantin Guys, gibt Baudelaire die Definition eines dandys und unterstreicht dabei die Notwendigkeit der ökonomischen und zeitlichen Unabhängigkeit: „Ces êtres n’ont pas d’autre état que de cultiver l’idée du beau dans leur personne, de satisfaire leurs passions, de sentir et de penser. Ils possèdent ainsi, à leur gré et dans une vaste mesure, le temps et l’argent, sans lesquels la fantaisie, réduite à l’état de rêverie passagère, ne peut guère se traduire en action“ (Diese Wesen haben nur die Idee des Schönen an ihrer Person zu kultivieren, ihre Leidenschaften zu befriedigen, zu fühlen und zu denken. Sie haben auch die Zeit und das Geld in großer Menge zur Verfügung, ohne die die Fantasie, auf den Stand der Träumerei reduziert, nie zur Aktion werden kann; Baudelaire, Œuvres complètes, Paris: Éditions du Seuil, 1968, S. 559). Diese Definition nimmt einem Großteil der Künstler die Möglichkeit, dandy zu sein. Baudelaire, Œuvres complètes (Paris, Éditions du Seuil, 1968), S. 229. Baudelaire, Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil ,1968), S. 234. Es handelt sich um eine Idee, die auf die antike Klassik zurückgeht und von der europäischen Renaissance wiederaufgenommen wurde, unter anderen von Pico della Mirandola, der sie im 15. Jahrhundert in Texten wie seinem Heptaplus ausdrückte. Es geht um eine logische Schlussfolgerung: Wenn Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat, müssen sich auch die Größe und Güte Gottes im Menschen finden lassen. Das Diesseits und das Jenseits sind demnach gegenseitige Spiegelbilder (Vgl. Pico della Mirandola, On the Dignity of Man. On Being and the One. Heptaplus, übersetzt von Charles Glenn Wallis, Paul J.W. Miller und Douglas Carmichael, Indianopolis/New York: The Bobbs-Merrill Company, 1965, S. 77ff.). Im gleichnamigen Gedicht Baudelaires in den Fleurs du Mal heißt es: „La Nature est un temple où de vivants piliers/Laissent parfois sortir de confuses paroles;/L’homme y passe à travers des forêts de symboles/Qui l’observent avec des regards familiers“ (Natur: ein Tempelbau, lebendige Säulen ragen,/Manchmal daraus ein wirres Wort entflieht;/Der Mensch durch Wälder von Symbolen zieht,/Die mit vertrauten Blicken ihn befragen; Baudelaire, Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen, zweisprachige Ausgabe, Stuttgart: Philipp Reclam, 1980, S. 18, deutsch S. 19). Die Vorstellung vom Dichter, der mit seiner verfeinerten Sensibilität zwischen den Welten vermitteln, die Symbole entziffern kann, nimmt hiervon ihren Ausgang und verbreitet
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zeichnen sich hier ab. Auf diese Weise eröffnet der Autor von ‘Le spleen de Paris’ der Literatur neue Themen, schafft in erster Linie die Basis für eine Stadtpoesie, deren führender Exponent er selbst sein sollte. Gleichzeitig arbeitet er, ohne es zu wissen, an der Festlegung des Mythos Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts mit, der die modernistische Generation Lateinamerikas in seinen Bann zog: Le spectacle de la vie élégante et des milliers d’existences flottantes qui circulent dans les souterrains d’une grande ville, – criminels et filles entretenues, – la Gazette des Tribunaux et le Moniteur nous prouvent que nous n’avons qu’à ouvrir les yeux pour connaître notre héroïsme [...] La vie parisienne est féconde en sujets poétiques et merveilleux. Le merveilleux nous enveloppe et nous abreuve comme l’atmosphère; mais nous ne le voyons pas. (Das Spektakel des eleganten Lebens und der tausenden schwebenden Existenzen, Kriminelle und leichte Mädchen, die in den Untergründen einer großen Stadt ihre Kreise ziehen, – die Gazette des Tribunaux und der Moniteur zeigen uns, dass wir nur die Augen öffnen müssen, um ihren Heroismus zu erkennen [...]. Das Pariser Leben ist fruchtbar an poetischen und wunderbaren Subjekten. Das Wunderbare hüllt uns ein und tränkt uns wie die Atmosphäre; aber wir sehen es nicht.)201
Baudelaire fordert vom Künstler, die Augen zu öffnen, um die Poesie in seiner unmittelbaren Umgebung sehen zu können. Es handelt sich nicht notwendigerweise um eine Ästhetik des Hässlichen, auch um keinen endgültigen Bruch mit der Romantik (das Hässliche und das Wunderbare sind auch zentrale Bestandteile der romantischen Ästhetik), was Baudelaire in erster Linie der Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermittelt ist das urbane Thema: die Unterwelten, Gefahren und Schönheiten der Stadt. 13 Jahre später sieht sich Baudelaire ausgerechnet in der Welt Paris gefangen. In ‘Salon de 1859’ beklagt er sich bitter über ein kapitalistisches Bürgertum, das mittelmäßige Künstler unterstützt: „Que d’honneurs, que d’argent prodigués à des hommes sans âme et sans instruction!“ (Welche Ehren, wieviel Geld werden an seelen- und bildungslose Männer gegeben!).202 Die Künstler seien unsensible Imitatoren geworden: „L’imitateur de l’imitateur trouve ses imitateurs“.203 Gegenüber diesem beklagenswerten Zustand der Künste findet Baudelaire nur einen Ausweg: die Vorstellungskraft. Der zunehmende Einfluss des Realismus, besonders in der Erzählkunst, die Dominanz eines bürgerlichen (sprich mittelmäßigen) Geschmacks führen Baudelaire dazu, seine Ästhetik neu zu formulieren. Die Natur hat nun kein Recht mehr, sich poetisch zu nennen. Die Fantasie übertrifft sie in allen Aspekten, das heißt, die Ästhetik Baudelaires wird definitiv artifiziell: „La nature est laide, et je prefère les monstres de ma fantaisie à la trivialité positive“ (Die Natur ist hässlich und ich ziehe die Monster meiner Fantasie der positiven Trivialität vor).204 Der wirkliche Künstler verleiht den Bildern und Zeichen Leben, die sich überall verbergen, er ist der Vermittler zwischen einer mittelmäßigen Realität und einer viel wertvolleren symbolischen Welt. Sein einziges Werkzeug ist die Vorstellungskraft:
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sich höchst erfolgreich in der europäischen Literaturgeschichte. Sie ist, zumindest als Thema in seinen Essays, auch noch im Werk eines Octavio Paz anzutreffen. Baudelaire, Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 260f. Baudelaire, Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 392. Baudelaire, Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 393. Baudelaire, Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 396.
Die literarischen Zeitschriften
Tout l’univers visible n’est qu’un magasin d’images et de signes auxquels l’imagination donnera une place et une valeur relative; c’est une espèce de pâture que l’imagination doit digérer et transformer. Toutes les facultés de l’âme humaine doivent être subordonnés à l’imagination, qui les met en réquisition toutes à la fois. (Das gesamte sichtbare Universum ist nur ein Lager von Bildern und Zeichen, denen die Vorstellungskraft einen Platz und relativen Wert gibt; es ist ein Art Futter, das die Vorstellungskraft verdauen und verwandeln muss. Alle Fähigkeiten der menschlichen Seele müssen der Vorstellungskraft untergeordnet werden, die sie alle gleichzeitig in Anspruch nimmt.)205
Vier Jahre vor seinem Tod scheint Baudelaire die Formel gefunden zu haben, mit der der Künstler in der modernen Gesellschaft überleben kann. In ‘Le peintre de la vie moderne’, Ende 1863 in Le Figaro publiziert und Constantin Guys gewidmet, reserviert er dem Künstler eine wichtige Nische in einer für ihn verwirrenden Welt, die sich zu Zeiten Baudelaires langsam abzeichnete. Der Autor erklärt, dass die Schönheit aus zwei Elementen besteht: das eine ewig und unveränderlich, das andere an die Zeitumstände gebunden. Das erste erscheint unerreichbar, das zweite wird als etwas oberflächliche Verpackung beschrieben: die Epoche, die Moden, die Moral, die Leidenschaften.206 Jeder Künstler habe Zugang zum zweiten Element, aber nur der wirkliche Schöpfer habe die Fähigkeit, das erste wahrzunehmen. Das moderne Leben sei bedeutungslos in diesem Zusammenhang, da die Kunst nicht von ihm abhänge, sondern sich nur in diesen Annäherungen an das zweite, überzeitliche Element finde: „La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable“ (Die Modernität ist das Veränderliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist).207 Auf diese Weise klammert Baudelaire die moderne Welt, die seiner Meinung nach antiästhetische bürgerliche Gesellschaft Frankreichs im 19. Jahrhundert aus. Er schließt sie aus seiner imaginären Welt aus und nimmt nur das auf, was seiner Kunst dienen kann: in erster Linie das vielseitige Leben in der Großstadt. Die negativen Aspekte, v. a. das Bewusstsein, einen im bürgerlichen Sinne nutzlosen Beruf auszuüben, weit entfernt von der politischen und wirtschaftlichen Macht zu sein, bzw. ihr manchmal als subalterner Angestellter zu dienen, werden hintangestellt. Baudelaire konstruiert damit einen sehr bequemen und für mehrere literarische Schulen bewohnbaren Elfenbeinturm. Er scheint zu sagen: Berauscht euch mit Drogen oder mit Kunst, ignoriert eine Gesellschaft, die euch nicht versteht, da euch ihr Urteil gleichgültig ist. Seid euch eurer Überlegenheit bewusst, denn ihr kennt die göttlichen Geheimnisse! Unschwer ist auch in dieser Position eine romantische Basis zu erkennen. Die schwierige Stellung des Künstlers gegenüber den politisch und ökonomisch herrschenden Schichten, deren ästhetischer Geschmack in Frage gestellt wird, wurde auch schon in Goethes Werther angesprochen. Die zunehmende Ausgrenzung der Künstler am Ende des 19. Jahrhunderts und, speziell im Mexiko Don Porfirios, ihre völlige politische Bedeutungslosigkeit, verliehen dieser Trotzhaltung jedoch neuen Wert und neue Dimensionen. Die Revista Azul akzeptierte die Theorien Baudelaires denn auch zur Gänze, da sie sich außerdem als sehr flexibel erwiesen, um diverse Tendenzen zu integrieren. Es ist das Verdienst der RA, diese „moderne“ 205 206 207
Baudelaire, Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 399. Baudelaire, Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 550. Baudelaire, Œuvres complètes (Paris: Éditions du Seuil, 1968), S. 553.
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Ästhetik einem breiteren Publikum vermittelt zu haben, wenn auch auf eklektische und wenig systematische Weise. Der Gemeinplatz vom armen und von der Gesellschaft nicht verstandenen Künstler war in Mexiko bereits aus früheren Texten in den Kulturteilen der Tagespresse bekannt,208 der Charakter der RA als einer ausschließlich Kunst und Literatur gewidmeten Zeitschrift verlieh diesen Ideen jedoch mehr Gewicht und Prestige.
2.1.4. Das Publikum der Revista Azul: Exklusivismus? „Ein breiteres Publikum“ sagt und schreibt sich sehr leicht. Aber konnte die RA tatsächlich mit einer größeren Zahl von Lesern rechnen? Es handelt sich ohne Zweifel um eine elitäre Publikation, um den kulturellen Anhang einer großen Tageszeitung, die die Anliegen einer liberalen Politik vertrat, ohne eine wirkliche Opposition für das Regime Porfirio Díaz darzustellen. Welche Verbreitung konnte eine Zeitschrift dieser Art haben? Und, vor allem: Hatten die Intellektuellen, die Gebildeten, leichten Zugang zur RA? Ich versuche ein kleines Zahlenspiel, um mich einer Antwort auf diese Fragen zu nähern.
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Bereits 1876 spricht der 17-jährige Gutiérrez Nájera in einem in sechs Teilen von El Correo Germánico unter dem Titel ‘El arte y el materialismo’ veröffentlichten Artikel von einem „asqueroso y repugnante positivismo“ (ekelhaften und abstoßenden Positivismus). Der zukünftige Duque Job polemisiert mit Pantaleón Tovar, der im Monitor Republicano schrieb, und proklamiert: „Lo que nosotros combatimos y combatiremos siempre, es esa materialización del arte, ese asqueroso y repugnante positivismo que en mal hora pretende introducir en la poesía; ese cartabón ridículo a que se pretende someter a todos los poetas, privándoles así de la libertad; cartabón que excluye como inútiles o maléficos a todos los géneros sentimentales, y que sólo acepta al mal llamado género realista“ (Was wir bekämpfen und immer bekämpfen werden ist die Materialisierung der Kunst, diesen ekelhaften und abstoßenden Positivismus, der zur Unzeit dieses lächerliche Maß in der Poesie einführen möchte, dem alle Dichter untergeordnet und so ihrer Freiheit beraubt werden sollen; ein Maß, das alle sentimentalen Genres als unnütz und schädlich ausschließt und nur das schlecht genannte realistische Genre zulässt; Gutiérrez Nájera, Obras. Crítica literaria, hg. v. E. K. Mapes, in Obra, Bd. 1, México: UNAM, 1959, S. 53). Der junge Schriftsteller etabliert drei Bedingungen für die Kunst: „1o. Que el arte tiene por objeto la consecución de lo bello; 2o. que lo bello no puede encontrarse en la materia, sino con relación al espíritu; y 3o. que el amor es una inagotable fuente de belleza“ (1°. Die Kunst muss die Ausführung des Schönen zum Ziel haben; 2º. das Schöne kann sich nicht in der Materie finden, sondern nur in Verbindung mit dem Geist; und 3º. die Liebe ist eine unerschöpfliche Quelle der Schönheit; S. 54). Auf diese Weise erweist sich Gutiérrez Nájera noch viel mehr als Epigone der Romantik, denn als Vertreter der modernen Kunst. 1876 war in Mexiko ein zu frühes Datum, um die Theorien Baudelaires zu empfangen. Erst zehn bis 15 Jahre später, und verstärkt mit dem Erscheinen der RA, werden seine Schriften zu einem wichtigen Bestandteil der künstlerischen Diskussion in dem mittelamerikanischen Land. Auch wenn Belem Clark de Lara an mehreren Stellen ‘El arte y el materialismo’ als Initiation des mexikanischen (und gesamtamerikanischen) Modernismo interpretiert, wird gerade an der marginalen Stellung Baudelaires in Gutiérres Nájeras Artikel deutlich, wie sehr dieser noch unter dem Einfluss der französischen Hochromantik steht: „Al lado de Las flores del mal de Charles Baudelaire, podemos ver aun Las contemplaciones de Víctor Hugo ...“ (S. 62). Der Duque Job zitiert aus ‘Le goût du Néant’, einem Gedicht, das erst in der Ausgabe der Fleurs du Mal von 1861 enthalten war, indem er auf Distanz zur Baudelairschen Ästhetik geht und ihn als hoffnungslosen poète maudit anspricht, der sich in Drogenparadiesen verlor.
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Florence Toussaint gibt divergierende Ziffern über das Leserpotential im Mexiko des Porfiriats. Von 1877 bis 1910 wuchs die Bevölkerung des Landes von neun auf 15 Millionen an.209 Rund 80 % davon lebten auf dem Land, in Orten unter 5.000 Einwohnern, 11 % in Ansiedlungen zwischen 5.000 und 20.000 Einwohnern und nur neun Prozent in größeren Städten. Die Verteilung der Periodika in den Regionen war mangelhaft und reduzierte von vornherein das Leserpotential für die RA. Nur die Hauptstadt, die zu Beginn des Porfiriats etwa 300.000 Einwohner hatte,210 konnte mit einer guten Distribution rechnen. Der Prozentsatz der alphabetisierten Bevölkerung wuchs langsam. 1895 waren wie erwähnt nur etwas über 14 % der mexikanischen Bevölkerung in der Lage, zu lesen und zu schreiben. 15 Jahre später war diese alphabetisierte „Elite“ auf 20 % angewachsen, wobei die Hauptstadt mit 50 % die weitaus höchste Nummer aufwies.211 Ausgehend von diesen Daten schätzt Florence Toussaint, dass – sehr optimistisch – ein Anteil von zehn Prozent der Bevölkerung Leser einer Zeitung sein konnte. Für das Porfiriat hätte dem etwa eine Million Personen entsprochen. Es gibt jedoch weitaus pessimistischere Schätzungen, die von nur 20.000 potentiellen Lesern sprechen. Beide Ziffern sind wohl übertrieben, geben aber dennoch ein gutes Bild von dem sehr reduzierten Markt, mit dem das „Geschäft“ Journalismus rechnen konnte. Auch der Preis der Publikationen war ein Hindernis für ihren Verkauf. Obwohl er dank technologischer Fortschritte im Druckereiwesen während des Porfiriats fiel, kostete eine Zeitung im Durchschnitt zwischen drei und sechs Centavos und konnte in Extremfällen 50 Centavos erreichen,212 womit „cada ejemplar podía costar más que un kilo de maíz“ (jedes Exemplar konnte mehr kosten als ein Kilo Mais).213 Hier über die Präferenzen der Konsumenten zu spekulieren wäre zynisch. 1891 verdiente ein Minenarbeiter zwischen 25 und 50 Centavos täglich. Wenn man von einem Preis von sechs Centavos für eine Tageszeitung ausgeht, hätte er zwischen 15 und 25 Prozent seines Einkommens nur für den Kauf eines Exemplars ausgeben müssen. Etwas überraschend war das Einkommen der Lehrer um 1900 weitaus besser; sie konnten bis zu fünf Pesos täglich verdienen, was ihnen den Erwerb eines oder mehrerer Periodika ermöglichte. Dennoch sieht das Gesamtbild ziemlich trostlos aus. Die Leser stellten eine wirkliche Elite dar. Oder sie waren Idealisten, die manchmal wohl vor der Wahl standen: lesen oder essen. Florence Toussaint fasst die Situation überzeugend zusammen: Para quien ganara 50 centavos diarios y tuviera que mantener a tres o más hijos, distraer tres centavos cotidianamente o 6 a la semana de su jornal para comprar un periódico era casi impensable. Los diarios se constituían en artículos de lujo para clases medias y de consumo cotidiano para las clases pudientes. Es casi seguro que sus adquirientes estaban, en primer lugar, entre los mismos periodistas, luego entre los políticos, 209
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Diese und die folgenden Zahlen stammen aus Florence Toussaint Alcaraz, Escenario de la prensa en el Porfiriato (México: Fundación Manuel Buendía, 1989), S. 67ff., sowie aus Georgina Naufal, ‘La economía mexicana en la primera década del siglo XX’, in Revista Moderna de México 1903-1911, Bd. 2: Contexto, hg. v. Belem Clark de Lara und Fernando Curiel Defossé (México: UNAM, 2002), S. 49-75, hier S. 58. Bis 1910 wuchs ihre Bevölkerung auf knapp 500.000 an. Mílada Bazant, Historia de la educación durante el Porfiriato (México: El Colegio de México, 1993), S. 95. Toussaint, Escenario de la prensa en el Porfiriato, S. 16. Toussaint, Escenario de la prensa en el Porfiriato, S. 69.
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administradores, miembros de la jerarquía burocrática, los comerciantes, los industriales, los maestros y algunos estudiantes adinerados. (Für jemanden, der 50 Centavos täglich verdiente und drei bis vier Kinder erhalten musste, war es fast undenkbar, täglich drei Centavos oder sechs wöchentlich von seinem Lohn abzuzweigen, um eine Zeitung zu kaufen. Die Tageszeitungen waren ein Luxusartikel für den Mittelstand und täglicher Konsum für die mächtigen Klassen. Fast sicher waren ihre Erwerber in erster Linie die Journalisten selbst, Politiker, Verwalter, Mitglieder der bürokratischen Hierarche, Händler, Industrielle, Lehrer und einige reiche Studenten.)214
Die Intellektuellen schreiben und ihre Leser sind wieder Intellektuelle, sowie die Minderheit der politisch oder ökonomisch Mächtigen. Diese Konstellation hatte für das europäische Barock Gültigkeit und ist am Ende des 19. Jahrhunderts in Lateinamerika immer noch aktuell. Ich füge noch das konkrete Beispiel eines Intellektuellen hinzu: Rubén M. Campos, treuer Mitarbeiter der Zeitschriften seiner Zeit und weitgehend erfolgloser Dichter der Modernistengruppe. Campos arbeitete in verschiedenen administrativen Posten der Regierung, er war keineswegs ein professioneller Schriftsteller. Seine erste Anstellung bekam er von der SEP (Secretaría de Educación Pública – Erziehungsministerium) als Verwalter der Revista de Instrucción Pública Mexicana. Campos verdiente 40 Pesos im Monat, also etwas mehr als einen Peso pro Tag.215 In späteren Anstellungen, schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, erreichte sein Gehalt zwischen 170 und 300 Pesos monatlich. Diese Summen erscheinen relativ hoch. Man darf jedoch nicht vergessen, dass Campos Alleinerhalter einer Familie war und außerdem die Notwendigkeiten eines Intellektuellen bezahlen musste: Bücher, Papierwaren und natürlich Zeitschriften. Die wöchentlich erscheinende Revista Azul kostete zwölfeinhalb Centavos, also 50 Centavos im Monat. Für diese 50 Centavos hätte Campos in seinen besten Zeiten – und sehr optimistisch geschätzt – cirka eine Stunde arbeiten müssen. Ironische Schlussfolgerung: Campos war „gezwungen“, in den Zeitschriften seiner Zeit zu schreiben, um sie ohne ökonomische Gewissensbisse lesen zu können. Alle diese Daten lassen vermuten, dass die Revista Azul tatsächlich ein Organ für eine intellektuelle Minderheit war. Die Leser generell waren eine Minderheit, die Leser einer auf Literatur und Kunst spezialisierten Zeitschrift noch viel mehr. Folgerichtig konnte die französische Ästhetik, Baudelaires in erster Linie, die von der RA propagiert wurde, nur einen sehr kleinen Leserkreis erreichen. Die Klasse der Gebildeten hatte zwar Zugang zur RA, aus dem einfachen Grund, weil Produzenten und Leser einer Zeitschrift dieser Art einen in sich geschlossenen Zirkel bildeten; sie konnte jedoch mit keiner weiteren Verbreitung rechnen. Als kurz vor und kurz nach der RA die Erzählungen eines Amado Nervo und die schwermütigen Texte eines Couto Castillo erschienen, hatte das Publikum – und auch die Kritik – noch nicht den nötigen intellektuellen Hintergrund, um diese Werke angemessen empfangen zu können. Erneut waren die am besten vorbereiteten Leser der finisekulären Literatur Mexikos, die sich außerhalb des realistischen und modernistischen „mainstreams“ stellte (die Rubendariacos, wie José Asunción Silva sagen würde) die Autoren selbst. Auf diese Weise entstand ein literarischer „Teufelskreis“: Eine der Prämis214 215
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Toussaint, Escenario de la prensa en el Porfiriato, S. 70. Miguel López López, Rubén M. Campos y su obra, tesis profesional (México: UNAM, 1964), S. 27.
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sen der modernen Ästhetik ist der vom Publikum nicht verstandene und isolierte Autor. Das Publikum konnte ihn nicht verstehen, da ihm der Zugang zu einer Publikation wie der RA weitgehend fehlte. Dadurch reagierte es feindlich gegenüber der mexikanischen Literatur der Jahrhundertwende, deren Vertreter – und damit schließt sich der Kreis – ihre elitäre und antibürgerliche Haltung intensivierten.216 In diesem Kontext erscheint eine knappe Analyse der Thesen Ángel Ramas in seinem Essay ‘La ciudad letrada’ aufschlussreich. Für den großen Kritiker aus Uruguay ist die lateinamerikanische Stadt ein intellektuelles Konzept.217 Die amerikanischen Siedler bauen neue Städte, das heißt, sie bauen neue Welten und zeigen sich damit bis zu einem bestimmten Grad unabhängig von der göttlichen Macht. Dadurch gewinnt das Zeichen Stadt eine unerwartete Stärke. Es ging darum, die Stadt für eine weit enfernte Zukunft zu „denken“, womit jedoch nicht die Straßen und Gebäude gemeint sind, sondern eine soziale Hierarchie, die wortwörtlich in den Plänen der neuen Städte des neuen Kontinents versteinert werden sollte.218 Möglicherweise verschwindet die reale Stadt, aber ihre Pläne bleiben und schaffen eine höchst statische Gesellschaft. Rama sieht in dieser Konzeption einen Reflex der Grammatik von Port Royal, also die Idee von einem ewig gültigen Zeichen, das unabhängig von dem von ihm repräsentierten Konzept ist: „Mientras el signo exista está asegurada su propia permanencia, aunque la cosa que represente pueda haber sido destruida“ (Solange das Zeichen existiert, ist sein eigenes Weiterbestehen garantiert, auch wenn die Dinge, die es repräsentiert, zerstört worden sein können).219 Es handelt sich demnach um einen Versuch, die herrschenden politischen und sozialen Bedingungen definitiv zu fixieren. Konsequenterweise leiteten die Gelehrten, als „Hüter“ des Zeichens, daraus eine gleichsam religiöse Machtstellung für sich ab. Sie waren eine in der kolonialen Gesellschaft verschwindende Minderheit, die dennoch eine entscheidende Rolle in der Bewahrung des status quo spielte: „en las capitales vireinales, hubo una ciudad letrada que componía el anillo protector del poder y el ejecutor de sus órdenes“ (in den vizeköniglichen Hauptstädten gab es eine gelehrte Stadt, die einen Schutzring der Macht und den Ausführer ihrer Befehle bildete).220 Das Genre war zweitrangig, für derartige Zwecke diente das Verfassen von Poesie oder von Gebrauchstexten gleichermaßen. Trotzdem waren die Gelehrten nur Diener – wenn auch sehr bedeutende – der Macht, sie durften sie nicht selbst ausüben.221 Ángel Rama fasst seine These überzeugend zusammen: „En territorios americanos, la escritura se constituiría en una suerte de religión secundaria, por tanto pertrechada para ocupar el lugar de las religiones cuando éstas comenzaron su declinación en el XIX“ (In amerikanischen Gebieten etablierte sich die Struktur als eine Art 216
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Natürlich spielte auch der politische Konflikt zwischen Liberalen und Konservativen eine wichtige Rolle. Trotz ihres neutralen Charakters war die RA der Anhang eines liberalen Organs. Nolens volens wurden ihre ästhetischen Ideen mit dem politischen Liberalismus identifiziert. Konsequenterweise musste sich die politisch konservative Kritik gegen die in ihr propagierten Ideen und Werke stellen. Ángel Rama, ‘La ciudad letrada’, in América latina. Palavra, Literatura e Cultura, hg. v. Ana Pizarro, 2 Bde. (Sao Paulo: Editora da Unicamp, 1994), Bd. 1, S. 565-588, hier S. 568. Mit seiner streng geometrischen Struktur stellt Puebla ein ausgezeichnetes Beispiel für die Ideen Ramas dar. Rama, ‘La ciudad letrada’, S. 573. Rama, ‘La ciudad letrada’, S. 580. Rama, ‘La ciudad letrada’, S. 584.
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Zweitreligion, die daher ausgerüstet war, um den Platz der Religionen zu übernehmen, als diese im 19. Jahrhundert ihren Niedergang begannen).222 Paul Bénichou beschrieb 1981 den gleichen Prozeß einer Sakralisierung der Literatur für die französische Romantik und kreierte dafür den Terminus poetische Priesterschaft.223 Es handelt sich um einen für die lateinamerikanische Kunst und Literatur entscheidenden Prozess. Die Vorliebe der Revista Azul für Texte, die – sowohl aus der eigenen, als aus der französischen Produktion stammend – die geistige Überlegenheit des Künstlers unterstrichen, ist eine logische Folge dieser Entwicklung. Am Ende des 19. Jahrhunderts nahm einerseits die Zahl der Gelehrten (im Sinne von des Schreibens und Lesens Kundigen) zu, andererseits verstärkte sich der Kontrast zwischen der Selbsteinschätzung der Gelehrten und ihrer tatsächlichen Rolle in der finisekulären Gesellschaft. Das Zeichen Gelehrter als quasireligiöser elitärer Hüter eines Geheimnisses wurde zu Beginn der Kolonie festgelegt und bewahrte auch um 1900 seine Gültigkeit, auch wenn die es konstituierende reale Situation längst verschwunden war. Das Zeichen konnte nichts mehr repräsentieren. Logischerweise konstituiert sich ein eschatologisches System, in dem das Zeichen auf weit entfernte Realitäten in der Vergangenheit oder in der Zukunft verweist. Die Revista Azul verkörperte ein derartiges System noch auf eklektische und beinahe naive Weise. In den folgenden Seiten versuche ich zu zeigen, dass sich diese Situation mit der Revista Moderna (RM), die weitaus langlebiger und einflussreicher war als ihre Vorgängerin, veränderte.
2.2. Die Revista Moderna 2.2.1. Einführung und Statistik Ohne Zweifel ist die RM eine der meist studierten lateinamerikanischen Zeitschriften. Insbesondere die von Héctor Valdés für die erste Epoche und von Hugo Martínez für die zweite Epoche der Zeitschrift sehr sorgfältig erstellten Indizi224 unterstreichen die zentrale Bedeutung der RM innerhalb der mexikanischen und lateinamerikanischen Kultur der Jahrhundertwende. Sie konnte diese Position trotz vieler Hindernisse einnehmen. Ich 222 223 224
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Rama, ‘La ciudad letrada’, S. 585. Die Resultate in Lateinamerika und Frankreich sind ähnlich, die konkreten Gründe für dieses Phänomen sind jedoch in den beiden Kulturen sehr unterschiedlich. Die erste Epoche hatte den Titel Revista Moderna. Arte y Ciencia und erschien von 1898 bis 1903. Die zweite veränderte ihren Namen auf Revista Moderna de México und hatte noch bis 1911 Bestand. Von der ersten Epoche liegt eine von der UNAM publizierte Faksimileausgabe in sechs Bänden auf. Die Veröffentlichung der zweiten Epoche wurde von der Universität vorgeschlagen, aber noch nicht in Angriff genommen. Im Jahr 2002 erschien jedoch unter der Leitung von Belem Clark de Lara und Fernando Curiel Defossé ein neuer Index der Revista Moderna de México, der leider die Arbeit von Hugo Martínez nicht zur Kenntnis nimmt. Im gleichen Jahr edierten die erwähnten Forscher unter dem Titel Contexto eine den Index begleitende Essaysammlung zum sozialen und historischen Kontext der Zeitschrift. In meiner Arbeit konzentriere ich mich überwiegend auf die erste Epoche.
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erwähne nur zwei: das Desinteresse des Publikums im Porfiriat für kulturelle Themen, das Hugo Martínez wie folgt zusammenfaßt: „Schooled in practicality, the porfiristas viewed the arts with the tolerance of one who knows that life must have its little decorative elements, its harmless and amusing caprices“ (Praktisch ausgebildet betrachteten die Porfiristen die Kunst mit der Toleranz derer, die wissen, dass das Leben auch seine dekorativen Elemente benötigt, seine harmlosen und amüsanten Launen).225 Das positivistische Regime Don Porfirios tolerierte die Künste, aber es hätte sie nie ohne Interesse unterstützt. Das zweite Hindernis stellte die neue Presse eines Rafael Reyes Spíndola dar, die spätestens mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts den Markt beherrschte und mit einer Monopolisierung des geschriebenen Wortes drohte. El Imparcial, das führende Organ Reyes Spíndolas, erreichte für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Auflagenhöhen.226 Diesen Herausforderungen stellte sich die RM mit einem relativ geringen Preis. Eine Nummer der ab 1900 monatlich erscheinenden Zeitschrift227 kostete 40 Centavos (billiger als die Revista Azul), das Abonnement für ein halbes Jahr kostete drei Pesos in der Hauptstadt und vier Pesos in den Ländern.228 Daten über die Auflagenhöhe der RM sind nicht bekannt,229 jedoch trugen in erster Linie zwei Tatsachen zu ihrem ökonomischen Überleben bei: das Vermögen ihres Eigentümers Jesús E. Valenzuela230 und – nicht hoch genug einzuschätzen – die Aufmerksamkeit erregenden Illustrationen Julio Ruelas, die auch zu Werbezwecken gebraucht wurden. Wie in der Revista Azul nehmen die mit der französischen Kultur verbundenen Beiträge eine herausragende Stellung in den Seiten der RM ein. Ein kurzer Blick auf den Index Héctor Valdés lässt keinen Zweifel an der Wichtigkeit der französischen Literatur und Kunst für die RM. In ihrer ersten Epoche, von 1898 bis 1903, publizierte die Zeitschrift Artikel von insgesamt 275 Mitarbeitern, unter ihnen 68 Mexikaner und 84 Franzosen. Die Zahl der mexikanischen Beiträge übertrifft jedoch die der französischen.231 Ohne Zweifel werden französische Schriftsteller und Künstler von der RM privilegiert behandelt. Mit großem Abstand findet sich Spanien an zweiter Stelle mit 16 Mitarbeitern, an dritter Stelle Japan mit elf.232 Italien, die USA und Argentinien folgen.233 Im Vergleich mit der Revista Azul 225 226
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Hugo Martínez, A study of the Revista Moderna de México [1903-1911] (Northwestern University, 1968), S. 20. 1907 konnte El Imparcial 100.000 Exemplare pro Tag drucken. Wenige Jahre zuvor war die erfolgreichste Tageszeitung El Noticioso mit etwa 20.000 Exemplaren (Toussaint, Escenario de la prensa en el Porfiriato, S. 31f.). 1898 und 1899 erschien die Zeitschrift mit geringerem Umfang zweiwöchentlich. Héctor Valdés, Índice de la Revista Moderna. Arte y Ciencia [1898-190] (México: UNAM, 1967), S. 19. Clark de Lara und Defossé geben für die zweite Etappe der Zeitschrift eine Auflagenhöhe von 5.000 an (Vgl. Revista Moderna de México 1903-1911, Bd. 2: Contexto, México: UNAM, 2002, S. 15). Die Zahl bezüglich der ersten Etappe sollte geringer gewesen sein. Nachdem Valenzuela sein Vermögen verloren hatte, übernahm Jesús Luján die Rolle des Mäzens der Revista Moderna. Diese Daten entstammen dem ausgezeichneten ‘Estudio Preliminar’ Héctor Valdés zu seinem Index. Diese relativ große Zahl verdankt sich der Mode des Orientalismus, der Vorliebe für japanische und chinesische Malerei und Kunsthandwerk, die generell die finisekuläre Kultur in ihren Bann zog und der sich
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nimmt die Zahl der auf Französisch abgedruckten Beiträge zu. Es finden sich 31 Texte in Originalsprache, fast ausschließlich Gedichte, unter ihnen die berühmte ‘Symphonie en blanc majeur’ Théophile Gautiers, Baudelaires ‘Hymne à la beauté’, sowie Gedichte von Mallarmé, Richepin und Verlaine. Valdés kommentiert die herausragende Stellung der französischen Lyrik innerhalb der RM zutreffend: El hecho de venerar a los poetas franceses fue el primer paso hacia la universalidad. „El país latino“ fue el ideal literario de México; todo escritor deseaba ir a París a recibir el espaldarazo definitivo. Ante la imposibilidad de hacer el viaje, París se hizo venir hasta la patria, y aquí se le rindió un culto semejante al que guardaban los que lograron realizar el sueño. [...] tal vez por no haber estado nunca en París se lo admiraba en forma tan extraordinaria. Los que tuvieron la fortuna de estar allá comprobaron que la realidad era bella, pero no a la altura del sueño. (Die französischen Dichter zu verehrern, war der erste Schritt zur Universalität. Das „lateinische Land” war das literarische Ideal Mexikos; jeder Schriftsteller wollte nach Paris, um den definitiven Ritterschlag zu erhalten. Angesichts der Unmöglichkeit der Reise wurde Paris ins Vaterland gebeten und hier wurde der Stadt ein Kult entgegengebracht, der dem derer ähnelte, die den Traum verwirklichten. Vielleicht weil man nie in Paris war, wurde es so außerordentlich verehrt. Die das Glück hatten, da zu sein, stellten bald fest, dass die Wirklichkeit schön war, aber nicht auf der Höhe des Traums.)234
Der schon erwähnte fiktive Charakter der Stadt Paris bestätigt sich hier. Eine Reise nach Frankreich war nicht unbedingt notwendig; es erschien manchmal besser, die Stadt nicht zu kennen, um die poetische Illusion zu bewahren.235 Die Menge der auf Französisch und in Übersetzung236 abgedruckten Texte zeigt zur Genüge, dass die französische Literatur innerhalb der Modernistengruppe „populär“ geworden ist. In der Tat darf man von einer Popularisierung sprechen, da die Auswahl der französischen Autoren keinerlei Vorliebe für eine bestimmte Ästhetik oder Schule widerzuspiegeln scheint. Es wäre falsch, die Vorlieben der modernistischen Autoren in Mexiko auf dekadentistische Tendenzen reduzieren zu wollen, in erster Linie weil die Katalogisierungen „francés“ oder „parisiense“ oft genügten, um einen Autor in den Seiten der RM zu verbreiten. Essay, Poesie, Roman oder Drama: es gab auch keine Vorliebe für ein bestimmtes Genre. Mengenmäßig stand die Lyrik an erster Stelle, aber dies verdankt sich in erster Linie dem bequemen Umfang der Texte und ihrer
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speziell die Modernistengeneration nicht entziehen konnte. Vgl. dazu insbesondere das einflussreiche Werk Edward Saids, Orientalism (New York: Vintage Books, 1979). Die relativ geringe Präsenz der deutschen Kultur überrascht. Es gab jedoch drei sehr wichtige deutsche und einen altösterreichischen Beitrag: den antidekadenten Max Nordau, der jedoch mit einigem Recht auch bei den französischen Autoren zu integrieren wäre. Vor allem im Jahr 1900 gewinnt Friedrich Nietzsche den Charakter eines von der Zeitschrift institutionalisierten Philosophen. Valdés, Índice de la Revista Moderna. Arte y Ciencia (1898-1903), S. 39. Das gleiche Bild ergibt sich für den Bereich der Narrativik: gegenüber Couto Castillo, dem produktivsten mexikanischen Erzähler der RM in ihrer ersten Epoche, werden 28 französische Autoren übersetzt. Ihre Auswahl erscheint willkürlich, entspricht aber den ästhetischen Vorlieben Coutos selbst: Sensualismus, ennui, ästhetische Verfeinerung. Auf sehr ähnliche Weise reagiert Des Esseintes, der seine Reise nach London vor der Kanalüberquerung beendet. Er zieht die Fiktion London vor, deren Zerstörung durch eine profane Realität er fürchtet. Die Übertragungen stammen zumeist von Balbino Dávalos (1866-1951), später u. a. Rektor der UNAM und Diplomat in Russland, Deutschland und Schweden. Vgl. Muñoz Fernández, Fichero bio-bibliográfico, Bd. 1, S. 181f.
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leichten Reproduzierbarkeit. Romantiker, Symbolisten, Dekadente: die Schulen schlossen sich nicht gegenseitig aus. Katholiken oder Atheisten; Liberale, Sozialisten oder Konservative: es gab keine vorgezeichnete ideologische Linie. Dieses Fehlen von strengen ästhetischen oder ethischen Kriterien bei der Auswahl der französischen Autoren scheint die Worte José Juan Tabladas zu bestätigen, der sich in seinen Memoiren nicht ganz zu Recht die Gründungsidee der RM zuschreibt. Der einflussreichste mexikanische Dichter der RM forderte, dass die Zeitschrift nur ästhetische Kriterien zu berücksichtigen hatte, unter ästhetisch verstand er jedoch immer noch vage Begriffe wie „lo bello“ (das Schöne) oder „lo espiritual“ (das Geistige), mit Sicherheit sah er den Begriff Ästhetik nicht im Sinne einer künstlerischen Schule oder Gruppe, im Sinne von symbolistischer Ästhetik oder dekadenter Ästhetik. Es handelt sich bei Tablada um ein oberflächlich formuliertes Konzept, das klare Grenzen zwischen der bürgerlichen und kapitalistischen Welt einerseits, der Welt der Künstler und „Ästheten“ andererseits ziehen sollte. Das Ästhetische konnte nicht bürgerlich sein und das Bürgerliche konnte nicht ästhetisch sein, darauf reduzierte Tablada sein vereinfachendes finisekuläres Oxymoron. Künstlerische Parteienkämpfe, wie sie das ausgehende Jahrhundert in Frankreich charakterisierten, wurden unter diesem Motto auf einen untergeordneten Platz verwiesen. Laut Edward Said reisen die Ideen. Im Falle der RM haben sich Ideen, die in ihrem Ursprungsland einen klar definierten Charakter hatten und sich teils gegenseitig ausschlossen, zu einem antibürgerlichen Salat gemischt, der von der RM dem mexikanischen Publikum um 1900 serviert wurde. Die Touristen jedoch ähneln sich in der ganzen Welt, egal ob es sich um Nordamerikaner, Deutsche oder Japaner handelt. Tablada drückt dies in sehr rhetorischem Stil aus, aber der Sinn bleibt der gleiche: Um die Literatur von der Welt des Kapitalismus unabhängig zu machen, in unserem Kontext von Abonnements und Anzeigen, war es notwendig: „reivindicar los fueros del arte y defender nuestra dignidad de escritores“ (die Sonderrechte der Kunst zurückzufordern und unsere Würde als Schriftsteller zu verteidigen). Und er forderte: „fundásemos una publicación exclusivamente literaria y artística, animada por la filosofía y el sentimiento más avanzados, intransigente con cuanto interés no fuera el estético y que proclamando su espíritu innovador, debería llamarse Revista Moderna” (gründen wir eine ausschließlich literarische und künstlerische Publikation, die von der fortschrittlichsten Philosophie und dem Gefühl belebt wird, die mit jeglichem nicht ästhetischen Interesse unversöhnlich ist und die, ihren innovativen Geist ausrufend, Revista Moderna heißen sollte).237 In ihrer Naivität und Widersprüchlichkeit ähneln diese Forderungen Tabladas denen Gutiérrez Nájeras bezüglich der Revista Azul.238 War diese vom finanziellen Erfolg des Partido 237 238
José Juan Tablada, La feria de la vida, in Lecturas Mexicanas, 22 (México: Consejo Nacional para la Cultura y las Artes, 1991), S. 299. 1891 erschien in Brünn die erste Nummer der Zeitschrift Moderne Dichtung, die die modernen Tendenzen der österreichischen Kunst um die Jahrhundertwende zusammenfasste und versuchte, die Merkmale einer österreichischen Literatur gegenüber der deutschen zu definieren. Schriftsteller wie Hermann Bahr, Arthur Schnitzler oder der junge Hugo von Hofmannsthal fanden in Moderne Dichtung eine Tribüne. Ihr Herausgeber Friedrich Michael Fels eröffnete sie mit an einen fiktiven Leser gerichteten Worten, deren Ähnlichkeit mit denen Gutiérrez Nájeras und Tabladas zumindest erstaunlich ist: „Keine andern Absichten, solche die außerhalb der Kunst liegen, werden uns beeinflussen, und mögen Sie vielleicht auch mit manchem, was Sie heute und an künftigen Tagen hier sehen, nicht ganz zufrieden sein, das Zeugnis werden
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Liberal abhängig, so konnte die RM ohne Werbeeinschaltungen und eine solide Abonnentenbasis nicht mehr gegen die modernisierte mexikanische Presse konkurrieren. Die Konzepte Tabladas unterstreichen, dass sich die Situation des Künstlers im Porfiriat nicht änderte, dass also seine gesellschaftliche Randstellung bestehen blieb und mit ihr die Notwendigkeit eines repräsentativen Forums, das gleichzeitig ein Ausdrucksmittel gegen den verhassten bürgerlichen Geschmack sein konnte. Die französische Kultur war in diesem Zusammenhang die wirksamste Waffe, derer sich die Herausgeber der RM bedienten. Gleichzeitig konnte diese Waffe neue und erneuernde Ideen für die mexikanische Literatur bereitstellen: ein willkommener Nebeneffekt. Héctor Valdés ist der Meinung, dass sich die fehlenden Auswahlkriterien bezüglich „lo que venía de Francia“ (dem aus Frankreich Kommenden) mit dem überwältigenden Interesse der Autoren der RM „por las novedades y descubrimientos literarios“ (für die literarischen Neuheiten und Entdeckungen) erklärt.239 Es scheint mir nötig, dieses Urteil zu detaillieren: Die literarischen Neuheiten waren wichtig, aber wichtiger war ihre Verwendbarkeit im finisekulären Konflikt zwischen Künstler und Bürgertum. Dadurch besteht der Modernismo auf seinem eklektischen Charakter, da unter dieser Leitidee auch weiterhin romantische Autoren und miteinander in Streit stehende literarische Schulen rezipiert werden konnten.
2.2.2. Die Anfänge: Die Revista Moderna als Anthologie der französischen Literatur (1898/1899). Der Weg in den Selbstbetrug. Mit dem Ableben Gutiérrez Nájeras hatte die Revista Azul einen dem eben beschriebenen ähnlichen Weg genommen. Der Duque Job wollte seine Zeitschrift mit dem bürgerlichen Publikum versöhnen, möglicherweise weil er sich bewusst war, dass nur das bürgerliche Lesepublikum den Fortbestand der Publikation sichern konnte. Der Berufsschriftsteller Gutiérrez Nájera, der von den Einkünften aus seinen Artikeln leben musste, verstand, dass es nicht sehr diplomatisch war, den zu beleidigen, der die Rechnung bezahlte. Mangels derartiger versöhnlicher Haltungen radikalisierte sich die Revista Azul und etablierte Baudelaire als vorbildhafte Figur, dessen Ästhetik jeglicher bürgerlichen Ideologie widersprechen musste. Die dem Autor der Fleurs du Mal vorangehenden Generationen, in erster Linie die romantischen, wurden deswegen nicht aus der Zeitschrift verbannt, solange sie
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Sie uns nicht versagen können: dass wir uns, indem wir heute Soziales und morgen Individualistisches und übermorgen ein drittes vorführen, wenigstens in dem einen konsequent geblieben sind: in der großen Inkonsequenz” (Friedrich Michael Fels, ‘Die Moderne’, in Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, hg. v. Gotthart Wunberg, Stuttgart: Philipp Reclam, 2000, S. 191-197, hier S. 196). Eine Schuld der mexikanischen Autoren mit der österreichischen Zeitschrift lässt sich schwerlich nachweisen. Dass Moderne Dichtung nach Mexiko kam, ist unwahrscheinlich, schon deswegen, weil die Sprachbarriere Deutsch viel schwerer zu überwinden war, als dies beim Französischen oder Englischen der Fall war. Die Ähnlichkeit der in den drei Artikeln ausgedrückten Forderungen scheint mir jedoch im Zusammenhang mit der Idee einer sich um 1900 internationalisierenden Kultur, die das Konzept der Nationalliteraturen in Frage stellt, bemerkenswert zu sein. Valdés, Índice de la Revista Moderna. Arte y Ciencia (1898-1903), S. 71.
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einer antibürgerlichen und ästhetisierenden Linie folgten. Die RM erbte derartige Tendenzen und betonte sie, bzw. stellte sie auf eine solidere Basis. Ein Blick auf die mit der französischen Kultur verbundenen Beiträge der Publikation, v. a. in den Bereichen Literaturtheorie und Ästhetik, soll in den folgenden Seiten diese These bestätigen. Wenn die Revista Azul mit dem Gedicht ‘Barcarolle’ von Théophile Gautier einsetzte, so stellt die RM ‘El Arte’ (‘L’Art’) aus Emaux et camées von 1852 in ihre erste Seite. Gautier prophezeit die Unsterblichkeit der Kunst: „Los dioses mismos mueren,/pero los versos, gonces/adquieren/más fuertes que los bronces“ (Die Götter selbst sterben, aber die Verse bekommen Glieder, die stärker sind als Bronze; RM, Bd. 1, S. 2).240 Die Kunst müsse voller Farben und Glanz sein, mit abstrakten Formen, monströs wenn es notwendig ist, aber immer außerordentlich: „Sí; la obra es más radiante/si el pulimento es terso: /diamante,/mármol, esmalte, verso“ (Ja, das Werk ist strahlender, wenn es glatt poliert ist: Diamant, Marmor, Email, Vers; S. 1). In Gutiérrez Nájeras Publikation fungierte Gautier noch in erster Linie als romantischer Autor und als Autorität, eine Referenz, die wegen ihres universell anerkannten Wertes niemanden überraschen oder gar erschrecken konnte. Die Auswahl der Herausgeber der RM spiegelt nicht nur den ästhetischen Wandel Gautiers wider, sondern auch deren gefestigtes künstlerisches Selbstbewusstsein: Gautier stellt eine „Theorie“ auf und José Juan Tablada setzt sie auf der gleichen Seite in die Praxis um. Ein Fragment aus Tabladas ‘Hostias negras’ aus dem Jahr 1898 wird unmittelbar neben ‘L’Art’ gesetzt und tritt damit gleichsam in Konkurrenz mit dem französischen Gedicht. Die letzte Strophe des mexikanischen Textes stellt die Anwendung einer der Forderungen Gautiers an die Kunst dar: „Haz sirenas caudadas,/monstruos de los blasones,/pintadas/en raras contorsiones“ (Mach geschweifte Sirenen, Wappenmonster, die in seltsamen Verrenkungen gemalt sind; S. 1). Tablada greift auf ungewöhnliche Bilder in der mexikanischen Lyrik am Ende des 19. Jahrhunderts zurück, die ‘Hostias negras’ zu einem Skandal werden ließen: „Hay hienas que rondan tu sepulcro en vano!/Yacen en la cripta nuestras dos estatuas!/¿Sientes el abrazo del voraz gusano/Y el ósculo verde de las luces fatuas ...?“ (Es gibt Hyänen, die dein Grabmahl vergeblich umkreisen! In der Gruft ruhen unsere beiden Statuen! Fühlst du die Umarmung des gierigen Wurms und den grünen Kuss der Irrlichter; S. 1). Die RM stellte ohne Zweifel die „Theorie“ Gautiers und die „Praxis“ Tabladas mit Absicht gegenüber, um zu zeigen, dass die moderne mexikanische Lyrik bereits in der Lage ist, mit der französischen zu konkurrieren und die Forderungen eines ihrer bekanntesten Dichter zu erfüllen. Die Auswahl Gautiers in der Eröffnungsnummer der RM erfüllt mehrere Zwecke: Die Modernistengruppe sieht ihre literarischen Ansichten in dem Franzosen bestätigt und gleichzeitig bietet sie ihrem Publikum einen kanonisierten Autor, der nicht der „Dekadenz“ verdächtigt werden kann. Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass auch um 1900 der Begriff Modernismo in der mexikanischen Kritik noch nicht etabliert war, sondern viel häufiger mit dem negativ belegten Begriff „dekadent“
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Zitate aus der Revista Moderna werden mit Band- und Seitenangabe der Faksimilieausgabe in Klammern ausgewiesen.
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auf die Gruppe der ab etwa 1885 publizierenden Autoren verwiesen wurde.241 Die Autoren der RM stellten sich damit auch die Aufgabe, die abwertenden Assoziationen mit dem Wort zu korrigieren und in ihr Gegenteil zu verwandeln. Gleichzeitig war ihre bevorzugte Selbstbenennung als „decadentistas“ natürlich auch eine naive Kampfansage an das bürgerliche Publikum, das mit diesem Terminus mehr verbinden konnte, als mit dem neutraleren „modernista“, der sich erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts durchsetzte. Der folgende Text der RM lässt sich eindeutig als Programm und Manifest der Zeitschrift lesen. Die Fabel ‘De los siete trovadores y de la ’242 wurde erneut von José Juan Tablada verfasst, der auf diese Art als Ideologe der Zeitschrift erschien. Die kurze Erzählung, die sich eindeutig an Daríos ‘El rey burgués’ und ‘La canción del oro’ aus Azul... orientiert, berichtet von der Enttäuschung und dem Betrug, den die sieben Sänger (Dichter) im Kontakt mit einer reichen und mächtigen aristokratischen Gesellschaft erfahren. Von Beginn an fügt Tablada mehr oder weniger direkte Attacken gegen die bürgerliche Ideologie ein. Die freie Existenz der sieben Künstler, ein Spiegel der literarischen Bohème, kontrastiert mit den von einer materialistischen Gesellschaft aufgestellen Normen und muss mit ihnen in Konflikt geraten. Gleichzeitig verwandelt sich diese unbesorgte Lebensform in das unerreichbare Ideal für den „Durchschnittsbürger“: Y hasta sucedió que una vez en que los trovadores sintieron una hambre más mortificante que el hambre vulgar de los burgueses, vieron á una hermosísima pucela durmiente y echada á orillas del camino. Cantó el trovador primero, y la pucela, sonriendo, abrió los ojos ... Cantó el trovador segundo, y la pucela, cautivada, abrió los labios; cantó el trovador tercero, y la pucela, caída en pasmo, abrió los brazos. (Und einmal geschah es sogar, dass die Sänger einen peinigenderen Hunger verspürten, als den vulgären Hunger der Bürger. Da sahen sie ein wunderschönes schlafendes Mädchen am Rand des Weges. Es sang der erste Sänger und das Mädchen öffnete lächelnd ihre Augen ... Es sang der zweite Sänger und das Mädchen öffnete, gefangen genommen, die Lippen; es sang der dritte Sänger und das Mädchen, außer sich, öffnete die Arme; RM, Bd. 1, S. 2.)243
Was hat wohl die „pucela“ nach dem Gesang des siebenten Troubadour gemacht? Dieses Leben am Rande der Gesellschaft und von ihr verurteilt findet sein Gegenteil im Schloss, wo ein aus stinkenden und gierigen Betrunkenen bestehendes Publikum der genialen Kunst der Sänger nicht gerecht werden kann. Diese flüchten angeekelt aus der Versammlung der „burgueses“. Die Schlussfolgerungen Tabladas aus dem Text sind klar: „¡Oh público de la obra á tu guisa, y si sólo tu indiferencia hemos de merecer, seguiremos con gusto la suerte de aquellos nuestros precursores, los siete troveros medioevales” (Publikum der Revista Moderna, handle nach deinem Gutdünken. Und wenn wir nur deine 241
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Zur Geschichte des Begriffs kann, unter vielen anderen Texten, die immer noch gültige Gesamtdarstellung von Max Henríquez-Ureña aus dem Jahr 1954 verwendet werden, sowie die Einführung Héctor Valdés in die Faksimileausgabe der RM von 1987. Die „siete trovadores“ sind die sieben Gründungsmitglieder der Zeitschrift. In diesem Abschnitt lassen sich unschwer Themen der europäischen Literatur der Jahrhundertwende wiedererkennen, die in Autoren wie Ibsen oder Arthur Schnitzler anzutreffen sind: der zweifelhafte Wert der Ehe, die mit der erotischen Erfüllung im Ehebruch oder in einer freien Verbindung kontrastiert. Das Thema findet sich in der RM explizit am 15. November 1898 in Joris Karl Huysmans Skizze ‘Reflexiones que sobre el matrimonio hace á su gato Alejandro el artista pintor Cipriano Tibaille’.
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Gleichgültigkeit verdienen, so folgen wir gerne dem Schicksal unserer Vorgänger, den sieben mittelalterlichen Sängern) (S. 3). Sehr bewusst setzt Tablada die RM in eine elitäre und, bis zu einem gewissen Grad, rebellische Position. Selbstverständlich handelt es sich um keine politische Opposition. Ich wiederhole, dass die pax porfiriana auch für die Existenz der RM die erste Kondition war. Es handelt sich vielmehr um einen Versuch, den Platz des Künstlers in einer Gesellschaft zu definieren, die nichts von ihm erwartet und von der er vorgibt, seinerseits nichts zu erwarten. Dieser Versuch hat äußerst paradoxen Charakter. Der Künstler sucht seinen Platz in einer Gesellschaft, die ihn von vornherein ablehnt oder ignoriert und er tut dies, indem er sich immer mehr von ihr distanziert.244 Nur eine bewusste und überzeugte Abtrennung von der Gesellschaft des Porfiriats schien dazu geeignet gewesen zu sein, einen Sinn für die „parasitäre“ Existenz des Künstlers zu konstruieren. Die Thesen Ángel Ramas könnten damit auf folgende Weise neu formuliert werden: Die „ciudad letrada“ verwandelte sich in eine unproduktive Aristokratie, die auf einer von Quevedo beschriebenen Geste des noblen, aber verarmten hidalgo bestand. Die letrados waren damit gezwungen, Anschluss an die neue Machtgruppe des reich gewordenen Bürgertums oder – in Mexiko – der schmalen Schicht des reich gebliebenen Landadels zu suchen, traten aber weiterhin mit einem aristokratischen Gestus auf, der diesen Anschluss verhinderte oder zumindest verzögerte. Dieser Kontrast zwang sie, sich selbst als soziale Klasse zu sehen und zu definieren. Es muss sich dabei natürlich um eine sehr spezielle soziale Klasse handeln, da der Künstler nicht einfach irgendeinen Beruf ausübt wie der Anwalt, der Tischler oder der Beamte. Die RM arbeitet folgerichtig an der Fiktion des Künstlers als Übermensch, ohne die seine Welt nicht denkbar wäre.245 Der Künstler produziert Kunst und die Kunst macht das Leben erst erträglich. Ein Aphorismus der Gebrüder Goncourt, der trotz seiner Stellung als Lückenfüller einer Seite als Motto der RM funktionieren könnte, spiegelt diese Schlussfolgerung wider: „Todo se pudre y acaba sin el arte. El es el embalsamador de la vida muerta y nada tiene un algo de inmortalidad sin que él lo haya tocado, descrito, pintado ó esculpido” (Ohne Kunst verfault alles und geht zu Ende. Sie versüßt das tote Leben und nichts hat Unsterblichkeit, ohne dass sie es berührt, beschrieben, gemalt oder gebildet hätte; RM, Bd. 1, S. 58). Der erste Band der RM (1898) besteht aus zehn zweiwöchentlich erscheinenden Nummern zu je 16 großzügig illustrierten Seiten. Der eben zitierte Aphorismus der Goncourts wird sehr ernst genommen. Die mexikanischen und französischen Beiträge sind ästhetisch und ideologisch heterogen, erscheinen jedoch durch die Verehrung der Kunst und die radikale Ablehnung der bürgerlichen Welt geeint. In der RM von 1898 finden sich Texte von Charles Gros, Mallarmé, Verlaine,246 Rémy de Gourmont, aber auch Autoren wie 244
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Ein möglicher Reflex dieser paradoxen Situation kann in der häufigen Verwendung des Oxymorons durch die Modernistengruppe gesehen werden. Ohne Zweifel handelt es sich um eine von Góngora geerbte rhetorische Figur, die jedoch auch gewisse psychologische Notwendigkeiten der modernistischen Autoren erfüllen konnte. Nicht zufällig wird das Gedankengut Nietzsches ab 1900 zu einem der wichtigsten Themen der RM. Verlaine verweist in der fünften Nummer der RM, auf Seite 76, auf den „eternel Sot“, der zur gleichen Zeit den ignoranten Kunstkritiker und ein oberflächliches Publikum bezeichnet.
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Ernest Renan oder der Parnass-Dichter Hérédia, dessen Trophée Justo Sierra übersetzte. In der achten Nummer (November 1898) findet sich Gautiers berühmte ‘Symphonie en blanc majeur’, eines der für die Entwicklung des hispanoamerikanischen Modernismo wohl bedeutendsten Gedichte. Die Originalversion und die Übersetzung von Balbino Dávalos werden nebeneinander abgedruckt. Das Gedicht enthält einige der für den Modernismo konstituierenden Elemente, in erster Linie Synästhesie, Sensualismus und einen gezähmten Erotismus, der zumeist mit Tod und Dekadenz in Verbindung steht, ohne jedoch pornografisch oder blasfemisch zu werden.247 Die Redakteure der RM wissen sehr genau, dass insbesondere ihr weibliches Publikum nur eine relativ geringe Dosis Provokation vetragen würde. Der kulturelle Hintergrund dieses Publikums, das sich in erster Linie ausgerechnet aus der schmalen streng katholisch erzogenen mexikanischen Mittelschicht rekrutierte, die die Autoren der RM zu verabscheuen vorgaben, verhinderte zumindest in den ersten Nummern die Aufnahme radikalerer dekadenter Produkte aus Frankreich in die Zeitschrift. Neuerlich, wie schon im Falle der Revista Azul, ist das Fehlen einer genaueren Analyse von À rebours und seinem Antihelden Des Esseintes das wohl deutlichste Indiz für diese Behauptung.248 Die Erzählungen Rémy de Gourmonts und Jean Richepins sind auf diese Weise die Texte, die sich am meisten einer dekadenten Ästhetik annähern, jedoch oft von den nationalen Produkten eines Couto Castillo übertroffen werden. Bei Gourmont findet sich das Thema des mit dem Tod verbundenen Erotismus, etwa in ‘La margarita roja’, publiziert im Dezember 1898.249 Gourmont beschreibt die späten sexuellen Sehnsüchte der Señora de Troene, die bis zu jenem Moment ein frigides Leben geführt und sich selbst nie nackt gesehen hatte. Schließlich findet sie bei dem jungen Jean250 Erfüllung: “Una noche la señora de Troene permitió que el dormitorio quedase iluminado, y Juan vió [sic] el signo, y con un extraño frenesí, y con una perversidad precoz, besó incansablemente, hasta la mañana, la diabólica margarita roja” (Eines Nachts gestattete Frau Troene, dass ihr Schlafzimmer beleuchtet blieb und Jean sah das Zeichen. Und mit eigenartiger Begierde und mit frühreifer Perversität küsste er unermüdlich bis in den Morgen die rote Margerite; RM, Bd. 1, S. 131), die seinen kurz bevorstehenden Tod profezeit hatte. Die Perversion besteht demnach in stundenlangen Küssen und der 247
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Auch die Gedichte und Erzähltexte eines Efrén Rebolledo vermitteln nur eine naive Erotik, die der in den Filmen der „goldenen Epoche“ des mexikanischen Kinos sehr ähnelt. Die femmes fatales des mexikanischen Dekadentismus könnten das poetische Modell für María Félix abgegeben haben. Bis vor kurzem galten Rebolledos Sonette in Caro Victrix (1916) als erste dezidiert erotische Poesie der mexikanischen Literatur, ein Urteil, das mit der Entdeckung des Idilio bucólico (1900) von José María Facha, publiziert von dem Forscher und Dichter Ignacio Betancourt, revidiert werden musste. Der Einfluss des Romans Huysmans war gleichzeitig in Europa überwältigend. Oscar Wilde setzte ihm in seinem Dorian Gray einen Altar und im Wien der Jahrhundertwende analysierten Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal die Perversionen Des Esseintes und den Satanismus in Là-bas. In Lateinamerika suchte José Asunción Silva in De sobremesa den Dialog mit Huysmans. Der Roman wurde jedoch aus bekannten Gründen erst 1925 publiziert, als der Modernismo bereits Teil der Literaturgeschichte des Kontinents war und seinen innovativen Charakter eingebüßt hatte. ‘La marguerite rouge’ aus den Histoires magiques von 1894. Juan in der RM. Spanische Übersetzungen neigen bis heute dazu, alle fremdsprachigen Namen mitzuübertragen. Aus Stephen Dedalus wurde so in der immer noch gültigen spanischen Version des Ulysses Esteban Dédalo.
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möglichen Zweideutigkeit der roten Margerite. Es wäre einfach, sich aus der Sicht eines modernen Lesers über diese Dekadenz lustig zu machen. Ein derartiger Spott würde jedoch dem Text keineswegs gerecht werden, der 1898 bei vielen Lesern der RM zumindest Erstaunen hervorrufen musste. Andererseits gehörte Rémy de Gourmont mit Sicherheit nicht zu den prominentesten Vertretern der französischen Dekadenz.251 Aber auch die gefürchtete Rachilde (d. i. Marguérite Eymery) findet in der RM mit einer kaum provozierenden Erzählung Aufnahme. Rubén Darío beschrieb sie in Los raros noch als „satánica flor de decadencia, picantemente perfumada, misteriosa y hechicera y mala como un pecado“ (satanische Blume der Dekadenz, feurig parfümiert, geheimnisvoll und zauberhaft und schlecht wie die Sünde),252 die sich in ihrem Roman Monsieur Venus als satanische und amoralische Autorin zu erkennen gegeben habe und ein Fall für die Psychiatrie sei.253 Diese „dekadente Blume“ findet sich in der mexikanischen Zeitschrift mit ihrer Erzählung ‘La muerte de Antinoo’ wieder, die sehr dem Stil von Flauberts Salammbô entspricht. ‘La mort d’Antinoüs’ (gewidmet Henri de Régnier) findet sich in den Contes et Nouvelles Rachildes, deren dritte Auflage 1900 in Paris erschien. Die RM bietet ihren Lesern eine sehr treue Übersetzung des Textes an: Sensualismus, Exotik, Paganismus und Widersprüchlichkeit – Antinoo ist „el dios de la alegría triste“ (der Gott der traurigen Freude; RM, Bd. 2, S. 121) – werden den mexikanischen Lesern zugemutet, jedoch kein Satanismus und auch keine erotischen Freiheiten, die Rachilde zum enfant terrible der französischen Literatur um 1900 machen konnten. Die RM integriert Vertreter der französischen décadence in ihre Seiten, aber sie präsentiert sie mit Texten, die keine „Gefahr“ für die mexikanischen Leser darstellen konnten.254 Vergleicht man ‘La mort d’Antinoüs’ mit anderen Erzählungen des Bandes, so werden die vorsichtigen Auswahlkriterien der Herausgeber der RM deutlich. In ‘La buveuse de sang’ beschreibt Rachilde, wie eine 15-Jährige das Opfer ihrer eigenen Naivität wird, sich schwängern lässt und schließlich ihr neugeborenes Kind erwürgt.255 ‘Le Mortis’ ist eine deutlich von der Gestalt Des Esseintes beeinflusste Erzählung, in der Florenz von der Pest ausgerottet wird und der Graf Sebastiani Ceccaldo-Rossi als einziger Überlebender gezwungen ist, seine früheren erotischen und gastronomischen Vorlieben im Geschmack der in der Stadt wild wuchernden 251
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Es scheint mir in diesem Kontext bezeichnend zu sein, dass die RM in ihrer ersten Serie zwar auf Richepins Chanson de gueux (1876) und Les blasphèmes (1884) verweist, jedoch keine Fragmente dieser „skandalösen“ Texte abdruckt. Die Gruppe der von Verlaine beschriebenen „poètes maudits“ (die erste Ausgabe von 1884 enthielt Studien über Rimbaud, Mallarmé, Marceline Desbordes-Valmore, Tristan Corbière, Villiers de l´Isle-Adam und Verlaine selbst als Pauvre Lelian) sucht man oft vergebens in der RM. Die systematische Rezeption von Autoren wie Rimbaud, Francis Jammes, Samain, Laforgues oder auch Lautréamont sollte dem späten Modernismo der beiden ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts vorbehalten sein oder musste auf die literarischen Avantgarden des Kontinents warten. Neben Verlaine selbst findet insbesondere Georges Rodenbach Aufnahme in der frühen RM, die in der dritten Nummer des Jahres 1899 eine Studie Octave Mirbeaus über den Dichter veröffentlicht. Vgl. RM, Bd. 2, S. 92f. Rubén Darío, Los raros, in Colección de Cultura Universitaria, 23 (México: UNAM, 1985), S. 119. Darío, Los raros, S. 121f. Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass einige dieser Leser Töchter aus sehr guten Häusern waren, deren delikate Nerven die Redakteure der RM nicht zu sehr strapazieren durften. Vgl. Rachilde, Contes et Nouvelles. Suivis du Théâtre (Paris: Société du Mercure de France, 1900), S. 71-80.
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Rosen wiederzuerkennen. Es ist naheliegend, dass Beschreibungen wie die folgende die Redakteure der RM von einer Publikation absehen ließen: „Des vols de papillons blancs, emblèmes de candeur, délaissant la fadeur des corolles, s’acharnaient sur les yeux liquides des cadavres, buvant l’eau des âmes du bout de leur petite trompe voluptueuse et lui trouvant un goût sucré“ (Weiße Schmetterlinge, das Emblem der Arglosigkeit, stürzten sich, die Schalheit der Blumenkronen hinter sich lassend, auf die flüssigen Augen der Kadaver, tranken das Wasser der Seele mit den Spitzen ihrer kleinen lüsternen Rüssel und fanden in ihm einen zuckrigen Geschmack).256 Ein gutes Bild dieser widersprüchlichen Situation liefert eine Illustration, die unmittelbar nach Rachildes Erzählung steht. Maurice Rollinat wird in ihr mit einer gleichzeitig verzweifelten und bedrohlichen Grimasse dargestellt.257 Der Ausdruck des Dichters kann auch heute noch erschrecken. Das Gedicht allerdings, das das Portrait begleitet, konnte wohl schon 1899 niemanden mehr „épater“. Hier die erste Strophe: „Las lucientes cabelleras/De las amantes queridas/Son lujuriosas banderas,/Desplegándose guerreras/Sobre las carnes vencidas” (Die strahlenden Haare der geliebten Liebenden sind lüsterne Fahnen, die sich wie Krieger über das besiegte Fleisch ausbreiten; RM, Bd. 2, S. 122). Das Gedicht wurde den 1883 erschienenen Les névroses entnommen und erscheint ohne Angabe des Übersetzers als ‘Las cabelleras’ in der RM. Der Titel ist irreführend, da es sich um das Gedicht ‘Les drapeaux’ handelt, das Rollinat in den ‘Les luxures’ betitelten zweiten Abschnitt seiner Sammlung gestellt hatte. Die Übersetzung glättet hier das Original und unterdrückt allzu deutliche sexuelle Anspielungen. Die Originalversion der oben zitierten ersten Strophen kann dies verdeutlichen: „Les chevelures des amantes/Sont de luxurieux drapeaux/Toujours flottants, toujours dispos/Pour célébrer les chairs pâmantes“ (Die Haare der Liebenden sind lüsterne Fahnen, die immer flattern, die immer bereit sind, das Freude jauchzende Fleisch zu feiern).258 Die letzte Strophe des kurzen Gedichtes kann in diesem Sinne nur noch als freie Bearbeitung angesehen werden, wie die Gegenüberstellung von Original und „Übersetzung“ zeigt: Et quand les nudités fumantes Se confondent, souffles et peaux, La Volupté tord sans repos Et convulse dans ses tourmentes Les chevelures des amantes.
Y cuando chocan crujientes Las secas bocas ardientes, Se sienten estremecidas Las cabelleras lucientes De las amantes queridas!
Unterhalb des Mundes durfte die RM scheinbar keine erotische Anspielung zulassen. Bekanntere Gedichte der Sammlung, die noch viel deulichere sexuelle Verweise enthalten, 256 257
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Rachilde, Contes et Nouvelles, S. 57f. Rollinat lebte zwischen 1846 und 1903. In der von Enrique Díez-Canedo zusammengestellten umfangreichen Anthologie La poesía francesa del modernismo al superrealismo, die erstmals 1913 publiziert wurde, ist Rollinat mit fünf Gedichten vertreten und wird als Autor, der zwischen den diversen Schulen der Epoche stand, beschrieben. Sein Werk habe den Weg zu Symbolismus und Surrealismus vorbereitet (Vgl. Enrique Díez-Canedo, hg., La poesía francesa del romanticismo al superrealismo, Antología, Buenos Aires: Losada, 1945, 11913, S. 158ff.). Maurice Rollinat, Les Névroses, in Œuvres, Bd. 2 (Paris: Minard, 1972), S. 98.
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wie in erster Linie ‘La belle fromagère’, konnten auf diese Weise nicht auf eine Veröffentlichung in der RM hoffen.259 Die Herausgeber gehorchten damit einer vielleich unbewussten Selbstzensur. Die RM spielt mit dem schlechten moralischen Ruf der französischen Literatur, sie kokettiert mit dem Skandal, aber nur sehr selten provoziert sie ihn tatsächlich. Mit einem Wort: Sie vertritt einen Dekadentismus „light“ in ihren Seiten. Die Leser der RM hätten die Urteile Barbey d’Aurevillys, des Förderers Rollinats in der Pariser Literaturszene nicht nachvollziehen können. Barbey beschreibt die Gedichte der Névroses u. a. als „poésie physique et maladive, d’une époque si désespérément décadente, cette poésie du spleen et du spasme, de la peur, de l’anxiété, de la rêverie angoissé, du frisson devant l’invisible“ (physische und krankhafte Dichtung einer so verzweifelt dekadenten Epoche, diese Dichtung des Spleens und des Krampfes, der Furcht, der Angst, der ängstlichen Träumerei, des Schauderns vor dem Unsichtbaren).260 Die Beiträge von Rachilde und Rollinat gehören zum zweiten Jahr der Zeitschrift. Noch 1898 fasste Jesús E. Valenzuela selbst die Rolle des Modernismo und der RM innerhalb der mexikanischen Literatur der Jahrhundertwende zusammen. Sein Essay ‘Los modernistas mexicanos’ stellt einen Schlüsseltext für die behandelte literarische Generation dar. Seine Bedeutung für die Konsolidierung und Vereinheitlichung teils widersprüchlicher Tendenzen in der mexikanischen Literatur um 1900 sollte nicht unterschätzt werden. Der Text ist Teil einer Polemik mit dem konservativen Kritiker Victoriano Salado Álvarez (1867-1931), der in El Universal einige Vertreter der Modernistengeneration attackiert hatte, unter ihnen José Juan Tablada und Amado Nervo.261
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Der Vergleich der Haare mit einer Fahne findet sich in diesem Gedicht wieder. Hier die letzte Strophe: „Sa chevelure alors flotta comme un drapeau,/Et c’est avec des yeux qui me léchaient la peau/Que la belle me fit l’hommage/De sa chair de seize ans, mûre pour le plaisir!/Ô saveur! elle était flambante de désir/Et ne sentait pas le fromage!“ (Ihr Haar fließt jetzt wie eine Fahne und mit Augen, die mir die Haut leckten, empfange ich die Huldigung ihres sechzehnjährigen Fleisches, das reif für das Vergnügen ist! Oh Pikanterie! Sie flammte vor Begierde und fühlte den Käse nicht; Rollinat, Les Névroses, S. 91). Der Artikel Barbeys erschien am 1. Juni 1882 unter dem Titel ’Un poète à l’horizon’ in Le Constitutionnel. Hier wiedergegeben aus dem Anhang der zitierten Rollinat-Ausgabe, S. 384-389, hier S. 386. Tablada versucht in La feria de la vida den Konflikt zwischen Valenzuela und Salado Álvarez zu relativieren. 35 Jahre nach der Diskussion schreibt er: „Victoriano Salado Álvarez [...] reivindicaba con su estilo vehemente y claridoso los fueros de la castiza tradición literaria que veía conculcada por nuestros ímpetus iconoclastas y aquellas diferencias cuajaron en cierta polémica que contra él sostuvo Jesús Valenzuela en la Revista Moderna“ (Victoriano Salado Álvarez forderte mit seinem kräftigen Stil die Vorrechte einer reinen literarischen Tradition zurück, die er durch unsere bildstürmerischen Antriebe gefährdet sah und diese Differenzen verdichteten sich in einer Polemik, die Jesús Valenzuela in der Revista Moderna gegen ihn führte; Tablada, La feria de la vida, S. 295f.). Auch Tablada kann jedoch die Bedeutung dieser Polemik im Zusammenhang mit dem alten Konflikt zwischen „castizos“ und Modernen nicht verleugnen, der im Jahr 1898 auch eine Debatte zwischen intellektuellem Bürgertum und Künstlern der Bohème widerspiegelt, die sich als eigene soziale Klasse definieren wollten. Valenzuela selbst erkennt in seinen Memoiren die Lage weitaus klarer, indem er sowohl Salado Álvarez, als auch – indirekt – dessen schärfstem Kritiker Amado Nervo vorwirft, die literarische Debatte für soziale und politische Zwecke zu missbrauchen, anstatt die Herausbildung des mexikanischen „Dekadentismus“ als historisch notwendig zu analysieren (Vgl. Jesús E. Valenzuela, Mis recuerdos. Manojo de rimas, hg. v. Vicente Quirarte, México: Conaculta, 2001, S. 111f.).
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Der Aufsatz betont zunächst den Stellenwert Frankreichs, der der kulturellen Bedeutung Spaniens für Mexiko entgegengesetzt wird. Valenzuela stellt kategorisch fest: „el medio intelectual nuestro, y de ello llevamos tiempo, es puramente francés” (unser intellektuelles Medium ist schon seit langem rein französisch; RM, Bd. 1, S. 140). Trotzdem gebührt Spanien der Verdienst, seinen früheren Kolonien die neuen Modelle, „el camino del París intelectual“ (den Weg des intellektuellen Paris; S. 140), vermittelt zu haben. Valenzuela analysiert sehr klarsichtig, dass die pädagogischen Reformen im Sinne eines Justo Sierra oder eines Gabino Barreda den eigentlichen Ursprung der von Salado Álvarez zurückgewiesenen neuen literarischen Schule darstellen.262 Die positivistische Preparatoria, die viele der zukünftigen Modernisten absolviert hatten, habe in erster Linie gelehrt, zu zweifeln und vernünftig zu analysieren. Die pessimistische Philosophie eines Schopenhauer und die wissenschaftlichen Theorien von Comte und Stuart Mill haben das scheinbar solide Gebäude der alten Glaubenssätze zerstört. Die radikalste Konsequenz daraus war, laut Valenzuela, der Verlust jeglichen Glaubens. Das Leben in einem religiösen und ideologischen Vakuum sei jedoch unvorstellbar gewesen und die entstandenen Lücken mussten gefüllt werden. Mit Zitaten von Mallarmé, Novalis und Maurice de Guérin möchte Valenzuela beweisen, dass insbesondere die Poesie in der Lage ist, den alten Glauben zu ersetzen (RM, Bd. 1, S. 141). Eine logische Konsequenz daraus ist der bemerkenswerte spirituelle Aufstieg des Dichters. Das Konzept des Dichters als Demiurg, des Dichtergottes, tritt klar aus dem Artikel des Eigentümers der RM hervor. Valenzuela erkennt auch, dass Frankreich schon ein Jahrhundert vor Mexiko diese Entwicklung durchlaufen hat. Die Zerstörung der alten Dogmen habe mit der Revolution von 1789 begonnen, die Romantik des Landes geschaffen und ihre radikalsten Äußerungen in Baudelaire und schließlich in der symbolistischen und dekadenten Lyrik am Ende des 19. Jahrhunderts gefunden. Diese überraschende Analyse lässt schon bei Valenzuela die Möglichkeit erkennen, den Modernismo als eigentliche mexikanische Romantik nach dem Vorbild der französischen Entwicklung zu deuten.263 Valenzuela schließt weiters daraus, dass die junge mexikanische Literatur nicht aus Mangel an Originalität auf französische Vorbilder zurückgreife, sondern weil sie bei diesen ihre eigenen aktuellen Erfahrungen wiederfinde: Baudelaire, Mallarmé, Verlaine haben schon die Krise durchlaufen, in die das intellektuelle Mexiko des Porfiriats gerade erst eintrete (S. 141). Valenzuela, ein treuer Anhänger der Regierung Díaz, relativiert hier den Begriff Krise, da er ihn einerseits zumindest im künstlerischen Sinne 262
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Folgerichtig nimmt die RM auch einige umfangreiche Beiträge des radikalen Positivisten und „científico“ Barreda in ihre Seiten auf. Die Geldgeber der RM, Valenzuela und Luján, waren prominente Vertreter der „científicos“, die gemeinsam mit den „reyistas“, den Anhängern des populären Generals Bernardo Reyes, Vater von Alfonso Reyes, den Machtanspruch Porfirio Díaz untermauerten. Es wäre jedoch falsch, die Diskussion Valenzuela-Salado politisch interpretieren zu wollen, erstens weil dieser ebenfalls zu den „científicos“ zu zählen ist, und zweitens weil der offene Konflikt zwischen den beiden Gruppen um die Nachfolge des alternden Diktators erst 1904 ausbrach, als Díaz den „científico“ Ramón Corral zu seinem Vizepräsidenten machte (Vgl. Javier Garciadiego, ‘La modernización de la política’, in Revista Moderna de México 1903-1911, Bd. 2: Contexto, hg. v. Belem Clark de Lara und Fernando Curiel Defossé, México: UNAM, 2002, S. 33-49, hier S. 33ff.). In der Tat stimmt die von Valenzuela skizzierte Entwicklung relativ genau mit den Thesen Paul Bénichous für die französische Romantik überein.
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positiv besetzt, und andererseits die Option aufzeigt, sie anhand der Kenntnis der in Europa bereits gemachten Erfahrungen rational zu durchleben und ästhetisch umzusetzen. Die aus Frankreich kommenden Impulse werden dementsprechend nicht nur auf die Poesie beschränkt, sondern sollen zu einer Runderneuerung der spanischen Sprache und jeglicher literarischer Äußerung dienen. Die Kunst brauche ein neues flexibles Medium, das den horror vacui, die Angst vor einer glaubenslosen Welt, adäquat ausdrücken kann: „la desesperación lírica de un espíritu fuerte, presa del terror religioso ante la sombra sin límites que proyecta la Ciencia en el Universo sin fronteras” (die lyrische Verzweiflung eines starken Geistes, der vor dem schrankenlosen Schatten, den die Wissenschaft in das grenzenlose Universum wirft, von religiösem Terror gefangen wird; S. 143). Ich fasse zusammen: Die mexikanische positivistische Schule generierte die beschriebene Angst, die neue literarische Gruppe assimilierte sie und suchte Auswege; sie fand sie vor allem in der französischen Kultur ab der Romantik, die sich bereits der gleichen Situation gegenübergesehen hatte. Es wäre demnach zu einfach, den mexikanischen Modernismo ausschließlich als idealistische Reaktion gegenüber einer zunehmend verwissenschaftlichten und technizierten Welt zu deuten. Viel eher handelt es sich um eine ästhetisierende Option, der von den positivistischen Reformen hinterlassenen spirituellen Leere zu begegnen. Die andere Option ist natürlich der Kapitalismus, das Geld füllt die Leere: ein reich gewordenes Bürgertum oder ein reich gebliebener Landadel, die Kunst wie jedes andere Produkt des Marktes auch konsumieren. Vor diesem Antagonismus reagieren die Modernisten teils sehr feindlich, jedoch darf man hier nicht den Grund mit seinen Konsequenzen verwechseln. Kapitalismus einerseits, ästhetischer Elitismus andererseits sind zwei mögliche Reaktionen gegenüber den gleichen Veränderungen. Die Modernisten lehnen, auf die Zukunft hoffend, den sozial und ökonomisch erfolgreicheren Weg ab und verspotten ihn phasenweise. Die Thesen Pierre Bourdieus von konkretem und symbolischem Kapital erweisen sich in diesem Kontext als sehr anwendbar.264 Jesús E. Valenzuela gebührt der Verdienst, diese Mechanismen bereits 1898 erkannt und beschrieben zu haben, wenn auch sein Aufsatz weder von der zeitgenössischen, noch von der späteren Kritik ernst genommen wurde. Die Fortsetzung von ‘Los modernistas mexicanos’ in der letzten Nummer des Jahres 1898 ist eine Zusammenfassung der Argumente des ersten Teiles. Erneut besteht Valenzuela auf der Gründerrolle des Positivismus Barredas in der literarischen Erneuerung Mexikos: „Ya no había Dios en la Escuela. Había ciencia, reforma, libertad y viva la República” (Es gab keinen Gott mehr in der Schule. Es gab Wissenschaft, Reform, Freiheit und es lebe die Republik), aber: „La ciencia no llenaba el infinito vacío dejado por el viejo Dios” (Die Wissenschaft füllte die unendliche Leere nicht, die der alte Gott hinterlassen hatte; RM, Bd. 1, S. 153). Die Wissenschaft braucht die Poesie zu ihrer Vervollständigung. Valenzuela ergänzt, dass der Kult des Beweisbaren Zolas Naturalismus und Bourgets psychologische Romane in der französischen Literatur hervorgebracht habe, beide seien aber gescheitert, weil gewisse Wahrheiten nicht analysiert werden können: „crece el enigma 264
Vgl. in erster Linie seine Arbeiten zu Entstehung und Struktur des literarischen Feldes in Les règles de l’art, das erstmals 1992 in Paris veröffentlicht wurde.
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con el conocimiento“ (das Rätsel wächst mit dem Wissen; S. 155). Genau dieses „Enigma“, die Tatsachen, die die positivistische Wissenschaft nicht erklären kann, sei das wesentliche literarische Thema des Modernismo Lateinamerikas. Neuerlich betont Valenzuela den Antagonismus zweier unterschiedlicher Reaktionen auf das gleiche Dilemma: Zola und Bourget umgehen das „Enigma“, das durch die Zerstörung traditioneller Glaubensinhalte offenbar wurde, die modernistischen Autoren versuchen es zu beschreiben. Es kann sich folgerichtig um keine Opposition gegenüber dem Positivismus oder den Naturwissenschaften handeln, sondern nur um ihre unvermeidliche und notwendige Fortsetzung und Ergänzung.265 Die Modernisten treten vielmehr gegen die Überzeugung auf, DIE Wahrheit zu besitzen, gegen einen Fortschrittsglauben, den noch ihre Vorgängergeneration unter der Führung Altamiranos in den Seiten von El Renacimiento propagierte. 30 Jahre später sehen sie diese Überzeugung im antiintellektuellen Bürgertum des Porfiriats (aber nicht in Figur und Regierung Porfirio Díaz!) manifestiert, das den Künstlern zu allem Überfluss einen ihnen würdigen Platz in der Gesellschaft und gleichzeitig die kapitalistische Auswertung ihrer Produkte verweigert. Mit ‘Los modernistas mexicanos’ öffnete Jesús E. Valenzuela der RM neue Möglichkeiten, die diese in den folgenden Jahren ausschöpfte. Besonders 1900 verliert sie beinahe ihren Charakter einer literarischen Zeitschrift, um sich in ein Organ für Philosophie und Soziologie zu verwandeln. Onthologische Fragen – In welcher Welt leben wir, welchen Wegen können wir folgen? – dominieren die Diskussion. Es erscheint in diesem Sinne nur konsequent, dass sich die Namen Nietzsches und Novalis den allgegenwärtigen französischen Modellen hinzufügen, allerdings Nietzsche und Novalis so wie sie in Frankreich verstanden wurden. 1899 präsentiert die RM noch ein breites Panorama der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Rubén Darío verfasst einen Nachruf auf Mallarmé, in dem er dessen Poesie als „arte religioso“ (religiöse Kunst) und „cerebración“ (Verhirnung) charakterisiert und das Werk des Verstorbenen mit wenigen Worten zusammenfaßt: „El consagró su existencia á su Sueño en medio de la Babilonia del siglo más utilitario de todos los siglos“ (Er widmete seine Existenz inmitten des Babylons des utilitaristischsten aller Jahrhunderte einem Traum; RM, Bd. 2, S. 17). Weiters werden vier Prosagedichte Baudelaires publiziert, die den „Kampf“ des Künstlers mit der Form, mit „lo bello“ (S. 63) thematisieren. Erstmals erscheint Oscar Wilde in der RM: mit dem Gedicht ‘Balada de la cárcel de Reading’ (‘The Ballad of Reading Gaol’: S. 86ff.). Balbino Dávalos veröffentlicht seine Übersetzung eines Gedichtes Verlaines aus dem zum Teil im Gefängnis geschriebenen Sagesse (1880).266 Es handelt sich um „Ô mon Dieu, vous m’avez blessé d’amour“, in der spanischen Fassung als ‘Mística’ vereinfacht. Verlaine, der in seiner Identität als Pauvre Lelian der Prototyp eines
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Die „wissenschaftlichen“ Erzählungen Amado Nervos in Mexiko und Leopoldo Lugones in Argentinien unterstreichen das Interesse des Modernismo gerade für Themen der modernen Technik. In die Auflage von 1889 setzt Verlaine eine Widmung „à la mémoire de ma mère“ (dem Andenken meiner Mutter) ein (Verlaine, Œuvres poétiques complètes, hg. v. Jacques Borel, Paris: Gallimard, 1962, S. 219). Sagesse ist mit Sicherheit Verlaines religiöseste Publikation.
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Pariser Bohémien war,267 sucht in diesem Gedicht im Glauben eine Zuflucht vor dem Zweifel und der Skepsis: „¡Oh Dios de paz, las dudas que me oprimen,/Mis temores, mis culpas y mi lodo,/¡Oh Dios de paz, las dudas que me oprimen“ (Oh Gott des Friedens, die Zweifel, die mich bedrücken, meine Ängste, meine Schuld und mein Schmutz, Oh Gott des Friedens, die Zweifel, die mich bedrücken; RM, Bd. 2, S. 91).268 Verlaines Gott ist zweideutig, grausam und tröstlich gleichzeitig, der Gott des Alten Testamentes: „Dios de terror y santidad eterna“ (Gott des Terrors und der ewigen Heiligkeit; S. 91).269 Es handelt sich auch um den Gott der Modernität, der die Menschheit allein gelassen hat, da diese ihn mit Wissenschaft und Vernunft negieren wollte. Die Poesie übernimmt bei Verlaine die Verantwortung, die von der Religion hinterlassene Leere auszufüllen, verzweifelt aber bisweilen an dieser Aufgabe und wendet sich wieder an den „alten“ Gott. Einige Seiten später publiziert die RM unter dem irreführenden Titel ‘Chanson pour elle’ die Originalfassung von ‘Tu crois au marc de café’ aus den Chansons pour elle (1891), in dem sich Verlaine als Dichter präsentiert, der die Frau und die Sexualität als neue Religion etablieren möchte (S. 155).270 267
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Die Einfügung der oft zitierten Passage aus Daríos Autobiografie, in der er sein frustrierendes „Treffen“ mit Verlaine in Paris beschreibt, ist hier angebracht: „Quién sabe qué habría pasado esta tarde al desventurado maestro; el caso es que, volviéndose a mí, y sin cesar de golpear la mesa, me dijo en voz baja y pectoral: <> Creí prudente retirarme y esperar para verle de nuevo en una ocasión más propicia. Esto no lo pude lograr nunca, porque las noches que volví a encontrarle se hallaba más o menos en el mismo estado; y aquello, en verdad, era triste, doloroso, grotesco y trágico. ¡Pobre Pauvre Lelian! Priez pour le pauvre Gaspard!...” (Wer weiß, was dem unglücklichen Meister an diesem Nachmittag zugestoßen war. Jedenfalls sagte er mir, sich zu mir umdrehend und ohne Unterlass auf den Tisch klopfend, mit tiefer und pektoraler Stimme: Der Ruhm, der Ruhm, Sch..., Sch... noch einmal. Ich hielt es für angebracht, mich zurückzuziehen und darauf zu warten, in bei günstigerer Gelegenheit noch einmal zu sehen. Dies gelang mir nie, weil er in den Nächten, als ich ihn wiederfand, mehr oder weniger im gleichen Zustand war, Und das ist wahrlich traurig, schmerzlich, grotesk und tragisch. Armer Armer Lelian! Betet für den armen Gaspard!...; Rubén Darío, Autobiografía, Buenos Aires: Editorial Universitaria, 1968, S. 97). Eine Gegenüberstellung der beiden letzten Strophen kann die Freiheit der Übersetzungen Dávalos verdeutlichen, der viel mehr an der Bewahrung der metrischen Form als an einer wortgetreuen Übertragung interessiert war. Verlaine: „Vous, Dieu de paix, de joie et de bonheur,/Toutes mes peurs, toutes mes ignorances,/Vous, Dieu de paix, de joie et de bonheur, // Vous connaissez tout cela, tout cela,/Et que je suis plus pauvre que personne,/Vous connaissez tout cela, tout cela, // Mais ce que j´ai, mon Dieu, je vous le donne“ (Du, Gott des Friedens, der Freude und des Glücks, alle meine Ängste, alle meine Unwissenheit, Du, Gott des Friedens, der Freude und des Glücks, Du kennst alles das, alles das, und dass ich ärmer bin als irgend jemand, Du kennst alles das, alles das, aber, was ich habe, mein Gott, ich gebe es dir ; Paul Verlaine, Sagesse. Amour. Bonheur, Paris: Gallimard, 1975, S. 77f.). Dávalos übersetzt: „!Oh Dios de paz, las dudas que me oprimen,/Mis temores, mis culpas y mi lodo, ¡Oh Dios de paz, las dudas que me oprimen, // Todo lo conoceis, lo sabeis todo/Y cuán pobre ha de ser cuanto posea;/Todo lo conoceis, lo sabeis todo;/Mas lo que tengo, ¡oh Dios! que vuestro sea“ (Oh Gott des Friedens, die Zweifel, die mich bedrücken, meine Ängste, meine Schuld und mein Schmutz, Oh Gott des Friedens, die Zweifel, die mich bedrücken. Alles kennst du, alles weißt du, und wie arm, was ich besitze, sein muss, alles kennst du, alles weißt du, aber, was ich habe, oh Gott, soll dein sein). Im Original findet sich das Adjektiv „ewig“ nicht: „Dieu de terreur et Dieu de sainteté“ (S. 77). „Tu crois en un vague Dieu,/En quelque saint spécial,/En tel Ave contre tel mal. // Je ne crois qu’aux heures bleues/Et roses que tu m’épanches/Dans la volupté des nuits blanches!“ (Du glaubst an einen vagen Gott, an irgendeinen speziellen Heiligen, an ein Ave gegen ein Übel. Ich glaube nur an die blauen und rosa Stunden,
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Weiters publiziert die Zeitschrift ein Portrait Octave Mirbeaus von Georges Rodenbach, den er als Baudelaire sehr verwandten Stadtpoeten präsentiert (S. 92f.). Orientalisierende Erzählungen von Rémy de Gourmont und Rachilde finden sich ebenso, wie eine melancholische Geschichte Richepins, die ein resigniertes altes Künstlerehepaar beschreibt.271 Themen und Namen wiederholen sich, die RM etabliert ihren Kanon der modernen Literatur und die Leitmotive kristallisieren sich heraus: eine gleichsam religiöse Mission der Kunst; ein Schönheitskult, der sich in verschiedensten Formen manifestieren kann; die Notwendigkeit von künstlerischen Reformen; die monotone Ablehung einer mittelmäßigen bürgerlichen Existenz und, als Impfstoff gegen eine derartige Mittelmäßigkeit, das Leben der Pariser und mexikanischen Bohémiens. In diesem Zusammenhang gewinnen besonders fünf Beiträge an Interesse, die einer genaueren Analyse bedürfen, weil sie im Kern die Themenpalette der Zeitschrift in ihrer ersten Phase widerspiegeln. José Juan Tablada war bis 1900 für die bibliografische Sektion ‘Notas literarias y artísticas’ verantwortlich, eine Aufgabe, die schließlich Amado Nervo übernahm.272 Im Mai 1899 stellt Tablada an dieser sehr versteckten Stelle innerhalb der Zeitschrift den „satanischen“ Félicien Rops273 vor und zitiert einen Text des Belgiers, den er laut eigenen Angaben einer Pariser Tageszeitung entnahm, der a priori die Überlegenheit des Neuen in der Kunst festlegt, sowie den Hass auf „lo vulgar“ und die Einrichtung einer notwendigerweise antidemokratischen künstlerischen Aristokratie in den Mittelpunkt stellt. Eine neue Idee sei immer besser als eine alte, auch wenn sie objektiv gesehen uninteressanter sei. Außerdem sei der rasche Erfolg automatisch verdächtig. Ich zitiere Rops in der Version Tabladas: En arte tengo el odio de todas las popularidades y de todas las democratizaciones. En oposición á los que creen que se trabaja en la salvación social haciendo un croquis ó un soneto, yo creo que el arte debe continuar siendo un druidismo ó se perderá [...] Los delicados pintan, graban, dibujan ó esculpen para ciento cincuenta personas que suman doscientos ojos, quitando los miopes [...] Pues toda fórmula nueva, aun inferior á las antiguas [...], vale más que un harapo dorado, soberbio, usado y agujereado por dos generaciones de reyes. (Ich hasse in der Kunst alles Populäre und alles Demokratische. Gegen die, die glauben, dass man an der sozialen Errettung arbeitet, wenn man eine Zeichnung oder ein Sonett verfertigt, glaube ich, dass die Kunst immer ein Druidismus sein muss, oder sie wird sich verlieren [...] Die Delikaten malen, gravieren, zeichnen oder meißeln für 150 Personen, die 200 Augen ausmachen, die kurzsichtigen weggerechnet [...] Jede neue
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die du mir in der Wollust der weißen Nächte ausschüttest; Paul Verlaine, Chansons pour elle et autres poèmes érotiques, Paris: Gallimard, 2002, S. 97f.). Gourmont: ‘El Establo’: S. 109f., Rachilde: ‘La muerte de Antinoo’: S. 119ff., Richepin: ‘Cuentos modernos’: S. 152ff. ‘L’étable’ erschien in D´un pays lointain von 1898, wurde aber schon Jahre zuvor in Le Journal publiziert. Der Charakter der vorliegenden Arbeit lässt keine genaue Analyse über mögliche Veränderungen der Tendenzen der in dieser Sektion besprochenen und angekündigten Werke zu, die sich durch den Wechsel von Tablada auf Nervo ergeben hätten können. Dennoch wäre eine derartige Studie interessant, um den Einfluss der beiden führenden mexikanischen Modernisten auf die Herausbildung ästhetischer Vorlieben beim Publikum der RM bewerten zu können. Rops starb ein Jahr zuvor, 1898. Sein Geburtsjahr 1833 würde ihn viel eher der romantischen Generation als dem finisekulären Dekadentismus zuordnen. Dennoch hatte er sich durch seine Illustrationen der Fleurs du Mal und zu Barbeys Les Diaboliques einen Namen als Vertreter des Satanismus und der schwarzen Magie gemacht.
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Formel, auch wenn sie den alten unterlegen ist [...], zählt mehr als ein goldener großartiger Fetzen, der von zwei königlichen Generationen gebraucht und durchlöchert wurde; RM, Bd. 2, S. 160.)
Die Radikalität und der Zynismus dieser Positionen könnten ihre Publikation an prominterem Ort verhindert haben. Rops, und mit ihm Tablada, nähert sich hier jedenfalls der Ästhetik Oscar Wildes an, der relativ selten direkt in die RM aufgenommen wurde. Tablada eignet sich dieses Programm an und stellt am Ende seiner Vorstellung die rhetorische Frage: „¿Qué opinarán de esas ideas el faraón Salado Álvarez, el tetrarca Machoire, el arconte Perruque y los demás mónicos del hipogeo clásico?” (Was meinen wohl der Farao Salado Álvarez, der Tetrarch Machoire, der Arkont Perruque und alle anderen Monischen des klassischen Hypogäums von diesen Ideen?; S. 160). Die durchaus nicht neue Ästhetik des l´art pour l´art gewinnt damit allmählich Oberhand in der RM, auch wenn die Zeitschrift immer für sozialere oder traditionellere Tendezen offen bleiben sollte. In diesem Zusammenhang erscheint es notwendig, an die bekannten Worte Oscar Wildes im Vorwort zu The picture of Dorian Gray zu erinnern: „We can forgive a man for making a useful thing as long as he does not admire it. The only excuse for making a useless thing is that one admires it intensely./All art is quite useless”(Wir können einem Mann vergeben, wenn er ein nützliches Ding macht, solange er es nicht bewundert. Die einzige Entschuldigung dafür, ein nutzloses Ding zu machen, ist, es intensiv zu bewundern./Jede Kunst ist ziemlich nutzlos).274 Der bürgerliche Kapitalismus produziert nützliche Dinge, deren Geldwert eben durch den Grad ihrer Nützlichkeit festgelegt werden kann. Der Künstler dagegen hat mit dieser Konstellation nichts zu tun, da er unnütze Dinge produziert, deren Wert eben in dieser Unnützlichkeit liegt.275 Trotzdem kann der Künstler das kapitalistische Bürgertum „tolerieren“, solange dieses sich nicht mit seinen Produkten schmückt. Wenn es dazu kommt, verdient es den Spott und Zynismus eines Lord Henry. Der Künstler definiert seinen Platz innerhalb der Gesellschaft mittels der Verneinung und des Snobismus, hat jedoch mit dem unauflösbaren Widerspruch zu leben, dass er, um überleben zu können, sein nutzloses Produkt einer Gesellschaft verkaufen muss, die nur nützliche Waren bezahlen möchte. Die Konfrontation und die Frustration sind unvermeidlich; die Künstler erklären dem Bürgertum den Krieg, aber dieses nimmt von einem derartigen Konflikt nicht Notiz. Dadurch werden auch die antibürgerlichen Äußerungen der Modernisten zu einer Form des l’art pour l’art. Die stark antibürgerlichen Tendenzen innerhalb der RM müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden, anders gesagt: Es dürfte wohl kaum jemand sich wirklich mit ihnen identifiziert oder durch sie gestört gefühlt haben. Sie waren nötig, damit sich eine Klasse 274 275
Oscar Wilde, The Picture of Dorian Gray (London: Penguin Books, 2000), S. 4. Wilde drückte es in ‘The soul of man under socialism’ wie folgt aus: „Indeed, the moment that an artist takes notice of what other people want, and tries to supply the demand, he ceases to be an artist, and becomes a dull or an amusing craftsman, an honest or a dishonest tradesman. He has no further claim to be considered as an artist” (Wahrlich, wenn ein Künstler davon Notiz nimmt, was andere Leute wollen und versucht, die Nachfrage zu erfüllen, hört er auf, ein Künstler zu sein und wird ein stumpfer oder amüsanter Handwerker, ein ehrlicher oder unehrlicher Händler. Er hat keinen Anspruch mehr darauf, als Künstler betrachtet zu werden; Oscar Wilde, De Profundis and other writings, London: Penguin Books, 1986, S. 34).
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der Künstler und Ästheten entwickeln konnte, die ihre soziale Stellung – im Sinne Ángel Ramas – neu definieren musste und dies mit einer antagonischen Voraussetzung tat: Die Künstler sind der Adel, dessen Position das Bürgertum vergeblich zu erreichen versucht. Ein typisches Beispiel für diese Haltung bietet die Erzählung ‘Las memorias de un pobre diablo’ von Octave Mirbeau, einer von vielen Texten, der am Ende des 19. Jahrhunderts den verzweifelten Kampf des Künstlers gegen die Kunst einerseits, gegen ein ignorantes Publikum andererseits darstellt.276 Der Erzähler legt seinem Protagonisten eine aggressive Attacke gegen celui-qui-ne-comprend-pas (den, der nicht versteht),277 den Bürger, in den Mund: „No encuentro nada más terrible que un burgués grueso y calvo ... Toda la ferocidad humana está allí, muchacho. Esto me conforma un poco; me da mejor opinión de mí mismo” (Ich finde nichts Schrecklicheres als einen fetten und glatzköpfigen Bürger ... Die ganze menschliche Wildheit ist in ihm, mein Kind. Das tröstet mich ein wenig, es gibt mir eine bessere Meinung von mir selbst; RM, Bd. 2, S. 174). Der Bürger mag dumm sein, der Künstler benötigt ihn dennoch, damit seine eigene Überlegenheit durch die Dummheit des Bürgers herausgestrichen werden kann. Wenn der Künstler sich jedoch dieser Situation bewusst wird, wenn er versteht, dass er auf den Bürger angewiesen ist, aber dieser nicht auf ihn, dann setzt eine Identitätskrise ein, die Jean Richepin in seiner Erzählung ‘La obra maestra del crimen’ beschreibt, die die RM im August und September des Jahres 1899 publizierte.278 Ihr Protagonist ist Oscar Lapissotte, ein talentloser Künstler, aber Künstler trotz allem, der Ruhm und Anerkennung in der Gesellschaft sucht. Da ihm dies mit seiner Kunst nicht gelingt, begeht er einen perfekten Mord, das heißt: er verstößt gegen gesellschaftliche Normen und vertauscht die Anbiederung mit der radikalsten Verachtung. Jedoch ist die Tat alleine nicht genug, sie muss publik gemacht werden. Ironischerweise wird die Erzählung seines Verbrechens zum größten literarischen Erfolg des Protagonisten, der ihm Ruhm und Reichtum einbringt. Die Literatur scheint dann am erfolgreichsten zu sein, wenn sie ihr potentielles Publikum am aggressivsten attackiert. Aber leider handelt es sich bei Richepin um einen wenig zufriedenstellenden Erfolg, da das Publikum die Attacken als reine Fiktion interpretiert und sie nicht ernst nimmt. Der Protagonist von ‘La obra maestra del crimen’ stirbt schließlich in einer Irrenanstalt, verliert seine Identität und ist selbst vom fiktiven Charakter seiner Tat überzeugt: ein klarer Reflex der schizophrenen Situation des Künstlers zur Jahrhundertwende. Seine Attacken und Provokationen waren Realität, sein Publikum jedoch hat sie als Fiktionen interpretiert und ihnen damit jegliche Wirksamkeit genommen, womit es die Künstler selbst von der Fiktion ihrer Aggressionen, also von der Ungefährlichkeit ihrer Werke überzeugen konnte. In diesem Moment hört der 276
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‘Les Mémoires d’un pauvre diable’ wurde am 4. September 1898 in Le Journal publiziert, was vermuten lässt, dass dieses Organ mit nur geringer Verspätung in der Redaktion der RM eintraf. Vgl. Sara Kate Goodwin (Washington University), ‘L’Action Française: un dérivé de l’Affaire Dreyfus. Son origine et doctrine’, verfügbar in: http://home.wlu.edu/~lambethj/ Dreyfus/goodwin/dreyfusgoodwin.htm. Der Terminus wurde von Rémy de Gourmont für bornierte Kulturjournalisten geprägt. Vgl. RM, Bd. 2, S. 251-254 und 262-264. Das Original, ‘Le chef-d’œuvre du crime’, findet sich in der von Flammarion ohne Jahresangabe veröffentlichten Sammlung Les morts bizarres. Die Übersetzung folgt dem französischen Text sehr nahe, übergeht jedoch die von Richepin eingesetzten Parodien auf namhafte Kritiker wie Banville und Barbey, die die Erzählung des Protagonisten von seinem perfekten Verbrechen als zauberhafte Fantasie beurteilen.
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Modernismo auf, eine künstlerische Revolution zu sein und wird zum literarischen Kanon.279 Das mexikanische Porfiriat war eine ideale Bühne für dieses Szenarium, da in ihm die Kunst nur dann toleriert wurde, wenn sie nicht den Interessen der Politik widersprach. Die Freiheit, die Díaz der Kunst einräumte, war also höchst relativ. Die ehrlich gemeinten Lobeshymnen eines Jesús E. Valenzuela oder Federico Gamboa für Porfirio Díaz erklären sich auf diese Weise sehr einfach.280 Der Diktator wird verehrt, weil er die soziale Ruhe zu garantieren schien, die den künstlerischen Prozess erst ermöglichte. Gleichzeitig nahmen die Schriftsteller um 1900 damit eine strenge thematische Limitierung in Kauf.281 Sie waren gezwungen, sich in den Elfenbeinturm der Ästhetik zurückzuziehen und betrachteten dies als Rebellion gegen ein kapitalistisches Bürgertum, das die Macht Don Porfirios garantierte und von der Rebellion der Künstler nichts wissen wollte. Einem ideologischen und sozialen Selbstbetrug seitens der mexikanischen Intellektuellen wird auf diese Weise zum Durchbruch verholfen. Die erste Phase der RM spiegelt jedoch diesen Zustand noch nicht wider. Die Provokation und die Resignation in die Fiktion halten noch ein labiles Gleichgewicht. Ohne Zweifel war das geeigneteste Ambiente für die Provokation das Leben der Bohème in Paris und Mexiko-Stadt. Die sorglose Existenz und die von Drogen und Alkohol ausgehende Faszination haben immer noch Gültigkeit in den Seiten der Zeitschrift. Aber so wie einige Jahre später in den Erzählungen und dem Roman Claudio Oronoz von Rubén M. Campos 279
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Die von den deutschen Kunstkritikern Wölfflin und Worringer, sowie von dem Katalanen Eugenio d’Ors ausgedrückten zyklischen Ideen wurden oft kritisiert, verlieren jedoch meiner Ansicht nach nicht an Attraktion, wenn es darum geht, das Entstehen und die Kanonisierung einer literarischen Bewegung wie des Modernismo zu beschreiben. In den 1908 verfaßten Memoiren Valenzuelas finden sich folgende Passagen: „Los que tenemos algún recuerdo de aquellos días no podemos por menos que ser porfiristas, pues no se hablaba de otra cosa en la República. Porfirio Díaz era legendario“ (Die wir irgendeine Erinnerung an jene Tage haben, können wir nur Porfiristen sein. Man sprach von nichts anderem in der Republik. Porfirio Díaz war legendär; Valenzuela, Mis recuerdos, S. 53) und: „El país no se ha equivocado; el general Díaz es un hombre de Estado que no sólo ha sabido hacerse un nombre en los campos de batalla sino también en los campos de la paz. A él se le debe ésta y la nación no debe olvidarlo nunca“ (Das Land hat sich nicht geirrt; der General Díaz ist ein Staatsmann, der sich nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch auf den Feldern des Friedens einen Namen machen konnte. Ihm verdankt man diesen und die Nation sollte es nie vergessen; S. 55). In der Tat fügten sich die modernistischen Autoren Mexikos in diese Situation. Aus ihrer Gruppe kam keine politische Opposition. Diese wurde eher von den zur gleichen Zeit tätigen realistischen Autoren getragen. Sicher nicht von ihrem Hauptvertreter Federico Gamboa, aber doch von aus der Tagespresse kommenden Autoren wie Porfirio Parra oder besonders Heriberto Frías, dessen Roman Tomóchic (1894) das manchmal skrupellose Vorgehen des Präsidenten gegen die politische und soziale Opposition aufzeigt. Vgl. dazu u. a.: Elisa Speckman Guerra, ‘La prensa, los periodistas y los lectores (Ciudad de México, 1903-1911)’, in Revista Moderna de México 1903-1911, Bd. 2: Contexto, hg. v. Belem Clark de Lara und Fernando Curiel Defossé (México: UNAM, 2002), S. 107-143. Eine Ausnahme stellt erneut José María Facha dar, der sich sehr aktiv an der oppositionellen Bewegung in San Luis Potosí beteiligte und dafür geraume Zeit im Gefängnis verbrachte. Allerdings verstummt der erst 1942 verstorbene Neffe Manuel José Othóns im Jahr 1902 nach einigen Morddrohungen und Angriffen auf seine Existenz. Diese Informationen stammen aus einem nicht veröffentlichten Vortrag Ignacio Betancourts auf dem XIX Coloquio Internacional de Literatura Mexicana e Hispanoamericana in Hermosillo/Sonora am 12. November 2003.
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werden auch die Gefahren und das Zerstörerische dieser Existenzform beschrieben. Erneut drückt ein französischer Text den ambivalenten Charakter der Bohème am deutlichsten aus: Jules Clareties ‘Diario de un Parisiense. ¡Viva el Vino!’, publiziert im September 1899. Claretie war ein anerkannter Vertreter der offiziellen französischen Kultur und übte in ihr einige renommierte Posten aus, etwa den des Verwalters des Théâtre Français. Ab 1888 hatte er einen Sitz in der französischen Akademie. Mit einem Wort: Claretie konnte keineswegs des Dekadentismus oder der literarischen Rebellion verdächtigt werden. Trotzdem konnte auch er sich der von der Pariser Bohème ausgehenden Attraktion nicht zur Gänze entziehen. Der ehrenwerte Akademiker behandelt in seinem Artikel das Problem des Alkoholismus in Frankreich. Überraschenderweise spricht sich Claretie gegen eine radikale Abstinenz in der Kunstszene aus, weil dadurch die Kunst ein wichtiges Element einbüßen würde: den gesunden Rausch; das dionysische Element, würde Nietzsche sagen; „enivrezvous“ Baudelaire. Der Kritiker akzeptiert, dass es eine sehr produktive Bohème geben kann, was er jedoch ablehnt sind die Ausschweifungen und ist besonders die Modedroge ajenjo.282 Schon die Griechen – so Claretie – haben den Alkohol verehrt und unsterbliche Kunstwerke geschaffen. Die Modernen greifen jedoch zur falschen Droge. Claretie richtet sich an die Abstinenzbewegung und schreibt: „¿Qué quieren ustedes que ellos hagan sobre todo contra los poetas que continúan cantando el falermo como en los tiempos de Horacio, con esta diferencia: que el falermo parisiense es una simple mixtura química y que Horacio le odiaría tanto como el ajo y el veneno de Locusta” (Was sollen sie machen, vor allem gegen die Dichter, die immer noch, wie in den Zeiten des Horaz, den Falerner besingen, nur dass der Pariser Falerner ein einfaches chemisches Gebräu ist und dass Horaz ihn hassen würde, so wie er den Knoblauch und das Gift der Locusta gehasst hat; RM, Bd. 2, S. 275). Der künstliche Charakter des Rausches wird abgelehnt, der künstlerische Wert des „enivrez-vous“ dagegen nicht in Frage gestellt. Auch die Gebrüder Goncourt argumentieren in ihrem Text ‘Ajenjo’ (‘Absinthe’) auf diese Weise.283 Sie bezeichnen das Modegetränk als „flüssiges Haschisch“, das in der Lage ist die von Baudelaire beschriebenen Visionen zu produzieren, die der orientalischen Welt zuzurechnen sind, das aber auch „la borrachera brutal del Occidente“ (den brutalen Rausch des Abendlandes) hervorrufen kann (RM, Bd. 2, S. 219). Sein Konsum habe als letzte Folge die Verwechslung von Rausch und wirklichem Leben, der Künstler könne nur noch in der Welt des Absinth existieren. Die von Rubén M. Campos beschriebenen letzten Tage Bernardo Couto Castillos, der erst mit dem ersten Glas ins Leben zurückfand, können die Behauptungen der französischen Brüder illustrieren. Doch auch diese wollen trotz aller Gefahren die Notwendigkeit einer künstlerischen Bohème für den Fortschritt der Literatur nicht negieren. Die Warnungen Clareties und der Goncourts verhindern andererseits nicht, dass die RM auch wahre Hymnen an den Absinth veröffentlicht. Eine der beeindruckendsten findet sich schon in der vierten Nummer der Zeitschrift vom 15. September 1898. Francisco M. de 282
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Ajenjo ist die spanische Bezeichnung für den französischen Absinth. Es handelt sich um eine Pflanze, der narkotische Eigenschaften zugeschrieben werden und die auch als Afrodisiakum dienen soll. Zur Herstellung von Absinth werden ihr Anis und Majoran beigemischt. Jedoch dürften um 1900 immer mehr synthetische Zusätze in das Getränk gekommen sein. Es handelt sich um ein Fragment des 1861 erschienenen Romans Sœur Philomène.
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Olaguíbel, einer der produktivsten Prosaautoren der RM, betitelt sie einfach ‘De Ajenjo’. Das Getränk verwandelt sich in eine grüne Göttin, die den Frust des Alltags vergessen lässt: „He anhelado para mi frente el fresco palpitar de sus alas de seda verde; para la noche de mi tedio el resplandor flavescente de sus ojos color de relámpago” (Ich habe für meine Stirn das frische Schlagen ihrer Flügel aus grüner Seide ersehnt; für die Nacht meiner Langeweile den fluoreszierenden Schein ihrer blitzfarbenen Augen; RM, Bd. 1, S. 54). Die Verwendung der Farben und der Synästhesien in diesem Text ist auffällig und lässt vermuten, dass Olaguíbel bereits gut mit den Paradis artificiels Baudelaires vertraut war. Vor allem überrascht jedoch der kreative Wert, den Olaguíbel der Droge zuspricht. Die letzten Zeilen des Textes wollen den Eindruck eines bewusstlosen Autors erwecken, der zurücktritt, um die Droge als eigentlichen literarischen Schöpfer darzustellen: „Una ola avanza, silenciosa y formidable. Pero no es negra, es verde como las alas de mi diosa ... Avanza muda, se acerca ... ¡ya está aquí! ... /El cuento ...” (Eine Welle dringt vor, lautlos und großartig. Aber sie ist nicht schwarz, sie ist grün wie die Flügel meiner Göttin ... Sie dringt stumm vor, sie nähert sich ... Sie ist schon hier! ... /Die Geschichte ...; S. 54). Die RM propagiert ohne Zweifel eine kreative Bohème, warnt aber gleichzeitig vor ihren Gefahren. In diesem Sinne ist sie eine treue Nachfolgerin der Revista Azul, die ebenfalls die Anziehungskraft der künstlichen Paradiese, des Alkohols, der Droge und in erster Linie eines fiktiven Lebens, das vor den Problemen des Alltags, vor dem struggle for life,284 die Augen schließt, nie verleugnet hatte. Wenn die Bohème und der Rausch der Kunst und der Schönheit dienen, muss man sie akzeptieren; wenn sie die Künstler von der großen gegenüber der Ästhetik gleichgültigen Mehrheit unterscheiden können, dann sind sie willkommen. Nicht umsonst veröffentlicht die Zeitschrift gegen Ende ihres zweiten Jahres Baudelaires ‘Hymne à la beauté’.285 Das Ziel, also das Kunstwerk und die ästhetischen Eindrücke, erlaubt jedes Mittel, ob es nun vom Himmel oder von der Hölle kommt: l’art pour l’art. Besser gesagt, die Kunst bekommt im Gedicht Baudelaires die Aufgabe, den Künstler zu überzeugen, dass er ein Auserwählter ist, der folgerichtig eine privilegierte Stellung innerhalb einer kunstfeindlichen Gesellschaft einnehmen sollte. Konsequenterweise hat niemand das Recht, den Künstler über die Nützlichkeit seiner Produkte auszufragen: ein Selbstbetrug mit sehr wertvollen und attraktiven Folgen. Dieser Selbstbetrug ist auch das Element, das die an sich heterogene Revista Moderna einen kann, das die verschiedenen sozialen und kulturellen Hintergründe ihrer Mitarbeiter nivelliert und die Zeitschrift zum repräsentativsten Organ der Kultur der mexikanischen Jahrhundertwende macht. Baudelaires Verse können demnach mit einigem Recht als Motto der Publikation dienen: „Que tu viennes du ciel ou de l’enfer, qu’importe,/O Beauté! monstre énorme, 284 285
Der englisch verwendete Ausdruck wurde bei einigen Autoren der Zeit zu einem Synonym für bürgerliches Leben. Die beiden ersten Seiten der Novembernummer der RM von 1899 sind dem Gedicht gewidmet. Das Original und die diesmal nur José Juan Tablada anvertraute Übersetzung werden parallel abgedruckt. Es gibt keinen Kommentar zu den sieben Quartetten, sie sollen für sich selbst sprechen. Ihre optische Gestaltung soll ein Augenfang für die Leser der Publikation sein. Es soll verhindert werden, dass diese das Gedicht einfach überblättern. Die Herausgeber der RM wollten sicher gehen, dass der Text mit einer breiten Rezeption rechnen konnte.
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effrayant, ingénu!/Si ton œil, ton souris, ton pied, m’ouvrent la porte/D’un Infini que j’aime et n’ai jamais connu?” (Ob du vom Himmel oder von der Hölle kommst, was tut’s, oh Schönheit! Enormes, erschreckendes unbefangenes Monster! Solange dein Auge, dein Lächeln, dein Fuss mir die Tür eines Unendlichen öffnen, das ich liebe und das ich nie gekannt habe) (RM, Bd. 2, S. 322).
2.2.3. Der Selbstbetrug festigt sich: Die Revista Moderna im Jahr 1900 Im Laufe des Jahres 1900 präsentiert sich die RM sehr philosophisch. Sie sucht eine theoretische Basis für das erwähnte einende Element. Nur auf den ersten Blick überrascht es, dass sie diese nicht in Frankreich findet, sondern in Deutschland. Das Gedankengut Nietzsches einerseits, die romantischen Ideen Novalis andererseits stellen der RM eine philosophische Rechtfertigung für ihren Elitismus und für die Annäherung an das Konzept des Künstlers als gottähnlichem Schöpfer bereit. Es handelt sich jedoch um deutsche Philosophie, die in Frankreich vorrezipiert, auf Französisch oder in spanischen Übersetzungen von französischen Übersetzungen der deutschen Originale gelesen wurde. Nietzsche wurde erst Ende des Jahrhunderts in Frankreich entdeckt, oft in Zusammenhang mit der Musik Wagners. Die RM ihrerseits war stets um aus Frankreich stammende kulturelle Neuigkeiten bemüht. Sie nutzte die Nietzsche-Rezeption in den Pariser Zeitschriften aus und präsentierte den deutschen Philosophen ihrem Publikum als Neuentdeckung, ohne darauf hinzuweisen, dass Nietzsche im Jahr 1900 schon lange nicht mehr schrieb, bzw. verstorben war.286 Über die RM erfuhren die mexikanischen Leser nichts von der Polemik um das Gedankengut Nietzsches, die in Deutschland etwa 15 Jahre vor Erscheinen der Zeitschrift ihren Höhepunkt gefunden hatte. Es handelt sich demnach weniger um eine bewusste Nietzsche-Rezeption, als vielmehr um den Versuch, eine finisekuläre Ikone, einen Denker zu finden, der zum Vertreter eines orientierungslosen Zeitalters stilisiert werden und den Selbstbetrug der modernistischen Autoren auf eine theoretische Basis stellen konnte. Ob die Aufnahme Nietzsches in Mexiko durch die RM dem Gedankengut des Deutschen tatsächlich gerecht wurde, ist in unserem Kontext zweitrangig. Wichtiger erscheint der Versuch der Herausgeber der Zeitschrift, mit seiner Hilfe die generellen Linien einer Philosophie der Jahrhundertwende zu zeichnen, die im weitesten Sinne als dekadent umschrieben wurde.287 Die Fähigkeit der RM, der Philosophie 286 287
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In der Tat nimmt die RM das Ableben Nietzsches am 25. August 1900 nicht zur Kenntnis. Es darf nicht vergessen werden, dass Nietzsche den Begriff „dekadent“ (er verwandte die entsprechenden französischen Termini „décadent“ und „décadence“) in Der Fall Wagner von 1888 als Erschöpfungszustand und Krankheit einer Kultur negativ definiert hatte: „Wie verwandt muss Wagner der gesamten europäischen décadence sein, dass er von ihr nicht als décadent empfunden wird! Er gehört zu ihr: er ist ihr Protagonist, ihr größter Name [...] Der Instinkt ist geschwächt. Was man zu scheuen hätte, das zieht an. Man setzt an die Lippen, was noch schneller in den Abgrund treibt [...] Den Erschöpften lockt das Schädliche: den Vegetarier das Gemüse“ (Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, Stuttgart: Reclam, 1973, S. 97f.). Dass ausgerechnet der deutsche Philosoph in der RM zum wesentlichen Denker der Dekadenz werden konnte, stellt nur einen der vielen Irrwege innerhalb der Nietzsche-Rezeption dar.
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Nietzsches einen neuen Kontext zu erfinden beeindruckt, ebenso die darin ablesbare Notwendigkeit, auf eine Autorität verweisen zu können. Die von der europäischen Romantik zur Ideologie erhobene Forderung nach Originalität, die von einigen Vertretern der Modernistengruppe übernommen und in einen gleichsam religiösen Rang erhoben wurde, erweist sich auf diese Weise als ein weiterer ästhetischer Selbstbetrug. Die zweite Nummer des dritten Jahres der Zeitschrift hat den Charakter einer Sonderausgabe für Nietzsche, die mit dem von Julio Ruelas gezeichneten Porträt des Denkers einsetzt. Die einführenden Worte der Ausgabe spiegeln die Charakteristika der Nietzsche-Rezeption in der RM wider. Er wird nicht nur als Philosoph interpretiert, sondern auch, und vielleicht in erster Linie, als Literat und Erzieher. Nietzsche erscheint als Messias-Figur am Beginn eines neuen Zeitalters. Der anonyme Autor dieses Textes schreibt: „Aparece en nuestras páginas el retrato del ilustre filósofo y educador moderno, Federico Nietzsche, quien á semejanza de todos los héroes del pensamiento, ha dado en sus obras la más completa fórmula de su época y ha trazado á la humanidad contemporánea una luminosa vía” (In unseren Seiten erscheint das Poträt des berühmten Philosophen und modernen Erziehers Friedrich Nietzsche, der, wie alle Geisteshelden, in seinen Werken die vollständigste Formel seiner Epoche gegeben und der zeitgenössischen Menschheit einen leuchtenden Weg vorgezeichnet hat; RM, Bd. 3, S. 18). Nietzsche erscheint als Philosoph, der in seinem Werk die widersprüchlichen Tendenzen der Jahrhundertwende zusammenfasste und für die Redakteure der RM daher die Synthese eines Denkens darstellt, das sie selbst in ihren Gedichten, Erzählungen und Chroniken andeuteten. Sie fanden in Nietzsche eine Autorität, mit der dem mexikanischen Publikum bewiesen werden konnte, dass die Künstler und Ästheten symbolisch ausdrückten, was ein strenger deutscher Philosoph wissenschaftlich beschrieben hatte.288 Eine derartige Interpretation berücksichtigte nicht, dass oft gerade die literarischen Qualitäten der Texte Nietzsches seine Attraktion begründeten und verwies außerdem erneut auf die französische Ästhetik der zweiten Jahrhunderthälfte, auf Baudelaire, der über seine Poe-Lektüren eine literarische Methode erarbeitete und damit zeigte, dass auch der Dichter auf bewusste Vorgehensweisen und Techniken zurückgreifen kann. Damit erscheint es möglich, die Notwendigkeit einer quasi wissenschaftlichen Untermauerung des literarischen Prozesses in den Kontext der Klassenbildung des Künstlers und seiner paradoxen Situation innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu stellen. Liliana Weinberg beschrieb jüngst in einem Aufsatz über den „Lateinamerikanismus“ der RM diese Entwicklung zutreffend: Es fundamental el proceso de autonomización que vive el campo artístico y literario, que se define en oposición al rastacuerismo y el proceso general de mercantilización de la vida e imposición de los gustos del burgués, pero a la vez como afirmación del proceso de profesionalización del escritor: la forma como valor trabajo y la profesionalización de la escritura. 288
Die RM fand mit John Ruskin auch einen für sie geeigneten Kunsthistoriker, wie eine Studie Tabladas über den Engländer verdeutlicht (RM, Bd. 2, S. 53f.). Der Verteidiger der Präraffaeliten spielt jedoch nur eine untergeordnete Rolle innerhalb der Zeitschrift. Das gleiche gilt auch für die Malerei eines Rossetti oder Burne-Jones selbst, deren Einfluss auf Autoren wie den Kubaner Julián del Casal unübersehbar ist, deren Funktion innerhalb der Epoche jedoch nur die einer Referenz unter vielen war: die religiöse Verehrung der Kunst war ihnen übergeordnet.
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(Der Autonomisierungsprozess, den das künstlerische und literarische Feld durchläuft, ist fundamental. Er definiert sich gegen die wirtschaftliche Freibeuterei und den generellen Merkantilisierungsprozess des Lebens und die Aufzwingung des bürgerlichen Geschmacks, aber auch als Bejahung eines Professionalisierungsprozesses des Schriftstellers: die Form als Arbeitswert und die Professionalisierung des Schreibens.)289
Die mexikanische Forscherin erwähnt jedoch nicht, dass die Lage des Schriftstellers damit nicht weniger paradox wird, weil er immer noch für ein Publikum schreibt, das er in seinen Texten verachtet oder karikiert. Bezeichnenderweise veröffentlicht die RM in ihrer Nummer zwei des Jahres 1900 auf sieben Seiten, ein für die Zeitschrift ungewöhnlicher Umfang, Fragmente aus Menschliches, Allzumenschliches, die sich in erster Linie mit der Kunst und mit der Beziehung des Künstlers zu seinem Publikum beschäftigen. Ich zitiere den Aphorismus 168, der auf eindeutige Weise das für die Modernistengeneration von 1900 entscheidende „Spiel“ zwischen Künstler und Publikum ausdrückt. Snobismus und Arroganz einerseits, die Idee des Künstlers als Erzieher seines Publikums (auch als solcher ist er natürlich überlegen) andererseits, bestimmen diese Beziehung. Künstler und sein Gefolge müssen Schritt halten. – Der Fortgang von einer Stufe des Stils zur andern muss so langsam sein, dass nicht nur die Künstler, sondern auch die Zuhörer und Zuschauer diesen Fortgang mitmachen und genau wissen, was vorgeht. Sonst entsteht auf einmal jene große Kluft zwischen dem Künstler, der auf abgelegener Höhe seine Werke schafft, und dem Publikum, welches nicht mehr zu jener Höhe hinaufkann und endlich mißmutig wieder tiefer hinabsteigt. Denn wenn der Künstler sein Publikum nicht mehr hebt, so sinkt es schnell abwärts, und zwar stürzt es um so tiefer und gefährlicher, je höher es ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar, aus dessen Fängen die in die Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu ihrem Unheil hinabfällt.290
Der Adler-Künstler und die Schildkröte-Publikum: ein derartiger Vergleich musste der modernistischen Generation willkommen sein, da diese innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft herausragen und sich gleichzeitig von ihr unterscheiden wollte. Nietzsche zeigt auch die Möglichkeit für den Künstler auf, sich sein eigenes Publikum zu schaffen. Er darf celuiqui-ne-comprend-pas verabscheuen und die Intelligentesten für seine Zwecke erziehen. Auf
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Liliana Weinberg de Magis, ‘Hispanoamérica: la confederación del arte’, in Revista Moderna de México 1903-1911, Bd. 2: Contexto, hg. v. Belem Clark de Lara und Fernando Curiel Defossé (México: UNAM 2002), S. 199-220, hier S. 213. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, insel taschenbuch 2681 (Frankfurt: Insel Verlag, 2000), S. 136. Ich zitiere aus dem Original. Der anonyme Übersetzer der RM nahm wahrscheinlich eine französische Version als Vorbild. Trotzdem konnte er die Essenz des Aphorismus bewahren. Aus Gründen der Vollständigkeit hier der spanische Text der RM: „El artista y su séquito deben marchar al paso. –El pasaje de un grado de estilo al otro debe ser bastante lento, para que no solamente los artistas, sino también los oyentes y espectadores, comprendan y sepan exactamente lo que ocurre. De otra manera prodúcese de repente un gran abismo entre el artista, que crea sus obras sobre una cima aislada, y el público, incapaz de subir á tal altura, que apesadumbrado se vuelve y desciende más bajo aún. Pues cuando el artista no eleva á su público, éste cae rápidamente, y es tanto más profunda y peligrosa su caída cuando más alto le elevó un genio, semejante al águila, de cuyas garras cae por su desgracia la tortuga arrebatada hasta las nubes“ (RM, Bd. 3, S. 22).
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jeden Fall steht die Überlegenheit des Künstlers fest, der Selbstbetrug etabliert sich ein wenig mehr.291 Wie erwähnt handelt es sich um einen französischen Nietzsche. Aus diesem Grund wäre es nicht korrekt, einen Einfluss der deutschen Kultur auf das finisekuläre Mexiko feststellen zu wollen. Die Verehrung für alles Französische war zu bestimmend. In der Tat ist Nietzsche für die RM auch der Bürger eines feindlichen Landes, das 1871 seine militärische Überlegenheit gegenüber Frankreich demonstriert hatte. Unschwer lässt sich der Krieg zwischen Frankreich und Preußen in der RM als Metafer für den „Krieg“ zwischen Künstlern und Bürgertum lesen. Frankreich, der Gipfel der zeitgenössischen Kultur, wird von einem barbarischen Land besiegt: Kunst und Kultur müssen sich vor der Gewalt beugen. Dennoch gewinnt die Kultur im eschatologischen Gedankensystem der RM: Victor Hugo, Baudelaire, Verlaine, Mallarmé haben mehr Gewicht als der militärische Sieg.292 Der Konflikt zwischen Frankreich und Preußen stellt eine wichtige Kondition für die NietzscheRezeption in Frankreich dar. Der Goethe-Übersetzer Henri Lichtenberger, einer der ersten Kritiker des deutschen Philosophen in Frankreich, betitelte eine seiner Studien bezeichnenderweise ‘La literatura de Nietzsche’. Es handelt sich im wesentlichen um eine Zusammenfassung von Lichtenbergers 1898 veröffentlichter Monografie La philosophie de Nietzsche. Die RM publiziert den Aufsatz in ihrer Nummer acht vom April 1900. Lichtenberger unterstreicht, dass Nietzsche selbst die deutsche Kultur abwertete und die französische vorzog und verwandelt wie nebenbei die Niederlage von 1870 in einen Sieg: A raíz de la guerra de 1870, cuando se repetía por doquiera que el verdadero vencedor de Sadowa y de Sedán, era el maestro de escuela, alemán, y que la cultura germánica había vencido á la cultura francesa, Nietzsche negaba semejante pretensión, declarando que no existía tal cultura alemana; que los alemanes [...] estaban en el gran error de creerse civilizados; que las victorias de 1870, al mantenerlos en esa ilusión, podían llegar á ser un desastre para los vencedores y matar el espíritu alemán en provecho del Imperio alemán. (Unmittelbar nach dem Krieg von 1870, als überall wiederholt wurde, dass der wahre Sieger von Sadowa und Sedan der deutsche Schulmeister war und dass die germanische Kultur die französische besiegt habe, negierte Nietzsche einen derartigen Anspruch und erklärte, dass eine solche deutsche Kultur nicht existierte, dass die Deutschen dem großen Fehler verfallen waren, sich zivilisiert zu glauben, dass die Siege von 1870, da sie sie
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Théodore de Banville scheint den typischen Künstler seiner Zeit in einem kleinen Porträt Baudelaires zu beschreiben. Dieser „reunía todas las gracias, todas las fuerzas y seducciones más irresistibles” [vereinte allen Anmut, alle Stärke und unwiderstehliche Anziehungskraft in sich] (RM, Bd. 3, S. 32). Banville bezog sich auf ein Gemälde des Dichters. Das reale Bild Baudelaires war weniger interessant. Nicht nur das Publikum, auch der Künstler selbst erhalten fiktiven Charakter. Die Masken und Spiele mit der Identität werden Mode. Einen klaren Reflex dieser Mode stellen Romane wie Wildes The picture of Dorian Gray und Stevensons Dr Jekyll and Mr Hyde dar. Banvilles Text findet sich nicht zufällig in beiden großen Organen des mexikanischen Modernismo. Die Revista Azul druckte ihn schon in ihrem ersten Band ab. Vgl.: RA, Bd. 1, S. 47. Ironischerweise hatte gerade ein deutschsprachiger Autor in dieser Zeit die Überlegenheit der Kultur gegenüber der militärischen Macht sehr deutlich festgelegt. Rainer Maria Rilke stellt in seiner Jugenderzählung ‘Feder und Schwert’ (1893) eine Feder dar, die das Schwert besiegt, indem sie den Friedensvertrag unterzeichnet: „Das Schwert aber stand still in der finsteren Ecke. Ich glaube, es prahlte nie wieder“ (Rainer Maria Rilke, ‘Feder und Schwert’, in Wladimir der Wolkenmaler und andere Erzählungen, Skizzen und Betrachtungen aus den Jahren 1893-1904, insel taschenbuch 68, Frankfurt: Insel Verlag, 1977, S. 9-13, hier S. 12).
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in dieser Illusion bestärkten, ein Desaster für die Sieger sein und den deutschen Geist zu Gunsten des deutschen Reiches opfern können; RM, Bd. 3, S. 119.)293
Deutschland habe militärische Macht mit kultureller Überlegenheit verwechselt.294 Die Redakteure der RM scheinen andeuten zu wollen, dass das junge mexikanische Bürgertum auf die gleiche Weise ökonomische Potenz mit kultureller Verfeinerung verwechselt. Nietzsches Philosophie ist in diesem Kontext relativ bedeutungslos. Er ist „nur“ eine sehr autorisierte Stimme, die die Künstler der Jahrhundertwende im Glauben an ihre eigene Überlegenheit bestärken und sie überzeugen kann, dass ihre eigentliche gesellschaftliche Rolle gerade in der sozialen Isolierung zu finden ist. Lichtenberger stellt das Gedankengut Nietzsches sehr ausgewogen dar, sieht man von einigen nationalistischen Ausbrüchen ab. Der Verweis auf den Übermenschen, den „superhombre“, kann auch bei ihm nicht fehlen. Ich erlaube mir die ironische Frage: 293
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Es handelt sich hier um einen wörtlich aus La philosophie de Nietzsche übernommenen Abschnitt, der in Lichtenbergers Buch den radikalen Individualismus Nietzsches illustrieren soll, der einen Konflikt seiner Überzeugungen mit allen herrschenden sozialen und politischen Normen in Kauf nimmt. Hier die Passage im Original: „Alors que tous les Allemands croyaient, depuis Hegel, que l’État est la raison d’être de l’individu, il exaltait l’individu et se montrait fort sceptique sur l’importance du rôle de l’État au point de vue de la culture. Alors qu’on répétait partout que le vrai vainqueur de Sadowa et de Sedan était le maître d’école allemand et que la culture germanique avait vaincu la culture française, il affirmait qu’il n’y a pas de culture allemande, tandis que le Français ont réellement une culture nationale; que les Allemands, étant et demeurant des <>, avaient le plus grand tort de se croire civilisés; que les victoires de 1870, en les confirmant dans cette illusion, pouvaient devenir un désastre pour les vainqueurs et <>“ (Henri Lichtenberger, La philosophie de Nietzsche, Paris: Félix Alcan, 1898, S. 55f.). Ein anderer Artikel der RM dieses Jahres über Nietzsche beschäftigt sich ausschließlich mit politischen Aspekten. Pierre Lasserre (in der RM fälschlicherweise: Laserre) behauptet in ‘Nietzsche y la literatura francesa’ die unbezweifelbare Überlegenheit der französischen Kultur. Nietzsche habe nur deshalb in Frankreich Erfolg gehabt, weil er, was untypisch für einen Deutschen ist, gut schrieb. Seine Ideen seien zweitrangig, wichtiger sei sein Stil und dieser sei französisch (RM, Bd. 3, S. 131-135). Er übernimmt damit eine Idee aus Lichtenbergers Nietzsche-Buch. Dieser schrieb: „Pour un Français, en tout cas, son <<écriture>> si colorée et si nette, si nerveuse et si souple, si riche en expressions pittoresques, en formules frappées comme des médailles, est d’une lecture singulièrement attrayante; sa phrase est évidemment très travaillée, ciselée par un virtuose de la plume avec un soin minutieux, avec un art très voulu, très conscient de ses procédés et très raffiné; et pourtant elle a aussi je ne sais quoi de naturel, d’alerte, de dégagé, de vibrant que nous trouvons rarement dans la prose allemande, si peu sympathique, souvent, à les oreilles françaises par la lourdeur de ses constructions et la pesanteur de son allure“ (Für einen Franzosen jedenfalls ist seine so farbige und klare „Schrift”, so nervös und so schmiegsam, so reich an bildlichen Ausdrücken, an wie Medaillen prägnanten Formeln eine äußerst attraktive Lektüre. Sein Satz ist offensichtlich sehr ausgefeilt, von einem Virtuosen der Feder mit minutiöser Sorgfalt ziseliert, mit einer sehr gewollten Kunst, sehr bewusst seiner Vorgehensweisen und sehr raffiniert. Und dennoch hat sie auch etwas Natürliches, etwas Waches, etwas Ungezwungenes, etwas Vibrierendes, das wir selten in der deutschen Prosa finden, die den französischen Ohren oft wegen der Trägheit ihrer Konstruktionen und der Schwere ihres Tempos so unsymphatisch ist; Lichtenberger, La philosophie de Nietzsche, S. 24f.). Lasserre sollte zwei Jahre später sein Buch La Morale de Nietzsche (1902) veröffentlichen. Sein Artikel in der RM stellt noch ein beeindruckendes Beispiel für die erzwungene Integration einer wichtigen Figur aus einer fremden Kultur in die eigene dar. Ein weiteres Beispiel referierte Amado Nervo: die Versuche, Shakespeare in einen Franzosen zu verwandeln.
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Welcher Dichter fühlte sich nicht zumindest einmal Übermensch? Die Künstler der Jahrhundertwende stellten mit Sicherheit keine Ausnahme dar, im Gegenteil: der Terminus alleine musste für sie eine starke Anziehungskraft besitzen. Über den anderen stehen war das Ideal einer Gruppe, deren Vertreter mehrheitlich einen untergeordneten sozialen Status genossen. Der „superhombre“ war ein bequemer Terminus, um den Selbstbetrug zu kaschieren. Und noch eine andere sehr bequeme Möglichkeit bot der Begriff. Er konnte in den Rang einer Religion erhoben werden. Lichtenberger, der mit einigen anderen französischen Kritikern die Nietzsche-Rezeption der RM steuerte, lässt keinen Zweifel daran: „La religión del Superhombre es una creencia, no superior en sí al cristianismo; sino mejor apropiada que él á las necesidades particulares de nuestra época que no peca por brutalidad ni por abundancia de vida, sino más bien por debilidad” (Die Religion des Übermenschen ist ein Glaube, der an sich dem Christentum nicht überlegen ist, sondern der nur besser als es den speziellen Notwendigkeiten unserer Epoche angepasst ist, die nicht an Brutalität oder Überfluss leidet, sondern vielmehr an Schwäche; RM, Bd. 3, S. 119, meine Hervorhebung). Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Rede von der spirituellen Leere, die das von den Wissenschaften angezweifelte Christentum hinterlassen hatte, ein Gemeinplatz geworden. In der RM schien Jesús E. Valenzuela dieses Stereotyp durchbrochen zu haben, indem er die moderne Literatur als ein kompliziertes Produkt eines Beziehungsnetzes zwischen positivistischer Wissenschaft und dem Unbekannten, das mit den neuen Erkenntnissen zunimmt, erklärt hatte. Die Positionen Valenzuelas dürften jedoch für die RM zu rational gewesen sein, es war für ihre Mitarbeiter viel interessanter, auch weiterhin die spirituelle und religiöse Leere und eventuell sich selbst als Gründer einer neuen ästhetisierenden Religion zu proklamieren. Nietzsche diente beiden Vorhaben, zumindest in seiner französisch-mexikanischen Lektüre, die uns hier beschäftigt. Er zerstörte alte Werte und rief einen radikalen Individualismus als neue Religion aus. Lichtenberger nuanciert zwar in seinem Beitrag deutlich mehr. So zum Beispiel zweifelt er am Individualismus Nietzsches, den er „nur“ als extremste Folge seines Altruismus interpretiert (S. 117f.), dennoch stellt er selbst fest, dass die „religión del Superhombre“ unabhängig vom Werk des Deutschen, ideal in die finisekuläre Epoche passte. Ich wiederhole, dass Nietzsche den Redakteuren der RM eine philosophisch-ethische Basis bereitstellte, an der sie festhalten konnten. Ausgerechnet der Autor, der die décadence der europäischen Kultur lächerlich gemacht hatte, wurde so zu einem der Jahrhundertwende angemessenen neuen Wert. Noch fehlte die Anwendung dieser Basis auf die konkrete literarische Produktion. Wieder diente ein deutscher Autor diesem Ziel, wieder von der französischen Kritik gefiltert. Maurice Pujo295 publiziert in der RM einen umfangreichen Essay mit dem Titel 295
Pujo war 1899 einer der Gründer der ultrakonservativen Action Française (AF), die als Folge des Skandal Dreyfus entstand. Die AF wandte sich gegen die politische Linke, den Anarchismus und die parlamentarische Demokratie. Ihr wichtigster Ideologe war Charles Maurras, ein auch in den modernistischen Kreisen Mexikos bekannter Schriftsteller. Die Gegner der AF betonten, wahrscheinlich ohne Grund, deren Antisemitismus. Vgl. u. a. den Artikel ‘Action Man’ von Carmen Callil über Maurras in der Londoner New Statesman vom 9. April 2001, S. 38-41. Zur Geschichte der AF verweise ich auf den gut dokumentierten elektronischen Beitrag aus dem Jahr 1999 von Sara Kate Goodwin der Washingtin University ‘L’Action Française: un dérivé de l’Affaire Dreyfus. Son origine et doctrine’, verfügbar in:
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‘Bosquejo de idealismo integral’, der sich mit dem Philosophen und Dichter Novalis auseinandersetzt. Der Artikel findet sich in der Nummer 21 der Zeitschrift vom November 1900. Pujo stellt fest, dass das Wesen der Philosophie Novalis in der Vereinigung des Ich mit dem Universum liege: „el yo hace el sacrificio de su individualidad y se deja absorber por el yo universal“ (das Ich opfert seine Individualität und lässt sich vom universellen Ich absorbieren; RM, Bd. 3, S. 327). Radikaler Individualismus bei Nietzsche, Verzicht auf das Ich bei Novalis: der Kontrast könnte nicht schärfer ausfallen. Für die RM, für den mexikanischen Modernismo, waren derartige Differenzen nebensächlich. Beide Denker konnten der übergeordneten Absicht der Verehrung des Künstlers dienen. Etwas ironisch ausgedrückt: Nicht jeder ist in der Lage, seine Individualität mit dem Universum zu verschmelzen, es muss ein mit einem ausgezeichneten Sinn für Ästhetik begabter Künstler sein.296 Für Novalis war denn auch das Werkzeug, um diesen Status zu erreichen, das schöpferische Wort. Pujo fasst zusammen: el espíritu se encuentra en posesión de una especie de poder creador. Todo cuanto en él se encuentra, debiendo encontrarse en la Naturaleza, puede hacer brotar de una palabra las cosas á la existencia [...] nosotros somos los más grandes mágicos que existan, puesto que nuestros encantamientos nos aparecen como fenómenos extraños y sacan todo su poder de ellos mismos. El acto de hacerse ilusión á sí mismos es el más elevado, es el punto primitivo, el génesis de la vida. (der Geist besitzt eine Art schöpferischer Macht. Alles was sich in ihm und gleichzeitig in der Natur findet, kann aus einem Wort die Dinge zur Existenz bringen [...] wir sind die größten Magier, die es gibt, da unsere Verzauberungen uns wie fremde Phänomene erscheinen und alle Macht aus sich selbst ziehen. Der Akt, sich selbst zur Illusion zu machen, ist äußerst erhöht, er ist der Ausgangspunkt, die Genesis des Lebens; RM, Bd. 3, S. 331.)297
Das Wort ist selbstverständlich Eigentum der Dichter, die sich auf diese Weise in der Rolle von Demiurgen sehen dürfen. Wieder muss auf die Thesen Ángel Ramas in ‘La ciudad letrada’ verwiesen werden, diesmal allerdings in einem sehr spirituellen Kontext. Die RM
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http://home.wlu.edu/~lambethj/Dreyfus/goodwin/dreyfusgoodwin.htm. Die Anziehungskraft, die auch Nietzsches Ideen auf Pujo ausübten, erscheint in diesem Kontext bezeichnend, da jene zumeist mit der politischen Rechten in Verbindung gebracht wurden. Es scheint mir nicht abwegig zu sein, in dieser von Novalis beschriebenen Grenzerfahrung einen der Gründe für die von Drogen und Alkohol ausgehende Faszination zu sehen. Rausch bedeutet Verzicht auf das Ich und gleichzeitig eine extreme Betonung des Individuums. Esoterisches Gedankengut wurde in Europa und Lateinamerika in der zweiten Jahrhunderthälfte sehr populär. Die Suche nach DER Wahrheit, die als Union zwischen moderner Wissenschaft und alten Glaubensinhalten interpretiert werden kann, scheint ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Jahrhundertwende zu sein. Den großen Erfolg dieser Tendenzen belegt das bekannte Buch Édouard Schurés Les grands initiés, das die Doktrinen von so unterschiedlichen Figuren wie Christus, Plato und Krischna erklärt und auslegt. Es erschien erstmals 1899 und war 1939 bei der Auflage Nummer 135 angelangt. Die Bedeutung dieses Textes für den lateinamerikanischen Modernismo sollte nicht unterschätzt werden. Neben vielen anderen konsultierte es Rubén Darío, um sich in ihm über das in seinem Werk zentrale esoterische Gedankengut zu informieren. Ich verweise in diesem Kontext auf Rubén Darío y la búsqueda romántica de la unidad von Cathy Login Jrade, dessen spanische Version 1986 publiziert wurde. Die Anwendung von aus französischen Quellen stammenden esoterischen Tendenzen im Modernismo ist das Thema einer umfangreichen Arbeit von Marie-Josèphe Faurie, Le Modernisme Hispano-Américaine et ses sources françaises, 1966 in Paris publiziert.
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illustriert mittels der Novalis-Interpretation Pujos einmal mehr die Überlegenheit des Künstlers: Er ist ein Auserwählter, der sich so weit über der Gesellschaft befindet, dass seine reale Position an derem Rand unwichtig erscheint. Sein Reich ist nicht von dieser Welt. Novalis habe laut Pujo festgelegt „que la vida es una enfermedad del Espíritu y que el acto filosófico por excelencia es la muerte“ (dass das Leben eine Krankheit des Geistes und der schlechthin philosophische Akt der Tod sei; S. 332). Die Dichtung, die Kunst überhaupt können auf diese Weise als ein eloquenter und großzügiger Akt des Verzichts gesehen werden. Ich erlaube mir, darauf zu bestehen, dass gerade dieser scheinbare Verzicht die eigentliche soziale Stellung des mexikanischen Künstlers der Jahrhundertwende generiert: den Selbstbetrug, die Illusion, einen unerreichbaren und überlegenen Geistesadel zu repräsentieren. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, dass die RM sich weigert, bestimmte literarische Schulen auszuschließen. Solange diese nicht an der privilegierten Stellung der Kunst zweifeln, sind sie willkommen, speziell wenn sie aus Frankreich stammen.298 Jesús E. Valenzuela drückt es sehr klar aus, wenn er sich an seinen literarischen Lieblingsfeind Salado Álvarez richtet: „esa santa comunión del arte en la que deben desaparecer las tendencias retrospectivas de los unos, ó las impaciencias precipitantes de los otros, en un divino equilibrio de belleza tan útil é imponente como el mismo de los astros en el espacio inmenso” (diese heilige Kommunion der Kunst, in der die retrospektiven Tendenzen der einen oder die stürzende Ungeduld der anderen im göttlichen Gleichgewicht einer Schönheit verschwinden müssen, das ebenso nützlich und beeindruckend ist, wie das der Sterne im gewaltigen Raum; RM, Bd. 3, S. 208). Eine logische Konsequenz aus dieser ästhetischen Gleichgültigkeit stellt der relative Wert dar, der literarischen Entlehnungen, den Einflüssen, beigemessen wird. Wenn die Künstler eine weltweite Geistesgemeinschaft bilden, dann ist es legitim, dass sie voneinander borgen. Etwas überraschend druckt die RM in diesem Kontext einen Vortrag André Gides ab, den dieser am 29. März 1900 in Brüssel hielt. Die Zeitschrift reproduziert ihn im Juli und August des gleichen Jahres unter dem Titel ‘De la influencia en literatura’.299 Man darf nicht vergessen, dass der zukünftige Kommunist Gide, dann Enttäuschter vom Marxismus, Nobelpreisträger und vieles mehr, am Beginn seiner Karriere in erster Linie mit dem französischen Symbolismus in Verbindung stand. Gide wurde 1869 geboren, war also auch seinem Alter nach für die RM ein typischer Vertreter der neuen künstlerischen Tendenzen im Frankreich der Jahrhundertwende. Gide möchte „la apología de todas las influencias“ (die Apologie aller Einflüsse) schreiben und stellt kategorisch fest, dass es keine künstlerische Originalität geben kann (RM, Bd. 3, S. 219f.). Die Idee einer globalen 298
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Die Verehrung Frankreichs findet einen radikalen Ausdruck in einem Artikel Olaguíbels zum französischen Nationalfeiertag. Der Erzähler schreibt: „Nosotros también te amamos ¡oh Francia! Nosotros también, hijos tuyos por el espíritu, comulgamos con tus ideales y unimos nuestros corazones en una palpitación única á tu gran corazón maternal” (Auch wir lieben dich, oh Frankreich! Auch wir, deine Kinder von Geistes wegen, vertreten deine Ideen und wir einen unsere Herzen in einem einzigen Schlag an dein mütterliches Herz; RM, Bd. 3, S. 210). Olaguíbel beschreibt Paris als „el cerebro y el corazón del mundo“ (das Hirn und Herz der Welt; S. 211). ‘De l’influence en littérature’ wurde noch im April des Jahres von L’Ermitage publiziert.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
Gemeinschaft der Künstler, in die man mittels der Einflüsse Aufnahme erlangt, wird explizit vertreten: „Educarse y esparcirse por el mundo, parece que sea verdaderamente encontrar á sus parientes“ (Sich erziehen und in der Welt verbreiten scheint zu bedeuten, wirklich seine Verwandten zu finden; S. 221). Dieses geistige Familientreffen habe keineswegs den Verlust der eigenen Persönlichkeit zur Folge, ganz im Gegenteil: Eine Epoche mit vielen großen Künstlern ist eine Epoche mit vielen Einflüssen (S. 221). 100 Jahre nach Novalis findet sich bei Gide, auf einer weniger mystischen, aber genauso ehrgeizigen Ebene, die Idee des Aufgehens der eigenen in einer universellen Identität, um das Ich auf unerwartete Weise zu bereichern. „La influencia no crea nada, despierta“ (Der Einfluss schafft nichts, er erweckt; S. 219), behauptet Gide in seiner Rede. Die Einflüsse erinnern den Künstler daran, dass er Teil einer Gemeinschaft ist, die sich nicht von nationalen und sozialen Grenzen beschränken lässt, die keine Grenzen kennt. Der mexikanische Modernismo lernte diese Lektion sehr gut und gab den literarischen Einflüssen freien Lauf, auch wenn er sich oft auf Frankreich beschränkte und universelle Kultur mit französischer Kultur gleichsetzte. Der Modernismo folgt Goethes Konzept der Weltliteratur, aber greift fast immer auf einen französischen Filter zurück. Ein drastisches Beispiel dafür ist die viel diskutierte Reise José Juan Tabladas nach Japan im Jahr 1900. Die RM beginnt im Juli mit der Veröffentlichung von ‘Hacia el país del sol’, den Chroniken Tabladas aus Japan. Die Echtheit dieser Reise wurde manchmal angezweifelt und es gab Spekulationen, wonach Tablada alle seine Chroniken in San Francisco geschrieben haben soll. Aber auch wenn Tablada tatsächlich in Japan war, was sehr wahrscheinlich ist, steht fest, dass es sich um ein französisches Japan handelt, sehr im Stile Pierre Lotis. Wieder wurde also der französische Filter eingesetzt, um eine fremde Kultur „begreifen“ zu können, genauer gesagt, um sie „greifbar“ zu machen.300 Die in der Kritik viel diskutierte Frage der literarischen Einflüsse wird für den Modernismo zu einem Problem der Gruppenzugehörigkeit. Es gab einen nicht geschriebenen Kanon von Auserwählten – von „raros“ würde Darío sagen, von „poètes maudits“ würde Verlaine sagen –, der immer für Erweiterungen offen war. Die Lektüre dieses Kanons sicherte den Schriftstellern den Eintritt in die erwähnte intellektuelle Gemeinschaft. Ein Blick auf das Buch Daríos genügt, um feststellen zu können, dass es sich um einen sehr heterogenen Kanon handelt, der auch den Großinquisitor der Dekadenz, Max Nordau, nicht ausschließt. Diese literarische Gemeinschaft war auch auf der Suche nach einem neuen Dichterbild, das den widersprüchlichen Tendenzen des Kanons am Ende des 19. Jahrhunderts gerecht werden konnte. Im August 1900 publizierte die RM in diesem Zusammenhang unter dem Titel ‘El gran poeta del porvenir’ eine Konferenz des Italieners Antonio Fogazzaro,301 die 300
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Rubén Darío stellte 1903 in einer ‘De la influencia alemana’ betitelten Chronik hellsichtig fest: „Toda gran voz humana se ha hecho oir [sic] en Hispano-América por órgano de Francia” (Jede große Menschenstimme wurde in Hispanoamerika durch die Orgel Frankreichs hörbar) und: „Si hoy Nietzsche tiene cierta influencia intelectual, es solamente después que pasó por París“ (Wenn Nietzsche heute einen gewissen intellektuellen Einfluss hat, so nur nachdem er durch Paris ging; RM, Bd. 6, S. 47). Fogazzaro wurde 1842 geboren, ist also eine Generation älter als die meisten Autoren der RM. Trotzdem dürfte ihm der Skandal um seine Romane, die teilweise von der Kirche auf den Index gestellt wurden, einen Platz in ihrem Kanon gesichert haben.
Die literarischen Zeitschriften
dieser am 8. März 1898 in Paris gehalten hatte. Dem Romancier ist bewusst, dass der Dichter in „nuestra sociedad moderna, tan enamorada de la ciencia, tan ávida de bienestar material“ (unserer modernen Gesellschaft, die so in die Wissenschaft verliebt ist, die so sehr nach materiellem Wohlbefinden strebt; RM, Bd. 3, S. 262) keinen Platz hat. Aber dennoch gibt es Dichter, werden Verse geschrieben. Die Wissenschaft lasse immer noch genug Platz für das Unbekannte, das Terrain der Poesie ist. Nur das soziale Prestige des Dichters habe sich mit der Entwicklung der Wissenschaften verändert, aber dies auf radikale Art: „De amos que eran, llegaron á ser casi esclavos y fueron los historiógrafos de los grandes y los encantadores del pueblo” (Von Herren, die sie waren, wurden sie fast zu Sklaven und sie wurden die Chronisten der Großen und der Volksverführer; S. 263). Fogazzaro glaubt an eine noble pädagogische Mission des Schriftstellers. Er muss das Volk erziehen und – als Lehrer – mehr wissen als das Volk. Das bedeutet auch, dass der Dichter mit der Entwicklung der Wissenschaften und der modernen Technik vertraut sein muss; er muss im weitesten Sinne der Wörter modern und intellektuell sein (S. 266f.).302 Diese anspruchsvollen Forderungen stellten den Schriftsteller erneut in eine äußerst elitäre Position und integrierten damit den Text in den Diskurs der RM. Der Dichter wurde immer mehr zu einem Übermenschen, zu einer messianischen Figur, der die bestehende Gesellschaft erneuern und die alte Religion reformieren sollte. Für Fogazzaro ist der Dichter der Zukunft nicht zuletzt ein vates, ein Dichter, der mehr Profet als Schriftsteller ist (S. 264). Die Utopie des Italieners ist die Quadratur des Kreises: ein Dichter-Prophet, der sich in die wissenschaftlich-technische Modernität fügen und sie beeinflussen kann. Die implizite herausragende Stellung des Künstlers bedingt die Anziehungskraft derartiger Ideen für die mexikanischen Schriftsteller um die RM. Im Jahr 1900 konnte die RM eine theoretisch-ethische Basis für die mexikanische Literatur der Jahrhundertwende schaffen, die für verschiedenste Schulen und Tendenzen offen war. Nietzsches in Frankreich gefilterte Philosophie rechtfertigte den intellektuellen Snobismus der Literaten, die sich als Profeten einer neuen Zeit, die souverän die aktuelle Epoche interpretierten, sehen durften. Sie definierten sich selbst als von konkreten sozialen Gegebenheiten unabhängigen Geistesadel. Zur gleichen Zeit globalisierte sich die Literatur. Es gab Verbindungen zwischen aus verschiedenen Ländern und Epochen stammenden Autoren, die nicht mehr von einem mühsamen Briefwechsel abhängig waren, sondern über den relativ schnellen Gedankenaustausch mittels der kulturellen Periodika der Zeit funktionierten. In Mexiko konstituiert sich eine höchst illusorische Republik der Künste, die den realen Bedingungen der porfirianischen Gesellschaft gegenübersteht, ohne diese je herausfordern zu können, noch zu wollen. In diesem Zusammenhang muss zumindest nebenbei auf einen latenten Widerspruch hingewiesen werden. Das Porfiriat galt als extrem „afrancesado“, aber es handelte sich um eine Nachahmung der Moden: der Kleidung oder eines oberflächlichen Verhaltenskodex. Von einer kulturellen Gefolgschaft kann nicht die Rede sein. Sowohl im populären literarischen Kanon, als auch in dem der Modernisten, gaben französische Werke den Ton an, jedoch aus unterschiedlichen Tendenzen stammend. Natürlich gab es Autoren, über die 302
Der Text Fogazzaros liest sich phasenweise wie eine Vorbereitung der Manifeste des Futurismus.
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ein Konsens herrschte, was selbstverständlich war, berücksichtigt man den eklektischen Charakter des modernistischen Kanons. Das prominenteste Beispiel ist ohne Zweifel Victor Hugo, der in keinem literarischen Kanon der Zeit fehlen durfte. Der Modernismo und die populäre Kultur des Porfiriats stimmten in ihrer Vorliebe für die großen französischen Romantiker überein (einmal mehr Hugo und mit Abstand: Lamartine, Musset, Vigny). Dass sie sie auf verschiedene Weisen lasen und interpretierten, ist eine These, die noch bewiesen werden muss. Man sollte jedoch José Emilio Pacheco recht geben in seiner Behauptung, dass die eklektische Erweiterung des Kanons durch die Modernisten dazu beitrug, den „afrancesamiento“ des Porfiriats zu überwinden.303
2.2.4. Die Revista Moderna auf solider Basis (1901-1903) Nach einer derartigen tour de force konnte die RM zur Normalität einer kulturell orientierten Zeitschrift zurückkehren, die in der Präsentation einer möglichst breiten Palette der aktuellen literarischen und künstlerischen Produktion bestand. Neben den nationalen dominierten weiterhin französische Beiträge. Neue Autoren treten neben die bereits in der RM etablierten. Die Gebrüder Goncourt, Octave Mirbeau, Anatole France, Verlaine, Baudelaire, Banville, Hérédia sind den Lesern der RM schon vertraute Figuren. Aber es gibt auch „Neuentdeckungen“, wie den 1868 geborenen Francis Jammes. Die bekanntesten Werke des französischen Dichters wurden ab 1897/98 publiziert. Dass die RM schon 1901 einen seiner kurzen Prosatexte veröffentlichte, spricht für die gesicherten literarischen Kriterien ihrer Redakteure.304 Auch die Themenschwerpunkte der Texte haben sich gefestigt. Der Exotismus in den Chroniken Tabladas; ein auch vom Skandal Dreyfus nicht geschwächer Paris-Kult, der in den Texten des Argentiniers Manuel Ugarte neue Dimensionen gewinnt. Ugarte betrachtete die Ereignisse um Dreyfus als „Reinigung“ der französischen Kultur, da sie sozialistischen Ideen zum Durchbruch verhalfen, die den von Nietzsche eingeführten Egoismus vergessen ließen.305 Wie man sieht vertrat die Zeitschrift keine politische oder ideologische Linie. Ugarte präsentierte sich als erklärter Anhänger des Sozialismus, aber er zweifelte weder an der Überlegenheit der französischen Kultur, noch an der herausragenden Stellung des Künstlers. Das zählte. Seine Nietzsche-Kritik ist nebensächlich in diesem Zusammenhang. Noch im gleichen Jahr stellte die RM einen ganz anderen Manuel Ugarte vor, den der Paisajes parisienses, eine Sammlung von Texten über typische Figuren und Viertel der französischen Metropole. Auch die Bohème und die Wirkung von Narkotika sind immer noch ein bevorzugtes Thema der RM, und ebenso häufige verbale Attacken gegen das
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José Emilio Pacheco, Antología del modernismo [1884-1921] (México: UNAM/Ediciones Era, 1999 [erste Ausgabe in zwei Bänden, México, 1970]), S. XV. ‘El tranvía’ findet sich in der Nummer sieben des Jahres 1901, S. 110. Der Text (‘Le tramway’) dürfte mit einiger Sicherheit dem Mercure de France entnommen worden sein. Vgl. Manuel Ugarte, ‘De París’, RM, Bd. 4, S. 128-131.
Die literarischen Zeitschriften
Bürgertum.306 Auch für das Thema der Narkotika stellt Manuel Ugarte mit ‘Musa de ajenjo’ ein gutes Beispiel bereit. Der Text beinhaltet die folgende skeptische Beschreibung der Effekte der Modedroge unter den französischen Bohémiens: „tu sexo, es un vaso lleno;/tu amor, es una neblina,/y tu espasmo, es un veneno“ (dein Geschlecht ist ein volles Glas, deine Liebe ein Nebel und dein Spasmus ein Gift; RM, Bd. 4, S. 33). Eine genauere Analyse rechtfertigen meiner Ansicht nach die bereits erwähnten Paisajes parisienses und einige ‘Notas bibliográficas’ von José Juan Tablada vom April 1901.307 In der Ausgabe vom September 1901 findet sich das Vorwort Miguel de Unamunos zu Ugartes Buch. Der Spanier konzentriert sich in erster Linie auf die Sprache des Textes, die ihm wie ein aus dem Französischen übersetztes Spanisch erscheint. Überraschenderweise wertet Unamuno dies eher positiv. Diese Art des französischen Einflusses sei sehr produktiv und könne das versteinerte Spanisch flexibler machen (RM, Bd. 4, S. 291). Die Bohème interessiert Unamuno dagegen nicht, auch die von dem Argentinier beschriebenen Stadtlandschaften lässt er links liegen. Unamuno war ohne Zweifel einer der über Lateinamerika bestinformierten spanischen Autoren seiner Zeit. Er beschreibt in seinem Vorwort eine neue Phase des Modernismo: die der Selbstreflexion, des Bewusstseins, eine Bewegung oder zumindest eine Autorengruppe mit relativ homogenen Zielen zu sein. Wahrscheinlich war ein Blick von außen nötig, um dieses Merkmal erkennen und beschreiben zu können, so wie die mexikanischen Autoren selbst ab Manuel Gutiérrez Nájera die einigenden Elemente in den widersprüchlichen Gruppen der französischen Literatur erkennen konnten. Aus mexikanischer Perspektive erscheinen andere Aspekte im Werk Ugartes wichtiger, als die von Unamuno betonten. In seiner Besprechung des Buches konzentriert sich Rubén M. Campos wie selbstverständlich auf das Leben der Pariser Bohème. Er bedauert das Ende der unschuldigen romantischen Bohème und warnt vor den Folgen eines übermäßigen Alkoholkonsums: „Sería necesario peregrinar a Praga para saludar con un bock de cerveza á la antigua bohemia! La del barrio latino ha bebido en demasía y hase envenenado del mal tremendo. De tanto beber, Baco se ha vuelto viejo!“ (Es wäre notwendig, nach Prag zu pilgern, um mit einem Bock die alte Bohème zu begrüßen! Die des Quartier Latin hat zu viel getrunken und sich mit dem schrecklichen Übel vergiftet. Nach so viel Trinken ist Bacchus verrückt geworden; RM, Bd. 4, S. 298). Auch in diesem Fall ist das Gruppenbewusstsein der Modernisten erkennbar, da Campos bereits auf das definitive Ende der modernistischen Initiation in Mexiko verweist. Campos fordert von seinen Kollegen um die RM, dass sie ihre etwas naive rebellische Haltung ablegen, dass sie mehr Werke produ306
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Octave Mirbeau schreibt in ‘El jardín de los suplicios’, d. h. einem kurzen Fragment aus Le jardin des supplices von 1899 von einem „seleccionismo social [...] que la mayor parte de las veces no hiere sino á viejas muy feas y á muy innobles burgueses que de por sí son un perpetuo ultraje á la vida“ [(einer) sozialen Auswahl, [...] die meistens nur sehr hässliche alte Weiber und sehr unfeine Bürger betrifft, die schon von sich aus eine ständige Beleidigung des Lebens sind] (RM, Bd. 4, S. 112). Außerdem verdient der ‘Viaje al país de la decadencia’ von Santiago Argüello H. Erwähnung. Der Text des Dichters aus Nicaragua erschien in unregelmäßigen Abständen zwischen 1901 und 1903 in der RM, bevor er 1904 als Buch erhältlich war. Es handelt sich um eine symbolische Reise durch die französische Literaturgeschichte mit längeren Aufenthalten in der Romantik und bei den diversen Schulen der Jahrhundertwende. Vgl. Max Henríquez-Ureña, Breve historia del modernismo, S. 387f.
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zieren, um ihrer selbstauferlegten Rolle einer intellektuellen Aristokratie gerecht werden zu können. Die Bohème hatte ihre Zeit, sowohl in Paris, als auch in Mexiko-Stadt, aber nun sei der Moment gekommen, um die Bars zu verlassen.308 Der Tod Bernardo Couto Castillos am 3. Mai 1901 trug sicher einiges zu den Überlegungen Campos bei. Aus beiden Texten, dem spanischen und dem mexikanischen, lässt sich die Konsolidierung des Modernismo als hispanoamerikanische literarische Bewegung ablesen. Unamuno sieht den Kern dieser Bewegung vor allem in einer sprachlichen Erneuerung, während Campos sie mit dem „Tod“ der Bohème in eine neue stabilere und produktivere Phase eintreten lässt. Das Bewusstsein, eine neue Gruppe zu bilden, Modernisten zu sein, zeigt sich am deutlichsten in den ‘Notas bibliográficas’ der achten Nummer vom April 1901, die noch Verantwortung José Juan Tabladas waren. Das Wunderkind der Zeitschrift, das durch seine Japanreise berühmt geworden war, konnte bereits stolz die modernistische Bibliothek beschreiben. Dieser Abschnitt scheint mir für die Einschätzung der Gruppe zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend zu sein. Er erlaubt nicht nur, die durch die Arbeit der RM bereits bekannten literarischen Vorlieben wiederzuerkennen, sondern lässt tiefer blicken, legt offen, was die Zeitschrift nicht publizierte, aber doch in der Bibliothek Tabladas aufscheint: Jules Laforgue zum Beispiel. Der in Uruguay geborene und 1887 im Alter von 27 Jahren verstorbene Dichter ging über die Ästhetik der Jahrhundertwende hinaus und näherte sich den Avantgarden des 20. Jahrhunderts an. Seine Bedeutung für Leopoldo Lugones ist bekannt.309 Dass er dagegen in Mexiko um 1900 viel mehr als ein Name war, ist unwahrscheinlich. Der Mond, sein Lieblingsmotiv, die Figuren der commedia dell´arte könnten Spuren sein, die Laforgue in Mexiko hinterließ, wenn es sich nicht um allgemein bekannte traditionelle Themen handeln würde.310 Seine radikale Ästhetik lässt konkrete Bedeutungen eines Textes zurück, um sich in Andeutungen zu verlieren. Es handelt sich um einen frühen Versuch, das linguistische „Gefängnis“ zu durchbrechen. Sie konnte kaum mit einer adäquaten Rezeption in den intellektuellen Kreisen Mexikos des Jahres 1901 rechnen. Dass Laforgue dennoch in Tabladas Bibliothek aufscheint, kann andererseits nicht überraschen, da es sich um eine ideale Bibliothek handelt, die mehr über den fiktiven literarischen Kanon der Modernisten, als über die tatsächlichen Lektüren ihres Eigentümers Auskunft gibt. Laforgue war in erster Linie ein „raro“ für die Modernisten, dessen früher Tod nicht wenig zu seinem literarischen Ruhm beigetragen haben dürfte. Ich zitiere den zur Diskussion stehenden Abschnitt der ‘Notas bibliográficas’ ausführlich, da er das Selbstvertrauen und -bewusstsein der Modernisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr deutlich aufzeigt. Diese Entwicklung war ohne Zweifel ein großer Verdienst der RM, die mithalf, das Lektüreverhalten ihrer Redakteure und Leser 308 309
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Campos wird in seinen Memoiren, die als El Bar veröffentlicht wurden, immer wieder auf diesem Aspekt bestehen. Das folgende Kapitel der vorliegenden Arbeit ist zum Teil diesem Text gewidmet. Ich verweise auf die Ausgabe des Lunario sentimental von Jesús Benítez (Madrid: Cátedra, 1988), deren Einführung sich ausführlich mit den Spuren Laforgues im Werk Lugones beschäftigt und eine detaillierte Bibliografie zu diesem Thema bereitstellt. Die Pierrots eines Couto Castillo gehen nicht notwendigerweise auf Laforgue zurück. Eine Quelle für diese Texte aufzuzeigen wäre hier vergebliche Arbeit, da sie auf sehr unterschiedliche Ursprünge zurückgeführt werden könnten.
Die literarischen Zeitschriften
zu verändern, den möglichen Kanon besonders der französischen Literatur zu erweitern, womit sie endgültig die nationalistisch-einschränkende Literaturauffassung eines Altamirano überwinden konnte. Tablada schreibt: La biblioteca de la América modernista se ha formado. Veo al azar los anaqueles de mi librero: Versos de Darío, Lugones, Freyre, Argüello; prosas de Estrada, Montero, Berisso, Fombona ... Bajo Marroquines, cueros japoneses y viejos brocateles marcitos, lucen ahí empastadas obras memorables de eufónicos títulos sonoros: “Los Raros”; “Prosas Profanas”; “Las Montañas del Oro”; “Belkis”; “El Color y la Piedra” ... En un rincón obscuro como el nicho de un mausoleo piadoso, los precursores muestran sus obras venerables y robustas á manera de gruesos troncos de árbol en cuyo alrededor brillan y cantan todas las flores y todas las aves de la actual floresta lírica. Son los libros de Gutiérrez Nájera, de Asunción Silva, de Julián del Casal, y en el oro flavo de sus títulos hay chispas mortecinas de la aureola saturnina y triste de los “Poetas Malditos”, loados por el Pauvre Lelian ... Malogrado por el asesinato de temprana muerte como Laforgue, considero á Del Casal; estremecido por ráfagas de pavorosa ironía, de terrible desencanto como Tristán Corbière, discierno á Asunción Silva. Y en el alma aristocrática y mística, sensual y enferma, de Gutiérrez Nájera, no hay acaso resplandores de la regia corona de Villiers y granos aromosos del incienso de Verlaine? (Die Bibliothek des modernistischen Amerika hat sich gebildet. Ich sehe aufs Geratewohl die Bretter meines Bücherregals: Verse von Darío, Lugones, Freyre, Argüello; Prosa von Estrada, Montero, Berisso, Fombona... In Saffian, japanischen Ledern und altem vergilbten Brokatell eingebunden glänzen denkwürdige Werke mit wohlklingenden sonoren Titeln: “Los Raros”; “Prosas Profanas”; “Las Montañas del Oro”; “Belkis”; “El Color y la Piedra” ... In einer dunklen Ecke, wie die Nische eines andächtigen Mausoleums, zeigen die Vorgänger ihre verehrenswerten und robusten Werke, wie dicke Stämme von Bäumen, in deren Umkreis alle Blumen und alle Vögel des aktuellen lyrischen Hains glänzen und singen. Es sind die Bücher von Gutiérrez Nájera, von Asunción Silva, von Julián del Casal. Im gelben Gold ihrer Titel gibt es erlöschende Funken der finsteren und traurigen Aureole der “verwunschenen Dichter”, die Pauvre Lelian gelobt hat ... Del Casal sehe ich, wie Laforgues, misslungen wegen des Mordes eines frühen Todes. Asunción Silva erkenne ich erschüttert von Böen einer entsetzlichen Ironie, der schrecklichen Enttäuschung, wie Tristan Corbière. Und gibt es in der adligen, mystischen, sinnlichen und kranken Seele Gutiérrez Nájeras nicht etwa Schimmer der königlichen Krone Villiers und harmonische Kerne des Weihrauchs Verlaines?; RM, Bd. 4, S. 134.)
Die moderne französische Literatur ist in der Bibliothek Tabladas allgegenwärtig. Dennoch ist eine Veränderung der Perspektive feststellbar. Es handelt sich um Einflüsse im Sinne André Gides. Die Internationalisierung der Literatur ist erkennbar. In Tabladas Regalen findet sich die aristokratische Republik (das Oxymoron trifft zu) des Geistes, in der selbstverständlich die Franzosen den Ton angeben, die aber auch bereits auf eine lange Reihe lateinamerikanischer Autoren verweisen kann.311 Tablada imitiert (parodiert?) in diesem Abschnitt auch eine der bekanntesten Passagen aus Á rebours: die Beschreibung der Bibliothek Des Esseintes mit ihren exklusiven Manuskripten und luxuriösen Einbänden.312 Der Mexikaner eignet sich das Modell 311
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Nicht zuletzt der große internationale Erfolg Rubén Daríos, seine Rolle als unumstrittener, auch in Europa anerkannter Gruppenchef, die sich spätestens ab Prosas profanas (1896) immer deutlicher abzeichnete, machten das Selbstbewusstsein der Modernisten und ihre teilweise Emanzipation von den französischen Vorbildern möglich. Auf die Position Daríos wird in einem späteren Kapitel eingegangen. Huysmans beendet das erste Kapitel seines Romans mit der Beschreibung eines „Altars“ für drei Gedichte Baudelaires: „Enfin, sur la cheminée dont la robe fut, elle aussi, découpée dans la sumptueuse étoffe d’une dalmatique florentine, entre deux ostensoirs, en cuivre doré, de style byzantin, provenant de l’ancienne Abbaye-au-Bois de Bièvre, un merveilleux canon d’église, aux trois compartiments séparés, ouvragés
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Huysmans an, ohne sich verpflichtet zu fühlen, seine Quelle anzugeben. Es handelt sich um kein Plagiat. Tablada greift einfach auf einen sehr gut bekannten, wenn auch in den Organen der Bewegung unterrepräsentierten Bestandteil des modernistischen Kanons zurück und nützt ihn für seine Zwecke.313 Die Gruppe des mexikanischen Modernismo hat sich konsolidiert und der Künstler darf immer lauter seine privilegierte Stellung innerhalb der Gesellschaft einfordern. Der Selbstbetrug wurde für die Künstler zu einer Tatsache, von der ironischerweise die porfirianische Gesellschaft immer noch nichts wissen wollte. Trotzdem riskiert Tablada den Begriff „clase intelectual”. Anlass ist ihm dafür der Roman Ídolos rotos von Manuel Díaz Rodríguez. Tablada behauptet von dem Werk des Venezolaners: „toca y mueve los intereses de un grupo que engrosa cada día más en América, al analizar cuál es el estado de la joven intelectualidad, perdida entre la estultez barnizada y la barbarie vergonzante de los países latino-americanos y por eso está llamada á tener una grande y merecida resonancia” (Indem es den Zustand der jungen Intellektualität analysiert, berührt und bewegt es die Interessen einer Gruppe, die in Amerika jeden Tag größer wird, die inmitten der gefirnissten Dummheit und der schändlichen Barbarei der lateinamerikanischen Länder verloren ist. Darum ist es dazu bestimmt, eine große und verdiente Wirkung zu haben; RM, Bd. 4, S. 135). Logischerweise lehnt Tablada mit Díaz Rodríguez die Demokratie als Regierungsform ab, da sie seiner Ansicht nach das Mittelmaß und die bürgerliche Barbarei unterstützt. Letztendlich gelangt er damit zu den gleichen Schlussfolgerungen wie Baudelaire in seinem Artikel über den Salon von 1859. Und er erlaubt sich, auch hier in der Gefolgschaft Baudelaires, das demokratische Bürgertum aus seinem Reich der Kunst auszuschließen, weil seine Mittelmäßigkeit ihm das Erreichen derartiger Höhen verbietet. 1902314 kristallisiert sich eine Debatte zwischen den Anhängern einer sozial engagierten Kunst und den Vertretern des l´art pour l´art heraus. Als Sprachrohr der ersten Tendenz
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comme une dentelle, contint, sous le verre de son cadre, copiées sur un authentique vélin, avec d’admirables lettres de missel et de splendides enluminures, trois pièces de Baudelaire: à droite et à gauche, les sonnets portant ces titres ‘la Mort des Amants’ – ‘l’Ennui’; – au milieu, le poème en prose intitulé: ‘any where out of the world. – N’importe où, hors du monde’“ (Auf dem Kamin, dessen Bekleidung ebenfalls aus dem prächtigen Stoff einer florentinischen Dalmatika bestand, sah man zwischen zwei byzantinischen Ostensorien aus vergoldetem Kupfer, die aus der alten Abtei Bois-au-Bièvre stammten, eine wundervolle Meßtafel aus drei wie mit Spitzen verzierten Teilen; unter dem Glas ihres Rahmens waren drei Gedichte von Baudelaire auf einem authentischen Pergament mit herrlichen Meßbuchstaben und prächtigen Ausmalungen kopiert: rechts und links die Sonette „Der Tod der Liebenden“, „Der Feind“, und in der Mitte das Gedicht in Prosa, das den Titel trägt „Anywhere out of the world“; Joris Karl Huysmans, À rebours, Paris: GarnierFlammarion, 1978, S. 75. Deutsch von Hans Jacob, Gegen den Strich, Zürich: Diogenes, 1981, S. 75f.). Á rebours und Des Esseintes sind, wie im Zusammenhang mit der Revista Azul erwähnt wurde, Verweise, die manchmal die Funktion eines besonders charakteristischen Adjektivs erfüllen, die eine über die konkrete Rezeption hinausgehende prototypische Rolle in den beiden Zeitschriften spielen. Die Leitlinien der Zeitschrift veränderten sich mit dem zunehmenden Einfluss Amado Nervos deutlich, dem nicht nur die bibliografische Sektion anvertraut wurde, sondern der auch die Rolle eines intellektuellen Führers von Tablada übernahm. Außerdem besteht die RM auf einer pädagogischen Mission. Die Abonnenten der Zeitschrift hatten das Recht, Bücher ihrer Mitarbeiter billig zu erwerben, insbesondere Werke Nervos. Ende September wird der Verkauf von Lira Heróica um 30 Centavos in der Hauptstadt und 35 in den Ländern angekündigt. Im Dezember können die Abonnenten gleichsam als Weihnachtsgeschenk
Die literarischen Zeitschriften
fungiert vor allem Manuel Ugarte, die zweite hat einen der Zeitschrift fremden Verteidiger: Joris Karl Huysmans. Ugarte zeigt sich in mehreren Artikeln als Anhänger des Sozialismus in der Kunst, da dieser der Jugend eine Richtung vorgeben könne. Besonders deutlich vertritt er diese Position in ‘El arte nuevo y el socialismo’. Er stellt fest: „La juventud literaria se encuentra, así como las multitudes, sentada sobre las ruinas de todas las verdades rotas, á la espera de una nueva verdad” (Die literarische Jugend, so wie die Menge, sitzt auf den Ruinen aller zerstörten Wahrheiten und wartet auf eine neue Wahrheit; RM, Bd. 5, S. 70). Diese neue Wahrheit sieht der Argentinier im Sozialismus verwirklicht. Auf ähnliche Weise argumentiert Salado Álvarez, dem die RM etwas überraschend breiten Platz für seine Thesen einräumt. Der konservative Kritiker stellt fest, dass die Mission des Dichters beendet sei und „no hay que pensar en restituirle la vida“ (man darf nicht daran denken, ihm das Leben zurückzugeben; S. 167). Die moderne Literatur müsse von der Technik und den Wissenschaften lernen. Das Genre der Zukunft sei demnach der Roman, der die Schwachen der Gesellschaft verteidigen und gegen jede Art von Elitismus auftreten könne (S. 170f.). Die RM kann es sich 1902 erlauben, ihrem ästhetischen Elitismus konträre Positionen aufzunehmen. Auch ein alter literarischer Gegner wie Salado Álvarez findet ein Sprachrohr in ihr.315 Ugartes Fall liegt etwas anders, da es sich bei ihm um einen modernistischen Kollegen handelt. Aber Ugarte zweifelt nie an der messianischen Aufgabe des Künstlers. Was könnte elitärer sein als die Verpflichtung, die Welt vor allen sozialen Ungerechtigkeiten zu retten? Die konträre Gruppe hat schärfere Argumente. Nervo attackiert auf nicht sehr fromme Art und Weise einmal mehr das mexikanische Bürgertum, das seiner Meinung nach den Dichter nur als „bufón“ (Possenreißer) der politischen Macht missbraucht und die dichterische Produktion unmöglich macht. Er beklagt sich bitter über „la idiota mala voluntad burguesa“ (den idiotischen schlechten Willen der Bürger; RM, Bd. 5, S. 163). In Beschimpfungen dieser Art offenbart sich das Selbstbewusstsein des Künstlers, da Nervo nicht an der Überlegenheit der intellektuellen Klasse zweifelt. Er kritisiert „nur“ die ökonomischen Bedingungen seiner Arbeit, also in erster Linie die Notwendigkeit, als Journalist Geld zu verdienen, um hin und wieder ein Kunstwerk herstellen zu können. Joris Karl Huysmans betont, dass der moderne Künstler ein Auserwählter sein muss, der die Massen scheut. In zwei Beiträgen – ‘Navidades del Louvre’ und ‘El barrio de Nuestra Señora’,316 beide von Alberto Leduc übersetzt – stellt er sich selbst als verfeinerten Ästheten mit einigen Charakterzügen seines Des Esseintes dar. Im ersten Artikel meidet er die vom Publikum zu sehr frequentierten Säle des Museums, um bei den Künstlern, die niemand sehen will, Zuflucht zu finden. Der gute Geschmack ist sein exklusives Eigentum, die Kunst ist eine Angelegenheit für wenige (RM, Bd. 5, S. 11-13). In ‘El barrio de Nuestra
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eine bibliophile Ausgabe von El éxodo y las flores del camino mit den Illustrationen Julio Ruelas um zwei Pesos erwerben. In diesem Fall reagierte auch Jesús E. Valenzuela nicht auf die Ansichten Salados und verzichtete auf die Wiederaufnahme der alten Polemik. Le Quartier Notre-Dame erschien 1905 in der Collection des Dix als bibliophile Ausgabe, 36 Seiten stark und mit nur 20 gedruckten Exemplaren. Von der etwas weniger kostspieligen Edition in der gleichen Sammlung wurden 130 Exemplare gedruckt.
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Señora’ hebt Huysmans den Okkultismus der Pariser Kathedrale hervor. Er sucht in ihr den „verbotenen“ Katholizismus und verteidigt eine alte Welt, das Dunkle und Enigmatische, gegen den Einbruch einer Modernität, die nur ökonomische Interessen respektiert (S. 4144). Salado Álvarez und Manuel Ugarte einerseits, Nervo und der Schöpfer von Des Esseintes andererseits: Es handelt sich um ein ungleiches Duell. Nach 1900 erlangten die in der RM schreibenden modernistischen Autoren Gruppenbewusstsein, die Reflexion über ihre eigene Rolle innerhalb der mexikanischen und generell lateinamerikanischen Literatur wurde möglich. Der Artikel ‘Decadentismo y Americanismo’ von Pedro Emilio Coll kann dies illustrieren. Der Venezolaner Coll, der nur am Rande zur modernistischen Gruppe seines Landes gehörte, war in der Lage, die Grenzen eines angeblichen Dekadentismus in der hispanoamerikanischen Literatur aufzuzeigen. Was so genannt wird, „no es quizás sino el romanticismo exacerbado por las imaginaciones americanas“ (ist vielleicht nur die von den amerikanischen Fantasien gereizte Romantik; RM, Bd. 5, S. 140), stellt Coll fest und nimmt damit eines der Anliegen der vorliegenden Arbeit vorweg. Die französische Literatur funktionierte laut Coll in erster Linie wie ein Katalysator, da sie die ästhetische Auffassungsgabe der amerikanischen Schriftsteller verfeinerte (S. 141). Wie Unamuno schätzt auch der Venezolaner, dass der Modernismo vor allem spracherneuernde Funktion hat. Die lateinamerikanische Literatur sei jedoch a priori beschränkt, weil das Publikum fehle, mit dem die Franzosen rechnen konnten: „El literato suele ser entre nosotros [...] leído por media docena de amigos“ (Der Literat wird bei uns von einem halben Dutzend Freunden gelesen; S. 141f.). Die von vielen Autoren angestrebte Provokation könne daher unmöglich stattfinden und artet in gegenseitige Bestätigungen aus, nicht unähnlich den 1888 von Puga y Acal beschriebenen Lobeshymnen von Autor zu Autor. Coll ist ohne Zweifel ein hellsichtiger Kritiker, der den Modernismo unabhängig von jeder Polemik und auch von den messianischen Ansprüchen seiner Autoren einschätzen kann. Er zeigt unzweideutig, dass die Phase der Initiation längst vorbei ist, dass sich der Modernismo als literarische Bewegung etabliert hat. Die Kunst als nicht zur Diskussion stehendes übergeordnetes Ideal, das auch für politische Interessen unerreichbar sein muss, stellt eines der hauptsächlichen Credos der RM dar. In der Nummer 17 vom September 1902 publiziert die Zeitschrift unter dem Titel ‘La literatura honesta’ Fragmente eines Essays Baudelaires. Es handelt sich um den am 27. November 1851 in La Semaine théâtrale erschienenen Aufsatz ‘Les Drames et les romans honnêtes’,317 in dem der französische Dichter Reflexionen über das Problem der Moral in der Literatur anstellt. Baudelaire empfiehlt der Literatur, sich von jeglicher politischen Polemik fernzuhalten, sollte sie zu keinem Werkzeug der Propaganda werden wollen. Er spricht von einer bürgerlichen und einer sozialistischen Schule in der Kunst, beide können nur ihre jeweilige sehr subjektive Moral predigen: „la una predica la moral burguesa y la otra la moral socialista. El arte, por ese hecho, se convierte en una cuestión de propaganda“ (die eine predigt die bürgerliche, die andere die sozialistische Moral. Die Kunst wird
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Der anonyme Übersetzer ließ einige wenige Stellen aus, in denen Baudelaire zu sehr auf die 1857 aktuelle Pariser Literaturszene eingeht, mit der die Leser der RM nicht vertraut sein konnten.
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dadurch in eine Angelegenheit der Propaganda verwandelt; RM, Bd. 5, S. 265).318 Die wahre Kunst, so Baudelaire, repräsentiere keine Moral. Sie müsse auch das Laster aus ästhetischen Gründen so wie es ist darstellen können. Der wahre Künstler sei sich auch der katastrofalen Auswirkungen des Lasters bewusst und stelle auch diese aus ästhetischen Gründen so wie sie sind dar. Baudelaire findet eine Formel, die die Ästhetik Oscar Wildes vorwegnimmt, wenn auch „seitenverkehrt“: „L’art est-il utile? Oui. Pourquoi? Parce qu’il est l’art“ (Ist die Kunst nützlich? Ja. Warum? Weil sie die Kunst ist).319 Die Kunst um der Kunst willen scheint bezüglich ihrer ästhetischen Vorlieben die Oberhand in der RM zu behalten. Wenn Pedro Emilio Coll feststellte, dass dem lateinamerikanischen Modernismo ein Publikum fehlt, so antwortet die RM, dass dieses nicht von Nöten ist, weil die Kunst für sich selbst zu sprechen hat und nur der Rezeption einiger weniger bedarf. Die Einfügung beider Artikel, Colls und Baudelaires, unterstreicht die These, dass die modernistische Gruppe Mexikos zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Lage ist, über sich selbst zu reflektieren. Dass eines der Resultate dieser Reflexion das Bestehen auf l’art pour l’art ist, begründet gleichzeitig das absehbare Ende der Bewegung und lässt außerdem ihr Wesen als eigentliche mexikanische Romantik hervortreten. Die Modernisten übernehmen die Reflexion über die Rolle von Kunst und Künstler in der Gesellschaft, sie betonen den aristokratischen und überzeitlichen, im wahrsten Sinne des Wortes asozialen Charakter der Kunst. Ihre Funktion als Träger der nationalen Unabhängigkeit andererseits war im Porfiriat obsolet geworden, während sie 50 bis 70 Jahre zuvor und noch bis in die Wirkungszeit Altamiranos hinein das einzige Element war, das die mexikanische mit der europäischen Romantik abseits der Gemeinplätze des Feuilletonromans verband. Im August 1903 kündigen die Herausgeber der RM einschneidende Veränderungen an. Die Zeitschrift erweitert ihren Namen auf Revista Moderna de México, das heißt der Untertitel Arte y Ciencia fällt weg. Die ursprüngliche Publikation hat ihre Zwecke erfüllt und eine Perspektivenerweiterung scheint nötig geworden zu sein. Die Zeitschrift soll mit den Worten ihrer Gründer ein „magazine“ werden, „de numerosas páginas, ilustrado, y con variadísimas seciones [sic] científicas, literarias, artísticas, sociales, informativas, etc.“ (viele Seiten stark, illustriert und mit vielfältigen wissenschaftlichen, literarischen, künstlerischen, sozialen, informativen Sektionen; RM, Bd. 6, S. 256). Obwohl man versichert, dass die literarische Abteilung auch weiterhin „escogida y cuidada“ (ausgewählt und behütet) sein wird, entsteht der Eindruck, dass Valenzuela und Nervo davon überzeugt 318
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Im Original: „Naturellement l’une prêche la morale bourgeoise et l’autre la morale socialiste. Dès lors l’art n’est plus qu’une question de propagande“ (Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 2, Paris: Gallimard, 1976, S. 41). Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 2 (Paris: Gallimard, 1976), S. 41. Nur zwei Monate später, am 22. Jänner 1852, ergänzt er diese Formel in seinem Artikel ‘L’école païenne’ mit der Forderung nach einer Literatur, die sich als gleichberechtigter Partner von Philosophie und Wissenschaft versteht: „Le temps n’est pas loin où l’on comprendra que toute littérature qui se refuse à marcher fraternellement entre la science et la philosophie est une littérature homicide et suicide“ (Die Zeit ist nicht weit, in der man verstehen wird, dass jede Literatur, die sich weigert, brüderlich zwischen der Wissenschaft und der Philosophie zu marschieren, eine mörderische und selbstmörderische Literatur ist; Charles Baudelaire, Œuvres complètes, Bd. 2, Paris: Gallimard, 1976, S. 49). Laut Valenzuela würde eine derartige Einbettung der Literatur in die Wissenschaften genau die Entstehungsvoraussetzungen für die modernistische Bewegung erfüllen.
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sind, dass eine exklusiv Literatur, Kunst und Ästhetik gewidmete Publikation nicht mehr den Publikumsanforderungen gerecht wird. Die RM hat ihre Funktion einer Tribüne für eine Gruppe mehrheitlich junger Autoren, die von der Idee des Dichters/Künstlers/Schriftstellers als Aristokrat des Geistes und Auserwählten innerhalb der mexikanischen Gesellschaft der Jahrhundertwende überzeugt ist, erfüllt. Die Durchsetzung einer neuen Ästhetik, deren Modelle sich in erster Linie in heterogenen französischen Tendenzen fanden, wurde vorangetrieben. Die RM propagierte diese Modelle für ein exklusives Publikum, dessen Seh- und Lesegewohnheiten verändert werden sollten. Der reduzierte literarische Kanon des Porfiriats, der sich bis zum Auftreten von Kritikern wie Gutiérrez Nájera und Puga y Acal ganz überwiegend auf den Feuilletonroman, das Boulevardtheater und die romantischen Ikonen Musset, Lamartine und Hugo konzentrierte, konnte durch eine breite Palette neuer und oft kontroversieller Autoren erweitert werden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden die Autoren der RM, so sie nicht vorzeitig verstorben waren, in den Organen der Presse Rafael Reyes Spíndolas neue Tribünen, die bessere Einkünfte und eine größere Verbreitung versprachen. Um ihre Existenzberechtigung nicht zu verlieren, muss die RM ihre Interessen erweitern und sich der Form einer Illustrierten annähern, die verschiedenste Themen verarbeitet. Bezeichnenderweise dominieren in den letzten Nummern der alten RM Rückschau und Bestandsaufnahme. So kann Manuel Ugarte in ‘El francesismo de los Hispanoamericanos’ behaupten, dass die Zeit der Ismen vorbei ist. Die lateinamerikanische Literatur habe radikale Positionen zurückgelassen, von denen sie, laut Ugarte, nie überzeugt gewesen war: „Los excesos del simbolismo y del decadentismo, que todos hemos condenado [...] esa racha artificiosa no se localizó en América“ (Die Auswüchse von Symbolismus und Dekadentismus, die wir alle verurteilt haben [...] diese künstliche Bö fand sich nicht in Amerika; RM, Bd. 6, S. 143). Der Argentinier lokalisiert das kulturelle Erbe Frankreichs zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem gesunden Kosmopolitismus, der eine „geografía de las ideas“ (Geografie der Ideen; S. 142) begründet, die unabhängig von politischen Grenzen ist. Ugarte nimmt eine souveräne Pose ein, die sich jeglicher Ideologie oder Polemik entzieht. Er vermittelt das Bild einer trotz der Jugend ihrer Vertreter reifen Gruppe, deren Ziele klar definiert sind und deren Werke für sich selbst sprechen.320 Im September 1903 beginnt die zweite Etappe der Revista Moderna, die bis 1911 dauern wird. Unter der intellektuellen Führung Amado Nervos etabliert sich die Zeitschrift definitiv als führende kulturelle Publikation des Porfiriats. Obwohl Hugo Martínez behaup320
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Im Juli veröffentlicht die RM eine Antwort Rubén Daríos auf einen Brief Max Nordaus. Es handelt sich um eine kleine Polemik, die zu Beginn des Jahres 1903 in Paris ausgetragen wurde. Zwei Aspekte verdienen in dieser Diskussion zwischen dem Mittelamerikaner und dem Kritiker aller Dekadenzen Erwähnung: 1.– Darío ist kein Unbekannter in Paris. Eine in ganz Europa bekannte Figur wie Nordau attackiert ihn und, vielleicht noch überraschender, sucht den persönlichen Kontakt mit ihm. 2.– Darío gestattet sich, den „Dr. Nordau“ zu korrigieren. Er antwortet ihm, dass es ein Fehler sei, Symbolismus und Dekadentismus zu verwechseln. Ersterer habe, obwohl seine Ästhetik schon obsolet sei, die Freiheit der Kunst etabliert und gleichzeitig den Beginn einer Literatur, die diesen Namen verdient, in Lateinamerika ermöglicht. Darío nimmt die gleiche souveräne und selbstsichere Position ein wie Ugarte in der RM, erweist sich jedoch als wirkungsvoller, da er in Europa schreibt und aktiv am literarischen Diskurs der Kulturmetropole Paris teilnimmt.
Die literarischen Zeitschriften
tet, dass die RM auch weiterhin fast ausschließlich literarische und künstlerische Themen behandelt,321 zeigt ihr neuer Umfang (64 statt wie bisher 16 Seiten), die größere Zahl der Werbeeinschaltungen, aber auch die Abnahme der französischen Beiträge322 doch, dass die RM in ihrer zweiten Etappe den Charakter einer um Erneuerung und Innovation bemühten Publikation einbüßt. Eben diese Atmosphäre der Erneuerung und der eklektischen Auswahl aus verschiedensten europäischen Literaturströmungen, die Revista Moderna. Arte y Ciencia charakterisiert hatte, findet sich in den Memoiren und Tagebüchern der Gruppenmitglieder und ihnen nahestehender oder auch mit ihnen konkurrierender Autoren. Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dieser autobiografischen Literatur der mexikanischen Jahrhundertwende. Die Schriften der erklärten Modernisten Campos, Tablada und Valenzuela sollen dabei mit den ambitionierten Tagebüchern Federico Gamboas kontrastiert werden, um ein möglichst ausgewogenes Spektrum der mexikanischen Literaturszene um 1900 zu erlangen. Gleichzeitig soll dabei der Versuch unternommen werden, besonders im Fall Tabladas, die autobiografischen mit den kritischen Texten der Autoren in Zusammenhang zu bringen.
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Hugo Martínez, A study of the Revista Moderna de México [1903-1911] (Northwestern University, 1968), S. 34f. Martínez kommt zu dem Ergebnis, dass nur ein Zehntel der 404 Mitarbeiter der zweiten Serie aus Frankreich stammt. Nicht nur mexikanische, sondern auch lateinamerikanische und spanische Autoren übertreffen sie (Martínez: A study of the Revista Moderna de México (1903-1911), S. 53). Dennoch kommentiert er in seinem Index: „In the review the individual significance of the French collaborators, with very few exceptions, may be negligible, but their collective significance and impressiveness is considerable. The names of several of these French writers appear so often in the Revista Moderna de México that the reader may easily be misled into believing that they contributed more than they did.“ (Die individuelle Bedeutung französischer Mitarbeiter in der Zeitschrift mag, mit sehr wenigen Ausnahmen, vernachlässigbar sein, aber ihre kollektive Bedeutung und ihre Ausstrahlung sind bemerkenswert. Einige Namen von verschiedenen französischen Schriftstellern erscheinen so oft in der Revista Moderna de México, dass die Leser leicht verführt werden konnten zu glauben, dass sie mehr beigetragen haben, als dies tatsächlich der Fall war; S. 231).
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3. Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos: Campos, Valenzuela, Tablada, Gamboa
3.1. Die Memoiren Rubén M. Campos und Jesús E. Valenzuelas: Nostalgie, Glorifizierung und Ablehnung des Modernismo 3.1.1. Rubén M. Campos: Die Bar als kulturelles und soziales Zentrum Die Memoiren Rubén M. Campos waren viele Jahre lang ein geheimnisvoller Verweis in den Studien über den Modernismo, ein „Geistertext“. Ihr Titel, El Bar, war bekannt, aber der Text schien verschollen zu sein. Noch 1995 registriert sie der bibliophile Ángel Muñoz Fernández, Herausgeber der Erzählungen Bernardo Couto Castillos, in seinem sehr kompletten Fichero bio-bibliográfico de la literatura mexicana del siglo XIX wie folgt: „El bar, (La vida literaria en México en 1900) es una obra inédita. Conozco una copia de esta obra“ (Die Bar [Das literarische Leben im Mexiko von 1900] ist ein unveröffentlichtes Werk. Ich kenne eine Kopie dieses Werks).323 Mehr war nicht bekannt. Erst ein Jahr später, 1996, publizierte die UNAM den Text mit einem Vorwort von Serge I. Zaïtzeff, der ohne Zweifel der beste Kenner des literarischen Werks Campos ist.324 Mit El Bar stand ein Text zur Verfügung, der für die Bewertung der modernistischen Literatur Mexikos und für die Erstellung des kulturellen und sozialen Umfeldes dieser Epoche unverzichtbar wurde. Campos schrieb seine Memoiren 1935, im Alter von 60 Jahren. Die Revista Moderna stellte 24 Jahre zuvor ihr Erscheinen ein. Der Modernismo gehörte definitiv der Vergangenheit an. Andere Tendenzen, die Avantgarden Europas und Lateinamerikas, hatten ihn abgelöst. Der aus Guanajuato stammende Dichter hatte sich von der Literatur distanziert und lebte von seinen Einkünften aus diversen bürokratischen Ämtern.325 Gerade die zeitliche Distanz macht diese Memoiren zu einem sehr glaubwürdigen Zeugnis der mexikanischen Literatur der Jahrhundertwende. Die Bezeichnung Autobiografie für El Bar ist jedoch problematisch, da Campos in erster Linie von seinen Zeitgenossen berichtet und über sich selbst fast nicht informiert. Die Authentizität des Textes geht möglicherweise auch auf diese ungewöhnliche literarische Bescheidenheit zurück. Campos schreibt nostalgisch von einer verlorenen Epoche, die im Mexiko der 30er Jahre tabu war: die vorrevolutionäre Zeit 323 324
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Muñoz-Fernández, Fichero bio-bibliográfico, Bd. 1, S. 113. Vor allem in der zweiten Hälfte seines Lebens widmete sich Campos der mexikanischen Musik und Folklore. Er veröffentlichte insbesondere zwei Titel, die bis heute Standardwerke in der mexikanischen Musikwissenschaft und Ethnografie sind: El folklore y la música mexicana (1928) und El folklore literario de México (1929). Für die Biografie Campos verweise ich auf das Vorwort Zaïtzeffs zur erwähnten Ausgabe von El Bar, sowie auf Rubén M. Campos y su obra (1964), eine in der UNAM entstandene Diplomarbeit von Miguel López López.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
des Porfiriats, dessen politische Statik einen künstlerischen Höhepunkt erlaubte. In der Tat handelt es sich um eine „tote“ Epoche. Die Sterbedaten einiger ihrer Vertreter zeigen dies: Couto Castillo 1901, Julio Ruelas 1907, Alberto Leduc 1908 und schließlich Jesús E. Valenzuela 1911.326 Mit dem Ableben Valenzuelas verschwindet die Revista Moderna. Das Jahr 1911 kann mit einigem Recht auch als „Todesjahr“ des mexikanischen Modernismo registriert werden. Der Tod Valenzuelas und der Ausbruch der mexikanischen Revolution stimmen zufällig überein. Die radikalen politischen und sozialen Veränderungen, die mit der Machtübernahme Maderos und den ihr folgenden anarchischen Jahren Hand in Hand gehen, ließen ohne Zweifel keinen Platz für die ästhetisierende und a-soziale Selbstauffassung der Modernistengruppe. Campos schreibt der modernistischen Periode einen barocken Charakter zu. Seine Vertreter haben das Leben genossen, haben viel gelacht, aber der Tod und das berufliche Scheitern haben immer gedroht. Campos gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Revista Moderna,327 schrieb aber gleichzeitig für eine Reihe anderer Periodika. Er lässt keinen Zweifel daran, dass der Beruf des Journalisten nur sehr magere Einkünfte garantierte: „Desde entonces el poeta, el novelista, el cronista de arte tuvieron que contentarse con la gloria de que su nombre apareciera calzando sus versos, sus cuentos o sus crónicas, dándose por bien pagados con el placer juvenil que produce el leer su propio nombre entre nombres ya consagrados por la fama” (Seit damals mussten der Dichter, der Romancier, der Kunstchronist sich mit dem Ruhm zufriedengeben, dass ihr Name ihre Verse, Erzählungen oder Chroniken schmückte und sich mit der jugendlichen Freude, die beim Lesen des eigenen Namens unter schon vom Ruhm geweihten entsteht, für bezahlt erklären).328 Die Zeitschriften und Zeitungen Mexikos bezahlten im weitesten Sinne literarische Beiträge schlecht, oder gar nicht, wie im Laufe dieser Arbeit noch zu zeigen sein wird. Für einen Schriftsteller wie Campos war es so gut wie unmöglich, ausschließlich vom kulturellen Journalismus zu leben. Diverse bürokratische Ämter, im Falle Campos, oder, in den besten Fällen, diplomatische Posten in den USA, Südamerika und Europa, wie bei Nervo oder Gamboa,329 stellten die Haupteinnahmequellen der Autoren dar. Die marginale soziale 326
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Campos und Tablada starben 1945 und gehören damit zu den wenigen „Überlebenden“, die aktiv die finisekuläre Kultur Mexikos mitgestaltet haben. Die Einordnung Enrique González Martínez, der beide noch um sieben Jahre überlebte, in diese Gruppe erscheint problematisch, da der „hombre del buho” erst sehr spät seiner literarischen Berufung nachgehen konnte (sein erster Lyrikband, Preludios, wurde 1903 publiziert), und weil er sehr bald in ein Nahverhältnis mit dem Ateneo de Juventud um José Vasconcelos und der neuen Gruppe der Contemporáneos trat. Vgl. dazu u. a. Alfonso Reyes/Enrique González Martínez. El tiempo de los patriarcas. Epistolario 1909-1952, hg. v. Leonardo Martínez Carrizales und Esther Martínez Luna (México: FCE, 2002). Den Kern der Zeitschrift bildeten neben Campos José Juan Tablada, Antenor Lescano, Bernardo Couto Castillo, Alberto Leduc, Francisco M. de Olaguíbel, Jesús Urueta, Ciro B. Ceballos, Jesús E. Valenzuela, Rafael Delgado, sowie ihr Zeichner Julio Ruelas. Amado Nervo trat erst nach seinem Bruch mit der Presse Rafael Reyes Spíndolas der Redaktion der Revista Moderna bei. Rubén M. Campos, El Bar. La vida literaria de México en 1900 (México: UNAM, 1996), S. 36. Gamboa repräsentiert eine Sonderstellung in diesem Kontext, da er von Beginn an eine diplomatische und politische Laufbahn anstrebte und in der Tat für kurze Zeit das Amt des Außenministers inne hatte. Gamboa ist unter den mexikanischen und lateinamerikanischen Schrifstellern der Jahrhundertwende einer der wenigen Berufsdiplomaten mit beachtlichen Erfolgen innerhalb seiner Karriere. Auch auf diesem Feld
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Stellung des Schriftstellers bestätigt sich anhand einer simplen Logik: Die kapitalistische Gesellschaft taxiert den Wert einer Beschäftigung mit Geld. Wenn die journalistische – und noch viel mehr die künstlerische – Arbeit geringe oder keine Einkünfte mit sich bringt, so ist ihr sozialer Wert ebenfalls gering oder nicht existent. Die soziale Stellung eines Schriftstellers im Mexiko der Jahrhundertwende nähert sich damit der eines Schmarotzers an, der zum Gemeinwohl nichts beiträgt. Gerade der sehr frequente Verweis in den Reden und Chroniken der Zeit auf den Fortschritt einer Nation, der sich im Fortschritt seiner Literatur widerspiegle, lässt vermuten, dass sich die Autoren ihrer Randstellung durchaus bewusst waren. Die Negierung des materialistischen Nutzens der Kunst bei den Modernisten, die Ästhetik des l’art pour l’art lassen sich damit andererseits als eine Art Trotzhaltung der Künstler interpretieren. Aus der Lektüre von El Bar gehen zwei wichtige Konsequenzen aus der beschriebenen Situation hervor: 1. Der viel zitierte Hass auf das entstehende mexikanische Bürgertum, gegenüber dem sich die Schriftsteller überlegen fühlen, das jedoch weitaus privilegiertere Posten innerhalb der porfirianischen Gesellschaft einnimmt. 2. Eine rebellische, herausfordernde Haltung, die aus heutiger Perspektive naiv erscheinen mag. Campos merkt, möglicherweise ohne sich des Verräterischen dieser Aussage bewusst zu sein, über die Arbeitsmoral der Redakteure der Revista Moderna folgendes an: „El hecho es que la mitad del tiempo lo pasan en charlas interminables en el bar, y la otra mitad en los divanes de la Revista Moderna, descansando de las arduas tareas del bar” (Tatsache ist, dass sie die eine Hälfte der Zeit mit nicht endenden Gesprächen in der Bar verbringen, die andere auf den Sofas der Revista Moderna, wo sie von den schweren Aufgaben der Bar ausruhen).330 Etwas später dagegen greift er auf eine der stereotypen Attacken gegen das Bürgertum zurück, die er Alberto Leduc331 zuschreibt: „Odiaba al burgués sobre todas las cosas, y a todas las cosas sobre el burgués; todo lo relacionaba con la injusticia de que hubiera gentes felices para escarnio de los que como él no disfrutaban a tutiplén de todos los bienes que deseaba” (Er hasste den Bürger über alles und alles über den Bürger; alles verband er mit der Ungerechtigkeit, dass es glückliche Leute zum Spott derer gab, die wie er nicht alle Güter, die sie ersehnten, nach Belieben genießen konnten).332 Die Bohème schien die adäquate Antwort auf die bürgerliche „Herausforderung“ zu sein.333 Campos beschreibt nicht ohne Sympathie das Leben in den Bars der mexikanischen Hauptstadt: Lokale mit so sprechenden Namen wie „Wondracek“ (der deutsche Beitrag eines Bierlokals zur mexikanischen Bohème), „América“ oder „Salón Bach“. Die kulinarischen und alkoholischen Sitzungen endeten oft erst am nächsten Tag im Haus eines der Gruppenmitglieder. Es handelte sich ohne Zweifel um eine Kunst-Bohème, in der die Diskussionen über
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veränderte die Revolution die Situation radikal. Nachrevolutionäre Schriftstellerdiplomaten wie Alfonso Reyes und Enrique González Martínez sahen sich immer wieder in politische Intrigen verwickelt und mussten ihren Beruf sehr ernst nehmen. Vgl. dazu besonders den zitierten Briefwechsel zwischen Reyes und González Martínez, v. a. die Briefe 45 bis 60, S. 205-235. Campos, El Bar, S. 40. El Bar ist in großen Teilen wie ein Dialog zwischen Raúl Clebodet (= Leduc) und Benamor Cumps (= Campos) strukturiert. Leduc hatte Campos in den Kreis der Revista Moderna um Valenzuela eingeführt. Campos, El Bar, S. 40. Ich bestehe darauf, dass eine derartige Herausforderung sehr relativ und einseitig war, da sich das mexikanische Bürgertum nur selten eines Konfliktes mit der illusorischen intellektuellen Klasse bewusst wurde.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
Literatur und Ästhetik dominierten, bei der Alkohol und andere „Vergnügungen“ jedoch nie fehlten. Aus der Perspektive von 1935 lehnte Campos einen derartigen Lebensstil ab, vor allem weil er als Konsequenz einen erschreckenden Verlust an Talenten mit sich brachte. Trotzdem stellt er die Anziehungskraft der sorglosen und intensiven Existenz der mexikanischen Bohème nie in Frage. Auch in einem sehr anderen Sinn handelt es sich um eine künstlerische Bohème: Ihr fiktiver Charakter ist offensichtlich, sie kopierte die Pariser Bohème, besser gesagt deren Darstellung in den literarischen und musikalischen Werken der Zeit.334 Es handelt sich also um eine höchst künstliche Bohème, die Baudelaires „enivrez-vous“ sehr wörtlich nahm. Die Autoren der Revista Moderna und ihr nahestehende Kreise distanzierten sich auf diese Art von ihrer sozialen Umgebung und bildeten eine fiktive Gesellschaft, in der ihre künstlerischen Ideale den Ton angeben konnten. Die mexikanische Bohème entwickelte sich folgerichtig zu einer elitär und klassistisch orientierten Gruppe. Campos Memoiren spiegeln derartige Tendenzen auf drastische Weise wider. Der Dichter aus Guanajuato vertritt sozialdarwinistische Meinungen, die sich – im Jahr 1935 – rassistischen Ideen annähern.335 Die Formulierungen Campos überraschen in diesem Kontext wegen ihrer Radikalität. Während eines Besuchs des Heiligtums der Virgen de Guadalupe, als La Villa bekannt, hebt Campos den bedauernswerten Zustand der indigenen Bettler, die das Umfeld der Kirche bevölkern, hervor. Neben antiklerikalen Tendenzen fällt in diesem Abschnitt besonders auf, dass der mexikanische Dichter die biologische Auswahl als Lösung des mexikanischen Armutsproblems vorschlägt. Nur die Kirche, so Campos, wolle dem Lumpenproletariat der Straßen ein unverdientes Asyl bereitstellen: todos los abyectos, todos los estropeados por la suerte, que en un medio como el de los lacedemonios ya no existirían porque la ley de selección los habría arrasado, muestran sus pústulas en las iglesias que dan asilo a todas las deyecciones humanas, a los condenados por la suerte para arrastrar una vida de miseria y de oprobio, y que no tienen el valor del verdadero sacrificio que sería el de suprimirse a sí mismo, porque la religión se lo veda y están en espera de un tránsito de almas en gracia porque creen en una transformación de magia, como si el alma de un leproso fuera a convertirse en un bellísmo arcángel por obra y gracia del fraile que lo asistió a la hora de su mísera muerte. (alle Verkommenen, alle vom Schicksal Verstümmelten, die in einem Medium wie dem der Spartaner nicht mehr existieren würden, weil das Gesetz der Auswahl sie hinweggerafft hätte, zeigen ihre Pusteln in den Kirchen, die allem menschlichen Auswurf Asyl gewähren, denen, die vom Schicksal verurteilt wurden, ein armseliges und bedrückendes Leben mit sich zu schleppen und die den Mut zum wirklichen Opfer nicht haben, das es wäre, sich selbst auszuschalten, weil die Religion es ihnen verbietet. Und sie erwarten eine Seelenwanderung, weil sie an eine magische Transformation glauben, als ob die Seele eines Leprösen durch das Werk und die Gnade des Mönches, der ihm in der Stunde seines miserablen Todes beistand, in einen wunderschönen Erzengel verwandet werden könnte.)336
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Der überwältigende Erfolg von Puccinis La Bohème von 1896 zeigt sich auch in zahlreichen in mexikanischen Periodika veröffentlichten Chroniken und Aufführungsbesprechungen. Campos spiegelt damit auch eine Tendenz der meisten literarischen Avantgarden der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wider: ihre Annäherung an radikale politische Ideologien. In Lateinamerika sind Leopoldo Lugones und Pablo Neruda die prominentesten Beispiele. Campos, El Bar, S. 72.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
Ein sehr ähnliches Gedankengut vertrat auch José Juan Tablada in seinen Memoiren. Das Gefühl der intellektuellen und moralischen Überlegenheit, das zur charakteristischsten Eigenschaft der mexikanischen Künstler der Jahrhundertwende geworden war, konnte die extreme Forderung einer Eliminierung der untersten sozialen Schichten des Landes hervorbringen. Die schmale, aber einflussreiche Mittelschicht des Porfiriats hatte möglicherweise die sozialen Probleme Mexikos ignoriert (und damit die Revolution unvermeidlich gemacht), zumindest einige Vertreter der intellektuellen „Klasse“ dagegen gehen einen Schritt weiter und sehen in den Opfern der sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes eine zu ihrem eigenen Schaden von Kirche und Religion beschützte minderwertige Schicht. Dieser äußerst egozentrische ethische Elitismus zeigt sich insbesondere in der Ästhetik der modernistischen Gruppe, die Campos in seinen Erinnerungen nachzeichnet. El Bar legt einmal mehr die herausragende Rolle der französischen Kultur für die Modernistengruppe offen. Erneut verwendet Campos seinen „Antagonisten“ Clebodet/Leduc,337 um die unleugbare Überlegenheit der französischen Literatur, insbesondere gegenüber der mexikanischen, zu postulieren: „mi espíritu y mi pensamiento están saturados de la intelectualidad de los grandes escritores de Francia. No puedo encontrar uno solo entre los escritores mexicanos hasta la época del Renacimiento literario, que merezca el nombre de poeta fino y exquisito” (mein Geist und mein Denken sind mit der Intellektualität der großen Schriftsteller Frankreichs erfüllt. Ich kann bis zur Zeit der literarischen Renaissance nicht einen unter den mexikanischen Schriftstellern finden, der den Namen eines feinen und vortrefflichen Dichters verdiente).338 Es muss hinzugefügt werden, dass der „renacimiento literario“ für Clebodet mit der Epoche Altamiranos einsetzt und seinen Abschluss in der modernistischen Literatur der Jahrhundertwende erfährt. Campos seinerseits fasst das künstlerische Ideal des Modernismo mit Worten zusammen, die sehr an die Ästhetik des Parnass erinnern. Andererseits betont er die Musikalität und Plastiziät der literarischen Sprache und wiederholt damit eine Idee, die in erster Linie von Verlaine vertreten wurde:339 porque todos acordes estimábamos que el lenguaje literario debía ser pulido como el lenguaje musical, en arquitectura de frases resplandecientes de belleza; tomar del pintor la matización con que ennoblece la visión que sus ojos privilegiados recogen en el iris, la vuelcan en matizaciones de color sobre la tela y no decir ni una frase no trabajada con amor de artista, hecha para artistas y no para gentes que no entienden nada de arte. (alle zusammen schätzten wir, dass die literarische Sprache wie die musikalische poliert sein musste, mit einer vor Schönheit strahlenden Satzarchitektur. Wir mussten vom Maler die Feinheiten nehmen, mit denen er die 337
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Für Campos war Leduc einer der besten Kenner der französischen Literatur innerhalb der Gruppe. Er erwähnt, dass Leduc einen nicht publizierten kommentierten Index der modernsten französischen Werke für den Buchhändler Raoul Millet erstellte. Die Arbeit wurde mit Gratisexemplaren französischer Bücher entlohnt (Campos, El Bar, S. 218). Campos, El Bar, S. 37. Laut Campos hat sich die Vorliebe für die französische Kultur nicht auf den kulinarischen Geschmack der Künstler übertragen: „desdeñábamos los ricos vinos de Francia para que se nos escanciera en nuestras anchas copas el espumoso neutle con que remojábamos la barbacoa.“ (wir verschmähten die guten Weine Frankreichs, damit man uns in unseren breiten Gläsern den schäumigen Neutle servierte, mit dem wir die Barbacoa tränkten; Campos, El Bar, S. 82). Allerdings lassen die Memoiren Tabladas hier an eine persönliche Vorliebe Campos denken, da in ihnen an verschiedenen Stellen Beschreibungen von ausgefallenen französischen Gerichten zu finden sind, die in den Versammlungen der Modernisten serviert wurden.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
Vision adelt, die seine privilegierten Augen im Spektrum erkennen und in Farbabstufungen auf die Leinwand übertragen. Wir durften keinen ohne die Liebe des Künstlers erarbeiteten Satz sagen, der von Künstlern für Künstler und nicht für Leute, die nichts von Kunst verstehen, gemacht wird.)340
Ohne Zweifel verdankt diese Position Campos viel dem Gedicht ‘Art poétique’ in Verlaines Jadis et Naguère, dessen erster Vers zu einem modernistischen Gemeinplatz werden konnte: „De la musique avant toute chose“. Andererseits darf man jedoch nicht vergessen, dass die Modernistengruppe auch von weniger „modernen“ ästhetischen Positionen gerne Gebrauch machte. Ein sehr naheliegender Einfluss ist in diesem Zusammenhang Banvilles Petit traité de poésie française, der 1891 neu aufgelegt wurde und kurz vorher von Jean Moréas in seinem symbolistischen Manifest vom 18. September 1886 für die Literatur des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts salonfähig gemacht wurde.341 Banville stellt die Dichtung kategorisch in den Zusammenhang der Musik: „Le Vers est la parole humaine rhythmée de façon à pouvoir être chantée, et, à proprement parler, il n’y a pas de poésie et de vers en dehors du chant. Tous les vers sont destinés à être chantés et n’existent qu’à cette condition“ (Der Vers ist das menschliche Wort, das so in Rhythmus gesetzt wird, dass es gesungen werden kann; eigentlich gibt es keine Dichtung und keinen Vers außerhalb des Gesangs. Alle Verse sind dazu bestimmt, gesungen zu werden und existieren nur deshalb).342 Vor allem aber drückt Banville überdeutlich die gottähnliche Stellung des Dichters aus, betont also den elitären Charakter der Kunst, die – und ich bestehe erneut auf dem Ausdruck Campos – „para artistas y no para gentes que no entienden nada de arte“ (für Künstler und nicht für Leute, die nichts von Kunst verstehen) geschaffen wird. Banville verleiht dieser Ansicht eine dezidiert religiöse Wendung, vor der die mexikanischen Modernisten Halt machen mussten: „Quand l’homme a fait un poëme digne de ce nom, il a créé une chose immortelle, supérieure à lui-même, car elle est tout entière divine, et qu’il n’a ni le devoir, ni même le droit, de remettre sur aucun métier“ (Wenn der Mensch ein diesem Namen würdiges Gedicht gemacht hat, hat er ein unsterbliches Ding geschaffen, das ihm überlegen ist, weil es zur Gänze göttlich ist. Und der Mensch hat keine Pflicht und auch nicht das Recht, es auf irgendein Gewerbe zu stellen).343 Dass Campos mit seiner ästhetischen Theorie Banville verpflichtet ist, zeigt erneut die folgende Stelle, in der der Franzose vom exakt passenden ausdrucksstarken Wort handelt: „Sans la justesse de l’expression pas de poésie, et sans une science profonde, solide et universelle, tu chercherais en vain, sans les rencontrer jamais, le mot propre et la justesse de l’expression“ (Ohne die Exaktheit des Ausdrucks keine Dichtung und ohne eine Tiefe, solide und universelle Wissenschaft wirst du vergeblich das geeignete Wort und die Exaktheit des Ausdrucks 340 341
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Campos, El Bar, S. 83. Robert A. Jouanny interpretiert die Rolle Moréas für den Symbolismus als die eines geschickten Verbreiters schon bekannter ästhetischer Ideen: „Moréas apparaît comme le vulgarisateur de quelques idées communément reçues dans les cercles de jeunes poètes, plutôt que comme le théoricien fécond du Symbolisme“ (Moréas erschien, viel mehr als der fruchtbare Theoretiker des Symbolismus, wie der Verbreiter von einigen Ideen, die gewöhnlich in den Kreisen der jungen Dichter empfangen wurden; Robert A. Jouanny, Jean Moréas. Ecrivain français, in Bibliotheque des lettres modernes, 13, Paris: Minard, 1969, S. 424f.). Théodore de Banville, Petit traité de poésie française (Paris: Librairie de l’Écho de la Sorbonne, 1891), S. 3. Banville, Petit traité de poésie française, S. 6.
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suchen).344 Auch im Nachhinein, aus der Perspektive von 1935, bewahrt sich der eklektische Charakter des Modernismo: Der „verwunschene“ Dichter Verlaine und die deutlich konservativ angelegte Poetik Banvilles müssen für die ästhetischen Positionen des mexikanischen Autors Pate stehen. Die religiöse Verehrung der Kunst und der soziale Selbstbetrug der Künstler kommen dabei sehr deutlich zum Ausdruck. Aus einer 30-jährigen Distanz ist Campos in der Lage, die divergierenden Tendenzen der Gruppe in diesem relativ simplen Credo zusammenzufassen. Die Diskussionen um Symbolismus, Parnass oder Dekadentismus berühren ihn nicht. Nach drei Jahrzehnten haben sich die Verehrung der Kunst um der Kunst willen und die überlegene Stellung des Künstlers als bleibende Kriterien des mexikanischen Modernismo etabliert. Die Revista Moderna in ihrer Gesamtheit darf in diesen Kontext gestellt werden.345 Campos unterscheidet zwischen ihr und Reyes Spíndolas El Imparcial und identifiziert das modernistische Organ mit der kulturellen Elite, während er El Imparcial dem gemeinen Volk zurechnet.346 Der Kontrast zwischen verfeinertem Ästheten und Bürger ohne Sinn für Kunst (also Revista Moderna gegen El Imparcial) kann anhand einer von Campos referierten Episode um den legendären Jesús E. Valenzuela symbolisiert werden. Valenzuela soll in den Anblick eines Schwanes, dem modernistischen Symbol schlechthin, vertieft gewesen sein, als er in folgender Weise in seiner Betrachtung unterbrochen wurde: „Y un magnífico imbécil, que era uno de los parásitos que tiene todo gran señor para vivir gracias a su esplendidez y que cortejaba a Valenzuela, acercóse solícito al poeta para decirle entusiasmado: –¿Quiere usted que nos lo cenemos? [...] –¡Cénate un guajolote! ... ¡Antropófago!” (Und ein vollkommener Idiot, einer der Parasiten, die jeder große Herr hat, die dank seiner Großzügigkeit leben und der Valenzuela hofierte, näherte sich unterwürfig dem Dichter, um ihm mit Begeisterung zu sagen: – Wollen Sie, dass wir ihn zu Abend essen? [...] – Iss einen Truthahn! ... Kannibale!).347 Es ist nicht notwendig, in dieser Episode das Vorbild für den Schwanenmord Enrique González Martínez zu sehen.348 Es handelt sich 344 345
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Banville, Petit traité de poésie française, S. 233. Campos definiert das Ziel der Zeitschrift wie folgt: „propagar el buen gusto por medio de sus apreciaciones de arte en literatura y por medio de las manifestaciones plásticas de sus amigos los pintores y escultores ligados al grupo modernista“ (den guten Geschmack in der Literatur durch ihre Kunsturteile und durch die plastischen Ausdrücke ihrer Freunde, der Maler und Bildhauer, die der modernistischen Gruppe verbunden sind, verbreiten; Campos, El Bar, S. 131). Jedoch dürfte die Revista Moderna ein derart pädagogisches Ziel nicht sehr ernst genommen haben. Sie war, wenn auch in geringerem Grade als die Revista Azul, eine von Künstlern für Künstler gemachte Publikation, wie auch aus der im Text zitierten Passage unzweideutig hervorgeht: „hecha para artistas y no para gentes que no entienden nada de arte“. Campos, El Bar, S. 87. Gegen Ende seiner Autobiografie rechtfertigt Campos die elitären Positionen des Modernismo mit dem Argument, dass die Künstler in ihrem Elfenbeinturm bleiben mussten, weil jeder Versuch, für ein breiteres Publikum schreiben zu wollen ein Risiko darstellte. Campos spricht von 70.000 politischen Gefangenen am Ende des Porfiriats (S. 187), zu denen die Modernisten nicht gehören wollten. Campos dehnt aus seiner Sicht von 1935 auch das Konzept Intellektueller, das seiner Idee der kulturellen Elite zugrunde liegt, auf jegliche geistige Arbeit aus (S. 191), um die elitistische Pose des Modernismo zu relativieren. Campos, El Bar, S. 119. González Martínez berühmter Vers „Tuércele el cuello al cisne de engañoso plumaje“ verdankt sich viel eher der sechsten Strophe von Verlaines ‘Art poétique’: „Prends l´éloquence et tords-lui son cou!“ (Nimm
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einfach um eine Formulierung mehr, diesmal humoristischer Natur, des einseitigen „Krieges“ zwischen Künstler und Bürger des Porfiriats. Gleichzeitig scheint Campos die Auswüchse einer Bohème zu parodieren, die die Interessen des Magens über die der Kunst stellte. Anhand der Dekadenz der mexikanischen Bohème verdeutlicht Campos die Dekadenz des mexikanischen Modernismo, das Ende einer literarischen Epoche, die das Konzept einer allen anderen überlegenen intellektuellen Klasse den ethischen und ästhetischen Werten der sozial und ökonomisch dominierenden Klassen des Porfiriats gegenübergestellt hatte. Der geistige Snobismus der modernistischen Autoren musste seine Grenzen gegenüber den turbulenten Ereignissen der mexikanischen Revolution erkennen. Aber die Bohème hatte schon viel früher ihre Unschuld verloren. Campos erstellt eine Liste ihrer Opfer: die schon bekannten Namen Couto Castillo, Julio Ruelas, Leduc, Valenzuela. Die Vergeudung von Talenten, der frühe Tod einer Reihe seiner Kollegen hatten zur Folge, dass sich Campos von den modernistischen Kreisen distanzierte. Die Bar hatte jeglichen künstlerischen oder spielerischen Wert verloren und wurde zu einem abschreckenden Asyl vor alltäglichen und/oder sozialen Problemen. Der Alkohol konnte keine künstlerischen Visionen mehr produzieren (konnte er dies jemals?), die künstlichen Paradiese entsprachen mehr den Höllendarstellungen eines Hieronymus Bosch als den visionären Gedichten Baudelaires. Der Trinker flüchte in die Bar „como un refugio de su debilidad ingénita, de su pobreza intelectual, de su apocamiento insensible anulador de su voluntad; [...] de su rebelión ante la voz interna que le avisa que su memoria flaquea, que su inteligencia se nubla, que sus facultades intelectuales no reaccionan ya por sí solas como en el buen tiempo en que el sueño era el solo confortador para la reacción diaria” (als einen Zufluchtsort seiner angeborenen Schwachheit, seiner intellektuellen Armut, seines unsensiblen Kleinmuts, der seinen Willen vernichtet; [...] seiner Rebellion vor der inneren Stimme, die ihm sagt, dass sein Gedächtnis versagt, dass seine Intelligenz sich eintrübt, dass seine intellektuellen Fähigkeiten nicht mehr von selbst reagieren, wie zu den guten Zeiten, als nur der Schlaf die tägliche Reaktion milderte).349 Campos verweist auf das Beispiel eines vom Alkohol zerstörten und seiner künstlerischen Fähigkeiten beraubten Edgar Allan Poe.350 Die Anspielung auf den nordamerikanischen Dichter lässt sich auch als Reaktion gegenüber der Ästhetik Baudelaires lesen. Das von der mexikanischen Modernistengeneration zu wörtlich genommene „enivrez-vous“ habe jeglichen künstlerischen Wert eingebüßt. Die Formel des Franzosen habe die Laufbahn zahlreicher Autoren und vielleicht die einer ganzen aussichtsreichen Gruppe gewaltsam unterbrochen. Campos beendet seine Memoiren mit dem Ausbruch der Revolution, den er mit dem Ende des Modernismo in Mexiko gleichsetzt. Seine Autoren seien verstorben oder emigriert, wie Tablada, oder sie haben unterschiedliche künstlerische Wege eingeschlagen, wie Amado Nervo mit seinen naiven religiösen Gedichten. Die elitären Modernisten verfolgten die Ereignisse der Revolution mit Skepsis oder Gleichgültigkeit, da sie den Kontakt
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die Eloquenz und dreh ihr den Hals um!; Paul Verlaine, Œuvres poétiques complètes, hg. v. Jacques Borel, Paris: Gallimard, 1962, S. 327). Campos, El Bar, S. 158. Campos, El Bar, S. 192.
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mit der politischen Entwicklung ihres Landes immer gescheut, bzw. sich mit der scheinbaren sozialen Ruhe des Porfiriats abgefunden hatten. Sie wurden auf diese Weise, zumindest in der Darstellung Campos, zu den künstlerischen Opfern der Revolution.351 Als die von der Bohème ausgehende Faszination abnahm, als sich die Bars mit einer neuen, der Kunst fremden Kundschaft bevölkerten, verlor der mexikanische Modernismo nicht nur seine ästhetische Basis, sondern auch sein vitales Zentrum. Die Revolution war ein dramatischer Schlusspunkt, das eigentliche Ende hatte schon Jahre zuvor begonnen.352 El Bar erinnert an eine literarische Periode, die die Basis für eine autonome mexikanische Literatur bildete, die als Erbe das Konzept des Künstlers/Demiurgen hinterließ, der eine herausragende Rolle in der finisekulären Gesellschaft spielte, auch wenn außer ihm selbst kaum jemand davon Kenntnis nahm. Das zweite große Erbe ist in der gleichsam religiösen Verehrung der Kunst zu suchen. Beide Ideen wurden wenig später von den literarischen Avantgarden Lateinamerikas wiederaufgenommen, deren Vertreter nicht selten zur Gänze in der Schuld des Modernismo standen. Mexiko nimmt wegen seiner Revolution eine Sonderstellung ein. Die Mehrheit der im Modernismo begonnenen Karrieren wurde unterbrochen oder schlug Richtungen ein, die sich den von der Revista Moderna propagierten Ideen immer mehr entfernten. 1911 stellte das modernistische Sprachrohr Revista Moderna sein Erscheinen ein, am 25. Mai 1911 verzichtete Porfirio Díaz erzwungenermaßen auf seine Präsidentschaft und begab sich ins französische Exil. 1911 starb Jesús E. Valenzuela: historische Zufälle. Jedoch zeigen die Lebenserinnerungen Valenzuelas, dass der Gründer und Herausgeber der Revista Moderna für seine wirtschaftlichen und intellektuellen Unternehmungen in der Tat vom Porfiriat abhing.
3.1.2. Jesús E. Valenzuela: Bürger und Bohémien Im Gegensatz zu Campos verfasste Valenzuela seine Lebenserinnerungen noch mitten in der produktiven Phase des Modernismo. Er diktierte sie in den Jahren 1908 und 1909, durch seine Krankheit bereits ans Bett gefesselt. Der 1856 im Norden Mexikos geborene Valenzuela kam 1873 in die Hauptstadt, wo er die positivistisch orientierte Escuela Nacional Preparatoria besuchte. Zu seinen Lehrern gehörten Gabino Barreda selbst und besonders El Nigromante Ignacio Ramírez, einer der radikalsten Vertreter der nationalistischen Tendenz innerhalb der mexikanischen Romantik. Valenzuela wird bis an sein Lebensende an den rationalistischen Prinzipien der Preparatoria festhalten. Es handelt sich jedoch um einen sehr zahmen Rationalismus, der ein Nebeneinander von exakten Wissenschaften und Kunst durchaus nicht ablehnt. So kann Valenzuela in seinen Memoiren rückblickend anmerken: „Ya tengo 52 años y pico y entiendo que se aprenda bien el latín para leer un verso de Virgilio u Horacio mas no para informarse de la ciencia moderna“ (Ich bin 351 352
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Campos, El Bar, S. 236. Campos kann seinen Erinnerungen von 1935 bereits eine poetische Anthologie des Modernismo anfügen: klares Indiz dafür, dass die Bewegung zu einem Teil des literarischen Kanon geworden war.
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52 Jahre alt und verstehe, dass man gut Latein lernt, um einen Vers Vergils oder Horaz zu lesen, aber nicht um sich über die moderne Wissenschaft zu informieren).353 Poesie und Naturwissenschaften schließen sich hier nicht gegenseitig aus, sie stellen „nur“ unterschiedliche Anforderungen an ihre Betreiber. Diese neutrale Haltung ermöglichte es Valenzuela, gleichzeitig als Dichter und Literaturmäzen und als überzeugter Anhänger von Taine und Stuart Mill in Erscheinung zu treten. Unbedingte Voraussetzung für beide Zweige des Wissens sei aber der soziale Friede, den Valenzuela durch Porfirio Díaz gesichert sieht. Seine Verehrung des Präsidenten erklärt sich auf diese Weise sehr einfach.354 Auch seine politische Rolle ist aus dieser Perspektive zu beurteilen: Valenzuela war Parlamentsabgeordneter, meldete sich aber in 20 Jahren kein einziges Mal zu Wort.355 Nur die Aufrechterhaltung des status quo konnte den Fortschritt des Landes, und mit ihm natürlich auch den Fortschritt von Wissenschaft und Kunst, sicherstellen. Auch der oft angesprochene Antiklerikalismus der Generationen der Preparatoria relativiert sich auf diese Weise. Es kann keineswegs von religiöser Liberalität, oder gar Atheismus, die Rede sein. Die Kirche bleibt Autorität, die Ausübung von Wissenschaft und Kunst wird ihrerseits als eine Art Gottesdienst angesehen: „Profeso que a Dios le es más grato el conocimiento perfecto de la Naturaleza, que una novena“ (Ich vertrete den Gedanken, dass Gott die perfekte Kenntnis der Natur angenehmer ist, als ein Novene), lautet hierzu Valenzuelas Credo.356 1884 erwirbt der Abgeordnete einige Grundstücke am damals noch unbebauten Paseo de la Reforma, der etwas später zur Prachtstraße der mexikanischen Hauptstadt und zum Symbol der Prosperität des Porfiriats ausgebaut werden sollte. Damit schafft Valenzuela die Grundlage für ein Vermögen, das es ihm ermöglichte zum Mäzen der modernistischen Dichtergeneration Mexikos zu werden. Wie konnte aber ein Mann, dessen politische und soziale Überzeugungen auf der Bewahrung des Bestehenden aufbauten, zum Förderer einer Bewegung werden, die der mexikanischen und lateinamerikanischen Literatur neue Themen und Ausdrucksmittel bereitstellte? Um diese Frage zu beantworten, muss auf einige Charakterisierungen Valenzuelas seitens seiner Zeitgenossen hingewiesen werden. Campos widmet in seinen Erinnerungen Valenzuela zwei Kapitel, die diesen in konträren Umgebungen darstellen. In ‘Jesús E. Valenzuela en el bar’ wird ein vor Vitalität und Geist sprühender Bohémien vorgestellt, der mit seinen Künstlerfreunden leichtfertig ein Vermögen vertrinkt. Die Zusammenkünfte in der Bar dienen in erster Linie dazu, künstlerische Ideen auszutauschen und den Alltag zu vergessen: „En torno de él era un gorjeo de risas, un coro eterno de alegría de vivir, una fascinación de apurar el carquesio dionisiaco de un trago, como si en él se bebiera la vida, como si en él se bebiera el olvido, 353 354
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Jesús E. Valenzuela, Mis recuerdos. Manojo de rimas, hg. v. Vicente Quirarte (México: Conaculta, 2001), S. 47. Vgl. S. 53 die schon zitierten Stellen der Autobiografie, aber auch die folgende „Vergötterung“ der Figur des Präsidenten: „’Porfirio Díaz’, decía toda la República (se le hablaba de tú, como a los dioses), en una explosión de popularidad que nunca ha alcanzado hombre alguno en México, y yo sabía mucho del héroe, del caudillo“ (Porfirio Díaz, sagte die ganze Republik [man duzte ihn, wie die Götter] in einer populären Explosion, die nie irgendein Mann in Mexiko erreicht hat. Und ich wusste viel von dem Helden, vom caudillo; S. 83). Valenzuela, Mis recuerdos, S. 96. Valenzuela, Mis recuerdos, S. 73.
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como si en él se bebiera el amor“ (Um ihn war lautes Lachen, ein ewiger Chor der Lebensfreude, eine Faszination, den dionysischen Wein auf einmal auszutrinken, als ob in ihm das Leben, das Vergessen, die Liebe getrunken würden).357 Wenig später merkt Campos bewundernd an, dass Valenzuela auch nach dem Verlust seines Reichtums nichts an Lebensfreude und Großzügigkeit einbüßte.358 Valenzuela erscheint als der eigentliche Motor der Modernistengruppe, ohne den keinerlei literarische oder künstlerische Reform möglich gewesen wäre. Seine eigene sehr mittelmäßige und konventionelle Produktion spielte dabei keine Rolle.359 In ‘Una comida en la casa de Valenzuela’ entwirft Campos dagegen ein sehr divergierendes Bild seines Mäzen, das eines wohlhabenden Bürgers mit feinem künstlerischen und kulinarischen Geschmack, der seine Besitztümer gern zur Schau stellt und mit seinen Kollegen teilt: „El poeta saludó con gentil donaire a su esposa, nos presentó con ella a los que íbamos por primera vez a la casa, y sin preocuparse absolutamente nos hizo pasar a la sala, donde a poco apareció un criado trayendo dos botellas de coñac y una bandeja con pequeñas copas, vasitos medianos y un sifón de agua de Seltz“ (Der Dichter grüßte mit höflicher Geste seine Gattin, stellte ihr die vor, die wir zum ersten Mal ins Haus kamen und, ohne sich im geringsten zu besorgen, führte er uns in den Salon, wo bald ein Diener mit zwei Flaschen Cognac, einem Tablett mit kleinen und mittelgroßen Gläsern und einer Wasserflasche erschien).360 Gespräche über Kunst und Literatur bestimmen den Ton vor Tisch, der Respekt vor der anwesenden Frau Valenzuelas verbietet jedoch sowohl eine zu spezialisierte, als auch eine zu offenherzige Konversation, wie sie die Anwesenden von der Bar her gewöhnt waren: „En la comida se habló de cosas amables para complacer a la dueña de la casa que presidía la mesa y que sonreía a las frases de los intelectuales, tan sencillas ahora como las de cualquier hijo de vecino que come alegremente“ (Beim Essen sprach man von freundlichen Dingen, um die Frau des Hauses, die den Vorsitz führte, zufriedenzustellen. Sie lachte zu den Sätzen der Intellektuellen, die jetzt so einfach waren, wie die eines beliebigen Gastes, der fröhlich isst).361 Das Nebeneinander einer beinahe orgiastischen Bohème in der Bar und einer verhaltenen Atmosphäre in Valenzuelas privatem Bereich, in dem ein geistvoller von guten Sitten zeugender small talk dominiert, ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Es darf nicht vergessen werden, dass beide Umgebungen wichtige Bestandteile der modernistischen Ästhetik waren: das Auskosten der „künstlichen Paradiese“ ebenso, wie die Faszination für einen Lebensstil, der sich an der oberflächlichen Figur des dandy ein Beispiel nahm. Jesús E. Valenzuela wird in diesem Sinne in den Memoiren Campos zum Prototyp eines mexikanischen dandy.362 Seine entscheidende Rolle als Herausgeber der Revista Moderna und 357 358 359 360 361 362
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Campos, El Bar, S. 44. Die Verwendung des Wortes „dionisiaco“ fällt auf. In der Tat entspricht Valenzuela in der Beschreibung Campos den Vorstellungen Nietzsches von einer dionysischen Existenz. Campos, El Bar, S. 47. Valenzuela veröffentlichte kurz hintereinander drei Gedichtsammlungen: Almas (1904), Lira libre (1906), Manojo de rimas (1907). Campos, El Bar, S. 51. Campos, El Bar, S. 54. Die reale Figur Oscar Wildes und die fiktive Gestalt Des Esseintes dürften bei den Beschreibungen Valenzuelas in El Bar Pate gestanden haben.
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langjähriger Geldgeber der Künstler und Literaten der Gruppe erkennt Campos an, nicht jedoch seine sehr hellsichtigen Beiträge zur Definition und Einordnung des mexikanischen Modernismo; die diesen konstituierende Auflösung des Gegensatzes zwischen materialistischer Ausbildung in der Preparatoria und idealistischer Verherrlichung der Kunst, kommt nicht zur Sprache. Dass der „Freigeist“ Valenzuela gleichzeitig der politischen Elite seines Landes angehört und treuer Anhänger des Präsidenten ist, bestätigt die oben aufgestellten Thesen vom Selbstbetrug der Modernistengruppe und von ihrem Leben in einer höchst fiktiven Bohème. Etwas komplizierter hat sich die Beziehung José Juan Tabladas mit Valenzuela gestaltet. Gegen Ende des Erscheinens der Revista Moderna kam es zum Bruch zwischen derem Herausgeber und ihrem prominentesten Mitarbeiter.363 Valenzuela fällt teilweise sehr harte und bloßstellende Urteile über den Autor, der 1898 die modernistische Zeitschrift mit seinen programmatischen Texten eröffnet hatte. Insbesondere verweist er auf die Drogensucht Tabladas und stellt seine Kenntnisse der japanischen Kultur, auf die der Dichter besonders stolz war, in Frage.364 Seine literarischen Fähigkeiten stehen zwar außer Frage, doch habe er diese seinem sehr ausgeprägten Materialismus geopfert: „Tablada es un gran poeta, aunque es muy tildado por los que le conocen. Escribe admirablemente en prosa [...] Separado hoy de las letras por la venta de alcoholes y de automóviles, de vez en cuando echa un cuarto a espadas en algún periódico“ (Tablada ist ein großer Dichter, auch wenn er von denen, die ihn kennen, gerügt wird. Tablada schreibt eine bewundernswerte Prosa [...] Der Handel mit Alkohol und Autos trennt ihn heute von der Literatur, manchmal führt er noch ein Schwert in irgendeiner Zeitung).365 Valenzuelas Vorstellungen von literarischer Leichtlebigkeit machen bei stärkeren Drogen als Alkohol halt. Seine Einbettung in die bürgerliche und finanzielle Elite Mexikos verbieten ihm jeglichen Kontakt mit einer derartigen „Bewusstseinserweiterung“, seine Bohème erweist sich im Nachhinein als durchaus konventionell und weit entfernt von den Dekadentismen eines Des Esseintes. Die folgende Stelle diente zwar in erster Linie als persönliche Attacke gegen Tablada, deutet aber auch die streng konservative Einstellung Valenzuelas in dieser Hinsicht an: „Tablada ha llegado a inyectarse morfina y es muy afecto a la pose. Cuando yo le conocí, soñaba en los vicios como en un Edén [...] Ahora está muy morigerado; le da por la cultura física“ (Tablada ist dazu gekommen, sich Morfium zu spritzen, er neigt zum Affekt und zur Pose. 363
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Vgl. dazu besonders die Anmerkungen Guillermo Sheridans in seiner Edition des Tagebuchs Tabladas, das für die in Frage stehenden Jahre nicht erhalten ist. José Juan Tablada, Diario (1900-1944), in Obras IV, hg. v. Guillermo Sheridan, in Nueva Biblioteca Mexicana, 117 (México: UNAM, 1992), S. 71f. „Le he preguntado al canciller de la delegación del Japón sobre si Tablada habla el japonés, y me ha dicho que no conoce más que unas cuantas palabras de ese idioma“ (Ich habe den Kanzler der japanischen Abordnung gefragt, ob Tablada Japanisch spricht und er hat mir gesagt, dass er nur einige wenige Wörter dieser Sprache kennt; Valenzuela, Mis recuerdos, S. 128). Außerdem legt Valenzuela dem 1907 verstorbenen Julio Ruelas die Behauptung in den Mund, Tablada sei nie nach Japan gekommen, sondern habe alle seine Chroniken, die ‘Hacia el país del sol’ bilden, in San Francisco verfasst und an die Redaktion geschickt (S. 127). Dem steht heute die Ansicht Atsuko Tanabes gegenüber, der davon überzeugt ist, dass Tablada tatsächlich in Japan war. Vgl. Atsuko Tanabe, El japonismo de José Juan Tablada (México: UNAM, 1981). Valenzuela, Mis recuerdos, S. 122.
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Als ich ihn kennen lernte, traümte er von den Lastern wie von einem Paradies [...] Jetzt ist er sehr gemäßigt; die Körperkultur zieht ihn an).366 Tablada seinerseits sieht in Valenzuela nicht viel mehr als einen begnadeten und begüterten Animator der finisekulären Literaturszene Mexikos. Er unterstreicht, dass der Parlamentsabgeordnete sehr oft die Rolle eines spleenigen Clowns übernahm, der um jeden Preis Aufsehen erregen wollte. Die folgende Episode, die sich auf die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts bezieht, könnte den sehr reservierten Ton der Memoiren Valenzuelas einigermaßen relativieren: El poeta Jesús Valenzuela, entonces en el apogeo de su lírica y entusiasta juventud y de su espléndida fortuna acostumbraba pasar manejando un char-a-bancs, tirado por briosos caballos y vestido con rutilante traje de charro, como un extraño Musageta indígena, que a nuestros ojos ofuscados parecía regir el propio carro del sol. (Der Dichter Jesús Valenzuela, der damals auf dem Höhepunkt seiner lyrischen und begeisterten Jugend und seines großzügigen Vermögens war, pflegte mit einem von strahlenden Pferden gezogenen char-a-bancs zu fahren, gekleidet mit einem glänzenden Charro-Anzug, wie ein indianischer Musaget, der vor unseren verblendeten Augen den Sonnenwagen zu lenken schien.)367
Der ironische Ton dieser Beschreibung, die Tablada in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts verfasste, kann nicht übersehen werden, besonders wenn man die snobistische Ablehung des Provinziellen und Folkloristischen bei den meisten modernistischen Autoren berücksichtigt.368 Valenzuela wird ganz auf seine Rolle als enfant terrible reduziert, seine Position als politisch verlässlicher Angehöriger des mexikanischen Großbürgertums dagegen, auf der dieser in seinen Lebenserinnerungen nachdrücklich besteht, erscheint völlig an den Rand gedrängt. Ganz im Gegenteil entsteht das Bild eines in seinen politischen Ambitionen von Porfirio Díaz enttäuschten Valenzuela. Der „exclusivismo porfiriano“ habe eine erfolgreiche und produktive Karriere des modernistischen Mäzens in dieser Richtung verhindert.369 Derartigen Äußerungen Tabladas dürfen jedoch eine nur sehr relative Bedeutung zugeschrieben werden, da seine eigene sehr oft kritisierte Handlungsweise während und nach der Revolution ihn immer wieder zwang, seine politischen Haltungen im Nachhinein zu verschönern. Der Dichter und Künstler Tablada wollte und konnte in seiner Autobiografie der bürgerlichen Stellung Valenzuelas nicht gerecht werden. Komprimiert erscheinen seine Ansichten über ihn in dem sehr viel glaubhafteren Tagebuch. Valenzuelas Bedeutung für die Modernistengruppe besteht in ihm darin, ganzen Schriftstellergenerationen das Trinken beigebracht zu haben. Tablada gibt am 5. Oktober 1905 ein Gespräch Rubén M. Campos mit Valenzuela wieder: „– Según X..., usted ha emborrachado a tres generaciones./Y Chucho, olímpicamente indiferente a lo que piensen de él en esa materia, 366
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Valenzuela, Mis recuerdos, S. 138. Zur Drogenabhängigkeit Tabladas vgl.: Guillermo Sheridan, ‘José Juan Tablada contra Diego Rivera: carta iracunda (con haikai)’, in Vuelta, 157 (1989), S. 45. Rivera hatte den Dichter in seinem mural an dem Gebäude des Erziehungsministeriums als Drogensüchtigen dargestellt, worauf Tablada mit einem erzürnten Brief reagierte. José Juan Tablada, La feria de la vida, in Lecturas Mexicanas, 22 (México: Consejo Nacional para la Cultura y las Artes, 1991), S. 110. Die mexikanische Provinz wurde erst mit Ramón López Velarde zu einem ernst genommenen literarischen Thema, das gleichzeitig den Übergang vom Modernismo zur künstlerischen Avantgarde des Landes darstellte. Tablada, La feria de la vida, S. 318
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ni siquiera se tomó el trabajo de negar ... En cambio, nos contó que una tarde tuvo que dormir tres siestas, pues se puso tres monas, una tras otra“ (Laut X haben sie drei Generationen betrunken gemacht./Und Jesús, dem völlig gleichgültig ist, was man von ihm in diesem Bereich denkt, machte sich nicht einmal die Mühe zu dementieren. Im Gegenteil erzählte er uns, dass er eines Nachmittags drei Siestas schlafen musste, weil er sich drei Räusche antrank, einen nach dem anderen).370 Die Polemik zwischen Valenzuela und Tablada, die nur von jenem direkt geführt wurde, hat kaum biografischen oder literarhistorischen Wert, kann jedoch ein bezeichnendes Licht auf die modernistische Ästhetik im Mexiko der Jahrhundertwende werfen. Valenzuela ist gleichzeitig Bürger und Bohémien. Als Herausgeber der Revista Moderna übernimmt er die Verantwortung für eine Reihe antibürgerlicher Äußerungen seiner Autoren. Schon Tabladas Fabel von den sieben Sängern zu Beginn der Publikation gab in dieser Hinsicht den Ton an. Paradoxerweise machen ihn sein Lebensstil, seine ökonomische Situation und sein politisches Amt als zwar schweigsamer, aber sehr zuverlässiger Volksvertreter zu einem potentiellen Opfer derartiger Angriffe. Valenzuelas offen zur Schau gestellte Lebenslust, sein wohl krankhafter Alkoholismus und nicht zuletzt seine schriftstellerischen Ambitionen machen ihn jedoch zu einem typischen Vertreter der antibürgerlichen Gruppe. Die literarische Bohème Mexikos rekrutiert ohne Zweifel ihre Mitglieder aus dem Bürgertum, Valenzuela stellt insofern keinen Sonderfall dar. Was seine Stellung besonders macht ist jedoch, dass er sich der Kontraste bewusst wird und versucht, einen logischen Ausgleich zwischen ihnen herzustellen. Noch in seinen Memoiren wiederholt er konsequenterweise die in ‘Los modernistas mexicanos’ formulierten ebenso hellsichtigen, wie versöhnenden Positionen. Er stellt erneut die Forderung auf, dass auch die Schriftsteller und Künstler akzeptieren müssen, dass sie Bestandteile der Gesellschaft sind und von dieser abhängen. Valenzuela übernimmt hier, seiner Ausbildung gemäß, den Positivismus Taines, den er dem romantischen Geniekult, der auch (oder gerade) den mexikanischen Modernismo dominierte, gegenüberstellt. Er scheut nicht davor zurück, seinem literarischen Kontrahenten Salado Álvarez teilweise recht zu geben: „el medio social es muy importante factor de la producción literaria, como lo es en cualquier otra producción. Sin embargo, no lo cree así Amado Nervo al contestar la carta del señor Salado. Para Nervo, los poetas están fuera del mundo“ (das soziale Medium ist ein sehr wichtiger Faktor der literarischen Produktion, so wie in jeder anderen Produktion. Dennoch glaubt dies Amado Nervo in seinem Antwortbrief an den Herrn Salado nicht. Für Nervo sind die Dichter nicht von dieser Welt).371 Salado habe nur das Milieu falsch definiert, habe übersehen, dass das künstlerische soziale Umfeld eines Amado Nervo auch eigene Gesetze hat, die den herrschenden politischen und sozialen Normen manchmal widersprechen können (und dürfen). Es sei aber nicht angebracht, daraus eine gleichsam anarchische Stellung des Künstlers abzuleiten, ihn als sozialen Außenseiter zu definieren.372 Valenzuela erkannte frühzeitig den fiktiven Charakter der mexikanischen Dekadenz; die antibürgerlichen Texte in seiner 370 371 372
Tablada, Diario (1900-1944), S. 63. Valenzuela, Mis recuerdos, S. 112. Vgl. die Kapitel XVI und XVII von Mis recuerdos, die mit wenigen Änderungen den bereits besprochenen Artikel in der Revista Moderna vom 1. Dezember 1898 abdrucken.
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Zeitschrift konnte er folgerichtig als „Spiel“, als ästhetisch wertvolle Provokationen beurteilen, die außerhalb des literarischen „Milieus“ kaum Wirkung zeigen konnten. Selbst das literarisch-intellektuelle Gespräch musste auf das Ambiente der Bar reduziert bleiben, da es in anderen sozialen Umgebungen unverständlich, und damit natürlich auch wirkungslos, bleiben musste.373 Für José Juan Tablada, den hochtalentierten Dichter und Intellektuellen, waren derartige Positionen verständlicherweise unannehmbar. Folgerichtig beschreibt er Valenzuela in Autobiografie und Tagebuch „nur“ als Bohémien und negiert sowohl seine soziale Position, als auch seine theoretischen Erkenntnisse. Tablada blieb seinen literaturtheoretischen und ästhetischen Vorstellungen, zumindest auf dem Papier, ein Leben lang treu. Ein kurzer Blick auf einige über 47 Jahre verteilte Texte kann dies bestätigen. Schon in dem 1891 für El Universal verfassten Artikel ‘El bibliógrafo y el artista, el peón y el arquitecto’ lässt der 20-Jährige keinen Zweifel an der herausragenden Stellung des Künstlers aufkommen, an seiner extrasozialen Position. Gleichzeitig drückt er seine Verachtung für die professionelle Literaturkritik aus, womit er sehr an die von Prieto oder Gutiérrez Nájera gegen Puga y Acal geführte Polemik erinnert: Es, en mi concepto, la tarea del bibliógrafo, mezquina y secundaria. Él está subordinado por completo al creador y en la jerarquía literaria ocupa el mismo lugar que ocuparía el soldado asistente en la organización de un cuerpo de ejército./Es un subordinado, ni más ni menos. Para que el bibliógrafo exista, es necesario que el artista, el creador, produzca sobre él, y a sus expensas vivirá siempre el bibliógrafo como vive el parásito sobre la piel del animal, o como vegeta el águila sobre el roble. (Meiner Ansicht nach ist die Aufgabe des Bibliografen mittelmäßig und zweitrangig. Er ist zur Gänze dem Schöpfer untergeordnet und in der literarischen Hierarchie nimmt er den Platz ein, den der Adjudant in der Organisation eines Herres einnehmen würde./Er ist ein Untergeordneter, nicht mehr und nicht weniger. Damit der Bilbiograf existiert, muss der Künstler, der Schöpfer über ihm produzieren. Der Bibliograf wird immer auf seine Kosten leben, so wie der Parasit auf der Haut des Tieres lebt oder wie der Adler auf der Eiche vegetiert.)374
Die nur wenige Jahre zuvor von Puga, aber insbesondere auch von Gutiérrez Nájera vertretene Ansicht, dass erst eine funktionierende Kritik das Bestehen einer literarischen Szene in Mexiko sichern kann, weicht bei Tablada erneut der Vorstellung von einem nur sich selbst verpflichteten Genie, das sich über der Kritik und außerhalb der Gesellschaft befindet. Zwei Jahre später kommen derartige elitistische Positionen noch viel radikaler zum Ausruck. In ‘Cuestión literaria. Decadentismo’ sieht Tablada dezidiert eine asoziale und anationale Gemeinschaft von Künstlern und Schriftstellern, die, geeint durch ein übersensibles ästhetisches Empfinden, durch einen „parentesco fisiológico“ (eine physiologische Verwandtschaft), von ihrer einsamen Pagode aus einen Kampf gegen das bürgerliche Paradies führt.375 Tablada stellt fest: „Resolvimos, de común acuerdo, ligarnos y obrar en 373
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Die sehr enge Verwandtschaft der Funktionen der mexikanischen Bar und des Wiener Kaffeehauses drängt sich hier auf. Vgl. dazu den von Michael Roessner herausgegebenen Sammelband Literarische Kaffehäuser. Kaffeehausliteraten. Zur Produktion und Rezeption von Literatur im Kaffeehaus in Europa und Lateinamerika zwischen 1890 und 1950 (Wien-Köln-Weimar: Böhlau, 1999). José Juan Tablada, Crítica Literaria, in Obras V, hg. v. Adriana Sandoval (México: UNAM, 1994), S. 39. Tablada, Crítica Literaria, S. 64.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
igual sentido para apoyar en México la escuela del Decadentismo, la única en que hoy puede obrar libremente el artista que haya recibido el más ligero hálito de la educación moderna“ (Wir beschlossen einstimmig, uns zusammenzuschließen und im gleichen Sinne zu arbeiten, um die Schule des Dekadentismus in Mexiko zu unterstützen, die einzige, in der der Künstler, der auch nur den leichtesten Hauch der modernen Erziehung erhalten hat, heute frei arbeiten kann).376 Weitere zehn Jahre später, in der zweiten Serie der Revista Moderna vom Februar 1904, fällt Tablada ein vernichtendes Urteil des Naturalismus eines Federico Gamboa.377 Die realistische Darstellung des Lasters, der Krankheit und der Sexualität in Santa erschrecken Tablada und stoßen ihn ab. Laster und selbst Krankheit müssen ästhetisch ansprechen, so der Modernist, ihre fatalen Folgen müssen von der Kunst kaschiert werden. Japanische und französische Prostituierte geben dafür das Vorbild. Das erbärmliche mexikanische Laster dürfe kein literarisches Thema werden. Der Passus sei wegen seiner sozialen Naivität und seines offensichtlichen Exotismus, sowie als Beispiel der im mexikanischen Modernismo fallweise sehr weit gehenden Evasion zur Gänze zitiert: la Roma de Heliogábalo y aún el París moderno, up to date que dio a Mirabeau ocasión para hacer una imprevista y asombrosa apología del souteneur, pudieron ser proscenios donde el vicio cultivado y refinado tuvo, no sólo interés novelesco, sino vasta teatralidad. El arte, en todas sus manifestaciones, concurría al esplendor de aquellos episodios que tenían solemnidades hieráticas y tumultos de epopeya; la simple práctica del arte cosmético requería iniciaciones dilatadas y sutiles, y una sabia estética, formando al vicio una atmósfera que atenuaba las ineludibles miserias y los necesarios desencantos ... Así la aristócrata oirán del Yoshiwara de Yedo, vela la venalidad de sus ósculos, dorando sus labios con un sello de oro .../El París moderno ha hecho florecer en sus cálidos invernaderos a Sapho, a Nana, a la flamante Môme Picrate de Willy, y en la vida real, entre una legión, a Liane de Pougy, que escribe sus memorias, y a la ingenua De Mérode, que con sus menudos dientes ha roído el oro de una corona real ... /Y el triste vicio nuestro no puede, para cubrir su descarnada tristeza, apelar a ninguna atenuación. Es una selva negra de hastíos, un cauce turbulento lleno de náuseas y de alcohol.
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Tablada, Crítica Literaria, S. 62. Es dürfte sich dabei um die erste Formulierung des Projektes Revista Moderna handeln. Gleichzeitig bestätigt sich, dass der Terminus Modernismo am Ende des 19. Jahrhunders sich noch nicht durchsetzen konnte; Dekadentismus war der gängigere Begriff für die Autoren der Generation Tabladas. Dieser kann noch 1905 über den Terminus schreiben: „Como desconocen totalmente el real valor del vocablo en la literatura modernísima, aplican la acepción lexicográfica a guisa de injuria desdeñosa“ (Weil sie den wirklichen Wert der Vokabel in der modernsten Literatur vollständig ignorieren, wenden sie die Wörterbuchdefinition als verächtliche Beleidigung an) und sehr allgemein die dekadente Literatur als ästhetische und verfeinerte Kunst definieren (Tablada, Crítica Literaria, S. 201). Entsprechend kann er auch Autoren wie die Gebrüder Goncourt für die dekadente Literatur in Anspruch nehmen: „Los De Goncourt rompieron el yugo de los preceptos, se emanciparon del despotismo de los dogmas y asumieron el papel de verdaderos anarquistas. Su papel de anarquistas comprueba su carácter de decadentes“ (Die Goncourts brachen mit dem Joch des Präzepts, sie emanzipierten sich vom Despotismos der Dogmen und nahmen ihre Rolle als wahre Anarchisten wahr. Ihre Rolle als Anarchisten bestätigt ihren Charakter als Dekadente; Tablada, Crítica Literaria, S. 69; der Artikel stammt aus dem Jahr 1893). Anarchismus wird hier als Überbetonung des Ich, und damit als dekadent, verstanden. Gamboa selbst lehnte zurecht das Wort Naturalismus für seine Romane ab. Schon am 28. März 1893, nach erst zwei publizierten Büchern, notiert er stolz in seinem Tagebuch, dass er nicht mehr als Schüler Zolas angesehen wird, sondern seinen eigenen realistischen Weg gefunden hat, für den er die Bezeichnung „sincerismo“ kreiert (Vgl. Federico Gamboa, Mi diario, hg. v. José Emilio Pacheco, Bd. 1, México: Conaculta, 1995, S. 66).
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(Das Rom Heliogabals und sogar das moderne Paris, up to date, das Mirabeau Gelegenheit gab, eine unvorhergesehene und erstaunliche Apologie des souteneur zu machen, konnten Szenerien sein, in denen das kultivierte und raffinierte Laster nicht nur romanhaftes Interesse, sondern auch Theatralität hatte. Die Kunst versammelte sich in allen ihren Erscheinungsformen um den Glanz jener Episoden, die hieratische Feierlichkeiten und den Tumult eines Epos aufwiesen; die einfache Praxis der kosmetischen Kunst bedurfte ausführlicher und feiner Initiationen und einer weisen Ästhetik, die dem Laster eine Atmosphäre schaffte, die die unvermeidlichen Nöte und notwendigen Entzauberungen abmildern konnte. So kann die noble Oiran in Yoshiwara die Käuflichkeit ihrer Küsse verschleiern, indem sie ihre Lippen mit einem Goldsiegel vergoldet ... /Das moderne Paris ließ in seinen warmen Wintergärten Sapho, Nana, die feurige Môme Picrate Willys und, im wirklichen Leben, Liane de Pougy, die ihre Memoiren schreibt, und die naive De Mérode, die mit ihren winzigen Zähnen das Gold einer königlichen Krone angenagt hat, erblühen … /Und unser trauriges Laster kann auf keine Milderung verweisen, um seine fleischlose Traurigkeit zu bedecken. Es ist ein schwarzer Urwald des Überdrusses, ein turbulentes Flussbett voll Ekel und Alkohol.)378
Der Künstler darf demnach seine soziale Umgebung nicht darstellen, wenn sie seinen hohen ästhetischen Anforderungen nicht entspricht, sondern er muss selbst für Laster und Krankheit Idealformen finden, die der sozialen Sonderstellung von Kunst und Künstler gerecht werden können. Schließlich sei noch erwähnt, dass auch der alternde Tablada am asozialen Status des Dichters festhält. In einem kurzen Nachruf auf Francis Jammes vom 20. Dezember 1938 findet sich folgende Definition: „Como los héroes, como los sabios, como los santos, los grandes poetas no pertenecen a una nación, sino al mundo siendo por esencia cósmicos“ (Wie die Helden, wie die Weisen, wie die Heiligen gehören die großen Dichter keiner Nation an, sondern der Welt. Sie sind im Kerne kosmisch).379 Zurückkommend auf die gleichsam posthume Polemik zwischen Valenzuela und Tablada lässt sich feststellen, dass die elitären Positiones des Autors von ‘Misa Negra’ mit den rationaleren Überzeugungen des Herausgebers der Revista Moderna, der die soziale Abhängigkeit des Schriftstellers erkannt hatte, in Konflikt geraten mussten. Diese Diskrepanzen beruhen natürlich einerseits auf einem Generationenkonflikt (Valenzuela ist 15 bis 20 Jahre älter als die meisten Autoren der Modernistengruppe), spiegeln aber andererseits die Scheinwelt der modernistischen Literatur Mexikos sehr deutlich wider. Auch der von der modernistischen Ästhetik, von der sozial autonomen Rolle des Schriftstellers stets überzeugte Tablada unternahm mehrere sehr radikale Versuche, in der bürgerlichkapitalistischen Welt Fuß zu fassen. Der Intellektuelle und Künstler Tablada bestand auf der Existenz einer oben analysierten sozialen Klasse der feinfühligen Ästheten und Dichter. Keiner seiner theoretischen Texte stellt die scheinbare Realität dieser überzeitlichen und übernationalen Schicht – der letrados, wie sie Ángel Rama nennen würde – in Frage. Dennoch erkennt Tablada den utopischen Charakter derartiger Vorstellungen und scheut nicht davor zurück, sich als Verkäufer von Autos, kostspieligen Weinen und Spirituosen, sowie von meist unter recht dubiosen Umständen erworbenen Kunstgegenständen ein beachtliches Vermögen zu erwerben, das er in seinem legendären Haus in Coyoacán, einem der Luxusviertel der mexikanischen Hauptstadt, seinen zahlreichen Besuchern zur Schau
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Tablada, Crítica Literaria, S. 176f. Tablada, Crítica Literaria, S. 545.
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stellte.380 Dass Tablada gleichzeitig nicht in der Lage war, die Tendenzen des sozialen Umfeldes richtig zu interpretieren und sich durch seine Unterstützung für Victoriano Huerta bis an sein Lebensende politisch unmöglich machte, verdeutlicht die komplexe Situation der finisekulären Schriftsteller Mexikos. Das Gleichgewicht zwischen der modernistischen Scheinwelt, dem Selbstbetrug, und dem – wie Pierre Bourdieu sagen würde – literarischen Feld, das in das größere soziale Feld eingebettet ist, war nicht immer leicht zu halten. Um bei der Terminologie des französischen Soziologen zu bleiben: Die klare Grenzziehung zwischen literarischem und sozialem Feld bei Valenzuela konnte bei Tablada auf kein Verständnis stoßen,381 der im Gegenteil immer wieder auf idealistische und altruistische Konstruktionen382 zurückgreifen musste, um seine eigenen kapitalistischen und politischen Unternehmungen zu rechtfertigen.383 Einigkeit konnte es nur bei der Bewertung der modernen französischen als Vorbild für die mexikanische Literatur, sowie bei der Einschätzung von Literatur und Kunst als gleichsam religiöse Akte geben. Schon zitiert wurde Valenzuelas kategorische Feststellung, die er auch in den Memoiren wiederholt, dass die mexikanische Kultur von Grund auf französisch sei. Natürlich spielt bei dieser radikalen Position der Einfluss der französisch ausgerichteten Lebensformen der mexikanischen Elite des Porfiriats eine entscheidende Rolle, andererseits wurde aber Valenzuela gerade über den engen Kontakt mit den Autoren seiner Zeitschrift auch zu einem Anhänger der symbolistischen und dekadentistischen Tendenzen der französischen Literatur. Der religiöse Wert der Kunst wiederum wird bei Valenzuela fast zur Blasphemie, da er sie als spirituellen Wert über die Kirche stellt: „Si en el transcurso de los tiempos la humanidad destruye al papa, no destruirá el Vaticano ni San Pedro de Roma. La cúpula de Miguel Ángel es inmortal“ (Sollte im Laufe der Zeit die Menschheit den Papst zerstören, wird sie weder den Vatikan, noch Sank Peter in Rom zerstören. Michelangelos Kuppel ist unsterblich).384 Nostalgie bei Campos, rationale Trennung zwischen künstlerischer Produktion und sozialer Stellung des modernistischen Künstlers bei Valenzuela sind die wesentlichen Merkmale der beiden bis jetzt besprochenen autobiografischen Texte. José Juan Tablada fügt diesem Bild einen wesentlichen Aspekt hinzu: Er lebte wie kein anderer Schriftsteller in Mexiko die modernistische Ästhetik und war doch immer wieder gezwungen, ihr untreu zu werden. Gerade dieser Aspekt bringt es mit sich, dass Tablada das Genre Autobiografie modifizierte und in ihm einen der ambitioniertesten modernistischen Romane schrieb.
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Federico Gamboa berichtet von einem Besuch im Anwesen Tabladas, dass die einzigartige Sammlung von aus Puebla stammender Keramik (talavera) fast zur Gänze „mal habido“ (schlecht erworben) sei (Vgl. Federico Gamboa, Mi diario, Bd. 5, S. 121). Tablada war sich der privilegierten Stellung der Revista Moderna in diesem Zusammenhang nicht bewusst. Nur die enge Freundschaft Valenzuelas mit dem Innenminister Ramón Corral konnte jeglichen Druck seitens der Zensur von der Zeitschrift nehmen (Vgl. Campos, El Bar, S. 75). Wie noch zu zeigen sein wird, lassen sich derartige Konstrukte insbesondere an den Diskrepanzen zwischen Autobiografie und Tagebuch nachweisen. Bei Campos, dem vielleicht treuesten Anhänger Valenzuelas, bestand kein derartiger Rechtfertigungszwang, da er im Grunde nie, auch nicht während seiner intensivsten literarischen Tätigkeit in der Epoche der Revista Moderna, das Ambiente des kleinbürgerlichen Bürokraten verlassen hatte (sprich: nicht verlassen konnte). Valenzuela, Mis recuerdos, S. 141.
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Gleichzeitig werfen diese Texte auf die Entstehung der finisekulären Literaturbewegung Mexikos ein aufschlussreiches Licht.
3.2. Die autobiografischen Schriften José Juan Tabladas: der Modernismo als Thema für die Fiktion 3.2.1. Nachträgliche Definition der modernistischen Ästhetik durch Tablada Die Memoiren Tabladas beruhen in erster Linie auf seinem umfangreichen journalistischen Werk, also auf den Chroniken und Kritiken, die er für diverse Publikationen am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasste: Revista Moderna und El Imparcial an prominentester Stelle. La feria de la vida,385 der erste Teil seiner Lebenserinnerungen, entstand in den 30er Jahren und muss als stilisierte386 und manipulierte Autobiografie eingestuft werden. Trotzdem ist La feria de la vida wegen seiner Verweise auf heute fast unbekannte Figuren und entscheidende Ereignisse innerhalb der kulturellen und sozialen Geschichte Mexikos um 1900 ein Schlüsseltext für die Interpretation der modernistischen Periode des Landes, insbesondere was ihre Ästhetik und französische Beeinflussung betrifft. Im Prolog von 1937 zeigt sich Tablada als überzeugter Anhänger eines neuen Mystizismus, der das 20. Jahrhundert als spirituelle Epoche interpretiert, während sich ihm das 19. Jahrhundert als skeptische Zeit präsentiert.387 Trotz dieser Kritik am 19. Jahrhundert bringt Tablada schon in den ersten Seiten der Memoiren seine Verehrung für Baudelaire zum Ausdruck. Er spricht von den „relaciones oscuras reveladas en una especie de lenguaje mudo que sólo pueden comprender los intuitivos, los místicos y los poetas” (dunklen Beziehungen, die in einer Art stummer Sprache offenbart werden, die nur die Intuitiven, die Mystiker und die Dichter verstehen können).388 Diese stumme Sprache verweist auf Baudelaires in ‘Le peintre de la vie moderne’ von 1863 formulierte Theorie von den zwei Seiten der Schönheit, eine alltägliche und eine übernatürliche. Letztere sei nur dem wirklichen Künstler zugänglich. Tablada deutet in seiner Autobiografie wiederholt an, dass er selbst unbedingt zu dieser „Rasse“ der privilegierten Künstler gehört. Er trage ein Kainsmal auf der Stirne, das er mit allen teile, die in einem kunstfeindlichen Zeitalter der Berufung 385
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La feria de la vida wurde erstmals 1937 von Ediciones Botas publiziert. Las sombras largas blieb viele Jahre unveröffentlicht. Erst 1993 machte der Consejo Nacional para la Cultura y las Artes diesen zweiten Teil der Memoiren Tabladas zugänglich, nachdem er 1991 eine moderne Ausgabe von La feria de la vida publiziert hatte. Die Stilisierungen zeigen sich insbesondere bei den Episoden, die auf die früheste Kindheit Tabladas verweisen. Der Dichter zeichnet aus einer Distanz von 50 Jahren das Bild eines frühreifen Kindes, das schon im Alter von drei Jahren seine Welt mit Fiktionen umgab und seinen ersten Elfenbeinturm errichtete (Tablada, La feria de la vida, S. 21). Der Erwachsene interpretiert die Erfahrungen des Kindes als Zeichen, die seine spätere Schriftstellerkarriere voraussagten (S. 35). Tablada, La feria de la vida, S. 15. Tablada, La feria de la vida, S. 24.
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zum Dichter folgen. Auf derart bittere Weise beklagt er sein Schicksal. Wenn er von Manuel M. Flores spricht, erhebt er wie selbstverständlich den Anspruch, der legitime Nachfolger des großen romantischen Dichters Mexikos zu sein: Este niño [Tablada] seguirá sobre la tierra las huellas dolorosas y sufrirá tanto o más que tú [Flores], pues le tocará vivir en una época ingrata, de total eclipse espiritual, porque como tú, se dará cuenta demasiado tarde del sarcasmo de ser poeta en un medio adverso y hostil, sólo existiendo para un núcleo de espíritus propicios, cada vez más restringido. (Dieses Kind [Tablada] sollte auf Erden den schmerzlichen Spuren folgen und so viel oder mehr wie du [Flores] leiden, weil es in einer undankbaren Epoche leben wird, in geistigem Niedergang, weil es, wie du, zu spät den Sarkasmus erkennen wird, der es ist, Dichter in einem entgegengesetzten und feindlichen Ambiente zu sein, der nur für einen immer kleiner werdenden Kern geeigneter Geister existiert.)389
Erneut wird die Idee eines von der Gesellschaft nicht verstandenen und ausgestoßenen Dichters zum Ausdruck gebracht. Tablada ist sich der fehlenden praktischen Funktion des Dichters in einer modernen Gesellschaft bewusst, die von der ökonomischen Verwertbarkeit jeder Tätigkeit ausgeht. Die Klage über diese Situation durchzieht La feria de la vida wie ein roter Faden und geht Hand in Hand mit antibürgerlichen Äußerungen. Tablada folgt damit einer sowohl öffentlich, als auch privat immer wieder vertretenen Überzeugung: Die Kunst ist eine Angelegenheit für eine intellektuelle Elite, der Künstler muss konsequent einer Ästhetik des l’art pour l’art folgen und hat die schwere (oder unlösbare) Aufgabe, ein beschränktes Publikum zu erziehen, damit dieses seine geistige Überlegenheit und damit auch seine soziale Sonderstellung anerkennt, die keinen utilitaristischen Kriterien verpflichtet ist. Schon sehr früh (1891), in einem ‘Orestes y Pílades’ benannten Artikel für El Universal, findet sich folgende kategorische Festlegung der Nutzlosigkeit der Kunst. Nicht nur Oscar Wilde stand hier Pate, sondern auch der romantische Originalitätskult und erneut die Vorstellung von einer asozialen Literatur: El verdadero poeta debe creer en el arte por el arte que no sirve de nada ni para nada; una escultura que soporta un candelabro o el bajo relieve de unos discos que sirven de mancuernillas, no son obras de arte, sino bibelots o baratijas./El poeta debe cantar para hacer arte y no tomar los lugares comunes del sentimiento humano, porque perdería el recurso más poderoso en arte: la originalidad./Para los utilitaristas quedan la tribuna y el libro; allí se puede y se debe deplorar la tiranía, flagelar al criminal y analizar las plagas sociales. (Der wahre Dichter muss an die Kunst um der Kunst willen glauben, die für nichts und niemanden von Nutzen ist; eine Skulptur, die einen Kandelaber trägt oder das Relief von Scheiben, die als Manschettenknöpfe dienen, sind keine Kunstwerke, sondern bibelots oder Kram./Der Dichter soll singen, um Kunst zu machen und soll nicht die Gemeinplätze des menschlichen Gefühls einnehmen, weil er dann die mächtigste Methode der Kunst verlieren würde: die Originalität. Für die Utilitaristen bleiben die Tribüne und das Buch; da darf und muss man die Tyrannei beklagen, das Verbrechen geißeln und die sozialen Missstände analysieren.)390
Weniger vorsichtig in seiner Wortwahl schreibt Tablada am 28. Juli 1923 von New York aus an Genaro Estrada,391 den er darum bittet, die Übersetzung und Publikation seiner auf 389 390 391
Tablada, La feria de la vida, S. 47. Tablada, Crítica literaria, S. 44. Estrada (1887-1937) hatte im nachrevolutionären Mexiko wichtige Ämter im Erziehungswesen inne: sowohl an der Nationaluniversität, als auch als Präsident der Historikerakademie (Muñoz Fernández, Fichero bio-
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Englisch verfassten Artikel zu fördern. Das Wort „modernista“ wendet er hier auf nicht mehr ganz passende Weise auf die jüngere Kritikergeneration um Estrada an. Die Verachtung für ein Publikum, das die Kunst nicht „fühlen“ kann, ist unverändert. Deutlicher kommt, im privaten Kontext, der Wunsch zum Ausdruck, das Publikum so weit wie möglich zu erziehen: Pero si Uds. los modernistas traducen y comentan esos escritores392 que aquí leen 100.000 personas (no sólo bípedos) para quienes el placer estético es positivo y necesario, lograremos que los beocios que confunden la cecina con la ceniza, el apio con el opio, la gimnasia y la magnesia, etc., etc., respeten el Arte, ya que no tienen el privilegio de sentirlo. (Aber wenn ihr Modernisten diese Schriftsteller übersetzt und kommentiert, die hier 100.000 Personen (nicht nur Zweibeiner) lesen, für die das ästhetische Vergnügen positiv und notwendig ist, werden wir es schaffen, dass die Böotier, die Asche mit cecina [eine Art Pökelfleisch], Lauch mit Opium und Gymnasium mit Magnesium verwechseln, die Kunst respektieren, wenn sie schon nicht das Privileg haben, sie zu fühlen.)393
Die Vorstellung von einem Künstler, der ein Publikum benötigt, es aber nichtsdestotrotz verachtet, kommt überdeutlich zum Ausdruck.394 Es kann in diesem Kontext nicht überraschen, dass Tablada die unmittelbar vor den Modernisten schreibende Literatengeneration beneidet. Juan de Dios Peza, Guillermo Prieto, Altamirano und selbst Justo Sierra erfüllten noch eine konkrete soziale Funktion. Ob in der Politik, als Erzieher oder – im Falle Prietos und Dios Pezas – wegen ihrer großen Popularität: der Literat war noch kein sozialer Parasit und musste sich die Frage nach seiner gesellschaftlichen Rolle noch nicht stellen. Selbst politische Autoritäten haben den Kontakt mit ihnen gesucht.395 Mit der Herausbildung der modernistischen Literatur, insbesondere mit Manuel Gutiérrez Nájera, habe sich diese Situation grundlegend geändert. Der Duque Job habe gegen ein ignorantes Publikum kämpfen müssen und nie die Popularität eines Juan de Dios Peza erreichen können. Es ist natürlich nicht anzunehmen, dass das Publikum der Modernisten ignoranter war als das
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bibliográfico, Bd. 1, S. 222). Sein Briefwechsel mit Tablada verläuft aus naheliegenden Gründen einseitig: der modernistische Dichter als Bittsteller. Tablada wollte möglicherweise „escritos“ (Schriften) sagen, da er sich in diesem Passus auf seine eigenen Texte in der nordamerikanischen Presse bezieht. José Juan Tablada, Cartas a Genaro Estrada (1921-1931), hg. v. Serge I. Zaïtzeff, in Nueva Biblioteca Mexicana, 150 (México: UNAM, 2001), S. 37. In einem früheren Text fügte Tablada der Notwendigkeit der Erziehung die der ökonomischen Verbesserung des Mittelstandes hinzu, damit dieser in die Lage kommt, Bücher kaufen zu können (und zu wollen): „El libro debía ser demandado por las clases media y alta, pero el carácter de ésta, entre nosotros, nunca ha sido favorable al desarrollo literario, y el de aquélla, pecuniariamente considerado, no le permite comprar el libro que tan alto precio tiene entre nosotros./Más, pues, que en la ignorancia del pueblo, en la falta de gusto literario de nuestra clase alta y en la falta de recursos o en el precio excesivo del libro, consiste que éste no se produzca“ (Das Buch sollte von der Mittel- und Oberschicht angefordert werden, aber der Charakter von dieser war bei uns der literarischen Entwicklung nie förderlich und jene ist in finanzieller Hinsicht nicht in der Lage, das Buch zu kaufen, das bei uns einen so hohen Preis hat./Das Fehlen eines literarischen Geschmacks unserer Oberschicht und das Fehlen von Mitteln oder der übertriebene Preis des Buchs sind Schuld daran, dass dieses nicht produziert wird, und weniger die Ignoranz des Volkes; Tablada, Crítica literaria, S. 52). Vgl. Tablada, La feria de la vida, S. 128.
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der Prieto und Dios Peza. Vielmehr projektiert Tablada in Gutiérrez Nájera die sich im Porfiriat schnell verändernden sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, also in erster Linie die Notwendigkeit, auch literarische Erzeugnisse als Produkte des Marktes anzubieten. Tatsächlich darf Gutiérrez Nájera als einer der ersten professionellen Schriftsteller des Landes gelten, der sich vor allem zwei schwerwiegenden Problemen konfrontiert sah: der Zeit und der Piraterie. Die entsprechenden Abschnitte in den Memoiren Tabladas haben bis heute, zumindest im mexikanischen Literaturbetrieb, wenig an Gültigkeit verloren. Während eines für ihn organisierten Festessens gesteht der Duque Job einer Gruppe von jungen Kollegen, unter ihnen Tablada, seine Mühen als Journalist und Dichter: Nos habló de su numen profanado por la imprescindible tarea política, de sus más queridas inspiraciones que sobre la mesa de redacción tenían que ser convertidas en material periodístico tan vulgar como era de rigor hacerlo. Nos habló de su formidable trabajo, de los dos o tres artículos diarios que tenía que escribir para mantener su mezquino bienestar y el de su familia y luego como pidiendo excusas, él que era la víctima, nos confió que para estimularse y poder continuar rindiendo aquella labor de Sísifo, tenía que hacer uso del único multiplicador de energías posible, del alcohol ... (Er sprach von seinem von der unvermeidlichen politischen Aufgabe geschändeten Numen, von seinen geliebtesten Eingebungen, die auf dem Redaktionstisch in journalistisches Material, das so vulgär, wie schwer herzustellen war, verwandelt werden mussten. Er sprach von seiner beachtlichen Arbeit, von zwei oder drei Artikeln, die er täglich schreiben musste, um seinen bescheidenen Wohlstand und den seiner Familie bewahren zu können. Dann, wie um Entschuldigung bittend, gestand er, das Opfer, uns, dass er, um sich zu stimulieren und um weiter diese Sysiphusarbeit leisten zu können, auf den einzig möglichen Energiemultiplikator, den Alkohol, zurückgreifen musste.)396
Die Notwendigkeit des „Brotberufs“ Journalist, der Ausbeutung der Vorstellungskraft, um Artikel und Chroniken wie industrielle Ware produzieren zu können, öffnete der literarischen Bohème des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Türen. Die künstlerischen Ansprüche der Autoren fanden in der Bar einen Zufluchtsort, nachdem sie in den Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften nicht willkommen waren.397 Die zweideutige Stellung Tabladas offenbart sich gerade in diesem Zusammenhang. Einerseits beklagt er die kunstfeindliche Epoche und die frustrierende Lage des Künstlers, andererseits versucht er sehr früh, die Literatur in den Markt zu integrieren. In La feria de la vida erinnert er sich an seinen Eintritt in Rafael Reyes Spíndolas El Universal. Tablada sollte jeden Sonntag ein Gedicht abliefern und verlangte für diese Ware eine entsprechende Bezahlung. In der Diskussion mit Reyes Spíndola besteht der junge Tablada, ebenso wie sein Chef, auf den Regeln des Marktes, übernimmt also die ökonomischen Normen seiner Zeit: – Mercancía, sí, mercancía ... ¿por qué un poema no ha de ser considerado como un producto cotizable? Si la oferta no supera a la demanda ... /Con agilidad comercial saltó Spíndola: [...] – La oferta es enorme, mucho mayor que la demanda ... /Me atreví a interrumpir: – Hay otro importante factor que olvida usted, señor licenciado y que es esencialísimo en el precio de un producto ... ¡La calidad!
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Tablada, La feria de la vida, S. 134. Eine derartige „Unterdrückung“ der Literatur in den Periodika der Zeit war natürlich auch ein wesentliches Motiv für die Gründung von Revista Azul und Revista Moderna. An einer großzügigen Bezahlung ihrer Mitarbeiter darf jedoch gezweifelt werden.
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(– Ware, ja, Ware... Warum sollte ein Gedicht nicht wie ein handelbares Produkt betrachtet werden? Wenn das Angebot nicht die Nachfrage übertrifft ... /Mit kaufmännischer Geschicklichkeit warf Spíndola ein: [...] – Das Angebot ist enorm, viel größer als die Nachfrage ... /Ich wagte es, ihn zu unterbrechen: – Es gibt einen anderen wichtigen Faktor, den Sie vergessen, Herr Licenciado, der wesentlich für den Preis eines Produktes ist ... Die Qualität!)398
Tablada weiß sehr genau, dass er sich und seine Arbeit bewerben muss, um sie verkaufen zu können. Dieses praktische Wissen hat jedoch keinen Einfluss auf seine literaturtheoretischen Positionen und auf seine Vorstellung vom Schriftsteller als außerhalb des Marktes und der Gesellschaft im allgemeinen stehendem Genie. Damit ist der entscheidende Schritt zur Fiktionalisierung der modernistischen Ästhetik getan. Wenn Valenzuela sie noch im weitesten Sinne als Spiel betrachten konnte, so entsteht bei Tablada ein Nebeneinander von modernistischer Scheinwelt und realistischen Markterfordernissen, wobei nie klar werden kann, welcher der beiden Bereiche nun eigentlich Fiktion ist. Besonders im Tagebuch Tabladas und in seinem Briefwechsel mit Genaro Estrada spiegelt sich diese sehr schizophrene Situation wider, wie noch zu zeigen sein wird. Trotz der heroischen Versuche Tabladas gab es wenig Respekt für die intellektuelle und künstlerische Arbeit. Das heute in Mexiko zum volkswirtschaftlichen Problem gewordene Phänomen der „Piraterie“, also der unerlaubten Kopie von Musik und Texten, gab es bereits im Modernismo und es war auch damals schon eine Plage. Die bürgerliche Gesellschaft des Porfiriats forderte einerseits die Produktion von Texten jeglicher Art, wollte diesen aber andererseits nicht den Status eines geschützten Produktes geben. Tablada stellt resignierend fest, indem er erneut auf den Duque Job verweist: „Si Gutiérrez Nájera hubiera tenido alguna retribución por sus poemas y escritos reproducidos indebidamente por periódicos y aun por editores en libros clandestinos, su vida hubiera sido más fácil y su tragedia menos amarga” (Wenn Gutiérrez Nájera für seine Gedichte und Schriften, die unstatthafterweise von Zeitungen und sogar von Verlagen in unerlaubten Büchern nachgedruckt wurden, irgendeine Entlohnung erhalten, wäre sein Leben leichter und seine Tragödie weniger bitter gewesen).399 Noch einmal sei betont, dass Tablada auf Erscheinungen wie das Nichtvorhandensein eines Urheberrechts mit der Übernahme der Regeln des Marktes für die Literatur reagiert, dass er aber gleichzeitig nie auf die Idee eines künstlerischen Genies verzichtet, das eine privilegierte soziale Stellung genießen müsste. Gerade aus dieser Konstellation entsteht die Notwendigkeit, mit den Mitteln der Literatur eine Gegenwelt zu der herrschenden sozialen und ökonomischen Ordnung zu schaffen. Diese ästhetische Idealwelt entsteht bei Tablada – wie bei fast allen Autoren des Modernismo – über die Auseinandersetzung mit der französischen Kultur. Die Memoiren des mexikanischen Dichters haben einige der Quellen – und Extreme – der Verehrung alles Französischen offen gelegt. Sie bestätigen auch, dass die gebildete 398 399
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Tablada, La feria de la vida, S. 141. Tablada, La feria de la vida, S. 135. Das Plagiat war eine gängige Praxis. Paradoxerweise handelt es sich bei dem vielleicht ersten publizierten Text Gutiérrez Nájeras um ein Plagiat. Vgl. dazu: Irma Contreras García, La prosa de Gutiérrez Nájera en la prensa nacional (México: UNAM, 1998), S. 185f.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
Mittel- und Oberschicht des Porfiriats die französische Sprache und Teile der Kultur des Landes von Kindheit an aufnehmen konnten. Tablada gesteht, als Kind ein begeisterter Leser Jules Vernes gewesen zu sein, eine Vorliebe, die er mit den meisten seiner Generationsgenossen teilte.400 Er berichtet, dass der Unterricht im Colegio de Grosso, wo er seine erste Schulbildung erhielt, auf Französisch erfolgte.401 Diese Faktoren machen Tabladas Behauptung in La feria de la vida bezüglich seiner Französischkenntnisse glaubwürdig: „aprendí ese idioma que creo conocer tanto como mi propia lengua“ (ich lernte diese Sprache, die ich wie meine eigene zu kennen glaube).402 In Las sombras largas wiederholt er die Behauptung von seinen perfekten Sprachkenntnissen. Innerhalb der Modernistengruppe seien Olaguíbel, Couto, Leduc und er selbst in der Lage gewesen, eine Konversation in „makellosem“ Argot aufrechtzuerhalten.403 Mit Alberto Leduc habe er manchmal auf seine Muttersprache verzichtet, um sich nur auf Französisch zu unterhalten.404 Ein Blick auf das Tagebuch kann die Feststellungen Tabladas verifizieren. Einige Passagen in ihm verfasst der Dichter in perfektem Französisch. Außerdem kritisiert er die mangelhafte Sorgfalt der mexikanischen Periodika bei französischsprachigen Zitaten, so etwa am 13. Juli 1922, wenn er Excelsior vorwirft, „berceau“ und „caveau“ als feminine Wörter abgedruckt zu haben.405 Die ausgezeichneten Französischkenntnisse Tabladas und seiner modernistischen Kollegen und damit ihre Unabhängigkeit von Übersetzungen stehen, wie schon für die Generation um Altamirano, außer Frage.406 Völlig im Gegensatz zu Altamirano allerdings akzeptiert Tablada den afrancesamiento der Ära Don Porfirios und erhebt ihn im Rückblick in seinen Memoiren zum nostalgisch propagierten ästhetischen Ideal. Die belle époque der mexikanischen Hauptstadt kontrastiert mit dem zunehmenden nordamerikanischen Einfluss in den 30er Jahren, als die beiden Bände der Autobiografie entstanden. Mexiko-Stadt war um 1900 im Begriff – so Tablada –, sich in ein kleines Paris zu verwandeln. Was Altamirano noch lächerlich und antinationalistisch erschien, gewinnt bei Tablada ideologische und im weitesten Sinne rassistische Dimensionen. Er sieht das Französische und das Spanische als Teile der lateinischen Kultur und stellt fest, dass der französische Einfluss demnach dem mexikanischen Charakter viel mehr entspricht, als die
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Tablada, La feria de la vida, S. 64. Tablada, La feria de la vida, S. 68. Tablada, La feria de la vida, S. 68. José Juan Tablada, Las sombras largas, in Lecturas Mexicanas, 52 (México: Consejo Nacional para la Cultura y las Artes, 1993), S. 50. Tablada, Las sombras largas, S. 52. Tablada, Diario (1900-1944), S. 191. Ganz anders verhält es sich mit den Englischkenntnissen Tabladas. Er nutzt sein Tagebuch auch, um sich in dieser Sprache zu üben. Noch 1904 wirkt er durchaus unbeholfen, wie folgende Auszüge illustrieren können: „At Dinner in Porter’s with Montenegro. In the afternoon in Montenegro’s. He give me as present two old worn and beautiful keys“ (Tablada, Diario [1900-1944], S. 35). „Salvador B. told me the unespected and sad new about the poor L. a youth who never seem to me to be so near of the grave“ (S. 38). „To day I make the last payment to the Saving Co. discharging my debt of $ 500.00 borrowed nine months ago“ (S. 40). Dass er schon damals aus dem Englischen für die Revista Moderna übersetzte, überrascht. Dass er nur wenige Jahre später in New York in der Lage ist, auf Englisch zu publizieren, zeugt von einem beachtlichen Sprachentalent.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
Kopie des nordamerikanischen Lebensstils.407 Der Nationalismus Altamiranos erfährt auf diese Weise eine Fortsetzung, wenn auch mit stark veränderten Parametern.408 Tablada trauert seinem künstlerischen Jugendtraum nach, der nicht nur kulturell war, sondern auch versuchte, Pariser Moden und Lebensstil auf Mexiko-Stadt zu übertragen: eine Mode und ein Lebensstil, die – wie schon mehrmals erwähnt – den Büchern entstammen, der Fiktion angehören: „Aquel afrancesamiento a ultranza que fue como prolongada escarlatina de nuestros veinte años, nos haría llamar a Plateros aunque sin árboles el boulevard y a la hora vespertina, en recuerdo del ajenjo de Musset, <>” (Diese Französierung um jeden Preis, die wie ein in die Länge gezogener Scharlach unserer zwanzig Jahre war, ließ uns Plateros, auch ohne Bäume, den Boulevard nennen und die Abendstunde war, in Erinnerung an den Absinth Mussets, ‘die grüne Stunde’).409 Die mexikanische Bohème ist eine Kopie der Pariser, sogar ihr Modegetränk, selbstverständlich literarischer Art (wenn auch mit sehr realen Folgen), wird übernommen. In Las sombras largas propagiert Tablada den 14. Juli als gemeinsamen französischen und mexikanischen Feiertag, der in Paris und im Distrito Federal mit gleichem Enthusiasmus begangen wird. Die festliche Stimmung dieses Tages illustriert er einmal mehr mit der Figur Gutiérrez Nájeras, mit dessen berühmten Spaziergängen im Stadtzentrum: „Hace años [...] en un día como éstos, un 14 de julio, Gutiérrez Nájera iba por Plateros, siguiendo, camino del Tívoli, el taconeo ideal de su Duquesa de Job“ (Vor Jahren [...], an einem Tag wie diesem, einem 14. Juli, ging Gutiérrez Nájera durch Plateros und folgte, auf dem Weg zum Tivoli, dem idealen Stöckeln seiner Duquesa Job).410 Die ästhetische und wohl auch politische Verklärung des Porfiriats ist deutlich sichtbar, als „todas las cosas bellas de la vida tenían [...] un nombre francés“ (alle schönen Dinge des Lebens einen französischen Namen hatten), als das Französische „el idioma de la elegancia mundana y de los intelectuales refinamientos“ (die Sprache der weltlichen Eleganz und der intellektuellen Feinheiten) war.411 Leider kann jedoch diese Epoche nur noch in den Chroniken des Duque Job und in den unsicheren Erinnerungen der Überlebenden der Modernistengeneration aufgespürt werden. Der dynamische nordamerikanische Lebensstil hat das französische savoir vivre verdrängt: „Hemos dejado, pues, la primavera de Francia llena de flores perfumadas por el otoño sajón que produce frutos estomacales y nutritivos” (Wir ließen also den Frühling Frankreichs, der voller Blumen war, für den sächsischen Herbst, der nahrhafte Magenfrüchte hervorbringt).412 Schon in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, also noch zu Zeiten Don Porfirios, habe das Praktische dominiert, das „pone en peligro a la belleza“ (die Schönheit gefährdet).413
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Tablada, La feria de la vida, S. 110. Bei dem von Tablada zum Ausdruck gebrachten Gedankengut steht natürlich der Einfluss von José Enrique Rodós berühmtem Essay Ariel (1900) und – geografisch und zeitlich näher liegend – von José Vasconcelos La raza cósmica (1925) außer Frage. Tablada, La feria de la vida, S. 109. Tablada, Las sombras largas, S. 293. Tablada, Las sombras largas, S. 295. Tablada, Las sombras largas, S. 295. Tablada, Las sombras largas, S. 296.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
Tablada stellt den französischen Einfluss nie in Frage und noch viel weniger sieht er dadurch die eigene Originalität gefährdet.414 Für ihn handelte es sich einfach um eine für die Entwicklung der mexikanischen Literatur sehr positive Tatsache. Obwohl Tablada das reale Paris kannte, akzeptiert er den Mythos von der Ciudad Luz, von der Hauptstadt der abendländischen Kultur, die weder Politik, noch Intrigen, noch Bürokratie kennt. Dieses Ideal konnte in der Tat besser in Mexiko verwirklicht werden, wo die reale Stadt Paris den ästhetischen Traum der Künstler nicht stören konnte. Zu seinem Glück habe Gutiérrez Nájera nie nach Frankreich reisen und sich so sein ideales Paris immer bewahren können. Die französische Kultur ist folgerichtig ein höchst positiver Wert für Mexiko, der das Land in allen Bereichen kultivieren kann: „En México, como en Rusia, Francia suavizó rudezas y atenuó muchas barbaries, envolviéndolas en las suaves formas de su cortesanía y de su savoir faire” (Frankreich milderte in Mexiko, wie in Russland, Rauhheiten ab, zähmte viele Barbareien, indem es sie in die milden Formen seines Benehmens und seines savoir faire kleidete).415 Tablada war von November 1911 bis Februar 1912 in Paris. Die Reise kann durchaus als Flucht vor der mexikanischen Revolution betrachtet werden.416 Bezeichnenderweise verfasste er seine Chroniken aus Paris erst nach der Rückkehr nach Mexiko und veröffentlichte sie 1918.417 Tablada kreiert in diesen Texten noch einmal das Paris der Modernisten. Vor dem Hintergrund der unruhigen politischen Situation seines Heimatlandes tritt der Kontrast zwischen französischer Zivilisation und mexikanischer Barbarei, der auch – oder gerade – ein Kontrast zwischen mexikanischer Kultur nach 1910 und der belle époque des Porfiriats und des Modernismo ist, besonders deutlich hervor. In ‘El salón del músculo vivo’, einer Chronik über eine Versammlung von „físicoculturistas“ (Bodybuildern) wird Mexiko die Zugehörigkeit zur zivilisierten Welt abgesprochen: „Como era de esperarse, sólo México faltó, porque mientras todos los países del mundo pugnan y se afanan por hacerse dignos de la humanidad y por asociarse a la obra de la civilización, México pugna y se afana por alcanzar ... ¡todo lo contrario!“ (Wie zu erwarten war fehlte nur Mexiko, weil, während alle Länder der Welt darum kämpfen und sich anstrengen, der Menschheit würdig zu sein und sich mit dem Werk der Zivilisation zu verbinden, Mexiko kämpft und sich anstrengt, um – was zu erreichen? ... Genau das Gegenteil!).418 Mexiko erscheint als Land, in dem tierische Instinkte dominieren und das der künstlerischen Werte, die der Modernismo propagiert hatte, nicht würdig ist; ein Land, „donde el promedio de alma humana yace ahogada en más abyecta ferocidad que la de las bestias ecuánimes dentro de las leyes de su instinto“ (in dem der Durchschnitt der menschlichen Seele in einer 414
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Auch die moderne Kritik verwendet den dehnbaren Originalitätsbegriff gerne als Vorwurf gegen den Modernismo. Selbst ein so belesener Intellektueller wie Alejo Carpentier entging dieser Gefahr nicht (Vgl. seine zahlreichen Essays zu Martí und Darío). Tablada, La feria de la vida, S. 148. Die Tagebucheintragungen aus dieser Zeit hat Tablada vernichtet. Vom 17. November 1905 bis zum 27. November 1912 sind keine Notizen erhalten. Vgl. das Vorwort von Esperanza Lara Velázquez zu der UNAM-Ausgabe von Los días y las noches de París aus dem Jahr 1988. José Juan Tablada, Los días y las noches de París. Crónicas parisienses, in Obras III, hg. v. Esperanza Lara Velázquez, in Nueva Biblioteca Mexicana, 99 (México: UNAM, 1988), S. 77f.
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abstoßenden Wildheit erstickt, die schlimmer ist als die der gleichmütigen Tiere mit ihren Gesetzen des Instinkts).419 Dass Europa selbst kurz vor dem Ersten Weltkrieg steht, dass soziale und ökonomische Konflikte das Geschehen im alten Kontinent bestimmen, will Tablada nicht erkennen. Auch im Nachhinein, bei der Erstveröffentlichung von Los días y las noches de París, bringt er keine diesbezüglichen Änderungen an. Die politische und soziale Realität Frankreichs wird jedoch nicht verleugnet, vielmehr befördert sie Tablada in den Hintergrund, besser gesagt: er ästhetisiert auch sie. Als er, von einer Straßenbahn aus Zeuge des Mordes eines Zuhälters an seiner Prostituierten wird, kommentiert er lakonisch philosophierend: „Fue eso todo lo que vi en París, de la vida siniestra de los apaches. Un enlazamiento enamorado primero y luego el gesto dramático y mortal ... /Dos episodios, el primer gesto y el último; el oaristys trémulo y el epílogo coagulado en sangre del eterno drama, de ese eterno amor“ (Das war alles, was ich in Paris von der unheimlichen Unterwelt sah. Eine verliebte Umarmung zuerst und dann die dramatische und tödliche Geste ... /Zwei Episoden, die erste und die letzte Geste; der zitternde oaristys und der blutstarre Epilog des ewigen Dramas, dieser ewigen Liebe).420 Den frivolen Theateraufführungen in der französischen Hauptstadt wohnt er bei, um sich ein authentisches Bild des Lasters machen zu können und verleiht ihnen dabei einen nostalgisch-melancholischen Charakter, der ihm in den Darstellungen Federico Gamboas so sehr fehlte: Rostros de mujer, en cuyo albor de cerusa los ojos brillan dilatados por el Kohol o porque aún flota ante ellos la pertinaz alucinación, traída del fumadero de opio de donde llegan ... Cerca de ellas, el don Juan senil o el Sigisbeo de monóculo revelan, en posturas abandonadas o en ademanes llenos de lasitud, el esplín que les roe los tuétanos. (Frauengesichter, in deren Bleiweiße die vom Kohol erweiterten Augen glänzen oder weil vor ihnen immer noch die hartnäckigen Halluzinationen schweben, die sie aus der Opiumhöhle mitbrachten ... Nahe bei ihnen offenbaren der senile Don Juan oder Sigisbeo mit dem Monokel mit nachlässigen Positionen und Gesten den Spleen, der in ihren Eingeweiden nagt.)421
Des Esseintes als heruntergekommene Theaterfigur, ein zu Ende gedachter Modernismo stehen hinter dieser merkwürdigen Beschreibung. Das ästhetische Ideal des Modernismo finde sich dagegen immer noch in den Gebrüdern Goncourt, in Judith Gautier oder bei Huysmans.422 In ‘El Embarque a Citerea’ offenbart Tablada überdeutlich die von ihm 419 420 421 422
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Tablada, Los días y las noches de París. Crónicas parisienses, S. 181. Tablada, Los días y las noches de París. Crónicas parisienses, S. 164. Tablada, Los días y las noches de París. Crónicas parisienses, S. 63f. Vgl. dazu besonders die Artikel ‘Marinas. Diario de a bordo’ (S. 55-59), ‘La hija del cielo’ (S. 73-77), ‘Orquídeas. Gastón La Touche. Porcelanas y estampas’ (S. 133-139), sowie ‘A la sombra de Notre Dame’ (S. 151-157). In seiner Besprechung der Aufführung von Gautiers La fille du ciel (1908) degradiert er Pierre Loti, den er noch in ‘Hacia el país del sol’ als großen Kenner des Orients verehrt hatte, zu einem bloßen Dilettanten: „La cultura propia de los países exóticos cuyos paisajes llenan sus libros, ha sido siempre desconocida por el ilustre académico, y lo que ha entrevisto del alma de otras razas es lo que distingue cualquier agente viajero“ (Die eigentliche Kultur der exotischen Länder, deren Landschaften seine Bücher füllen, war dem berühmten Akademiker immer unbekannt und was er von der Seele anderer Rassen erkannt hat, sieht jeder Reiseleiter; S. 74). Es ist bezeichnend, dass Tabladas Interesse am Orient in den Jahren nach der mexikanischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg zunimmt. Das Bedürfnis nach einem neuen ästhetischen Idealland dürfte verstärkt in seinen Orientalismus projiziert worden sein.
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betriebene Fiktionalisierung der modernistischen Ästhetik, in deren Dienst auch der Mythos Paris gestellt wird. Er betont, dass die Sehnsucht nach Watteaus Bild von 1717 das eigentliche Motiv für seine Europareise war: „No ir a Europa era mi tristeza; pero en el fondo de esa amarga y forzosa abdicación, no ver El Embarque a Citerea era el más inconsolable de los duelos, el más doloroso renunciamiento, la más implacable nostalgia“ (Nicht nach Europa fahren machte mich traurig, aber im Grunde dieses bitteren und erzwungenen Verzichts war es der untröstbarste Schmerz, der schmerzlichste Verzicht, die unerbittlichste Nostalgie, nicht El Embarque a Citerea zu sehen).423 Gleichzeitig jedoch gibt er zu, das Bild sehr gut zu kennen: durch Kopien, vor allem aber durch Verlaine. Er zitiert einen Vers aus ‘Clair de lune’, dem ersten Gedicht der Fêtes galantes: „Ils n´ont pas l´air de croire à leur bonheur?“ (Scheinen sie nicht an ihr Glück zu glauben).424 Verlaines poetische Beschreibung des Bildes, die melancholische Hoffnung auf ein Leben in einem idealistischen und ästhetischen Paradies, wird damit zu Tabladas Credo: die Scheinwelt von Kunst und Literatur als letzte Zuflucht vor den irritierenden politischen und sozialen Phänomenen der Jahrhundertwende. Das Wissen um das Ende der modernistischen Epoche in Mexiko, der Einbruch der Revolution in die scheinbar stabile Phase des Porfiriats verstärken Tabladas Bedürfnis nach dieser Scheinwelt noch. Die künstlerischen Vorstellungen von Revista Azul und Revista Moderna sollen ihre Gültigkeit gegen alle Überzeugung bewahren und werden von Tablada so scharf wie selten zuvor formuliert, sodass das deutlichste Manifest des mexikanischen Modernismo am Ende von dessen Wirkungszeit steht und der Wert der literarischen Innovationen in Lateinamerika, die 30 Jahre zuvor einsetzten, mittels ihrer nachträglichen Theoretisierung um jeden Preis bestätigt werden soll. Paradoxerweise ist er sich dabei der Notwendigkeit einer Anpassung der künstlerischen Mittel an die neuen Zeitläufte, wie sie wenig später die Avantgarden Europas und Lateinamerikas vollziehen sollten, durchaus bewusst, er bezieht sie aber auf stereotype Weise auf die schon altbekannte Idee vom Dichter als Mittler zwischen den Welten, letztendlich also auf Baudelaires correspondances. In einem umfangreichen Beitrag über Leopoldo Lugones stellt er zwar sehr modern, und ganz im Sinne von Hofmannsthals Chandos-Brief und Mallarmés ‘Crise de vers’, fest, dass die Sprache nicht mehr in der Lage ist, eine zerfallende Realität zu erfassen, gesteht aber einem genialen Schriftsteller, wie Lugones es ist, das Privileg zu, mit der poetischen Sprache immer noch einen direkten Zugang zu den zu benennenden Objekten und Gefühlen zu haben, um mit ihr den Erscheinungen die verloren gegangene Einheit wiederzugeben; und dies wiederum ist ganz und gar nicht im Sinne von Lord Chandos.425 Hand in Hand damit bestätigt Tablada auch 423 424
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Tablada, Los días y las noches de París. Crónicas parisienses, S. 120. Zitiert in: José Juan Tablada, Los días y las noches de París. Crónicas parisienses, S. 123. Das Fragezeichen fehlt bei Verlaine. Das Original lautet im Zusammenhang: „Ils n’ont pas l’air de croire à leur bonheur,/Et leur chanson se mêle au clair de lune“ (Sie scheinen nicht an ihr Glück zu glauben und ihr Gesang mischt sich mit dem Mondschein; Verlaine, Fêtes galantes, Paris: Garnier-Flammarion, 1976, S. 33). Tablada schreibt: „La rutina, la pasiva conformidad con la que los demás piensan, ven y sienten en vuestra vida social, ha llegado a ser tan grande, que la relación directa entre objeto y sujeto se ha perdido y en su intermedio se interpone un patrón hecho de experiencia ajena y de vulgaridad aceptada, que sustituye indignamente la visión personal y la emoción derivada. Sólo en seres de excepción como Leopoldo Lugones ese fenómeno no se ha producido. El ojo y el corazón tienen virginidades perdurables“ (Die Rutine, das
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seinen Hass auf die Figur des Bürgers, der sich standhaft weigert, den privilegierten Status des Künstlers anzuerkennen. Die Bezeichnung „eterno eunuco“ (ewiger Eunuch), die er für ihn in ‘El salón de otoño’426 prägt, erscheint ihm daher nicht zu tief gegriffen. Tablada erkennt, dass auch das Paris des Jahres 1912 seinem künstlerischen Ideal nicht mehr entspricht (und wahrscheinlich ihm nie entsprochen hat). Unter dem bezeichnenden Titel ‘Tedio parisiense’ unterscheidet er daher klar die fiktive von der realen Stadt: Este París no es el de Fortunio ni el de La piel de Zapa, ni el de Murger, ni el de Banville. La bruma del invierno esfuma todo en desoladora monocromía, y esta lluvia, que cae obstinadamente, con ser incesante y pertinaz no basta para despintar sobre los rostros las caretas de la uniforme mascarada [...] No, no valía la pena de atravesar el Atlántico y de haber estado a punto de naufragar en el mar Cantábrico para oír estas conversaciones estereotipadas, para encontrar por sarcasmo copias parisienses de rostros aztecas y para saturarme en este aburrimiento gris como el cielo invernal, obstinado como la terca llovizna y espeso y pegajoso como el lodo de estos bulevares. (Dieses Paris ist nicht das von Fortunio oder von La Peau du Chagrin, nicht das von Murger oder Banville. Der Winternebel löst alles in trostloser Einfarbigkeit auf und dieser Regen, der wie besessen fällt, reich nicht aus, auch wenn er unaufhörlich und beständig ist, um die Larven der eintönigen Maskerade von den Gesichtern zu nehmen [...] Es hat sich nicht ausgezahlt, den Atlantik zu überqueren und im Kantabrischen Meer fast Schiffbruch zu erleiden, um diese stereotypen Konversationen zu hören, um sarkastischerweise Pariser Kopien von Aztekengesichtern zu finden, um mich mit dieser Langweile, grau wie der Winterhimmel, der so besessen wie der sture Regen ist und so zäh und klebrig wie der Schlamm der Boulevards, zu erschöpfen.)427
Schon zuvor, in ‘Los luchadores vencidos’, hatte sich Tablada darüber beklagt, dass die reale Stadt Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihrem Mythos nicht im geringsten gerecht wird. Das Quartier Latin sei ein Platz für den „struggle for life“, nicht für die künstlerische Bohème, die lateinamerikanischen Intellektuellen, die in Paris ihre Illusionen erfüllt sehen wollen, werden bitter enttäuscht und müssen mit leeren Händen und Brieftaschen die Rückfahrt antreten.428 Interessanterweise entstand dieser Text bereits 1908, also vor Tabladas Parisaufenthalt. Der Mexikaner bestätigt auf diese Weise nachdrücklich, dass er zwar einerseits die Grenzen zwischen dem modernistischen Idealbild der Kunst und ihrem für den Künstler enttäuschenden sozialen Umfeld erkennt, dass er jedoch andererseits auf die ästhetische Illusion nicht verzichten möchte, noch kann. Paris ist mit Sicherheit nicht das ersehnte Paradies des Gemäldes Watteaus. Die Verführungskraft der Insel Citerea für die Modernisten liegt gerade in ihrem fiktiven Charakter. Der Einbruch der Realität muss ferngehalten werden. Es handelt sich demnach – wie schon bei Darío – um eine doppelte Fiktion: Die Literatur thematisiert die Überlegenheit der Kunst und die Sehnsucht nach
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passive Einverstandensein mit dem, was die anderen in eurem sozialen Leben denken, sehen und fühlen sind so groß geworden, dass die direkte Verbindung zwischen Objekt und Subjekt verloren gegangen ist und in den Zwischenraum ein vorgegebenes Muster, bestehend aus fremden Erfahrungen und akzeptierter Vulgarität, gestellt wird, das auf unwürdige Weise die persönliche Vision und die hergeleitete Emotion ersetzt. Nur in Ausnahmeerscheinungen wie Leopoldo Lugones hat sich dieses Phänomen nicht gezeigt. Das Auge und das Herz haben eine dauerhafte Jungfräulichkeit; Tablada, Los días y las noches de París. Crónicas parisienses, S. 94). Tablada, Los días y las noches de París. Crónicas parisienses, S. 110. Tablada, Los días y las noches de París. Crónicas parisienses, S. 220. Tablada, Los días y las noches de París. Crónicas parisienses, S. 188.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
einer Umgebung, in der die Künstler und Schriftsteller als allein dominierende „Klasse“ sich bewegen können. Diese Umgebung muss aber ihrerseits Utopie und Fiktion bleiben. Tablada verzichtete nie auf diese Illusion, er fiktionalisierte bewusst die modernistische Ästhetik und nebenbei auch seine eigene Biografie. Es wurde schon erwähnt, dass gerade er versuchte, den Wert der Literatur als handelbare Ware, die ihren Preis hat, durchzusetzen. Es wurde auch schon mitgeteilt, dass er als Auto- und Weinverkäufer, sowie als Kunsthändler den ökonomischen Spielregeln seiner Zeit treu folgte und beachtliche Erfolge in diesem Bereich erzielte. Es ist noch nachzutragen, dass er nach der Revolution, im New Yorker Exil, immer wieder gezwungen war, um eine Stelle oder finanzielle Unterstützung anzusuchen, nachdem er – wegen seiner politischen Fehlentscheidungen – für den diplomatischen Dienst nicht mehr in Frage kam. So bittet er am 18. Oktober 1923 Genaro Estrada um irgendeine bezahlte Mission in Mexiko, mit der er seine literarischen und journalistischen Projekte finanziell vorantreiben könnte. Er werde selbstverständlich „todas las afirmaciones trascendentes, pertinentes y que convengan al país y a su Gobierno“ (alle transzendenten und angebrachten Behauptungen, die dem Land und seiner Regierung bequem sind) aufstellen. Er schließt mit der fordernden Frage: „¿No tiene Ud. en su cartera algún expediente para mandarme llamar, cualquier comisión que yo desempeñaría, con el viaje pagado?“ (Haben Sie in Ihrem Ressort nicht irgendeinen Akt, um mich zu rufen, irgendeinen Auftrag, den ich ausführen könnte, mit bezahlter Reise?).429 Natürlich lässt sich diese Bitte sehr gut auf die Nostalgie eines Exilierten zurückführen, jedoch steckt dahinter etwas mehr. Tablada wird in seinen Briefen immer ungehaltener, als Estrada nicht auf seine Wünsche eingeht. Er betont nachdrücklich seine großen Verdienste als Schriftsteller um Mexiko (Vgl. besonders den Brief vom 26. November 1927), argumentiert aber auch verstärkt mit der ökonomischen Verwertbarkeit der Kunst. Schon am 25. Februar 1924 schrieb er an Estrada: „si con mayores elementos se me pone en condiciones de intensificar ese trabajo conquistaremos este enorme mercado para nuestras industrias de arte y los ingresos del Gobierno y el bienestar de los productores ¡recibirán un beneficio fabuloso!“ (Wenn man mich mit größeren Mitteln in die Lage versetzt, diese Arbeit zu intensivieren, werden wir diesen riesigen Markt für unser Kunsthandwerk erobern und die Einkünfte der Regierung und der Wohlstand der Erzeuger werden fantastische Gewinne erzielen!).430 Tablada weiß über die Unvermeidbarkeit eines Kunstmarketing bescheid, nimmt aber das Konzept des modernistischen Künstlers davon aus. Im Februar 1922 schreibt er: „estoy escribiendo en francés y en inglés. Es desesperante que el lenguaje literario no sea universal, cuando se siente universalmente ... como son universales la pintura y la música, la alegría, la tristeza, el amor, la muerte, los árboles y los crepúsculos“ (ich schreibe auf Französisch und Englisch. Es ist zum Verzweifeln, dass die literarische Sprache nicht universell ist, wenn man doch universell fühlt ..., so wie die Malerei und die Musik, die Freude, die Traurigkeit, die Liebe, der Tod, die Bäume und die Abenddämmerung universell sind).431 Die Literatur muss demnach ein Phänomen sein, dass 429 430 431
Tablada, Cartas a Genaro Estrada (1921-1931), S. 44. Tablada, Cartas a Genaro Estrada (1921-1931), S. 54. Tablada, Cartas a Genaro Estrada (1921-1931), S. 15.
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außerhalb jeder konkreten sozialen und politischen Ordnung zu stehen hat. Damit kehrt Tablada ganz selbstverständlich zu der Haltung Nervos von 1898 zurück, der die Dichter von gesellschaftlichen Zwängen völlig unberührt sehen wollte.432 Was bei Nervo jedoch noch Programm und/oder simple Provokation sein konnte, wird – die Insistenz sei gestattet – bei Tablada zur nachträglichen Fixierung und Fiktion der modernistischen Ästhetik. Wie sehr gerade Tablada von den sozialen und politischen Bewegungen seines Landes abhing, und mit wieviel Unverständnis er ihnen gegenüberstand, sollen noch einige Vergleiche zwischen Autobiografie und Tagebuch illustrieren. 1913 befindet sich Tablada in seiner Villa im Süden Mexiko-Stadts und hört von weitem die Schusswechsel im Zentrum der Hauptstadt. Er fürchtet die Ankunft der Truppen Emiliano Zapatas, der für ihn zur höchst negativ besetzten Symbolfigur aller sozialistischen und demokratisierenden politischen Tendenzen des 20. Jahrhunderts wird. Die Barbarei Zapatas wird insbesondere am Unverständnis seiner Anhänger der Kunst gegenüber verdeutlicht. In Las sombras largas erinnert er sich an ein Pastellbild aus seiner Kindheit, das während der Einnahme seines Hauses durch die zapatistas verloren ging und nützt auf zynische Weise die Doppelbedeutung von „pastel” (Pastell und Kuchen) aus: Me enamoré de aquel retrato al pastel, tanto que al verme absorto ante él cada vez que iba de visita, doña Refugio se empeñó en regalármelo proponiendo que mi madre lo guardara hasta que „fuera yo grande“ ... /Así fue. Aquel pastel fue uno de los ornatos de mi primer cuarto de estudiante y lo conservé hasta que los zapatistas saquearon mi casa en Coyoacán. Deben habérselo comido, ya que siendo „pastel“ con forma humana entraba lógicamente en el menú del canibalismo azteca. (Ich verliebte mich in jenes Pastellporträt, so sehr, dass Doña Refugio, die mich bei jedem Besuch vor ihm in Betrachtung versunken sah, darauf bestand, es mir zu schenken und vorschlug, dass meine Mutter es “bis ich groß sei” aufbewahre ... /So geschah es. Dieses Pastell war ein Schmuck in meinem ersten Studentenzimmer und ich behielt es bis die Zapatisten mein Haus in Coyoacán plünderten. Sie müssen es gegessen haben. Da es ein Kuchen (‘pastel’) mit menschlicher Form war, gehörte es logischerwewise zum Menü des aztekischen Kannibalismus.)433
Im Tagebuch fehlt der Verweis auf das Gemälde, doch lässt Tablada keinen Zweifel daran, dass die zapatistas seinen Traum von einer durch die Kunst geadelten Gesellschaft zerstören werden. Nachdem er am 20. Juni 1914 bei dem in Mexiko lebenden irischen Maler Cecil O’Gorman434 zu Gast war, stellt er resignierend fest: „Y pensando que todos los hogares de México debieran ser como aquél, lleno de serenidad, embellecido por el arte, rodeados por los encantos de la naturaleza, regresé a mi home cuyas vidrieras solían entintar con rojos reflejos inquietantes las fogatas zapatistas, allá en las laderas del Ajusco frontero“ (Ich dachte, dass alle mexikanischen Heime so wie dieses sein sollten: gefasst, verschönert durch die Kunst, umgeben von den Reizen der Natur. So kam ich nach Hause zurück, wo die Fensterscheiben sich mit den beunruhigenden roten Spiegelungen der Lager-
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Vgl. besonders die Diskussion dieser Position durch Valenzuela, auf die ich im Kapitel 3.1.2 näher eingegangen bin. Tablada, Las sombras largas, S. 350. Cecil ist der Vater von Juan O´Gorman, dem Autor des weltberühmten murals an der Bibliothek der Nationaluniversität.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
feuer der Zapatisten an den Abhängen des Ajusco beschlugen).435 Wenig später muss Tablada wegen seiner Rolle als Abgeordneter während der Regentschaft Victoriano Huertas,436 der die traurig berühmte „decena trágica“ nach der Hinrichtung Maderos und Pino Suárez zu verantworten hatte,437 ins nordamerikanische Exil gehen. Er weigert sich jedoch, diese Ereignisse zu beschreiben. Nur am Ende der Autobiografie findet sich folgender Eintrag, in dem Tablada vom Abbruch seines Tagebuchs berichtet, und der noch einmal den Kontrast zwischen ästhetischer Illusion und sozialer Realität überdeutlich macht: El diario termina bruscamente. Jamás llené las páginas en blanco de aquellos últimos días negros, quizá porque en aquel interludio había muerto todo impulso espiritual y trabajaban sordamente las maquinarias del destino./Días de Veracruz, trágicos y febriles días a la sombra del pabellón extranjero, entre cuyas barras asomaba el nefasto Wilson su cabeza de polichinela ... Meses del exilio en Galveston, donde la catástrofe asomó franca; años de Nueva York de vulgar y exasperante tragedia; algún día en el diario o en el libro habré de relatar sus incidentes trágicos o cómicos, reanudando estas memorias que por hoy debo suspender en este capítulo. (Das Tagebuch endet plötzlich. Niemals füllte ich die weißen Seiten mit jenen letzten schwarzen Tagen, vielleich weil in jenem Zwischenspiel jeder geistige Impuls gestorben war und die Mühlen des Schicksals arbeiteten./Tage in Veracruz, tragische und fieberhafte Tage im Schatten des ausländischen Lagers, zwischen dessen Stäben der unheilvolle Wilson seinen Polichinella-Kopf durchhielt ... Monate des Exils in Galveston, wo die Katastrofe offen hervortrat; Jahre einer vulgären und bitteren Tragödie in New York. Eines Tages 435 436
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Tablada, Diario (1900-1944), S. 134. Die Diskrepanz zwischen Autobiografie und Tagebuch ist an dieser Episode besonders deutlich sichtbar. In Las sombras largas berichtet er von einem nicht identifizierten Freund, der ihm einen Posten in der Verwaltung Huertas verschaffte: „Con un alborozo que yo estaba lejos de compartir, me proponía al instante mismo, llevarme a Palacio a presentarme con „Victoriano“, para que se me diera el nombramiento de uno de los diversos y heterogéneos puestos que enumeraba acaloradamente .../No debe haberme visto muy entusiasmado, pues en seguida, cambiando de tono y mirándome con extrañeza, agregó:/‘¡Pues si no aceptas serás un tonto! Ya yo y otros amigos le hemos hablado de ti a Victoriano, que debes saberlo para tu gobierno, es de los que ve a quienes no están con él, como si estuvieran en su contra ...’“ (Mit einer Freude, die ich nicht teilen konnte, schlug er mir sogleich vor, mich in den Regierungspalast zu bringen, um mich mit „Victoriano” bekannt zu machen, damit man mir die Ernennung zu einem der diversen und heterogenen Posten geben konnte, die er erhitzt aufzählte .../Er dürfte mich nicht sehr begeistert gesehen haben, weil er sofort in einem anderen Tonfall fortfuhr und er fügte hinzu, indem er mich befremdet ansah: ‘Wenn du nicht annimmst, bist du dumm! Ich und andere Freunde haben schon Victoriano von dir erzählt, der, das musst du wissen bei deiner Entscheidung, die, die nicht für ihn sind, so betrachtet als wären sie gegen ihn ...’; Tablada, Las sombras largas, S. 405). In dieser Version wird er also ganz gegen seinen Willen zum Mitarbeiter eines der „Monster“ der mexikanischen Geschichte. Aus dem Tagebuch jedoch wird klar, dass er praktisch mit dem Amtsantritt Huertas einen Posten in dessen Administration anstrebte, den er auch sehr bald erhielt. Am 18. März 1913 trägt er mit einiger Zufriedenheit ein: „Gran número de El Imparcial. En la presidencia el Presidente firmó el siguiente acuerdo: ‘Nómbrese a José Juan Tablada Consejero de la Caja de Préstamos. Urgente. V. Huerta.’ El Ayudante Tte. Coronel Calero recibió orden de llevarlo personalmente al ministro de hacienda“ (Großartige Nummer von El Imparcial. Der Präsident unterschrieb im Präsidentenpalast folgendes Dekret: ‘Man ernenne José Juan Tablada zum Rat der Kreditbank. Dringend. V. Huerta.’ Der Adjudant Leutnant Calero bekam Befehl, dies persönlich zum Finanzminister zu bringen; Tablada, Diario [1900-1944], S. 106). Dieses Amt, das bezahlt wurde, aber nur auf dem Papier existierte, musste Tablada als materielle Anerkennung seiner herausragenden geistigen Position willkommen sein. Der soziale Kontext ist sekundär, da der Künstler als ahistorische Figur ihn nicht berücksichtigen muss. Vgl. dazu die Anmerkungen Guillermo Sheridans zu den entsprechenden Tagebucheintragungen des Jahres 1913 (S. 69-72), sowie die Beiträge ‘La lucha armada’ (S. 1073-1183) von Berta Ulloa und ‘La encrucijada’ (S. 1273-1357) von Lorenzo Meyer im zweiten Band der Historia general de México.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
werde ich die tragischen Vorfälle im Buch oder im Tagebuch erzählen müssen und diese Erinnerungen, die ich für heute in diesem Kapitel unterbrechen muss, wiederaufnehmen.)438
Der mexikanische Dichter setzte sein Vorhaben nicht um. Es existiert kein Text, der die Vertreibung aus dem Paradies seiner mit zahlreichen Kunstgegenständen und einer umfangreichen Bibliothek ausgestatteten Villa in Coyoacán beschreibt.439 Tablada wird bis zu seinem Tod, 1945 in New York, an der modernistischen Illusion festhalten. Es ist daher zwar richtig, die Besetzung440 des Hauses durch die zapatistas als symbolischen Endpunkt, als Erwachen aus der ästhetischen Illusion zu interpretieren, andererseits darf man jedoch nicht übersehen, dass nach ihr die Fiktionalisierung dieser Ästhetik beginnt, betrieben von den wenigen Überlebenden der Epoche, Tablada an erster Stelle.441 Es scheint paradox, ist es aber nicht, dass Tablada gleichzeitig – gemeinsam mit López Velarde – zu einem der Initiatoren der mexikanischen Avantgarde werden konnte. Insbesondere mit den ideogrammatischen Gedichten aus Li-Po (1920) wirkte er nachdrücklich auf die Gruppe der estridentistas um Manuel Maples Arce und auch noch auf Octavio Paz. Die Avantgarde verzichtete nicht auf die privilegierte asoziale Stellung von Literatur und Kunst,442 sondern betonte sie im Gegenteil noch stärker, wie aus den diversen Manifesten eines Vicente 438 439
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Tablada, Las sombras largas, S. 461. Das Anwesen, das Tablada nach eigenen Plänen errichten ließ, ist heute Sitz des Theaters Rodolfo Usigli und der mexikanischen Schriftstellervereinigung. Reste der aus Talavera und japanischen Fresken bestehenden Dekoration lassen sich noch erkennen. Tablada selbst spricht von einer barbarischen Plünderung. Inwieweit diese Bezeichnung gerechtfertigt ist, bleibt jedoch fraglich, da keine sicheren Zeugnisse in dieser Hinsicht existieren. Allerdings konnte der Mexikaner einige seiner Besitztümer retten, etwa die Japan-Bibliothek, die er 1926 an das mexikanische Außenministerium verkaufte (Vgl. den Brief vom 27. März des Jahres an Genaro Estrada). Es ist in diesem Kontext sehr bezeichnend, dass Tablada, ebenfalls in einem Brief an Estrada (vom 28. Februar 1922), heftige Kritik an Pedro Henríquez-Ureña übt. Es heißt dort auf recht rassistische Weise: „se cita como suprema autoridad a Henríquez-Ureña ... Ese es el caso dégoutant. Un grupo de muchachos mexicanos, hijos de una patria enamorada de la libertad hasta la epilepsia, de una patria que posee dos o tres vastas culturas, han renunciado a pensar por sí mismos y han descendido intelectualmente hasta ser los esclavos de un negroide, aherrojado a su vez por el academismo y con las espaldas laceradas por el rebenque del precepto ... Negrito catedrático que alardea de ser el maestro de Vasconcelos y de Alfonso Reyes, refrendando para su propio beneficio las teorías seudo darwinianas“ (Pedro Henríquez-Ureña wird als oberste Autorität zitiert ... Das ist der widerliche Fall. Eine Gruppe mexikanischer Burschen, Kinder eines in die Freiheit bis zur Epilepsie verliebten Vaterlandes, eines Vaterlandes, das zwei oder drei große Kulturen besitzt, hat darauf verzichtet, selbst zu denken und ist intellektuell zum Sklaven eines Negroiden abgestiegen, der seinerseits an den Akademismus gekettet und dessen Rücken von den Peitschen der Vorschriften verletzt ist ... Lehrstuhlneger, der damit angibt, der Lehrer von Vasconcelos und Alfonso Reyes zu sein, der zu seinem Vorteil die pseudodarwinistischen Theorien beglaubigt; Tablada, Cartas a Genaro Estrada [1921-1931], S. 13). Er kann Henríquez-Ureña offenbar nicht verzeihen, als einer der ersten lateinamerikanischen Intellektuellen den Modernismo als bereits historische literarische Strömung behandelt zu haben, und nicht als die immer noch gültige Norm innerhalb der Literatur des Kontinents. Anders gesagt: Der Dichter als a-zeitliche und a-soziale Figur kann und darf nicht Thema der historisch-kritischen Betrachtung werden. Octavio Paz beschreibt in seinem Essay ‘Los hijos del limo’ die Tendenz der Literatur, sich als eine Art Ersatzreligion darstellen zu wollen, als eine durchgehende Linie von der deutschen Romantik bis zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts (Vgl. Octavio Paz, Los hijos del limo, Barcelona: Seix Barral, 1993, S. 63-89).
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
Huidobro klar hervorgeht. Tablada konnte auf diese Weise die Avantgarde als eine Fortsetzung der modernistischen Ästhetik mit etwas anderen Mitteln interpretieren.443 Wichtiger aber erscheint noch, dass die mexikanische Avantgarde die Verehrung der Modernisten für die französische Literatur fortsetzte und damit die Bohème des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts bestätigte. Die Abhängigkeit des Modernismo von der französischen Kultur tritt auf diese Weise noch einmal klar zu Tage und etabliert sich in den Memoiren Tabladas im nachhinein als konstituierendes Element der Bewegung, das – es sei noch einmal festgehalten – mit der politischen und sozialen Realität Frankreichs nichts zu tun hat, sondern zentraler Bestandteil der modernistischen Illusion ist. La feria de la vida und Las sombras largas werden daher auch zu einer Bestandsaufnahme des Kanons der für den Modernismo ausschlaggebenden französischen Autoren. Dieser Kanon lässt sich jedoch de facto auf einen Namen reduzieren: Baudelaire. Tablada stellt beinahe alle anderen Autoren – und es sind viele – als dessen Nachfolger und Epigonen dar. Baudelaire gewinnt also symbolischen Charakter als Autor, an dem sich der modernistische und der „bürgerliche“ Geist scheiden.
3.2.2. Der französische Kanon um Baudelaire im autobiografischen Werk Tabladas Die am Ende des 19. Jahrhunderts aktuellen Werke der französischen Literatur wurden innerhalb der sich bildenden Modernistengruppe ausgetauscht und kommentiert. Die „Sitzungen“ der mexikanischen Bohème lassen sich unschwer als Plattform für die Diskussion einer Vielzahl französischer Schriftsteller und Künstler interpretieren, gewürzt natürlich mit dem Absinth, den Musset und Verlaine getrunken haben. Tablada konnte auf mehrere Informanten/Lehrer zurückgreifen, die ihm die klassische und moderne Literatur Frankreichs vermittelten. Die Bibliotheken bereits etablierter Autoren stellten jedoch einen direkteren Zugang zu ihr dar. Tablada betrachtete die Bücherregale im Haus Gutiérrez Nájeras mit Bewunderung, auch wenn diese noch mehr den klassischen und romantischen Geschmack, als modernere Tendenzen, erkennen ließen: “Mientras esperaba leí títulos de libros guardados en pequeños estantes adosados a los muros: Alfredo de Musset, Gautier, Paul de St. Victor, Janin, Brunetiere [sic], Renan, los maestros franceses que más influyeron en nuestro gran estilista y junto a ellos los místicos que nutrieron su espíritu” (Während ich wartete, las ich die Titel von Büchern, die in kleinen in die Wände einge443
In einem Brief vom 4. April 1927, den El Universal Ilustrado am 26. Jänner 1928 abdruckte, beglückwünscht er seinen Neffen Enrique Barreiro, sich den estridentistas um Maples Arce und List Arzubide angeschlossen zu haben. Er bezeichnet die Gruppe u. a. als „afirmativo, vivaz y agreste, que está redimiendo a las letras de la erudición virreinal y de la clorosis contemporánea ...“ (bejahend, lebendig und ungeschliffen, die die Literatur von der Bildung des Vizekönigreichs und von der zeitgenössischen Chlorose befreit; Tablada, Crítica literaria, S. 359). Begünstigt von dieser Haltung wurde Tablada am 21.2.1923 zum „poeta representativo de la juventud“ (repräsentativen Dichter der Jugend) gewählt (Vgl. S. 23 und die dazugehörige Fußnote im Vorwort von Héctor Valdés zu Poesía, dem 1971 erschienenen ersten Band der Gesamtausgabe).
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
lassenen Regalen aufbewahrt wurden: Alfred de Musset, Gautier, Paul de St. Victor, Janin, Brunetière, Renan, die französischen Meister, die am meisten unseren großen Stilisten beeinflussten und, neben ihnen, die Mystiker, die seinen Geist nährten).444 Tablada und seine Kollegen lasen ein buntes eklektisches Gemisch aus Naturalismus, Symbolismus, Parnass und einem vage definierten Dekadentismus.445 Mit seinem Freund Francisco Sánchez Gavito besprach Tablada „las primeras lecturas de los maestros naturalistas de la Escuela de Meudon, Zola, Maupassant, Huysmans“ (die ersten Lektüren der naturalistischen Meister der Schule von Meudon: Zola, Maupassant, Huysmans).446 Manuel Puga y Acal unterrichtete ihn „en la literatura francesa modernísima, [...] prestándome selectos libros“ (in der modernsten französischen Literatur [...] und borgte mir ausgewählte Bücher).447 Trotz dieser etwas ungeordneten und durchaus nicht tendenziösen Lektüren entdeckte die konservative Kritik Mexikos, die „castizos“, bald das Beiwort „decadente“, mit dem die neue Gruppe global abgewiesen wurde. Tablada schreibt dazu: „La palabra decadente me fue aplicada como un estigma cuando tenía veinte años [...] Quienes hubieran creído lo que de mí se dijo entonces, hubieran jurado que iba yo a morir tísico prematuramente“ (Das Wort dekadent wurde mir wie ein Stigma aufgesetzt, als ich zwanzig Jahre alt war [...] Wer geglaubt hätte, was man damals von mir sagte, hätte geschworen, dass ich vorzeitig an TBC sterben werde).448 Der Name, der von den Gegnern der Modernisten immer wieder als abschreckendes Beispiel ins Spiel gebracht wurde, lautete Baudelaire. Tablada akzeptiert im Rückblick den überwältigenden Einfluss des Autors der Fleurs du mal, stellt aber gleichzeitig fest, dass seine Rezeption durch die junge modernistische Generation mit vielen Irrtümern verlaufen ist. Wie schon die Analyse von Revista Azul und Revista Moderna gezeigt hat, nahm man die Baudelairsche Ästhetik zu wörtlich, bzw. man empfing sie in sehr vereinfachter Form. Baudelaire konnte durch die künstlichen Paradiese, durch sein „enivrezvous“, durch die diabolischen Aspekte seiner Gedichte, besonders aber durch den Ruf, den Bürger verunsichert zu haben, verführen. Wie bereits an früherer Stelle gezeigt wurde, nahm das modernistische Publikum Mexikos die ausgeglichene und nüchterne Ästhetik des Franzosen, wie sie besonders in ‘Le peintre de la vie moderne’ zum Ausdruck kommt, praktisch nicht zur Kenntnis. Tablada ist sich in den 30er Jahren derartiger Fehlinterpre444 445
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Tablada, La feria de la vida, S. 130. Die Zugänglichkeit der Originaltexte stellte kein Problem dar. Einerseits boten – und bieten – die Antiquariate im Zentrum der Hauptstadt (es handelt sich fast immer um Straßenverkauf, nicht um geschlossene Läden), besonders in „Donceles“, französischsprachige Texte an. Tablada erwähnt einen Markt auf der Plazuela del Seminario, der französische und englische Bücher billiger verkaufte als spanischsprachige (Tablada, La feria de la vida, S. 104f.). Andererseits siedelten sich im 19. Jahrhundert einige französische Buchhändler in der Stadt an. Der erste war 1835 Eugène Maillefert, ein Verwandter Salvador de Mailleferts, dem Vater Cecilias, die Manuel Gutiérrez Nájera heiraten wird. Cecilia war ihrerseits – über Francisco de Olaguíbel – eine entfernte Verwandte Tabladas. Ich verweise für diese Genealogie auf die Kommentare Ángel Muñoz Fernández in seiner Ausgabe der Cuentos completos von Couto Castillo, besonders S. 118; sowie auf die sehr private Biografía anecdótica de Manuel Gutiérrez Nájera, die seine Tochter Margarita 1960 erstellte. Tablada, La feria de la vida, S. 111. Tablada, La feria de la vida, S. 137. Tablada, La feria de la vida, S. 138.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
tationen bewusst und unterstreicht, wie Rubén M. Campos, ihre traurigen Folgen im finisekulären Mexiko: den Verlust zahlreicher Talente für die Kultur des Landes. Man muss hinzufügen, dass die mexikanischen Intellektuellen damit auch dem europäischen Beispiel folgten, da es in Frankreich und anderen Ländern zu ähnlichen „Missverständnissen“ gekommen war. Der folgende Abschnitt zeigt nicht nur die Klarsichtigkeit Tabladas in diesem Fall, sondern stellt auch ein glaubwürdiges Porträt der mexikanischen Modernistengruppe in ihrer Anfangszeit dar. Der französische Einfluss ermöglichte die Herausbildung des Modernismo in der mexikanischen Literatur, gleichzeitig aber etablierte er eine ausgeprägte Tendenz zur Selbstzerstörung unter den Schriftstellern. Die Baudelaire-Rezeption kann die Verwandlung der literarischen Bohème von einer spielerischen und instruktiven Vereinigung in ein Szenarium widerspiegeln, in dem die Zweifel und der Zorn der marginalisierten mexikanischen Künstler gegen Ende des Jahrhunderts zum Ausdruck kommen: La influencia de lo que en el poeta Baudelaire hay de morboso, fue para la juventud de mi generación el verdadero mal de las Galias ... /Incapaces de discernir el artificio en la descarriada moral del gran poeta, fuimos más sinceros que él y desastrosamente intentamos normar no sólo nuestra vida literaria, sino también la íntima, por sus máximas disolventes creyendo así asegurar la excelencia de nuestra obra de literatos. [...] El simple hecho de que Baudelaire hubiera llamado a alcoholes, drogas y estupefacientes los paraísos artificiales iluminó las vulgares tabernas con esplendores de apoteosis luciferiana y las transformó a nuestros ojos, en templos para la misteriosa iniciación artística./Nada tiene de extraño que eso haya sucedido en México cuando aconteció en la misma Europa mejor preparada para contener las influencias literarias dentro de sus límites naturales, y adonde, sin embargo, en la vida íntima de todos los poetas más o menos baudelairianos, Tristán Corbière, Mauricio Rollinat, Rimbaud, Verlaine, Laforgue, Samain y aun Roseti [sic], Wilde y Verhaerem [sic] en el continente, el mismo siniestro influjo puede ser trazado. (Der Einfluss dessen, was der Dichter Baudelaire an Morbidem hat, war für die Jugend meiner Generation das wahre französische Übel ... /Wir waren nicht in der Lage, das Künstliche in der irreführenden Moral des großen Dichters zu unterscheiden und waren ehrlicher als er selbst. Wir versuchten auf zerstörerische Weise, nicht nur unser literarisches, sondern auch unser privates Leben mit seinen zersetzenden Maximen zu regeln und glaubten, so die Vortrefflichkeit unseres Schriftstellerwerkes sicherzustellen. [...] Die einfache Tatsache, dass Baudelaire Alkohol, Drogen und Rauschgifte als künstliche Paradiese bezeichnete, erleuchtete die vulgären Tavernen mit dem Glanz einer teuflischen Apotheose und verwandelte sie vor unseren Augen in Tempel für die geheimnisvolle künstlerische Initiation./Es ist nicht verwunderlich, dass dies in Mexiko passiert ist, wenn es doch in Europa selbst vorkam, das besser vorbereitet ist, um die literarischen Einflüsse in ihren natürlichen Grenzen zu halten, aber wo dennoch im Intimleben mehr oder weniger baudelairscher Dichter, Tristán Corbière, Mauricio Rollinat, Rimbaud, Verlaine, Laforgue, Samain und sogar Roseti [sic], Wilde und Verhaerem [sic] auf dem Kontinent, der gleiche verhängnisvolle Einfluss festzustellen ist.)449
Was Tablada hier beschreibt ist nicht mehr und nicht weniger als ein typischer Fall von literarischer Hysterie, wie er sich etwas mehr als 100 Jahre zuvor mit Goethes Werther ereignet hatte. Tablada selbst sollte, wie zu sehen war, einem anderen modernistischen Trugbild verfallen, dem der ahistorischen privilegierten Stellung der Künstler, der „letrados“ Ángel Ramas, denen der ihnen zugeordnete soziale Kontext verloren gegangen ist.450
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Tablada, La feria de la vida, S. 181. Allerdings wurde auch schon erwähnt, dass nicht zuletzt Tablada dem Einfluss von Drogen und Alkohol sehr intensiv ausgesetzt war, was er natürlich in der Autobiografie diskret verschweigt.
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Die rückhaltlose Identifizierung mit einer literarischen Figur (Werther) am Ende des 18. Jahrhunderts wiederholte sich um 1900 in der Übernahme eines Lebensstils, dessen Ursprünge fiktiven und theoretischen Charakter haben. Die künstlichen Paradiese Baudelaires waren nur ein Essay, dessen Bilder über die Fehlinterpretationen der jungen modernistischen Autoren eine zerstörerische Realität erhielten.451 Tablada zeichnet in diesem Kontext einen regelrechten Stammbaum der Selbstzerstörung, der bei Poe beginnt, seine deutlichste Ausprägung bei Baudelaire hat (womit der reife Tablada natürlich im gleichen Irrtum befangen ist wie seine jungen Gefährten 35 Jahre zuvor), um sich dann mit Rimbaud und Laforgue fortzusetzen.452 Aus den Ausführungen Tabladas ergibt sich in erster Linie das Unvermeidliche einer derartigen fehlgeleiteten Rezeption der französischen Literatur. Die jungen mexikanischen Schriftsteller waren auf der Suche nach einer Ästhetik, die dem Künstler einen privilegierten – messianischen – Platz in seiner Gesellschaft verleihen konnte. Baudelaire erkannte im Dichter ungeahnte Fähigkeiten und verhalf dem alten Konzept des vates zu neuer Gültigkeit, der in direktem Kontakt zu einer zeitlosen Wahrheit stand. Auf diese Weise trennte er den Künstler von seinem sozialen Umfeld und enthob ihn gleichzeitig jeglicher profanen Sorge. Die folgende Behauptung Tabladas hätte schwerlich ohne das Beispiel Baudelaires und ohne eine vorhergehende Lektüre des Franzosen geschrieben werden können: „Intuitivamente percibí el palpitar de la Vida Una en donde mi ser físico se perdía como átomo imperceptible, pero que mi conciencia poética logró vislumbrar en su vertiginosa grandeza que apenas entrevista anonada“ (Intuitiv erkannte ich das Zucken des Einen Lebens, in dem sich meine körperliche Existenz wie ein unwahrnehmbares Atom verlor, aber das mein poetisches Gewissen in seiner schwindelerregenden Größe erahnen konnte, die, kaum wahrgenommen, vernichtet).453 Solche Erfahrungen sind das Privileg des Dichters, der damit weit über dem gewöhnlichen Bürger steht (oder schwebt). Einmal mehr bringt eine derartige Erhebung – der Selbstbetrug und die Scheinwelt – als logische Folge den obligatorischen Hass auf ein Bürgertum mit sich, das die Überlegenheit des Künstlers nicht anerkennen will. Konsequenterweise erkannte auch Tablada die Notwendigkeit von 451
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Wenn man der Schule von Konstanz oder auch Jorge Luis Borges Glauben schenken will, so garantiert erst der Leser die Existenz des Textes. Viele divergierende Lektüren eines Buches würden unterschiedliche Texte generieren. Die ursprüngliche Intention des Autors wäre Nebensache, da auch sie nur einer spezifischen Lektüre entspricht. Die Ästhetik Baudelaires vom Dichter als nüchternem Arbeiter an der Sprache wäre auf diese Weise lange Zeit wertlos gewesen, da es an entsprechenden Lektüren gefehlt hatte. Das Werk Baudelaires würde demzufolge in den Bars der mexikanischen Hauptstadt und an vielen anderen ähnlichen Plätzen geschrieben worden sein. Tablada, La feria de la vida, S. 182. Tablada, La feria de la vida, S. 228. Héctor Valdés führt derartige metaphysische Äußerungen auf den Einfluss des Zen-Buddhismus auf Tablada zurück, der Baudelaire abgelöst habe (Vgl. in Tablada, Poesía, S. 18f.). Das Interesse des Mexikaners für den fernen Osten steht außer Frage, wenn es sich auch eher auf Malerei und Dichtung konzentriert hat. Jedoch sollte die kontinuierliche und prägende Auseinandersetzung mit Baudelaire – und generell mit der französischen Literatur – dadurch nicht gleichsam eliminiert werden. Tabladas „Metaphysik“ steht auch gegen Ende seines Lebens dem westlichen Denken näher, als dem orientalischen. Eine Untersuchung der Rolle Francis Jammes könnte in diesem Zusammenhang interessante Aufschlüsse bereitstellen. Auch der kürzlich veröffentlichte Roman Tabladas La resurrección de los ídolos bietet zahlreiche Anhaltspunkte, um die Rolle esoterischer Tendenzen im Werk des Mexikaners zu überdenken.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
„campañas contra los gigantes beocios y los molinos de viento de la burguesía, a quienes hacía yo responsables de una falta de organización social adversa a los intereses del arte“ (Feldzügen gegen die gigantischen Böotier und die Windmühlen des Bürgertums, die ich für die Verfehlung einer der Kunst feindlichen sozialen Organisation verantwortlich machte).454 Das Ideal des vates, der sich über jegliche Realität erhaben sieht, die Ästhetik Oscar Wildes, der den Kreationen der Fiktion einen höheren Realitätswert zuspricht, als der Natur, etablieren sich in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts.455 Dieses Faktum konnte natürlich an der sozialen Situation des Künstlers nichts ändern, der weiterhin der Parasit einer kapitalistischen Gesellschaft blieb. Der unvermeidliche Konflikt des finisekulären Künstlers lässt sich daher wie folgt definieren: Wenn er das Leben eines wirklichen Ästheten nach dem Typ Des Esseintes führen wollte, so durfte er kein Dichter sein; wenn er Dichter sein wollte, musste er auf diese Lebensform verzichten. Tablada versuchte, wie schon angeführt, einen Ausgleich: die Durchsetzung der Literatur als kapitalistische Ware. Einen relativen Wohlstand ermöglichte ihm aber erst der Handel mit Autos und Spirituosen, eine Zeit, die er als glücklichste Phase seines Lebens beschreibt.456 Tabladas Integration in die kapitalistische und – auf unglückliche Weise – politische Welt bedeutet aber nicht, dass er auf das ästhetische Trugbild der Modernisten verzichtet, sondern verdeutlicht nur die Notwendigkeit von im weitesten Sinne pädagogischen Reformen, die ein Publikum erziehen können, das die Kunst zumindest schätzt, wenn es sie auch nicht verstehen kann. Tablada scheint den Modernismo zu verraten, indem er in den Jahren unmittelbar vor der Revolution mehr den Regeln des Marktes, als denen der Kunst gehorcht. Vor allem Valenzuela warf ihm dies vor. Man übersieht dabei jedoch, dass Tablada in dieser Zeit zwar schrieb, aber nicht publizierte457 – abgesehen von Chroniken und Artikeln –, dass er also auf bessere Zeiten für das künstlerische Ideal der Modernisten wartete, das er folgerichtig auch immer wieder gegen kunstfremde Angriffe verteidigte. Die Ausweitung und Vertiefung des französischen Lektürekanons ausgehend von Baudelaire dient ihm dabei gleichsam als Konservierungsmittel. Aus sehr unterschiedlichen Perspektiven und mit beinahe antagonischen Haltungen haben die Memoiren von Rubén M. Campos, Jesús E. Valenzuela und José Juan Tablada den Weg nachgezeichnet, den der mexikanische Modernismo vor und nach 1900 zurücklegte. Die herausfordernde literarische Bohème, die ihren idealen Wirkungsort in den Bars der mexikanischen Hauptstadt fand, die aggressive antibürgerliche Haltung, die sich in schlecht verdauten künstlichen Paradiesen und Baudelaire-Lektüren erschöpfte, die Insis454 455
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Tablada, Las sombras largas, S. 49. Tablada erwähnt in diesem Zusammenhang eine interessante Episode. Der mexikanische Maler Alberto Fuster konnte der neuen Ästhetik nicht folgen und blieb einem veralteten akademischen Malstil verhaftet. Deswegen beging er Selbstmord. Tablada bewundert diesen irrationalen Akt, mit dem Fuster sich als wahrer Künstler erwiesen habe, weil er Leben und Kunst vollständig verschmolz. Er nahm sich jenes, weil er dieser nicht mehr folgen konnte (Tablada, Las sombras largas, S. 107). Tablada, Las sombras largas, S. 247. Die zweite Ausgabe seines Florilegio erschien 1904. Der nächste literarische Text erscheint erst 1918: die Gedichte von Al sol y bajo la luna.
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tenz auf einem Leben im ästhetischen Selbstbetrug, der Traum von einer aristokratischen Klasse, die unabhängig von weltlichen Interessen ist, werden zur nostalgischen Erinnerung oder zum Ausgangspunkt für eine brillante literarische Laufbahn. Campos, Valenzuela und Tablada haben eines gemein: die Verherrlichung der modernistischen Auffassung von Literatur als allein gültiger Norm ihrer Zeit. Ein Blick von außen ist daher angebracht, um diese Selbstdarstellung zu ergänzen. Er kommt aus der etwa gleichzeitig entstehenden Richtung des mexikanischen Realismus/Naturalismus, der in vielen Aspekten mit den Anliegen der Modernisten übereinstimmt, jedoch die soziale Eingebundenheit des Schriftstellers nie in Frage stellt. Federico Gamboa ist ohne Zweifel der prominenteste Vertreter dieser Richtung, vor allem dank des Erfolges seines Romans Santa. Seine ambitionierteste Arbeit, sein eigentliches Hauptwerk, ist jedoch sein Tagebuch, dem ich den folgenden Abschnitt widme.
3.3. Das Tagebuch Federico Gamboas: der Versuch einer umfassenden Epochenbeschreibung Mi diario. Mucho de mi vida y algo de la de otros umfasst in seiner modernen Ausgabe (ediert von José Emilio Pacheco) von 1995 sieben Bände mit einem Umfang von insgesamt etwas über 2100 Seiten. Die Eintragungen setzen am 7. Mai 1892 ein (Gamboa war 28 Jahre alt) und halten, allerdings mit großen Lücken, bis zum 22. Juli 1939 an (Gamboa starb am 15. August dieses Jahres). Fünf Bände, sie umfassen die Jahre 1892 bis 1911, wurden zu Lebzeiten veröffentlicht.458 Die umfangreichen letzten Bände mussten bis 1995 auf ihre Publikation warten. Laut Gamboa war das Tagebuch nicht für eine komplette Veröffentlichung bestimmt. In einem mit 1903 datierten Vorwort für den ersten Band erklärt er den Text als Eigentum seines Sohnes: „Sólo una parte publico ahora de este Mi diario, que por entero te pertenece y que a ti únicamente interesará en su totalidad. Cuando yo muera, haz del resto lo que mejor te cuadre; desde leerlo a la ligera y olvidarlo, hasta sacarlo a luz, íntegro, y defenderlo si es atacado“ (Nur einen Teil meines Tagebuchs veröffentliche ich jetzt. Es gehört zur Gänze dir und dich allein wird es in seiner Gesamtheit interessieren. Mach, wenn ich sterbe, mit dem Rest, was dir am besten passt: es oberflächlich lesen und vergessen oder es komplett ans Licht bringen und verteidigen, wenn es angegriffen wird).459 Diese Aussage ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, da Gamboa schon sehr früh den öffentlichen Charakter des Textes betonte und seine Publikation immer wieder mit Nachdruck betrieb. Am 17. August 1893 berichtet er von einer seiner Zusammenkünfte mit Rubén Darío in Buenos Aires460 und offenbart dabei seine Pläne für das Tagebuch: Es de veras particular, pero ni un solo día hemos dejado de buscarnos Rubén Darío y yo./Hoy, en arranque suyo de confianza extraordinaria, confíame la historia de su vida. Lo amenazo con que habré de trasladarla a
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Band 1 in Guadalajara 1908, die Bände 2 bis 5 in Mexiko-Stadt, in den Jahren 1910, 1920, 1934 und 1938. Federico Gamboa, Mi diario, hg. v. José Emilio Pacheco, 7 Bde. (México: Conaculta, 1995), hier Bd. 1, S. 5. Gamboa war erster Botschaftssekretär in Argentinien, der Nicaraguaner Darío kam als kolumbianischer Generalkonsul nach Buenos Aires.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
Mi diario, a este pobre diario que, si Dios quiere, ha de ver la luz cuando yo muera o, si no, cada diez años, y Rubén no retrocede, ¡al contrario!, se le avivan añoranzas, y a la futura publicación me autoriza. (Es ist wahrlich merkwürdig, aber Rubén Darío und ich haben uns jeden Tag gesucht./Heute, in einem Ausbruch seines außerordentlichen Vertrauens, beichtet er mir seine Lebensgeschichte. Ich bedrohe ihn damit, dass ich sie in mein Tagebuch übertragen werde, in dieses arme Tagebuch, das, so Gott will, ans Licht kommen wird, wenn ich sterbe oder, wenn nicht, alle zehn Jahre. Und Rubén macht keinen Rückzieher. Im Gegenteil! Wehmütige Erinnerungen tauchen auf und er autorisiert mich für die zukünftige Publikation.)461
Gamboa war zu diesem Zeitpunkt von seinem frühen Tod überzeugt, „cuando yo muera“ meint daher: sollte er vor der zehnjährigen Frist für sein Tagebuch sterben. Der Vergleich von Mi diario mit dem Journal der Gebrüder Goncourt drängt sich auf. Tatsächlich steht die Vorbildwirkung des französischen Tagebuches außer Frage. Auch José Emilio Pacheco erkennt die Schuld Gamboas gegenüber den Erinnerungen der Goncourts, merkt jedoch mit einiger Antipathie für das Journal an: „El chisme literario que es el supremo atractivo del Journal de los Goncourt está casi ausente en Gamboa. No oculta su ambición de fama y de fortuna pero nunca es envidioso ni mezquino como su modelo francés“ (Der literarische Tratsch, der der größte Reiz des Journal der Goncourts ist, fehlt fast völlig bei Gamboa. Er verbirgt sein Streben nach Ruhm und Reichtum nicht, aber er ist nie neidisch oder schäbig, wie sein französisches Modell).462 Man kann dem großartigen Lyriker und Erzähler hier nicht ganz zustimmen. Pacheco übersieht möglicherweise, dass sich Gamboa recht intensiv mit den Goncourts auseinandersetzte,463 aber auch mit einer Reihe anderer autobiografischer Schriften, übersieht damit, dass er von Beginn an die literarische Gattung Tagebuch im Sinne hatte, seine Aussagen also steuern konnte, womit er gegenüber den Goncourts – zumindest was die ersten Jahre des Journal betrifft – deutlich im „Vorteil“ war. Außerdem ist auch Mi diario durchaus nicht frei vom „chisme literario“. Der erste Verweis auf das Brüderpaar findet sich bald in Gamboas Tagebuch. Nach seiner Abberufung aus Buenos Aires reist er nach Frankreich, wo er am 12. November 1893 in Nantes festhält: „Aparte la atmósfera de estulticia propia a las ciudades provincianas de Francia – tan admirablemente mencionada y censurada por los hermanos Goncourt en su Journal –, Nantes ofrece otra particularidad: una falta de temperancia absoluta“ (Außer der Atmosphäre der Dummheit, die typisch ist für die Provinzstädte Frankreichs und so bewundernswert von den Gebrüdern Goncourt in ihrem Journal erwähnt und verurteilt wurde, bietet Nantes eine andere Eigenart an: ein vollständiges Fehlen an Mäßigung).464 Etwas mehr als ein Jahr danach offenbart er das Tagebuch der Goncourts und die Korrespondenz Flauberts als seine konstantesten Lektüren: „Cuando concluyo una lectura y mientras elijo lectura nueva, indefectiblemente caigo sobre la Correspondencia de Flaubert o sobre el Diario de los Goncourt“ (Wenn ich eine Lektüre beende und während ich eine neue auswähle, greife ich unfehlbar auf den Briefwechsel Flauberts oder das Tagebuch der 461 462 463
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Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 93. José Emilio Pacheco, ‘Introducción’, in Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. XXIX. Tablada bezeichnet das Journal der Goncourts als „la lectura para mí más deliciosa, que me procura una honda voluptuosidad intelectual“ (die für mich köstlichste Lektüre, die mir eine tiefe intellektuelle Wollust verschafft) und wirft Gamboa unnötigerweise vor, es kopiert zu haben (Tablada, Diario [1900-1944], S. 54). Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 126.
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Goncourts zurück).465 Von 1887 bis 1893 (dem Jahr der ersten Erwähnung im Tagebuch Gamboas) waren sechs Bände des Journal des Goncourt – Mémoires de la vie littéraire bei Charpentier erschienen.466 Der Diplomat Gamboa, der schon 1891 in Paris gewesen war, hatte keine Probleme, sich diese Bände zu beschaffen. Das gleiche gilt für die Correspondance Flauberts, die ebenfalls Charpentier in vier Bänden von 1887 bis 1893 publizierte. Gamboa kannte damit auch bereits das Vorwort Edmond de Goncourts zum ersten Band von 1887. In ihm definiert dieser das nachträglich etablierte Ziel des Journal: Donc, notre effort a été de chercher à faire revivre auprès de la postérité nos contemperains dans leur ressemblance animée, à les faire revivre par la sténografie ardente d´une conversation, par la surprise physiologique d´un geste, par ces riens de la passion où se révèle une personnalité, par ce je ne sais quoi qui donne l´intensité de la vie, – par la notation enfin d´un peu de cette fièvre qui est le propre de l´existence capiteuse de Paris. (Unser Anliegen war es demnach, unsere Zeitgenossen im Vergleich zur Nachwelt in ihrer beseelten Ähnlichkeit wiederzubeleben, sie mittels der hitzigen Stenografie eines Gesprächs, der physiologischen Überraschung einer Geste, dieses Nichts der Leidenschaft, in der sich eine Persönlichkeit offenbart, mittels des ich weiss nicht was, das die Intensität eines Lebens ausmacht, – mittels der Anmerkung dieses Fiebers schließlich, das typisch ist für die haupstädtische Existenz Paris, auferstehen zu lassen.)467
Diese „autobiografie, au jour le jour“ (Autobiografie, Tag für Tag geschrieben)468 habe „l’ondoyante humanité dans sa verité momentanée“ (wogende Menschheit in ihrer momentanen Wahrheit)469 darstellen wollen. Ob das Journal tatsächlich diese Ziele verfolgt oder erreicht hat, kann keine Fragestellung der vorliegenden Arbeit sein. Dass es jedoch weitaus mehr als den „literarischen Tratsch“ – wie Pacheco es will – verfolgte, steht außer Zweifel. Gamboas Mi diario seinerseits darf als die vollständigste Beschreibung der mexikanischen Kultur und Gesellschaft von etwa 1890 bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gelten.470 Politische, soziale und – jedoch erst an dritter Stelle – literarische Fragen bestimmen die Tagebucheintragungen. Das Privatleben Gamboas wird dabei fast vollständig ausgeklammert. Wie nebenbei erfährt man von seiner Heirat zu Beginn des Jahres 1898,471 von der Geburt seines Sohnes Manuel, von familiären Tragödien; wahrscheinlich mit seiner Spielsucht in Zusammenhang stehende Skandale deutet er zwar an, hüllt sie aber in eine geheimnisvolle Atmosphäre, ohne Näheres zu verraten. Natürlich versucht Gamboa, sich selbst in seiner doppelten Funktion als Politiker und Schriftsteller in einem günstigen Licht darzustellen; die Rolle des Chronisten seiner Epoche kommt jedoch viel deutlicher zum 465 466
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Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 159. Die Publikation wurde vorläufig mit dem neunten Band im Jahr 1896 abgeschlossen. 1935 gab es eine unvollständige Edition des Tagebuchs. Komplett erschien es erst 1956 in einer von der Académie Goncourt vorbereiteten und bei Fasquelle und Flammarion publizierten 22-bändigen Ausgabe. Edmond et Jules Goncourt, Journal. Mémoires de la vie littéraire 1851-1856, Bd. 1 (Monaco: Fasquelle et Flammarion, 1956), S. 30. Edmond et Jules Goncourt, Journal, S. 29. Edmond et Jules Goncourt, Journal, S. 30. Nach 1919 werden die Eintragungen immer sporadischer. Gamboa verzichtete nicht nur auf politische Stellungen, sondern auch auf die Literatur. Der Eintrag vom 12. Februar könnte nicht lapidarer sein: „Hoy me casé“ [Heute habe ich geheiratet] (Gamboa, Mi diario, Bd. 2, S. 39).
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Ausdruck, als die des Tagebuchschreibers. Der Autor von Santa hat seine Vorstellung von einer autobiografischen Literatur nicht nur von den Goncourts und von Flaubert entlehnt, er griff auch auf zum Teil sehr entlegene Quellen zurück. Gamboa berichtet nicht sehr ausführlich über seine Lektüreerfahrungen; ein auffälliger Schwerpunkt liegt aber gerade bei Memoiren und Briefwechsel. Hier ein Auszug. In Nantes liest er die Memoiren Tolstois, um sich von der langweiligen Stadt abzulenken: „¡Una espantosa semana la que he pasado! ... Sin ningún aliciente en esta ciudad viejísima; sin nadie con quien cambiar ideas: sin nada que distraiga mi espíritu, excepción hecha de las Memorias de Tolstoi, que leo a ratos“ (Ich habe eine schreckliche Woche verbracht! ... Ohne irgendeinen Anreiz in dieser uralten Stadt; ohne jemanden, mit dem ich meine Ideen austauschen könnte; nichts, das meinen Geist zerstreut, mit Ausnahme der Memoiren Tolstois, die ich zeitweise lese).472 Am 28. März 1899 teilt Gamboa mit, dass er die Lebenserinnerungen Goethes fertig gelesen hat. Interessanterweise hat ihm ausgerechnet der Egozentrismus des Weimarer Klassikers die Lektüre verleidet, was angesichts des Fehlens privater Mitteilungen in seinem Tagebuch wenig überraschen kann: „Di término a la lectura de los dos tomos de las Memorias de Goethe./¿Por qué no le hallaré a tan reputadísimo escritor la genialidad y grandeza que le reconocen sus muchos admiradores?/Dios me lo perdone y los manes de Goethe también, pero a mí me resulta un enorme egoísta y un escritor poco sincero“ (Ich habe die Lektüre der beiden Bänder der Memoiren Goethes abgeschlossen./Warum finde ich in diesem so hoch angesehenen Autor die Genialität und Größe nicht, die seine vielen Bewunderer ihm zugestehen?/Gott möge mir verzeihen und auch die Manen Goethes, aber mir erscheint er wie ein enormer Egoist und ein wenig ehrlicher Schriftsteller).473 Noch in der Nacht des gleichen Tages beginnt er mit den Confessiones des Augustinus, in französischer Übersetzung.474 Als Gamboa die Publikation der ersten Bände von Mi diario vorbereitet, häufen sich die Verweise auf autobiografische Schriften. Am 26. August 1909 erwähnt er den „desgarrador y apasionante Diario íntimo de Henri Frederic Amiel“ (das herzzerreißende und leidenschaftliche intime Tagebuch Henri Frederic Amiels).475 Wenig später, am 3. Jänner 1910, schließt er die Lektüre der Korrespondenz Balzacs ab und ist bereits in der Lage, Vergleiche und Kategorisierungen des autobiografischen Schrifttums anzustellen: „Acabé anoche la lectura de los dos tomos de la Correspondencia, de Balzac, inferiores en mi sentir y desde el punto de vista meramente literario, a las cuatro de la de Flaubert, pero incomparablemente tristes y desgarradores. Fue Balzac la quintaesencia del hombre de letras sin ventura“ (Heute nacht habe ich die Lektüre der beiden Bände des Briefwechsels Balzacs beendet, die meines Erachtens nach und vom nur literarischen Standpunkt aus 472 473
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Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 122. Eintragung vom 29.10.1893. Gamboa, Mi diario, Bd. 2, S. 68. Gamboa las deutsche, wie auch russische Autoren auf Französisch. u. a. zitiert er am 20. März 1901 die Memoiren Goethes auf Französisch. Am 12. Dezember 1901 schreibt er: „Acabé hoy la lectura de Paroles d´un homme libre de Tolstoi“ (Ich habe heute die Lektüre der Paroles d´un homme libre Tolstois abgeschlossen; Gamboa, Mi diario, Bd. 3, S. 73) und am 20. Februar 1908 verweist er mit einem französischsprachigen Zitat auf seine Dostojewskij-Lektüre. Als Diplomat war seine Arbeitssprache natürlich Französisch. Gamboa, Mi diario, Bd. 2, S. 68. Gamboa, Mi diario, Bd. 5, S. 56.
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betrachtet den vier dessen Flauberts unterlegen sind, aber unvergleichlich traurig und herzzerreißend. Balzac war die Essenz des glücklosen Schriftstellers).476 Ein zusätzliches Beispiel für eine im weitesten Sinne intime Lebensbeichte bietet ihm Nerval: „Terminé, anoche, la lectura de la Correspondencia de Gerardo de Nerval, el trágico suicida o el vilmente asesinado de la horrenda calle parisiense de la Vielle Lanterne“ (Ich beendete heute nacht die Lektüre des Briefwechsels von Gérard de Nerval, der tragische Selbstmörder oder der gemein von der schrecklichen Pariser Straße der Alten Laterne Ermordete).477 Noch Jahre später lässt sich dieses Interesse für Memoiren und Briefwechsel nachweisen, etwa wenn Gamboa auf Französisch aus einem Brief der Madame de Staël an Madame Récamier zitiert.478 In der Tat wird Gamboa zu einem Spezialisten in diesem Genre, den u. a. Victoriano Salado Álvarez heranzieht, um seine Autobiografie zu korrigieren.479 Immer wieder jedoch, mit deutlich mehr Frequenz als bei allen anderen Texten, finden sich Verweise auf das Journal der Goncourts, die Detailkenntnisse und eine über Jahre hinweg anhaltende Lektüre belegen. Als Beispiel sei ein Eintrag vom 31. Mai 1916 zitiert: „Observan los Goncourt, en su Diario, que cuando un hombre se encuentra con una mujer que se parece a su querida, desde luego establécese entre ambos una poderosa corriente de simpatía, que puede llevarlos a ... cualquier parte“ (Die Goncourts beobachten in ihrem Tagebuch, dass sich, wenn ein Mann eine Frau trifft, die seiner Geliebten ähnelt, zwischen beiden sofort eine starke Strömung der Sympathie etabliert, die sie ... überallhin bringen kann).480 Als Gamboa gegen Ende des Jahres 1893 nach Paris reist, will er seine noch lebenden literarischen Vorbilder persönlich kennenlernen und etabliert dabei eine klare Rangordnung: das Trio Zola, Goncourt und Daudet. Das Treffen mit diesem scheitert. Am 19. Oktober vertröstete ihn Daudet auf den nächsten Tag, weil er zu viele Gäste hatte. Gamboa musste jedoch schon am 20. in den Süden Frankreichs reisen.481 Am 4. Oktober hatte er eine Audienz bei Zola, von dem er enttäuscht wurde. Gamboa beschreibt einen überheblichen, oberflächlichen Zola, dem der Besuch seines lateinamerikanischen Kollegen eigentlich völlig gleichgültig ist: „Aunque Zola se declara agradecido conózcole que se siente merecedor y digno de festejos y de elogios. En toda su conversación, ¡hélas!, poquísimas ideas, lugares comunes, respuestas de escaso interés: o sólo revela su genio cuando escribe, o mi visita, que a mí me significa tanto, a él maldito lo que le importa“ (Auch wenn sich Zola dankbar zeigt, erkenne ich, dass er sich würdig jeder Feierlichkeit und jedes Lobes hält. In seiner Konversation gibt es wenige Ideen, viele Gemeinplätze, uninteressante Antworten. Entweder zeigt er sein Genie nur, wenn er schreibt, oder mein Besuch, der mir so viel bedeutet, ist ihm vollkommen egal).482 Es handelt sich nicht um den von ihm idealisierten naturalistischen Romancier, sondern um einen Selbstdarsteller, der 476 477 478 479 480 481 482
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Gamboa, Mi diario, Bd. 5, S. 90. Gamboa, Mi diario, Bd. 5, S. 291f. Eintragung vom 27. Dezember 1911. Gamboa, Mi diario, Bd. 6, S. 390. Eintragung vom 10. August 1916. Gamboa, Mi diario, Bd. 7, S. 242. Der Text Salado Álvarez wurde 1945 unter dem Titel Tiempo Nuevo y Tiempo Viejo veröffentlicht, ist heute jedoch nur äußerst schwer zugänglich. Gamboa, Mi diario, Bd. 6, S. 363. Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 118f. Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 110.
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zugibt, die Bücher seiner spanischsprachigen Anhänger nicht zu lesen: „si supiera cuántos libros me llegan escritos en esa lengua, que yo ni abro siquiera ... Sólo leo en castellano, y eso con dificultades grandísimas, los artículos de diario en que hablan de mí“ (wenn Sie wüssten, wieviele Bücher in dieser Sprache ich bekomme, die ich nicht einmal öffne ... Ich lese nur auf Spanisch, und das mit größten Schwierigkeiten, die Zeitungsartikel, die von mir sprechen).483 Auch den Satz, den Zola in Gamboas Album einträgt, sieht der Mexikaner nur als verbrauchtes realistisches Stereotyp: „Une œuvre d’art est un coin de la nature vu à travers un temperament“ (Ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, mit den Augen eines Temperaments gesehen). Verläuft der Besuch bei Zola enttäuschend, so kommt Gamboa bei Edmond de Goncourt voll auf seine Rechnung. Der Autor des Journal stellt Überlegungen zu den mangelnden Fremdsprachenkenntnissen der französischen Schriftsteller an und führt diese überraschenderweise nicht auf die Überlegenheit ihrer Muttersprache zurück, sondern begründet sie wie folgt: „a nosotros los artistas nos dañan los idiomas extranjeros, que no debemos ni intentar el aprenderlos ... Las palabras del propio pierden entonces toda su personalidad, sus secretas armonías, sus ritmos ignorados, y se transmutan en equivalencias por lo general prosaicas, muy prosaicas“ (Uns Künstler schaden die Fremdsprachen derart, dass wir nicht einmal versuchen dürfen, sie zu lernen ... Die Wörter der eigenen verlieren dann ihre Persönlichkeit, ihre geheimen Harmonien, ihren unerkannten Rhythmus und sie werden normalerweise prosaisch, sehr prosaisch).484 Er spricht von seiner Freundschaft mit Daudet und ihrer gemeinsamen Abneigung gegenüber Zola, den Goncourt des Plagiats beschuldigt. Er erzählt Gamboa von Gavarni, den der Mexikaner mit Sicherheit sehr gut aus dem Journal kannte. Er berichtet über seine literarischen Projekte, um schließlich nach einer sehr entspannten zweistündigen Konversation folgenden Satz im Album Gamboas zu hinterlassen: „Un romancier n’est, au fond, qu’un historien des gens qui n’ont pas d’histoire“ (Ein Romancier ist im Grunde nichts als ein Historiker der Leute, die keine Geschichte haben).485 Gamboa hatte seine literarische Tendenz von Anfang an sehr klar definiert. Er wollte mit seinen realistischen Romanen ein Gegengewicht zu den ästhetisierenden Strömungen der Jahrhundertwende schaffen. Schon seine zweite Publikation war bezeichnenderweise ein autobiografischer Text: seine Jugenderinnerungen in Impresiones y recuerdos (1893). Die (Auto-)biografie darf ohne Zögern als der Eckpfeiler seines Werkes angesehen werden. Er ist sich auch darüber im Klaren, dass die radikalen Vorgaben des Zolaschen Naturalismus in Mexiko auf wenig Verständnis treffen würden und versucht daher eine abgeschwächte Form, für die sehr bald – wie schon erwähnt – der Terminus „sincerismo“ gefunden wird. Am 28. März 1893 berichtet er mit Genugtuung, dass die Kritik beginnt, ihn als von Zola emanzipierten Autor zu behandeln: „Recojo [...] la halagüeña opinión de que me he emancipado de Zola, mi maestro (¡y a muchísima honra!), y de que quizás se me considere, andando los años, propagador, en nuestra América, de una escuela literaria modernísima que se denominaría ‘sincerismo’“ (Ich empfange die erfreuliche Meinung, 483 484 485
Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 110. Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 112. Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 114.
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dass ich mich von Zola, meinem Lehrer (und mit viel Ehre!) emanzipiert habe, und dass ich mit den Jahren vielleicht zum Förderer einer völlig neuen literarischen Schule in unserem Amerika werde, die sich ‘sincerismo’ nennen würde).486 Das Selbsbewusstsein eines Schriftstellers, der einen Roman (Apariencias von 1892) veröffentlich hat und gerade dabei ist, einen Memoirentext auf den Markt zu bringen, überrascht auf den ersten Blick. Es relativiert sich jedoch, wenn man bedenkt, dass Gamboa in Mexiko tatsächlich als Gründer einer Schule betrachtet werden kann, da vor ihm kein Autor derart bewusst die Annäherung an den französischen Realismus gesucht hat.487 Die in Mexiko unbedingt nötige Anpassung des Genres wird aus einer etwas früher erzählten Episode besonders deutlich. Ein Freund berichtet Gamboa, er bekomme anonyme Briefe eines Homosexuellen mit sehr deutlichen Angeboten. Der Diplomat ist entsetzt: „Un verdadero emético la tal lectura, indecente, indecente; ¡aquello es de un enfermo que se revuelca en el limo pestilente de una perversión genésica!“ (Diese Lektüre ist ein wahres Brechmittel: unschicklich, unschicklich! Das ist von einem Kranken, der sich im stinkenden Schlamm einer genetischen Perversion wälzt!).488 Wenn er diese Episode in eines seiner Bücher aufnähme, würde ihn die Kritik der schwersten „desequilibrios morbosos“ (morbiden Schwindels) beschuldigen. Sein etwas zufällig entstandenes Programm des „sincerismo“ trägt dem Rechnung. Es handelt sich um einen Naturalismus „light“, der – wie auch im Falle Emilia Pardo Bazáns in Spanien – einen Schleier über all zu nackte Wahrheiten breitet. Gamboas Bestseller Santa bemüht sich folgerichtig um eine die Leser schonende Darstellung des Themas der Prostitution und der aus ihr hervorgehenden Krankheit Santas. Aus dem Tagebuch geht hervor, dass Gamboa im Jahr 1900 einer Hysterektomie beiwohnte, um sich für das Ende des Romans – Santa stirbt auf dem Operationstisch – zu dokumentieren. Jedoch fällt er noch lange vor Beendigung des Eingriffs in Ohnmacht und muss selbst von einer Krankenschwester versorgt werden.489 Die Beschreibung im Roman fällt denn auch sehr oberflächlich aus und erspart dem Leser medizinische Details. Gamboas Auseinandersetzung mit der mexikanischen Modernistengruppe verläuft zwiespältig. Ihre literarischen Vorlieben decken sich teilweise, erfahren jedoch sehr unterschiedliche Auslegungen. Für Tablada waren die Goncourts wesentliche Vertreter der Dekadenz. In einem bereits zitierten Text vom 15. April 1893 schreibt er über sie: „Los De Goncourt rompieron el yugo de los preceptos, se emanciparon del despotismo de los dogmas y asumieron el papel de verdaderos anarquistas. Su papel de anarquistas comprueba su carácter de decadentes“ (Die Goncourts brachen mit dem Joch des Präzepts, sie 486 487
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Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 66. Der Roman Tomóchic wurde 1893 in El Demócrata publiziert und sorgte wegen seiner naturalistischen Beschreibungen der Niederschlagung einer religiös motivierten Rebellion in der mexikanischen Provinz für einiges Aufsehen. Sein Autor jedoch, der Journalist Heriberto Frías, suchte – im Gegensatz zu Gamboa – nicht den Vergleich mit Zola, sondern schrieb einen Text, der viel eher den Kriterien einer breit angelegten Reportage mit eingestreuter Liebesgeschichte entspricht. Als historischer Roman Vorgänger von Tomóchic ist El cerro de las campanas von Juan A. Mateos, der 1867 die unmittelbar zurückliegenden Ereignisse beschreibt. Als realistische oder kostumbristische Autoren traten gegen Ende des 19. Jahrhunderts besonders José López Portillo y Rojas, Rafael Delgado und Micrós hervor. Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 59. Gamboa, Mi diario, Bd. 2, S. 152.
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emanzipierten sich vom Despotismos der Dogmen und nahmen ihre Rolle als wahre Anarchisten wahr. Ihre Rolle als Anarchisten bestätigt ihren Charakter als Dekadente).490 Anarchie bedeutet für Tablada den Individualismus betonen, was wiederum typisches Merkmal der Dekadenzliteratur sei. Selbst Zola erfährt bei dem Modernisten eine gleichsam ästhetisierende Interpretation. In einer aus dem Jahr 1891 stammenden Besprechung von Nana heißt es: Se acerca [Nana] seduciendo con el atavío, pero esconde el puñal, como esos vengadores italianos que en un baile de máscaras disfrazaban sus odios bajo un traje de arlequín. Nana es blanca por fuera y negra por dentro, como esas joyas de los Borgias cinceladas por Benvenuto, áureas y afiligranadas, pero que guardaban el filtro venenoso. (Nana nähert sich und verführt mit dem Schmuck, aber sie versteckt den Dolch, wie diese italienischen Rächer, die auf einem Maskenball ihren Hass mit einem Harlekinkostüm verkleideten. Nana ist außen weiß und innen schwarz, wie der von Benvenuto ziselierte Schmuck der Borgias: golden und filigran, aber er bewahrt den giftigen Filter auf.)491
Erstaunlicherweise scheint Tablada die ästhetische Verbrämung des Lasters bei Zola zu finden, während er deren Abwesenheit bei Gamboa beklagen wird. Eine Pariser Prostituierte ist ihrer mexikanischen Kollegin immer noch vorzuziehen. Gamboa seinerseits kann die Goncourts für den literarischen Realismus beanspruchen. Abgesehen von dem schon zitierten Bericht über seinen Besuch bei Edmond de Goncourt finden sich überraschend wenige direkte Verweise auf die Brüder im Tagebuch. Der ausführlichste schon am 9. August 1892: Termino la lectura de la Historia de María Antonieta de los Goncourt. Un primor el libro este; me ha hecho detestar la revolución y convencídome de que el fondo del pueblo francés es cruel y sanguinario. Los hermanos geniales llegan a llamarlo, al hablar del 10 de agosto, un pueblo de asesinos ... Y lo peor es que tienen razón en el desnudo calificativo. (Ich beende die Lektüre der Geschichte Marie Antoinettes der Goncourts. Ein großartiges Buch, es hat mich die Revolution hassen gelehrt und mich überzeugt, dass das französische Volk im Grunde grausam und blutdürstig ist. Die genialen Brüder kommen dazu, als sie vom 10. August sprechen, es als ein Volk der Mörder zu bezeichnen ... Und das Schlimmste ist, dass sie mit dieser nackten Qualifizierung Recht haben.)492
Gamboa führt keine ästhetisierende Lektüre durch, die möglicherweise von der Größe und „Schönheit“ der Verbrechen der Revolution gesprochen hätte; er rezipiert den Text der Goncourts als historisches Dokument, integriert ihn in die realistische Schule. Die abschreckenden Ereignisse der französischen Vergangenheit werden auch nicht mehr mit nationalistischen Absichten präsentiert, wie bei Altamirano, sondern als Fakten mitgeteilt, deren unmittelbare psychologische Wirkung auf ihren Rezipienten Gamboa analysiert und weitergibt. Eine derart unterschiedliche Auslegung derselben Autoren durch Tablada und Gamboa lässt auf Konflikte zwischen dem Autor von Santa und der Modernistengruppe
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José Juan Tablada, Crítica Literaria, S. 69. Tablada, Crítica literaria, S. 36. Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 36.
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schließen. Eine genaue Lektüre des Tagebuchs aus diesem Blickwinkel kann dies teilweise bestätigen. Gamboa hatte Zugang zu den Versammlungen um Jesús E. Valenzuela, den er als „chihuahuense que comenzó a tirar su fortuna a manos llenas“ (Mann aus Chihuahua, der sein Vermögen mit vollen Händen hinauswarf) bezeichnet, und der jetzt am Land lebe und die schönen Künste pflege.493 Aus dem engsten Kreis um die Revista Moderna trifft er insbesondere auf Balbino Dávalos und Julio Ruelas. Es lohnt sich, auf die Beschreibungen der beiden Figuren durch Gamboa mit Nachdruck hinzuweisen. Ruelas sei ohne Zweifel ein sehr talentierter Künstler, dessen übersensibler Charakter jedoch gefährlich sei. Gamboa sieht in ihm „esencialmente un atormentado“ (im Wesentlichen einen Gepeinigten). Seine Zeichnungen folgen den Fantasien eines Dante, Edgar Allan Poe oder Baudelaire: mujeres que sonríen mientras a su vista se despedazan los cortejos enfurecidos: sujetas con cadenas implacables, madres desventuradas que presencian cómo canes hambrientos y flacos devoran a sus hijos, florecillas de carne sonrosada que patalean y lloran ante las dentelladas feroces; artistas que se arrojan a simas de infierno y de desesperanza; una obra que lo sobrevivirá, que lastima la vista y el espíritu pero que revela gran posesión de la técnica e imaginación a todas luces excepcional y alta. (Frauen, die lachen, während sich vor ihren Augen die wütenden Liebhaber zerstückeln: mit unerbittlichen Ketten gefesselt müssen unglückliche Mütter zusehen, wie hungrige und dürre Hunde ihre Kinder verschlingen, Blümchen aus rosafarbenem Fleisch, die vor den wilden Gebissen strampeln und weinen; Künstler, die sich in Abgründe der Hölle und der Verzweiflung stürzen; ein Werk, das ihn überleben wird, das dem Blick und dem Geist weh tut, aber das eine große Beherrschung der Technik und eine offensichtlich außerordentliche und hohe Fantasie offenbart.)494
Gamboa muss die technische Perfektion des Zeichners anerkennen, wenn er auch mit dessen Sujets durchaus nicht einverstanden ist. Poe, Barbey d´Aurevilly und Baudelaire als Vorbilder des Malers gehören zum modernistischen Lektürekanon. Dass auch Gamboa sie las, scheint nahe zu liegen, dass er sie jedoch nicht in seinen Kanon einschloss, geht aus ihrer Randstellung im Tagebuch hervor. Bei Balbino Dávalos fällt auf, dass Gamboa nicht auf dessen Werk eingeht, sondern sich ganz auf eine minutiöse Beschreibung seines Äußeren konzentriert: es anguloso y de carnes escasas; de inquisitiva y fija mirada de miope que perfora los cristales de sus lentes y diríase que se clava en las entrañas de sus interlocutores; sus manos ofrecen vida propia y rara, como de animales inteligentes y flacos que estuvieran siempre en busca de calor y siempre en acecho; indistintamente pudiera tomárselas por manos de mago o de noble italiano del Renacimiento; parece que hubieran recorrido muchas morbideces, muchos objetos de arte, muchos documentos antiguos y frágiles, y, ¡Dios me lo perdone!, hasta algunos cuerpos humanos que sucumbieran a tósigos de Médicis y a torturas inconfesables. (er ist eckig und hat wenig Fleisch; ein forschender und fester Blick des Kurzsichtigen, der die Gläser seiner Brille durchbohrt und sich in den Eingweiden seines Gesprächspartners festsetzt; seine Hände haben ein eigenes und seltsames Leben, wie von intelligenten und dürren Tieren, die immer die Wärme suchen und immer auf Lauer sind; man könnte sie für die Hände eines Magiers oder eines italienischgen Adligen der Renaissance halten. Es scheint, dass sie viel Morbides, viele Kunstobjekte, viele alte und zerbrechliche
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Gamboa, Mi diario, Bd. 2, S. 25. Gamboa, Mi diario, Bd. 2, S. 26f. Die hier von Gamboa beschriebenen Darstellungen lassen besonders an die Erzählungen Barbey d´Aurevillys denken.
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Dokumente und – Gott möge mir verzeihen! – auch einige menschliche Körper berührt haben, die durch die Gifte der Medicis und unsagbare Foltern gefallen sind.)495
Gamboa stellt Dávalos, ebenso wie Ruelas, eindeutig in den Kontext der Dekadenz, folgt jedoch dabei selbst einem dekadenten Modell: Huysmans. Das Nahverhältnis Huysmans zu Zola lässt ein derartiges Modell logisch erscheinen. Dass Gamboa mit einiger Sicherheit die Technik der Bildbeschreibung aus À rebours entnahm, sowie die körperliche Beschaffenheit Dávalos an Des Esseintes erinnert, macht die zitierten Texte zu ironischen Passagen, in denen Gamboa subtile Kritik an den Modernisten mit deren eigenen Waffen übt.496 Nur wenig später gestaltet sich Gamboas Ablehnung der modernistischen Ästhetik viel direkter. Am 24. März 1900 reproduziert er einen Brief Domingo Estradas,497 der sich sehr lobend zu den Romanen Gamboas äußert und gleichzeitig den Einfluss der Dekadenzliteratur in Lateinamerika scharf kritisiert: „Fulanito hace un verso, y sin más ni más, un crítico eminente lo compara con Goethe y Víctor Hugo; Menganote medio imita, medio plagia, en un español dudoso, a los decadentes franceses, y por ello lo proclaman escritor genial, gloria de su patria, & &“ (Jemand macht einen Vers und einfach so vergleicht ein wichtiger Kritiker ihn mit Goethe und Victor Hugo. Ein anderer imitiert oder kopiert, in zweifelhaftem Spanisch, die französischen Dekadenten und dafür wird er genialer Schriftsteller, Ruhm seines Vaterlandes usw. genannt).498 Gamboa distanziert sich von den Modernisten, von ihrer Ablehnung der realen sozialen Begebenheiten, von ihrer apolitischen Haltung, die im Regime Porfirio Díaz die ideale Regierungsform für die künstlerische Produktion sah, weil es – sehr an der Oberfläche – den sozialen Frieden garantierte und die Schriftsteller in 495 496
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Gamboa, Mi diario, Bd. 2, S. 27. Zum Vergleich hier die erste knappe Beschreibung Des Esseintes in À rebours: „De cette famille naguère si nombreuse qu’elle occupait presque tous les territoires de l’Ile-de-France et de la Brie, un seul rejeton vivait, le duc Jean, un grêle jeune homme de trente ans, anémique et nerveux, aux joues caves, aux yeux d’un bleu froid d’acier, au nez éventé et pourtant droit, aux mains sèches et fluettes“ (Von dieser Familie, die einst so zahlreich war, dass ihr fast alle Besitzungen der Provinzen Ile-de-France und Brie gehörten, lebte noch ein einziger Nachkomme, der Herzog Jean, ein hagerer junger Mann von dreißig Jahren, anämisch und nervös, mit hohlen Wangen, kalten stahlblauen Augen, aufwärtsgerichteter, aber gerader Nase und trockenen, zarten Händen; Joris Karl Huysmans, À rebours, Paris: Garnier-Flammarion, 1978, S. 61, deutsche Übersetzung von Hans Jacob, S. 54). In seiner Schilderung des berühmten Salomé-Bildes von Gustave Moreau, dem er praktisch das ganze fünfte Kapitel des Romans widmet, und der eines der erklärten Vorbilder Ruelas war, fällt auf, wie sehr Huysmans das Gemälde dynamisiert, eine Technik, die Gamboa in seinen Beschreibungen von dem Franzosen übernommen haben könnte. Hier ein kleiner Ausschnitt: „Dans l’odeur perverse des parfums, dans l’atmosphère surchauffée de cette église, Salomé, le bras gauche étendu, en un geste de commandement, le bras droit replié, tenant à la hauteur du visage, un grand lotus, s’avance lentement sur les pointes, aux accords d’une guitare dont une femme accroupie pince les cordes“ (Im perversen Duft der Wohlgerüche, in der überhitzten Atmosphäre dieser Kirche nähert sich Salome, langsam, auf Fußspitzen, zu den Akkorden einer Gitarre, in deren Saiten eine hingekauerte Frau greift: wie befehlend streckt Salome den linken Arm aus, der rechte ist gebeugt und hält in der Höhe ihres Antlitzes eine große Lotosblume; S. 105, deutsch S. 127). Gamboa lernte den Guatemalteken Estrada (1858-1901) in Paris kennen. Er trat v. a. durch einen Essay über José Martí und durch seine Übersetzungen Edgar Allan Poes hervor (Vgl. Max Henríquez-Ureña, Breve historia del modernismo, S. 397). Gamboa, Mi diario, Bd. 2, S. 144.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
Ruhe arbeiten ließ, solange sie eben dieses Regime nicht in Frage stellten. Gamboa war ebenfalls überzeugter Anhänger Don Porfirios und brachte es als Botschafter und Außenminister zu höchsten politischen Ehren,499 aber gerade seine rückhaltlose Verehrung für den großen Staatsmann Porfirio Díaz, die ihn mit Valenzuela eint, veranlasst ihn noch vor der Revolution, das mangelnde gesellschaftliche Gewissen der Modernisten bloßzustellen. Der Eintrag vom 8. Juni 1909 ist eine lange Liste von mexikanischen Freiheitshelden aus mehreren Epochen, die er vor „nuestros ingratos olvidos ‘modernistas’“ (unserem undankbaren modernistischen Vergessen) bewahren möchte.500 Auch wenn Gamboa hier das Wort „modernista“ in keinem konkreten literarischen Sinn anwendet, scheint mir die Zielrichtung seiner Äußerung doch eindeutig zu sein. Im Exil verdeutlicht er diese Haltung. Am 9. Juni 1916 attackiert er eine Art von Schriftstellern, die „corsarios de la pluma“ (Piraten der Feder), die politische Überzeugungen möglichst lukrativen Arbeitsbedingungen opfern und daher immer auf der Seite der „Macht“ stehen wollen. Bezeichnenderweise finde sich diese Position besonders in Frankreich: Su sede principal radica en París, pero dispone de sucursales y corresponsales en toda Europa y en toda América. Su naturaleza es esencialmente cosmopolita; sus estatutos, tácitos e implacables; su finalidad, vivir ampliamente del chantage político, del chantage literario, del chantage artístico, del chantage social, de todos los chantages; vivir de la adulación, vivir de la mentira. Es una asociación tenebrosa y peligrosa; crea y destruye reputaciones y honras; sus miembros hieren y aun matan con la pluma, la espada y la pistola, indistintamente, pues indistintamente manejan las tres armas con desenfado y maestría. En la nómina de sus socios figuran hasta celebridades relativas y fugaces; juventudes torcidas, madureces envidiosas, despechadas ancianidades; poetas, novelistas, cronistas, sociólogos y revolucionarios. Plantas malogradas que suelen producir, dentro de su ponzoña y entre sus espinas, flores de belleza y frutos dignos de la admiración y del aplauso ... (Ihr Hauptsitz ist Paris, aber sie haben Zweigstellen und Korrespondenten in ganz Europa und Amerika. Ihre Natur ist wesentlich kosmopolitisch, ihre Statuten sind heimlich und unerbittlich. Ihr Ziel ist es, aus der Fülle von der politischen, literarischen, künstlerischen, sozialen Erpressung, von allen Erpressungen zu leben; von der Anbetung, von der Lüge zu leben. Es ist eine finstere und gefährliche Vereinigung. Sie schafft und zerstört Ruf und Ehre, ihre Mitglieder verletzen und töten sogar mit der Feder, dem Schwert, der Pistole, gleich womit, da sie die drei Waffen mit gleicher Ungezwungenheit und Meisterschaft beherrschen. In der Gehaltsliste ihrer Mitglieder gibt es sogar relative und flüchtige Berühmtheiten, krumme Jugend, neidische Reife und abgefertigtes Alter: Dichter, Romanciers, Chronisten, Soziologen und Revolutionäre. Misslungene Pflanzen, die inmitten ihres Gifts und ihrer Dornen Blumen der Schönheit und der Bewunderung und des Beifalls würdige Früchte hervorbringen ...)501
Trotz dieser unmissverständlichen Anspielung auf die finisekulären Ästheten, die allerdings zu Lebzeiten Gamboas nicht veröffentlicht wurde, kann man aus dem Tagebuch – sieht man 499
500 501
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Als Außenminister scheute Gamboa keinen Konflikt mit dem US-Präsidenten Wilson, dem er in einer Note Einmischung in fremde Angelegenheiten vorwarf. Ende 1913 kandidierte der Autor von Santa für den Partido Católico um das Präsidentenamt. Salvador Díaz Mirón führte eine Pressekampagne gegen den „Pornografen“ Gamboa, der schließlich in manipulierten Wahlen Victoriano Huerta unterlag und kurz darauf zuerst in die USA und dann nach Kuba ins Exil gehen musste. Tagebucheintragungen für die in Frage stehenden Monate fehlen. Ich verweise auf die Zusammenfassung dieser Zeit durch Pacheco im sechsten Band von Mi diario, S. 132ff. Gamboa, Mi diario, Bd. 5, S. 25. Gamboa, Mi diario, Bd. 6, S. 368.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
von dem ausschließlich politisch motivierten Konflikt mit Díaz Mirón ab – keinen offenen Disput mit einem der Mitglieder der Modernistengruppe ablesen. Erst ein Vergleich mit dem Tagebuch Tabladas lässt die Meinungsverschiedenheiten, besonders in künstlerischen Belangen, offen zu Tage treten. Gamboa war am 28. August 1910 im Haus Tabladas in Coyoacán zu Gast. Er fällt ein durchaus positives Urteil über die Person des modernistischen Dichters, der ihm schließlich sogar aus seinem in Vorbereitung befindlichen Tagebuch vorliest.502 Der Autor von Santa betont andererseits die Tendenz Tabladas zu starken Drogen und seine künstlerische Anpassungsfähigkeit, die ihm aber letztendlich nebensächlich erscheint, da er immer ein „französischer“ Autor bleibe.503 Der Ablehnung der Ästhetik des Modernisten steht der Versuch gegenüber, ein gutes persönliches Verhältnis zu bewahren: Gamboa ist und bleibt Diplomat. Ganz anders Tablada, der in seinem Tagebuch kein Geheimnis aus seiner Abneigung gegenüber Gamboa macht. Er kritisiert dessen Stil als „descarnada y anarquista“ (fleischlos und anarchistisch)504 und spart nicht mit persönlichen Beleidigungen. Am 7. Oktober 1905 trifft er Gamboa im Atelier des Bildhauers Jesús Contreras.505 Gamboa steht wegen des immer deutlicher werdenden Erfolgs von Santa im Zentrum der Aufmerksamkeit. Tablada vertraut seinem Tagebuch seine tief sitzende Verachtung für den realistischen Autor an, wovor er in seiner Besprechung Santas noch zurückschreckte. Der Passus sei wegen seiner schwer zu überbietenden Schärfe zur Gänze zitiert: Y mientras hablo con Gedovius, oigo frases de romanticismo insoportable en que Gamboa le da satisfacciones al mioche por su vida pasada; en que explica el mal (¿cuál?) que hizo por el baboseado atavismo; en que le dice a su mujer „aparición salvadora“ y otras ineptitudes y ternezas de reblandecido del mismo jaez ... Arrepentimiento banal, como sus banales correrías por burdeles y tabernas, en compañía de toreros y golfos; toda esa vida nauseabunda con que Gamboa hizo su Santa, ese librazo soez, de ínfimo estilo, de criterio de picapedrero, ese libro que deja crudo al que lo acaba de leer ... ¿Pondrá Gamboa en su diario la brutal verdad de Juan Jacobo en sus Confesiones o el arte, la sutil psicología, el alma aristócrata de los De Goncourt? ¿Se cree Gamboa un Verlaine pecador e iluminado y reputa que su vicio de hortera y su arrepentimiento de sacristán sean estados de alma o exteriorizaciones artísticas dignas de publicarse? Pose! pose! pose! ¡Y esa megalomanía, carácter invariable, avatar y sello de todo matoide nacional! (Und während ich mit Gedovius spreche, höre ich unerträglich romantische Sätze, mit denen Gamboa dem Kind für sein vergangenes Leben Rechtfertigungen gibt; mit denen er das begangene Übel (welches?) durch einen speichelhaften Atavismus erklärt; mit denen er zu seiner Frau „wilde Erscheinung“ und andere Dummheiten und aufgeweichte Zärtlichkeiten dieser Art sagt... Banale Reue, so wie seine Streifzüge durch Bordelle und Spelunken, begleitet von Stierkämpfern und „Aufreißern“, banal sind. Dieses ekelhafte Leben, aus dem Gamboa seine Santa fertigte, diesen niederträchtigen Schinken, der in einem minderwärtigen Stil, mit dem Kriterium eines Steinbrechers geschrieben ist, dieses Buch, das dem, der es gerade gelesen hat, einen Kater verschafft ... Wird Gamboa in sein Tagebuch die brutale Wahrheit Jean Jacques in seinen Confessions
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Gamboa, Mi diario, Bd. 5, S. 122. Gamboa, Mi diario, Bd. 5, S. 123. Tablada, Diario (1900-1944), S. 31. Tablada hat offenbar vergessen, dass er den Terminus „anarquista“ im Zusammenhang mit den Goncourts noch als positiv besetztes Synonym für „modernista“ verwendet hatte. Contreras war eines der sozialen Zentren der mexikanischen Intellektuellen. Er stand Gamboa sehr nahe, versammelte aber auch eine Reihe modernistischer Künstler und einflussreicher Politiker um sich. Auf der erwähnten Versammlung waren neben Tablada und Gamboa auch Justo Sierra und Luis G. Urbina, sowie der Vizepräsident Ramón Corral anwesend.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
oder die Kunst, die feine Psychologie, die aristokratische Seel der Goncourts aufnehmen? Glaubt Gamboa, ein sündiger und erleuchteter Verlaine zu sein und schätzt er, dass sein Suppennapflaster und seine Messdienerreue Seelenzustände oder künstlerische Äußerungen sind, die es verdienen, publiziert zu werden? Pose! Pose! Pose! Und diese Großmannsssucht, die der unvermeidliche Charakter, das Schicksal und der Siegel eines jeden nationalen Raufbolds sind!)506
Tablada interpretiert die realistische Theorie Gamboas, den von Zola übernommenen Begriff der Milieuabhängigkeit, der bei Gamboa zum primitiven Atavismus degradiert wird, als oberflächliche Pose. Sein Stil sei minderwertig, nicht literarisch. Der Autor, der die modernistische Ästhetik radikaler als jeder andere vertrat, geht auch am deutlichsten auf Distanz zu ästhetischen Gegenströmungen, die er, sofern sie nicht den „reinigenden“ Stempel Frankreichs tragen, als kunstfeindlich – und damit „bürgerlich“ – betrachten muss. Damit Hand in Hand geht natürlich eine sehr unterschiedliche Position der beiden Autoren dem intellektuellen Pariskult gegenüber. Während Tablada – wie gezeigt wurde – in einer poetischen Illusion der französischen Hauptstadt gefangen bleibt, sich selbst und dem Modernismo ein fiktives Bild von der Ciudad Luz bewahren möchte, steht Gamboa der ästhetischen Illusion ablehnend gegenüber, besser gesagt, erkennt sie als solche. Er stellt am 22. Februar 1904 fest: „Dígase lo que se quiera, es incurable en los hispanoamericanos – y más en los que somos escritores – el culto a Francia intelectual, y a París principalmente“ (Man kann sagen, was man möchte: unter den Spanischamerikanern, besonders bei denen, die wir Schriftsteller sind, ist der Kult für das intellektuelle Frankreich, und für Paris besonders, unheilbar).507 Das Wort „incurable“ ist in diesem Kontext sehr bezeichnend. Gamboa lehnt den französischen Einfluss keineswegs ab, was er als „unheilbar“ empfindet ist die ohne kritische Hinterfragung ablaufende Verehrung alles Französischen, die er –und hier dreht er erneut die Argumente Tabladas um- mit der unüberlegten Übernahme des nordamerikanischen Lebensstils und der aggressiven Politik der USA gegenüber Mexiko in einen Zusammenhang bringt. Frankreich und Mexiko befinden sich demnach in der gleichen Situation: Das europäische Land muss sich gegen ein immer selbstsicherer auftretendes Deutschland behaupten, Mexiko wird von den imperialistischen USA bedroht, die fremde Interessen noch weniger berücksichtigen als Preußen.508 Mit anderen Worten: Gamboa liest auch den politischen Teil der französischen Zeitungen, nicht nur ihr Feuilleton, und kann daher den irreführenden Charakter der ästhetischen Illusion erkennen. Diese Einsicht führt ihn auch zur Vorstellung einer – im Sinne Gibbons, Nietzsches oder auch Spenglers – tatsächlich dekadenten französischen Kultur. Am 18. Juli 1909 spekuliert er über ein „manifiesto cansancio“ (offenbare Erschöpfung) Frankreichs, den er darauf zurückführt, zu viel gelebt zu haben: „guerras, voluptuosidad, intemperancia de siglos en el comer y el beber, etcétera, etcétera“ (Kriege, Wollust, jahrhundertealte Maßlosigkeit beim Essen und Trinken usw.).509 Dem stellt er das Robuste und Gesunde des spanischen Charakters gegenüber. Das Land sei zwar nicht jünger als Frankreich, aber: „¿Acaso los 506 507 508 509
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Tablada, Diario (1900-1944), S. 64f. Gamboa, Mi diario, Bd. 3, S. 228. Gamboa, Mi diario, Bd. 3, S. 229. Gamboa, Mi diario, Bd. 5, S. 35.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
españoles habrán sido menos jouisseurs que sus vecinos, más abstenios, más castos, más austeros?“ (Vielleicht waren die Spanier weniger Genießer als ihre Nachbarn, abstinenter, enthaltsamer, nüchterner?).510 Gamboa kehrt scheinbar zu einer Tendenz zurück, die Jahrzehnte zuvor der ersten mexikanischen Romantik und dem Renacimiento Altamiranos eigen war: die unbedingte Aufwertung des alten Kolonialherrn gegenüber Frankreich, eine Verehrung der „madre patria“ an der Stelle des Pariskults.511 Allerdings stellt Gamboa den Kontrast Spanien-Frankreich in einen weiteren, sehr modernen Kontext: den der beschleunigten Kommunikation zu Beginn des 20. Jahrhunderts, einer Art verfrühten Globalisierung. Am 5. Juli 1913 gibt er die Ideen des englischen Historikers Bodley512 wieder, die er paradoxerweise über den französischen Figaro rezipierte. Es heißt dort u.a.: Aún hay que considerar la rapidez creciente de medios de comunicación, lo que por todas partes tiende a debilitar las características nacionales y a hacer homogénea la civilización en todos los países. Es ejemplo elocuente en este orden de ideas la transformación de la prensa, el periódico de información se ha convertido en omnipotente. Sus hojas presentan idénticos rasgos característicos en todos los lugares civilizados del globo. Sólo diferéncianse entre sí en el idioma de los países respectivos. Son el producto de una mentalidad internacional, resultante de la edad mecánica. (Man muss noch die wachsende Geschwindigkeit der Medien berücksichtigen, die überall die nationalen Eigenschaften abschwächen und die Zivilisation in allen Ländern homogen machen. Die Verwandlung der Presse ist ein eloquentes Beispiel dafür, die informative Zeitung ist allmächtig geworden. Ihre Seiten weisen die gleichen Charakteristika an allen zivilisierten Orten des Globus auf. Sie unterscheiden sich nur durch die Sprache der jeweiligen Länder. Sie sind das Produkt einer internationalen Mentalität, das Ergebnis eines mechanischen Zeitalters.)513
Eine beschleunigte, internationalisierte intellektuelle Kommunikation lässt natürlich auch die Konzentration auf eine Kultur als obsolet erscheinen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass der Modernismo selbst seinen kulturellen Kosmopolitismus betonte, dass jedoch die konkrete Rezeption fremder Kulturen meist – wie im Falle Nietzsches gezeigt wurde – über einen französischen Filter verlief. Gamboa dürfte diesem Zwang kaum entkommen sein, erkennt aber zumindest das Problem des Galozentrismus, dem sich die Modernisten – wie u. a. Rubén Darío klar erkannt hatte – nur zu gerne auslieferten. Ein bescheidener Paradigmenwechsel innerhalb der Rezeption europäischer Literatur in Lateinamerika kündigt sich damit an,514 den Gamboa selbst jedoch kaum vollzogen hat. Ein Blick auf die am häufigsten im Tagebuch vertretenen Autoren kann dies bestätigen. Die französische Literatur nimmt auch bei Gamboa mit großem Abstand die privilegierteste Position ein. Der Mexikaner verweist zwar mehrmals auf die realistischen 510 511 512 513 514
Gamboa, Mi diario, Bd. 5, S. 35. Bezeichnenderweise war Spanien immer das Wunschland des Diplomaten Gamboa. Außer einer kurzen Mission im Jahr 1911 erhielt er jedoch nie eine Stelle in Madrid. John Edward Courtney Bodley (1853-1925) stand Oscar Wilde nahe. Gamboa bezieht sich sehr wahrscheinlich auf den 1912 publizierten Text The decay of idealism in France. Gamboa, Mi diario, Bd. 6, S. 108. Ein Paradigmenwechsel, der in Mexiko erst in den letzten Jahrzehnten voll zum Tragen kam. Der unerwartete Boom der österreichischen Literatur um Schnitzler und Roth, des finis Austriae, die Verkaufserfolge Patrick Süskinds und Christoph Ransmayrs legen Zeugnis davon ab.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
„Klassiker“ aus Russland und Spanien: Tolstoi, Dostojewskij und Gogol, sowie Pérez Galdós an erster Stelle; er belegt mit einigen Einträgen seine Goethe-Lektüre, er verweist auf englische und nordamerikanische Autoren515 (Poe und Whitman); im Mittelpunkt seines Interesses bleibt jedoch der französische Realismus und Naturalismus. Vier Namen sind es in erster Linie, die immer wieder Erwähnung finden: Zola, Goncourt, Bourget und Flaubert. Lektüren dieser Autoren begleiten ihn über Jahrzehnte hinweg. So erwähnt er Bourget erstmals am 31. März 1896 als Autor für „stille“ Momente: „Luego de hojear un libro de Bourget, sus Mensonges que para mí no han de envejecer, instalado en el rincón predilecto de mi gabinete y a la luz escasísima del crepúsculo, sin nadie que encienda mi lámpara“ (Nach dem Blättern in einem Buch Bourgets, seine Mensonges, die für mich nicht altern werden, in der Lieblingsecke meines Zimmers installiert, mit dem spärlichen Licht der Abenddämmerung, niemand, der die Lampe anzünden würde).516 In einer späteren Phase wirft er dem Autor von Le Disciple, genauso wie auch Pérez Galdós, übertriebene Kommerzialisierung bei der Abfassung seiner Bücher vor, etwa am 25. Juli 1915: „lectura continuada de Le démon du midi (el demonio meridiano de la Biblia), por Paul Bourget, quien al igual que don Benito, en sus libros últimos hace más mercantilismo que arte“ (fortgesetzte Lektüre von Le démon du midi (der Mittagsdämon der Bibel) von Paul Bourget, der – wie don Benito – in seinen jüngsten Büchern mehr Merkantilismus als Kunst betreibt).517 Wenig später, am 28. Juli, beendet er die Lektüre und verweist auf das Schlußkapitel, das er als „magistralísimo“ (äußerst meisterhaft) bezeichnet, wenn es auch durch „una moraleja innecesaria y conserjil“ (eine unnötige und hausmeisterliche Moral) gestört werde, die nicht mehr den Vorgaben des französischen Realismus entspricht.518 In einer der letzten Eintragungen in sein Tagebuch kehrt Gamboa noch einmal zu Bourget zurück, diesmal wieder im Sinne der ersten Erwähnung von 1896: Bourget wird zu einem Lebensratgeber stilisiert. Am 6. November 1937 reflektiert der 73-jährige Gamboa über sein leidenschaftsloses Alter und zieht als Beleg den französischen Romancier heran: „Paul Bourget lo ha dicho en una frase feliz: ‘El corazón humano no está conformado para amar ni para odiar eternamente’“ (Paul Bourget hat es in einem geglückten Satz gesagt: ‘Das menschliche Herz ist nicht dazu gemacht, auf ewig zu lieben oder zu hassen’).519 Man darf nicht vergessen, dass Gamboa schon 1913 mit dem in Spanien publizierten Roman La llaga seine literarische Karriere praktisch beendet hatte520. Auch wenn er sich danach mehrmals als Theaterautor versuchte, in diversen literarischen Akademien und tertulias aktiv war,521 sowie seine Tätigkeit als Kritiker und Kulturjournalist für verschiedene Zeitungen und 515
516 517 518 519 520 521
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Gamboas Englischkenntnisse waren ausgezeichnet, nicht zuletzt dank langjähriger USA-Aufenthalte, v. a. zwischen 1903 und 1906 als Botschaftssekretär und dann Verantwortlicher der mexikanischen Botschaft in Nordamerika. Wie erwähnt zog er aber für russische und deutsche Literatur französische Übersetzungen vor. Gamboa, Mi diario, Bd. 1, S. 178. Gamboa, Mi diario, Bd. 6, S. 267. Gamboa verfolgte die literarische Karriere Bourgets: Mensonges erschien 1888, Le démon du midi im Jahr 1914. Gamboa, Mi diario, Bd. 6, S. 267f. Gamboa, Mi diario, Bd. 7, S. 351. Seine sehr hohen politischen Positionen zuerst, die schwierige Lage im kubanischen Exil danach waren hauptverantwortlich für diesen Verzicht auf die Literatur. 1923 löste er José López-Portillo y Rojas als Direktor der Academia Mexicana de la Lengua ab.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
Zeitschriften bis an sein Lebensende fortsetzte, müssen seine späteren Stellungnahmen zur französischen Literatur als die eines nur passiven Lesers und nicht als die eines am Literaturbetrieb beteiligten Autors interpretiert werden. Gamboa kann demnach auf Rückschlüsse auf seine eigene Arbeit verzichten und sich auch unausgewogene, „unkritische“ Urteile erlauben. Ein drastisches Beispiel findet sich am 16. Mai 1913, als er, in Belgien lebend, über Maurice Maeterlinck folgendes Urteil fällt: En la Monnaie anoche, a ver el culebrón de Maurice Maeterlinck Marie Magdalaine; una irrefutable demostración de que la bandera salva la mercancía así sea ésta manida y buena para nada./Maeterlinck, consagrado ya por París – único consagrador en el universo –, actúa como celebridad literaria, y es libre de frangollar lo que le plazca. En el caso actual, reputo su María Magdalena de manifestación egolátrica de megalomanía casi sacrílega: quiso meterse con Dios, pero tratándolo con d minúscula, a la pagana: y su pieza resultó un aborto. (Heute Nacht in der Monnaie, um das Hintertreppenstück Marie Magdalaine von Maurice Maeterlinck zu sehen;.ein Beweis dafür, dass das Etikett die Ware rettet, auch wenn diese abgestanden und zu nichts gut ist./Der schon von Paris, dem einzigen Heiligsprecher im Universum, geweihte Maeterlinck handelt wie eine literarische Berühmtheit und es steht ihm frei zu pfuschen, was er möchte. Im aktuellen Fall schätze ich seine Maria Magdalena als die egozentrische Offenbarung eines fast gotteslästerlichen Größenwahns ein. Er wollte sich mit Gott messen, aber er behandelt ihn mit kleinem d, wie ein Heide: und sein Stück ist ein Auswurf.)522
Gamboa stellt hier einerseits die künstlerische Autorität der französischen Hauptstadt in Frage und lehnt andererseits die von den Modernisten immer wieder betonte ästhetische Konstante einer privilegierten Stellung des Künstlers ab. Maeterlinck war nicht umsonst einer der in der Revista Moderna meist besprochenen französischsprachigen Autoren. In seiner literarisch aktivsten Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts offenbaren sich auch bei Gamboa im Rückblick der ästhetische Selbsbetrug und die unüberlegte Verehrung für alles Französische. Am 8. Februar 1908 stirbt Ángel de Campo, der unter dem Pseudonym „Micrós“ u. a. für die Revista Azul eine Reihe kostumbristischer Chroniken und Miniaturen verfasste. Gamboa erinnert sich daran, dass er zusammen mit „Micrós“ um 1885 in der mexikanischen Presse debütierte und einige gemeinsam geschriebene Artikel als Bouvard et Pécuchet zeichnete. Tatsächlich las Gamboa das Werk Flauberts erst im Jahr 1902 und beurteilte es äußerst negativ: „Honda desilusión la que sufro con la lectura de Bouvard et Pécuchet, obra póstuma de mi admiradísimo Gustavo Flaubert. Creo en mi ánima que si la novela luciese firma distinta, pocos leeríanla y menos aplaudiríanla. Vaya un libro más tedioso y más estrafalario y más feúcho“ (Tiefe Enttäuschung bei der Lektüre von Bouvard et Pécuchet, ein posthumes Werk meines bewunderten Gustave Flaubert. Ich glaube, dass, wenn der Roman einen anderen Namenszug tragen würde, ihn wenige lesen und noch weniger loben würden. Was für ein langweiliges, verschrobenes und hässliches Buch).523 Gamboa war ohne Zweifel als 20-Jähriger dem Pariskult genauso verfangen wie die modernistischen Autoren. Der Name Flaubert genügte, um ein ihm völlig unbekanntes Werk zu einem Mythos werden zu lassen, dem er sogar seine literarische Identität anvertraute. Die Korrektur erfolgte später, als der „sincerista“ Gamboa die tatsächliche Lektüre522 523
Gamboa, Mi diario, Bd. 6, S. 89. Gamboa, Mi diario, Bd. 3, S. 93.
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Die Entstehung modernistischer Ästhetik
erfahrung drastisch realistisch als hässlich einstuft und damit die ästhetische Illusion des Modernismo um Frankreich sehr radikal aufbricht. Ähnliches lässt sich auch für Zola zeigen, der zwar einerseits immer wieder als Lehrer, als „maestro“, angesprochen wird, von dem Gamboa stolz behauptet, sein Gesamtwerk auf Französisch zu besitzen,524 dem er aber in der persönlichen Begegnung sehr reserviert gegenübersteht, und dessem Roman Verité er am 6. April 1903 ein vernichtendes Urteil ausstellt:525 Acabo de leer, Verité, de Emilio Zola./Decididamente, no es un „evangelista“, aunque haya intentado escribir nada menos de tres; apenas si llega a predicador laico de socialismo corriente ... Y me cuesta, ¡vaya si me cuesta!, estampar estas cosas tratándose del para mí respetadísimo y bien amado maestro, y agregar que es éste el único libro suyo – y cuenta que he leído y aún poseo como un blasón su íntegra obra magna – que no luce ni una página siquiera impregnada de aquel gran arte que tanto abunda en sus producciones anteriores./¡Qué lástima que en esta vez el sectario ahogara al artista! (Ich habe gerade Verité von Émile Zola gelesen./Er ist entschieden kein „Evangelist”, auch wenn er versucht hat, nicht weniger als drei zu schreiben. Er bringt es gerade zum Laienprediger eines vulgären Sozialismus ... Und es fällt mir schwer – und wie es mir schwer fällt! – diese Dinge festzulegen, wo es sich um den von mir hoch geschätzten und geliebten Meister handelt. Ich füge hinzu, dass es das einzige seiner Bücher ist – und ich habe alle gelesen und besitze sogar, wie ein Wappen, sein ganzes großartiges Werk –, das nicht einmal eine Seite hat, die mit dieser großen Kunst, die in seinen früheren Produktionen so überwiegt, getränkt ist./Wie schade, dass diesmal der Sektierer den Künstler erstickt!)526
Gamboa geht sehr bewusst, trotz aller Verehrung für Zola, auf Distanz zu seinem großen Vorbild, das „sozialistische“ Engagement Zolas passt zweifelsohne nicht in sein porfirianisches Weltbild. Er vermeidet damit erneut die ästhetische Illusion, den Selbstbetrug der Modernisten, die glaubten, außerhalb des sozialen Umfeldes ihrer Zeit leben und schreiben zu können. Die Prämissen sind die gleichen (das Porfiriat), die Schlussfolgerungen sehr unterschiedlich. Wenn man die Regeln Pierre Bourdieus anwendet,527 so scheinen sich die modernistischen Autoren in ihren Werken auf die Seite des symbolischen Kapitals zu stellen, da sie mit ihren antibürgerlichen und elitären Haltungen den politisch und wirtschaftlich dominanten Gruppen des Porfiriats widersprechen. Der Widerspruch ist jedoch nur scheinbar: Tablada, Nervo, Valenzuela, die Mitarbeiter der Revista Moderna stellen sich als überzeugte Anhänger des mexikanischen Langzeitpräsidenten dar und suchen auf diese Weise eine Annäherung zum realen Kapital, das in der angemessenen Entlohnung für ihre Texte bestehen würde. Das symbolische Kapital ihrer Werke, das laut Bourdieu Jahrzehnte später – oder auch nie – in reales verwandelt werden kann, bleibt dennoch bestehen, da sie sich mit ihrer elitären Ästhetik der Rezeption durch ein größeres zeitgenössisches Publikum widersetzen. Gamboa hingegen – ebenfalls, und viel aktiver als die 524 525
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Gamboa, Mi diario, Bd. 3, S. 152. Es handelt sich um den dritten Teil des Zyklus Les Quatre Evangiles, der die Erfahrungen aus dem Fall Dreyfus in einen Roman umsetzt. Gamboa las das Buch sehr kurze Zeit nach seinem Erscheinen in Paris, obwohl er 1903 in Washington lebte, was für eine sehr gute buchhändlerische Logistik zumindest in diplomatischen Kreisen spricht. Gamboa, Mi diario, Bd. 3, S. 152. Vgl. zum Folgenden Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst, suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1539 (Frankfurt: Suhrkamp, 2001), passim. Insbesondere das Kapitel ‘Die konstruierte Laufbahn’, S. 409ff.
Die ästhetische Diskussion in der autobiografischen Literatur Mexikos
Modernisten, überzeugter Anhänger des Porfiriats- interessiert sich sehr wohl für lukrative Verträge mit seinen Verlegern und für möglichst große Leserzahlen,528 sucht demnach immer das reale Kapital in seiner Schriftstellerkarriere, dem Bourdieu die Möglichkeit einer zukünfigen Umwandlung in symbolisches, also künstlerisches Kapital abspricht. In der Tat hat von seinen acht Romanen und vier Theaterstücken nur Santa die Revolution „überlebt“ und findet bis heute ein relativ breites Publikum und kritische Akzeptanz. Die Lektürevorlieben Gamboas und der Modernisten spiegeln diese Dichotomie wider. Tablada und die Autoren der Revista Moderna werden v. a. von den „raros“ angesprochen, von französischen Autoren, die Bourdieu ihrerseits ganz auf der Seite des symbolischen Kapitals sieht: Baudelaire, Verlaine, Mallarmé, aber auch Schriftsteller, die immer noch auf ihre Aufnahme ins reale Kapital warten: Barbey, Rollinat, Richepin usw.529 Gamboa dagegen sieht sich ganz als Schüler Zolas, nur in zweiter Linie auch als Anhänger der Goncourts, wählt also einen Autor, dem Bourdieu kaum symbolisches Kapital zuspricht. Dieses etwas zweifelhafte Spiel mit den „Regeln“ und Zuordnungen Pierre Bourdieus stellt natürlich eine grobe Vereinfachung dar, kann aber verdeutlichen, dass die mexikanische Modernistengeneration in erster Linie über eine Veränderung des französischen Lektürekanons zu ihrer dominaten Stellung innerhalb der Literaturgeschichte des Landes kommen konnte; der Paradigmenwechsel, von dem Pacheco im Vorwort zu seiner Antología del Modernismo spricht, ist auch – vielleicht in erster Linie – ein Wechsel der Paradigmen innerhalb der Rezeption der französischen Literatur. Ein letzter Blick auf das Tagebuch Gamboas kann diese These unterstützen. Sieben Jahre nach der Veröffentlichung seines letzten Romans und der gewaltsamen Beendigung seiner politischen Karriere, findet sich der erste Verweis im Tagebuch auf einen von den Modernisten, insbesondere von Couto Castillo, hochgeschätzten Autor aus der Gruppe der ausgefallenen Schriftsteller: Barbey d’Aurevilly. Am Heiligen Abend des Jahres 1920 schreibt Gamboa: „Y antes de las doce, solo y mi alma en toda la casa, me meto entre sábanas a seguir leyendo el Deuxième memorandum, de Barbey d’Aurevilly. Los repiques de la media noche pónenme de peor talante, y con una profundísima tristeza dentro de mí“ (Und vor zwölf Uhr, mutterseelenalleine im ganzen Haus, schlüpfe ich zwischen die Bettdecken und lese das Deuxième memorandum von Barbey d’Aurevilly weiter. Die Glockenschläge der Mitternacht stimmen mich noch schlechter und mit tiefer Traurigkeit).530 Der Privatmann Gamboa, der sich nicht mehr aktiv am mexikanischen Literaturbetrieb beteiligt, auch wenn er in ihm einige Ehrenämter bekleidet, liest einen „raro“, dessen Name, zumindest in den intellektuellen Kreisen des Landes, erst von der Generation um die Revista Moderna bekannt, sein Werk zugänglich gemacht wurde. Und noch später, am 3. März 1930, freut sich Gamboa über ein Geschenk, das ihm bezeichnenderweise Carlos Díaz Dufoo, der Mitherausgeber der Revista Azul, macht: „Cuélgame Carlos Díaz Dufoo con un lindo ejemplar elzevir (Edición Lemerre) de Las diabólicas, de Barbey d’Aurevilly“ (Carlos Díaz Dufoo bedenkt mich mit einer
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In einer späteren Phase auch für die Verfilmung seiner Werke. Sonderfälle würden Pierre Loti und Catulle Mendès darstellen: vom realen Kapital zum Vergessen. Gamboa, Mi diario, Bd. 7, S. 48. Wieder greift Gamboa zur Tagebuchliteratur. Das zweite Memorandum Barbeys handelt von den Jahren 1838 und 1839.
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hübschen Elzevirausgabe (Lemerre) von Les Diaboliques von Barbey d’Aurevilly).531 Eines der vom Skandal und der bürgerlichen Ablehnung autorisierten Lieblingswerke der Modernisten wird zum freudig entgegengenommenen Geschenk für den führenden realistischen Schriftsteller Mexikos der Jahrhundertwende: deutlicher ließe sich der angedeutete Paradigmenwechsel nicht erläutern. In den noch folgenden Kapiteln soll versucht werden, die eben beschriebene Tendenz anhand einiger ausgewählter mexikanischer Autoren zu verdeutlichen. Dabei geht es auch darum, den Weg von der romantischen zur modernistischen Narrativik des Landes nachzuzeichnen. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die These, derzufolge die mexikanische Literaturgeschichte erst mit der modernistischen Erzählkunst und ihrer Ästhetik zu einer eigentlich romantischen Epoche gefunden hat.532
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Gamboa, Mi diario, Bd. 7, S. 238. Als Repräsentanten dieser These seien besonders José Emilio Pacheco, Rafael Gutiérrez Girardot, Hanna Geldrich, sowie – auch wenn sie bei ihnen keine direkte Erwähnung findet – Bernardo Gicovate und Ricardo Gullón erwähnt. Vgl. die bibliografischen Angaben am Ende der Arbeit.
4. Von der romantischen zur modernistischen Erzählkunst
4.1. Die romantische Narrativik Lateinamerikas – eine Skizze 4.1.1. Vorbemerkungen In der hispanoamerikanischen Erzählkunst manifestiert sich die Romantik auf dem ersten Blick in zwei Richtungen: sentimentalistisch die eine, politisch die andere. Der lateinamerikanische Roman ist ohne Zweifel ein Produkt der Romantik, das sich in erster Linie mit politischem Liberalismus vertrug. Seine Verankerung in der Politik der eben erst sich befreienden Länder, sowie die weitgehende Abwesenheit von mystischen oder evasiven Tendenzen unterscheiden die Bewegung sehr deutlich von den europäischen Romantiken, insbesondere natürlich von der deutschen. Mirta Yáñez definiert den romantischen Roman Lateinamerikas als „criollo“. Er versuche, den Nationalcharakter seiner Ursprungsländer zu erfassen und festzulegen. Dadurch verbinde er sich vollständig mit der Gegenwart. Der romantische Roman Europas dagegen richte sich an einer mythifizierten Vergangenheit aus und vermeide eine Gegenwart, die die Ideale seiner Autoren nicht befriedigen kann.533 Glaubt man der kubanischen Forscherin, so können die hier für die europäische Romantik erstellten Normen ebensogut auf den lateinamerikanischen Modernismo Anwendung finden. Das vorrangige Ziel der hispanoamerikanischen Romantik sei die Erreichung und Festigung der nationalen Unabhängigkeit gewesen. Künstlerische, ästhetische oder philosophische Anliegen wurden dem untergeordnet: „Los planteamientos del arte por el arte vendrían a tener su resonancia mayor en un movimiento posterior que estableció una escisión – aunque no tajante – con el romanticismo: el modernismo“. (Die Vorgaben des l’art pour l’art werden in einer späteren Bewegung, die einen, wenn auch nicht scharfen, Bruch mit der Romantik darstellt, Gehör finden: dem Modernismo).534 Mirta Yáñez versucht hier, einen – wenn auch schwachen – Kontrast zwischen Romantik und Modernismo herzustellen, der nie wirklich existiert hat. Wenn man allerdings in der zitierten Stelle „escisión“ durch „ampliación“ (Erweiterung) ersetzt, so ist daran nichts mehr auszusetzen: Der Modernismo fügt der Romantik ästhetische Elemente, die Reflexion über die Kunst hinzu. Jorge Myers folgt dem Argument Yáñez, indem er feststellt, dass ein intimes „yo“ in der lateinamerikanischen Romantik praktisch abwesend ist. Der argentinische Forscher definiert die Romantik als eine soziale und nationalistische Bewegung,
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Mirta Yáñez, La narrativa del romanticismo en Latinoamerica (La Habana: Editorial Letras Cubanas, 1989), S. 17f. Yáñez, La narrativa del romanticismo en Latinoamerica, S. 33.
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die eine politische Botschaft in einem ästhetisch leicht verfeinerten Stil mitteilen möchte.535 Rafael Gutiérrez Girardot wiederum bezieht sich auf José Martí und Domingo Faustino Sarmiento als typischste Vertreter der romantischen Tendenz in Lateinamerika, sie seien „la encarnación de acción y razón en una sola cosa“ (die Verkörperung von Aktion und Vernunft in einer Sache).536 Diese „eine Sache“ ist der romantische Intellektuelle, der seinen Ideen zwar eine ästhetische Form verleiht, sie aber nie nur auf dem Papier belässt, sondern versucht, sie in der politischen Realität seines Landes durchzusetzen.537 Über den politischen und nationalistischen Charakter der romantischen Bewegung in Lateinamerika besteht bei der Kritik relative Einigkeit, auch über die Abwesenheit von mystischen Tendenzen, die als typisch für die deutsche Romantik aufgefasst werden. Sogar der Text, der ganze Lesergenerationen in Tränen ausbrechen ließ, Jorge Isaacs María, widerspricht dem nicht. Mirta Yáñez interpretiert María als apolitische Ausnahme von der Regel.538 Eine tragisch verlaufende Liebesbeziehung habe sich in María als wesentliches Thema etabliert, während es in anderen Texten nur ein Vorwand für die soziale und nationale Thematik sei. Yáñez lokalisiert die Quellen für das Thema der unglücklichen Liebe: „En América Latina se bebió como es natural, de la inagotable fuente del desgraciado amor entre Werther y Lotte, y también de la saga de los modelos franceses como Atala“ (In Lateinamerika trank man, wie es natürlich ist, aus der unerschöpflichen Quelle der unglücklichen Liebe zwischen Werther und Lotte und auch aus der Sage der französischen Modelle wie Atala).539 Diese Szenerie, vor allem die Chateaubriands, war jedoch nicht mehr als eben Szenerie, die einen Exotismus mit umgekehrten Vorzeichen produzierte: exotisch in Lateinamerika erscheint, was die europäischen Autoren ausgerechnet im neuen Kontinent als exotisch wahrgenommen hatten. Auch María kann insofern für den lateinamerikanischen Nationalismus in Anspruch genommen werden, da der kolumbianische Roman in einem amerikanischen Ambiente situiert ist, das keinen exotischen Hintergrund für ein europäisches Werk bereitstellen könnte. Selbst die berühmte Epiosode um Nay und Sinar spielt sich weit abseits von Amerika ab und wird als eine von vielen Geschichten, die man sich im Cauca erzählt, vorgestellt: als pure Fiktion und Unterhaltung also.540 Die eingangs erwähnte tränenreiche romantische Variante reduziert sich auf diese 535
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Jorge Myers: ‘Hacia la completa palingenesia y civilización de las naciones americanas: literatura romántica y proyecto social, 1830-1870’, in: América latina. Palavra, Literatura e Cultura, hg. v. Ana Pizarro, 2 Bde. (Sao Paulo: Editora da Unicamp, 1994), Bd. 2, S. 221-251, hier S. 238f. Rafael Gutiérrez Girardot: ‘Conciencia estética y voluntad de estilo’, in: América latina. Palavra, Literatura e Cultura, hg. v. Ana Pizarro, 2 Bde. (Sao Paulo: Editora da Unicamp, 1994), Bd. 2, S. 285-307, hier S. 297. Auf diese Weise würde auch jede Diskussion um José Martí als Initiator der modernistischen Bewegung ein Ende finden, da der Kubaner bei Gutiérrez Girardot zur Apotheose der lateinamerikanischen Romantik wird. Yáñez, La narrativa del romanticismo en Latinoamerica, S. 126. Yáñez, La narrativa del romanticismo en Latinoamerica, S. 116. Vgl. dazu Germán Arciniegas, ‘La vida de un poeta revolucionario en el siglo XIX’, in: A propósito de Jorge Isaacs y su obra (Bogotá: Editorial Norma S.A., 1989), S. 15-71, hier v. a. S. 50. Arciniegas sieht eine „revolución americana dentro del Romanticismo“ (amerikanische Revolution innerhalb der Romantik), die María nun doch wieder zum prototypischen Roman der lateinamerikanischen Romantik macht: „Bernardin de Saint Pierre o Chateaubriand habían escrito libros igualmente idílicos, pero exóticos. Pablo y Virginia tienen como escenario de sus amores una isla remota, y Atala y René, la región de los indios salvajes en Norteamérica. María es una constante caricia amorosa pasada sobre los paisajes del Cauca. Lo que en
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Weise auf einen „simplen“ literarischen Reflex großer europäischer Erfolge, an erster Stelle Atala und natürlich auch Bernardin de St. Pierre. Als herausragende Konstante der lateinamerikanischen Romantik kann so erneut ihr politischer und nationalistischer Charakter festgehalten werden. Der Einfluss der europäischen Romantik manifestiert sich demanch fast nur in formalen und episodischen, bis zu einem bestimmten Grad sekundären Aspekten: das Thema der unmöglichen und tragischen Liebe, die Figur der keuschen oder betrogenen Heldin, die Natur als treues Spiegelbild der Gefühlszustände der Protagonisten u. a. Derartige Einflüsse können jedoch das Wesentliche der romantischen Narrativik Lateinamerikas nicht verändern: Sie ist eine sozial und politisch engagierte Literatur.
4.1.2. Esteban Echeverría: ‘El matadero’ Die hispanoamerikanische Romantik trägt sehr hybride Züge. Im Vergleich mit Europa setzt sie sich äußerst spät durch. Ihre ersten bedeutenden Werke datieren aus den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts,541 als in Europa bereits der Romantik entgegenlaufende Strömungen sichtbar werden.542 Die romantische Ästhetik und der Beginn der realistischen Bewegung werden in den amerikanischen Ländern fast gleichzeitig rezipiert. Diese Verschiebungen helfen, eine Erzählung wie ‘El matadero’ zu verstehen, die sich durch sehr heterogene Struktur und Inhalt charakterisiert. Mirta Yáñez erhebt das kleine Werk zu einem wirklichen Schlüsseltext für die argentinische Literatur: En El matadero el narrador ha elaborado el mundo circundante sin enfoque europeo. De hecho, por su lenguaje y por su tratamiento, ya es la aparición rotunda del ambiente americano. Ello no contradice la postura cosmopolitista [sic!] de los románticos argentinos, sino confirma su otra vertiente de encontrar la independencia sin desdeñar la práctica dependiente en el plano político y económico.
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Europa era escapismo en busca de naturalezas desconocidas, en América fue el más íntimo acercamiento a la poesía inmediata del paisaje propio. Así el romanticismo americano es menos falso, es más autóctono“ (Bernardin de Saint Pierre oder Chateaubriand haben ebenso idyllische, wie exotische Bücher geschrieben. Pablo und Virginia haben als Hintergrund ihrer Liebe eine weit entfernte Insel, Atala und René die Region der wilden Indianer in Nordamerika. María ist ein ständiges liebendes Streicheln über die Landschaften des Cauca. Was in Europa Flucht war, auf der Suche nach unbekannten Naturen, war in Amerika die intimste Annäherung an die unmittelbare Poesie der eigenen Landschaft. Auf diese Weise ist die amerikanische Romantik weniger falsch, ist authentischer; S. 35f.). Echeverrías La cautiva erscheint 1837. ‘El matadero’ wurde 1839/40 geschrieben, aber erst 30 Jahre später publiziert. Die erste Version von Villaverdes Cecilia Valdés entstand 1839, die definitive kam jedoch erst 1882 auf den Markt. Die mexikanische Academia de San Juan de Letrán schloss sich 1836 zusammen, konnte sich jedoch keineswegs – wie gezeigt wurde – als ausschließlich oder gar militant romantische Gruppe definieren. Einige Daten können die Phasenverschiebung illustrieren: Die Leiden des jungen Werther, ein in Lateinamerika bis heute als romantisch eingestuftes Werk, wurden 1774 publiziert. Novalis stirbt 1801, Atala erscheint in diesem Jahr. 1810 schreibt Madame de Staël ihr De l’Allemagne und propagiert die Ideen der deutschen Romantik in Frankreich. 1838 publiziert Heinrich Heine Die romantische Schule, in der die Romantik als antiquiert und reaktionär abgelehnt wird. Die Dekadenz der Romantik, zumindest in Deutschland, und ihr Beginn in Lateinamerika fallen damit zeitlich zusammen.
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(In ‘El matadero’ hat der Erzähler die umgebende Welt ohne europäischen Blickwinkel erarbeitet. In der Tat ist der Text wegen seiner Sprache und seiner Behandlung bereits das defintive Erscheinen des amerikanischen Ambiente. Das widerspricht nicht der kosmopolitischen Haltung der argentinischen Romantiker, sondern bestätigt ihre andere Tendenz, die Unabhängigkeit zu finden, ohne die praktische Abhängigkeit in Politik und Wirtschaft zu verachten.)543
Romantik gegen Realismus; intellektuelle Unabhängigkeit gegen politische und ökonomische Abhängigkeit; Nationalismus gegen Kosmopolitismus: Yáñez sieht in ‘El matadero’ eine Reihe von Widersprüchen, die durch das große neue Thema des amerikanischen Ambiente ausgeglichen werden können. Diese Widersprüche scheinen mir jedoch eher auf die erwähnte kulturelle Phasenverschiebung zurückzuführen zu sein. Leonor Fleming zitiert in ihrer Ausgabe der Erzählung Noé Jitrik, der die zentrale Idee von ‘El matadero’ wie folgt zusammenfaßt: „el conflicto [...] entre un mundo fáctico, de acción, que ejerce una fascinación rechazada y un mundo cultural que se trata de levantar ineficazmente” (der Konflikt zwischen einer faktischen Welt der Aktion, die eine zurückgewiesene Faszination ausübt, und der Welt der Kultur, die vergeblich versucht, sich durchzusetzen).544 Die beiden Protagonisten der Erzählung verkörpern diesen Konflikt. Matasiete, das Idol der Leute im Schlachthof von Buenos Aires, personifiziert den „gaucho malo“, der die Stadt zu erobern droht.545 Auf den ersten Blick gefühl- und kulturlos, fasziniert er dennoch den Leser – und wahrscheinlich auch Echeverría – wegen seiner Rohkraft, seiner körperlichen Fähigkeiten und seines völlig ungeschliffenen Charakters. Er ist gefährlich, weil er das Unbekannte und Enigmatische darstellt; er fasziniert, weil er frei und ohne Bindungen lebt. Das andere Extrem bildet der junge Liberale, der beinahe gezwungenermaßen als Sprachrohr des Autors fungiert. Er ist der europäisch erzogene Bürger, sensibel und verfeinert und v. a. in der Umgebung des Schlachthofs völlig fehl am Platz. Sein gewaltsamer Tod erscheint unvermeidbar. Die Brutalität der Anhänger Matasietes kann jedoch nicht für den Mord verantwortlich gemacht werden, viel eher ist ein letaler Fehler beim Liberalen selbst zu suchen, der ohne Notwendigkeit in fremdes Terrain eingedrungen ist. Hinter dem gewaltsamen Aufeinandertreffen von Stadt und Land verbirgt sich auch der etwas weniger gewaltsame Konflikt zwischen Romantik und Realismus. Der Liberale ist ein romantischer Held, der für seine Überzeugungen stirbt, der auch unter den schlimmsten Umständen noch Freiheitsparolen von sich gibt und zur Rebellion gegen Rosas auffordert; eine Figur würdig ein Held Schillers oder Lord Byrons zu sein. Diese heroische Haltung erzeugt jedoch einen grotesk-komischen Kontrast mit dem Ambiente des Schlachthofs: Der Liberale ist nicht in der Lage, eine Umgebung, die seinem eigenen kulturellen Hintergrund entgegensteht, zu assimilieren. Die sentimentale Richtung der Romantik kann in Lateinamerika nicht mehr funktionieren, sobald sich die Autoren der politischen und sozialen Realität des Kontinents 543 544 545
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Yáñez, La narrativa del romanticismo en Latinoamerica, S. 65. Noé Jitrik zitiert in Leonor Fleming, ‘Introducción’, in Esteban Echeverría, El matadero. La cautiva, Letras Hispánicas, 251 (Madrid: Cátedra, 1990), S. 9-89, hier S. 71. Echeverría greift hier Sarmiento um einige Jahre vor, dessen Facundo 1845 publiziert wurde. Beide können der Anziehungskraft, die der gaucho ausübt, nicht entgehen, auch wenn sie ihn als Abschaum der Menschheit beschreiben. Es ist durchaus denkbar, dass Sarmiento das unveröffentlichte Manuskript Echeverrías kannte.
Von der romantischen zur modernistischen Erzählkunst
bewusst werden: Das sentimentale Thema wird zum Rahmen. Wenn sich die lateinamerikanischen Autoren der Romantik mit dem sozialen Umfeld ihrer Länder auseinandersetzen wollten, mussten sie fast zwangsweise romantische mit realistischen Elementen mischen, die man parallel aus Europa empfangen konnte.546 Der in der ganzen lateinamerikanischen Narrativik des 19. Jahrhunderts präsente Kostumbrismus ist die logische Konsequenz derartiger Mischungen. Landschaft und Bräuche eines Landes werden zumindest indirekt – manchmal wider Willen – verehrt und Kritik an politischen und sozialen Missständen kann eingeschoben werden. In dieser Hinsicht zeichnet sich ‘El matadero’ durch seine scharfe Kritik am Klerus und an der damals herrschenden Regierung unter Rosas aus: „¡Cosa extraña que haya estómagos privilegiados y estómagos sujetos a leyes inviolables y que la iglesia tenga la llave de los estómagos! [...] el caso es reducir al hombre a una máquina cuyo móvil principal no sea su voluntad sino la de la iglesia y el gobierno” (Ein eigenartiges Ding, dass es privilegierte Mägen gibt und Mägen, die an unverletzliche Gesetze gebunden sind und dass die Kirche den Schlüssel zu den Mägen hat! [...] es geht darum, den Menschen zu einer Maschine zu machen, deren hauptsächlicher Antrieb nicht sein Wille, sondern der von Kirche und Regierung ist).547 Das von Echeverría präsentierte etwas rauhe Sittenbild um den Schlachthof sieht sich durch die Enthauptung eines Kindes auf sehr brüske Art in Frage gestellt. Die folgende Beschreibung darf in der Tat kaum romantischen Tendenzen zugeschrieben werden: Diole el tirón el enlazador sentando su caballo, desprendió el lazo de el asta, crujió por el aire un áspero zumbido y al mismo tiempo se vio rodar desde lo alto de una horqueta del corral, como si un golpe de hacha la hubiese dividido a cercén, una cabeza de niño cuyo tronco permaneció inmóvil sobre su caballo de palo, lanzando por cada arteria un largo chorro de sangre. (Der Lassofänger zog die Zügel und hielt sein Pferd an, er löste das Lasso vom Schaft, ein schroffes Zischen knisterte durch die Luft und gleichzeitig sah man aus der Höhe einer Gabelung des Hofes einen Kinderkopf rollen, als ob ein Axthieb ihn an der Wurzel abgeschnitten hätte. Der Rumpf blieb unbeweglich auf seinem Holzpferd und aus jeder Arterie schoss ein langer Strahl Blut.)548
‘El matadero’ spiegelt die Mischung verschiedener literarischer Strömungen wider, die typisch ist für die Rezeption der europäischen (d. i. französischen) Literatur in Lateinamerika: Romantik, Realismus, Naturalismus. Diese Eklektik war für Echeverría die adäquate Form, um eine Welt zu beschreiben, deren Identität noch nicht definiert war. Er konnte damit auf die verwirrenden lateinamerikanischen Realitäten reagieren, in denen für Idealismus und Sentimentalismus wenig Platz war, sondern die politische (liberale) Strömung der Romantik das Geschehen dominieren musste. Noch in der Modernistengeneration lässt sich diese Mischung der Einflüsse feststellen. Das prominenteste Beispiel ist Rubén Darío mit seiner Erzählung ‘El fardo’. Mitten in der Epoche der Feen und Faune, der Edel546
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Der in diesem Sinne typischste Text wäre Sarmientos Facundo, ein Hybrid in mehrerer Hinsicht: Roman und Biografie einer historischen Persönlichkeit gleichzeitig, Verherrlichung der Natur der argentinischen pampa und Aufforderung zur Ausrottung ihrer Bewohner, damit die urbane Zivilisation das Land „erobern“ kann. Esteban Echeverría, ‘El matadero’, in El matadero. La cautiva, hg. v. Leonor Fleming, in Letras Hispánicas, 251 (Madrid: Cátedra, 1990), S. 89-115, hier: S. 96. Echeverría, ‘El matadero’, S. 105.
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steine und ästhetischen Verfeinerungen schreibt der Nicaraguaner eine realistische Erzählung, die die verzweifelte Situation der Arbeiterklasse anklagt. Auch in dieser Hinsicht stellt der Modernismo keinen Bruch mit der Romantik dar, wie Mirta Yáñez andeutete, sondern ist viel eher als Verlängerung und Ergänzung zu deuten. Insbesondere steuerte er eine Reihe von neuen Themen und Techniken bei und nicht zuletzt neue Leseerfahrungen.
4.1.3. Cirilo Villaverde: Cecilia Valdés Guillermo Cabrera Infante sieht in Cecilia Valdés den Text, der, mehr noch als das Werk José Martís, die kubanische Idiosynkrasie verkörpert.549 Die Hybris des romantischen Genres verwandelt sich hier in die Geschichte eines Textes. Die erste Version des Romans sollte 1839 publiziert werden. Sie hatte – wie Mirta Yáñez weiß – eine weiße Frau als Heldin, eine auf die Karibikinsel versetzte María. In den 50er Jahren beginnt Villaverde eine neue Version des Romans, die er aus politischen Gründen erst 1879 beendete und 1882 publizierte.550 In den Jahrzehnten nach der ersten Fassung wird die weiße Heldin zu einer Mulattin und der ursprünglich romantische Roman präsentiert sich 1882 als realistischer Text, für den Villaverde selbst jedoch romantische Vorbilder nennt: Walter Scott und Manzoni.551 Ein verwirrender Wechsel von Romantik zu Realismus und zurück zur Romantik, der mit der 40-jährigen Entstehungsgeschichte des Textes einhergeht. Auch 1882 kann der Roman seine klischeehaft romantischen Ursprünge nicht verleugnen, die zunächst sehr an die Erzählungen der mexikanischen Academia de San Juan de Letrán erinnern: Die unbekannte Abstammung der Protagonistin, die sie zum Inzest mit ihrem Bruder Leonardo vorherbestimmt, ist ein altbekanntes romantisches Motiv, vielleicht mit einer wesentlichen Erneuerung: Der Inzest wird vollzogen. Auch das melodramatische Ende des Romans ist ein romantischer Reflex: José Dolores, der Cecilia wirklich liebte, tötet Leonardo am Tag seiner Hochzeit mit Isabel; Cecilia endet als Komplizin des Verbrechens im Kerker; Isabel geht nach dem Tod ihres Verlobten ins Kloster. Allerdings kann dieses Finale auch als Parodie interpretiert werden. Zuviel Sterben!, scheint Villaverde zu denken und lässt den Text mit der glücklichen Heirat von Rosa und Meneses ausklingen, einer sekundären Paarung, die im Verlauf des Romans kaum künstlerische oder strukturelle Funktionen übernommen hatte. Trotz dieser romantischen Züge (oder Gemeinplätze) dominiert das politisch-soziale Thema im Roman. Villaverde schrieb ein überraschendes Ich klage an, einen sehr humanen Bericht von korrupten kubanischen Regierungen, vom Missbrauch der schwarzen Sklaven, vom bedauernswerten ökonomischen Zustand breiter Bevölkerungsschichten, vom Rassismus der weißen Minderheit, von der Arroganz der herrschenden
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Guillermo Cabrera Infante, Mea Cuba (Bogotá: Alfaguara, 1999), S. 79. Ich verweise für mehr Details zur Veröffentlichungsgeschichte des Romans auf Yáñez: La narrativa del romanticismo en Latinoamerica, S. 201f., sowie auf das Vorwort von Villaverde selbst zur definitiven Version von Cecilia Valdés (Cirilo Villaverde, Cecilia Valdés o La Loma del Ángel, Biblioteca básica de cultura cubana, 1, La Habana: Organización Continental de los Festivales del Libro, 1962, S. 9ff.). Villaverde, Cecilia Valdés, S. 12.
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Klasse, die ihre Überlegenheit ausschließlich auf Geld gründet. Villaverde mischt nicht nur romantische mit realistischen Paradigmen, sondern er assimiliert auch die Kriterien eines sozial engagierten Realismus. Cecilia Valdés ist möglicherweise das gelungenste Beispiel einer romantischen lateinamerikanischen Narrativik, gerade weil der Roman am deutlichsten den hybriden und unentschiedenen Charakter der Gattung auf dem neuen Kontinent verkörpert. Früher oder später musste eine derartige Hybris die Dekadenz der Gattung zur Folge haben, wenn sich die Autoren für die romantischen Gemeinplätze entschieden; oder mit der kompletten Übernahme von europäischem Realismus und Naturalismus enden. Beide Erscheinungen stellten sich natürlich ein. Dennoch konnte der Modernismo eine dritte Alternative bereitstellen, wie noch zu zeigen sein wird. Jedoch muss zunächst noch auf einen Schlüsseltext der mexikanischen Erzählkunst hingewiesen werden, der die romantische Epoche des hispanoamerikanischen Romans defintiv schließen könnte: Ignacio Manuel Altamiranos El Zarco.
4.1.4. Ignacio Manuel Altamirano: El Zarco Sein Veröffentlichungsjahr 1901 stellt El Zarco bereits in eine nachromantische Epoche. Seine Abfassung um 1885 fällt mit den Anfängen des Modernismo zusammen. Trotzdem charakterisiert sich El Zarco immer noch durch die eben umrissenen Züge der romantischen Narrativik Lateinamerikas. Allerdings unterscheidet die Rolle der indígenas den Roman deutlich von der argentinischen Romantik, von Echeverría und Sarmiento an erster Stelle. Nicolás, der – wie sein Autor – ein reinrassiger indígena ist, wird als Held mit beinahe übermenschlichen Eigenschaften dargestellt. Seine physische Stärke und moralische Integrität wirken irreal. Altamirano führt ihn wie folgt in den Roman ein: „Se conocía que era un indio, pero no un indio abyecto y servil, sino un hombre culto, ennoblecido por el trabajo y que tenía la conciencia de su fuerza y de su valer“ (Man sah, dass er ein Indio war, aber kein niederträchtiger und serviler Indio, sondern ein gebildeter Mann, der von der Arbeit geadelt wurde und der sich seiner Stärke und seines Wertes bewusst war).552 Nur Nicolás wagt es, sich den Banditen (den plateados) der Region zu widersetzen. Er wird von ihnen respektiert und gefürchtet. Sein hoher Moralkodex, sein persönlicher Mut flößen auch denen Respekt ein, die eigentlich keinerlei Verbindung mehr mit traditionellen Vorstellungen von Ehre und Moral haben. Altamirano verleiht der indigenen Bevölkerung Mexikos einen Stellenwert, den sie nie zuvor in der Literatur genossen hat. Der Gegensatz zwischen weißer und dunkelhäutiger Bevölkerung zeigt sich überdeutlich bei den beiden Protagonistinnen Manuela und Pilar. Manuela ist weiß, blond und bösartig. Ihre Flucht mit dem Zarco, dem Anführer der Banditen, verursacht den Tod ihrer Mutter. Sie stellt sich das Leben unter den Banditen als romantisches Abenteuer vor und wird brutal enttäuscht.553 552 553
Ignacio Manuel Altamirano, El Zarco. La Navidad en las Montañas, in „Sepan Cuantos...”, 61 (México: Porrúa, 1992), S. 11. Mérimées Carmen von 1846 und Murgers Scènes de la Bohème von 1851 dürften vorbildhaft für diese Konstellation gewesen sein, werden jedoch gleichzeitig parodiert, was bei einem am Ende des 19.
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Pilar ihrerseits ist dunkelhäutig und schwarzhaarig mit indigenen Zügen, und sie ist ein wahrer Engel. Der Text Altamiranos bestraft in strenger Harmonie die Bösen und belohnt die Guten: Manuela wird verrückt und stirbt an der Seite des Zarco; Pilar und Nicolás heiraten, eine ungetrübte glückliche Zukunft erwartet sie. Wie in jedem mittelmäßigen Kriminalroman gewinnen also die Guten und verlieren die Bösen. Dieses banale Schema verdeutlicht jedoch das politische Denken Altamiranos. Die Zukunft des Landes hängt von den indígenas und der Mischbevölkerung ab. In anderen Worten: Altamirano nützt ein romantisches Stereotyp aus, aber er konvertiert es, damit es in seine politischen Vorstellungen passt. Die weiße blonde Frau, lange Zeit das feminine Idealbild auch in Lateinamerika, auch wenn reale Vorbilder für sie weitgehend fehlten, hat einen verdorbenen Charakter; die dunkle indígena ist charakterstark und patriotisch, sie repräsentiert einen tadellosen Lebensstil. Es liegt auf der Hand, in diesem „umgedrehten“ Dualismus eine Reaktion auf europäische Konzepte wie den bon sauvage Chateaubriands zu sehen. Bei Altamirano wird aus einer exotischen und pittoresken Figur, die kaum Möglichkeiten hat, eine aktive soziale Rolle zu spielen, die treibende Kraft für die Entwicklung Mexikos. Dass diese Position Altamiranos Utopie war und ist, hinter der möglicherweise auch eine gute Portion Nostalgie nach der Präsidentschaft Benito Juárez steckt, sei nur nebenbei erwähnt. Die umgekehrte gleichsam „französische“ Position findet sich explizit bei Echeverría und Sarmiento, auch wenn sich bei ihnen die Anziehungskraft des „Wilden“ im literarischen Unterbewusstsein versteckt.554 Auch in Cecilia Valdés ist sie unterschwellig vorhanden. Die Mulattin Cecilia wirkt sehr erotisch auf die weißen Protagonisten des Romans, auf deren Festen sie eine Reihe von sozialen Erfolgen verbucht.555 Dieser Erfolg wäre jedoch schwer denkbar, wenn Cecilia nicht auffallend weiß wäre. Ihre Hautfarbe ermöglicht es, sie zur tragischen Heldin eines romantischen Romans zu machen. Villaverde konnte oder wollte keine farbige Frau als Protagonistin seines Romans einführen, ohne dass diese eigentlich weiß wäre und ihre eigene Bevölkerungsgruppe verachtete.556 Noch viel deutlicher kommt diese Tendenz in einem Roman wie Manuel de Jesús Galváns Enriquillo zum Ausdruck, in dem sich zeigt, dass ein indígena oder jeglicher Angehörige einer Unterschicht nur dann Protagonist eines romantischen Romans sein kann, wenn er nicht gänzlich indígena oder Schwarzer oder Mulatte ist. Enriquillo stellt sich als vermisster Angehöriger einer aristokratischen Familie heraus, der noch dazu getauft ist. Nur auf diese Weise kann er zum Helden des Romans werden.557 Der Verdienst Altamiranos besteht darin, dieses Schema
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Jahrhunderts entstandenen Roman, der im Wesentlichen immer noch romantische Gemeinplätze einsetzt, sie jedoch teilweise umkehrt, nicht überraschen kann. In Argentinien mussten die indígenas durch zwar weiße, aber ungezähmte gauchos ersetzt werden. Die Mulattin ist ein begehrtes erotisches Objekt für die weiße Schicht der Großgrundbesitzer und reichen Händler. Sie wird als Ware, die ihren Preis hat, behandelt, keinesfalls als eine der Heirat würdige Frau. Villaverde sieht die scheinheilige Haltung, aber er unternimmt noch nicht den Schritt, die Geschichte zur Gänze aus der Perspektive der farbigen Bevölkerung der Insel zu erzählen. Der Selbsthass der Sklaven ist ein bekanntes Phänomen, das sich im Roman v. a. als Abscheu Cecilias gegenüber ihren schwarzen und farbigen Bekannten manifestiert. Ich verweise auf die entsprechenden Kapitel zu Enriquillo und Cumandá, einem Roman des Ecuatorianers Juan León Mena in der Monografie Mirta Yáñez, S. 150-194.
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durchbrochen zu haben. Die einfache Inversion der traditionellen literarischen Rollen von Weißen und indígenas stellte eine kleine literarische und soziale Rebellion dar. Altamirano war eine auch von den mexikanischen Modernisten geschätzte und respektierte Figur, genauso wie Justo Sierra, Díaz Mirón oder Juan de Dios Peza, alle Vorgänger oder Vorbereiter der finisekulären Literatur Mexikos. Tablada bezieht sich auf Altamirano nur als „maestro“, dessen Popularität – so Tablada – „reposaba sobre su autoridad magistral y su prestigio académico“ (auf seiner meisterlichen Autorität und seinem akademischen Prestige ruhte). Außerdem unterstreicht er, dass er „el estimulante ejemplo del indio puro, que venciendo la gravitación del fatum se eleva y se hace célebre“ (das anregende Beispiel des reinen Indio, der die Schwerkraft des fatum besiegt und sich erhebt und berühmt wird) war. Altamirano und Benito Juárez seien „una flor luminosa de la más pura savia de la raza“ (eine leuchtende Blüte des reinsten Pflanzensaftes der Rasse).558 Derartige Einschätzungen sind nicht frei von Vorurteilen. In der Tat werden Altamirano und Juárez zu Ausnahmen von der Regel einer dekadenten und parasitären Urbevölkerung. Weder Tablada, noch Campos, noch andere fragen um die Gründe einer derartigen Degenerierung.559 Tablada verweist bezeichnenderweise nur auf den Politiker und Redner Altamirano. Auf sein literarisches Werk geht er nicht ein. Weder El Zarco, noch Clemencia werden mit einem Kommentar bedacht. Trotz ihrer politischen und sozialen Klarsichtigkeit können diese Texte nicht mehr als literarische Modelle für die neue Gruppe dienen, da sie in künstlerischer Hinsicht zum Teil zweitrangigen und veralteten europäischen und auch lateinamerikanischen Vorbildern verpflichtet waren.560 Auch der Rückgriff auf aktuellere realistische und naturalistische Modelle war für sie nicht zufriedenstellend, da auch diese das in vielen Aspekten für die Schriftsteller der Jahrhundertwende verwirrende soziale Umfeld nicht fassen (oder gar erklären) konnten. Die junge Modernistengruppe begab sich daher auf die Suche nach angebrachteren Modellen und entdeckte die von Tablada in der Revista Moderna beschriebene umfangreiche und heterogene modernistische Bibliothek, in der französische Autoren tonangebend waren, sowohl romantische, als auch symbolistische und dezent dekadente. Wenn sie die profanen Realitäten der überlegenen Realität der Kunst unterordneten, waren sie als literarische Modelle willkommen. In der Narrativik deutet sich der Paradigmenwechsel zuerst im Roman und einigen Erzählungen Gutiérrez Nájeras an, sowie in der Prosa José Martís. Trotz der evasiven und ästhetisierenden Tendenzen der mexikanischen und südamerikanischen Erzählkunst des Modernismo findet die problematische und heterogene Umgebung des neuen Kontinents fast immer Eingang in die Romane und Erzählungen, wie am Beispiel von Asunción Silvas De sobremesa besonders 558 559
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José Juan Tablada, La feria de la vida, S. 128. Auch nicht der junge Gamboa, der 1898 in einer Rede von „el lamentable fin de una raza que apenas vestida de cuerpo, desnuda de inteligencia y exhausta de sangre“ (dem bedauernswerten Ende einer Rasse, die kaum bekleidet und nackt an Intelligenz und erschöpft im Blute ist) spricht, die „agoniza en silencio, sin dejar nada, ni siquiera deudos que la lloren“ (in Stille vegetiert, ohne etwas zu hinterlassen, nicht einmal Schuldner, die ihr nachweinen). Altamirano und Juárez seien „excepciones que confirman la regla“ (Ausnahmen, die die Regel bestätigen). Ihre Hautfarbe interpretiert Gamboa als biologischen Irrtum (Federico Gamboa, Mi diario, Bd. 2, S. 47f.). Ich verweise auf die These Antón Arrufats.
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deutlich wird. Diese Einmischung der nationalistischen und sozialen Thematik findet sich aber ebenfalls in den Werken Daríos oder Nervos und Campos in Mexiko. Die Diskussion um den Ursprung der modernistischen Erzählkunst – des Modernismo im allgemeinen – verläuft äußerst langwierig. Julián del Casal, Asunción Silva, Darío, Gutiérrez Nájera und José Martí werden abwechselnd als Väter des hispanoamerikanischen Modernismo bezeichnet. Speziell in der Prosa fallen die Namen Martís, Gutiérrez Nájeras und Asunción Silvas. Dieser manchmal recht aggressiv geführte Disput scheint die Existenz von Grauzonen zu ignorieren, in denen die Grenzen zwischen der einen und der anderen literarischen Bewegung porös werden. Es ist so gut wie unmöglich – und auch uninteressant – eine genaue Grenzlinie zwischen Romantik und Modernismo ziehen zu wollen. Der Modernismo ist ein kulturelles Phänomen, das einer historischen Logik folgt, die hier v. a. mit Hilfe Paul Bénichous nachgezeichnet werden soll. Natürlich ist dieses Phänomen nicht „schlagartig“ da. Der Modernismo erscheint nicht mit Azul..., auch nicht mit Amistad funesta, sondern entwickelt sich allmählich aus der Grauzone, die in Mexiko die Jahre des Porfiriats verkörpern, heraus. In der Grauzone überleben aber immer noch romantische Tendenzen und sind auch realistische Strömungen (der Fall Gamboas) vorhanden, die sich jedoch der Herausforderung durch die Gruppe der um 1865/1870 geborenen Autoren, die im Europa des l’art pour l’art neue Anregungen suchen, stellen müssen. Die diversen Tendenzen können sich in einem Werk überschneiden, wie im Falle von Cecilia Valdés oder auch El Zarco. Es ist banal, aber deswegen nicht weniger korrekt, zu sagen, dass gerade diese Mischung die wertvollsten und attraktivsten Werke produzieren kann. In unserem Kontext fallen insbesondere zwei Werke in die Kategorie eines „mestizaje literario“: Amistad funesta des Kubaners José Martí und Por donde se sube al cielo des Mexikaners Gutiérrez Nájera.
4.2. Die Grauzone zwischen Romantik und Modernismo: Manuel Gutiérrez Nájera und José Martí Belem Clark de Lara, eine Forscherin der UNAM, entdeckte im Jahr 1987 den Roman Por donde se sube al cielo von Gutiérrez Nájera im Feuilleton der Zeitung El Noticioso des Jahres 1882. Die Suche nach dem vollständigen Text nahm weitere zwei Jahre in Anspruch, aber 1989 konnte der Text des bis jetzt einzigen bekannten Romans des Duque Job stolz präsentiert werden.561 Es handelt sich ohne Zweifel um eine wichtige Entdeckung für die mexikanische Literatur, die insbesondere zur Bewertung der modernistischen Generation des Landes beitragen kann. Unglücklicherweise aber konnte die UNAM der Versuchung nicht widerstehen, diesen unerwarteten Fund für nationalistische Zwecke innerhalb der akademischen Literaturkritik zu missbrauchen. In ihrem Vorwort zur Ausgabe von 1994 – 561
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Sowohl Contreras García, als auch die Herausgeber des zwölften Bandes des Gesamtwerkes führen auch die Fragmente oder Erzählungen ‘Juan el organista’, ‘Aventuras de Manon. Recuerdos de ópera bufa’ und ‘La mancha de Lady Macbeth’ als „novelas“, gehen aber nicht auf den manchmal irreführenden spanischen Sprachgebrauch ein, der nicht zwischen Roman und Novelle unterscheidet.
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dem elften Band der nur langsam Gestalt annehmenden Obras completas Gutiérrez Nájeras – präsentiert Clark de Lara Por donde se sube al cielo kategorisch als den ersten modernistischen Roman der lateinamerikanischen Literaturgeschichte und wie nebenbei wird Gutiérrez Nájera zum Initiator gleich mehrerer literarischer Strömungen, nicht nur in Mexiko und Hispanoamerika, sondern in der Weltliteratur. Die Forscherin schreibt: „Por sus características propias, podemos considerarla como la primera novela modernista que, además, presenta, en su estructura, el inicio de la forma narrativa contemporánea por su manejo del tiempo, el uso del monólogo interior y la presentación de un final abierto“ (Wegen seiner Eigenschaften können wir ihn als den ersten modernistischen Roman betrachten, der außerdem in seiner Struktur den Beginn der zeitgenössischen Erzählform zeigt, wegen seiner Behandlung der Zeit, der Verwendung des inneren Monologs und der Vorstellung eines offenen Endes).562 Auf diese Weise darf sich die mexikanische Kritik den Verdienst zuschreiben, José Martís Amistad funesta (1885) endgültig als Initiator der modernistischen Erzählkunst entthront zu haben. Außerdem entstand Por donde se sube al cielo zwei Jahre vor der Publikation von À rebours in Frankreich, das heißt, Gutiérrez Nájera kann auch als wahres Genie dargestellt werden, das sich früh von den französischen Quellen emanzipierte. Derartige Einflüsse scheinen die mexikanische Kritik (zumindest in der Nationaluniversität) immer noch sehr zu irritieren. Sie versucht ihren Wert herabzusetzen und ist nicht in der Lage, die zahlreichen literarischen Modelle der Modernisten als Zeugnis für deren intellektuelle Neugierde und Konsequenz der Internationalisierung der Kultur zu analysieren. Wenn Clark de Lara mit Aufmerksamkeit den Beitrag André Gides in der Revista Moderna gelesen hätte, würde sie verstehen, dass literarische Modelle oder Einflüsse nicht Originalitätsverlust, sondern Vergrößerung des intellektuellen Archivs bedeuten, aus dem sich die Modernistengruppe bedienen konnte. Es kann der kritischen Einschätzung des Duque Job und der finisekulären Literatur Mexikos nur schaden, wenn man aus Gutiérrez Nájera einen Huysmans avant la lettre machen will.563 Clark de Lara kontextualisiert den Modernismo korrekt, wenn sie ihn als literarische Bewegung sieht, die auf die sozialen und technologischen Neuerungen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts reagierte, die eine äußerst materialistische Gesellschaft hervorbrachten: „es un grupo social que ya no se rige por los principios religiosos, sino por los de la razón y la ciencia, con lo que nos enfrentamos a una comunidad que cifra su valer en el utilitarismo y en el enriquecimiento, mismos que le conceden valor y rango social” (Es handelt sich um eine soziale Gruppe, die nicht mehr von religiösen Prinzipien geleitet wird, sondern von denen der Vernunft und der Wissenschaft, womit wir es mit einer Gemeinschaft zu tun haben, die ihren Wert mit dem Utilitarismus und der Bereicherung bestimmt, welche ihr auch Kraft und sozialen Rang zusprechen).564 Diese kapitalistischpositivistische Gesellschaft könne die intellektuellen und geistigen Bedürfnisse eines Künstlers wie Gutiérrez Nájera nicht befriedigen, der konsequenterweise in seinem Roman Alternativen zu ihr darstellt. Die Forscherin der UNAM argumentiert, dass der Duque Job 562 563 564
Belem Clark de Lara, ‘Prólogo’ und ‘Introducción’, in: Manuel Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, in Obras, Bd. 11 (México: UNAM, 1994), S. XXXV-CLVII, hier S. XL. Vgl. dazu S. CXLIf. der Einführung Clark de Laras. Clark de Lara, ‘Introducción’, S. CXIV.
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die Liebe als Prinzip vorschlägt, das die geistigen Löcher füllen soll, die von der neuen wissenschaftlich-technischen Gemeinschaft aufgerissen wurden.565 Nur an zweiter Stelle nennt sie die Freiheit und Überlegenheit der Kunst als Themen des Romans.566 Clark de Lara behauptet: „Gutiérrez Nájera rompe con los cánones estéticos establecidos y exige una dialéctica que debe coincidir con un obligado cambio social” (Gutiérrez Nájera bricht mit dem etablierten ästhetischen Kanon und fordert eine Dialektik, die mit dem notwendigen sozialen Wechsel übereinstimmen muss).567 Leider erläutert sie nicht, worin diese Dialektik besteht, die soziale Veränderungen hervorbringen kann. Die Modernisten träumten zweifelsohne von einem Ambiente, das den Künstler respektierte und ihm eine privilegierte Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie zuordnete. Aber es handelte sich um einen Traum, um einen Selbstbetrug, der sich manchmal gefährlich nahe der literarischen Schizophrenie bewegte. Die finisekuläre Gesellschaft – das Porfiriat in Mexiko – etablierte ihre Regeln, die der Künstler nolens volens befolgen musste. Das dialektische Element, um auf die Terminologie Clark de Laras zurückzukommen, manifestiert sich im Charakter ihrer Texte, die evasiv sind, die die Kunst verherrlichen, die künstliche und utopische Welten erzeugen, die fiktive Figuren an ihre eigene Überlegenheit glauben lassen. Gutiérrez Nájera und Tablada sind in Mexiko die besten Beispiele für finisekuläre Künstler, die gezwungen sind, sich an soziale Normen anzupassen und dafür in ihren Werken Kompensation suchen. Rafael Gutiérrez Girardot fordert in diesem Sinne eine Erweiterung des Begriffes Modernismo. Es kann nicht nur darum gehen, einen modernistischen „Stil“ zu definieren, eine eingeschränkte Liste von künstlerischen Eigenheiten zu erstellen, die eine Autorengruppe von vorhergehenden Generationen unterscheidet. Derartige Eigenheiten, so Gutiérrez Girardot „deben ser colocados en el contexto histórico general de la expansión del capitalismo y de la sociedad burguesa, de la compleja red de <<dependencias>> entre los centros metropolitanos, sus regiones provinciales y los países llamados periféricos” (müssen in den allgemeinen historischen Kontext der Erweiterung des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft gestellt werden, des komplexen Netzes der ‘Abhängigkeit’ zwischen den städtischen Zentren, den Provinzregionen und den sogenannten Randländern).568 Die Autoren sind keine aktiven Protagonisten in dieser Geschichte, sondern passive Bestandteile, die sich gezwungen glaubten, auf evasive Weise auf die „Bedrohungen“ seitens der neuen bürgerlichen Gesellschaften in Lateinamerika zu reagieren. In einer ihrer Literatur immanenten Gegenbewegung wurden sie jedoch gleichzeitig zu Akteuren, indem sie von der Internationalisierung der Kultur profitierten, um neue Modelle und Schauplätze für ihre Werke zu finden.569 Die Entstehung von bürgerlichen Gesellschaften sei ein 565 566 567 568 569
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Clark de Lara, ‘Introducción’, S. CXVII. Clark de Lara, ‘Introducción’, S. CXXV. Clark de Lara, ‘Introducción’, S. CXXI. Rafael Gutiérrez Girardot, El Modernismo (Barcelona: Montesinos Editor, 1983), S. 25. Pedro Henríquez-Ureña sieht den Ausgangspunkt dieser Internationalisierung im französischen Parnass: „El ejemplo del Parnaso francés apuntaba hacia la poesía impersonal, descriptiva o narrativa, como camino seguro hacia la pureza artística; apuntaba, también, a todos los países y a todos los tiempos como campos en que cosechar” [Das Beispiel des französischen Parnass zeigte auf eine unpersönliche, beschreibende und erzählende Dichtung als sicheren Weg zur künstlerischen Reinheit. Es zeigte auch auf alle Länder und
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universales Phänomen und nur diese Universalität habe die Rezeption der französischen Literatur ab Baudelaire und ihre Anpassung in die neue lateinamerikanische Umgebung möglich gemacht.570 Wenn die Modernisten das Bürgertum ihrer Länder verspotten, machen sie sich damit über ihren eigenen Ursprung lustig. Ohne die erfolgreiche Entwicklung des Bürgertums in Mexiko und anderen hispanoamerikanischen Ländern hätte es keinen Modernismo gegeben. Jedenfalls konnten die modernistischen Schriftsteller innerhalb der sozialen Strukturen ihrer Zeit nur reagieren und keinesfalls agieren, wie dies Clark de Lara für Gutiérrez Nájera behauptet.571 Innerhalb der Rezeption der französischen Literatur durch den Modernismo sind die Tendenzen und Programme der übernommenen Strömungen von relativ geringer Bedeutung. Klaus Meyer-Minnemann führt an, dass die französische Kultur in erster Linie durch eine vage definierte Modernität verführen konnte.572 Der Modernismo ist demnach das Resultat einer ungeordneten Rezeption, das – laut dem deutschen Forscher – die europäische Moderne übertreffen und hinter sich lassen sollte.573 Es ist nur logisch, dass sich auch die Grauzone zwischen romantischer und modernistischer Erzählkunst durch eine Vielfalt widersprüchlicher Züge charakterisiert: Romantik, Symbolismus, Parnass, Dekadenz usw.574 Vor diesem Hintergrund erscheinen Versuche, die „Geburt“ der modernistischen
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Zeiten als Erntefelder] (Pedro Henríquez-Ureña, Las corrientes literarias en la América Hispánica, México: FCE, 1954, S. 175). Gutiérrez Girardot, El Modernismo, S. 45f. Alicia Bustos Trejo zeichnet ebenfalls das Bild des Weltverbesserers Gutiérrez Nájera, der über die pädagogischen Zielsetzungen eines Altamirano noch weit hinausgeht: „La intención de Gutiérrez Nájera es crear una conciencia de los problemas que más fuertemente afectaban a la sociedad de su tiempo. Señala [...] una apremiante solución: proporcionar una educación adecuada a la sociedad en general, y de manera específica y particular a la mujer [...]; esta educación permitiría moralizar a la sociedad [...], inculcarle la idea de que el dinero no representa la felicidad, y enseñarla a rechazar las pretensiones desmedidas y superficiales“ (Es ist die Absicht Gutiérrez Nájeras, ein Bewusstsein von den Problemen, die am stärksten die Gesellschaft seiner Zeit betrafen, herzustellen. Er zeigt [...] eine zwingende Lösung auf: der Gesellschaft im allgemeinen eine angebrachte Erziehung bereitstellen [...], ihr die Idee einpflanzen, dass Geld nicht Glück bedeutet und ihr zeigen, die maßlosen und oberflächlichen Ansprüche zurückzuweisen; Alicia Bustos Trejo, ‘Los Cuentos frágiles’, in Alicia Bustos Trejo und Ana Elena Díaz Alejo: ‘Introducción’, in Manuel Gutiérrez Nájera, Relatos, hg. v. Ana Elena Díaz Alejo, in Obras, Bd. 12, México: UNAM, 2001, S. XLVCXII, hier S. LXXVI). Klaus Meyer-Minnemann, Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle (Tübingen: Max Niemeyer, 1979), S. 29. Meyer-Minnemann, Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, S. 25. Es gibt Meinungen, die im Modernismo eine Symbiose praktisch der gesamten Weltliteratur sehen wollen. Hier ein Zitat aus dem ansonsten sehr sorgfältigen Buch Hanna Geldrichs über den Einfluss Heinrich Heines in Lateinamerika, das keines weiteren Kommentars bedarf: „Einfluß auf diese Bewegung übten die spanische, französische, italienische, englische und deutsche Romantik; die Antike; die Renaissance; der spanische Barock; der <<Siglo de Oro>>; und einzelne Dichter wie Musset, Hugo, D’Annunzio, Eugenio de Castro, Walt Whitman, Poe, Heine, Leopardi, Zola, Ibsen, Tolstoi, Renan und Nietzsche; und die orientalische, hebräische, persische, chinesische und japanische Dichtung./Im allgemeinen wird aber dem französischen Parnasse und Symbolismus, und Dichtern wie Gautier, Baudelaire, Leconte de Lisle und Verlaine der größte Einfluß auf den Modernismus zugesprochen” (Hanna Geldrich, Heine und der spanisch-amerikanische Modernismo, Bern/Frankfurt: Herbert Lang, 1971, S. 13). Der Wert einer derartigen Liste ist relativ.
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Narrativik nur einem bestimmten Autor zuschreiben zu wollen, absurd, da diese viel eher aus einer mehr oder weniger geglückten Kombination aller dieser Tendenzen hervorgeht. Por donde se sube al cielo ist keine Ausnahme von der Regel. Gutiérrez Nájera siedelt seinen Roman in Paris an, ein klares Indiz für den intellektuellen Kosmopolitismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Ein klares Indiz auch der asozialen und ahistorischen Tendenzen der finisekulären Literatur Mexikos, da bekannt ist, dass Gutiérrez Nájera sein Heimatland nie verlassen hat, die von ihm beschriebenen Typen und Szenarios also nur ein Ergebnis seiner Erfahrungen mit zeitgenössischen französischen Texten literarischer und journalistischer Art sein können. Das ideale und künstlerische Paris hat mit dem realen Paris wenig zu tun. Das städtische, „exotische“ Ambiente ist zweifelsohne ein modernistisches Merkmal, jedoch verzichtet Gutiérrez Nájera von Beginn an nicht auf stereotype Naturmetafern in der urbanen Umgebung. In der mit dem 16. Mai 1881 datierten Widmung an Judith Gautier fällt der Beginn des Romans, des Schreibprozesses, mit der erwachenden Natur zusammen: Los caballos dilatarán su nariz para aspirar ese olor incomparable de tierra húmeda, y la aurora bajará alegremente la montaña, como una virgen que sale de la alberca con el pelo suelto, y corre, después del baño, por los campos, mientras canta la sangre dentro de sus venas el himno de la juventud y de la vida. (Die Pferde werden ihre Nüstern weiten, um diesen unvergleichlichen Geruch nach nasser Erde einzuatmen und die Morgenröte wird fröhlich den Berg herunterkommen, wie eine Jungfrau, die mit offenem Haar dem Becken entsteigt und nach dem Bad durch das Land läuft, während das Blut in ihren Venen die Hymne der Jugend und des Lebens singt.)575
Diese Metaforik bewegt sich innerhalb eines traditionellen Rahmens: Der Künstler empfängt seine Inspiration in einer momentanen Reflexion über die Großartigkeit der Natur. Die Naturphänomene spiegeln noch den Gefühlszustand von Autor, Erzähler und erzählten Figuren. Die ersten Zeilen des Romans, die das Ende einer Theateraufführung in Paris576 beschreiben, scheinen der von Gutiérrez Nájera gezeichneten Widmung zu widersprechen. Dieser Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man berücksichtigt, dass der Duque Job als treuer Leser Baudelaires die in der Stadtlandschaft verborgenen Möglichkeiten kannte.577 Stilistisch entfernen sich die ersten Zeilen des Textes daher nicht wesentlich von der Widmung:
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Sie kann aber zumindest einen wichtigen Aspekt verdeutlichen: die künstlerische Neugierde der Modernisten, die nur eine internationalisierte Kulur befriedigen konnte. Manuel Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, hg. v. Ana Elena Díaz Alejo, in Obras, Bd. 11 (México: UNAM, 1994), S. 4. Gutiérrez Nájera lernte Paris als literarisches Ambiente u. a. bei Banville kennen. Die am 3. 6. 1881 veröffentlichte Erzählung ‘Stora’, die leicht frivole Geschichte um einen Strumpffetischisten, ist eine Bearbeitung eines nicht näher identifizierten Textes des Franzosen (Vgl. Gutiérrez Nájera, Relatos, S. 193-197). In der chronikartigen Erzählung ‘En el hipódromo’, die etwa zur gleichen Zeit wie der Roman entstand, verweist der Duque Job auf Baudelaire, um eine adlige Pariser Schönheit zu charakterisieren. Die Frau habe „la gracia infantil de los monos“ (die kindliche Anmut der Affen; Gutiérrez Nájera, Relatos, S. 395). Es handelt sich um den letzten Vers aus ‘Le Cadre’, dem dritten Teil von ‘Un Fantôme’ der Fleurs du Mal. Die Terzette des Sonettes lauten wie folgt: „Même on eût dit parfois qu’elle croyait/Que tout voulait l’aimer; elle noyait/Sa nudité voluptueusement // Dans les baisers du satin et du linge,/Et, lente ou brusque, à chaque
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Grandes reverberos proyectan su enorme faja luminosa en las aceras, como una cinta de oro desenrollada sobre un mostrador negro. Cierran las portezuelas de los coches con ruido seco, y se oye por todas partes ese atronante rumor de muelles nuevos, que marca el fin de las reuniones elegantes. Ha concluido el espectáculo. (Große Scheinwerfer projizieren ihre enormen Lichtbündel auf die Gehsteige, wie ein Goldband, das auf einem schwarzen Ladentisch entrollt liegt. Sie schließen mit trockenem Lärm die Wagentüren und man hört überall das betäubende Geräusch der neuen Uhrfedern, das das Ende der eleganten Versammlungen anzeigt. Das Spektakel ist beendet.)578
Die Stadtlandschaft ermöglicht es, neue auditive Elemente in die Beschreibung einzufügen, Geräusche, die verständlicherweise in der Naturbeschreibung keinen Platz finden konnten. Die traditionelle Funktion der Natur behält jedoch auch in der Stadt ihre Gültigkeit, auch wenn der mexikanische Autor sie um einen sehr sensitiven Ton bereichert. In dieser Hinsicht kommt es zu keiner entscheidenden Distanzierung von der Romantik, sondern im besten Falle – wie eingangs angenommen – zu einer Erweiterung. Der gleiche Mechanismus zeigt sich auch in der Protagonistin des Romans, der schönen Schauspielerin Magda. Ihre charakteristischsten Züge sind Oberflächlichkeit und Frivolität: „La bulliciosa parisiense no dormía: pensaba. ¡Caso extraño que tres veces, no más, le había ocurrido en la existencia!“ (Die unruhige Pariserin schlief nicht: sie dachte. Ein seltener Fall, der höchstens zwei oder drei Mal in ihrer Existenz eingetreten war!).579 Ihr ästhetischer Geschmack ist kaum ausgebildet, viel eher drückt er eine Vorliebe für das Beiläufige aus. Sie hebt alles auf, um es früher oder später zu vernichten. Ihr Zimmer kann keinesfalls als das einer femme fatale interpretiert werden, das für den Besucher unerwartete Eindrücke und vage erotische Überraschungen bereithält, noch findet sich eine Vorliebe für eine orientalische Ausstattung, wie sie unter anderen die Gebrüder Goncourt in der Literatur etabliert hatten. Ihr Zimmer ist oberflächlich und spiegelt den oberflächlichen Charakter der Bewohnerin wider: Un cortinaje espeso de brocado separa la alcoba propiamente dicha de la pequeña sala de confianza, en donde Magda guarda sus mejores cosas. Las paredes están cubiertas por un tapiz de seda color de rosa. En medio, un piano de madera blanca con encajes de oro, aguarda la pulsación de su señora [...] A primera vista se creería que un gato se ha entretenido en desbarajustar la biblioteca artística de Magda, amontonando las hojas arrancadas y las pastas vacías sobre el torso del piano. El Freischütz de Weber aparece austero y grave entre dos operetas de Offenbach y una cuadrilla de Hervé. Los nocturnos lamartinianos codean el ágil cuerpo de las mazurkas de Chopin. (Ein dicker Brokatvorhang trennte ihr eigentliches Zimmer von ihrer kleinen intimen Kammer, in der Magda ihre besten Sachen aufbewahrte. Die Wände waren mit einer rosafarbenen Seidentapete bedeckt. In der Mitte wartete ein weißes Piano aus Holz mit Goldverziehrungen auf den Fingerdruck seiner Herrin [...] Auf den ersten Blick würde man glauben, dass eine Katze sich damit unterhalten hat, die künstlerische Bibliothek Magdas durcheinanderzubringen. Die herausgerissenen Blätter und die leeren Einbände waren auf dem Rücken des Pianos verstreut. Webers Freischütz tauchte ernst und streng zwischen den Operetten Offenbachs
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mouvement/Montrait la grâce enfantine du singe“ (Es schien bisweilen, dass sie glauben müsse,/Es sei ihr alles gut und in die Küsse/Des Leinens und der Seide tauchte sie // Wollüstig ihren nackten Leib hinein,/In die Bewegungen floß Harmonie,/Kindliche Anmut junger Affen, ein; Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen, zweisprachige Ausgabe, Stuttgart: Philipp Reclam, 1980, S. 78, deutsch S. 79). Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 5. Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 14.
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und einer Quadrille Hervés auf. Die Nachtstücke Lamartines berührten den behenden Körper der Mazurka Chopins.)580
„Frivole“ und profunde Werke liegen nebeneinander. Dieses Durcheinander verdeutlicht die Psyche Magdas. Sie ist keine raffinierte und mitleidlose Heldin einer dekadenten Erzählung, sie ist auch nicht die vom Tod gezeichnete hypersensible Frauengestalt, die sowohl Romantik, als auch Modernismo verehrten.581 Gutiérrez Nájera überträgt vielmehr das Bild einer kleinen mexikanischen Schauspielerin auf Pariser Boden.582 Magda stellt in intellektueller Hinsicht keine Herausforderung für einen eventuellen Verführer dar. Ihr Musikgeschmack orientiert sich an der Aufführbarkeit des Werkes, ihr literarischer Geschmack existiert nicht. Nur ein Buch aus Magdas „Bibliothek“ findet Erwähnung. Sie verbirgt „una novela, cuyas primeras líneas no podría leer una mujer casada“ (einen Roman, dessen erste Zeilen keine verheiratete Frau lesen dürfte).583 Auch in dieser Hinsicht ähnelt sie mehr einer naiven, provinziellen Heldin, die mit den raffinierten Liebhaberinnen eines Des Esseintes oder eines José Fernández wenig gemein hat. Magda versteckt das Verbotene noch, sie liest den skandalösen Roman im Verborgenen. Eine Heldin der erwähnten Autoren würde ihn völlig offen lesen und mit dem Reiz des Tabuisierten kokettieren. Im Jahr 1882 konnte Gutiérrez Nájera das Bild der „new woman“ noch nicht kennen, das wenige Jahre später in die Erzählungen Nervos und die Chroniken Tabladas Eingang finden wird und noch etwas später in den Texten Coutos und den knappen Romanen Efrén Rebolledos als mitleidlose „vampiresa“ wiederkehrt. Die Oberflächlichkeit und Naivität ihrer Entscheidungen charakterisieren die Protagonistin im Verlauf der Handlung. Magda verwandelt ihr Leben in ein Theaterstück, sie spielt auch, wenn sie nicht auf der Bühne steht. Darin ähnelt sie auf dem ersten Blick Sibyl Vane, der ersten Geliebten von Oscar Wildes Dorian Gray. Der Unterschied zwischen Magda und Sybil ist jedoch deutlich: Bei Gutiérrez Nájera wird diese Figur zur alleinigen Protagonistin des Romans, während Wilde sich ihrer entledigt, sobald sie ihre erzählerische Funktion erfüllt hat. Sybil Vane begeht Selbstmord, als sie sich ihres Lebens in der permanenten Fiktion bewusst wird; Magda gelangt in Por donde se sube al cielo nicht zu derart extremen Schlüssen. Als sie merkt, dass sie als Frau die Liebe eines ehrlichen Mannes nicht verdient, gewährt ihr Gutiérrez Nájera eine dreijährige Frist, um sich ihres geliebten Raúl würdig zu erweisen. Die hauptsächliche Bedingung für ein erfülltes Leben wird bei dem Mexikaner überdeutlich: eine Annäherung an bürgerliche Lebensformen und Ideale, die schlichte Notwendigkeit, sich sein Geld auf „anständige“ Art und Weise zu verdienen. Eine derart idealisierte bürgerliche Welt stellt schon am Anfang des Romans eine Alternative zum unordentlichen Leben Magdas in der Pariser Theaterszene dar. Gleichzeitig illustriert Gutiérrez Nájera, dass erst das bürgerliche Publikum das sorgenlose 580 581 582 583
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Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 10. Der Prototyp dieser Frauengestalten könnte in den Bildern der Präraffaeliten gefunden werden, insbesondere in Dante Gabriel Rossettis Portraits seiner 1862 verstorbenen Frau Elizabeth Siddal. Magda ähnelt den leichtlebigen Mädchen der Wiener Bohème, die von Arthur Schnitzler als „Wiener Mädel“ berühmt gemacht wurden. Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 16.
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und oberflächliche Leben der Schauspielerin garantieren kann. Das von Gutiérrez Girardot aufgezeigte modernistische Paradox findet damit explizit Eingang in den Roman, hört also auf, ein Paradox zu sein, womit Por donde se sube al cielo nicht mehr in den Kontext Modernismo zu stellen ist. Erst das Nichterkennen des Paradox, seine fraglose Übernahme würden den Text der modernistischen Erzählkunst näher bringen. Gutiérrez Nájera jedoch erkennt, dass die Ablehnung und Verspottung des Bürgertums durch den Künstler eine absurde Haltung ist: Man schneidet den Ast ab, auf dem man sitzt. Erst die Nachfolger des Duque Job in Revista Azul und Revista Moderna werden auf diese selbstzerstörerische, aber auch bezeichnende Position zurückkommen. Der Duque Job seinerseits stellt das bürgerliche Leben noch beinahe als Idyll dar: Aquellos burgueses, pacíficos y graves, forman la población flotante del teatro. Concurren solamente cuando muchas semanas de trabajo y muchas privaciones les permiten ese gran despilfarro.584/Los niños vuelven a su casa, medio dormidos ya, con el dejo dulzón y pegajoso de los caramelos en el paladar. Y cuando la comitiva patriarcal llega a la casa, con grande admiración de los vecinos que duermen a pierna suelta en sus habitaciones, el padre oye espantado las doce campanadas de la medianoche que da el reloj en la vecina iglesia. ¡Medianoche! ¡Qué horrible desvelada! Pocas horas de sueño disfrutará ese esclavo del trabajo, que al rayar el alba, afila sus navajas para rasurarse y prepara la gran cubeta de agua fría! (Diese friedlichen und ernsten Bürger waren das Laufpublikum des Theaters. Sie kommen nur, nachdem viele Arbeitswochen und viele Entbehrungen ihnen eine derartige Verschwendung erlauben./Die Kinder kommen schon halb im Schlafe nach Hause zurück mit dem süßen und klebrigen Nachgeschmack des Karamel im Gaumen. Und wenn die patriarchalische Abordnung unter der großen Bewunderung der Nachbarn, die tief in ihren Wohnungen schlafen, nach Hause kommt, hört der Vater mit Erschrecken die zwölf Glockenschläge der Mitternacht, die von der Uhr in der benachbarten Kirche kommen. Mitternacht! Welch schreckliche Schlaflosigkeit! Dieser Sklave der Arbeit wird wenige Stunden Schlafes genießen und wenn der Morgen dämmert, schärft er das Messer, um sich zu rasieren und bereitet den großen Kübel kalten Wassers vor.)585
Gutiérrez Nájera weiß, dass er selbst der bürgerlichen Klasse angehört. Auch er ist ein „Sklave der Arbeit“, der seine Artikel, Erzählungen und Gedichte unter Zeitdruck schreiben muss, um sein ökonomisches Überleben sicherzustellen. Die widersprüchliche Situation der Künstler und Schriftsteller am Ende des 19. Jahrhunderts wird in derartigen Passagen deutlich. Aber Gutiérrez Nájera akzeptiert diese Situation und meidet die ästhetische Rebellion. Seine Darstellung nähert sich damit realistischen Formen an, in erster Linie, weil er die illusorische herausragende Rolle des Künstlers in der Gesellschaft nie als Kompensation für seine tatsächliche soziale Randstellung ableitet. Die nationale Thematik, die für den romantischen Roman entscheidend war, findet durch diese Tür Eingang in Por donde se sube al cielo. Die arbeitende bürgerliche Klasse erscheint als der eigentliche Motor der gesellschaftlichen Entwicklung und gesteht dem Künstler indirekt eine soziale Funktion zu: die des Unterhalters, der für kurze Zeit den schwierigen Alltag vergessen lässt. Diese 584
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Der Respekt Gutiérrez Nájeras vor dem Publikum ist manifest. Die Kunst wird mehr geschätzt, wenn ihr Konsum ein finanzielles Opfer impliziert. Das Theater – und ebensowenig die Literatur – könnten mit einem ausschließlich aus Geistes- und Geldaristokraten bestehenden Publikum nicht überleben. Das „ungebildete“ bürgerliche Publikum ist nötig, um das Weiterbestehen von Kunst und Künstler zu sichern. Auch diese Position widerspricht den modernistischen Postulaten im Kern. Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 7.
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Klasse kann jedoch tiefer gehende künstlerische Äußerungen nicht verstehen. Ihr Feld ist das Boulevardtheater. Damit sichert Gutiérrez Nájera den Künstler vor unberufenen Einmischungen ab und generiert eine Utopie, die den modernistischen Vorstellungen entgegenläuft: Das Nebeneinander von Bürgertum und Ästheten erscheint durch ein liberales laisser faire geregelt. Andererseits darf man nicht übersehen, dass Gutiérrez Nájera von den „burgueses pacíficos y graves“ (friedlichen und ernsten Bürgern) spricht. Gibt es andere? Die negative Figur des Romans ist Provot, der Liebhaber, der Magda entwürdigt, indem er für ihre erotischen Dienste bezahlt. Provot ist eine Karrikatur, ein alternder Frauenheld, der sich immer noch jung und attraktiv glaubt, aber in Wirklichkeit nur die Maske der Jugend ist: geschminkt und physisch heruntergekommen. Auch er lebt einen Selbstbetrug; er glaubt, ein Verführer zu sein: „En ocasiones llegaba a creerse joven, y, cuando la fatiga le postraba tras una caminata por la arena, equivocando el temblor enfermizo de sus piernas con las primeras emociones de su juventud, decía, tendiéndose de un banco: – ¡Es la sangre, es la sangre que me hierve!“ (Manchmal fühlte er sich jung und, wenn die Müdigkeit nach einem Spaziergang im Sand ihn niederdrückte, verwechselte er das kränkliche Zittern seiner Beine mit den ersten Emotionen seiner Jugend und sagte, sich auf einer Bank ausstreckend: – Es ist das Blut, das Blut kocht in mir!).586 Provot ist einerseits eine Karrikatur, andererseits vertritt er eine sehr reale Klasse: die des reichen Großbürgertums. Sein typischster Charakterzug ist seine Scheinheiligkeit. Als Senator hält er traditionelle Werte hoch: Familie und Ehrlichkeit. Abseits seiner Rolle in der Öffentlichkeit hält er eine teure Geliebte aus. Er misst alles mit den Kriterien von Kauf und Verkauf, auch Magda ist hierbei nicht viel mehr als eine Ware. Als er von der „Untreue“ Magdas erfährt, zögert er nicht, sein Eigentum zu entwürdigen und ihre Wertlosigkeit als Person offen auszusprechen: „– Hoy, aún eres mía, me perteneces como una cosa que he comprado. Puedo escupirte, pisotearte, arañar ese cutis y estrujar los encajes de tu bata. ¿Quieres ser libre? ¡Págame! Si yo te debo, ¡toma!” (– Heute bist du noch mein, du gehörst mir wie ein Ding, das ich gekauft habe. Ich kann dich anspucken, dich treten, diese Haut aufkratzen und die Spitzen deines Nachthemdes zerreißen. Möchtest du frei sein? Bezahle mich! Wenn ich dir schulde, so nimm!).587 Gutiérrez Nájera entblößt Provots Scheinmoral. Er offenbart, dass das Bürgertum keine einheitliche Klasse ist, sondern dass es Abstufungen gibt. Das Ziel seines Sarkasmus sind vermögende öffentliche Figuren und Geschäftsleute, deren Wertekodex sich einzig und allein an der Macht des Geldes orientiert. Die viel größere Gruppe der arbeitenden Bürger wird dagegen als eigentliche Basis jeder Gesellschaft präsentiert. Nach Gutiérrez Nájera wird der Modernismo diese Unterscheidung fallen lassen und mit dem kunstfeindlichen Bürger die soziale Entwicklung Mexikos pauschal verdammen. Der Duque Job hatte die gesellschaftlichen Strukturen Mexikos nach Paris transportiert. Was er als arbeitende Bürger beschreibt, war in Wirklichkeit bereits die französische Arbeiterklasse, entsprach jedoch der schmalen mexikanischen Mittelschicht. Wenige Jahre später erkennen jedoch auch in Lateinamerika Autoren wie der in Mexiko schreibende Argentinier Manuel Ugarte, 586 587
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Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 36f. Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 47.
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dass diese Schicht im Wandel begriffen war und allmählich ihre Friedfertigkeit ablegte.588 Das Bürgertum muss sich demnach für die Gutiérrez Nájera folgende Schriftstellergeneration bereits auf den Typ Provot reduzieren: reich, ignorant und scheinheilig. Ohne Zweifel entfernt sich Gutiérrez Nájera mit Por donde se sube al cielo von Modellen wie María oder Cecilia Valdés, aber er sorgt sicher nicht für die Geburt eines neuen Genres: den modernistischen Roman. Einige Momente im Text nehmen typische Themen und Motive späterer Werke von Darío oder Nervo vorweg und deuten eine noch kaum definierte modernistische Ästhetik an: der Badeort Aguas Claras etwa, der mit seinem heruntergekommenen Luxus die Nostalgie für das Vergangene evoziert, die Idealisierung versunkener Epochen, wie sie insbesondere Darío betrieb.589 In der Figur Raúls zeichnet sich bereits der dekadente Held ab. Er ist übersensibel, gelangweilt und melancholisch: ein Künstler, der nichts produziert.590 Dennoch hängt Raúl einer konservativen Ethik an. Die Pariser Welt Magdas bleibt für ihn ein exotisches Ambiente: verführerisch, aber gefährlich. Raúl könnte viel eher den romantisch-sentimentalen Helden europäischer Art verkörpern. Er steht Werther sehr viel näher als Des Esseintes oder José Fernández. Die Züge des verzweifelten und rebellischen Dichters, den Ricardo Gullón als Gefangenen einer Gesellschaft definierte, die die frühere Stimme Gottes degradiert und ihn dazu verurteilt hatte, „abrumado“ (bedrückt) und „estremecido“ (erschüttert) wegen seiner Visionen zu sein, sind bei Raúl noch abwesend.591 Auch neue Erzähltechniken zeichnen sich in Por donde se sube al cielo ab, auch wenn das offene Ende, in dem Clark de Lara ein bewusstes Fragment sehen möchte, das den Leser zur Mitverfasserschaft am Text aufruft592 viel eher im Zusammenhang mit den Entstehungsumständen des Textes als Fortsetzungsroman im Feuilleton einer Tageszeitung, denn mit einem Versuch Gutiérrez Nájeras, sich dem boom der lateinamerikanischen Erzählkunst im 20. Jahrhundert anzunähern, zu sehen ist.593 Der Roman des Duque Job entfernt sich am weitesten von der Romantik, wenn es darum geht, ein psychologisches Porträt seiner Akteure zu schaffen. María, Cecilia Valdés, die Helden Echeverrías und Sarmientos waren statische Gestalten, die im wesentlichen einer psychologischen Motivation gehorch588 589 590 591 592 593
Die Jahrhundertwende brachte für Mexiko nicht zufällig auch das Enstehen der Gewerkschaftsbewegung um Ricardo Flores Magón (1873-1922). Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 24ff. Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 25f. Ricardo Gullón, Direcciones del modernismo (Madrid, 1963), S. 31. Clark de Lara, ‘Introducción’, S. LXXXIX. Gutiérrez Nájera plante sehr wahrscheinlich einen wesentlich umfangreicheren Roman. Die Episode, die in der UNAM-Ausgabe den Titel ‘Paréntesis’ trägt und als Protagonisten einen Familienvater hat, der eine Doppelexistenz führt (er arbeitet unter Tags in der Leichenhalle der Stadt und wird in der Nacht zum flâneur) ist ein Indiz für derartige Pläne, da es in der jetzigen Gestalt des Romans nicht möglich ist, eine Verbindung zwischen dieser Episode und dem Geschehen um Magda herzustellen. El Noticioso ließ vom Drucker José María Sandoval im Jahr 1882 auch eine Buchausgabe des Textes herstellen, die – später als der Text im Feuilleton – in Guadalajara gefunden wurde (Vgl. Irma Contreras García, La prosa de Gutiérrez Nájera en la prensa nacional, México: UNAM, 1998, S. 138f.). Die UNAM hat bis jetzt nicht bekannt gemacht, ob es sich um einen kompletten, nicht „fragmentarischen“ Text handelt. Die Buchausgabe umfasst 192 Seiten. Berücksichtigt man den für derartige Publikationen verbreiteten Großdruck, so sind wenige Änderungen gegenüber der jetzt vorliegenden Fassung zu erwarten.
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ten. Magda dagegen entwickelt sich. Die frivole, oberflächliche Frau des Beginns wird sich gegen Ende der Handlung der Leere ihrer Existenzform bewusst und will eine Änderung herbeiführen. Gutiérrez Nájera beschreibt die Bewusstwerdung Magdas, das Verlassen der in ihrem Leben allgegenwärtigen Bühne, als verwirrende und absurde Erfahrung: „Parecía que iba dentro de su pecho un dios dormido y que, cuando éste despertaba, le imponía su absoluta voluntad. Minutos antes había querido y razonado como una cortesana. ¿Para qué? Para obrar como una virgen“ (Es schien, als ob in ihrer Brust ein schlafender Gott hauste, der, wenn er erwachte, ihr seinen absoluten Willen aufzwang. Minuten vorher hatte sie wie eine Kurtisane geliebt und gedacht. Wofür? Um wie eine Jungfrau zu handeln).594 Der mexikanische Romancier macht sich traumhafte Elemente zunutze, um den psychologischen Wandel Magdas zu verdeutlichen. Er stellt sie über einem Abgrund dar, der nur für sie gemacht wurde, vor dem nur ihr eigener Wert sie retten kann. Die Traumbilder dieses Abschnitts lassen die Vorgangsweisen der mexikanischen Romantik hinter sich: „A ratos, sentíase atada, con durísimas correas, a una rueda de fierro que iba rodando sobre bayonetas puestas de punta. Otras, le parecía que un monstruo velludo le iba mondando el cuerpo con una navaja, hasta dejar los huesos limpios“ (Manchmal fühlte sie sich mit steinharten Bändern an ein eisernes Rad gefesselt, das auf mit den Spitzen nach oben zeigenden Bajonetten rollte. Ein anderes Mal schien ein haariges Ungeheuer ihren Körper mit einem Messer auszuschaben, bis er nur mehr die sauberen Knochen ließ).595 Diese Episode wurde jedoch nachträglich eingefügt. Es handelt sich um eine Erzählung, die unabhängig von dem Roman publiziert wurde. Diese Tatsache nimmt der Passage keineswegs künstlerischen Wert, lässt aber doch den „revolutionären“ Charakter des Romans unter einem etwas anderen Licht erscheinen. Klaus Meyer-Minnemann deutet an, dass das wachsende Interesse der mexikanischen Autoren für die Psychologie auf die Rezeption des französischen Naturalismus zurückzuführen ist.596 Der Schlüsseltext für diese Tendenzen, Paul Bourgets Essais de psychologie contemporaine, erschien ein Jahr nach Por donde se sube al cielo. Gutiérrez Nájera war jedoch auch ohne Bourgets Text mit den Werken des Naturalismus um Zola gut vertraut und er hatte sie bei der Abfassung des Textes präsent. Es ist daher nicht notwendig, einen neuen Mythos von Gutiérrez Nájera als Initiator des psychologischen Romans zu schaffen. Die logische Entwicklung des Naturalismus hin zu einem immer stärker eingesetzten Psychologismus kann derartige Tendenzen im Werk des Duque Job erklären.597 Die Verbindung mit dem französischen Naturalismus zeigt sich auch in dem sich verändernden Stellenwert der Natur im mexikanischen Text. Wenn sie zu Beginn noch als romantischer Spiegel der Gefühlswelt der Protagonisten und als Anregerin der künstlerischen Produktion 594 595 596 597
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Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 85. Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 90. Meyer-Minnemann, Der spanischamerikanische Roman des Fin de siècle, S. 2f. Schon in dem sehr frühen Fragment ‘Un drama en la sombra’ (publiziert am 11. 3. 1877) entwirft Gutiérrez Nájera eine Art realistisch-psychologisches Programm: „Voy a revelaros algunos dolores de aquellos desconocidos seres; voy a presentaros la autopsia de un corazón, a sondear los profundos secretos de un espíritu, y a exponer ante vuestra vista el esqueleto de su historia“ (Ich werde euch einige Schmerzen jener unbekannten Wesen enthüllen, ich werede euch die Autopsie eines Herzens vorstellen, die tiefen Geheimnisse eines Geistes ausloten und vor eure Augen das Skelett seiner Geschichte führen; Gutiérrez Nájera, Relatos, S. 10).
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fungiert, so ist sie am Ende von Por donde se sube al cielo eine Stiefmutter, die den menschlichen Tragödien mit ihrer Unwandelbarkeit gleichgültig gegenübersteht: „Nuestras penas no entristecen a la Madre Naturaleza. La gota de tinta no tiñe de negro el océano. Las lágrimas caen a la dura tierra que las bebe y no suben al cielo. La Madre Naturaleza no tiene corazón“ (Unsere Nöte machen die Mutter Natur nicht traurig. Der Tintetropfen färbt den Ozean nicht schwarz. Die Tränen fallen auf die harte Erde, die sie trinkt und sie fligen nicht in den Himmel. Die Mutter Natur hat kein Herz).598 In einer Monografie über Leben und Werk Manuel Gutiérrez Nájeras merkt Carlos Gómez del Prado bezüglich der Erzählungen des Duque Job an: „todas las características de la prosa modernista serán las que vemos despuntar en Gutiérrez Nájera“ (alle Charakteristika der modernistischen Prosa zeichnen sich in Gutiérrez Nájera ab).599 Der Terminus „despuntar“ – auch wenn nicht von „allen Charakteristika“ die Rede sein kann –600 sollte auch auf Por donde se sube al cielo angewendet werden, um die überstürzte Ankündigung einer literarischen Revolution, für die sich die Forscher der UNAM in ihrer Ausgabe des Textes entschieden, zu vermeiden. 1882 war eine derartige Revolution noch undenkbar. Gutiérrez Nájera selbst bearbeitet nur zwei Jahre nach Por donde se sube al cielo das altbekannte romantische Motiv einer von Klassenunterschieden unmöglich gemachten Liebe in dem Romanfragment ‘Juan el organista’, in dem sich der einfache und naive Protagonist in die Tochter eines reichen Großgrundbesitzers verliebt, auf deren Hochzeit er die Orgel spielt und danach, während eines unheilvollen Gewitters, Selbstmord begeht.601 Der erzählerische Paradigmenwechsel zeichnet sich ab, benötigt aber in Mexiko noch mehrere Jahre und vor allem zahlreiche Lektüren seitens der Autoren, um sich zu etablieren. Eine dieser Lektüren ist ohne Zweifel Joris Karl Huysmans À rebours, das im Mai 1884 von Charpentier in Paris veröffentlicht wurde. Genau ein Jahr später beginnt die Publikation von Amistad funesta, dem Roman José Martís, in El Latino-Americano, dem Organ der hispanischen Exilierten in New York. Die Veröffentlichung unter dem Pseudonym Adelaida Ral kommt im September 1885 zu ihrem Abschluß. À rebours, die Apotheose des dekadenten Romans, musste Spuren im Werk des Kubaners hinterlassen, vor allem im Vergleich mit dem Text Gutiérrez Nájeras. M. P. González behauptet von dem Leser Martí: „Martí leyó mucho y con gran provecho a Gautier, a Flaubert, a Catulle Mendès, a Daudet, a Renan, a los Goncourt, y a otros muchos prosistas franceses de la segunda mitad del siglo pasado, y les debe mucho más de lo que por lo general se admite“ (Martí las viel und mit großem Vorteil Gautier, Flaubert, Catulle Mendès, Daudet, Renan, die Goncourts und viele andere französische Prosaautoren der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Er schuldet ihnen mehr als man im allgemeinen zugibt).602 Mit einiger Sicherheit las Martí À rebours kurze Zeit nach 598 599 600 601 602
Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 97. Carlos Gómez del Prado, Manuel Gutiérrez Nájera, vida y obra (México: Ediciones de Andrea, 1964), S. 116. Das Bild der femme fatale, aber auch die Überbewertung des Künstlichen gegenüber dem Natürlichen fehlen, neben einigen anderen Besonderheiten des Modernismo, im Roman Gutiérrez Nájeras. Gutiérrez Nájera: Relatos, S. 617-639. Die Anklänge an Bécquers Leyendas sind deutlich. M. P. González, und I. A. Schulman, José Martí, Rubén Darío y el modernismo, in Biblioteca Románica Hispánica, II. 127 (Madrid: Gredos, 1974), S. 195. González und Schulman sind die Profeten José Martís in
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der Veröffentlichung des Romans in Paris. Seine Kontakte mit einer Reihe von Zeitschriften, die versuchten, die europäische Literatur in Lateinamerika zu verbreiten, ermöglichten ihm den raschen Zugang zu literarischen Neuheiten aus dem alten Kontinent.603 Natürlich besaß auch Martí, trotz seines engen Kontaktes mit der englischsprachigen Kultur, ausgezeichnete Französischkenntnisse, war also, wie seine mexikanischen Kollegen, nicht von Übersetzungen abhängig. In seinem Vorwort zu einer geplanten Neuauflage von Amistad funesta, die unter dem Titel Lucía Jerez604 erscheinen sollte, konstatiert Martí die Aktualität des Genres Roman, gibt aber gleichzeitig zu, dass in Lateinamerika fast zwangsweise nur oberflächliche Werke in dieser Gattung geschrieben werden können, weil die Autoren den Anforderungen und Gesetzen des Feuilletons gehorchen müssen. Es gibt – laut Martí – keinen Markt für den Roman als Buch, in erster Linie weil dieses zu teuer ist. Die Forderungen des Feuilletons wirken sich sowohl auf die Form, als auch auf den Inhalt aus: „En la novela había de haber mucho amor; alguna muerte; muchas muchachas, ninguna pasión pecaminosa; y nada que no fuese del mayor agrado de los padres de familia y de los señores sacerdotes. Y había de ser hispanoamericana“ (Im Roman musste es viel Liebe, irgendeinen Tod, viele Mädchen geben, es durfte keine sündige Leidenschaft und nichts, was dem Wohlgefallen der Familienväter und der Herrn Priester widerspricht, geben. Und er musste hispanoamerikanisch sein).605 Diese Kriterien – moralische Unbedenklichkeit und nationalistische Thematik – stellen beachtliche Einschränkungen für die Autoren dar. Ohne Zweifel konnte ihnen ein romantischer Roman eher gerecht werden, als Versuche, das Genre in Lateinamerika neuen europäischen Modellen aus Naturalismus und/oder Dekadenz anzupassen. Folgerichtig setzt der Roman des Kubaners auch mit einer Passage ein, die deutlich romantische Symbolik aufweist. Martí stellt seine Protagonistin Lucía vor und mit ihr Adela und Ana, die er über ihre jeweiligen Lieblingsblumen charakterisiert: Adela, delgada y locuaz, con un ramo de rosas Jacqueminot al lado izquierdo de su traje de seda crema; Ana, ya próxima a morir, prendida sobre el corazón enfermo, en su vestido de muselina blanca, una flor azul sujeta con unas hebras de trigo; y Lucía, robusta y profunda, que no llevaba flores en su vestido de seda carmesí, porque no se conocía aún en los jardines la flor que a ella le gustaba: ¡la flor negra! (Die schmale und redselige Adela mit einem Zweig Jacqueminot-Rosen auf der linken Seite ihres cremefarbenen Seidenkleides; Ana, dem Tod schon nahe, hatte über dem kranken Herzen auf ihrem weißen Musselinkleid eine blaue Blume mit einigen Weizenfäden angebracht; und die robuste und tiefe Lucía trug keine Blu-
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der Forschung über den Modernismo. Sie versuchen unter allen Umständen, Martí als eigentlichen Initiator der Bewegung durchzusetzen, dem v. a. gegenüber Gutiérrez Nájera und Darío der Vorzug gebührt. González führt sieben Zeitschriften an, für die Martí gleichzeitig schrieb, in Mexiko insbesondere die dem Modernismo nahe stehende Revista Nacional de Letras y Ciencias (González/Schulman, José Martí, Rubén Darío y el modernismo, S. 161). Diese Edition kam nicht zustande. Trotzdem publizieren die kubanischen Verleger den Roman heute als Lucía Jerez. Die von Martí geplante Änderung des Titels könnte sehr leicht eine Reminiszenz an die großen romantischen Romane Lateinamerikas gewesen sein, deren Titel Frauennamen sind: María, Cecilia Valdés, Amalia. José Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta (La Habana: Editorial Letras Cubanas, 1997), S. 29.
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men auf ihrem karmesinfarbenen Seidenkleid, weil in den Gärten die Blume, die ihr gefiel, noch nicht bekannt war: die schwarze Blume!)606
Es muss darauf hingewiesen werden, dass Lucía hier mit der romantischen Symbolik bricht. Ihre Lieblingsblume gehört einer 1885 in Lateinamerika noch nicht existenten Epoche an: eine verbotene Blume. Die oberflächliche Adela, die melancholische und vom Tod gezeichnete Ana dagegen sind aus der Romantik bekannte Prototypen. Die intellektuelle und leidenschaftliche Lucía war eine Neuheit im spanischamerikanischen Feuilleton. Der dekadente Frauentypus, die femme fatale, die alles ihren Vorlieben und Launen unterordnet, deutet sich an: „Lucía, en quien un deseo se clavaba como en los peces se clavan los anzuelos, y de tener que renunciar a algún deseo, quedaba rota y sangrando, como cuando el anzuelo se le retira queda la carne del pez“ (In Lucía verbohrte sich ein Wunsch wie der Köder in den Fischen und, wenn sie auf einen Wunsch verzichten musste, blieb sie zerbrochen und blutend zurück, wie der Fisch, wenn der Köder aus seinem Fleisch herausgezogen wird).607 Martí wagt ein irritierendes Spiel mit seinen Lesern: Lucía ist eine Figur, die in der lateinamerikanischen Literatur noch nicht existiert, sie folgt französischen Modellen; der Kubaner integriert sie in seinen Text als Fremdkörper, der auffällig mit den für die Leser vertrauten Modellen Ana und Adela kontrastiert. Andererseits zeichnet sich im maskulinen Protagonisten Juan die lateinamerikanische Variante des dekadenten Helden ab: er ist ein altruistischer Tatmensch. Was ihm jedoch gänzlich fehlt, sind raffinierte und pervertierte ästhetische oder erotische Vorlieben: „Juan, de aquella elevada estatura, realzada por las proporciones de las formas, que en sí misma lleva algo de espíritu, y parece dispuesta por la naturaleza al heroísmo y al triunfo“ (Juan von hoher, durch die Proportionen der Formen betonter Statur, die in sich selbst etwas Geistiges trägt und von der Natur zum Heldenmut und zum Triumph vorherbestimmt scheint).608 Juan ähnelt Des Esseintes nicht im geringsten, dessen Zynismus, sowie körperlichen und psychischen Schwächen sind ihm völlig unbekannt. Derartige Eigenschaften finden sich viel eher in Pedro, dem egoistischen Verführer und Narziss. Eine Figur mit den eindeutigen Charakteristika Des Esseintes kann in dem kubanischen Roman jedoch aus zwei Gründen noch keinen Platz finden: 1) Die Abneigung, die Martí selbst gegen die parasitäre Existenz eines Des Esseintes fühlen musste. 2) Die von der Zeitschrift, in der Amistad funesta erschien, erzwungene indirekte Zensur. Ein lateinamerikanischer Des Esseintes wäre nicht „agrado de los padres de familia y de los señores sacerdotes“ (Wohlgefallen der Familienväter und der Herrn Priester) gewesen. Huysmans Einfluss wird jedoch an einigen Details sichtbar. Die Innenausstattung der Häuser spiegelt einen verfeinerten und etwas extravagenten Geschmack ihrer Bewohner. Sie erreicht zwar nicht die Pariser Eigenwilligkeiten, übertrifft aber bei weitem den richtungslosen Geschmack Magdas in Por donde se sube al cielo: La antesala era linda y pequeña, como que se tiene que ser pequeño para ser lindo. De unos tulipanes de cristal trenzado, suspendidos en un ramo del techo por un tubo oculto entre hojas de tulipán simuladas en bronce,
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José Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta, S. 32. José Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta, S. 43. José Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta, S. 49.
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caía sobre la mesa de ónix la claridad anaranjada y suave de la lámpara de luz eléctrica incandescente. No había más asientos que pequeñas mecedoras de Viena, de rejilla menuda y madera negra. (Das Vorzimmer war hübsch und klein, wie man klein sein muss, um hübsch zu sein. Die orangene und milde Klarheit der elektrischen Lampe fiel von Tulpen aus geschwungenem Glas, die an einem zwischen künstlichen Tulpenblättern aus Bronze versteckten Stab hingen, auf den Tisch aus Onyx. Es gab nicht mehr Stühle als kleine Wiener Schaukelstühle aus feinem Geflecht und schwarzem Holz.)609
Das Künstliche dieser Dekoration fällt auf: nachgeahmte Blumen, das am Ende des 19. Jahrhunderts in Kuba unübliche elektrische Licht. Eine der Voraussetzungen der französischen Literatur ab Baudelaire lässt sich hier unschwer wiedererkennen: die Überlegenheit des Künstlichen gegenüber dem Natürlichen. Das Vorbild für diese Beschreibung könnte aber ebensogut wie bei Huysmans bei den Gebrüdern Goncourt zu finden sein. Das Modell des Autors von À rebours zeigt sich unzweideutig erst in der Beschreibung der Bibliothek des Hauses. Sowohl die Bücher selbst, als auch ihre Ausstattung sind ein Reflex der Bibliothek Des Esseintes. Als Beispiel soll hier der Kult des dekadenten Helden für Baudelaire dienen, dem er einen Altar errichtet: Il s’était fait ainsi imprimer avec les admirables lettres épiscopales de l’ancienne maison Le Clere, les œuvres de Baudelaire dans un large format rappelant celui des missels, sur un feutre très léger du Japon, spongieux, doux comme une moelle de sureau et imperceptiblement teinté, dans sa blancheur laiteuse, d´un peu de rose. Cette édition tirée à un exemplaire d’un noir velouté d’encre de Chine, avait été vêtue en dehors et recouverte en dedans d´une mirifique et authentique peau de truie choisie entre mille, couleur chair, toute piquetée à la place de ses poils et ornée de dentelles noires au fer froid, miraculeusement assorties par un grand artiste. (So hatte er sich mit den herrlichen Kirchenlettern des Hauses Le Clerc Baudelaires Werk in Großformat, das an Meßbücher erinnerte, auf ganz leichtem, schwammigen Japanfilz drucken lassen, der weich wie Holundermark war und trotz seiner milchigen Weiße einen rosa Schimmer hatte. Er hatte davon ein Exemplar in samtschwarzer chinesischer Tusche drucken und außen und innen in herrliches, unter Tausenden von Häuten ausgesuchtes fleischfarbenes, genarbtes Schweinsleder binden lassen, auf das ein großer Künstler ein Ornament von schwarzen Spitzen gepresst hatte.)610
Die von Martí beschriebene Bibliothek zeichnet sich durch die gleiche Vorliebe für kunstvolle und teure Einbände aus. Die Blasfemie Des Esseintes fehlt, der den Werken Baudelaires das Aussehen von Messbüchern verleihen wollte. Die literarischen Vorlieben Lucías sind konventioneller, sie neigt der Romantik und dem Bildungsroman zu. Derartige Anpassungen erklären sich leicht durch die verlägerischen Einschränkungen, die Martí berücksichtigen musste und die Huysmans nicht kannte. Aber auch so ist die Verwandtschaft der Bibliothek des kubanischen Autors mit der Huysmans nicht zu übersehen: Y en las esquinas de la habitación, en caballetes negros, sin ornamentos dorados, ostentaban su rica encuadernación cuatro grandes volúmenes: El Cuervo, de Edgar Poe, El Cuervo desgarrador y fatídico, con láminas de Gustavo Doré, que se llevan la mente por los espacios vagos en alas de caballos sin freno: el Rubaiyat, el poema persa, el poema del vino moderado y las rosas frescas, con los dibujos apodícticos del norteamericano Elihu Vedder; un rico ejemplar manuscrito, empastado en seda lila, de Las Noches, de Alfredo de Musset; y un Wilhelm Meister, el libro de Mignon, cuya pasta original, recargada de arabescos
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José Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta, S. 50. Joris Karl Huysmans, À rebours, S. 176f., deutsch S. 254.
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insignificantes, había hecho reemplazar Juan, en París, por una de tafilete negro mate embutido con piedras preciosas: topacios tan claros como el alma de la niña, turquesas, azules como sus ojos; no esmeraldas, porque no hubo en aquella vaporosa vida; ópalos, como sus sueños; y un rubí grande y saliente, como su corazón hinchado y roto. (In den Ecken des Zimmers stellten vier große Bände in schwarzen Gestellen ohne Goldschmuck ihre prächtigen Einbände zur Schau: der herzzerreißende und unheilvolle Rabe von Edgar Poe mit Stichen von Gustave Doré, die den Geist mit ungebremsten Pferdeflügeln durch nebelhafte Räume führen: das persische Gedicht Rubaiyat, das Gedicht des maßvollen Weins und der frischen Rosen, mit den apodiktischen Zeichnungen des Nordamerikaners Elihu Vedder; ein prächtiges in lila Seide gebundenes handgeschriebenes Exemplar der Nächte Alfred de Mussets; und ein Wilhelm Meister, das Buch Mignons, dessen ursprünglichen mit unbedeutenden Arabesken überfüllten Einband Juan in Paris durch einen aus mattschwarzem Saffianleder mit eingelassenen Edelsteinen ersetzen ließ: Topase so klar wie die Seele des Mädchens, Türkise so blau wie ihre Augen; keine Smaragde, weil es in diesem luftigen Leben keine gab; Opale wie ihre Träume und ein großer und herausragender Rubin wie ihr geschwollenes und gebrochenes Herz.)611
Der Kubaner integriert den symbolischen und geheimen Wert der Edelsteine, denen Huysmans ein ganzes Kapitel widmete, in seine Beschreibung der Bibliothek. Martí hat das besondere Augenmerk, das die finisekulären Helden ihren Bibliotheken widmen, schon 1885 in sein Werk aufgenommen, 15 Jahre vor der modernistischen Bibliothek Tabladas, die ein Schlüsseltext der Revista Moderna werden sollte. Dass Joris Karl Huysmans der intellektuelle Taufpate dieses Bestandteils der modernistischen Narrativik war, kann schwerlich angezweifelt werden. Die Haltung Martís gegenüber der Frivolität der Pariser Bohème ist zwiespältig. Ähnlich wie Campos und Tablada in ihren Memoiren erkennt der Kubaner die Anziehungskraft dieses Ambientes und erschrickt gleichzeitig vor ihm. Im Gegensatz zu den Mexikanern drückt jedoch Martí diese Position in einem literarischen Werk und ohne zeitliche Distanz aus. Paris ist die Traumstadt von Adela und Pedro, den beiden oberflächlichen Protagonisten des Romans. Ana und Juan dagegen verehren Spanien und Italien, in denen sie ernstere und weniger pervertierte Kulturen erkennen.612 Die Pariser Bohème, die gescheiterten Existenzen junger Künstler, der gefürchtete ennui stoßen die finisekulären Gesellschaften Lateinamerikas ab. Die sensible Ana plant ein allegorisches Bild des Ungeheuers der Jahrhundertwende.613 Sie beschreibt ihr Gemälde wie folgt: Sobre una colina voy a pintar un monstruo sentado. Pondré la luna en cenit, para que caiga de lleno sobre el lomo del monstruo, y me permita simular con líneas de luz en las partes salientes los edificios de París más famosos. Y mientras la luna le acaricia el lomo, y se ve por el contraste del perfil luminoso toda la negrura de su cuerpo, el monstruo, con cabeza de mujer, estará devorando rosas. Allá por un rincón se verán jóvenes flacas y desmelenadas que huyen, con las túnicas rotas, levantando las manos al cielo. (Ich werde ein auf einem Hügel sitzendes Ungeheuer malen. Ich werde den Mond im Zenit darstellen, damit sein Licht voll auf den Rücken des Monsters fällt und mir gestattet, in den vorspringenden Teilen die 611 612 613
José Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta, S. 51. José Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta, S. 55f. Die Wichtigkeit der Malerei für den Modernismo ist offenkundig und wurde schon mehrmals angedeutet. Die Bilder Gustave Moreaus und der englischen Präraffaeliten haben die Gedichte Julián del Casals beeinflusst und stellen auch wichtige erzählerische Motive dar. Das bekannteste Beispiel ist zweifelsohne das präraffaelitische Portrait in De sobremesa. Auch in dieser Hinsicht hat Martí gegenüber Gutiérrez Nájera den Vorteil der Huysmans-Lektüre.
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berühmtesten Pariser Gebäude mit Lichtstrahlen anzudeuten. Und während der Mond seinen Rücken liebkost und durch den Kontrast des leuchtenden Profils die Schwärze seines Körpers betont, wird das Ungeheuer mit Frauenkopf Rosen verschlingen. In einer Ecke wird man dürre und zerzauste Jünglinge sehen, die mit zerrissenen Röcken und mit zum Himmel gehobenen Händen flüchten.)614
Die Ungeheuerlichkeit des zu Ende gehenden Jahrhunderts, der Verlust sicherer Glaubenssätze, die melancholische Krankheit des ennui und die Flucht in die künstlichen Paradiese kommen in Anas Gemälde zum Ausdruck. Martí kannte dieses Szenarium durch seine Lektüren und ohne Zweifel fürchtete er es. Amistad funesta ist in diesem Sinne eine zutreffende Analyse der Jahrhundertwende und gleichzeitig ein Versuch, die negativen kulturellen und sozialen Konsequenzen aus dieser Zeit von Kuba und Lateinamerika fernzuhalten. Martí ist nicht umsonst der amerikanische Freiheitsheld. Der zweite Teil des Romans drückt demnach auch eine Abwendung von dekadenten Motiven aus. Die französischen Reminiszenzen treten zurück und erneut gelangt das amerikanische, nationalistische Thema in den Text. Sol, die Antagonistin Lucías, kann als Prototyp der amerikanischen Frau gesehen werden: schön, leicht erotisch, aber naiv und unschuldig. Die Umarmung zwischen Lucía und Sol kündigt das tragische Ende an: „– Oh, dijo Sol de pronto ahogando un grito. Y se llevó la mano al seno, y la sacó con la punta de los dedos roja. Era que al abrazarla Lucía, se le clavó en el seno una espina de la rosa“ (– Oh, sagte Sol plötzlich und unterdrückte einen Schrei. Und sie führte die Hand an die Brust und zog sie mit roten Fingerspitzen wieder zurück. Als sie Lucía umarmte, bohrte sich der Dorn einer Rose in ihre Brust).615 Unschwer lässt sich hier eine Warnung Martís vor dem zunehmenden Einfluss des Auslandes in Lateinamerika ablesen, die weit über literarische Modelle hinausgeht und neben Frankreich an erster Stelle die USA betrifft. Martís Ablehnung des französischen Einflusses zielt darauf ab, dass ein Zuviel an ästhetischer Verfeinerung und komplexer Reflexion die amerikanische Unverdorbenheit zerstören würde, die Sol im Roman repräsentiert.616 Martí kehrt damit zu romantischen Modellen zurück, paradoxerweise ausgerechnet auf das französische Konzept des guten und naiven Wilden, der von der europäischen Zivilisation verdorben werden könnte. Abschweifungen über die politische Situation des Landes werden eingefügt,617 das Thema der nationalen Unabhängigkeit etabliert sich im Roman, die Studenten werden als junge Intelligenz der Nation zu Freiheitshelden stilisiert. Amistad funesta begann als modernistischer Roman und endet als romantische Erzählung. Das tragische Ende – Lucía tötet Sol in einem Anfall unkontrollierbarer 614 615 616
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José Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta, S. 58. José Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta, S. 102. Martí charakterisiert Sol als „sin extraordinario vuelo del intelecto, la belleza y la ternura“ (frei von außerordentlicher Intelligenz, die Schönheit, die Zärtlichkeit), während Lucía zu intelligent, egoistisch und leidenschaftlich ist (Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta, S. 145). Eine Alternative könnte Ana sein, die sensible Künstlerin, die jedoch dazu verurteilt ist, jung zu sterben. Man könnte in dieser Konstellation auch die Divergenz zwischen Realismus (= Sol) und Modernismo/Symbolismus (= Lucía) wiedererkennen, in deren Mitte die Romantik (= Ana) zum Sterben verurteilt ist. Martí legt keinen konkreten Schauplatz fest. Natürlich deutet vieles auf Kuba hin, aber es könnte sich prinzipiell um jedes lateinamerikanische Land handeln. Martí war ein überzeugter Panamerikanist. Was in den argentinischen Erzählungen eine im engen Sinne nationale Thematik war, betrifft bei Martí den ganzen Kontinent. Das Thema selbst verändert sich dadurch kaum.
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Eifersucht – ist nötig, damit die zahlreichen profetischen Andeutungen des Textes, die ebenfalls eine romantische Technik widerspiegeln, bewahrheitet werden können. Die Darstellung des Verbrechens zeigt deutlich den Rückschritt auf vormodernistische Strömungen. Das Künstliche, das elektrische Licht, ist nun nicht mehr Selbstzweck, sondern dient dazu, die Schönheit der Natur zu unterstreichen. Die Dekoration auf dem Ball, der das Geschehen abschließt, besteht nicht aus künstlichen Blumen, sondern aus wirklichen Pflanzen. Des Esseintes hätte sie verachtet. Die amerianische Natur setzt sich letztendlich trotz des Todes Sols durch, der in diesem Kontext auf einen ebenfalls romantischen Fall von Schicksalstragödie reduziert erscheint: Pedro, antes de salir, había encargado que por todas las calles del jardín que había frente a la casa, pusieran unas columnas, como media vara más altas que un hombre, que habían de estar todas forradas de aquella parásita del bosque, sembrada acá y allá de flores azules; y sobre los capiteles, se pondrían unos elegantes cestos, vestidos de guías de enredadera y llenos de rosas. Las luces vendrían de donde no se viesen, ya en el jardín, ya en la casa; y estaba en camino míster Sherman, el americano de la luz eléctrica, para que la hubiese bien viva y abundante: los globos se esconderían entre cestos de rosas. (Bevor er wegging, hatte Pedro angeordnet, in allen Wegen des Gartens vor dem Haus Säulen aufzustellen, die etwa eine Elle größer waren als ein Mensch und die mit jenem Waldparasiten umhüllt und hie und da mit blauen Blumen verziert werden sollten. Auf die Kapitele würde man elegante mit Kletterpflanzen ausgelegte und mit Rosen gefüllte Körbe stellen. Die Lichter würden von daher kommen, wo man sie nicht sehen könnte, aus dem Garten oder aus dem Haus. Mister Sherman, der Amerikaner des elektrischen Lichtes, war schon unterwegs, damit es davon lebendiges und im Überfluss gäbe. Die Lampen würde man zwischen Rosenkörben verbergen.)618
Die Romantik setzt die Natur ins rechte Licht, um ihre Attraktivität zu betonen; der Symbolismus/Modernismo würde eine künstliche Natur mit neuen Elementen schaffen, die der Realität in jedem Fall überlegen ist, und nicht „nur” eine Neuanordnung natürlicher Bestandteile inszenieren. In Amistad funesta steht die Handlung im Vordergrund, das Romangeschehen ist wichtiger als Beschreibungen und psychologische Reflexionen. Martí folgt dem Beispiel À rebours als Text ohne eigentlichen plot nicht. Huysmans schrieb eine statische Geschichte, die Studie einer krankhaften Persönlichkeit. Der Kubaner übernimmt zwar diese Technik im ersten Teil seines Romans, gibt sie aber rasch wieder auf, um sich im zweiten Teil ganz auf die Entwicklung des Konflikts zu konzentrieren. Der langsam sich durchsetzende Paradigmenwechsel ist deutlich zu sehen: Martí probiert die in der modernen französischen Literatur gefundenen Neuheiten aus und verwirft sie im Laufe des Textes wieder. Martís Roman vertritt die modernistische Erzählkunst Lateinamerikas viel deutlicher als Gutiérrez Nájeras Por donde se sube al cielo. Dennoch kehrt auch der Kubaner im zweiten Teil des Textes zu älteren Modellen zurück. Amistad funesta drückt nicht zuletzt eine sehr deutliche kulturelle Distanz zwischen Europa und Lateinamerika aus. Was für Paris gilt, muss nicht unbedingt in Lateinamerika funktionieren. Martí bringt damit ein literarisches Selbstbewusstsein zum Ausdruck, das paradoxerweise ohne den französischen Einfluss 618
José Martí, Lucía Jerez o Amistad funesta, S. 150f. Ausgerechnet ein Nordamerikaner ist für das elektrische Licht, also das unnatürliche Element, verantwortlich.
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nicht möglich gewesen wäre. Joris Karl Huysmans À rebours markiert in diesem Sinne eine sehr deutliche Zäsur innerhalb der lateinamerikanischen Prosa. Martí versucht, die dekadente Ästhetik eines Des Esseintes in Amerika anzuwenden, lehnt aber im gleichen Atemzug die v. a. sozialen und politischen Konsequenzen daraus kategorisch ab. Die modernistische Narrativik wird allerdings dort fortfahren, wo der Kubaner den ersten Teil seines Romans beendet hat. Huysmans ist, wie Baudelaire, ein unverzichtbarer Bestandteil der modernistischen Bibliothek. Sein Name wird nicht oft erwähnt, dennoch ist seine Präsenz in einer großen Zahl von Texten unbestreitbar. Die Entwicklung von Por donde se sube al cielo zu Amistad funesta war nur durch das dazwischen liegende Erscheinen von À rebours möglich. Um die Präsenz Huysmans im hispanoamerikanischen Modernismo besser einschätzen zu können, greife ich einmal mehr auf die Revista Moderna zurück.
4.2.1. Joris Karl Huysmans in der Revista Moderna Zwischen 1898 und 1903 erscheint der Name Joris Karl Huysmans nur vier Mal in den Seiten der Revista Moderna, erstmals am 15. November 1898. Es handelt sich um die Episode ‘Reflexiones que sobre el matrimonio, hace á su gato Alejandro, el artista pintor Cipriano Tibaille’, die dem von Alberto Leduc übersetzten Buch En Ménage619 entnommen wurde. Der Maler-Erzähler verteidigt in der übertragenen Passage seine „wilde Ehe“ gegenüber einer scheinheiligen bürgerlichen Moral: – Pues bien, Alejandro, tu papá Cipriano y tu mamá Nanón, no desfilaron frente al cura ni frente al juez, sino que viven juntos, tan sencillamente, como tú vivirías con una gata, sin haber pedido de antemano autorización á otro gato; por tal motivo, comprenderás que Cipriano Tibaille y Nanón estarán siempre proscriptos de entre los señores burgueses. (– Also gut, Alejandro. Dein Papa Cipriano und deine Mama Nanón sind weder vor dem Priester, noch vor dem Richter vorbeimarschiert, sondern sie leben ganz einfach zusammen, so wie du mit einer Katze leben würdest, ohne im vorhinein einen anderen Kater um Erlaubnis gebeten zu haben. Darum wirst du verstehen, dass Cipriano Tibaille und Nanón für immer unter den Herrn Bügern geächtet sein werden.)620
Trotz der delikaten Thematik kann die Episode nicht aggressiv wirken, das Absurde der Situation – der Dialog des Künstlers mit einem Tier – verhindert dies und nimmt den Worten Tibailles ihren Ernst. Der Text, der kaum drei Viertel einer Seite der Zeitschrift einnimmt, ist zu ephemer. Er kann weder provozieren, noch eine tatsächliche HuysmansRezeption in der Revista Moderna belegen. Der Autor von À rebours hat in der Anfangszeit der Zeitschrift einen sehr untergeordneten Stellenwert. Erst am 15. Mai 1901 folgt unter dem Titel ‘Del libro En rade’ die nächste Publikation. En rade erschien 1887 und überraschte durch seine realistischen Beschreibungen von Traumszenen. Der von der mexikanischen Zeitschrift ausgewählte Text, der immerhin drei Seiten umfasst, ist exemplarisch für diese Vorgehensweise Huysmans. Es handelt sich um eine Beschreibung einer Mond619 620
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En Ménage erschien 1881 und gehört der streng naturalistischen Phase Huysmans an. Revista Moderna, Bd. 1, S. 128.
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reise, in der nur in der Phantasie des Autors existierende Landschaften auf sehr realistische Weise dargestellt werden: En el fondo, el Aristilo asemejábase á una ciudad gótica, con sus picos, los dientes al aire, cortando con su sierra el basalto estrellado del cielo; y detrás y delante de esta ciudad superponíanse otras dos ciudades, mezclando á la edad media de una Heidelberg la arquitectura morisca de una Granada, embrollando en un caos de países y de siglos, minaretes y campaniles, agujas y flechas, troneras y almenas, barbacanas y dombos, trinidad monstruosa de una metrópoli muerta, tallada en otro tiempo en una montaña de plata por los torrentes de ignición de un suelo. (Im Hintergrund ähnelte der Aristyl mit seinen Spitzen, die Zähne gen Himmel mit seiner Säge den gestirnten Basalt des Himmels schneidend, einer gotischen Stadt. Und vor und hinter dieser Stadt überlagerten sich zwei weiterte Städte und vermischten das Mittelalter Heidelbergs mit der maurischen Architektur Granadas. So verwirrten sie, in einem Chaos aus Ländern und Jahrhunderten, Minarette und Glockentürme, Nadeln und Pfeile, Luken und Zinnen, Schießscharten und Kuppeln, die ungeheuerliche Trinität einer toten Metropole, die in anderen Zeiten auf einem Silberberg von den Feuerstürmen eines Bodens geformt wurde.)621
Dieses Fragment enthält im Kern die Entwicklung Huysmans und des französischen Naturalismus. Die exakte Wiedergabe der sichtbaren Welt war weder genug, noch zufriedenstellend. Die Welten des Geistes im psychologischen Roman und traumhafte Fantasiewelten mussten als Erweiterung dienen. Beide lassen sich auf ebenso exakte und im weitesten Sinne mathematische Weise beschreiben, wie die von Zola gewählten Umgebungen. Die Revista Moderna kommentiert das Fragment nicht, dennoch ist an ihm auch der Paradigmenwechsel zwischen romantischer und modernistischer lateinamerikanischer Erzählkunst nachvollziehbar. Die scheinbare Rebellion Huysmans, der bekanntlich dem engsten Zirkel um Zola angehörte, konnte die Redakteure der Revista Moderna nicht überraschen. Es war nur logisch, dass ein Naturalist einen Roman wie À rebours verfasste, da sich darin der Weg zeigte, den der Naturalismus in Frankreich gehen musste. Andererseits handelt es sich bei dem zitierten Fragment um eine reine Beschreibung, es spiegelt also ein technisches Problem wider und richtet sich damit in erster Linie an ein aus Schriftstellern bestehendes Publikum, das die Schwierigkeiten eines derartigen Unterfangens verstehen konnte. Auch hier also gibt es keinen Anlass, um von Provokation oder detaillierter Rezeption zu sprechen. 1902 publizierte die Zeitschrift zwei bereits erwähnte Chroniken des Franzosen: ‘Navidades del Louvre’ und ‘El barrio de Nuestra Señora’. Erst hier zeichnet sich die Figur Des Esseintes ab, des arroganten Ästheten, der vor den Massen flüchtet, der den gewöhnlichen Geschmack verachtet und seine Zuflucht im Extravaganten sucht, das vom großen Publikum vermieden wird. In ‘El barrio de Nuestra Señora’ wiederum kommt die mystische und geheimnisvolle Seite der katholischen Kirche zum Ausdruck. Der Text erinnert entfernt an den Satanismus aus Là-bas. Kein Fragment aus À rebours wird publiziert; kein Artikel, der sich explizit mit Des Esseintes oder der dekadenten Ästhetik des Romans beschäftigt. Die Romanfigur fungiert als Verweis, als Adjektiv, aber weder sie, noch ihr Autor nehmen quantitativ eine herausragende Rolle in der Revista Moderna ein. Der Schlüssel für dieses Fehlen findet sich in 621
Revista Moderna, Bd. 3, S. 164f.
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einem Text vom November 1900. Der damals erst 23-jährige Efrén Rebolledo veröffentlichte unter dem Titel ‘Joris Karl Huysmans’ ein Alberto Leduc gewidmetes Gedicht. Rebolledo sieht in Huysmans eine verwandte Seele, die – wie er – vor der unerträglichen Gegenwart in ästhetischen und/oder erotischen Raffinessen vergangener Epochen seine Zuflucht findet. Der mexikanische Dichter und Erzähler identifiziert Huysmans vollständig mit seinen Fiktionen und begeht den bereits bekannten Fehler, Literatur und Realität zu verwechseln, der schon im Falle Baudelaires kommentiert wurde: „Oh maestro sañudo! yo he creído tus males,/He probado tu estilo de implacable ironía,/Y sufriendo torturas y disgustos iguales/Hacia ti me dirijo por fatal simpatía“ (Oh wütender Meister! Ich glaubte deine Übel. Ich habe deinen unerbittlichen ironischen Stil ausprobiert und die gleichen Foltern und Verdrusse erlitten. Ich wende mich an dich aus fataler Sympathie).622 Die literarische Hysterie eint Huysmans und Baudelaire in den Seiten der Zeitschrift. Beide kommen als Autoren relativ selten vor: Huysmans vier Mal in der ersten Epoche der Revista Moderna; Baudelaire elf Mal, allerdings normalerweise an sehr prominenter Stelle. Jean Richepin oder Octave Mirbeau, wichtige Autoren, aber mit einer für die Entwicklung des Modernismo sekundären Bedeutung, finden viel öfter Erwähnung. Huysmans und Baudelaire werden auf die „geheime“ Bibliothek der Modernisten verwiesen. Ihr Einfluss ist in den modernistischen Werken spätestens ab 1885 präsent, ihre Diskussion ist aber – und dies wäre ganz im Sinne Des Esseintes – keine öffentliche Angelegenheit, sondern wird sehr wahrscheinlich auf die Bohème oder autobiografische Schriften verlagert.623 Zwischen Por donde se sube al cielo und Amistad funesta liegen nur drei Jahre. Aber die von der Veröffentlichung À rebours markierte Zäsur lässt den Roman Gutiérrez Nájeras im wesentlichen in der Romantik verankert erscheinen, während der Text Martís sich zumindest in seinem ersten Teil an die erzählerischen Modelle der französischen Jahrhundertwende annähert. Der Mexikaner musste noch auf andere französische Quellen zurückgreifen. Sein Roman entfernt sich von der Romantik, aber ohne das Modell Huysmans konnte es keine entscheidenden Veränderungen geben. Seine Modelle haben den Schritt vom Naturalismus Zolas hin zu komplexeren Realitäten, den Huysmans ganz entschieden unternahm, noch nicht vollzogen. Ein konkretes Beispiel soll dies im Folgenden verdeutlichen.
4.2.2. Manuel Gutiérrez Nájera und seine französische Quelle Der nordamerikanische Kritiker Boyd G. Carter hat sich in zahlreichen Monografien und Artikeln um das Werk des Duque Job bemüht. Die wichtigsten Ergebnisse seiner Forschungen finden sich in En torno a Gutiérrez Nájera. Carter konnte ohne Vorurteile den relativ
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Revista Moderna, Bd. 3, S. 341. Baudelaire ist in den besprochenen Memoiren und Tagebüchern allgegenwärtig. Huysmans dagegen spielt auch hier nur eine bescheidene Rolle. Auch der Realist Gamboa erwähnt ihn selten. Man könnte spekulieren, dass sehr delikate religiöse Fragestellungen und Tabuthemen wie Sexualität und Satanismus ausführlicheren Besprechungen Huysmans im Wege standen.
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sorglosen Umgang Gutiérrez Nájeras mit seinen Quellen aufzeigen. Der Mexikaner begann 1876 in El Correo Germánico zu publizieren, einer Zeitschrift, die dem deutschen Baron von Brackel-Welde gehörte, der ein enger Freund des Vaters von Gutiérrez Nájera war. Besonders in diesen ersten veröffentlichen Texten nahm der Duque Job im Plagiat seine Zuflucht, um seine Artikel publiziert zu sehen.624 Eine andere übliche Praxis war es, den gleichen Text in verschiedenen Zeitschriften zu veröffentlichen, was v. a. durch die Verwendung von mehr als 20 verschiedenen Pseudonymen möglich war.625 Derartige Praktiken wurden kaum als unmoralisch betrachtet, bis zu einem gewissen Grad waren sie notwendig, um die Einkünfte sicherzustellen, die bei Gutiérrez Nájera ausschließlich aus dem Journalismus kamen. Ein typischer Fall der beschriebenen Vorgehensweisen findet sich auch im Roman Por donde se sube al cielo. Es handelt sich um eine entscheidende und sehr auffallende Episode innerhalb des Werkes: Magdas Traum, ihr Kampf um Leben und Tod mit sehr symbolischen Katzen um einen Platz in einem improvisierten Boot, das sie vor der Sintflut retten könnte. Diese Episode befand sich zweifelsohne schon einige Zeit im Archiv des Duque Job. Ihre erste Publikation als unabhängige Erzählung unter dem Titel ‘El sueño de Magda’ datiert vom 12. August 1883, in La Libertad.626 Heute weiß man, dass Gutiérrez Nájera die Episode zumindest ein Jahr vor dieser Publikation verfasste, da sie Bestandteil des Romans von 1882 ist, aber möglicherweise schon 1881 geschrieben wurde. Die Vorgehensweise ist bekannt und zum Teil bis heute üblich. Um die Notwendigkeiten der Zeitschriften – und seine eigenen ökonomischen Notwendigkeiten – zu erfüllen, verwendet Gutiérrez Nájera alte Texte mehrmals oder kombiniert sie. Er schreibt eine neue Einleitung oder einen neuen Schluss, er verändert einige Sätze oder einzelne Wörter. Die in Frage stehende Erzählung des Duque Job geht auf eine von Carter lokalisierte Geschichte Zolas zurück: ‘Les quatre journées de Jean Gourdon’ aus den Nouveaux contes à Ninon von 1874. Gutiérrez Nájera bearbeitet sie als ‘La inundación’, ein zwischen Chronik und Erzählung angesiedelter Text, den er im Oktober 1884 in La Libertad veröffentlichte. In der französischen Erzählung tritt der Fluss Durance über seine Ufer und gefährdet die an ihm wohnende Bevölkerung. Ein Familienvater erzählt, wie er der Gefahr entkam. Er baute mit seiner Frau, seinem Sohn und seiner kleinen Tochter Marie ein Boot. Das zerbrechliche Gefährt kann aber dem Wasser nicht widerstehen und versinkt. Nur der Vater und Marie überleben. Der Mexikaner fügt dem Personal der Episode einen kranken Großvater bei. Die anderen Protagonisten sind mit denen Zolas identisch; das Mädchen heißt María. Auch der Ausgang ist deckungsgleich: Nur Vater und Tochter überleben. In La Libertad verschweigt Gutiérrez Nájera seine Quelle. Er verwendet seine Zola-Bearbeitung, um eine Chronik über die Überschwemmungen im Inneren der Republik zu füllen. Einige von ihm stammende Sätze über die Gefühle, die ihm das Wort „tromba“ verursacht, leiten den Text ein. Seine tägliche journalistische Arbeit übernimmt aber hier die französische Geschichte, die er in 624 625 626
Boyd G. Carter, En torno a Gutiérrez Nájera y las letras mexicanas del siglo XIX (México: Ediciones Botas, 1960), S. 58f. Boyd G. Carter, En torno a Gutiérrez Nájera, S. 175. Für die Veröffentlichungsdaten verweise ich sowohl auf die von E. K. Mapes im Jahr 1958 herausgegebenen Cuentos completos, als auch auf den zwölften Band des von der UNAM betreuten Gesamtwerkes, der 2001 erschien.
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Details variiert, der er aber im Ganzen verpflichtet ist. Um die Nähe Gutiérrez Nájeras zur Erzählung Zolas zu illustrieren, stelle ich die Beschreibungen des Untergangs des kleinen Boots im Sturm gegenüber. In La Libertad liest man: Aumentaba la fuerza de las aguas. [...] La oscuridad era absoluta. Y así pasamos cuatro o cinco horas, esperando el socorro que no venía por parte alguna. Poco a poco, el río se iba apoderando de nosotros. La corriente de las aguas nos arrastraba al río, sin que hubiera camino de evitarlo. Y de improviso un recio tronco chocó con nuestra balsa, y todos nos hundimos en el agua! ... /El mismo choque me arrojó fuera del río a los terrenos inundados. Allí pude nadar con mi hija en hombros. (Die Kraft des Wassers nahm zu. [...] Es herrschte völlige Dunkelheit. Und so verbrachten wir vier oder fünf Stunden und warteten auf Hilfe, die von nirgendwoher kam. Allmählich bemächtigte sich der Fluss unser. Die Wasserströmung zog uns in den Fluss, ohne dass wir etwas dagegen tun hätten können. Und plötzlich stieß ein starker Stamm gegen unser Boot und alle versanken wir im Wasser! ... /Der Stoß selbst warf mich aus dem Fluss auf die überschwemmte Erde. Da konnte ich mit meiner Tochter auf den Schultern schwimmen.)627
Zola beschrieb die Szene auf folgende Weise: Lentement la Durance s’emparait de nous ... L’eau nous emporta dans l’élan furieux de sa victorie ... J’aperçus en face de nous une masse noire ... Je crus reconnaître un arbre. Le choc fut terrible et le radeau fondu en deux, sema sa paille et ses poutres dans le tourbillon de l’eau./Je tombai, serrant avec force la petite Marie ... Remonté à la surface de la rivière, je maitins l’enfant, je la couchai à moitié sur mon cou, et je me mis à nager péniblement. (Langsam bemächtigte sich die Durance unser ... Das Wasser trug uns im wütenden Schwung seines Sieges davon ... Ich nahm vor uns eine schwarze Masse wahr ... Ich glaubte, einen Baum zu erkennen. Der Zusammenstoß war schrecklich und das zweigeteilte Floß streute sein Stroh und seine Balken in den Wasserwirbel aus./Ich fiel und hielt kräftig die kleine Marie fest ... Auf der Oberfläche des Ufers wieder aufgetaucht hielt ich das Kind aufrecht und legte es zur Hälfte über meinen Nacken und ich begann mühsam zu schwimmen.)628
Unschwer lässt sich feststellen, dass es sich um keine wörtliche Übersetzung handelt. Die stilistischen Unterschiede zwischen den beiden Versionen sind deutlich. Der Mexikaner möchte die Fakten individualisieren und bis zu einem gewissen Grad „poetisieren“. Die nutzlose Hoffnung auf Hilfe, die subjektive Zeiterfahrung (der Erzähler spricht von vier oder fünf Stunden, es könnten deutlich mehr oder weniger sein), die Macht des Flusses und der Natur über die Menschen („sin que hubiera camino de evitarlo“, während Zola nur das vom Wasser fortgerissen werden festhält), der Verweis auf die absolute Dunkelheit, der bei dem Mexikaner die Gefühle der Angst und der Verlassenheit intensiviert, führen zu einer Subjektivierung des Textes. ‘El sueño de Magda’ treibt diese Tendenz an die Spitze. In ihrem Traum kämpft Magda mit einigen wilden Katzen um einen Platz auf einem im Wasser treibenden Segel. Der Untergang des zerbrechlichen Bootes wird wie folgt beschrieben: El agua continuaba su marcha ascendente. ¡Si pudiera llegar al cielo, o cuando menos, a una estrella! Así pasaron muchas horas de congoja. De improviso, Magda sintió que la barca se hundía. Todo estaba perdido. Lanzó un grito y se arrojó a las aguas, que estaban tan frías como si fueran de nieve líquida. Se resignó a
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Gutiérrez Nájera, Relatos, S. 508. Zitiert in Carter, En torno a Gutiérrez Nájera, S. 196.
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morir, pero, arrojado por las velas, su cuerpo fue a chocar con la cruz de piedra que coronaba una altísima torre, ya sumergida en el océano. (Das Wasser stieg weiter. Wenn ich nur in den Himmel oder wenigstens auf einen Stern kommen könnte! So vergingen viele kummervolle Stunden. Plötzlich fühle Magda, dass das Boot versank. Alles war verloren. Sie stieß einen Schrtei aus und warf sich ins Wasser, das so kalt war, als ob es aus flüssigem Schnee wäre. Sie fand sich damit ab zu sterben, aber ihr Körper stieß, von den Segeln dorthin geworfen, mit dem Holzkreuz, das einen hohen Turm krönte, der bereits im Ozean versunken war, zusammen.)629
Der Duque Job gewährt einen Einblick in seine literarische Werkstatt. In ‘La inundación’ fügte er der Beschreibung Zolas psychologische und subjektive Elemente hinzu. In ‘El sueño de Magda’ wird aus einer faktischen Erzählung endgültig ein subjektives literarisches Werk, dessen Wurzeln immer noch in der Romantik liegen. Stilistisch wird der Text um den inneren Monolog der Protagonistin erweitert („¡Si pudiera llegar al cielo!“), formal intensiviert sich die Episode durch eine Serie traumhafter Elemente: die Katzen, das Segel als Boot usw. Schließlich stellt Gutiérrez Nájera die Geschichte in einen erweiterten Kontext, da sich Magda, nachdem sie der Gefahr des Ertrinkens entgangen ist, auf der Spitze eines Kirchturms befindet; das Wasser weicht zurück und sie merkt, dass die Gefahr nur für sie bestand, dass niemand etwas von der Überschwemmung wahrnahm. Damit bildet der Mexikaner eine gegenläufige Bewegung: Der Tiefe des Wassers steht die Tiefe des Abgrunds, der aus der Höhe des Turms und dem drohenden Fall resultiert, gegenüber. Dieser Kontrast wiederum bildet das Strukturprinzip des Romans, in dem Magda den Gefahren ihres niedrigen Lebens (Tiefe) entkommen möchte, um sich den Gefahren einer bürgerlich-anständigen Existenz (Höhe) zu stellen. Es ist so gut wie unmöglich, die genaue Entstehungsreihenfolge dieser Texte zu rekonstruieren. ‘El sueño de Magda’ ist mit wenigen Abweichungen im Roman von 1882 enthalten. Als unabhängige Erzählung machte sie La Libertad im August 1883 bekannt. ‘La inundación’, die Bearbeitung der Erzählung Zolas, erschien erstmals im Oktober 1884. Es ist gut möglich, dass die wahre Chronologie genau umgekehrt verlief: Bearbeitung; Abfassung der Erzählung, die dann Bestandteil des Romans wurde. Diese Reihenfolge würde darauf hindeuten, dass sich Gutiérrez Nájera schon 1881 mit dem Stoff beschäftigte. Er fügte ihn seinem thematischen Archiv bei, aus dem er später für seine journalistische und literarische Arbeit schöpfen konnte. Ebensogut könnte aber die Erzählung direkt von dem Text Zolas angeregt worden und die Bearbeitung erst später aufgrund der Notwendigkeit, eine aktuelle Chronik zu verfassen, entstanden sein. Was jedoch feststeht ist die Verpflichtung Gutiérrez Nájeras gegenüber französischen Texten, in diesem Fall naturalistischer Art.630 1882 war der Naturalismus die aktuellste französische Strömung, die der Duque Job 629 630
Gutiérrez Nájera, Relatos, S. 442f. Por donde se sube al cielo gibt eine Schuld mit einem Text Judith Gautiers zu. In der Widmung an die französische Autorin heißt es: „Mientras el sueño viene y arde mi tabaco, trazo, señora, las primeras páginas de este libro humilde, cuya idea primordial os pertenece“ (Während der Schlaf kommt und die Zigarre brennt, entwerfe ich, meine Dame, die ersten Seiten dieses bescheidenen Buches, dessen ursprüngliche Idee euch gehört; Gutiérrez Nájera, Por donde se sube al cielo, S. 3). Bis jetzt konnte das Werk, auf das der Erzähler verweist, nicht lokalisiert werden. Natürlich ist auch die Fiktionalität dieser Anspielung denkbar. Das Vorwort Gutiérrez Nájeras zu seinem Roman lässt jedenfalls eine Vorliebe des Mexikaners für die
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aufnehmen konnte. Er passt sie den mexikanischen Gegebenheiten an, vor allem bezüglich seiner Arbeitssituation, aber auch bezüglich der Sozialstruktur des Porfiriats. Er mischt sie mit der immer noch erfolgreichen Romantik631 und intensiviert sie mit subjektiven Elementen. Um in der Tat den ersten modernistischen Roman Lateinamerikas schreiben zu können – wie Clark de Lara dies behauptet – hätte er die unverzichtbare Lektüreerfahrung À rebours benötigt. In ‘El músico de la murga’, einem seiner letzten publizierten Texte (am 5. August 1894 in der Revista Azul) nimmt Gutiérrez Nájera offen zur Position des Künstlers in Mexiko Stellung. Er zeichnet das Porträt eines Musikers, der seine besten Werke nicht veröffentlichen kann, weil niemand sie verstehen oder kaufen würde. Seinen Lebensunterhalt muss er sich mit leichter Tanzmusik verdienen. Selten klar drückt der Duque Job in diesem teils journalistischen, teils erzählerischen Text die paradoxe Situation des Künstlers am Ende des 19. Jahrhunderts und im Porfiriat aus. Der Musiker ist ein dandy ohne Geld, der das Laster liebt und ihm seine Kunst opfern muss: El editor quiere música que se baile, música para que la estropeen y la pisen. Y yo necesito dinero para mí y para mis vicios. Me repugnan esos vicios, no porque lo son, sino por envilecidos, por canallas. Quisiera dignificarlos, ennoblecerlos, vestirlos de oro en la capa, en el cuerpo de la mujer, en el albur. Quitármelos no, porque ¿qué me quedaría? (Der Verleger möchte Musik zum Tanzen, Musik zum Verstümmeln und mit Füßen treten. Und ich brauche Geld für mich und für meine Laster. Diese Laster stoßen mich ab, nicht weil sie es sind, sondern weil sie erniedrigend und gemein sind. Ich möchte ihnen Würde geben, sie adeln, ihren Mantel, den Frauenkörper, das Spiel mit Gold kleiden. Sie mir nehmen, nein. Denn: Was bliebe mir?)632
Der ästhetische und der dekadente Traum müssen an der sozialen Realität scheitern. Gutiérrez Nájera erkennt diese Situation und versucht, sie zu rationalisieren; er schreibt also aus einer analytisch über dem Modernismo stehenden Position, integriert folgerichtig auch den Realisten Gamboa mit langen Zitaten aus Impresiones y recuerdos in seine Chronik und zeigt damit auch auf, wie realitätsfern die Figur des dekadenten Ästheten Des Esseintes, der auf ein fabelhaftes Vermögen zurückgreifen kann, in Mexiko wirken musste. Eine derartige Analyse verdeutlicht im Nachhinein den tiefen Einschnitt in der mexikanischen Literatur, den À rebours darstellte. Die extreme Überzeichnung, die Hyperbel, ließ das Illusorische der dekadenten und modernistischen Fantasien manifest werden. 1885 darf als das Geburtsjahr einer modernistischen Narrativik gelten. Nicht in erster Linie wegen Amistad funesta, sondern vielmehr, weil bereits die Basis für grundlegende Änderungen in der hispanoamerikanischen Prosa existiert, die sich – es sei einmal mehr gesagt – im Roman Joris Karl Huysmans findet, dessen Einfluss zuerst bei Martí sichtbar wird, wenn auch noch in Andeutungen.633 Was Baudelaire für die Ästhetik des Modernismo
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frivole, „kostumbristische“ Literatur um das Paris der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts sichtbar werden. Ich erinnere daran, dass Altamiranos El Zarco nach Por donde se sube al cielo geschrieben wurde. Gutiérrez Nájera, Relatos, S. 613. José Asunción Silva verfaßte die Originalversion von De sobremesa, der Apotheose des modernistischen Romans in Lateinamerika, ab 1887. Nach dem Verlust des Manuskripts im Schiffbruch der L’Amérique re-
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im allgemeinen bedeutet, ist Huysmans im speziellen für seine Prosa. Die Behauptung ist nicht übertrieben: Die modernistische Erzählkunst setzt mit einer Lektüre ein. Nach 1885 beginnen die mehr oder weniger gelungenen Kopien und Varianten Des Esseintes die Erzählungen und Romane Lateinamerikas zu bevölkern, so sehr, dass nur wenige Jahre später – noch lange vor dem bösen Erwachen in der mexikanischen Revolution – der analytische Intellektuelle Gutiérrez Nájera sich veranlasst sah, die grotesken Ausmaße der künstlerischen Evasion aufzuzeigen.634 Die Züge des modernistischen Romans, der natürlich nicht mit dem französischen Dekadenzroman verwechselt werden darf, zeichnen sich ab und definieren sich. Die folgende Parenthese soll noch einmal die Rolle von À rebours bei dieser Entwicklung verdeutlichen, am Beispiel des modernistischen Gruppenchefs Rubén Darío.
4.2.3. Rubén Darío: Zwischen Emelina und ‘El hombre de oro’ Rubén Darío wurde zuerst während seines Aufenthaltes in Chile von dem jung verstorbenen Präsidentensohn Pedro Balmaceda Toro, den er im Dezember 1886 kennen lernte, in die neuere französische Literatur eingeweiht.635 Im Präsidentenpalast konnte Darío insbesondere die Revue de Deux Mondes einsehen, eine Lektüre, die seinen Frankreichkult in etwas geregeltere Bahnen brachte.636 Der Nicaraguaner schreibt in seiner Autobiografie über diese Parissehnsucht:
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konstruierte Silva den Text bis 1896, seinem Todesjahr. Veröffentlicht wurde der Roman jedoch erst 1925. Silva entwarf die lateinamerikanische Version des dekadenten Helden, jedoch machten die unglücklichen Entstehungsumstände seine Wirkung auf die Zeitgenossen des Kolumbianers unmöglich. Der Roman zirkulierte wahrscheinlich auch nicht als Manuskript unter den lateinamerikanischen Schriftstellern: Tablada spricht noch 1937 (!) von De sobremesa als „novela inédita“ und verwendet „inédito“ tatsächlich im Sinne von „unveröffentlicht” und nicht von „ungewöhnlich” (Tablada, Crítica literaria, S. 488). Ähnlich wie Asunción Silva ist Gutiérrez Nájera damit Vorläufer und Parodist des Modernismo gleichzeitig. Der Kolumbianer schrieb sein berühmtes ‘Nocturno III’ (‘Una noche’) und schrieb De sobremesa, aber schon 1894 verfaßte er mit ‘Sinfonía color de fresa con leche’ eine gelungene Parodie auf die geistlosen Nachfolger Rubén Daríos. Ich verweise für die Zeit in Chile und auf Daríos Bekanntschaft mit Balmaceda u. a. auf die Monografie Rubén Darío a los veinte años von Raúl Silva Castro. Raúl Silva Castro, Rubén Darío a los veinte años (Madrid: Gredos, 1956), S. 105. In A. de Gilbert, seiner 1889 publizierten Biografie Balmacedas, lässt Darío seinen Freund sagen: „Por mi parte, hombre, yo opino que es suficiente gloria para los hermanos Goncourt haber sido los introductores del japonismo en Francia, haber dado la nota del buen gusto en los muebles y adornos de salón con plausibles resurrecciones de cosas bellas y haber presentido a Zola y el desarrollo de la escuela“ (Ich meinerseits glaube, dass es rühmlich genug für die Gebrüder Goncourt ist, den Japanismus in Frankreich eingeführt, die Note des guten Geschmacks bei Möbeln und Salonschmuck mit der plausiblen Wiederauferstehung schöner Dinge vorgegeben und Zola und die Entwicklung der Schule vorhergeahnt zu haben; Rubén Darío, A. de Gilbert, in Obras completas, 4 Bde., Madrid: A. Aguado, 1950-1955, hier Bd. 2, S. 153). Dass Darío über Balmaceda Huysmans kennen lernte, ist unwahrscheinlich, da ihn der Chilene ganz überwiegend auf realistische und sozial engagierte Tendenzen der französischen Literatur verwies: Goncourt, Daudet und Zola sind die am häufigsten fallenden Namen, also das etwas später von Gamboa propagierte Trio.
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Yo soñaba con París, desde niño, a punto de que cuando hacía mis oraciones rogaba a Dios que no me dejase morir sin conocer París. París era para mí como un paraíso en donde se respirase la esencia de la felicidad sobre la tierra. Era la ciudad del Arte, de la Belleza y de la Gloria; y, sobre todo, era la capital del Amor, el reino del Ensueño. (Ich träumte von Kindheit an von Paris, so sehr, dass, wenn ich meine Gebete verrichtete, ich Gott bat, mich nicht sterben zu lassen, ohne Paris gesehen zu haben. Paris war für mich wie ein Paradies, in dem man die Essenz des Glücks auf Erden atmete. Es war die Stadt der Kunst, der Schönheit und des Ruhms und vor allem war es die Hauptstadt der Liebe, das Königreich des Traums.)637
In dieser Zeit verfasste Darío zusammen mit seinem chilenischen Freund Eduardo Poirier den wenig bekannten Roman Emelina, den die beiden Autoren 1886 in wenigen Tagen für einen von der Zeitschrift La Unión (Valparaíso) veranstalteten Wettbewerb schrieben.638 Der Anteil Daríos an dem Text steht nicht genau fest. Man darf jedoch davon ausgehen, dass der preciosismo des zweiten Teiles auf den Nicaraguaner zurückzuführen ist.639 Die melodramatische Geschichte um die melancholische Emelina, die mit dem krankhaften Spieler und Betrüger Du Vernier verheiratet ist und nach zahlreichen Verwicklungen den heldenhaften Marcelino ehelichen kann, folgt offensichtlich romantischen Stereotypen, insbesondere dem französischen Feuilletonroman, wenn auch dieser zur gleichen Zeit parodiert wird.640 Der Schauplatz ist Chile, Paris erscheint nur als Fiktion. Die französische Literatur, Hugo in erster Linie, dient als „exotischer“ Verweis.641 Die Weltkulturhauptstadt kontrastiert mit der als provinziell, aber auch naiv-unschuldig, empfundenen lateinamerikanischen Kultur. Darío verfasste Emelina noch vor einer intensiveren Bekanntschaft mit der neuesten französischen Literatur, vor seinem eigenen Paris-Aufenthalt und, noch viel entscheidender, vor seiner Huysmans-Lektüre. Wenig später, in Argentinien, hat sich Darío jedoch mit Huysmans und seinem bekanntesten Werk vertraut gemacht, so sehr, dass er 1893 und 1894 unter dem Pseudonym Des Esseintes in La Tribuna von Buenos Aires seine Kolumne ‘Mensajes’ publizierte, die v. a. von literarischen und sozialen Themen handelt.642 In dieser Zeit dürfte er sich auch mit seinem Romanfragment ‘El hombre de oro’ beschäftigt haben. Der Text wurde im Mai, Juni und September 1897 in Paul Groussacs La Biblioteca in Buenos Aires publiziert.643 Die Lektüre des Textes lässt keinen Zweifel am Einfluß von À rebours und auch Là-bas (1891) zu. Darío transportiert die Dekadenz des ausgehenden 19. Jahrhunderts in das Rom der ersten Jahrzehnte nach Christus. Zwei Ambiente stehen sich gegenüber: das der verfolgten Christen um den Soldaten Malco und 637 638 639
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Rubén Darío, Autobiografía (Buenos Aires: Editorial Universitaria, 1968), S. 96. Emelina erschien im vierten Band der 1950 bis 1955 von A. Aguado in Madrid edierten Obras completas: S. 223-373. Erneut verweist ein Frauenname auf die romantischen Romane Hispanoamerikas. Vgl. Allen W. Phillips, ‘Nueva luz sobre Emelina’, in Estudios sobre Rubén Darío, hg. v. Ernesto Mejía Sánchez (México: FCE, 1968), S. 203-222, hier S. 215. Der Aufsatz wurde erstmals 1967 in Atenea XLIV (Concepción, Chile) veröffentlicht. Vgl. Phillips, ‘Nueva luz sobre Emelina’, S. 221. Vgl. insbesondere S. 276-279 im vierten Band der Aguado-Ausgabe. Die Texte der Kolumne finden sich auf S. 599 bis 675 im vierten Band der Gesamtausgabe von Aguado. Groussac (1848-1929) ist einer der wichtigsten Förderer des Modernismo und Vermittler der französischen Literatur in Südamerika. Seine Zeitschrift La Biblioteca bestand von 1896 bis 1898. Neben Darío schrieb in ihr auch Leopoldo Lugones (Vgl. Max Henríquez-Ureña, Breve historia del modernismo, S. 174).
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das der römischen Geistes- und Geldaristokratie um Quinto Flavio Polión. Darío beschreibt ausführlich die Innenausstattung seiner Villa, die an Luxus und Extravaganz den Häusern Des Esseintes um nichts nachsteht: Las mesas de fina encina, estaban sostenidas por delgadas columnas de marfil anilladas de plata; y los lechos para los convinados eran obra de artistas. Cerca, llevadas por cañerías, y en una taza enorme de mármol, caía, musical, el agua, en una continua cascada diamantina. Luego en las habitaciones que se extendían al fondo de la mansión, se hallaba la biblioteca, bien surtida de poetas griegos y latinos, los dormitorios, adornados con estatuas y mosaicos, decorados de púrpuras y sedas. (Die Tische aus feinem Eichenholz wurden von dünnen Marmorsäulen mit Silberringen getragen; die Betten für die Besucher waren das Werk von Künstlern. In der Nähe fiel das von Leitungen geführte Wasser über eine ununterbrochene diamantene Kaskade melodisch in ein enormes Marmorbecken. In den Zimmern, die sich in der Tiefe des Hauses erstreckten, befanden sich die mit griechischen und lateinischen Dichtern gut bestückte Bibliothek, die mit Statuen und Mosaiken geschmückten und mit Purpur und Seide dekorierten Schlafzimmer.)644
Der Besitzer dieses Luxus ist ein feinfühliger, aber gelangweilter Mann, der auch im Vergnügen nur mehr den ihm folgenden ennui erkennen kann: „los dioses no han podido crear o inventar nada como el placer [...] mayor debe ser la áspera hez que encontraremos después de apurar las delicias de Roma“ (die Götter konnten nichts schaffen oder erfinden wie das Vergnügen [...] der bittere Bodensatz, den wir finden werden, nachdem wir alle Köstlichkeiten Roms genossen haben, muss umso bedeutender sein).645 Die raffinierten Gespräche im Hause Flavios drehen sich um den Wert der Kunst, den tragischen Verlust der Jugend, die geistige Beschränktheit der Bürger und des Geldadels. Der geheimnisvolle „hombre de oro“ (Mann aus Gold) erscheint dabei als typischer Repräsentant des bornierten Bürgertums. In der Versammlung der Künstler und Ästheten muss folgende Bemerkung fehl am Platz sein: „– ¡Ah, viajar, andar; molesto, fatigoso! Su palabra era de plomo. Advertíase la espesura de roca de aquel intelecto. La idea escasa se filtraba a gotas“ (– Ah, reisen, gehen; ärgerlich, ermüdend! Sein Wort war aus Blei. Man erkannte, dass sein Intellekt dicht wie ein Felsen war. Die seltene Idee drang nur tropfenweise durch).646 Der Dichter Varo verabscheut ein Publikum dieser Art, das seinen Liedern zuhört, die Silben seiner Gedichte mit bejahendem Kopfnicken begleitet und „os felicitan por lo que no han comprendido“ (sie beglückwünschen euch für etwas, das sie nicht verstanden haben).647 Darío versetzt das bekannte Modell von celui-qui-ne-comprend-pas ins antike Rom. Er beschreibt eine dekadente Endzeit, die in erster Linie von den Künstlern nicht verstanden werden kann, die ihre Zuflucht in einer ästhetischen und erotischen Scheinwelt suchen. Mit Hostilia (!) zeichnet Darío das Bild einer dekadenten femme fatale, deren Sensualismus, aber auch offenbare Gefühllosigkeit dieses Ambiente verkörpern kann:
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Rubén Darío, ‘El hombre de oro’, in Cuentos, Colección Austral, 880 (Madrid: Espasa-Calpe, 1978), S. 943, hier S. 16. Darío, ‘El hombre de oro’, S. 17. Darío, ‘El hombre de oro’, S. 23. Darío, ‘El hombre de oro’, S. 28.
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En el rostro oval chispeaban los fuegos negros de los ojos, bajo el casco apretado de la cabellera abrumadora, la gran cabellera azul que ella portaba como una canéfora su cesta. El fulgor de las luces de los grandes lampadarios de bronce hacían lucir el brillo suave de perla entre la sangrienta gracia de la sensual sonrisa. (In dem ovalen Gesicht blitzten die schwarzen Feuer ihrer Augen, unter dem engen Helm ihres drückenden Haares, das mächtige blaue Haar, das sie, wie eine Kanephore ihren Korb, trug. Der Schein der Lichter der großen Kerzenhalter aus Bronze ließ den milden Perlenglanz zwischen der blutdurstigen Anmut ihres sinnlichen Lachens aufleuchten.)648
Varo, in Anspielung auf das an Einfluss gewinnende Christentum, stellt fest: „Yo soy un poeta, señor, y vuestro Dios, os lo confieso, si me quita los labios de las mujeres y los cálices de las rosas, me da tristeza y me da miedo“ (Ich bin ein Dichter, mein Herr, und ich gestehe es, dass mir euer Gott, wenn er mir die Frauenlippen und die Rosenkelche nimmt, Trauer und Angst einflößt).649 Der Autor von Azul... schrieb mit ‘El hombre de oro’ eine der prototypischen dekadenten Erzählungen der lateinamerikanischen Literatur, deren Abfassung ohne die Rezeption Huysmans undenkbar gewesen wäre. Der ennui-geplagte Flavio sollte wahrscheinlich den gleichen Weg gehen wie der französische Romancier: den der Bekehrung zum Christentum, die ihn von seinem Lebensüberdruss befreien könnte. Wieder muss À rebours als Zäsur angesehen werden, diesmal innerhalb des Werkes eines Autors. Wenn der französische Roman zwischen Por donde se sube al cielo und Amistad funesta den allmählichen Übergang von der romantischen zur modernistischen Prosa Lateinamerikas ermöglichte, so stellt er bei dem wenige Jahre nach Martí und Gutiérrez Nájera geborenen Darío650 einen zeitlich leicht verschobenen, aber umso markanteren Einschnitt im eigenen Werk dar. Ab 1890, mit der in Guatemala publizierten zweiten Edition von Azul..., kristallisiert sich deutlich eine zentrale Stellung Daríos innerhalb des Modernismo heraus. Seine Rolle als Anführer der literarischen Erneuerung in Lateinamerika entstand v. a. in Spanien. Bekannt ist, dass Juan Valera eine begeisterte Kritik des kleinen Werks verfasste, die den späteren Auflagen (ab 1890) als Vorwort diente. Valera bewundert in ihm die Assimilationsfähigkeit des jungen Darío, der wie kein anderer spanischsprachiger Autor den moderneren Tendenzen der französischen Literatur gerecht werden konnte. Der spanische Literat schreibt sehr hellsichtig: Extraordinaria ha sido mi sorpresa cuando he sabido que usted, según me aseguran sujetos bien informados, no ha salido de Nicaragua sino para ir a Chile, en donde reside hace dos años a lo más. ¿Cómo, sin el influjo del medio ambiente, ha podido usted asimilarse todos los elementos del espíritu francés, si bien conservando española la forma que aúna y organiza estos elementos, convirtiéndolos en sustancia propia? (Meine Überraschung war außerordentlich, als ich erfuhr, dass Sie, wie mir gut informierte Quellen versichern, Nicaragua nur verlassen haben, um nach Chile zu reisen, wo Sie seit höchstens zwei Jahren leben. Wie konnten Sie alle Elemente des französischen Geistes aufnehmen, ohne dem Ambiente ausgesetzt zu sein, und 648 649
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Darío, ‘El hombre de oro’, S. 29. Darío, ‘El hombre de oro’, S. 41. Varos Ideen von der Poesie unterliegen radikalen Veränderungen, die mit Daríos eigenem projektierten Wandel von Prosas profanas zu den Cantos de vida y esperanza konform gehen: „y todo su epicureísmo de los primeros años se impregnaba hoy de una honda conmiseración para con los esclavos y los pobres“ (und all sein Epikurismus der ersten Jahre tränkte sich heute mit tiefem Mitleid für die Sklaven und für die Armen; S. 42). Martí wurde 1853 geboren, Gutiérrez Nájera 1859 und Darío 1867. Die meisten Autoren um die Revista Moderna kamen 1870 oder später zur Welt (Nervo 1870, Tablada 1871, Campos 1876, Couto Castillo 1879).
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gleichzeitig die spanische Form bewahren, die diese Elemente verbindet und organisiert und alles zu einer eigenen Substanz machen?)651
Valera erkennt frühzeitig, wie wichtig gerade die literarische Randstellung des kleinen Nicaragua für die Entwicklung Daríos war. Im Gegensatz zu den mexikanischen oder argentinischen Autoren musste Darío auf eine eigene literarische Tradition von vornherein verzichten und war dadurch zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der spanischen Klassik einerseits, der französischen Literatur andererseits gezwungen.652 Auf diese Weise wurde nicht nur das eigene Werk des Mittelamerikaners, sondern auch die von ihm verarbeiteten Quellen richtungsweisend für den spanischamerikanischen Modernismo.653 Nicht nur die Kritiken Valeras können eine derartige Position bestätigen, sondern auch eine Besprechung Julián del Casals, die am 15. November 1891 in La Habana Literaria erschien, sowie weitere Zeugnisse u. a. von Gutiérrez Nájera und Gómez Carrillo.654 Erzählungen wie ‘El rey burgués’ oder ‘La canción del oro’ stellten daher auch schon früh das Thema des in einer bürgerlich und kapitalistisch orientierten Gesellschaft ausgegrenzten und unverstandenen Künstlers in den Mittelpunkt des Interesses der jungen lateinamerikanischen Modernisten. Der endgültige Durchbruch Daríos zum führenden spanischsprachigen, nicht mehr nur lateinamerikanischen, Schriftsteller seiner Zeit gelang spätestens 1898/99, nach der Veröffentlichung von Prosas profanas, als der Nicaraguaner in Spanien selbst von der Gruppe um Ramiro Maeztu, Azorín und Pío Baroja so weitgehend als intellektueller Führer proklamiert wurde, dass die Kritik ihn phasenweise als ein wesentliches Mitglied der „Generación del 98” behandeln konnte.655 Die Autorengruppe, die schon auf den Erfolgen des Nicaraguaners, bzw. auch auf Zeitschriften wie Revista Azul und Revista Moderna aufbauen konnte, hat bereits die Möglichkeit, auf einen Korpus modernistischer Prosa in Lateinamerika selbst zurückzugreifen, ohne jedoch auf die französischen Modelle verzichten zu können, noch zu wollen. Im folgenden Kapitel werde ich ausführlicher auf zwei mexikanische Beispiele eingehen, um diese Phase, die wichtigste der modernistischen Narrativik, zu illustrieren. Es handelt 651 652
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Juan Valera, ‘Carta-prólogo’, in Rubén Darío, Azul..., Colección Austral, 19 (Madrid: Espasa-Calpe, 1994), S. 9-26, hier S. 11. Für frühe spanische Einflüsse im Werk Daríos verweise ich auf den brauchbaren, wenn auch veralteten Artikel ‘Rubén Darío y la literatura española’, zu finden in dem zitierten von Mejía Sánchez edierten Sammelband, S. 292-308. Für den französischen Einfluss hat die Monografie L’influence française dans l´œuvre de Rubén Darío (Paris, 1925) von Erwin K. Mapes immer noch Gültigkeit. Unter vielen anderen schreibt Jorge Eduardo Arellano Daríos Azul... von 1890 „un impacto resonante y fecundo que resultaría significativo para el desarrollo de las letras hispánicas” (eine nachhaltige und fruchtbare Wirkung, die für die Entwicklung der spanischen Literatur bedeutend sein sollte) zu. Vgl. Jorge Eduardo Arellano, ‘Azul... y su impacto fecundo e inmediato (1888-1893)’, in: Azul... y las literaturas hispánicas, hg. v. Jorge Eduardo Arellano, et. al. (México: UNAM, 1990), S. 31-47, hier S. 31. Vgl. dazu den erwähnten Beitrag von Arellano, sowie Francisco Valle, ‘Julián del Casal, crítico literario del Azul...’, veröffentlicht im gleichen Sammelband, S. 63-69. Vgl. Charles D. Watland, ‘Los primeros encuentros entre Rubén Darío y los hombres del 98’, in Estudios sobre Rubén Darío, S. 354-363. Als Standardwerk zum Thema gilt Guillermo Díaz-Plaja, Modernismo frente a noventa y ocho (Madrid: Espasa-Calpe, 1951).
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sich um den allseits bekannten Amado Nervo und um den zu Unrecht vergessenen Bernardo Couto Castillo.
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5. Der erzählerische Entwurf der Modernisten
5.1. Amado Nervo: Die ironische Distanz zu den Quellen Das erzählerische Werk Amado Nervos übertrifft quantitativ bei weitem seine lyrische Produktion. Auch die Qualität seiner Prosa steht hinter den Gedichten nicht zurück. Die Forschung hat jedoch Nervo auf die Rollen des jungen Dichters der Revista Moderna, sowie des mystischen und populären Poeten gegen Ende seines Lebens festgelegt und dabei das Prosawerk vernachlässigt, das in manchen Aspekten aufschlussreicher als seine Lyrik ist.656 Tatsächlich können die Modernität und Themenvielfalt der Erzählungen Nervos überraschen. Der aus Tepic im Norden Mexikos stammende Dichter schrieb während seiner gesamten Laufbahn Erzählungen, von etwa 1890 bis zu seinem Tod im Jahr 1919.657 An ihnen scheint sich der berühmte Eklektizismus des Modernismo zu bewahrheiten. Divergierende Einflüsse und Tendenzen von sehr heterogenen Autoren können festgestellt werden. Die Erzählungen bestätigen, was der reife Dichter im Jahr 1910 über die literarischen Einflüsse schreiben sollte: „No hay alma de artista que no sea dinástica, y a cada una podemos encontrarle su genealogía; las influencias son mutuas, se compenetran, se ligan. Estamos todos influídos [sic] por todos; pero, aun así, vamos amasando cada uno nuestra personalidad” (Es gibt keine Künstlerseele, die nicht dynastisch wäre und für jede können wir einen Stammbaum finden. Die Einflüsse sind gegenseitig, sie durchdringen und verbinden sich. Wir sind alle von allen beeinflusst, aber auch so bilden wir alle unsere eigene Persönlichkeit).658 Konsequenterweise bewegen sich die ersten Texte zwischen romantischen und moderneren Tendenzen, die Nervo allmählich durch die Lektüre französischer Autoren assimiliert. Vage Anklänge an dekadente Themen finden sich bereits in so frühen Erzählungen wie ‘Aventura de Carnaval’ von 1890. Der Karneval, die Masken und vor allem ein leicht erotisches Spiel nähern die Geschichte einem finisekulären Kontext an. Der Protagonist lässt sich von seinem Freund Carlos, der sich als Frau verkleidet hat, verführen. Nervo nimmt jedoch den angedeuteten Homoerotismus am Ende zurück. Das Spiel mit den Geschlechtern wird als typische unschuldige Wette unter Studenten entlarvt.659 Andererseits ähneln die Frauengestalten der Jugenderzählungen mehr der
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Francisco González Guerrero charakterisiert in der Einführung zu den Obras completas von Aguilar die Prosa Nervos als „pasatiempo“ (Zeitvertreib) des Dichters (in Amado Nervo, Obras completas, 2 Bde., Madrid: Aguilar, 1952-1955, Bd. 1, S. 9). Die Aguilar-Ausgabe registriert die erste Erzählung im Jahr 1889. Ab 1890 liegen mit großer Regelmäßigkeit „cuentos“ vor. Nervo, Obras completas, Bd. 2, S. 389. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 63f. In De sobremesa muss sich José Fernández von einer seiner Geliebten demütigen lassen, die er mit einer anderen Frau überrascht. Trotz des verletzten männlichen Stolzes erregt die Szene der sich liebenden Frauen die Nerven des Protagonisten über alle Maßen. Asunción Silva
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romantischen Heldin als der dekadenten femme fatale. Die engelhafte Lola in ‘Besos que matan’ (1890) stirbt drei Tage nachdem sie Felipe einen ersten Kuss gewährt hat. María Luisa in ‘La muertecita’ (1895) stirbt mit 17 Jahren an TBC, der wohl grausamsten literarischen Seuche. Gleichzeitig werden romantische Klischées in Erzählungen wie ‘Mi desconocida’ (1894) parodiert. Ihr Erzähler sucht die Frau seiner Träume, nachdem er zufällig ein Bild von ihr gefunden hat. Als er sie schließlich ausfindig macht, stellt sich heraus, dass diese glücklich verlobt ist und nicht das geringste Interesse für einen anderen zeigt.660 In ‘Historia de Doña Sol’ (1894) lässt ein eifersüchtiger Vater alle potentiellen Geliebten seiner Tochter Sol töten. Jedoch ist deren Liebessehnsucht so groß, dass sie mit ihrem Wächter, einem Zwergen, flieht. Es handelt sich um einen Schwanengesang für alle attraktiven romantischen Liebhaber, der Tod des Märchenprinzen.661 Nervos Position gegenüber der Romantik ist zwiespältig. Er folgt einerseits ihren Vorgaben (Themen und Figuren), die er jedoch gleichzeitig lächerlich macht. In seiner für El Mundo geschriebenen Chronik ‘La Semana’ nimmt er am 3. Juli 1898 auf recht unentschiedene Weise zur Romantik Stellung: „¿Será que el romanticismo acierta a expresar la verdadera emoción humana, siempre exaltada y siempre niña? ¿Será que Atala y Werther, Coseta y René, Amelia y Lucila son los verdaderos símbolos de la moderna humanidad?” (Könnte es sein, dass die Romantik das wahre menschliche Gefühl, das immer exaltiert und Kind ist, ausdrücken kann? Könnte es sein, dass Atala und Werther, Cosette und René, Amelia und Lucila die wahrhaften Symbole der modernen Menschheit sind?).662 Die Romantik als literarische Strömung gehört ohne Zweifel der Vergangenheit an, aber sie überlebt als humane Grundstimmung und hat vielleicht auch als Ästhetik recht gehabt. Könnte die Romantik besser geeignet sein, die Realitäten der Jahrhundertwende zu erfassen, als dekadente oder modernistische Auffassungen? Vielleicht sind solche Tendenzen nur eine Variante der Romantik? Die Zweifel Nervos bei dieser Frage illustrieren jedenfalls die Offenheit der modernistischen Ästhetik Hispanoamerikas. Sie bestätigen auch, dass der Modernismo als Bewegung, die von der Internationalisierung der Kultur profitiert hat, alle Strömungen, die der Kunst eine gleichsam religiöse Bedeutung zuschreiben, akzeptieren darf. Folgerichtig können romantische Tendenzen immer in modernistischen Werken vertreten sein. Bei Nervo erscheint „romanticismo“ sogar als abstraktes künstlerisches Ideal, dem sich der Modernismo annähert. Der oft zitierte Eklektizismus der in Frage stehenden Autoren wäre dann nur eine unvermeidbare Konsequenz des Überlebens der Romantik. Das Nebeneinander von finisekulären und romantischen Zügen kommt fast mathematisch in ‘Esmeralda’, einer Erzählung von 1895, die Nervo „novela“ nannte, zum Ausruck. Die Operation verläuft wie folgt: Ambiente der Jahrhundertwende + romantischer Konflikt = modernistische Erzählung im Stile Amado Nervos. Die Protagonisten sind Zirkuskünstler. Ein trauriger Clown, der das Publikum auch am Tage des Todes seines Sohnes zum Lachen bringen muss, eröffnet die Geschichte. Das Personal der commedia dell’arte, das eine der Kon-
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zeigt sich in diesem Kontext verständlicherweise konsequenter als der noch beinahe halbwüchsige Provinzdichter Nervo. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 88-91. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 86-88. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 825.
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stanten der modernistischen Prosa ist, findet auch in Nervos Erzählungen Eingang. Die Handlung dagegen folgt in erster Linie romantischer Melodramatik. Der Erzähler verliebt sich in die Tochter des Clowns, aber er kann sie nicht heiraten, da er aus ökonomischen Gründen die Verbindung mit einer reichen Familie sucht. Er schlägt der Trapezkünstlerin vor, seine Geliebte zu werden, was diese empört zurückweist. Im Laufe der folgenden Vorstellung lässt sie sich vor den Augen des Erzählers in den Tod fallen.663 Nervo konnte seine Erzählungen auf einer soliden Basis moderner französischer und unmittelbar zeitgenössischer lateinamerikanischer (Darío!) Lektüren konstruieren. Er schreibt sein komplettes Werk nach der Zäsur durch À rebours. In Amistad funesta griff Martí ab dem zweiten Teil des Romans noch auf vertrautere Modelle zurück und änderte radikal die Entwicklung des Textes. Nervo dagegen kann mit dekadenten und finisekulären -Ismen bereits bewusst verfahren. Er kann sie innerhalb einer Erzählung variieren oder von Text zu Text seine Modelle wechseln. Nervo überblickt bereits den erzählerischen Paradigmenwechsel, der sich bei Martí und Gutiérrez Nájera erst ankündigte, aber spätestens mit Darío schon vollzogen hatte. Drei lange Erzählungen sollen im Folgenden die Vorgehensweise Nervos beschreiben, die sich v. a. durch eine souveräne und höchst bewusste Verarbeitung seiner Modelle auszeichnet: ‘Pascual Aguilera’ (1892), ‘El Bachiller’ (1895) und ‘El donador de almas’ (1899).664 Im Charakter Pascual Aguileras zeichnet sich das Profil des dekadenten Helden ab. Er ist ein halbwüchsiger Des Esseintes, der seine erotischen und neurotischen Impulse noch nicht kontrollieren kann. Er leidet am ennui, an Lebensüberdruss, der ihn schon als Kind ausgefallene erotische Erfahrungen suchen lässt. Als reicher Großgrundbesitzer übernimmt er in Mexiko die Rolle des dekadenten Adligen, der seine Umgebung mit unehelichen Aguileras bevölkert.665 Seine größte Leidenschaft ist Refugio, eine Kindfrau, die dem einfachen und ehrlichen Santiago versprochen ist. Als Pascual Refugio nackt sieht, kann er seine Triebe nicht beherrschen und versucht, das Mädchen zu vergewaltigen. Der Versuch scheitert, aber Refugio, die zunächst nur Abscheu gefühlt hatte, sehnt sich in der Nacht nach Pascual.666 Am Tag der Hochzeit Refugios mit Santiago verliert Aguilera endgültig die Kontrolle über sich und vergewaltigt – gleichsam in Stellvertretung – Doña Francisca, die Stiefmutter Refugios, eine 36-jährige extrem zurückgezogene und religiöse Frau, die nun erstmals in ihrem Leben Lust fühlt.667 Ein derartiges Vergehen kann nicht ungestraft bleiben: Doña Francisca ist schwanger und Pascual stirbt an einem Gehirnschlag.668 Die Handlung der Erzählung ist ebenso melodramatisch, wie provozierend. Das Publikum von 1892 musste mit einiger Empörung reagieren, die sich ganz überwiegend an der Figuar Pascuals festmachen lässt. Aguilera ist keine genaue Kopie von Des Esseintes. Er teilt mit ihm das Vermögen, den Erotismus, die starken Empfindungen, den Zynismus 663 664 665 666 667 668
Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 121-129. Ich zitiere ‘Pascual Aguilera’ und ‘El donador de almas’ aus der Aguilar-Ausgabe, während ich bei ‘El Bachiller’ auf die aktuellere Einzelausgabe von Factoria zurückgreife. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 166f. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 174. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 180ff. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 184.
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und vor allem die Skrupellosigkeit. Andererseits ist er denkbar weit davon entfernt, ein hypersensibler Ästhet zu sein. Nervo führte eine Facette des dekadenten Antihelden in die modernistische Prosa ein und versuchte damit, dem Motto des „épater le bourgeois“ zu folgen. Die Konsequenz des Mexikaners geht dabei weit über Martí hinaus. Der Kubaner versteckte die Figur in sekundären Episoden seines Romans, Nervo dagegen überlässt ihr die komplette Verantwortung im Text. Pascual Aguilera ist kein negativer Gegenpart zu einer idealisierten Figur, sondern die Handlung dreht sich nur um ihn. Es gibt keine antithetische Figur. Santiago, der naive und robuste Verlobte Refugios, tritt kaum in Erscheinung und kann die Rolle des Antagonisten unmöglich übernehmen. ‘Pascual Aguilera’ hebt noch eine weitere Konstante der modernistischen Narrativik hervor, den Voyeurismus: das Bewusstsein, einen anderen zu beobachten, der so tut, als ob er nichts merken würde; und gleichzeitig die Sicherheit, dass der Voyeur jederzeit Opfer eines anderen Voyeurs werden kann. Pascual sieht Refugio nackt, der darauf folgende erotische Anfall intensiviert sich, weil er weiß, dass sein Vergewaltigungsversuch ebenfalls beobachtet werden könnte.669 Nervo erweist sich damit als ausgezeichneter Psychologe, der seinen Helden von romantischen Stereotypen entfernt und ihn radikal subjektiviert. Die Entwicklung des Modernismo trifft sich hier mit dem Werdegang des französischen Naturalismus, der in À rebours gipfelte: ein Naturalismus ins Innere des Individuums; jeder Kopf repräsentiert eine Welt. Wenn ‘Pascual Aguilera’ die gewalttätige, leidenschaftliche und sadistische Seite des dekadenten Antihelden verdeutlichen konnte, so macht ‘El Bachiller’, die vielleicht bekannteste Erzählung Nervos, von den hypersensiblen und hysterischen Teilen der Figur Gebrauch. Zu Beginn erscheint Felipe als der sensible romantische Prototyp, der bei jeder Gelegenheit in Tränen ausbricht: „la vista de una ruina argentada por la Luna o de un sepulcro olvidado, cubría de lágrimas sus ojos. Algunas veces, sin causa alguna, lanzábase al cuello de su madre y con efusión incomparable la besaba y le decía: – ¡No quiero que te mueras!/Otras, permanecía en éxtasis ante un cuadro cualquiera“ (der Anblick einer vom Mond versilberten Ruine oder eines vergessenen Grabes füllte seine Augen mit Tränen. Manchmal warf er sich ohne Grund seiner Mutter an den Hals, küsste sie mit beispielloser Innigkeit und sagte ihr: – Ich will nicht, dass du stirbst!/Andere Male fiel er vor irgendeinem Bild in Ekstase).670 Es handelt sich natürlich um eine Parodie des romantischen Helden. Nervo erweist sich in diesen Erzählungen als der große Spötter der mexikanischen Literatur, was bei dem Autor von Plenitud überrascht. Spott meint jedoch hier in erster Linie das Aufrechterhalten der ironischen Distanz zu seinen eigenen Kreationen und zu seinen Quellen, die er nach Belieben manipulieren und variieren kann.671 Felipe muss 669
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Das Thema des Voyeurismus, allerdings auf einer ausschließlich sozialen und außerdem sehr spielerischen Ebene, findet sich bereits in Gutiérrez Nájeras ‘Novela del tranvía’ von 1882 (Vgl. Gutiérrez Nájera, Relatos, S. 345-355). Amado Nervo, ‘El Bachiller’, in Algunas narraciones, La serpiente emplumada, 12 (México: Factoria Editores, 1999), S. 3-37, hier S. 3. Ein drastisches Beispiel für Nervos Distanziertheit ist zweifelsohne seine Bewertung Émile Zolas, die ihm manchmal als Opportunismus übel genommen wurde. Am 23. Jänner 1898 kritisiert er in ‘La Semana’ die Rolle Zolas im Skandal Dreyfus streng. Laut Nervo habe Zola sich nur engagiert, um dem beim Publikum in
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zunächst den Spott seines Schöpfers ertragen. Er sucht eine idealisierte „Ella“, die er selbstverständlich nie findet: „Y Ella no llegaba nunca: era el rayo de luna eternamente perseguido por un Manrique de catorce años“ (Und Sie kam nie: Sie war der auf ewig von einem 14-jährigen Manrique verfolgte Mondstrahl).672 Diese romantische, sentimentale Figur ändert sich radikal, als sie in Kontakt mit dem mystischen Katholizismus tritt. Felipe studiert Theologie, aber es fehlt ihm der Glaube. Er flüchtet in ein Kloster, um dort „la incurable enfermedad que se llama: ¡sed de misterio y de Dios!“ (die unheilbare Krankheit, die Durst nach dem Geheimnis und nach Gott heißt) zu heilen.673 Der fanatische Katholizimus, der Huysmans in Là-bas anzog, akzentuiert die Persönlichkeit Felipes, radikalisiert sie und gibt ihr einen Charakter, und damit Individualität. Der Seminarist nützt die Klosteratmosphäre aus, um sich selbst zu geißeln, um sich für nicht begangene Sünden zu bestrafen. Wie Des Esseintes in seinen religiösen Attacken versucht er, jeglichen erotischen Gedanken mit der Peitsche auszutreiben. Die Selbstkastration des Priesters am Ende der Erzählung, um der sexuellen Anziehungskraft der naiven, aber sehr liberalen Asunción zu entgehen, ist nur die logische Konsequenz seines Fanatismus als Seminarist. Felipe und Des Esseintes gehen an die Grenzen ihrer Persönlichkeit und akzeptieren keine weniger extremen Wege. Nervo verwandelt Felipe im Laufe der Erzählung von einem romantischen Prototypen in einen dekadenten Antihelden, diesmal von der hypersensiblen und neurotischen Art. Diese Vorgehensweise wurde dem Mexikaner durch seine nie aufgegebene ironische Distanz zum Text und seinen Quellen ermöglicht. Nervo ist möglicherweise der bewussteste Autor des mexikanischen Modernismo. Literarische Hysterie, verhängnisvolle Verwechslung von Fiktion und Leben kommen bei ihm nicht vor. Wenn es für die Zwecke eines Textes nötig ist, beschimpft er das Bürgertum. Wenn eine derartige Beschimpfung kontraproduktiv erscheint, schreibt er: „Burgués fue Víctor Hugo, y vean ustedes lo que dejó. Burgués ha sido Zola y su obra es inmensa; burgués Bourget, y no por eso su análisis es menos fino y sus procedimientos menos elegantes“ (Victor Hugo war Büger und seht, was er hinterließ. Bürger war Zola und sein Werk ist unermesslich. Bürger auch Bourget und darum sind seine Analysen nicht weniger fein und seine Vorgehensweisen weniger elegant).674 Auch gegenüber seinen literarischen Modellen bewahrt er die gleiche Distanz. Nervo ist einer der wenigen modernistischen Autoren in Mexiko, der ein ausführlicheres kritisches Urteil über Huysmans abgegeben hat. Seine Ansichten weichen deutlich von denen Efrén Rebolledos im oben zitierten Gedicht aus der Revista Moderna ab. Rebolledo hat einmal mehr Fiktion und Realität verwechselt, während Nervo in der Lage ist, das Werk Huysmans analytisch zu erfassen. In ‘La Semana’ vom 8. Jänner 1899 kann man lesen:
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Ungnade gefallenen Naturalismus Leser zurückzugewinnen (Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 736-749). Am 9. Juli 1899 schreibt er dagegen über Zola: „¡Qué bella se destaca la figura de Zola, tornando con las manos calmadas de perdón desde el destierro que divinizó a Ovidio, a Dante y a Víctor Hugo!“ (Wie schön tritt die Figur Zolas hervor, der mit verzeihungsvollen Händen aus der Verbannung zurückkehrt, die Ovid, Dante und Victor Hugo vergöttlichte; S. 990). Mehr als um Opportunismus handelt es sich um eine für jeden Journalisten notwenige kritische Distanz. Konkreter: Der Journalist Nervo gibt den Meinungswechsel des Publikums gegenüber Zola wieder, nicht die Position des Subjekts Amado Nervo. Nervo, ‘El Bachiller’, S. 8. Nervo, ‘El Bachiller’, S. 11. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 572.
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Con razón ese supremo artista que se llama Huysmans se refugia, en todos sus libros, en la Edad Media, juzgando nuestra época digna de severo desdén, y, crítico excelso de arte, sólo concede su venia a los modernos que viven con la mirada en el ayer, como Fencien [sic] Rops, por ejemplo, evocador genial de todos los satanismos medioevales, o bien se torna hacia un Mariscal Barba Azul, artista en el crimen, o hacia una Santa Hildegarda, esteta incomparable de la visión. (Dieser überlegene Künstler, der Huysmans heißt, zieht sich zu Recht in allen seinen Büchern in das Mittelalter zurück und betrachtet unsere Epoche der strengen Abscheu würdig. Als hervorragender Kunstkritiker ist er nur mit den Modernen einverstanden, die ihren Blick ins Gestern richten, wie Felicien Rops, der geniale Beschwörer aller mittelalterlicher Satanismen, oder er wendet sich einem Marschall Blaubart zu, dem Künstler des Verbrechens, oder einer Heiligen Hildegard, dieser unvergleichlichen Ästhetin der Visionen.)675
Einerseits bestätigt Nervo hier seine Vertrautheit mit Là-bas, andererseits behauptet er seine Rolle als bewusster Kritiker fremder und eigener literarischer Vorgehensweisen. Frankreich ist für Nervo nicht nur das kulturelle Paradies, sondern auch das Zentrum des übertriebenen kulturellen Nationalismus. Wenn es notwendig ist, ruft der Mexikaner pathetisch aus: „Francia tiene más hijos ilustres de los que necesita. Francia es invulnerable. ¡Francia es grande, Francia es eterna!“ (Frankreich hat mehr berühmte Söhne, als es braucht. Frankreich ist unverwundbar. Frankreich ist groß, Frankreich ist ewig!).676 Gleichzeitig ist er in der Lage, sich über das übertriebene Selbstbewusstsein der Franzosen lustig zu machen: „Para el francés, el mundo entero está comprendido dentro de las fortificaciones de la ciudad. Si existe el extranjero, el extranjero son las colonias francesas” (Für den Franzosen ist die komplette Welt innerhalb der Befestigungen der Stadt enthalten. Wenn es ein Ausland gibt, so sind es die französischen Kolonien).677 Nervo spottet in El éxodo y las flores del camino (1902) über nationalistische Extreme, wie das, Shakespeare als Jacques Pierre zu einem französischen Autor zu machen.678 Mit Amado Nervo etabliert sich die modernistische Erzählung in der mexikanischen Literatur. ‘Pascual Aguilera’ und ‘El Bachiller’ verarbeiten unterschiedliche Facetten des dekadenten Antihelden. Die immer aufrecht erhaltene ironische Distanz bewahrt Nervo vor der Verführung durch die literarische Hysterie. Der Mexikaner lässt sich von seinen Modellen nicht gefangen nehmen; er fürchtet auch nicht, offen seine Abhängigkeit von französischen Lektüren einzugestehen. Nervo wird auf diese Weise zu einem Autor, der sich seiner literarischen Vorgehensweisen und seiner Verpflichtung gegenüber der Jahrhundertwende stets bewusst ist. Es kann daher nicht überraschen, dass er in ‘El donador de almas’, einer Erzählung von 1899, bereits eine Reihe von modernistischen Charakteristika und Klischees parodiert. Esoterik und Spiritualismus sind die hauptsächlichen Ziele seiner Ironie. Es handelt sich um eine burleske Verwechslungskomödie der Seelen, die mit den Mitteln des Boulevardtheaters operiert. In ‘El donador de almas’ tauschen die Seelen Persönlichkeiten und Rollen untereinander aus. Ein Beispiel: Rafael begeht ein „matrimonio cerebral“ (eine Hirnehe) mit Alda und stellt fest: „Al amarte va a ser inevitable que yo me ame a mí
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Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 913. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 932. Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 1390. Nervo, Obras completas, Bd. 2, S. 29f.
Der erzählerische Entwurf der Modernisten
mismo“ (Indem ich dich liebe, wird es unvermeidlich sein, dass ich mich selbst liebe).679 Wie auch immer, es handelt sich um ein Ehepaar; und wie in jeder guten Ehe kommt es manchmal zum Streit. Rafael und Alba führen typische eheliche Auseinandersetzungen um Kleinigkeiten, die sich jedoch alle auf spiritueller Ebene im Geist Rafaels abspielen. Die Ironie und der Spott über spiritualistische Tendenzen des Modernismo sind offensichtlich. Nur die ironische Distanz Nervos zu seinen Modellen ermöglicht im Jahr 1899 eine derartige Vorgehensweise.680 Ironie und Spott, aber noch viel mehr das Bewusstsein, an der literarischen Periferie zu schreiben, die finisekuläre Charakteristika, wie esoterische Vorlieben, leicht in gesellschaftliche Modeerscheinungen umwandelt, werden bei Nervo zu konstituierenden Elementen der modernistischen Prosa Mexikos, die sie von der dekadenten Narrativik Frankreichs unterscheiden, ohne die sie sich jedoch nicht entwickeln hätte können.681 Óscar Mata behauptet in seinem Vorwort zu einer Auswahl der Erzählungen Nervos, dass der Autor von ‘El Bachiller’ den „segundo romanticismo, el realismo y el modernismo“ (die zweite Romantik, den Realismus und den Modernismo) abdecke.682 Man muss diesem Urteil hinzufügen, dass Nervo in der Lage war, souverän mit den erwähnten Modellen zu verfahren, dass er – wie Darío vor ihm – auf Distanz zur finisekulären Ästhetik gehen konnte. Ein genau gegenteiliger Fall steht im folgenden Abschnitt zur Debatte.
5.2. Bernardo Couto Castillo: Wie würde sich Des Esseintes in Mexiko verhalten? Couto veröffentlichte 1893, als erst 14-Jähriger, seine ersten Erzählungen in El Partido Liberal, wo er noch die Redakteure der Revista Azul kennen lernen konnte. Bis zu seinem Tod, im Jahr 1901, verfasste er 55 Erzählungen und vier Übersetzungen/Bearbeitungen. Die meisten von ihnen wurden in der Revista Moderna publiziert. 1897 erschien Asfódelos, das einzige zu seinen Lebzeiten publizierte Buch des Autors. Der große Kritiker und Literarhistoriker Max Henríquez-Ureña schreibt in seiner gar nicht kurzen Breve Historia del Modernismo über Couto Castillo: “Promesa de buen prosista fue Bernardo Couto Castillo (1880-1901), que murió a los 21 años y dejó un libro de cuentos, Asfodelos [sic]” (Das Versprechen eines guten Prosaautors war Bernardo Couto Castillo [1880-1901], der mit 21 Jahren starb und eine Erzählsammlung hinterließ, Asfodelos).683 Würde der dominikanische Gelehrte heute leben, müsste er sowohl die Lebensdaten, als auch die 679 680
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Nervo, Obras completas, Bd. 1, S. 211. ‘El donador de almas’ greift auf spätere Erzählungen Nervos vor, die sich immer mehr der fantastischen Literatur und der science fiction annähern. Nervo und Lugones und in geringerem Maß auch Darío dürfen mit einigem Recht als Vorbereiter der Texte Borges in diesem Sinne gelten. Ironie und Spott sind natürlich auch in Frankreich nicht abwesend, denkt man etwa an die Erzählungen Richepins. Außerdem handelt es sich um Ingredienzen der Erzählungen Daríos, der wie Nervo nie der literarischen Hysterie gegenüber Frankreich verfiel. Der Nicaraguaner unterscheidet sich von Nervo insbesondere durch sein Bestehen auf zeitliche und geografische Exotismen. Óscar Mata, ‘El Amado Nervo narrador’, in Nervo, Algunas narraciones, S. IX. Max Henríquez-Ureña, Breve historia del modernismo, S. 484.
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Akzentsetzung im Titel der Sammlung Coutos korrigieren, ganz abgesehen davon, dass dieser an Kürze kaum zu überbietende Eintrag dem mexikanischen Erzähler keinesfalls gerecht wird. In seiner viel zitierten Breve historia del cuento mexicano übergeht Luis Leal den Autor mit dem Verweis, er sei zu jung verstorben, um über ihn urteilen zu können.684 Auch in der dazugehörigen Anthologie findet sich kein Text Coutos.685 Couto stirbt 1901 an einer Lungenentzündung, geschwächt vom Alkohol und von seiner Bromabhängigkeit. Seine Kollegen aus der Redaktion der Revista Moderna beschrieben ihn gerne als jugendliches Gespenst, das durch die Bars der mexikanischen Hauptstadt geisterte. Rubén M. Campos hält fest: „Su hastío de intelectual quedará consignado a fuego en su preciosa prosa ´¿Mujer, qué hay de común entre tú y yo`, y tal revelación nos hacía pensar en que Couto había vivido ya su vida y pasaba desencantado como una sombra a pesar de su cabellera florida y de sus veinte años” (Sein intellektueller Überdruss sollte in seiner schönen Prosa ‘¿Mujer, qué hay de común entre tú y yo’ [Frau, was haben du und ich gemein?] die Feuertaufe erhalten. Eine derartige Offenbarung ließ uns denken, dass Couto sein Leben schon gelebt hatte und dass er, trotz seiner blühenden Haare und seiner zwanzig Jahre, entzaubert wie ein Schatten herumzog).686 José Juan Tablada bezieht sich auf ihn und den ebenfalls jung verstorbenen Julio Ruelas als gefährliche Verführer, die sich zu sehr vom Leben der Bohème anstecken ließen.687 Die Einschätzungen Campos und Tabladas zeigen, dass Couto selbst innerhalb der Modernistengruppe als Exzentriker und Ausnahmegestalt galt. Gerade dadurch aber wurde er gleichzeitig zum prototypischen Vertreter der mexikanischen Generation der Jahrhundertwende. Tablada definiert ausgerechnet im Zusammenhang mit Couto diese Generation sehr deutlich: El radicalismo de la religión del arte exigía el sincero desprecio hacia el burgués y burgués era todo el que no pensaba como nosotros en asuntos estéticos, pues los sociales y económicos nos parecían muy secundarios. Era toda una dislocación de categorías que llegaba, en su grotesca ingenuidad, hasta a hacernos creer que la sociedad ideal sería una integrada y regida por poetas más o menos baudelerianos, o en salmuera de ajenjo como Verlaine o doctorados en el claroscuro satánico del aguafortista Rops o escenógrafos de misas negras como Huysmans. (Die Radikalität der Religion Kunst forderte eine ehrliche Abneigung gegenüber dem Bürger und bürgerlich war alles, was in ästhetischen Fragen nicht wie wir dachte. Die sozialen und wirtschaftlichen Fragen erschienen uns zweitrangig. Es war eine Verrenkung der Kategorien, die uns mit ihrer grotesken Naivität sogar glauben ließ, dass eine ideale Gesellschaft von mehr oder weniger baudelairschen Dichtern bevölkert und regiert werden müsste. Oder von Absinthlaken wie Verlaine oder von Doktoren im satanischen Helldunkel des Kupferstechers Rops oder von Regisseuren von schwarzen Messen wie Huysmans.)688
Ein Teenager wird auf diese Art auch in der Erinnerung eines der wichtigsten Vertreter der Modernistengruppe zum Prototypen des dekadenten Autors in Mexiko. 684 685
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Luis Leal, Breve historia del cuento mexicano (México: Ediciones de Andrea, 1956), S. 65. Der Modernismo ist bei Leal deutlich unterrepräsentiert. Nur zwei Erzählungen (von Gutiérrez Nájera und Nervo) finden sich unter dieser Rubrik in der Anthologie. Vgl. Antología del cuento mexicano, hg. v. Luis Leal (México: Ediciones de Andrea, 1957). Rubén M. Campos, El Bar. La vida literaria de México en 1900, S. 84. José Juan Tablada, La Feria de la Vida, S. 259. Tablada, La Feria de la Vida, S. 182. Meine Hervorhebungen.
Der erzählerische Entwurf der Modernisten
Couto lebte von 1894 bis 1896 in Europa, vor allem in Paris, einige Monate jedoch auch in der Schweiz und in Deutschland. Leider ist über diesen Aufenthalt, der möglicherweise für seinen literarischen Werdegang entscheidend war, nur wenig bekannt. Muñoz Fernández teilt mit, dass der junge Mexikaner möglicherweise eine Audienz bei Edmond de Goncourt bekommen hat. Ob es jedoch mehr als nur formale Kontakte mit Goncourt gab, ist sehr fraglich und eher unwahrscheinlich.689 Couto selbst verstummt während seines zweijährigen Europaaufenthaltes. In den mexikanischen Zeitungen und Zeitschriften erscheinen keine Beiträge über ihn, was überrascht, wenn man bedenkt, dass sich auch viel kürzere Auslandsaufenthalte der Redakteure der mexikanischen Periodika in oft langen Artikelserien niederschlugen.690 Auch Briefe Coutos aus Europa haben sich nicht erhalten. Es scheint lediglich ein kurzes Schreiben an Alberto Leduc zu existieren, das am 26. August 1901 posthum in El Universal veröffentlicht wurde. Couto zeigt sich darin etwas überraschend als eifriger Student der französischen Klassik. Er schreibt in Telegrammform: „Historia de la literatura por Doumic, crítico en la Revista de Ambos Mundos y muy apreciado aquí, estudio Moliere, Corneille, Racine, Boileau y la Rochefoucauld, estos cinco en particular“ (Literaturgeschichte von Doumic, Kritiker der Revue de Deux Mondes und hier sehr geschätzt, ich studiere Molière, Corneille, Racine, Boileau und La Rochefoucauld, vor allem diese fünf).691 Die moderne französische Literatur dagegen scheint ihm durchaus nicht zu gefallen. So berichtet er mit einiger Zufriedenheit über den Misserfolg eines Stücks Richepins und fügt hinzu: „Richepin ha perdido mucho de su reputación con esta obra“ (Richepin hat mit diesem Werk viel von seinem Ruf verloren). Im Theater respektiert er nur Dumas Sohn und übt sehr scharfe Kritik an Victorien Sardou: „no vale casi nada y si no dígame usted si es posible clasificar entre sus obras la obra maestra./No la hay, todo es mucha paja, mucho enredo, mucho nudo, y en el fondo nada“ (er ist fast nichts wert oder 689
690 691
Aus der schon zitierten Passage der Memoiren Tabladas geht auch hervor, dass Couto ein eifriger und sehr aufnahmefähiger Rezipient der französischen Kultur war: „Pasmaba oír a Bernardo Couto, a los 18 años, hablar de arte y de literatura con rara solidez de criterio, de los museos que había visitado y de los libros que había leído, abundando en puntos de vista lúcidos y originales, en comentarios inéditos, en ideas derivadas, con una memoria que le permitía enumerar una por una, todas las pinturas que encerraba el Salón Cuadrado del Louvre“ (Es war erstaunlich, Bernardo Couto mit 18 Jahren mit einer seltenen Festigkeit der Kriterien von Kunst und Literatur, von den Museen, die er besucht und den Büchern, die er gelesen hatte, erzählen zu hören. Es überwogen hellsichtige und originelle Standpunkte, ungewöhnliche Kommentare, abgeleitete Ideen dank eines Gedächtnisses, das es ihm erlaubte, alle Bilder des quadratischen Saales des Louvre aufzuzählen; S. 182). Leider erwähnt auch Tablada keines der „libros que había leído“. Berücksichtigt man jedoch die Vorlieben des Japanreisenden, so ist nicht anzunehmen, dass sich Couto auf die französische Klassik beschränkte. Der bekannteste Fall ist die schon mehrmals erwähnte Japanreise Tabladas zu Beginn des Jahrhunderts, die dieser in ‘Hacia el país del Sol’ ausführlich verarbeitete. Bernardo Couto Castillo, Cuentos Completos, hg. v. Ángel Muñoz Fernández, in La serpiente emplumada, 25 (México: Factoria Editores, 2001), S. 69. Die in Mexiko übliche nachlässige Akzentsetzung lässt zweifeln, ob Couto „estudio” oder „estudió” schrieb, ob also er selbst die erwähnten Autoren las, oder ob es sich nur um ein Studium aus zweiter Hand mit der in Frage stehenden Literaturgeschichte handelt. Die zweite Option erscheint plausibler: Couto konnte insbesondere auf zwei Werke René Doumics (1860-1937, Akademiemitglied ab 1909 und deren secrétaire perpétuel ab 1923) zurückgreifen, die Éléments d’histoire littéraire von 1888 und Écrivains d’aujourd’hui von 1894.
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könnten Sie unter seinen Werken das Meisterwerk identifizieren./Es gibt es nicht, alles ist viel Stroh, viel Verwicklung, viel Knoten und im Grunde nichts).692 Dieser Brief Coutos lässt viel eher auf einen konservativen literarischen Geschmack schließen, denn auf eine Vorliebe für die Avantgarde seiner Zeit. Die Namen Baudelaires, Huysmans oder auch Barbeys sucht man vergeblich. Es wäre in der Tat falsch, die Erzählungen Coutos, zumindest vor seiner Europareise, als dekadent einzustufen. Einige Beispiele: Am 8. Oktober 1893 erscheint mit einer Widmung an Gutiérrez Nájera ‘Delirium’, eine Erzählung, die vorgibt, zur Gänze dem Thema der Drogensucht unterstellt zu sein. Jedoch sind die von Couto angesprochenen „Drogen“ der ungarische Wein und der orientalische Tee. Mehr Drogenerfahrung konnte ein 14-Jähriger im mexikanischen Porfiriat wohl kaum haben. Über den Tee schreibt der halbwüchsige Couto: „El líquido de exótico color, que traído de Oriente ondea lento en afiligranada y pequeña taza, hace a mi mente despertar del letargo en que yace, en mi cerebro comiénzanse a mover las ideas, las fantásticas querellas y embriagadores ensueños que dormían; evocados por mí comienzan a pasar“ (Die aus dem Orient gebrachte Flüssigkeit aus exotischer Farbe schaukelt langsam in der filigranen und kleinen Tasse. Sie lässt meinen Geist aus seiner Lethargie erwachen und die Ideen beginnen, sich in meinem Hirn zu bewegen. Die fantastischen Klagen und die berauschenden Träume, die schliefen, beginnen, von mir erweckt, vorbeizuziehen).693 Viel mehr als dekadente Einflüsse offenbart Couto hier seine frühe Lektüre der Goncourts: die Vorliebe für den Orient, für Details der Dekoration von Gegenständen des täglichen Gebrauchs, zeigen den Einfluss der französischen Brüder; aber über die dekorativen Elemente geht Couto hier noch nicht hinaus. Die Droge wird abgelehnt und als Alternative zu ihr die Poesie und die Natur eingeführt, also noch ganz romantische Ästhetik. Die Formel von der Poesie als Gegenmittel zum Rausch sollte sich später umkehren: Rausch = Poesie, womit Couto sich der Baudelairschen Ästhetik annähert, sie aber etwas zu wörtlich nimmt. Das Hauptthema Coutos ist ohne Zweifel der Tod. Schon 1893 überrascht die Plastizität seiner Bilder vom verfaulenden menschlichen Körper: „por mi helado cuerpo anidaban bandadas de gusanos, roían mi carne, chupaban mi sangre que, cayendo sobre el ataúd, formaba un lodo asqueroso“ (in meinem eisigen Körper nisteten Wurmschwärme, sie nagten mein Fleisch ab, sie saugten mein Blut aus, das auf den Sarg fiel und einen ekelhaften Schlamm bildete).694 So zu lesen in der Erzählung ‘Eterna Unión’. Derartige Bilder weisen in erster Linie auf die Lektüre Edgar Allan Poes hin, auf die dunkle Seite der Romantik.695 Jedoch mildert Couto diese abstoßende Thematik durch glückliche Ausgänge ab, d. h. die Liebe wird als dem Tod überlegene Macht dargestellt. Ein weiteres Lieblingsthema des Modernismo kündigt sich in ‘El Encuentro’ an, erschienen am 5. November 1893. Couto beschreibt einen verbitterten Autor, vergessen und 692 693 694 695
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Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 70. Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 24. Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 29. Manuel M. Flores darf, zumindest über die nachträgliche Bewertung anhand seiner erotischen Memoiren Rosas caídas (1953 erstmals veröffentlicht und lange Zeit praktisch ignoriert) als Hauptvertreter dieser dunklen Seite der Romantik in Mexiko gelten. Besonders der Einfluss Poes und Hoffmanns macht sich in ihnen bemerkbar.
Der erzählerische Entwurf der Modernisten
vom bürgerlichen Publikum missverstanden. Dieser Protagonist kritisiert die Verwandlung der Kunst in handelbare Ware. Das typisch modernistische Merkmal des in der bürgerlichen Gesellschaft an den Rand gedrängten Poeten erscheint überdeutlich in der Erzählung Coutos. Die Folgen einer derartigen Isolierung sind bei dem jungen Mexikaner Verbitterung, aber vor allem die Flucht in den Selbstbetrug und in die Verwechslung von Leben und Literatur. Der Dichter in ‘El Encuentro’ sagt: „sólo tenía lágrimas o risa para mis personajes, me identificaba de tal modo con ellos, que tenía días de odiar profundamente o de amar con pasión loca, según lo requerían las circunstancias“ (ich hatte nur für meine Personen Tränen oder Lachen, ich identifizierte mich derart mit ihnen, dass ich Tage hatte, an denen ich tief hasste oder mit wahnsinniger Leidenschaft liebte, so wie es die Umstände erforderten).696 Die Weltflucht des Künstlers, sein eitler Elitismus werden angesprochen. Was Couto hier noch nicht postuliert ist das Konzept des Dichter-Gottes, der sich seine eigenen Welten schafft, die unabhängig von sozialen Realitäten sind. Diese Vergöttlichung des Künstlers macht sich erst in den Texten nach seinem Europaaufenthalt bemerkbar. Es ist bezeichnend, dass der erste nach Coutos Rückkehr publizierte Text ‘La canción del ajenjo’ heißt, zu finden am 31. März 1896 in der Revista Azul. Nicht mehr von Tee und ungarischem Wein ist die Rede, sondern – nicht mehr und nicht weniger – von der Modedroge der Pariser Intellektuellen, die selbst zur Erzählerin des Textes aufsteigt, die personifizierte Droge also: „Yo, la verde diosa de la quimera, yo, quien a tu mente, hoy oscurecida por el pesar, da los ensueños color de rosa, los exotismos, los refinamientos de la ilusión. Yo puedo hacerte ver – como a Fausto el maravilloso espejo – la mujer, que si tu destino fuera menos cruel, te amaría“ (Ich, die grüne Göttin der Chimäre, ich, die deinem Geist, der heute von der Sorge verdunkelt ist, die rosafarbenen Träume gibt, die Exotismen, die Raffinessen der Illusion. Ich kann dich – wie Faust der wunderbare Spiegel – die Frau sehen lassen, die dich, wenn dein Schicksal weniger grausam wäre, geliebt hätte).697 Sehr wahrscheinlich liegt dieser kurze Text nach einer ersten Lektüre Baudelaires, bzw. nach dem direkten Kontakt mit der Pariser Bohème. In den letzten Jahren seines Lebens sollte Couto dieser Thematik, der Verfremdung in den künstlichen Paradiesen, treu bleiben. Seine Erzählungen radikalisieren sich und der nicht 20-Jährige wird zum „Diabolischen“ des mexikanischen Modernismo. Seine Helden sind gelangweilte, vom ennui geplagte Figuren, die ihrer Existenz keinen Sinn abgewinnen können. Der Erzähler von ‘Día brumoso’ findet nur in der Nacht einen zweifelhaften Sinn: „Con ansia espero la noche, será una noche de ajenjo, ella brotará de la copa, sonreirá como sabe hacerlo; las gotas al caer al fondo y fundirse en ámbar, producirán ruido parecido al de besos“ (Mit Sehnsucht erwarte ich die Nacht. Es wird eine Nacht des Absinth sein. Sie wird aus dem Glas aufsteigen, lächeln wie nur sie es kann. Die Tropfen werden auf den Grund des Glases fallen und zu Harz schmelzen. Sie werden ein Geräusch wie Küsse machen).698 Der Alkohol wird zum Lebensersatz, so wie auch die Literatur. Glück existiert nicht für Coutos Protagonisten, die Erleichterung nur im Alkohol oder in der ästhetischen Finesse finden. 696 697 698
Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 35. Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 71. Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 86.
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In den Erzählungen aus Asfódelos mischen sich die Zwangsvorstellungen Coutos: der Tod und die Langeweile, die Suche nach Genuss und dessen Sterilität. Es handelt sich um zwölf Erzählungen, die mithelfen, eine mexikanische Jahrhundertwendeästhetik zu begründen. Es sind statische Erzählungen, praktisch ohne plot. Die Rolle Joris Karl Huysmans als Modell für die Erzählungen in Asfódelos erscheint mir schon aus diesem Grund unbestreitbar. Coutos Protagonisten sind Zwillingsbrüder Des Esseintes: handlungsunfähig, steril, raffinierte Blutegel ihrer Epoche. Der Erzähler von ‘Una obsesión’ akzeptiert keinerlei Form der Alltagsroutine: „Yo nunca creí en la felicidad, no creí que un hombre algo refinado pudiera, sin gran esfuerzo soportar durante dos años las mismas caricias, las mismas facciones y las mismas cosas“ (Ich glaubte nie an das Glück, ich glaubte nie, dass ein ein wenig raffinierter Mann ohne große Anstrengungen zwei Jahre lang die gleichen Zärtlichkeiten, die gleichen Gesichtszüge und die gleichen Dinge ertragen kann).699 Vielleicht die bezeichnendste Erzählung aus Asfódelos ist ‘Blanco y Rojo’. Es handelt sich um die Überlegungen eines Häftlings, der ohne rationale Motive seine Liebhaberin getötet hat. In dieser Figur zeigen sich die typischen Charaktereigenschaften Des Esseintes: Apathie und gleichzeitig die Sucht nach möglichst ausgesuchten Sinneswahrnehmungen: „En realidad, en mí jamás hubo energía ni voluntad algunas; no hubo si no impresiones./Llegué a comprenderlo y procuré buscarlas, encontrarlas en todos lados y a cualquier precio, como busca el morfinomaniaco la morfina y el borracho el alcohol. Fue mi vicio y fue mi placer“ (In Wirklichgkeit gab es in mir nie Energie oder Willen; es gab nur Eindrücke./Ich verstand dies und versuchte, sie überall und um jeden Preis zu suchen und zu finden, so wie der Morfiumsüchtige das Morfium und der Betrunkene den Alkohol. Es war mein Laster und mein Vergnügen).700 Die größte Lust findet er schließlich im kaltblütigen Mord an seiner Geliebten, die selbst ein Produkt ihrer Zeit ist: eine enthusiastische Anhängerin der Musik Wagners und der Dichtung Baudelaires. Das Verbrechen wird wie ein mehrfarbiges Gedicht konstruiert und der Mörder erreicht den Höhepunkt seiner Lust, als er in die Augen der Sterbenden sieht: „Sus ojos me miraban fijos, sus labios blancos parecían decir por última vez: Sur ta vie et sur ta jeunesse,/moi je veux reigner par l’effroi. Y yo quedaba inmóvil, extasiado, ante aquella palidez, ante aquella Sinfonía en Blanco y Rojo“ (Ihre 699
700
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Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 136. Der Protagonist der Erzählung treibt seine Geliebte in den Selbstmord und beobachtet neugierig ihr Sterben: „Yo no di un paso, no hice un gesto, no levanté el brazo para detenerla; al contrario, curioso, con curiosidad perversa, aguardaba, y aun parecía desafiarla con mi actitud“ (Ich tat keinen Schritt, ich machte keine Geste, ich hob nicht den Arm, um sie aufzuhalten. Im Gegenteil, neugierig, mit einer perversen Neugierde, wartete ich und ich schien sie mit meiner Haltung noch herauszufordern; S. 139). Nach ihrem Tod lässt sich der Erzähler immer mehr von der Zwangsvorstellung beherrschen, dass der Geist seiner Geliebten ihm in der Nacht erscheint. Es handelt sich um kein Gespenst, sondern um eine spirituelle Präsenz, die den Text als Reflex auf Baudelaires gleichnamiges Gedicht ‘Obsession’ erscheinen lassen, in dessen letzter Strophe von den Trugbildern der Dunkelheit die Rede ist: „Mais les ténèbres sont elles-mêmes des toiles/Où vivent, jaillisant de mon œil par milliers,/Des êtres disparus aux regards familiers“ (Doch weben sich ins Bild der Finsternis hinein,/Aus meinem Aug entsprungen, ungezählte Wesen,/Entschwundne, deren Blicke mir vertraut gewesen; Charles Baudelaire, Les Fleurs du Mal. Die Blumen des Bösen, zweisprachige Ausgabe, Stuttgart: Philipp Reclam, 1980, S. 154, deutsch S. 155). Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 176.
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Augen starrten mich an, ihre weißen Lippen schienen zum letzten Mal zu sagen: Über dein Leben und über deine Jugend werde ich mit dem Schrecken herrschen. Und ich verharrte vor dieser Blässe, vor dieser weiß-roten Symphonie unbeweglich und aufgeregt).701 Die ironische Anspielung auf das berühmte Gedicht Gautiers unterstreicht den ästhetischen Wechsel im Werk Coutos und in der modernistischen Erzählkunst überhaupt. Die alten Modelle sind nur mehr nostalgische Referenzen, die nicht mehr in der Lage sind, die geänderten sozialen Verhältnisse, eine für den Künstler feindliche und meist unverständliche Realität, zu erfassen. Gültig ist dagegen das eingefügte Zitat aus Baudelaires ‘Le Revenant’, durch das jegliche romantische Auffassung zwischenmenschlicher Beziehungen obsolet wird. Couto lässt keinen Zweifel daran, wer seine neuen literarischen Vorbilder sind: Los asesinos célebres, los seres horripilantes, los diabólicos, me seducían. Soñaba con personajes como los de Poe, como los de Barbey D’Aurevilly; me extasiaba con los cuentos de este maestro y particularmente con aquel en el que dos esposos riñen y mutuamente se arrojan, se abofetean, con el corazón despedazado y sangriento aun del hijo; soñaba con los seres demoníacos que Baudelaire hubiera podido crear, los buscaba complicados como algunos de Bourget y refinados como los de d´Annunzio. (Berühmte Mörder, schreckliche Wesen, die Diabolischen verführten mich. Ich träumte von den Figuren Poes, von denen Barbey D’Aurevillys. Ich begeisterte mich an den Erzählungen dieses Meisters und vor allem an der, in der zwei Eheleute streiten und sich gegenseitig mit dem zerstückelten und noch blutigen Herzen ihres Kindes schlagen. Ich träumte von den dämonischen Wesen, die Baudelaire schaffen hätte können und suchte komplizierte, wie einige von Bourget, und raffinierte, wie die von d’Annunzio.)702
Couto bezieht sich konkret auf die sechs im Jahr 1874 veröffentlichen Erzählungen aus Les Diaboliques von Barbey d’Aurevilly. Allerdings stimmt keiner der Texte genau mit den Angaben des Mexikaners überein. Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass Couto von ‘La Vengeance d’une femme’ und ‘A un dîner d’Athées’ spricht, Erzählungen, die als Höhepunkte der französischen Dekadenzliteratur gelten. Tatsächlich schließt die Szene mit dem (allerdings nicht „frischen“) Herzen die zweite Erzählung als Klimax ab, aber Couto dürfte in seinen Lektüreeindrücken auch noch das Erzählgerüst von ‘La Vengeance d’une femme’ präsent gehabt haben, wo unter anderen Abartigkeiten ein betrogener Ehemann den Liebhaber seiner Frau töten lässt und dessen (tatsächlich frisches) Herz den Hunden zum Fraß vorwirft. Die Frau rächt sich, indem sie sozial immer tiefer fällt, bis sie schließlich in der Salpetrière endet, wo sie langsam verfault. Vor ihrem Tod stellt sie sicher, dass ihr Mann von ihrem Schicksal erfährt und damit – auch er – seinen Platz in der Pariser Gesellschaft verliert.703 Ohne Zweifel repräsentiert Asfódelos die diabolische Seite des mexikanischen Modernismo. Es fehlt die ironische Distanz eines Amado Nervo in den Erzählungen Coutos, der sich – wie der Erzähler in ‘El Encuentro’ – ganz mit seinen Quellen (Barbey, Huysmans, Baudelaire) und mit seinen eigenen literarischen Schöpfungen identifiziert. Ohne die Internationalisierung der Kultur am Ende des 19. Jahrhunderts wäre jedoch auch 701 702 703
Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 157. Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 177. Vgl. Jules Barbey d’Aurevilly, Les Diaboliques, in Œuvres complètes, Bd. 1 (Genf: Slatkine Reprints, 1979). ‘À un dîner d’Athées’: S. 249-329; ‘La Vengeance d´une femme’: S. 329-380.
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das Werk Coutos nicht möglich gewesen. Die Phänomene, an denen seine Protagonisten leiden und zu Grunde gehen, sind gleichzeitig die sozialen Veränderungen, die ihre fiktive Existenz erst ermöglichten. Ohne das Vorbild Huysmans, ohne die Lektüre Barbeys, hätte Couto jedoch keine Figuren wie den Erzähler von ‘¿Por qué?’ schaffen können, der sich seiner Unfähigkeit zu fühlen, seiner sentimentalen Lähmung, bewusst wird.704 Andererseits konnte Couto von der Existenz der modernen französischen Ästhetik nur durch eine verstärkte Reisetätigkeit der Autoren am Ende des Jahrhunderts, bzw. durch die leichtere Zugänglichkeit und schnellere Verbreitung der Quellen über den Atlantik hinweg erfahren. Um auf die anfangs gestellte Frage zurückzukommen – wie würde sich Des Esseintes in Mexiko benehmen? – erlaube ich mir die Antwort: Er würde sich genauso wie in Frankreich benehmen. Couto lebt, wie kein anderer mexikanischer Autor, die Bohème und den ennui, wodurch seine mexikanische Umgebung in den meisten seiner Erzählungen keinen Einfluss nimmt. Seine Helden sind französische Helden, die zufällig in Mexiko geboren wurden. Sein Ambiente ist ein französisches Ambiente, das die lateinamerikanischen Realitäten bewusst ignoriert. In anderen Worten: Couto versetzt Des Esseintes gewaltsam nach Mexiko und versucht, ihn in einer Umgebung heimatlich zu machen, die seinem Wesen denkbar fremd ist. Darin liegt die Schwäche und die Stärke dieser Texte gleichzeitig. Ihre Protagonisten sind Des Esseintes in immer neuen und immer extremen Situationen. Der Gegenvorschlag zu diesen Erzählungen findet sich in Asunción Silvas De sobremesa, in dem José Fernández die Züge der lateinamerikanischen Variante des dekadenten Helden fixiert. Er ist nicht nur ein feiner und gelangweilter Ästhet, sondern auch ein Tatmensch, der einen ökonomischen und politischen Plan entwirft, um den Fortschritt seines Landes zu garantieren. José Fernández lebt innerhalb der finisekulären Ästhetik, aber er ist sich ihrer Regeln und Widersprüche bewusst. Er distanziert sich von ihren Extremen, auch wenn er sie oft nicht vermeiden kann, was eine Art psychologische Verdoppelung zur Folge hat, die nicht mit Schizophrenie zu verwechseln ist. José Fernández ist in der Lage, seine sentimentale Situation, seinen ennui, zu analysieren, aber er ist unfähig, in diese Situation einzugreifen, oder gar sie zu verändern. Silvas Protagonist gibt eine exakte Beschreibung des ideologischen und ästhetischen Ambientes der Jahrhundertwende, aber er kann sich selbst diesem Ambiente, das er als kalt und unmenschlich kritisiert, nicht entziehen. Ich zitiere hier als Beispiel seine Verteidigung des romantischen Victor Hugo gegenüber der neuen Ästhetik, die José Fernández in Nietzsche kristallisiert sieht: Moriste a tiempo, Hugo, padre de la lírica moderna; si hubieras vivido quince años más, habrías oído las carcajadas con que se acompaña la lectura de tus poemas animados de un enorme soplo de fraternidad 704
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„¿conoces tú algo más estéril, más inútil, más vacío y más mezquino que esos días siempre e igualmente fastidiosos y a los que, a pesar de todo y a pesar de nosotros mismos, nos apegamos como al más delicioso y durable de los sueños? [...] Mi situación es claramente ésta: no puedo amar, inválido, indigente de corazón, los goces de los sentimientos no se hicieron para mí“ (kennst du etwas Unfruchtbareres, Nutzloseres, Leereres, Mittelmäßigeres als diese immer und gleichartig lähmenden Tage, an die wir uns trotz allem und trotz uns selbst anhalten, als ob sie der süßeste und dauerhafteste Traum wären? [...] Meine Lage ist klar: Ich kann nicht lieben, im Herzen gelähmt und bedürftig wurden die Genüsse der Gefühle nicht für mich gemacht; Couto Castillo, Cuentos Completos, S. 201).
Der erzählerische Entwurf der Modernisten
optimista; moriste a tiempo; hoy la poesía es un entretenimiento de mandarines enervados, una adivinanza cuya solución es la palabra nirvana. El frío viento del Norte, que trajo a tu tierra la piedad por el sufrimiento humano que desborda en las novelas de Dostoiewsky y de Tolstoi, acarrea hoy la voz terrible de Nietzsche. (Du starbst rechtzeitig, Hugo, Vater der modernen Lyrik. Wenn du fünfzehn Jahre länger gelebt hättest, hättest du die Lacher gehört, die die Lektüre deiner von einem enormen Hauch der optimistischen Brüderlichkeit belebten Gedichte begleitet. Du starbst rechtzeitig. Heute ist die Dichtung eine Unterhaltung für genervte Mandarine, ein Rätsel, dessen Lösung das Wort Nirvana ist. Der kalte Nordwind, der in dein Land die Demut vor dem menschlichen Leiden brachte, das in den Romanen Dostojewskjis und Tolstois überflutet, befördert heute die schreckliche Stimme Nietzsches.)705
Trotz dieser Analyse handelt José Fernández selbst wie ein „mandarín enervado“. Trotz seiner Ablehnung der Philosophie Nietzsches ist er im gleichen Atemzug in der Lage, eine überraschend einsichtige Synthese des Denkens des Deutschen zu formulieren.706 Couto Castillo dagegen suchte die Evasion in der Droge einerseits, in der Fiktion andererseits. Die erotischen und ästhetischen Genüsse, der sexuelle Akt auf den Gräbern eines Friedhofs, vom Alkohol hervorgerufene Visionen, übernatürliche oder unerklärliche Erscheinungen werden bei ihm zu fixen Bestandteilen der finisekulären Realität, deren offensichtlich fiktiver Charakter in den Hintergrund tritt. In den Erzählungen nach Asfódelos wird Couto diese Welt nicht mehr verlassen, wie die sechs Erzählungen um Pierrot, alle in der Revista Moderna publiziert, deutlich zeigen. In der commedia dell’arte findet er ein ideales Ambiente: eine in sich geschlossene Welt, die ihm ermöglicht, seine Fantasien und Frustrationen in ihr abzubilden, ohne auf die Welt außerhalb der Fiktion Rücksicht nehmen zu müssen. Bernardo Couto Castillo erreichte sowohl in seinen Erzählungen, als leider auch in seinem Leben, eine Grenze. Er findet verständlicherweise keinen Nachfolger in der mexikanischen Modernistengruppe. Couto Castillo erreichte ein Niveau der Evasion, das zuvor aus der europäischen Romantik bekannt war. Das Leben in der Fiktion hat seine Vorfahren bei Werther und Atala oder in der Mystik eines Novalis, für den der Tod die eigentliche Realität war. Couto Castillo lässt damit die Interpretation des Modernismo als eigentliche Romantik Mexikos gangbar erscheinen, wobei Romantik hier als überzeitliche, nicht an geografische Fixierungen gebundene Strömung zu betrachten ist. Ángel Muñoz Fernández kommt im Vorwort der Cuentos completos Coutos intuitiv zu dieser Erkenntnis: Por cierto que releyendo a los románticos, en los que se acusa ya una tendencia lírica y estetizante, y a los modernistas, que en sus narraciones se confundirían con la sensibilidad romántica, se antoja considerar si [sic] el Modernismo, al menos en cuanto a forma, como una conclusión obligada del Romanticismo. (Wenn man die Romantiker wieder liest, in denen sich eine lyrische und ästhetisierende Tendenz ankündigt, und die Modernisten, die sich in ihren Erzählungen mit der romantischen Sensibilität vermischen, so ist man
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José Asunción Silva, De sobremesa, in Obra completa, hg. v. Héctor H. Orjuela, Colección Archivos, 7 (México: Consejo Nacional para la Cultura y las Artes, 1992), S. 227-393, hier S. 321. Auch die Figur José Fernández ist ohne das Modell Des Esseintes undenkbar. Silva kam wenige Monate nach der Erstveröffentlichung von À rebours nach Paris. In der französischen Hauptstadt schenkte ihm Mallarmé ein Exemplar des Romans. Zu dieser Episode verweise ich auf den Artikel Fernando Charry Laras ‘Silva y el simbolismo’, der sich in der Internet-Seite www.geocities.com/poeticarte/silsimbolismo.htm nachgedruckt findet.
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versucht, den Modernismo zumindest formell als einen erzwungenen Abschluss der Romantik zu betrachten.)707
Meines Erachtens ist der Modernismo eine Verlängerung und kein Abschluss der Romantik, aber er ist es in erster Linie in ideologischer Hinsicht, und viel weniger aus formalen Gründen. Ein Blick auf die Beschreibung Paul Bénichous der Enstehung der französischen Romantik soll die gleichlaufende Entwicklung des mexikanischen Modernismo verdeutlichen. Bénichou studiert in seiner umfangreichen Monografie La coronación del escritor 17501830708 die Wurzeln und den Triumph der Romantik in der revolutionären und postrevolutionären französischen Gesellschaft. Bénichou zeichnet eine paralelle Entwicklung von Bürgertum und Literatur, die als untrennbares Paar erscheinen. Die französische Dichtung entwickle sich ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Richtung eines „sacerdocio poético“ (poetische Priesterschaft), der dem Dichter eine Vermittlerrolle zwischen Gott und den Menschen zuschreibt. Laut Bénichou war diese Entwicklung nur dank der Machtergreifung des Bürgertums möglich, das sich selbst definieren musste, was insbesondere durch eine Säkularisierung der Gesellschaft geschah: der Intellektuelle/Gelehrte ersetzt den Priester. Ein Kult der „großen Männer“ entsteht, die von der religiösen Gesellschaft die Rolle der Heiligen übernehmen.709 Der Literat erzieht das Volk und definiert die Regeln der neuen Gesellschaft. Trotzdem muss er sich der Philosophie unterordnen: der Dichter hat direkten Zugang zu den von ihr postulierten Wahrheiten, bleibt aber von der Philosophie abhängig.710 Die Revolution von 1789 drängt den Dichter in die Rolle des Bürokraten, der ihm fremde Themen behandeln muss. Der politische Triumph des Bürgertums bringt eine „Versklavung“ des Dichters mit sich.711 100 Jahre später befinden sich die lateinamerikanischen Schriftsteller in einer sehr ähnlichen Situation. Sie sind Bürokraten des öffentlichen Erziehungswesens oder Journalisten, zwei ihrer Berufung fremde Tätigkeiten. In Frankreich reagiert die Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts, indem sie dem Dichter eine göttliche Rolle verleiht. Bénichou schreibt: „El Dios de los eclécticos, y el de los poetas del siglo XIX, apenas parece ser el autor de las significaciones; es el artista quien engendra, quien literalmente crea, a la medida de su genio, la infinidad de los símbolos posibles“ (Der Gott der Eklektiker und der der Dichter des 19. Jahrhunderts scheint kaum der Autor der Bedeutungen zu sein. Der Künstler erzeugt, er schafft wortwörtlich die 707 708
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Ángel Muñoz Fernández, ‘Prólogo’, in Couto Castillo, Cuentos Completos, S. XIII. Das Original erschien unter dem Titel Le sacre de l´écrivain 1750-1830. Essai sur l´avènement d´un pouvoir spirituel laïque dans la France Moderne im Jahr 1973 bei José Corti in Paris, konnte jedoch aus logistischen Gründen hier nicht zu Rate gezogen werden. Paul Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, Aus dem Französischen von Aurelio Garzón del Camino (México: FCE, 1981), S. 45. Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 47f. Unschwer lassen sich ähnliche Tendenzen in der mexikanischen Kultur am Ende des 19. Jahrhunderts finden. Schriftsteller wie Altamirano oder Justo Sierra waren nur an zweiter Stelle Schriftsteller. Ihre primäre Funktion war die von Erziehern. Sie waren als Dichter verkleidete Pädagogen und Philosophen. Ganz im Gegensatz zum Modernismo nehmen sie in der bürgerlichen und zumindest offiziell laizistischen Kultur Mexikos die Rolle von „Heiligenstellvertretern“ ein. Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 73.
Der erzählerische Entwurf der Modernisten
Unendlichkeit der möglichen Symbole gemäß seinem Genie).712 Die Sprache erhält religiösen Wert, womit der Dichter Schöpfer, Demiurg, sein kann. Ab 1800, so argumentiert der französische Kritiker, beginne die administrative und politische Macht, die Literatur als subversiv und der bestehenden Ordnung entgegenstehend abzulehnen. Die Dichter werden aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen.713 Die Dichter stellen diesem Ausschluss das berühmte Konzept der Entsprechungen entgegen, demzufolge die Dichtung in der Lage ist, die göttliche Schöpfung zu deuten, aber leider nur für eine Minderheit der Gesellschaft zugänglich.714 Das Ziel der Literatur sei es, sich in die Gesellschaft wiedereinzufügen. Um dies zu erreichen, greift die neue, heute als erste romantische bekannte, Generation zu dem bereits erwähnten Konzept des Dichter-Schöpfers zurück. Bénichou zitiert in diesem Kontext Lamartine mit dem bezeichnenden Vers: „L’homme est un dieu tombé qui se souvient des cieux” (Der Mensch ist ein gefallener Gott, der sich an die Himmel erinnert).715 Lamartine schreibe „der Mensch“, aber er beziehe sich nur auf den Dichter. Das beginnende 19. Jahrhundert bringe in Frankreich auch eine Welle von spirituellen und esoterischen Moden. Die Theosophie eines Fabre d’Olivet interpretiere Philosophie, Theologie und Literatur als ein Ganzes, das in der Lage sei, die geheimen Verbindungen zwischen den menschlichen und übersinnlichen Erscheinungen aufzudecken.716 Es erscheint nur logisch, dass die französische Romantik vor diesem Hintergrund dem Dichter die Rolle eines Priesters des Geistes verlieh.717 Diese Rolle kontrastiert jedoch mit der realen Situation des Dichters. Ein derartiger Kontrast habe die stereotype Figur des unverstandenen Künstlers hervorgebracht, eines „Cristo laico“ (weltlichen Christus), dessen Leiden lange Zeit fiktiv waren, bis sie sich mit der Machtergreifung des neuen kapitalistischen Bürgertums als real herausstellten: in Frankreich mit den Revolutionen von 1830 und 1848,718 in Mexiko etwa 50 Jahre später, während des Porfiriats. Die chronologischen Abstände sind beachtlich, die im Spiel befindlichen Mechanismen und Folgen jedoch sind identisch. Bénichou charakterisiert das geistige Ambiente der ersten beiden Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts in Frankreich wie folgt: „no creyendo ya en nada, ni en particular en su alma inmortal, el hombre de hoy compensa esta pérdida espiritualizando la materia con lo maravilloso o lo horrible“ (der Mensch von heute, der an nichts mehr glaubt, nicht einmal an seine unsterbliche Seele, kompensiert diesen Verlust, indem er die Materie mit dem Wunderbaren und dem Schrecklichen vergeistigt).719 Lateinamerika wird am Ende des 19. Jahrhunderts die gleiche „espiritualización“ (Vergeistigung) durchleben, intensiviert durch einen extrem verfeinerten ästhetischen Geschmack und durch gewisse Vorlieben für diverse Arten von Perversion. In Frankreich – so Bénichou – habe auch die große romantische Generation um Victor Hugo nicht auf den „sacerdocio poético“ verzichtet, sondern im 712 713 714 715 716 717 718 719
Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 243. Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 108f. Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 151. Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 163. Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 250. Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 254. Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 308. Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 314.
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Gegenteil auf den unbegrenzten Kräften der poetischen Vorstellungskraft bestanden.720 Wenn auch Hugo eine Zeit der allgemeinen Anerkennung und Verehrung erlebte, so sahen sich andere Autoren enttäuscht, als sie die sehr begrenzte Wirkung ihrer Texte erkannten: die Vorstellungskraft mag unbegrenzt sein, aber: Wozu dient sie, wenn nur einige wenige ihr Potential erkennen können? Bénichou stellt folgerichtig fest, dass Autoren wie Gautier am „acre desengaño del Espíritu, que al comprobar que sus supuestos valores no tienen crédito real, se finge superior a la cólera que arde en él“ (bittere Enttäuschung des Geistes, der, als er merkt, dass seine angeblichen Werte keinen wirklichen Kredit haben, vorgibt, der Wut, die in ihm brennt, überlegen zu sein) litten.721 Der eben zitierte Satz könnte sehr gut das Motto des hispanoamerikanischen Modernismo sein. Mit den Erzählungen Couto Castillos scheint die modernistische Narrativik Mexikos diesen „acre desengaño del Espíritu“ erreicht zu haben. Couto schließt die Augen vor der ihn umgebenden Realität und endet in der Selbstzerstörung. In Kolumbien begeht José Asunción Silva Selbstmord, ohne die Veröffentlichung seines Romans De sobremesa abzuwarten, der die Züge eines lateinamerikanischen dekadenten Helden festlegt, der die Augen gegenüber der sozialen Realität seines Landes wieder öffnet. Der Text kommt bei seiner Erstveröffentlichung 1925 viel zu spät, um die Richtung des Modernismo noch verändern zu können. Was in Mexiko den Erzählungen Couto Castillos folgt, ist die Dekadenz der Dekadenz, von der Josu Landa in seinem in der Einleitung dieser Arbeit erwähnten Ensayo sobre la decadencia schreibt, also Texte, die sich ihrer literarhistorischen und ästhetischen Position bewusst sind und diese analytisch oder parodistisch behandeln. Im folgenden Abschnitt sollen in aller Kürze drei Beispiele aus der späteren modernistischen Prosa Mexikos das eben Erläuterte illustrieren.
5.3. Drei Texte modernistischer Prosa nach Couto Castillo: Alberto Leduc, Rubén M. Campos und Efrén Rebolledo Der aus Querétaro stammende Alberto Leduc – um zwölf Jahre älter als Couto Castillo722 – macht sich in seiner knappen Meistererzählung ‘Fragatita’ das Ambiente der Hafenstadt Veracruz zunutze und führt als Protagonistin eine exotische Mulattin in die Geschichte ein. Die Prostituierte Fragatita trägt durchaus die Züge einer femme fatale, jedoch ohne deren intellektuelle und sentimentale Grausamkeit. Leduc betont in erster Linie die genuin der farbigen „Rasse“ zugeschriebene erotische Anziehungskraft der Frau: Fragatita tenía los cabellos crespos y abundantes, la piel amarillenta y fina, el andar indolente y la elástica agilidad de las lianas y las culebras. [...] su cuerpo todo despedía ese aroma exótico que turba los sentidos de 720 721 722
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Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 375. Bénichou, La coronación del escritor 1750-1830, S. 420. Leduc starb 1908 in Mexiko-Stadt. Er war auch Mitarbeiter des Diccionario de Geografía, historia y biografía mexicana, das 1910 bei Bouret in Paris und Mexiko herauskam, sowie verantwortlich für zahlreiche Übersetzungen aus dem Französischen in der Revista Moderna. Vgl. Muñoz Fernández, Fichero bio-bibliográfico, Bd. 1, S. 368f.
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los blancos, ese perfume extraño de las mujeres de color, que parece formado con las emanaciones de las playas de Africa y con las brisas de los mares tropicales. (Fragatita hatte lockiges und volles Haar, eine gelbliche und feine Haut, einen trägen Gang und die elastische Beweglichkeit von Lianen und Schlangen. [...] ihr ganzer Körper atmete diesen exotischen Geruch aus, der die Sinne der Weißen trübt, dieses seltsame Parfüm der farbigen Frauen, das aus den Ausdünstungen der afrikanischen Strände und den Winden der tropischen Meere gemacht zu sein scheint.)723
Fragatita hat zumindest zwei Männer „auf dem Gewissen“, die sich ihretwegen gegenseitig in einer Messerstecherei getötet haben, und deren Andenken sie ehrt. Die Prostituierte entspricht mit ihrer Naivität viel eher Asunción, der Verführerin in Nervos ‘El Bachiller’, als den Frauengestalten in den Erzählungen Couto Castillos. Der Text gewinnt in erster Linie durch den Hauptkonflikt an Interesse: Fragatita liebt den französischen Matrosen Pierre Douairé und bewirkt damit die Eifersucht des „contramaestre“ (Obermaat) Juan Sánchez. Leduc hätte keinen prototypischeren spanischen Namen wählen können. Aus den Memoiren Campos, den Leduc in die Revista Moderna einführte, wissen wir, dass der Queretaner einer der fanatischsten Anhänger und besten Kenner der französischen Kultur war. Die Tatsache, dass Fragatita dem feinfühligen Franzosen gegenüber dem groben Spanier Sánchez den Vorzug gibt, lässt sich unschwer als Leducs Forderung deuten, die Mischkultur Mexiko müsse sich endgültig (Sánchez wird von Fragatita erstochen) vom spanischen Mutterland ab- und der sensibleren französischen Kultur zuwenden. Treibt man diese Interpretation jedoch weiter, so kommt man zu dem Resultat, dass die mexikanische Kultur auch von der französischen im Stich gelassen wird, was wiederum den praktischen Erfahrungen vieler lateinamerikanischer Schriftsteller in Paris entspricht. Verglichen mit Couto Castillo siedelt Leduc seinen bekanntesten Text in einem sehr realistischen Ambiente an: der Hafenprostitution in Veracruz. Keine Spur von künstlichen Paradiesen oder ennuigeplagten Helden. Auch Douairé ist und bleibt ein simpler Seemann. Das „Dekadente“ der Erzählung gründet einzig auf der erotischen Ausstrahlung Fragatitas und, im weitesten Sinne, auf einer möglichen Glorifizierung der französischen Kultur. Ansonsten entspricht ‘Fragatita’ viel eher den zwischen Romantik und Realismus angesiedelten chronikartigen Erzählungen des Duque Job. Rubén M. Campos veröffentlichte 1906 seinen Roman Claudio Oronoz, der auch als Vorstufe zu seinen Memoiren gelesen werden kann, d. h. als eine Bestandsaufnahme der mexikanischen Künstler-Bohème um 1900.724 Der Erzähler des Romans ist der 20-jährige José Abreu, der aus der Provinz in die mexikanische Hauptstadt kommt und dort Bekanntschaft mit Claudio Oronoz macht. Dieser wird sofort als „escéptico y claudicante“ (skep723
724
Ich zitiere aus der in der zweiten Märznummer 1900 in der Revista Moderna auf den Seiten 159 und 160 publizierten Version. ‘Fragatita’ entstand 1896 und wird von Luis Leal als „cuento de amor y de venganza que refleja el influjo de los escritores franceses, tan popular entre los literatos de la época“ (Erzählung von Liebe und Rache, die den Einfluss der bei den Literaten der Zeit so populären französischen Schriftsteller widerspiegelt) eingestuft. Vgl. Leal, Breve historia del cuento mexicano, S. 67. Studien zu Claudio Oronoz liegen vor. U. a.: Roland Grass, ‘El Claudio Oronoz de Rubén M. Campos y el valor social del modernismo’, in Homenaje a Sherman H. Eoff (Madrid: Editorial Castilla, 1970), S. 117136; Serge I Zaïtzeff: ‘Más sobre la novela modernista: Claudio Oronoz de Rubén M. Campos’, in Anales de Literatura Hispanoamericana, 5 (1976), S. 371-378.
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tisch und schwankend)725 in die Erzählung eingeführt und kein Zweifel an seinem hypersensiblen und dekadenten Charakter soll aufkommen.726 Der todkranke Oronoz – er leidet an Tuberkulose, an sich ein Privileg der romantischen und modernistischen Frauen – ist das schwarze Schaf einer bürgerlichen Industriellenfamilie, für das eine Rebellion lange Zeit undenkbar war, bis er schließlich in der Bohème seine Zuflucht findet: „Su precocidad generatriz escogió las frutas más granadas, los deleites más intensos, los goces intelectuales más puros, las sensualidades más espasmódicas, y en breve fué guiador de la legión conquistadora del Vellocino de Venus“ (Seine erzeugende Frühreife wählte die erlesensten Früchte aus, die intensivsten Genüsse, die reinsten intellektuellen Vergnügungen, die spasmischsten Sinnlichkeiten. Er war, in Kürze, der Führer der Eroberer des Vlieses der Venus).727 In den von ihm frequentierten „Orgien“ zieht eine lange Reihe skandalöser, lasterhafter Frauen an dem Leser vorbei, so Rebeca Fontana, die öffentlich raucht(!), oder die „exotische“ Skandinavierin Wilhelmine Bjorn, die als „vampiresa“ beschrieben wird: „Pero en las noches, insomne, febril y delirante, ¡era la vampiresa, la poseída, la licenciosa más perversa que ha florecido como flor preciosa en los pantanos del mal, la reveladora tremenda de voluptuosidades dolorosas, de goces martirizantes, de divinos suplicios sin nombre!“ (Aber in den Nächten, schlaflos, fiebernd und delirierend, war sie die Vampirfrau, die Besessene, die perverseste Lüsterne, die je als reizende Blume in den Sümpfen des Bösen erblüht ist, die fürchterliche Offenbarerin schmerzhafter Wollust, folternder Genüsse, göttlicher und namenloser Foltern!).728 Dieses sehr sadomasochistische erotische Szenarium bildet den Hintergrund, vor dem Claudio Oronoz, der sensible Dichter, dem Tod entgegengeht. Der Erzähler wird zwar in das Ambiente eingeführt, bewahrt aber stets skeptische Distanz zu ihm. Er interpretiert den Intellekt als Auslöser der „Perversionen“ der Jahrhundertwende: „Es necesaria toda la perfidia del hombre para despertar esa alma de su inocencia é infundirle el pensamiento con su sombrío poder, pues el pensamiento es el mal, é infundirle con el mal el deseo, que es fiebre incurable, y con el deseo el placer, y con el placer la perversión“ (Die ganze Niedertracht des Menschen ist nötig, um diese Seele aus ihrer Unschuld zu erwecken und ihr das Denken mit seiner dunklen Macht einzuhauchen, denn das Denken ist das Böse. Und ihr mit dem Bösen das Verlangen einhauchen, das ein unheilbares Fieber ist. Und mit dem Verlangen die Lust und mit der Lust die Perversion).729 Der immer schwächer werdende Oronoz versucht, in der Bohème, mit der Orgie, seine Krankheit zu besiegen, scheitert aber in doppelter Hinsicht. Einerseits muss er die Oberflächlichkeit, das Provinzielle der mexikanischen Bohème erkennen, die ihm die wirklich verbotenen Früchte, nach denen er sich sehnt, nicht anbieten kann: „¡Te querría impulsiva y cruel, perversa y pérfida, dominadora y perjura, algo que me hiciera sentir una sensación nueva, algo que me hiciera sufrir tormentos sin nombre, cóleras satánicas, angustias 725 726
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Rubén M. Campos, Claudio Oronoz (México: Premia Editora/SEP, 1982), S. 13. Oronoz war bereits Protagonist des ‘Cuento bohemio’ von 1901, in dem es von ihm heißt: „espectraba su taciturna faz dantesca“ (sein schwermütiges danteskes Antlitz geisterte; Rubén M. Campos, Cuentos Completos, 1895-1915, México: Consejo Nacional para la Cultura y las Artes, 1998, S. 81). Campos, Claudio Oronoz, S. 64. Campos, Claudio Oronoz, S. 72. Campos, Claudio Oronoz, S. 155.
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devoradoras que me destrozaran el corazón!“ (Ich wollte dich impulsiv und grausam, pervers und niederträchtig, dominant und eidbrüchig, etwas, das mich einen neuen Eindruck fühlen ließe, etwas, das mich namenlose Foltern erleiden ließe, teuflische Wut und eine zerfressende Angst, die mir das Herz zerstören würde!).730 Andererseits muss Oronoz erkennen, dass sein Körper versagt, dass gerade seine Sehnsucht nach der Dekadenz ihn dem Ende rasch näher bringt. Er gesteht seinen Lebenswillen ein – „¡Y yo quiero vivir!“ (Und ich möchte leben!)731 – und verweigert gleichzeitig jeglichen Jenseitsglauben. Sein Sterben wird zum grausamen Ende eines intellektuellen, ästhetisierenden Skeptikers, der sich bis zum letzten Moment Fiktionen von einem lustvollen Leben konstruiert.732 Die Bohème als Lebensform scheitert im Roman Campos, die Dekadenz funktioniert nicht. Selbst die Figur der „vampiresa“, die von Campos zur kollektiven Protagonistin des Romans gemacht wird, sieht sich am Ende auf die Rolle einer unglücklich liebenden, sehr romantischen Frau reduziert: „Si no soy más que una pecadora de amor, el vampiro satánico, la mariposa negra temblorosa y ávida en el cáliz de tu vida sensitiva y delicada de flor ... sin más delito que haberte amado mucho!“ (Ich bin doch nur eine Sünderin der Liebe, der satanische Vampir, der zitternde und sehnsüchtige schwarze Schmetterling im Kelch deines feinfühligen und zerbrechlichen Lebens einer Blume ... mit dem einzigen Verbrechen, dich sehr geliebt zu haben!).733 Die „mandrágora de amor“ (Alraune der Liebe), die nur Lust geben kann, unterliegt der unschuldigen Magda und wird zu einer tragikomischen Figur.734 In der Figur des Claudio Oronoz denkt Campos das Leben von Huysmans Des Esseintes zu Ende. Ohne dessen Vermögen und ästhetische Finesse, aber ebenso im ennui und in der Glaubenslosigkeit befangen, dem Leben überdrüssig und gleichzeitig an ihm hängend, weil nur es in der Lage ist, immer neue sensitive Erfahrungen bereitzustellen, symbolisiert Oronoz das Scheitern der dekadenten und modernistischen Ästhetik und Ideologie im Mexiko der Jahrhundertwende. Schon zu Beginn des Textes muss der Erzähler José Abreu dieses Scheitern erkennen. Er suchte in der Stadt die Bohème und fand eine rasante Modernität: „en vez del barrio bohemio y de los artistas luchadores que yo soñaba, había encontrado una muchedumbre anónima de rostros calenturientos, el estruendo de la lucha por la vida en talleres, en fábricas, en almacenes, en el tráfico diario de las calles, en el apresuramiento de los transeuntes“ (an der Stelle des Viertels der Bohème und der kämpfenden Künstler, von denen ich träumte, fand ich eine anonyme Menge erhitzter Gesichter, das Getöse des Lebenskampfes in Werkstätten, Fabriken und Lagern, im täglichen Straßenverkehr, in der Hast der Fußgänger).735 In dieser modernen, schnelllebigen Stadt, in die sich Mexiko am Ende des 19. Jahrhunderts allmählich verwandelte, war kein Platz für den ästhetisierenden Künstler des Modernismo. Was bleibt sind die stilistischen Errungenschaften der Gruppe. Campos schreibt eine adjektivlastige Prosa, in der Galizis730 731 732 733 734 735
Campos, Claudio Oronoz, S. 232f. Campos, Claudio Oronoz, S. 319. Campos, Claudio Oronoz, S. 331. Campos, Claudio Oronoz, S. 341. Campos, Claudio Oronoz, S. 345. Campos, Claudio Oronoz, S. 29.
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men, Synästhesien, Farbensymbolik (etwa die der Augen) oder die metaforische Interpretation alltäglicher Gegenstände dominieren, in der lange abstrakte intellektuelle Reflexionen über Kunst und Philosophie in das Romangeschehen eingefügt werden können, die den Fortgang der Handlung verzögern. Unschwer lässt sich in der Figur des Claudio Oronoz auch ein Porträt des Campos-Freundes Couto Castillo erkennen, der in der Praxis wie kein anderer das tragische Scheitern der Bohème vorgelebt hatte. Ohne Zweifel war für Campos die französische Literatur (festgemacht wieder an Baudelaire und Huysmans) ein Teil des „pensamiento con su sombrío poder“ (Denkens mit seiner dunklen Macht), der den schließlichen Bankrott des Modernismo in Mexiko bereits im Keim enthielt. Noch weiter als Campos in der Darstellung eines Künstlers ohne fixen Platz in der Gesellschaft des mexikanischen Porfiriats geht Efrén Rebolledo (1877-1929) in seinem Kurzroman Salamandra von 1919. Elena, die „Salamandra“, ist eine im Luxus lebende, gefühllose, die Männer verachtende femme fatale. Sie gefällt sich in dieser Rolle und genießt es, das Erstaunen der hauptstädtischen Gesellschaft hervorzurufen: „Prefirió su libertad, y bella, rica, despreocupada, continuó viviendo en su magnífico hotel de la Colonia Juárez, causando la estupefacción de la sociedad metropolitana, que se mantenía encastillada en las costumbres del tiempo de los Virreyes“ (Sie zog ihre Freiheit vor. Schön, reich, sorglos lebte sie weiter in ihrer großartigen Wohnung im Juárez-Viertel und sie erregte das Erstaunen der hauptstädtischen Gesellschaft, die in den Gewohnheiten der Zeiten der Vizekönige verharrte).736 Sie ist Pose und in ihrer Darstellung scheint Rebolledo auf Fotografien der Zeit von Tänzerinnen und Damen der Halbwelt zurückgegriffen zu haben: „Una tarde, a la hora de la siesta, vestida con un negligé color paja, se encontraba Elena en el espacioso hall de lustroso piso de taracea, recostada perezosamente en un diván cubierto con una piel de tigre“ (Eines Abends, zur Zeit der Siesta, befand sich Elena in der geräumigen Halle mit glänzendem Mosaikboden. Sie lag faul auf einem mit einem Tigerfell bezogenen Sofa).737 Elena spielt mit dem Laster, dem sie jedoch nie wirklich verfällt, ihr Bild von sich selbst ist erneut Fiktion: „Me gustaría más fumar opio, recostado en un canapé y reposando mis zapatillas bordadas de seda roja en un escabel“ (Ich würde lieber Opium rauchen, auf einem Kanapee ausgestreckt sein und meine mit roter Seide bestickten Hausschuhe auf einem Schemel ausruhen).738 Auch ihr soziales Umfeld erscheint ihr als bloße Fiktion. Wenn sie sich langweilt, unternimmt sie Spaziergänge in die Armenviertel der Stadt, „donde hay más exotismo que en un viaje al oriente“ (wo es mehr Exotik gibt, als in einer Orientreise).739 Ausgerechnet in diese Frau muss sich der talentierte Dichter und Journalist Eugenio León verlieben. Das Ende ist absehbar, aber dennoch überraschend: Der zurückgewiesene Eugenio erwürgt sich mit dem Zopf Elenas, den diese ihm als Abschiedsgeschenk zusandte. Wichtiger erscheint jedoch in unserem Zusammenhang, dass Rebolledo, nach der Revolution schreibend, die Rolle des Künstlers und Ästheten im Porfiriat als völlig untergeordnet und von der Geldaristokratie verachtet definiert. Ein 736 737 738 739
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Efrén Rebolledo, Salamandra. Caro Victrix, in La serpiente emplumada, 2 (México: Factoria Ediciones, 1999), S. 32. Rebolledo, Salamandra, S. 39. Rebolledo, Salamandra, S. 55. Rebolledo, Salamandra, S. 57.
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Gespräch der Snobs um Elena kann dies illustrieren: „– ¿Qué noticias de Eugenio? preguntó Lola./– No sé, contestó Don Camilo. Yo no lo veía sino en casa de Elena. Nosotros no tratamos a los periodistas./– Pues Fernando nos lo presentó a Elena y a mí./– Los trato así, por encima, contestó Fernando con ademán despreciativo“ (– Welche Nachrichten von Eugenio?, fragte Lola./– Ich weiß nicht, antwortete Don Camilo. Ich habe ihn nur im Hause Elenas gesehen. Wir verkehren nicht mit Journalisten./– Nun, Fernando hat ihn Elena und mir vorgestellt./– Ich behandle ihn oberflächlich, antwortete Fernando mit verächtlichem Ausdruck).740 Der Künstler hat bestenfalls Unterhaltungsfunktion für die mexikanische „Aristokratie“. Sein Beruf existiert nicht. Eugenio ist in diesen Kreisen immer nur Journalist, nie Schriftsteller oder gar Dichter. In einer Zeit, in der der mexikanische Revolutionsroman das literarische Feld zu dominieren beginnt, schreibt Rebolledo den endgültigen Abgesang auf die literarische Bohème, wird der Versuch der Künstler, eine eigene soziale Klasse des Geistesadels zu bilden, definitiv als naiv und selbsbetrügerisch entlarvt.741 Die Figur Salamandras bleibt als wahrscheinlich unfreiwillige Überzeichnung der femme fatale bestehen und wird wenig später als insbesondere von María Félix verkörperte kalte, erotisch anziehende, aber gefühlsarme Frauengestalt – allerdings mittels einer eigenartigen Symbiose mit Gamboas Santa – in das goldene Zeitalter des mexikanischen Kinos Eingang finden.742 Der modernistische Traum jedoch von einer ästhetisch regierten Gesellschaft, in der der Künstler den Ton angibt, der sich in erster Linie an Baudelaire und Huysmans orientiert hatte, stellte sich damit ein für alle Mal als gefährliche Illusion heraus.
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Rebolledo, Salamandra, S. 85. Wie sehr die mexikanische Erzählkunst in den 20er Jahren bereits vom Modernismo entfernt ist, zeigt auch die Tatsache, dass La resurrección de los ídolos, der einzige von José Juan Tablada fertiggestellte Roman, im Jahr 1924 ein kompletter Misserfolg war. Tablada versuchte zwar, den Text der Revolutionsthematik anzunähern, doch die Leser des Universal Ilustrado, in dem La resurrección in Fortsetzung erschien, akzeptierten den Roman nicht, der vorzeitig zu einem unfreiwillig komischen Ende gebracht wurde. Bis 2003 war der Text unzugänglich im Tablada-Archiv des Abate Mendoza „versteckt“. Erst dann entschloss sich die UNAM, La resurrección de los ídolos in das Gesamtwerk Tabladas zu integrieren und lieferte die ersten Exemplare im Mai 2004 aus. Der Text ist eine teilweise bizarre Mischung aus Theosophie, Revolutionsthematik („guerra cristera“), Kostumbrismus und romantischem Liebesidyll, die nie in der Lage ist, ein modernistisches Gegengewicht zum Revolutionsroman eines Mariano Azuela oder eines Martín Luis Guzmán herzustellen. Vgl. José Juan Tablada, La resurrección de los ídolos, in Obras, VII, hg. v. José Eduardo Serrato Córdova, Nueva Biblioteca Mexicana, 152 (México: UNAM, 2003). Vgl. dazu meinen Artikel ‘Santa: la película inicial para la época de oro del cine mexicano’, in Tierra Adentro, 126, Febrero/marzo 2004, S. 64-70.
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Zusammenfassung
Die wesentliche Hypothese dieser Studie war: Die modernistische Narrativik Mexikos bildet die eigentliche Romantik der Literatur des Landes. In einem ersten Kapitel versuchte ich, die Literatur Mexikos vor dem Modernismo im Überblick zu beschreiben, wobei insbesondere die Analyse von Altamiranos El Renacimiento gute Aufschlüsse bot. Nach der politischen Unabhängigkeit galt es, auch der Kultur des Landes zur Autonomie zu verhelfen. Der nationalistische Zweig der Literatur um Altamirano lehnte französische Modelle weitgehend ab und etablierte einen sehr begrenzten Lektürekanon um Lamartine und Victor Hugo. Spanische und auch deutsche Modelle wurden als Alternativen zu Frankreich propagiert. Die Erzählkunst dieser Jahrzehnte folgte weitgehend romantischen Stereotypen mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem Thema der nationalen Unabhängigkeit. Im zweiten Kapitel zeigte ich, wie sich die französische Ästhetik der Jahrhundertwende allmählich in Mexiko durchsetzte und den begrenzten Lektürekanon des literarischen Nationalismus erweiterte. Revista Azul und Revista Moderna widmeten ihr zahlreiche Beiträge. Über die Rezeption von Parnass, Symbolismus und Dekadentismus definiert sich der mexikanische Modernismo und befreit sich paradoxerweise die mexikanische Kultur vom ausgeprägten „afrancesamiento“, speziell in der Alltagskultur, vergangener Epochen. Eine Position des Selbstbetrugs der Künstler setzt sich durch, nicht zuletzt nach der ausführlichen, aber französisch gefilterten Analyse des Denkens Nietzsches in der Revista Moderna. Der Kontrast zwischen sozialer Realität und dem Bild des Künstlers von sich selbst in seinen Werken akzentuiert sich. Das dritte Kapitel analysiert autobiografische Texte einiger Repräsentanten des Modernismo: Tablada, Rubén M. Campos, Jesús E. Valenzuela, sowie als Gegengewicht das umfangreiche Tagebuch Federico Gamboas. Die modernistische Epoche wird in der Rückschau als ein für manche Autoren fatales Idyll präsentiert. Die Bohème, das Leben in den Bars der Hauptstadt, beschleunigt den Entfremdungsprozess und die literarische Hysterie bei einer ganzen Künstlergruppe. Vor allem in den Memoiren Tabladas wird die politische und soziale Naivität der Gruppe offensichtlich, die sich von den Strategien des Porfiriats leicht und gerne täuschen ließ. Das Leben abseits des politischen Geschehens ermöglichte die Schaffung einiger Meisterwerke, aber limitierte auch die Lebenserwartung des Modernismo als literarische Bewegung, die spätestens mit dem Einzug der Rebellen Zapatas in der Villa Tabladas in Coyoacán ein Ende findet. Alle hier behandelten Texte, auch der Gamboas, spiegeln die Bedeutung der französischen Literatur in diesem Prozess wider, insbesondere Baudelaires und Huysmans. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit einem allmählichen Paradigmenwechsel zwischen der romantischen und der modernistischen Erzählkunst Lateinamerikas. Einige Schlüsseltexte der hispanoamerikanischen Romantik werden besprochen, um sie den Romanen Manuel Gutiérrez Nájeras und José Martís gegenüberzustellen. Eine in Mexiko vertretene These, derzufolge Por donde se sube al cielo den Beginn der modernistischen
Zusammenfassung
Prosa darstellt, musste zurückgewiesen werden, da der Roman des Duque Job sich in erster Linie als typischer Vertreter des romantischen Feuilletonromans präsentiert. Als entscheidenden Schritt fasse ich José Martís Amistad funesta auf, da der Kubaner bereits auf das Modell À rebours zurückgreifen konnte, um einen neuen Romantyp auf dem amerikanischen Kontinent schaffen zu können. Trotz einer Reihe romantischer Reminiszenzen („romantisch“ im Sinne der lateinamerikanischen, also politisch-nationalistisch geprägten Romantik) überwiegen, besonders im ersten Teil des Romans, finisekuläre Elemente. Schließlich sollte in diesem Abschnitt auch gezeigt werden, dass mexikanische und europäische Romantik (v. a. die deutsche) auf sehr unterschiedlichen Prinzipien beruhen. Die mystische, metaphysische Variante der Romantik findet sich definitiv erst im mexikanischen Modernismo. Anhand der Analyse einiger erzählerischer Texte Rubén Daríos versuchte ich, der Rolle des Nicaraguaners als einflussreichem Gruppenchef des Modernismo gerecht zu werden. Der Bekanntheitsgrad Daríos ermöglichte eine, wenn auch eingeschränkte, Emanzipation von den französischen Quellen, erweiterte jedoch gleichzeitig den modernistischen Lektürekanon. Die Analyse der Erzählungen Amado Nervos und Bernardo Couto Castillos, die auch schon auf eine Reihe modernistischer Erzähltexte zurückgreifen konnten (Martí, Darío, Lugones u. a.), bildet das fünfte Kapitel der Arbeit. Es handelt sich um gegensätzliche Wiesen, die finisekuläre Ästhetik in Mexiko auszunutzen. Nervo zeichnet sich besonders durch eine ironische Distanz zu seinen eigenen Werken und ihren Quellen aus, die er nie aufgibt. Der Autor mystischer Gedichte ist als Erzähler ein souveräner Intellektueller, der mit den zahlreichen v. a. aus Frankreich importierten -Ismen der Jahrhundertwende „spielen“ kann. Couto Castillo dagegen lässt sich von ihnen betrügen. Die künstlichen Paradiese Baudelaires bilden seinen Lebenszweck. Es gibt keine erzählerische oder ironische Distanz in seinen Texten, der in ihnen zur Schau gestellte Grad an Fiktionalität ist minimal, wodurch es zu einer verhängnisvollen Konfusion von Ästhetik und Ethik kommt. Dennoch sind Nervos Ironie und die Hysterie Coutos zwei Seiten einer Münze: der Selbstbetrug der Künstler in der mexikanischen Gesellschaft des Porfiriats, der Kontrast zwischen der tatsächlichen sozialen Rolle des Künstlers und dem Wunschbild. Ein Vergleich mit den Thesen Paul Bénichous zur Entstehung der französischen Romantik konnte zeigen, dass die Entwicklung des Modernismo deckunsgleich verlief. Ich bestätige demnach meine Hypothese: Die modernistische Narrativik Mexikos bildet die eigentliche Romantik der Literatur des Landes. Dieses Kapitel abschließend sollte mit Werken Alberto Leducs, Rubén M. Campos und Efrén Rebolledos noch die von Josu Landa angesprochene Dekadenz der Dekadenz illustriert werden. In zukünftigen Studien wird es nötig sein, das Werk einiger heute fast vergessener Autoren, die im Modernismo zu schreiben begannen, zu analysieren. Ich verweise hier nur auf Alberto Leduc, Francisco M. de Olaguíbel oder Ciro B. Ceballos. Es handelt sich um Autoren, die von Publikum und Kritik vernachlässigt wurden – wie auch Couto Castillo und Rubén M. Campos –, die aber einige für die modernistische Literatur Mexikos kennzeichnende Prosatexte verfassten. Eine genauere Kenntnis dieser Werke und der theoreti-
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schen Positionen ihrer Autoren könnte das Bild vom romantischen Modernismo Mexikos verdeutlichen.
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