Die dritte Weissagung von Adrian Doyle
Von den Menschen weitgehend unbemerkt, geschehen mysteriöse, erschreckende Ding...
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Die dritte Weissagung von Adrian Doyle
Von den Menschen weitgehend unbemerkt, geschehen mysteriöse, erschreckende Dinge. Unglücksfälle, deren wahre Bedeutung man verkennt. Naturphänomene, die nicht natürlichen Ursprungs sind. Erscheinungen, die keiner zu deuten vermag … Doch all dies hat einen Sinn, wurde vor vielen Jahren von Kindeshand in drei Prophezeiungen niedergeschrieben. Die beiden ersten haben sich bereits bewahrheitet. Die dritte steht nun, kurz vor dem Millenium, vor ihrer Erfüllung! Folgen Sie uns in die Vergangenheit – zum Ursprung und Geheimnis der dritten Weissagung!
Was bisher geschah … Wie aus dem Nichts erscheint am 28. September 2000 ein mysteriöses Haus an der Paddington Street in Sydney. Der Polizeipathologe Darren Secada findet darin die Halbvampirin Lilith Eden, die nach ihrem großen Kampf gegen die Mächte der Finsternis zwei Jahre lang dort schlief. Secada bringt sie in seine Wohnung, verfolgt von Seven van Kees, einer Reporterin des Sydney Morning Herald. Diese wird Zeuge, wie zwei unheimliche Gestalten in die Wohnung eindringen – und von Lilith, die sich in eine Fledermaus verwandelt, zur Strecke gebracht werden. Es sind Vampire! Doch dies ist eigentlich unmöglich. Lilith weiß, daß Gott selbst die Alte Rasse vom Antlitz der Erde getilgt hat. Darren stellt fest, daß diese Wesen seit Jahren tot sind; sie verschwanden damals aus ihren Gräbern. Und nun setzt sich der aufgehaltenen Verwesungsprozeß fort. Was ist geschehen in den zwei Jahren, die Lilith schlief? Doch bevor sie sich um diese Frage kümmern kann, braucht sie ein Zuhause – das Haus in der Paddington Street. In dessen Kellergewölben hat sich jedoch eine monströse Bedrohung eingenistet: durch Magie mutierte Ratten, die viele der Polizisten töten. Lilith stellt sich der Gefahr. Es gelingt ihr nicht nur, die Ratten zu vernichten, sie gewinnt auch das Vertrauen des Einsatzleiters, Chefinspektor Chad Holloway. Durch ihn kommt sie an den Polizeichef von Sydney heran und »überzeugt« ihn hypnotisch, die Truppen abzuziehen. Lilith bleibt keine Zeit, Atem zu holen. Sie entdeckt über dem Sydneyer Zoo einen magischen Wirbel, und als sie das Phänomen untersuchen will, wird sie von aus Tierteilen zusammengesetzten Chimären angegriffen. Zwar bleibt sie Sieger, doch wer die Untat begangen hat, ist ungewiß. Sie erfährt auch nicht, daß die Urheber über ein Pergament verfügen, das man nur berühren muß, um ihnen zu
Diensten zu sein. Und daß sie einem höheren Ziel folgen, welches sie mit der »Erfüllung der Zeichen« umschreiben … Für Seven van Kees ist das Leben mittlerweile zur Hölle geworden. Sie hat sich Hals über Kopf in einen Fremden verliebt – um, nachdem sie mit ihm geschlafen hat, festzustellen, daß er längst tot war und nun seinen zweiten, diesmal endgültigen Tod findet! Sie vertraut sich Darren Secada an. Gleichzeitig merkt sie, wie sich irgend etwas in ihr verändert. Und erfährt schließlich … daß sie schwanger ist! Lilith wird unterdessen die Einladung eines Sydneyer Multimillionärs überbracht. Max Beaderstadt steht hinter der Gruppe, die für die Chimären im Zoo verantwortlich zeichnet – und er möchte Lilith für seine Ziele gewinnen. Als sie sich weigert, will er sie töten. Das aber verhindert der Angriff eines Konkurrenten; bei dem Kampf kann Lilith entkommen. Zuvor aber erweckt Beaderstadt steinerne Gargoyles zum Leben und hetzt sie auf die Angreifer. Was ist das Geheimnis um diesen Mann …?
»Habe keine Angst, mein Kleines, denn ich bin die Muttergottes, die zu dir spricht, und ich bitte dich, diese Botschaft der ganzen Welt zu verkünden: Über die Menschheit wird eine große Züchtigung kommen, noch nicht heute und noch nicht morgen, aber zur Wende ins nächste Jahrtausend. Die Kirche wird sich verfinstern. Helle Flammen werden aus den Gemächern des Vatikans schlagen. Die Zeit der Zeiten wird kommen – und damit das Ende …« Fragment der dritten Weissagung
Prolog Die dunklen Jahre Am 28. Juni 1914 kam der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand bei einem Attentat in Sarajewo ums Leben. Dieses Ereignis gilt als Auslöser des 1. Weltkrieges. Rund einen Monat später befahl Rußland als unmittelbar beteiligte Macht die allgemeine Mobilmachung seiner Truppen. Tags darauf erklärte Deutschland zunächst dem russischen Reich, wenig später auch noch Frankreich den Krieg. Ein Jahr später hatte die Hysterie bereits ganz Europa angesteckt. Dabei sollte es nicht bleiben. Die USA, Mittel- und Südamerika, China, Siam und etliche andere »Exoten« ergriffen Partei und schürten die anfänglich noch überschaubaren Kriegsherde zu einem gewaltigen Flächenbrand, der die Welt an den Rand des Abgrunds trieb. Zu Land, zu Wasser und in der Luft wurde dieser Krieg ausgetragen. Auch unzählige Konferenzen und Vermittlungsversuche konnten nicht verhindern, daß das schreckliche Schlachten vier lange, dunkle Jahre andauerte. Und gewiß nicht einer der als Krüppel oder seelische Wracks heimkehrenden Soldaten ahnte, daß nicht nur erbarmungslose Staatsoberhäupter Schuld trugen an dem Sturm, der über die Welt gewandert war, sondern jene, die ihr Los seit Urzeiten bestimmten. Die Grauen Eminenzen, die heimlichen Drahtzieher im Hintergrund. Die wahrhaft blutsüchtigen, blutrünstigen Verbrecher …
* Pedrograd, Winter 1914/15
Wie radikal sich die Landschaft verändert hatte, konnte wohl nur ermessen, wer diesen Flecken Erde mit eigenen Augen geschaut hatte, bevor eine Stadt hierhergepflanzt worden war. Noch zwei Jahrhunderte zuvor hatten sich an dieser Stelle die Sümpfe des Newa-Deltas erstreckt. Ein riesiges, den Säugetieren – und also auch den Menschen – feindlich gesinntes Areal, in das eine Stadt zu setzen nur einem Wahnsinnigen oder Menschenverächter einfallen konnte. Die Frau, die sich zu später Stunde durch die froststarre, nächtliche Kälte bewegte, als würden die Unbilden des Winters sie nicht anfechten, wußte jedoch verläßlich, daß Peter der Große – kein anderer hatte die Sümpfe unter unmenschlichen Bedingungen trockenlegen lassen und die fähigsten Baumeistern der Alten Welt beauftragt, dort ein architektonisches Juwel aus dem Boden zu stampfen – nichts von beidem gewesen war. Nur eben ein schwaches Menschlein, das den Einflüsterungen desjenigen, der ihn zum Bau dieses gewaltigen Denkmals animiert hatte, nicht gewachsen gewesen war … Irina blieb kurz stehen. Der eisige Wind blies wie ein jenseitiger Odem in ihr Gesicht, das ebenso wie ihr rötlich braunes Haar unter der fellgefütterten Kapuze ihres Umhangs verborgen lag. Die Kälte biß in ihre schwach durchblutete Haut, und es gefiel ihr. Es gefiel ihr stets, diesen Körper, der schon einmal aufgehört hatte zu atmen, zu spüren. Sie war mindestens so gierig nach dem Leben, das wieder in ihr pulsierte, wie nach dem Leben derer, unter denen sie sich zu behaupten gelernt hatte. Indem sie eine perfekte Symbiose mit ihnen eingegangen war … Ihre Augen fanden das schwache Licht, das auch von Nacht und Sturm nicht auszurotten war. Es hatte sich mit den Schatten verwoben, als läge die Stadt unter einem schimmernden Gazetuch, das die Häuser, Bäume und Brücken wie Spinngewebe miteinander vernetzte. Trotz der Schönheit und trotz der Heerscharen pochender Herzen
darin hatte sich Irina nie wirklich heimisch in dieser Stadt gefühlt, vor deren Toren sie damals mit einer Gruppe anderer Kinder getauft worden war. Blutgetauft vom legendären Hüter des Lilienkelchs, der etwa ein Vierteljahrhundert nach der Sippengründung von Pedrograd – damals noch St. Petersburg – verschwunden war. Zusammen mit dem magischen Instrument der Fortpflanzung, auf das alle Macht der Alten Rasse fußte. Der Hüter reiste nicht mehr. Seit 188 Jahren hatte ihn kein Vampir mehr zu Gesicht bekommen, und alle Hilferufe, alle dringenden Botschaften, die von den Oberhäuptern der Sippen in die Welt hinaus getragen wurden, weil sie den Fortbestand ihrer Familien gefährdet sahen, waren ungehört verklungen. Es kursierten Gerüchte, aber niemand wußte genau, was dem Hüter widerfahren war, daß er sich nicht mehr zeigte. Ebenso rätselhaft war das Schicksal des Unheiligtums selbst. Der Lilienkelch galt als verschollen. Die Sippe von St. Petersburg gehörte zu den Letztgetauften. Wenige Jahre später verlor sich jede Spur. Es würde noch eine lange Zeit brauchen, bis sich die Folgen dieses Verlusts tatsächlich bemerkbar machen würden. Aber der Niedergang der heimlichen Herrscher dieses Planeten schien unausweichlich. Es sei denn … Es sei denn, jemandem gelänge es, den verlorenen Kelch wiederzufinden und die Rolle des Hüters zu übernehmen, dachte Irina. Sie sann oft darüber nach, wie es wäre, wenn sie in die Fußstapfen der Legende treten würde. Wenn es ihr gelänge, den dunklen Gral der Vampire ausfindig und ihrem Volk wieder nutzbar zu machen. Es war ein heimlicher Traum. Verbunden mit der Sehnsucht, in die Welt hinauszuziehen und diese kalte Stadt, die ihr oft wie aus Eisen gegossen schien, für immer hinter sich zu lassen. Für immer … Auch Irinas Existenz haftete dieses vielversprechende »Für
immer« an. Aber die Vampirin hatte der Ewigkeit stets mißtraut. Sie lächelte. Das durchkühlte Fleisch formte eine Grimasse, die all jene erschreckt hätte, unter denen sich Irina die meiste Zeit ihres Daseins herumtrieb. Wenn sie nicht gerade an den schattigen Ufern der Newa im Gras lag und dort im Dickicht dem Rauschen des mächtigen Stromes lauschte, der sich unbeeindruckt vom Wandel der Zeiten zeigte. Nach einer Weile setzte sie ihren Weg fort. Unter der Kruste vermeintlicher Stille, die die Stadt umhüllte, herrschte allenthalben Unruhe. Eine Nervosität, die nicht erst fühlbar geworden war, seit der Zar vom Balkon des Winterpalastes aus Rußlands Eintritt in den großen Krieg erklärt hatte. Das war, erinnerte sich Irina, letztes Jahr im Juli geschehen. Schon im darauffolgenden Monat war der Name der Stadt in Pedrograd geändert worden … Sie beschleunigte ihre Schritte. Sie hätte die Randgebiete der Stadt auch – und ungleich schneller – auf ledrigen Schwingen erreichen können. Doch sie hatte die Transformation in eine Fledermaus immer als ihrer Art unwürdig empfunden und nutzte diese Möglichkeit nur in seltenen Fällen. Einmal kam ihr eine Patrouille entgegen. Die Stiefel der Soldaten hämmerten ein Lied des Terrors in die Stille der Nacht. Irina blieb unter einer Eiche stehen und wartete ab, bis die Kriegsknechte vorübermarschiert waren. Niemand nahm Notiz von ihr, und unbehelligt erreichte sie die Peripherie der Stadt, wo die Arbeiterfamilien in überfüllten Baracken zusammengepfercht lebten, während der Adel in seinen Häusern und Palästen in verschwenderischem Prunk schwelgte. Nicht mehr lange, wenn die Bemühungen der ansässigen Sippe fruchteten. Und wer mochte es bezweifeln? Am Vortag war Irina einem jungen Arbeiter zu der Stelle gefolgt, die sie jetzt wieder aufsuchte. Sie verbrachte eine Menge Zeit damit,
sich ihr Essen auszusuchen, und seit Tagen quälte sie das Verlangen, wieder einmal richtig aus sich herauszugehen. Wieder einmal dem schrecklichen Fieber, das seit Anbeginn dieses geschenkten zweiten Lebens in ihr brannte, freien Lauf zu lassen. Meist mußte die Sippen die Spuren ihrer Gelage akribisch verwischen, damit die Obrigkeit und auch die Bürger nicht hinter das Geheimnis ihrer Existenz kamen. Hier jedoch, das hatte die Vergangenheit bewiesen, wurden Gewaltakte, und mochten sie noch so grausam sein, hingenommen. Irina klopfte gegen die Tür der Baracke, hinter deren verhangenen Fenstern kein Licht mehr brannte. Anfangs schien auch niemand das Klopfen zu hören. Doch Irina ließ nicht nach, und irgendwann öffnete sich die Tür unter wüsten Flüchen. Ein grobschlächtiger Mann – nicht der hübsche Junge ihrer Wahl – stierte mit weit aufgerissenen Augen, die dennoch nichts sehen konnten, ins Dunkel, und eine Stimme, noch lahm vom Schnaps, der die Kehle hinabgeronnen war, krächzte: »Verschwinde, Elender! Verschwinde, oder ich schlag’ dir den Schädel ein …!« Er hatte nicht einmal begriffen, daß eine Frau vor ihm stand. Irina hegte deshalb keinen Groll. Sie tötete ihn, ohne nachzudenken. Ihre Hand war nicht länger die Hand, die zärtlich streichelte. Sie war eine tödliche Waffe mit rasierklingenscharfen, überlang hervorstehenden Nägeln, und ein einziger dieser Nägel genügte, den Hals des Betrunkenen von einem Ohr zum anderen aufzuschlitzen. Das Blut platzte wie eine Fontäne aus dem prallvollen Gefäß. Irina wich nicht aus. Die Nässe durchdrang ihre Kleidung und verteilte sich auf dem Boden, noch bevor der röchelnd nach vorn Kippende die Erde erreicht hatte. Irina lenkte ihn mit ausgestrecktem Arm an sich vorbei und trat dann über ihn hinweg durch die offenstehende Tür, hinter der in diesem Moment die Stimme einer schlaftrunkenen älteren Frau er-
tönte: »Was ist da los? Sergej? Schmeiß die Tür zu, sonst bekommst du einen Tritt! Gottverfluchter Hurensohn! Die Asche im Herd ist kalt, und wenn du nicht gleich …« Irina schloß die Tür von drinnen. Es gefiel ihr, zu sehen, ohne gesehen zu werden. Es war, als bewegte man sich im hellen Tageslicht mit einer Tarnkappe unter den Leuten. Es war … aufregend. Immer noch, nach so vielen Jahren. Rasch sondierte sie das Innere der Baracke, in der es keine Zwischenwände gab, nur einen einzigen Raum, an dessen Fußboden sich Lager an Lager reihte, nur getrennt durch Tücher, die an gespannten Leinen aufgehängt waren und die Illusion einer Privatsphäre schufen. Sie hausen wie Tiere, dachte Irina ohne Mitleid. Dann fand ihr Blick den Gesuchten. Er schlief. Der Lärm hatte ihn nicht zu wecken vermocht. Wahrscheinlich hatte die Arbeit in der Munitionsfabrik ihn völlig ausgelaugt. Selbst ein in unmittelbarer Nähe angefeuerter Gewehrschuß hätte wahrscheinlich Mühe gehabt, ihn aus seinem tiefen Schlaf fahren zu lassen. Irina ging auf ihn zu. Die verhärmte Frau (seine Mutter?), die sich von einer zerwühlten Pritsche aufrichtete, rief: »Wer ist da? Sergej?« Vermutlich hatte sich ihr Mann noch nie im Leben so katzenhaft leise und geschmeidig bewegt, wie Irina es gerade tat. »Sergej ist draußen geblieben«, flüsterte sie. Und schickte ein böses Lachen hinterher. Die Frau erstarrte. Nicht Angst, nur namenloses Staunen breitete sich über ihre Züge. Vor einer Frau – einer jungen Frau, wie nicht nur Irinas Äußeres, sondern auch ihre Stimme vorgaukelte – hätte sich diese leidgewohnte Frau niemals gefürchtet. »Wer, zur Hölle, schleicht da herum?« »Die Herrin der Hölle«, antwortete Irina launig. Ohne Umweg
ging sie zu dem Schläfer und setzte sich neben ihm auf die Matratze. »Verschwinde, Hure!« zischte die Frau im Dunkel. Ihre Hand fuchtelte herum, suchte nach der Dose Schwefelhölzer, die neben einer Lampe am Kopfende ihres Bettes stand. »Ich weiß nicht, wo er dich aufgegabelt hat, aber du läßt meinen Sohn in Ruhe weiterschlafen, sonst werde ich dir …« Irina wartete nicht ab, bis das Zündholz fauchend die Dunkelheit zerriß. Sie mißachtete die Warnung der Mutter und weckte den Sohn. Zog ihn spielerisch leicht wie eine Puppe zu sich heran – – und biß zu. Als die Flamme auflohte, mochte es für die aufgebrachte, füllige Frau, fünf Schritte vom Geschehen entfernt, so aussehen, als wäre ihr Sohn in einem innigen Kuß mit diesem … Flittchen vereint. Wutentbrannt entzündete sie die Lampe und wuchtete dann ihren schweren Körper in die Höhe, um wankend auf das Paar zuzugehen. »Wassily, du verdammter –« Der Rest des Fluchs blieb ihr im Halse stecken, als sie die Wunde am Hals ihres Sohnes gewahrte. Irinas Lippen konnten die zerfetzte Stelle nicht völlig umschließen. Zu ungezügelt, zu temperamentvoll war sie zu Werke gegangen. Der gerade noch kraftstrotzende Jüngling in ihren Armen hatte sein Leben bereits ausgehaucht, und der Nektar entströmte seinem Leib, in dem die Pumpe ausgesetzt hatte, nur noch als träges Rinnsal. Als sich Irinas Mund nun von der zerfetzten Ader Wassilys löste, gab es ein schmatzendes Geräusch, als fülle sich ein Vakuum mit Luft. Irina machte sich nicht die Mühe, die verlebte Frau, die wie eine alte Vettel aussah und gewiß ebenso wie ihr toter Gemahl draußen oft genug dem Alkohol zugesprochen hatte, am Schreien zu hindern.
Behende wie ein gesättigtes, aber nicht übersättigtes Tier schnellte sie sich aus der Hocke heraus auf die Plärrende zu. Sie sperrte ihre Kiefer so weit auf, daß es für die zur Salzsäule Erstarrte aussehen mußte, als würden sie in den Gelenken auseinanderbrechen. Im nächsten Moment jedoch nahm Irina überraschend ihre Metamorphose zurück. Unschuldsvoll, beinahe bedauernd starrte sie auf die Frau, die sie zuerst zur Witwe gemacht und dann auch noch ihres Sohnes beraubt hatte. »Du bist so häßlich«, schnarrte sie, »du gefällst mir. Ich war ohnehin auf der Suche nach einer neuen Dienerin …« Nach diesen Worten beugte sie sich vor und verging sich, für sie selbst ein wenig überraschend, mit ausgesuchter Vorsicht an der aufgedunsenen Alten. Ein Rascheln im Hintergrund erinnerte sie daran, daß sie mit Wassily noch nicht fertig war. Behutsam legte sie die Hände um die Kehle der Frau und erstickte sie. Dann ließ sie sie zu Boden sinken und wandte sich dem Sohn zu, der orientierungslos um sich starrte. »Schade«, murmelte sie, »aber für dich habe ich keine Verwendung mehr. Über einen Mann verfüge ich bereits …« Sie glitt auf ihn zu. Ob er das Geräusch, das wie ein brechender Zweig klang, selbst noch hörte, war zweifelhaft. Sekunden später zerfiel er zu flockiger Asche, verzehrt von einem Feuer, das nur von Blut hätte gelöscht werden können. Wenn überhaupt.
* Gegen Morgengrauen erreichte die Vampirin den Winterpalast in Begleitung ihrer neuen Zofe. Längst hatte der Regen das Blut der Demonstranten weggewaschen, die hier, auf dem Vorplatz, ihr Leben bei dem Versuch einge-
büßt hatten, den Frieden und eine Verfassung zu erzwingen. Von den Unruhen, die nun ein Jahrzehnt zurücklagen, zeugte nichts mehr. Aber neues, weit ärgeres Unheil braute sich zusammen. Wer mit offenen Augen durch die Stadt ging und die aus aller Welt eintreffenden Nachrichten zu deuten verstand, konnte sich dieser Ansicht nicht verschließen … Die Wachen ließen die Spätheimkehrerin und ihre Begleiterin bedenkenlos ein. Irina war ihnen bekannt, wenn auch nicht namentlich. Der Palast umfaßte mehr als 1500 Räume; neben den Prunksälen auch vielerlei verschwiegene Zimmer und geschmackvoll eingerichtete Suiten, von denen die Sippe etliche bewohnte. Auch Irina hatte sich hier eine kleine Zuflucht geschaffen. Hin und wieder ließ sie sich Gemälde aus der Eremitage bringen, mit denen sie die Wände ihrer Gemächer neu einkleidete. Sie hatte eine Vorliebe für die spanische Malerei des 17. Jahrhunderts entwickelt. »Tritt ein«, wies sie Anna an, deren Name sie erst nach dem Wiedererwachen der Arbeiterfrau erfahren hatte. Irina wartete, bis ihre neue Zofe die Schwelle überschritten hatte, dann folgte sie und schloß die Tür. »Dem Schnaps wirst du künftig entsagen. Dafür darfst du einen anderen Rausch kennenlernen. Spürst du ihn schon, den Durst, der bald anschwellen wird?« Anna verneinte. »Er wird dich quälen, beinahe wie er mich quält. Aber sei unbesorgt, wir werden Mittel und Wege finden, ihn zu stillen, ohne daß das Palastleben davon beeinträchtigt würde …« Die dicke, untote Frau verstand nicht das geringste von Irinas Bemerkungen, aber sie würde sehr schnell lernen, wovon die Rede war. Es hatte keine Eile. »Als erstes wirst du dir dein Blut von der Haut waschen und ebenso den Dreck. Dort drüben in der Kammer steht ein Schrank, in dem
du eine angemessene Kleidung findest. Die Lumpen verbrennst du im Kamin. – Hast du das alles verstanden?« Die Frau, deren Herz nicht mehr schlug und deren Lungen nicht mehr atmeten, nickte unterwürfig. »Ich habe verstanden.« Sie trägt meinen Keim in sich, dachte Irina, noch unentschieden, ob sie wirklich eine gute Wahl getroffen hatte. Was ich in sie gesät habe, hält sie in diesem Zustand der Schwebe zwischen Leben und Tod. Und solange sie den Keim nährt, wird er sie bewahren. Aber wehe ihr, wenn sie in eine Lage geriete, in der kein beseeltes Menschenblut verfügbar für sie wäre. In einem tiefen Verlies etwa, weggeschlossen von der Welt … Die Idee vermochte Irina vage zu begeistern. Vielleicht würde sie sich an dem Martyrium ihrer Zofe ergötzen, falls sich diese tatsächlich als Mißgriff entpuppen sollte. »Ich gehe noch einmal weg«, sagte sie. »Das Blut deines Sohnes hat mich aufgeputscht. Ich brauche noch etwas … Ablenkung.« Es wäre nicht nötig gewesen, sich überhaupt zu verabschieden. Aber nicht zuletzt um die Leere dieser Räume zu füllen, hatte Irina Umschau nach einer Zofe gehalten. Ohne weiteres Zögern begab sie sich in einen anderen Flügel des riesigen Palastbaus. Wo der Mann schlief, an dem nicht nur der Zar einen Narren gefressen hatte. Irina lächelte. Gregor Nowych, dachte sie und schürzte begehrlich ihre Lippen. Wer kennt schon deinen wahren Namen …? Hier im Palast in St. Petersburg war er unter einem anderen Namen gefürchtet. Und entsprechend weckte ihn auch Irina, nachdem sie neben ihn auf sein breites Bett gesunken war. »Rasputin«, hauchte sie ihm ins Ohr. »Oh, strafe mich, Grigorij Rasputin. Ich habe es verdient, denn ich war heute Nacht sehr, sehr ungezogen …«
*
Irina hatte zahllose Liebhaber verschlissen, aber der einzige, der es je verstanden hatte, sie restlos zu befriedigen, war ausgerechnet der unansehnlichste von allen. Und wahrscheinlich war dies der einzige Grund, weshalb er noch am Leben war – im Gegensatz zu all den Galanen, denen sie sonst ihre Gunst geschenkt hatte. Aber an Verflossene dachte sie nicht, während sie sich Rasputins Händen hingab. Ja, in erster Linie waren es seine Hände, die Irinas Libido in einem Maß zu stimulieren vermochten, daß ihre kehligen Schreie mitunter von fremden Ohren gehört wurden – was mit zu Rasputins Ruf als Frauenheld und Verführer beigetragen hatte. Er war der Mann, von dem sie gegenüber Wassily gesprochen hatte. Ein Diener, aber keine Kreatur. Irina hatte Grigorij Rasputin, den Wunderheiler und Berater des Zaren, nie zur Ader gelassen, und auch kein anderes Mitglied der Sippe hatte sich an ihm verköstigt. Konzentriert setzte er seine Berührungen fort, brachte sie mit der eingeölten Hand und mit langsam gleitenden Bewegungen schier um den Verstand. Die Ekstase wurde jäh unterbrochen, als eine Stimme brüllte: »Ich habe dich die ganze Nacht gesucht! Wo hast du dich herumgetrieben?« Rasputin hielt inne, und Irina öffnete die Augen halb. »Ilja …« Das Sippenoberhaupt stand grollend neben dem Bett des Heilers. »Ich sollte ihn zertreten wie eine Wanze – vielleicht kämst du dann wieder zu Sinnen und würdest dich, wie deine Brüder und Schwestern, endlich auch der Pflichten erinnern, die ein jeder zu verrichten hat!« »Seid nicht ungerecht, Vater. Ich kenne meine Pflichten. Ich benutze ihn«, sie nickte zu Rasputin, als spräche sie über einen struppigen Hund, »um alles in unserem Sinne zu steuern. Ihr selbst hattet zuge-
stimmt und mir dieses … Spielzeug bewilligt.« »Solange es ein Spielzeug war, war es in Ordnung. Aber inzwischen ist es zu einer Manie geworden. Ich finde täglich mehr Hinweise, daß er dir entgleitet. Dieser Mann«, der Vampir faßte Rasputin scharf ins Auge, »ist anders als die Menschen, mit denen wir sonst zu tun haben. Ich traue ihm nicht. Dieser gottverdammte Kerl mit dem Blick, der selbst mir das Blut in den Adern kälter werden läßt, gehört an den Galgen!« »Er ist keine Gefahr für uns. Was in seinen Augen lodert, ist erstaunlich. Aber unser Wille deckt den seinen seit langem zu. Er tut, was wir wollen …« »Vielleicht tut er, was du willst. Aber ich fürchte, das deckt sich nicht immer mit den übergeordneten Zielen.« »Was sind die übergeordneten Ziele?« Es störte Irina nicht, daß sie sich ihrem Oberhaupt entblößt, mit gespreizten Beinen präsentierte. Sie hatte ihn »Vater« genannt, aber ihr wahrer Vater war er natürlich nicht. Er war der Erste gewesen, den der Kelchhüter seinerzeit getauft hatte, mit dem Blut des Hüters. Alle nachfolgenden Täuflinge waren dann mit Iljas Blut initiiert worden. Dies war, wie Irina inzwischen wußte, die übliche Vorgehensweise des Reisenden gewesen. »Die Macht zu bewahren«, antwortete Ilja. Obwohl die Situation nicht für eine Diskussion dieser Art geeignet erschien, war Irina streitlustig und selbstbewußt genug, sie dennoch dafür zu nutzen. Iljas Blick ließ kurz von ihr ab und taxierte Rasputin. In den Augen des Vampirs schien es zu wetterleuchten. »Ich mag ihn nicht. Ich mag Menschen allgemein nicht, aber diesen hier …« »Er ist unsere Galionsfigur«, widersprach Irina mit der ganzen Überzeugungskraft, zu der sie fähig war. »Als ich ihn in den Palast einführte, hat niemand Einwände dagegen geltend gemacht. Und ein jeder konnte sehen, wie anfällig Nikolaus und seine Familie für
ihn waren. Als hätten sie immer auf eine charismatische Person wie Rasputin gewartet …« »Das alles mag wahr sein«, erwiderte Ilja, weiterhin unversöhnlich, was dieses Thema anging. »Aber wir hatten die Romanows schon viele Generationen vorher bestens im Griff – auch ohne einen Scharlatan und Strohmann wie Rasputin. Unsere Kräfte und Möglichkeiten machen ihn überflüssig. Er könnte heute von der Bildfläche verschwinden, und die Politik ginge weiter wie bisher. Das Volk würde immer noch uns gehorchen, wie es dies immer tat!« »Was ist unsere Politik? Kriege anzetteln? Zündschnüre im eigenen Land und fernen Ländern legen? Ich muß gestehen, ich habe es nie verstanden …« »Nicht jeder muß alles verstehen. Aber es gibt übergeordnete Interessen zu wahren. Die Interessen unserer Art als Ganzes.« »Warum sind die Sippen untereinander dann oft zerstritten?« »Das scheint nur so.« »Wirklich …? Ich finde, seit der Hüter –« Ilja machte einen Schritt auf das Bett zu, in dem Irina und Rasputin es miteinander getrieben hatten – und vermutlich auch weiter treiben würden, sobald er ihnen den Rücken gekehrt hatte. »Genug! Denk über meine Worte nach. Ich bin dafür, daß er verschwindet. Ich bin dafür, daß wir nur noch eine Marionette in unserem Dunstkreis dulden – den Zaren selbst. Ich werde eine Versammlung einberufen und dies auch mit den anderen bereden. Ich werde mir jedes Argument anhören, auch die Gründe, die du anführen kannst. Aber letztlich werde ich nur auf meinen Instinkt vertrauen und allein entscheiden, ob dieser Kretin weiterleben darf oder nicht!« Das Oberhaupt der Sippe, in deren langem Schatten die Zarenfamilie und der übrige Adel von Pedrograd lebten, war eine stattliche Gestalt. Er maß fast zwei Meter und war breit wie ein Schrank. Darin unterschied er sich von Rasputin, der auch hochgewachsen, aber
insgesamt schmächtig wirkte. Doch auch Ilja trug einen Bart, der bis zum Brustbein reichte, und hätte man seine Augen neben Rasputins Augen auf einen Tisch gelegt, dann hätte man schaudernd anerkennen müssen, wie ähnlich sich diese beiden sonst so gegensätzlichen Geschöpfe waren. Vielleicht, dachte Irina, spürt dies auch unser Sippenoberhaupt und verabscheut Rasputin deshalb – vielleicht erträgt er es nicht, daß ihm irgend jemand ähnlich ist … »Seht nur, wie er uns ansieht«, erwiderte Irina aufgewühlt. Sie wollte nicht, daß ihr das liebste Spielzeug weggenommen wurde. Nicht dieses. »Und wie er schweigend akzeptiert, was über ihn gesprochen wird. Er steht ganz in unserem Bann. In unserer Gegenwart zählen nur wir, auch wenn er beim Zaren und anderen Menschen meinen mag, er sei frei in seinem Willen. Er ist kein Scharlatan. Er hat diese Kraft –« »– zu heilen?« Ilja lachte verächtlich auf. »Hast nicht vielmehr du Alexej mit deiner Magie von seiner schlimmen Krankheit geheilt, während alle Welt glaubt, der Wunderheiler habe den Zarensohn genesen lassen? Aber wir beide kennen die Wahrheit. Die Hände dieses Scharlatans sind nicht besser als die Hände jedes anderen Mannes in diesem Reich! Aber du darfst sie als Andenken behalten, wenn dir soviel daran liegt. Ich werde sie dir schenken, nachdem wir ihn exekutiert haben!« Irina ballte die Fäuste. Sie lag nicht länger da wie die pure Versuchung. Sie hatte sich aufgesetzt und eine Hand auf Rasputins Schulter gelegt, als wollte sie demonstrieren, daß er unter ihrem Schutz stand. Aber es gab keine Fürsprache, die den ausdrücklichen Willen des Sippenoberhaupts übertrumpfte. Das wußte sie selbst. Ilja wandte sich wortlos ab und verließ das Gemach des Mannes, den er die längste Zeit in ihrer Mitte geduldet hatte. Als er fort war, sagte Irina wie tröstend zu ihrem Liebhaber: »Ich
werde für dich kämpfen. Hilf mir. Vielleicht fällt uns beiden etwas ein, wie wir den wahren Regenten über das russische Reich von deiner Unverzichtbarkeit überzeugen können! – Willst du mir dabei helfen?« »Das will ich«, sagte Rasputin. Seine Stimme klang rauh. In seinen Augen war etwas, das Irina noch niemals zuvor darin gesehen hatte. Und einen Moment schrak sie davor zurück, weil es nicht hätte da sein dürfen. Nicht, wenn Rasputin … Sie drängte den Verdacht, der kurz in ihr aufsteigen wollte, entschieden zurück. Iljas Kampagne beginnt bereits zu fruchten, dachte sie. Aber es ist nicht wahr. Rasputin ist unser loyaler Vollstrecker. Er würde mich nie hintergehen. Sie zog ihn an sich heran. »Wärme mich«, flüsterte sie. Ihr war plötzlich kalt. Kälter als vor Stunden draußen in der winterstarren Nacht. Der Palast außerhalb dieses Zimmers wirkte still wie ein Mausoleum. Als wäre Packeis aus der vorbeifließenden Newa gekrochen und hätte den gewaltigen Komplex von allen Seiten umpanzert. Irina sank in Rasputins Arme und gab sich seinen Händen hin. Diesen wundervollen Händen.
* Zwei Tage vergingen, ohne daß Ilja seine Ankündigung wahr machte und eine Versammlung einberief, um über Rasputins Schicksal zu richten. Irina kannte ihr Oberhaupt zu gut, um daraus voreilige Schluß zu ziehen. Iljas Haltung gegenüber Rasputin hatte sich nicht geändert. Das ging bereits daraus hervor, daß nunmehr Nikolaus II. seine radikalen Ideen persönlich soufflierte, ohne den Umweg über Raspu-
tin zu nehmen. Vielleicht wollte er damit unterstreichen, daß es keines Grigorij Rasputins bedurfte, um die Ziele der Sippe durchzusetzen. Irina hatte daran nie gezweifelt. Wie sie auch nie ein Hehl daraus gemacht hatte, daß sie aus ganz persönlichen Gründen vernarrt war in den charismatischen Heiler, an dessen Fähigkeiten sie glaubte. Aus tiefstem Herzen und im Gegensatz offenbar zum Rest ihrer Sippe. Sie hatte den hageren Mann mit den fanatisch glimmenden Augen in einen Zustand der Trance versetzt, um es ihm leichter zu machen, den von Ilja verordneten »Stubenarrest« zu ertragen. Ursprünglich hatte sie ihm die Situation durch ihre Gesellschaft versüßen wollen, doch das eigene und noch dazu freiwillige Eingesperrtsein war ihr schon nach kurzer Zeit unerträglich geworden. Inzwischen ließ sie ihren Gespielen immer wieder für ein paar Stunden allein und durchstreifte die endlosen Gänge des Palastes auf der Suche nach Zerstreuung. Zunächst war sie den anderen Mitgliedern der Sippe bewußt aus dem Weg gegangen, vornehmlich Ilja. Mittlerweile war ihr klar geworden, daß sie deren Nähe im Gegenteil suchen mußte, wenn sie überhaupt noch etwas für Rasputin erreichen wollte. Schnell merkte sie jedoch, daß die Vampire, mit denen sie in dieser Angelegenheit sprechen wollten, ihr auswichen, unter beschämendsten Vorwänden. Hatte Ilja bereits mit ihnen gesprochen und ihnen seinen Standpunkt eingebleut? Irina schloß es nicht aus. Nach dem dritten vergeblichen Versuch, einen Bruder oder eine Schwester für Rasputin gewinnen zu wollen, verwandelte sie sich zornig in ihre geflügelte Gestalt und stob wie ein Irrwisch aus dem Palast. Sie konnte keine Wände mehr ertragen. Als sie nach Stunden kaum beruhigter zurückkehrte, spürte sie sofort die Veränderung. Die Atmosphäre innerhalb des Gebäudekom-
plexes hatte sich dramatisch verändert. Sofort fürchtete sie, Ilja könnte ihre Abwesenheit genutzt hatte, um sich Rasputins zu entledigen. Bedrängt von dieser bösen Vorahnung eilte Irina dem geheimen Kern des Palastes entgegen, wo derselbe Prunk zu finden war wie in den Räumen der Zarenfamilie. Ein Palast im Palast. Sie wollte das Oberhaupt zur Rede stellen und nötigenfalls um Rasputins Leben betteln. Wenn es noch nicht zu spät war …
* Der mächtigste Vampir von St. Petersburg – der wahrscheinlich mächtigste Vampir von ganz Rußland – starrte auf die sonderbare Gestalt, die sämtliche magischen Schutzsiegel durchbrochen hatte, als bestünden sie aus Seidenpapier, und nun vor den Thron getreten war, neben dem sich drei Sippenangehörige röchelnd und wimmernd vor unbändigem Schmerz am Boden wanden. Sie hatten sich dem vermummten Eindringling entgegenstellen wollen und es gebüßt. »Genug!« Ilja schnellte von seinem Thron hoch und reckte die geballte Faust in Richtung des ungebetenen Besuchers. Bläuliche Flammen schienen aus seinen Knöcheln zu schlagen und zuckten wie Blitze auf den Vermummten zu. »Dafür wirst du –« Iljas Worte versanken in einem Schrei, als die Energien, die er dem Fremdling entgegengeschleudert hatte, nun auf ihn selbst zurückgeworfen wurden. Sekundenlang stand er vor dem knochenfarbenen Thron und wankte, wie von Elmsfeuer umlodert. Als der magische Schlag abklang, fühlte sich Iljas Körper seltsam
taub an. »Gib dich zu erkennen!« preßte er hervor. Seine Stimme schwankte wie er selbst. »Wer bist du und was willst du?« Der Eindringling trug schwere Stiefel, einen lang fallenden schwarzen Mantel mit Kapuze und hatte zusätzlich sein Gesicht mit Tuch eingemummt, als gelte es, die Haut vor beißender Kälte zu schützen. Hier drinnen jedoch konnte es höchstens dazu dienen, seine Identität zu verhüllen. »Zeig dein Gesicht! Du bist hier in meiner Stadt, in meinem Haus!« Eine Weile stand der Ankömmling still. Dann löste sich ein spöttisches Lachen aus seiner Kehle, und er hob beide Hände, um die Kapuze in den Nacken zu schieben. Anschließend begann er, die Tücher – es waren mehrere – zu entfernen. Das männliche Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, musterte den Vampir von Pedrograd mit kalter Arroganz. Der Fremde hielt die Tücher in seiner rechten Hand fest. Sie schienen es ihm wert zu sein, sie nicht einfach achtlos auf den Boden des ganz in Gold und Edelsteinen erstrahlenden Thronsaales fallen zu lassen. »Die Stadt«, erwiderte der Besucher, unter dessen linkem Auge eine fahlrote Narbe prangte, als hätte ihm jemand ein kreuzförmiges, glühendes Eisen gegen die Wange gepreßt, »mag dein sein, aber wer gibt dir das Recht, einen Weltenbrand zu entfachen?« Ilja hatte sich von dem Bumerang erholt, der auf ihn zurückgeschlagen hatte. Mit fester Stimme, scheinbar unbeeindruckt von der Stärke, die der Fremde unter Beweis gestellt hatte, sagte er: »Du bist einer von uns, wenn auch aus der Art geraten. Der Kodex gewährt dir Gastrecht. Aber er verbietet dir, die Hand gegen deinesgleichen zu erheben! Wie konntest du dich so vergessen? Ist das deine Art, anderen deinen Respekt zu zeigen? So ist es also wahr, was man über dich erzählt …« »Du hast von mir gehört? Woran hast du mich erkannt?«
»Narben wie deine sind selten bei –« »– Vampiren?« Der Besucher lachte ein Lachen, das wie das Knurren eines Wolfes klang. »Du sagtest selbst, ich bin aus der Art geschlagen. Ich nehme es als Kompliment. Besonders nachdem ich sehen muß, was du von deinem Elfenbeinturm aus anzettelst!« »Du hast kein Recht, dich in die inneren Belange einer Sippe einzumischen! Wie kannst du es wagen –« »Ich wage nicht, ich frage. Und ich frage nicht nur in meinem Namen, sondern auch im Namen derer, die nicht einverstanden damit sind, daß du über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen von solcher Dimension triffst! Du hast Dinge in Gang gesetzt, die Millionen Menschen das Leben kosten werden. Warum? Es ist unsere Nahrung, die du dezimierst, bist du dir darüber nicht im klaren?« »Rede keinen Unsinn, Sippenloser! Unsere Lebensgrundlage war nie bedroht, im Gegenteil. Nur weil ich mich um unser Wohl und unsere Zukunft sorge, habe ich mit einer Handvoll anderer, einsichtiger Oberhäupter diesen Weg gewählt.« Ilja setzte sich wieder auf den Thron zurück. Er hatte seine Selbstsicherheit zurückgewonnen und redete sich ein, dem Besucher, wenn es hart auf hart ging, gewachsen zu sein. »Durch dein Benehmen hast du das Gastrecht verwirkt. Verschwinde, bevor ich dich strafe, wie dich noch keiner gestraft hat! Geh mir aus den Augen, Landru!« Landru … Der berühmt-berüchtigte Vampir, der in die Residenz der Sippe eingedrungen war, galt als lebende Legende. Sein genaues Alter kannte niemand, aber er mußte uralt sein. Manche Gerüchte wollten gar wissen, er sei der erste je vom Kelch getaufte Vampir gewesen. »Das GESETZ untersagt Massenvernichtungen, wie du sie in Gang gesetzt hast«, gab der Besucher unbeeindruckt zu bedenken. Iljas Miene verdüsterte sich noch mehr. Er wies auf die Vampire am Boden. »Du hast bewiesen, daß du selbst wenig auf das GESETZ gibst. Wenn sie aus ihrer Ohnmacht erwachen, werden sie über dich
herfallen. Und ich werde dabei zusehen, wie sie dir das Gesicht nach hinten drehen!« »Woher nimmst du den Glauben, sie könnten sich beim zweiten Versuch geschickter anstellen? Ich hätte sie töten können … aber daran liegt mir nicht.« »Tatsächlich nicht? Man sagt dir nach, du hättest den Kodex mehrfach gebrochen und Angehörige unserer eigenen Rasse getötet.« »Wäre dies wahr, wäre ich längst zur Rechenschaft gezogen worden – oder etwa nicht? Und wäre es wahr, müßtest du mich um so mehr fürchten und Vernunft annehmen, bevor …« »Bevor?« Der gefährlichste Gast, den Ilja je in diesem Saal empfangen hatte, zuckte nur vielsagend mit den Schultern. »Du bist nirgends wohlgelitten. Jede Sippe ist froh, wenn du wieder gegangen bist. Die Einsamkeit muß sehr schmerzen …« »Mach dir darüber keine Gedanken. Und wer könnte einsamer sein als ein Despot, der sinnlos Kriege schürt?« »Sinnlos? Man sagt, du suchst den Hüter und seinen Kelch, seit beide verschwunden sind. Darauf solltest du dich konzentrieren.« »Statt unsinnige Schlachten zu schlagen, solltest du mich bei dieser Suche unterstützen. Dies, nichts anderes würde unserer Rasse nützen.« »In meinem Reich halten sich weder Hüter noch Kelch verborgen«, erklärte Ilja in fester Überzeugung. »Irgend etwas ist dem Reisenden vor langer Zeit zugestoßen. Niemand glaubt mehr ernsthaft, daß er noch unter uns weilen könnte.« »Vielleicht ist der Hüter tot. Aber den Lilienkelch vermag keine Macht und keine Kraft der Welt zu zerstört! Ihn müssen wir wiederfinden, und zwar bald. Mit vereinten Kräften, mit der Unterstützung aller Sippen würden unsere Chancen rapide steigen. Aber niemand scheint zu begreifen, daß der Kelch unsere einzige Chance ist, den drohenden Niedergang unserer Rasse zu verhindern!«
»Gestatte, daß ich dazu eine andere Meinung vertrete. Die Zahl der Kelchkinder mag mit der Zeit sinken, aber der Keim, den wir beim Trinken weitergeben, gebärt Diener ohne Zahl. Treue Diener, mit deren Unterstützung wir ewig herrschen werden. Wir sind die überlegene von zwei hochintelligenten Rassen auf diesem Planeten. Und jetzt hör gut zu: Der gewaltige Krieg, den ich mit anderen entfacht habe, wird uns eine goldene Zukunft bescheren! – Ist es dir noch nie aufgefallen?« »Aufgefallen? Was?« Ilja lehnte sich auf seinem Thron nach vorn. Er schien jetzt alle Scheu vor dem unberechenbaren Gast verloren zu haben. »Die Erfindungen. Aller Fortschritt in Kultur oder Wissenschaft … Er wurde stets von den Menschen, die wir als Schwächlinge verachten und verhöhnen, ersonnen! Es gibt kein einzig’ Ding von Bedeutung, das je ein Vampir ersonnen hätte!« »Selbst wenn dem so wäre, worauf willst du hinaus?« »Darauf«, antwortete Ilja, »daß der Erfindungsgeist des Menschen immer in Zeiten der größten Not, der Kriege oder Seuchen die beachtlichsten Resultate hervorbrachte.« »Deshalb schürst du millionenfaches Blutvergießen?« »Gäbe es einen klügeren Grund, eine hehrere Absicht?« »Wirst du dann als nächstens auch die Aussaat von Seuchen betreiben? Auch unter dem Vorwand, der Alten Rasse dadurch größeren Fortschritt zu erschließen …?« Ilja versuchte die Häme und den Spott zu überhören, die aus Landrus Stimme troffen. Aber ganz gelang es ihm nicht. »Hüte deine Zunge, sonst –«
* Zunächst mit Verwirrung, später mit Entsetzen und am Ende mit noch größerer Verwirrung hatte Irina den Dialog der beiden Kontra-
henten belauscht. Daß sie Kontrahenten waren, ging schon aus ihrer bloßen Körpersprache hervor. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen hatten dies nur noch unterstrichen. Irina war vom ersten Augenblick an fasziniert von dem Fremden, der offenbar völlig unangemeldet im Zentrum der Macht eingetroffen war. Landru … Dieser von Ilja genannte Namen war ihr ein Begriff – aber nur vom Hörensagen. Falls es sich bei dem Gast, der Ilja nicht sehr willkommen schien, tatsächlich um den sagenumwobenen Vampir mit dem zwielichtigen Ruf handelte, mußte die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellte, tatsächlich lauten, was er hier wollte. Warum er meinte sich in die inneren Belange der hiesigen Sippe einmischen zu müssen! Sorgte er sich wirklich um das Wohl der Welt, die Zukunft aller Vampire, wie er es Ilja gegenüber hatte anklingen lassen? Irina war sich nicht sicher. Als der Streit zwischen beiden zu eskalieren drohte, hielt sie es nicht länger hinter einer der ionischen Säulen aus. Sie trat aus ihrer Deckung hervor. »Was geht hier vor?« Die Szene beim Thron schien einzufrieren. Aber die Stimme des Fremden brachte sie wieder in Bewegung. Er drehte den Kopf und taxierte Irina mit einem Blick, der ihr durch und durch ging. »Wer bist du? Habe ich dich bei meiner Ankunft … übersehen?« Irina ging unbeirrt weiter auf den Thron zu. »Ich traf wohl erst nach dir ein – Landru …?« Ein knappes Nicken bestätigte die Identität. Irina atmete tief durch. Nur ein paar Schritte von der Erhöhung, auf der Iljas Thron verankert war, blieb sie stehen. An das Ober-
haupt gewandt, aber hin zu den reglos daliegenden Vampiren deutend, fragte sie: »Hat er das getan?« Ilja enthielt ihr eine Antwort vor. »Geh!« zischte er. »Diese Unterredung ist nicht für deine Ohren bestimmt!« »Hat er das getan?« »Ja.« »Und Ihr habt … es zugelassen?« Es war ein aufsässiger Ton in ihrer Frage, der Ilja mißfiel. »Verschwinde! Ich werde dich nachher in deiner Angelegenheit aufsuchen!« »Der Grund meines Kommens ist …« »… Rasputin, ich kann es mir denken. Über ihn reden wir später. Geh jetzt.« Damit wandte er sich Landru zu. »Und du verlasse diesen Palast, dieses Land! Wage es nicht, je wiederzukehren!« »Starke Worte für ein Insekt«, erwiderte der Besucher mit der Kreuznarbe. »Aber wenn du keine Vernunft annehmen willst …« Irina spürte, daß etwas Ungeheuerliches im Ton des Eindringlings vibrierte. Vorboten der Gewalten, die gleich entfesselt würden … »Nein!« Irina war selbst entsetzt über ihre Einmischung. Schon deshalb, weil sich Landrus Aufmerksamkeit augenblicklich wieder ihr zuwandte. Und die ganze Düsternis des Blickes, der eigentlich Ilja gegolten hatte, ergoß sich jetzt wie Eiswasser über die Frau am Rande des Thronpodestes. »Wie ist dein Name?« »Irina.« »Was hältst du von der Kriegshetze deines Patriarchen, Irina?« »Ich habe mir noch keine Gedanken dazu gemacht …« »Keine Gedanken? Die Welt brennt, und du verschwendest keinen einzigen Gedanken daran?« »Ilja hat den Wahnsinn nicht begonnen. Österreich-Ungarn und
die Serben –« »Ich will von dir keine Lektion in Geschichte. Ich will deine Meinung zu dem unverantwortlichen Schüren des Konflikts, das dieser Größenwahnsinnige hier betreibt!« »Er hat dir seine Gründe genannt. Sie klingen … nicht unplausibel.« Die Anspannung im Gesicht des Gastes entlud sich in einem unecht klingenden, übertrieben schallenden Gelächter. »Vielleicht solltest du die Politik dieser Sippe ihr überlassen«, wandte er sich an Ilja, ohne das Oberhaupt dabei anzusehen. »Nicht unplausibel … Sie beherrscht die hohe Kunst der Diplomatie besser als du.« »Du bist und bleibst unverschämt!« »Vielleicht.« Landru legte die Stirn in Falten. Das Schwarz seiner Augen sah nicht mehr aus wie eine brodelnde Wolkenfront, sondern wie ein dunkler, grundlos tiefer Brunnen. Die Narbe auf seiner Wange indes schien stärker zu leuchten, fast wie entzündet, als hätte sich alle Aufgeregtheit in sie zurückgezogen. »Vielleicht sind deine Argumente doch nicht so an den Haaren herbeigezogen, wie sie zunächst klangen. Ich muß darüber nachdenken. Und ich möchte hier darüber nachdenken. Willst du mir wirklich das Gastrecht verwehren?« Jäh richtete Landru seine Augen wieder auf das Oberhaupt der Pedrograder Sippe. Ilja zuckte zusammen, als würde ihn der Blick des Besuchers wie ein spitzer Pfahl durchbohren. Er schwieg lange. In dieser Zeit hätte man eine Stecknadel zu Boden fallen gehört. Schließlich sagte Ilja, über Landru hinwegschauend und mit einem Gesicht, als ekelte ihn vor seiner eigenen Entscheidung: »Solange du das Gastrecht ehrst, kannst du meinetwegen bleiben.« Landru verbeugte sich, ohne sich die geringste Mühe zu geben, die Ironie dieser Geste zu verbergen. Dann überbrückte er die Distanz
zwischen sich und Irina und reichte ihr eines der bunten Tücher, die er in der Hand hielt. »Normalerweise erhält bei Besuchen nur das Oberhaupt ein Gastgeschenk von mir. Aber ich finde, du solltest nicht leer ausgehen. Du bist nicht nur mutig, sondern auch sehr schön. Nimm – es wird dich kleiden, und vielleicht macht es dich mir … gewogen.« Irina ahnte in diesem Moment noch nicht, was genau er damit meinte. Fast unbewußt streckte sie die Hand aus und nahm das Geschenk entgegen. Kaum daß sie es berührte, durchflutete sie ein warmes Gefühl der Erregung. Sie schauderte und schaute Landru nach, der zu Ilja hinaufstieg und ihm ebenfalls ein Tuch überreichte. Der Patriarch der Sippe war aufgestanden, zögerte zunächst, griff aber schließlich doch zu. Irina sah ihn kurz wanken und die Augen dabei schließen. Nach einem Seufzer schien er sich jedoch wieder gefangen zu haben. »Ich hoffe, euch gefallen die Tücher«, sagte Landru, als hätte er die kurze Unpäßlichkeit nicht bemerkt. »Es sind besondere Webarbeiten aus dem fernen Afrika. Ich brachte sie von einer meiner Reisen auf der Suche nach dem Kelch mit. Ein eigenwilliger Künstler hat sie erschaffen. Vielleicht habt ihr seinen Namen schon einmal gehört: El Nabhal …?« Irina und Ilja verneinten unisono. »Ich werde dir eine Unterkunft herrichten lassen.« Die Stimme des Patriarchen klang, als hätte ihn eine jähe Erschöpfung übermannt. Er setzte sich auf den Thron zurück und betrachtete das Tuch in seinen Händen. »Nicht nötig. Er kann bei mir unterkommen«, hörte sich Irina sagen. »Ich habe eine neue Zofe. Sie wird für unser beider Bequemlichkeit sorgen …« Landru signalisierte dazu stumm lächelnd sein Einverständnis.
* Als sie die Suite betraten, eilte ihnen Anna in adretter Kleidung entgegen, und Irina fragte Landru: »Ist die Tasche, die du umhängen hast, dein einziges Gepäck?« »Es genügt. Wozu unnötigen Ballast mit sich schleppen? Ich kam stets zurecht.« Sie glaubte ihm aufs Wort. Als die Zofe die Hände ausstreckte, um die Tasche aus braunem, abgewetzten Leder entgegenzunehmen, zögerte Landru. Dieses kurze Zögern – auch nachdem es überwunden war und der Sippenlose sich des Gepäcks entledigt hatte – verriet Irinas erfahrenem Blick, daß sich etwas Wertvolles in der Tasche verbergen mußte. Vielleicht nur etwas von ganz persönlicher Bedeutung für Landru, möglicherweise aber auch ein Schatz. »Gib gut darauf acht«, gab Landru der Zofe mit auf den Weg, als sie in einem der angrenzenden Zimmer der Suite verschwand. Irina wollte ihr folgen, aber Landru bewies ihr, daß er nicht nur ein Mann starker Worte war. Er ließ Taten sprechen. Irina leistete keinen nennenswerten Widerstand, als er ihr das eng geschnürte Kleid vom Leibe riß und sekundenlang begehrlich mit seinen Augen auf ihren entblößten Brüsten weidete. Die jederzeit mögliche Rückkehr der Zofe schien ihn nicht zu stören. Warum auch? Daß Anna eine Dienerkreatur war, hatte er auf einen Blick erkannt. Und selbst wenn es eine lebendige Frau aus Fleisch und Blut gewesen wäre, hätte ihn dies seine Gier kaum eine Minute länger zügeln lassen. »Du scheinst lange keine Frau mehr gehabt zu haben«, stöhnte Irina. »Lange keine Vampirin«, erwiderte er, als lege er Wert auf diese Unterscheidung. Sein Mund fand die harte Knospe ihrer Brust und
saugte ungestüm daran. Im nächsten Moment jammerte Irina unter einem nie erlebten Gefühl aus Schmerz und überbordender Lust. Er hat zugebissen, dachte sie. Dieser respektlose Teufel hat … zugebissen. »Wenn Ilja uns so sähe, würde er …« Landru löste kurz den Mund von ihrer blutenden Brust. Seine Lippen schimmerten, als hätte er schwarze Tinte getrunken. »Denk nicht mehr an ihn. Er hat selbst das Urteil über sich gefällt. Ich hätte ihn geschont, hätte er mir Garantien gegeben, dem Wahnsinn Einhalt gebieten zu wollen. Nun nimmt alles seinen Lauf …« Irina erschrak bis ins Innerste. Aber schon einen Atemzug später übertünchte ihr Trieb das Entsetzen, das Landrus Worte geweckt hatten. Landru nahm ihr das Tuch, das er ihr zum Geschenk gemacht hatte, aus der Hand und knotete es ihr eng um den schlanken Hals. Irina hatte nie etwas Wohltuenderes als diesen Stoff getragen. Er erzeugte Reize, die ihr bis dahin völlig fremd gewesen waren. Heiß und kalt wurde ihr davon. Landrus Hand schob sich zwischen ihre Beine. Irina fühlte sich anlehnungs- und liebesbedüftig. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Sonst spielte sie mit dem anderen Geschlecht. Mit Rasputin und tausend anderen hatte sie es in den Jahrhunderten getrieben. Das hier, diese Rollenverteilung war … neu. Aufregend neu. »Wer bist du?« stöhnte sie heiser. »Ich weiß deinen Namen, aber wer bist du?« »Einer«, raunten die Lippen, die nun zwischen ihre Brüste gewandert waren, um dort nach dem Salz ihrer Haut zu schürfen, »der bemüht ist, die Kräfte des Chaos im Zaum zu halten. Damit die heimlichen Herrscher dieser Welt nicht von einem noch mächtigeren
Sturm ins Vergessen gefegt werden.« »Welchem Sturm könnte solches gelingen?« Sie redete und redete und merkte indes, wie sich die ersehnte dunkle Flut in ihr aufbaute, zu einer Welle sammelte, einer Woge, auf der sie zu einem nie erlebten Höhepunkt reiten würde … … und dabei war Landru bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal richtig in sie eingedrungen. War er ein zweiter Rasputin? Irina verneinte, noch während die Frage in ihr nachhallte. Er war völlig … anders. Aber, beim Kelch und seinen Kindern, gewiß nicht schlechter! »Nimm mich!« keuchte sie und ertastete sein Geschlecht, das hielt, was ihr die vorausgegangenen Intimitäten bereits verheißen hatten. Fordernd umschloß sie es, als würde sie einen Schwertschaft umfassen, und noch härter, beinahe wie fleischfarbenes Metall, wurde der Pfahl, der sich ihr herausfordernd entgegenreckte. Irina beugte sich tief hinab und wollte Landrus samtene Eichel mit ihrem Mund umschließen. »Nein«, wehrte er ab. »Ich brauche dich ganz. Leg dich zurück. Öffne deine Schenkel …« Sie gehorchte, als hätte etwas ihren eigenen Willen verschlungen. Dann lag er auf ihr, und schon beim Eindringen hatte sie den ersten Höhepunkt. Sie schrie wie von Sinnen und vergaß alles um sich herum. Alles und – jeden. Als der Knebel aus Wollust und Vergessen schließlich wieder von ihr wich, war sie allein. Und ernüchtert. Während des Liebesspiels mußte sich der Knoten des Tuches um Irinas Hals gelöst haben. Es war, auch von Landru unbemerkt, abgefallen. Irina zuckte davor zurück wie vor einer zum Biß bereiten Schlan-
ge. »Anna!« Die Zofe kam aus dem Nebenraum. »Wie spät haben wir?« »Drei Uhr in der Frühe.« »Wann ging mein Gast?« »Vor einer Stunde.« Irina erhob sich vom Bett und ordnete ihre Kleider, die sie nur geöffnet hatte, ohne sich ihrer zu entledigen. Wieder starrte sie auf das Tuch, das ganz nah der Stelle lag, von wo sie sich erhoben hatte. »Heb es auf!« forderte sie ihre Zofe auf. Anna kam der Aufforderung nach. »Was … fühlst du?« »Nichts«, sagte sie. »Gar nichts?« »Nein.« Verdammt, sie ist eine Kreatur. Sie wäre selbst dann nicht in der Lage, etwas zu spüren, wenn es etwas zu spüren gäbe … Irina zögerte kurz, dann zeigte sie auf die Glut im Kamin und sagte: »Wirf es ins Feuer!« Die Zofe, deren Leichnam von Irinas Keim am Verwesen gehindert und bewegt wurde, gehorchte auch diesmal ohne Einwand. Mit unbewegter Miene hielt sie das Geschenk, das Irina von Landru erhalten hatte, über die weiß glosende Glut der herabgebrannten Scheite und öffnete die Finger. Das Tuch breitete sich wie ein Schleier aus, und einen Moment hatte es den Anschein, als wollte es den Auftrieb der Wärme nutzen, um davonzufliegen, der verzehrenden Hitze zu entkommen. Aber es gelang ihm nicht. Und im nächsten Augenblick kam es zu einer lautlosen, gleißenden Entladung, die Irina minutenlang blendete. Als sie ihr Augenlicht zurückerlangt hatte, lag Anna reglos neben dem Kamin.
Oder vielmehr das, was von Anna noch übrig war: ein verkohltes Etwas. Ein schwarzes … Ding, das nur der Form nach noch an die Frau erinnerte, die Irina vom Rand der großen Stadt hierher in den Palast geführt hatte. »Herrin …« Das Ding sprach! Das Ding teilte seine Lippen und entließ einen Ton, der zwischen Agonie und … ja, was? … schwankte. Irina eilte auf ihre Zofe zu. Im ersten Moment hielt eine Abscheu, die ihr bis dahin völlig fremd gewesen war, sie davon zurück, die verkohlte Hülle der Dienerkreatur zu berühren. Sie fing Annas Blick auf. Schauriger war Irina noch von keinem Geschöpf angestarrt worden. Ihre Augenlider mußten sich im Moment der Entladung reflexartig geschlossen haben. Aber sie hatten die Pupillen nicht mehr schützen können, jedenfalls nicht nennenswert, denn die unbekannte Energie hatte die Lider mit den Netzhäuten verschmolzen. Als Folge dieses grausamen Effekts glaubte Irina nun den Abdruck der Iris durch die wie glasiert wirkenden Lider der Dienerkreatur zu erkennen. Ihr wurde übel. Auch wenn sie daran dachte, wie hündisch ergeben sie selbst Landrus Wünsche erfüllt hatte. Im nachhinein kam es ihr vor, als hätten nicht sie beide dabei Befriedigung gefunden, sondern einzig und allein er. War ihre eigene Lustexplosion nur eine Gaukelei ihrer mißbrauchten Sinne gewesen? Manipuliert von dem, was ihrer Zofe gerade zum Verhängnis geworden war? Irina war überzeugt, daß Landru die Magie, die dem bunten Stoff innegewohnt hatte, gezielt gegen sie eingesetzt hatte. Die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, waren beängstigend, denn … auch Ilja hatte ein solches Tuch erhalten …! Offenbar hatte Anna als Dienerkreatur nicht auf den bösen Zauber
des Tuchs angesprochen. Sonst hätte es sicherlich verhindert, daß es die Zofe ins Feuer warf. Aber es hatte furchtbare Rache für seinen Untergang geübt … Dienerkreaturen besaßen nicht die Selbstheilungskräfte wahrhaftiger Vampire. Anna würde nie wieder wie ein Mensch aussehen. »Ich kann nur noch eins für dich tun«, flüsterte Irina, als aus dem verbrannten Mund der nächste röchelnde Ruf nach ihr laut wurde. Sie beugte sich hinab und faßte das »Ding« nun doch an. Das Fleisch der Dienerin war hart und spröde wie Glas. Auch das Geräusch, mit dem ihr Genick brach, war anders, als Irina es kannte. Sie richtete sich auf und wartete, daß der Leichnam zerfiel. Doch nichts geschah. Erst als Irina mit der Spitze ihres Schuhs gegen den Körper tippte und sofort durch die morsche Schale einbrach, begriff sie, was geschehen war. Annas Leib war zerfallen. Geblieben war nur diese hauchdünne Kruste, die aus der Verbindung ihrer Haut mit dieser beunruhigend fremdartigen Magie entstanden war. Tief in Gedanken verließ sie ihre Suite. Je weiter sie sich davon entfernte, desto schneller wurden ihre Schritte. Schließlich rannte sie. Dem geheimen Herz des Palasts, Iljas Thronsaal, entgegen. Aber noch bevor sie ihn erreichte, durchbohrte sie ein ungeheuerlicher Blitz. Ein … Todesimpuls! IVENCA!!! Ivenca war – tot, war gestorben in diesem nicht enden wollenden Augenblick! Warum? Und … durch wen? Irina kannte die Antwort, und das Wissen lähmte sie.
Bis der nächste Hieb sie traf. Und es weiter ging, Schlag auf Schlag …
* Als Irina den Thronsaal betrat, erwartete sie ein Szenario, gegen das Landrus Ankunft im Palast zur Bedeutungslosigkeit verblaßte. Sie sind alle da, dachte Irina dumpf. Zumindest alle, die noch nicht zu Staub und Asche zerfallen sind … Der Raum war erhellt wie vom Licht einer Million Kerzen. Woher dieser Dunst aus Licht und Schatten kam, war nicht auf den ersten Blick zu erkennen, wohl aber auf den zweiten: Er entstieg dem Thron, nein, er entstieg dem Mann, der auf dem Thron saß. Ilja! Er hockte dort wie sein eigenes Denkmal, als wäre er mit dem Sitz und den Lehnen verschweißt. Das Tuch, das von Landru als Geschenk erhalten hatte, verhüllte sein Haupt. Der Stoff hatte alle Farbe verloren, war pechschwarz geworden und erinnerte in seinem matten Glanz an die Kruste, in der Anna ihren zweiten und endgültigen Tod gefunden hatte. Er thront da wie eine Geisel, rann es durch Irinas Hirn. Wie ein Gefangener vor der Exekution. Um das Thronpodest herum waren Gestalten aufgereiht. Sämtliche Mitglieder der Sippe. Und – ein einziger Nichtvampir. Eine Zeitlang übertünchte Rasputins Anwesenheit Irinas Schock. Bis ein neuerlicher Verlust sie wieder ins Wanken brachte. Igor … Der Körper ihres vampirischen Bruders bildete Risse und Schlünde, daß es für ein paar Momente aussah, als wäre glutflüssiges Magma in ihm, das sich gleich über den Boden ergießen würde. Aber von der Glut drang lediglich der Abglanz nach außen. Davon verzehrt wurde nur Igor selbst.
Irinas ungläubiger Schrei schien als tausendfaches Echo von den Wänden zurückzuprallen. Der Tod ihres Bruders traf sie wie ein Keulenhieb. Aber beinahe noch mehr erschütterte sie das, was vor Igor weiter in der Luft schwebte, auch nachdem die Hände, die es gehalten hatten, zu flockiger Asche zerfallen waren. Der Lilienkelch! Das verschollen geglaubte Unheiligtum ihrer Rasse! Und noch während Irina staunend und entsetzt auf das schwebende Mysterium starrte, glitt es von der Stelle weg, wo Igor dahingerafft worden war, und begab sich in die zwanghaft hochgereckten Hände des nächsten Sippenangehörigen. Ivanova ergriff das purpurleuchtende Gefäß und setzte es an seine Lippen. Trank … … und starb.
* Rasputin klatschte verzückt in die Hände. Sein Blick gloste noch irrer als sonst. Irina brauchte ungewöhnlich lange, bis sie begriff, daß der Mann, unter dessen Händen sie jedesmal dahinschmolz, denjenigen Beifall zollte, die der Kelch in den Tod riß. Ihr Magen schien sich in einen Klumpen Blei zu verwandeln. Mit geballten Fäusten schritt sie auf den Thron zu, aus dessen Schatten nun derjenige trat, den ihre Augen bislang vergeblich gesucht hatten. »Schon ausgeschlafen?« Landru hatte Irina sofort bemerkt. »Du – Teufel! Wie konntest du mein Vertrauen so mißbrauchen?« Lächelnd wartete er, bis sie den Kreis ihrer bereits drastisch reduzierten Familie erreicht hatte. Eine neuerliche Schockwelle ließ sie wanken.
»Ismail …« Irina wirbelte herum und sah gerade noch den Ausdruck von Qual über die Züge ihres Bruders wuchern, bevor er wie eine amorphe Wolke in sich zusammensank. Als sie lostaumeln wollte, um sich zwischen den lilienförmigen Kelch und Ivan zu stellen, der dem magischen Gefäß am nächsten stand und ihm wohl als nächster zum Opfer fallen würde, traf sie ein Bannstrahl aus züngelnder Energie, den Landru gegen sie schleuderte. Irina hatte das Gefühl, auf einem Scheiterhaufen inmitten leckender Flammen zu stehen. Sie sah sich schon als Ebenbild Annas, verkohlt bis auf die tiefsten Schichten ihrer Haut. Da erlosch die Pein. »Hüte dich, dich mir entgegenzustellen«, hörte sie Landrus Stimme, die hohl klang, als käme sie aus einem tiefen Schacht. »Ich wollte dich schonen. Aber wenn du mich provozierst …« »Was tust du?« Ihre Stimme überschlug sich. »Ich richte.« »Du … richtest …?« »Diese Sippe ist eine Gefahr. Ein Geschwür, das herausgeschnitten werden muß aus dem Körper unseres Volkes, bevor es ihn vergiftet.« »Du mußt den Verstand verloren haben!« »Ich?« Landrus lachte bitter auf. »Was ich tue, geschieht zum Wohl der Welt. Wir leben in einer Abhängigkeit von den Schwachen, die wir regieren. Wir können sie nicht ausmerzen wie Ungeziefer!« »Ilja sagte –« »Ilja wird nie wieder etwas sagen. Ilja trägt die Verantwortung, daß es soweit kommen konnte. Hätte er Rußland aus dem Krieg herausgehalten, wäre es ein Schlachten wie unzählige zuvor geblieben. Zwei Länder, die sich bekriegen. Vielleicht auch drei. Aber seine ›Politik‹ hat ein Mordbrennen von nie gekanntem Ausmaß ausge-
löst. Er hat sich schuldig gemacht. Kein Kodex, kein GESETZ wird verhindern, daß ich ihn dafür zur Verantwortung ziehe. Und ihr als seine ›Kinder‹ hättet ihm Einhalt gebieten müssen. Das habt ihr nicht getan. Ihr habt zugeschaut, wie die Welt in Trümmer geht.« »Du willst … uns alle töten?« »Ich will und werde. Alle bis auf dich.« »Bis auf mich? Wie kannst du glauben, ich könnte zuschauen und danach weiterleben wollen, als wäre –« »Ist es dir lieber, wenn ich auch dir das Gift des Kelchs einflöße?« Irina hatte das Gefühl, von einer Schlinge, die sich immer fester zusammenzog, erstickt zu werden. Ihr Blick irrte zu Ilja, der über dem Geschehen thronte, als ginge ihn das alles nichts an – nicht mehr. Das Tuch lag wie eine Kappe um seinen Schädel. Es deckte ihn zu. Es machte ihn blind. Aber war er auch taub? Hörte er nicht, was dieser Wahnsinnige ihm vorwarf? Warum reagierte er nicht? Warum bettelte er nicht um das Leben – seines und das seiner Sippe? »Wer bist du?« fragte Irina. »Wie kommt der Kelch in deine Hände? Bist du etwa …?« Das Wort weigerte sich, über ihre Lippen zu kommen. »Der Hüter?« Landru sprach es aus. Es klang, als spräche er nicht über eine mythologische Gestalt, sondern über etwas Verdammtes, Fluchbeladenes. Er schüttelte den Kopf. »Den Hüter gibt es nicht mehr. Den Hüter wird es so lange nicht geben, wie der Kelch verschollen ist!« »Aber –« »Das hier?« Er streckte die Hand aus und wies auf das Gefäß, hinter dem in diesem Augenblick Ivan zerfiel. Irina stöhnte. Dann sah sie, wie der Kelch flackernd vor ihren Augen verschwand. Sekundenlang. Bis er wieder aus dem Nichts heraus entstand.
»Ein magisches Replikat«, kommentierte Landru. »Nur eine perfekte Nachbildung, geschaffen aus meiner Erinnerung. Niemand kannte das Original besser als ich.« »Aber dann bist du doch … Dann kannst du nur der –« »Der Hüter ist tot. Ich bin nur noch sein Schatten.« Irina wankte, obwohl kein neuerlicher Todesimpuls aus den Reihen ihrer Sippe sie traf. Die Vorstellung, bei Landru könne es sich tatsächlich um den vermißten Hüter handeln, war mehr, als ihr Verstand in diesem Moment zu fassen vermochte. Andererseits erklärte es seine Macht. Die Beliebigkeit und Leichtigkeit, mit der er unter einer ganzen Sippe wütete. Rasputins Klatschen, das immer noch dem zuletzt getöteten Vampir zu gelten schien, weckte sie wie aus einer Trance. »Hör auf«, sagte sie leise. Sie forderte nicht, sie flehte. »Zu spät«, sagte Landru. »Meine Entscheidung ist gefallen. Bei Morgengrauen wird es diese Sippe nicht mehr geben. Bei Morgengrauen wird dieser Palast nur noch von einem Regenten bewohnt sein. Aber ich werde dafür sorgen, daß Nikolaus die Marionette bleibt, die er immer war. Nach außen wird sich wenig ändern. Rasputin wird sein engster Berater bleiben. Aber er wird dieses Reich so lenken, daß die Welt eine Zukunft hat. Das Geschehene ist nicht mehr ungeschehen zu machen. Die schwere Kriegslokomotive, die in Fahrt gekommen ist, wird nur langsam wieder zu bremsen sein. Aber ich werde die Weichen stellen. Das Blutvergießen muß ein Ende haben.« Irina kniff die Lippen zusammen. »Ich kann nicht glauben, daß du mich schonen wirst. Warum solltest du? Warum sollte ich die einzige Überlebende sein? Ich würde überall herumziehen und den Sippen erzählen, daß der Hüter auch ein erbarmungsloser Killer ist. Einer, der die Saat, die er ausbrachte, auch wieder ausmerzt.« »Das wirst du nicht tun.«
»Ich werde. Das schwöre ich.« »Du willst, daß ich auch dich den Schirlingsbecher trinken lasse«, durchschaute er sie. »Was sollte ich ohne meine Familie?« »Die Welt erforschen und mir zur Hand gehen.« »Wobei?« »Bei der Suche. Ich habe lange genug allein und vielleicht deshalb vergeblich nach dem Lilienkelch gesucht. Vom jetzt an werde ich von dir unterstützt.« »Von mir?« Irina schüttelte in vollster Überzeugung den Kopf. Obgleich der Gedanke sie reizte, würde sie sich lieber selbst richten, als diesem Richter und Henker einen Gefallen zu tun. »Niemals!« »Wer sagt, daß du eine Wahl hast?« Landrus Lächeln schien die Temperatur im Saal um Grade fallen zu lassen. Mit diesen Worten setzte er die Vollstreckung seines Urteils fort. Am Ende waren nur noch er, Irina, Rasputin und Ilja übrig. Und Ilja starb den gräßlichsten Tod von allen. Es schien ganz natürlich. Wenn man es aus der Sicht eines Monsters betrachtete.
* Irina watete durch die Asche ihrer Familie und erstieg das Thronpodest. Landru hatte sie zu sich zitiert, und ihr Körper gehorchte, als wäre die jahrhundertelange Herrschaft darüber nur Illusion gewesen. Ihr schwindelte. Sie hatte das Gefühl, über einem brodelnden, lavaspeienden Vulkan zu schweben, im Auge eines abseitigen Taifuns, im Zentrum eines immer rasender rotierenden Wirbels. »Demütige ihn nicht so – falls er noch am Leben ist.« Sie lauschte ihrer eigenen Stimme. Sie lauschte einer Fremden, während sich ihr Innerstes, ihre dunkle, frierende Seele in den ent-
ferntesten Winkel ihrer Hülle aus Fleisch und Blut zurückzuziehen versuchte. »Was ist Leben?« erwiderte Landru. »Euer kelchgeschenktes Dasein habt ihr nur mir und meinen Vorgängern zu verdanken.« »Vorgänger?« echote Irina. »Du hattest … Vorgänger? Was ist aus ihnen geworden?« Eine Million anderer Fragen, die ewig ungestellt bleiben würden, brannten ihr auf der Zunge. Trotz der Totenasche, die über den Boden verstreut lag. Trotz der Sterbeimpulse ihrer Sippe, von denen ein jeder ein Loch in ihr Bewußtsein gebrannt hatte. Trotz dem, was Ilja blühte … Irina beobachtete, wie das Tuch über dem Kopf des Patriarchen rhythmisch eingezogen wurde und sich wieder nach außen stülpte. Wie eine Membran. »Er atmet.« Es schien, als spräche Irinas Mund jeden Gedanken aus, der ihr wichtig erschien. Sie konnte es nicht verhindern. »Natürlich atmet er – noch.« »Warum wehrt er sich nicht?« »Weil er zu schwach ist, dieser Narr! Er mag euch und den Menschen überlegen gewesen sein, aber meinen Zorn hätte er nie herausfordern dürfen. Und außerdem …« »Ja?« »… trägt er das Tuch!« »Eines von der Art, mit dem du auch mich gefügig gemacht hast?« Er schüttelte den Kopf. »Verschiedener könnten zwei Zauber kaum sein. Vor langer Zeit erbat ich mir ein Sortiment von Tüchern von einer guten Freundin, die in der Oase El Nabhals ein und aus geht. Sie heißt Nona, aber dieser Name wird dir nichts sagen. Sie ist eine Wölfin.« »Eine Wölfin? Du hast ein Tier zur Freundin?« »Sie wird nur zum vollen Mond zum Tier.«
»Eine Werwölfin …« Irina nickte begreifend. Ihr Blick wanderte zu Rasputin, der nicht mehr klatschte, sondern beide Hände vor das Gesicht gehoben hatte, als wollte oder könnte er das Treiben um sich herum nicht mehr mitansehen. Irina begriff nicht, daß sie von diesem knochigen, düsteren Mann einmal hatte angetan sein können. »Schone ihn«, flüsterte sie. »Rasputin?« Sie schüttelte den Kopf und nickte hin zu Ilja. »Ihn.« »In einem lasse ich vielleicht noch mit mir reden«, sagte Landru. »Ich erspare ihm das Leid, das ich ihm als Strafe auferlegen wollte, wenn du dich bereiterklärst, ihn zu erlösen.« Ihre Augen weiteten sich. »Du meinst – umbringen? Ich soll ihn für dich umbringen?« »Für mich? Nein. Es war nur ein Angebot. Du mußt es nicht annehmen. Offen gestanden, ich würde es bedauern, wenn du es tätest. Er sollte nicht so billig davonkommen.« »Wie willst du ihn richten?« »Das wirst du gleich erleben. Und anschließend …« … wird er mich töten. Sie verließ sich auf ihren Instinkt, und der sagte ihr, daß der Mörder einer ganzen Sippe keinen Zeugen seiner ruchvollen Tat dulden würde. Es hätte aller Logik widersprochen. Landru wußte, daß sie auf Rache sinnen würde. Daß sie sämtliche Hebel in Bewegung setzen würde, um ihn zur Verantwortung zu ziehen. »… widme ich mich dir«, vollendete Landru den Satz. »Was heißt das?« »Auch das wirst du erleben.« Landru kehrte ihr den Rücken, als wollte er ihr sagen: Sieh her, ich fürchte dich nicht! Du kannst mir nichts anhaben – niemand kann das! »Wie …« Sie räusperte sich. »Wie hast du den Kelch verlieren können? Falls du tatsächlich sein Hüter warst.«
»Ich habe ihn nicht verloren. Er wurde mir gestohlen.« »Gestohlen? Aber wie –?« »Genug! Es reicht. Ich bin erschöpft.« Landru war neben den Thron getreten und hob nun seine Hände, so daß sich Daumen und Mittelfinger berührten und eine Art Krone formten, die er dem Verhüllten Oberhaupt aufsetzte. Wieder schienen Entladungen aus seiner Haut zu treten, die an Elmsfeuer erinnerten, welche einen Schiffsmast umtanzten. Die Flammen schlugen in das Tuch, das Iljas Haupt verbarg. Es sah aus, als würde sich unter dem hauchfeinen Gewebe abrupt ein Vakuum bilden. Eng wie eine zweite Haut lag es um den Schädel des Vampirs. Die Erhebungen und Konturen zeichneten sich deutlich darunter ab. Augenwülste, Nase, Lippen, Kinn, Ohrmuscheln … Er will ihn ersticken, dachte Irina. Bis zu diesem Moment hatte sie nicht geglaubt, daß dies möglich sei. Ein Vampir, der erstickte oder ertrank, das gab es nicht. Er mochte in einen scheintotartigen Zustand verfallen, in eine Art Winterschlaf – aber sobald die äußeren Bedingungen es wieder ermöglichten, würde er aus seiner Stasis zurückkehren, würde Stunden, Tage, Jahre später den jäh beendeten Atemzug vollenden und seine Existenz fortführen! Nur wenige Eingriffe in den Organismus eines Vampirs konnten das magische zweite Leben beenden: ein Genickbruch, ein Stich ins Herz, das Verbrennen der kompletten Hülle oder das Zerstückeln derselben … Dann erkannte sie ihren Irrtum, in dem Moment, als sich Ilja urplötzlich auf seinem Thron aufbäumte – oder es versuchte, denn er schaffte nur wenige Zentimeter – und das Geräusche erklang, das Irina schon tausendmal gehört hatte: brechende Knochen. Das Tuch hatte nicht aufgehört, sich zusammenzuziehen, hatte sich nicht damit begnügt, den Kopf des Vampirs eng wie dessen Haut zu umschmiegen!
»Nein! Was tust du …?« Landru stand wie ein schrecklicher Götze neben dem Delinquenten. Er achtete nicht auf Irinas Versuch einer neuerlichen Einmischung. Kalt wie ein Insektenforscher studierte er das »Experiment«, das er in Gang gesetzt hatte. Als das Knirschen erst einmal begonnen hatte, ging alles weitere relativ schnell. Das Vampiroberhaupt erschlaffte, aber unsichtbare Kräfte hinderten es daran, zusammenzusinken. Angeekelt starrte Irina auf das Tuch, das sich zu einem perfekt gerundeten Ball geformt hatte, ungeachtet dessen, was sich darunter befand. Schon jetzt war sein Umfang halb so klein wie Iljas früherer Schädel. Und es hörte nicht auf zu schrumpfen. Immer kleiner wurde es. Winzig klein. Als es nur noch die Größe eines Hühnereis hatte, senkte Landru eine seiner nach wie vor über Ilja schwebenden Hände – und pflückte die Kugel mit einem heftigen Ruck von Iljas Rumpf. Irina preßte die Faust gegen den Mund, denn erst in diesem Moment begann der Enthauptete zu zerfallen wie jedes Mitglied seiner Sippe vor ihm. Und Irina war endlich verzweifelt genug, sich auf Landru zu stürzen. Ungeachtet der wahrscheinlichen Folgen. Da hielt er ihr die Kugel hin. »Du darfst sie behalten. Als Andenken an deinen ›Vater‹ …« Alle Kraft, die sie eine Sekunde zuvor noch befähigt hätte, den Mörder ihrer Familie anzugreifen, wich aus ihr. Sterbenselend fühlte sie sich, wie gelähmt. Sie wollte die grauschwarze Kugel nicht länger betrachten, aber es war ihr unmöglich, den Blick davon zu lösen. Der Gedanke, was
darin eingeschlossen war, betäubte sie regelrecht. »Du Scheusal …!« flüsterte sie. »Wer weiß«, erwiderte Landru gleichmütig, »vielleicht hat das Tuch ja auch Iljas Seele eingeschlossen. Du könntest dir eine Kette daran befestigen und ihn immer bei dir tragen.« Irina wollte es nicht, und dennoch streckte sie die Hand aus, um die Kugel an sich zu nehmen. Sie hatte ein beachtliches Gewicht. »Ich nehme sie aus dem einen Grund, weil ich fürchte, du würdest sie nicht sehr respektvoll behandeln.« »Da magst du recht haben. Ich hätte sie in die nächste Jauchegrube geworfen.« Irina schob Iljas Überreste in eine Tasche ihres Kleids. »Jetzt zu mir«, sagte sie, um die unerträgliche Spannung zu lösen, die sich in ihr aufgebaut hatte. Auch wenn es ihr eigenes Ende bedeutete. »Nun zu dir«, nickte Landru und wies zum Ausgang des Saales. »Aber bereden wir alles weitere in deinen Gemächern. Hier riecht es mir zu sehr nach Grab.«
* Landru hatte Rasputin mit dem Befehl verabschiedet, unverzüglich den Zaren aufzusuchen und ihn behutsam wieder auf einen Weg einzuschwören, der die Welt vor noch größerem Blutvergießen bewahren sollte. Der Heiler ging, ohne ein Frage zu stellen. Früher hatte Irina ihn mit Instruktionen versorgt. Es war ein seltsames Gefühl, mitanzusehen, wie ihr selbst diese letzte Kontrolle über das Leben am Hofe genommen wurde. »Das ist alles, was von ihr blieb?« Landru trat ungeniert gegen den Kokon, der die Umrisse der toten Zofe nachzeichnete. Es knirschte,
als hätte er eine dünne Eisschicht mit den Stiefeln durchtreten. Irina hatte ihm von Annas Schicksal berichtet. Jetzt aber gab sie keine Antwort. Landru ging ins Nebenzimmer und kehrte mit der Tasche zurück, die Anna drüben hinterlegt hatte. »Ich sah gleich, daß dich der Inhalt interessiert«, sagte er. »Willst du ihn sehen?« »Nein.« »Du lügst.« Wenn, dann wurde es ihr nicht bewußt. Sie verschanzte sich hinter Haßgefühlen und fühlte sich am ganzen Körper schmutzig, dort wo dieser Mann sie berührt hatte. Landru öffnete den Verschluß und schlug das dicke Leder zurück. Dann griff er hinein und holte … ein Gesicht heraus. Obwohl sie sich dagegen wehrte, verschlug es Irina den Atem. »Was ist das? Eine Trophäe?« »Eine Maske«, gab er zur Antwort und breitete das weiche Gesicht auf seinen Handflächen aus, so daß es erst erkennbar wurde. Ebenso wie die Nähte. Irina starrte in die leeren Augenhöhlen des Hüters, der sie noch vor der Grundsteinlegung von St. Petersburg getauft hatte. Einen Moment mißtraute sie Landru restlos. Einen Moment glaubte sie tatsächlich, daß dies eine Trophäe war und er dem wahren Hüter irgendwo aufgelauert hatte, um ihn hinterrücks zu ermorden. Doch lächelnd drehte Landru das Gesicht auf die Rückseite, die von ähnlich roter Farbe war wie seine Kreuznarbe, beugte das Haupt – – und stülpte sich das Gesicht über das eigene. Es gab ein schmatzendes Geräusch. Das weiche, nachgiebige Ding saugte sich hörbar fest, und als Landru den Kopf wieder hob und Irina ansah, war es, als blickte sie wahrhaftig in das Gesicht ihres Täufers.
Sie erzitterte. »Diese … Nähte«, hauchte sie. »Es hat sehr gelitten, ich weiß«, sagte der Mund, unter dem Landrus Lippen nicht mehr erkennbar waren. Nur die Augen waren dieselben geblieben, aber daran, das gab Irina sich selbst gegenüber zu, hätte sie den verschollenen Hüter niemals erkannt. »Ich selbst habe die Maske so zugerichtet. Ich war damals … nicht zurechnungsfähig. Letztes Jahr suchte ich den Ort auf, wo ich sie habe liegenlassen, und sammelte die Fetzen wieder ein. Die Zeit konnte ihnen nichts anhaben. Aber ich selbst vermochte sie nicht wieder zusammenzufügen, deshalb übergab ich sie einem talentierten Chirurgen, der sie für mich rekonstruierte und zusammennähte. Das ist nun auch schon Monde her, aber verheilt sind die Nähte immer noch nicht. Vielleicht werden sie es nie. Schade, denn ich hänge daran. Auch wenn ich sie nur noch zu besonderen Anlässen aufziehen würde …« Irina hatte das vage Gefühl, einem Geisteskranken zu lauschen. Aber Landru war real – ebenso wie die Maske. »Hast du immer noch Zweifel, daß ich der Hüter bin?« »Es ist mir egal.« »Wieder gelogen, Schönheit, und noch dazu schlecht!« »Töte mich endlich! Hör auf, mich zu quälen!« »Quälen wird dich das Leben, das ich dir schenke, zur Genüge. Ich selbst brauche nichts dazu beizutragen. Komm her!« Mit der Maske des Hüters strahlte er noch größere Autorität aus als zuvor. Irina überwand die räumliche Kluft zu Landru. Die andere, sehr viel tiefere war nicht zu überwinden. Nicht nach dem, was dieses Monster der Sippe angetan hatte. Stolz hob sie den Kopf, wartete darauf, daß seine Hände ihre Wangen berührten und ihr das Gesicht nach hinten drehten. Landru berührte sie jedoch nur ganz sacht mit den Fingerspitzen an der Stirn. Es war der letzte Moment, da sie ihn sah.
Als sie wieder erwachte und sich auf dem Bett ihres Gemachs fand, war er verschwunden. Mit seiner Tasche. Irina richtete sich benommen auf. Das Durstgefühl, das sie kaum einen klaren Gedanken fassen ließ, verriet ihr, daß sie lange dagelegen haben mußte. Draußen war es noch – oder wieder – dunkel. Von Annas Überresten fand sie keine Spur mehr, was die schwache Hoffnung in ihr aufkeimen ließ, daß sie nicht nur den Tod der Zofe, sondern alles geträumt hatte, was mit Landru und dem Hüter zusammenhing. Sie eilte zum geheimen Herz des Palastes. Die Siegel, die diesen Bereich für Menschen unzugänglich gehalten hatten, waren erloschen, der ganze Flügel verwaist. »Ilja?« rief sie. »Ivenca! Igor! Ivanova …!« Keine Antwort. Grabesstille. Und Staub. Unmengen von Staub … Irina floh aus dem Thronsaal in die belebten Bereiche des Zarenpalastes. Bis hin zum Zaren selbst. Und zu Rasputin.
* »Wer … seid Ihr? Sollte ich Euch kennen?« Es war, als stünde Irina mitten auf einem großen, freien, sonnenbeschienenen Platz, und ein Schatten fiele auf sie – ein Schatten, der den letzten Rest von Wärme und Geborgenheit stahl. Sie schrie auf. Lautlos. Nur innerlich, tief in ihr drin, dröhnte die Qual, die sie folterte. Unwillkürlich streckte sie ihre hypnotischen Fühler nach Rasputin aus, wollte erkunden, welche Barriere und gefälschte Erinnerung Landru in dem Heiler verankert hatte. Im nächsten Moment war ihr, als würde eine Axt ihren Kopf spalten. Wimmernd brach sie zusammen.
Menschen kümmerten sie um sie, und endlich auch Rasputin, der neben ihr kniete und seine wunderbaren Hände auf ihren Busen legte. Irina, noch ganz benommen, wartete auf die Reize, die sie stets durch Rasputins Berührungen erfahren hatte. Vergeblich. Sie stieß ihn von sich weg. »Laß mich!« Er akzeptierte schulterzuckend, stand auf und ging. Das empörte Geraune der Umstehenden ging Irina auf die Nerven. Bei ihnen verfing ihr vampirischer Zauber. Sie zerstreuten sich, ohne sie länger zu belästigen. Der Hüter hat Vorsorge getroffen, dachte sie. Rasputin ist sein Werkzeug geworden, unantastbar durch mich. Mir gehorcht er nicht mehr. Nie wieder! Noch zur selben Stunde verließ sie den Palast und begab sich in die Stadt, wo sie ihren immensen Durst stillte. Bis zur schieren Besinnungslosigkeit betrank sie sich an einem Paar, das sie daheim beim Liebesspiel überraschte. Eine Weile zwang sie die beiden, zu ihrer Kurzweil weiterzumachen. Dann ermüdete sie das Zusehen, und sie saugte sie zu Tode, brach ihnen das Genick. Obwohl das Drängen und Fordern in ihr in den Folgemonaten immer lauter wurde, Pedrograd und Rußland zu verlassen, widersetzte sie sich dem Sehnen, endlich in die Welt aufzubrechen, und sann stattdessen nach Möglichkeiten, doch noch Rache zu üben. Mit dem Einfall, der ihr schließlich kam, schloß sie das Kapitel Heimat für alle Zeiten ab.
* Mehr als ein Jahr nach diesen Ereignissen Genua, 16. Dezember 1916
Von den Hügeln aus betrachtet wirkten die Paläste der Stadt wie Spielzeuge eines Riesen. Doch Irina hatte kaum einen Blick auf die Schönheit der Landschaft übrig. In der Frühe war sie mit einem Handelsschoner im Hafen angekommen, und seither irrte sie so ruhelos durch die Stadt, wie ein heimatloses Geschöpf sich nur fühlen konnte. Pedrograd und der Zarenpalast waren Vergangenheit. Sie hatte alles Nötige veranlaßt, um Landrus Politik zu durchkreuzen, und seither versuchte sie, so wenig wie möglich an das eigene und das Schicksal ihrer Sippe zu denken. Noch immer tobte der Große Krieg, an dem sich inzwischen auch noch England, Frankreich, die Türkei, Bulgarien und Rumänien beteiligten, und der von Landru vorausgesagte Flächenbrand wanderte stetig weiter. Bald würde er seine Klauen von Europa nach Übersee ausstrecken. China und Siam übten sich bereits in Muskelspielen … Soll die Welt ruhig verbrennen, dachte Irina. Sie war verbittert geworden. Die heimliche Herrschaft ihres Volkes interessierte sie nicht mehr. Sie mied jeden Kontakt zu den Sippen und hätte selbst nicht zu sagen vermocht, wonach genau sie eigentlich Ausschau hielt. Was sie von einer Stadt zur anderen, von einem Land zum nächsten reisen ließ in diesen unruhigen Zeiten. In unzähligen durchwachten Nächten hatte sie über die Worte des Hüters, dem der Lilienkelch geraubt worden war, nachgedacht; über dessen Prophezeiung, daß sie, Irina, ihn künftig bei seiner Jagd und Suche nach dem verschollenen Gral unterstützen würde. Lag darin die wahre Ursache ihres Vagabundierens? War die rastlose Suche nach einem Phantom der Fluch, mit dem der Hüter sie in jener Nacht, als er die Fingerspitzen gegen ihre Stirn preßte und sie in Ohnmacht versank, belegt hatte? Nicht einmal darauf wußte sie eine Antwort. Sie schaute zum Himmel, der wolkenlos war. Die Sonne brannte
im Zenit. Als sie in ihr Hotel zurückkehrte, kam sie an einem Zeitungsjungen vorbei, der die neueste Nachricht lauthals über den Platz schrie: »Rasputin ist tot! Er wurde heimtückisch vergiftet!« Sie blieb stehen, verlangte eine Zeitung und las voller Zufriedenheit, daß die Intrigen, die sie noch vor ihrem Abschied aus Pedrograd gesponnen hatte, die erhofften Früchte getragen hatten. Landrus Werkzeug war über Nacht stumpf geworden. Der Krieg, den der Hüter unter allen Umständen einzudämmen versuchte, konnte weiterbrennen. Die Welt, in der Irina jeden Halt verloren hatte, konnte ruhig untergehen …
* 10. Oktober 1917, Portugal Wieder war fast ein Jahr vergangen, und Irina hatte die Iberische Halbinsel in dieser Zeit nicht verlassen. Sie kannte den Grund dafür selbst nicht, wußte ihn jedenfalls nicht zu benennen. Etwas hielt sie hier, ließ sie hin- und herwandern zwischen Spanien und Portugal. Mal zog es sie an die Küsten, dann wieder ins Landesinnere, wie Treibgut hin an die Gestade der Pyrenäen und wieder fort … … und endlich zur rechten Zeit an den rechten Ort! Irina ahnte es, als ihr die ersten Gerüchte zu Ohren kamen. Die Kunde hatte sich wie ein Lauffeuer in den portugiesischen Provinzen ausgebreitet. Anfangs tuschelte man noch hinter vorgehaltener Hand darüber, dann redeten die Leute ganz offen davon, und schließlich war nicht mehr zu unterscheiden, was der Wahrheit entsprach und was dazu erfunden worden war. Von einem Wunder war die Rede. Davon, daß Gott selbst vom
Himmel gesprochen und Ungeheuerliches verkündet hatte! Und Angst griff um sich, legte sich erstickend wie Schwüle über die Menschen und verdunkelte ihr Land wie dräuende Gewitterwolken. Eine Stimmung, wie Irina sie nie zuvor erfahren hatte und ganz anders als die im Krieg allgegenwärtige Furcht und Depression, breitete sich aus – – und machte es ihr leicht, den Weg zur Quelle zu finden. Die Vampirin gab nichts auf das ausschmückende Beiwerk, das den wahren Kern der Geschichte immer mehr verkrustete, je öfter sie weitererzählt wurde. Sie konzentrierte sich einzig darauf, daß etwas über die Maßen Merkwürdiges geschehen sein mußte. Etwas, das ein Zeichen sein mochte! Eine Spur hin zu dem, wonach sie suchte. Denn ob sie sich das nun eingestand oder nicht, sie tat es; sie konnte nicht anders, als es zu tun, seit der einstige Hüter sie in seinem Sinne beeinflußt und zu seiner Gehilfin gemacht hatte. Etwas Aufsehenerregendes ging vor, und Irina mußte diesen Ereignissen auf den Grund gehen. Denn vielleicht gab es Aufschluß über den Verbleib des Lilienkelchs. Womöglich würde sie den verlorenen Gral sogar finden, in jenem Dörflein namens …
* … Fatima, in der Provinz Estramadura Draußen im Stall wurde das Vieh unruhig. Francisco hörte die Laute der Tiere wie einen gedämpften, disharmonischen Chor. Ein flüchtiges Grinsen ging über das Gesicht des Jungen, als er dachte, daß die sonntäglichen Gesänge in der kleinen Dorfkirche manchmal doch ganz ähnlich klangen wie dieses Murren des Viehs. Dann erlosch sein Lächeln. Weil er sich selbst mit den Tieren ver-
glich. Denn wie sie war er eingesperrt, noch dazu von gleicher Hand! Sein Vater hatte Francisco verboten, das Haus zu verlassen. Und jetzt, in der Nacht, hatte sein alter Herr gar die Tür von außen verriegelt, auf daß sein Sohn nicht ausriß. »Es ist nur zu deinem Besten, mein Junge«, hatte Vater gesagt, und der Junge hatte ihm seine Beweggründe sogar geglaubt. Was freilich nicht bedeutete, daß er sie auch guthieß oder gar akzeptierte. Vater wußte gar nicht, was er ihm mit dem Arrest vorenthielt! Etwas so Wunderbares, wie es kaum ein Mensch außer Francisco je erfahren hatte! Ein … Wunder eben. Nicht mehr, nicht weniger als ein echtes, ein wahrhaftiges Wunder. Ihm, einem gerade mal zwölfjährigen Jungen, war es zuteil geworden. Ihm und seinen besten Freundinnen Jacinta und Lucia. Sie hatten etwas schauen dürfen, von dem die meisten Menschen auf dieser Welt glaubten, es sei unmöglich. Und sie hatten Dinge erfahren, die … Francisco stockte in seinen Überlegungen, als habe sich etwas in das Räderwerk seiner Gedanken geschoben, um ihren Lauf zu stoppen. Fast meinte er, hinter seiner Stirn tatsächlich ein Knirschen zu hören, mit dem die Maschinerie seines Denkens abrupt zum Stillstand kam. Der Junge setzte sich auf seinem Bett auf. Sein Blick fiel durchs Fenster, und der beinahe volle Mond, silbrig hell und narbig, schien ihm riesengroß, größer denn je zuvor – und lockend. Als riefe ihn etwas aus diesem bleichen Licht, mit unhörbarer Stimme zwar, aber unwiderstehlich. Keine Tür und kein Verbot durften Francisco davon abhalten, diesem Ruf zu folgen. Und keine Strafe, die folgen mochte, konnte ihn schrecken. Vielleicht durfte er das Wunder noch einmal erleben!
Und vielleicht wäre es zum letzten Mal … Diese Aussicht rechtfertigte jeden Preis. Mochte sein Vater ihn später auch windelweich prügeln, es kümmerte Francisco nicht; nicht in diesem Moment, da nur ein Gedanke in ihm Platz hatte, lautlos gewispert von einer Stimme, die dem Jungen vertraut geworden war, seit er sie zum ersten Mal empfunden hatte. Um sie noch einmal wirklich zu hören und ihre Schönheit noch einmal zu schauen, dafür hätte Francisco alles gegeben, womöglich gar sein junges Leben. Aber ein solcher Handel stand nicht zur Debatte. Niemals hätte sie solches von ihm verlangt! Denn sie war … die Güte selbst.
* Das dürre Gestrüpp, das den Fuß der Hauswand säumte, vermochte Franciscos Aufprall kaum zu dämpfen. Hinter fest aufeinandergepreßten Zähnen hielt er einen Schmerzenslaut zurück. Aber er gönnte sich keine Sekunde, um den Schmerz zu verdauen. Geduckt huschte er davon, bis ihn der Schatten des Schuppens aufnahm, der ein paar Schritte entfernt vom Haus windschief aufragte. Erst in dessen Schutz verharrte der Junge und lauschte mit angehaltenem Atem, ob Vater auf seinen Sprung aus dem Fenster aufmerksam geworden war. In der Ferne bellte ein Hund, heiser, dann fiel ein zweiter ein, und im Duett heulten sie den Mond an. Ansonsten rührte sich nichts, und hinter den Fenstern seines Vaterhauses blieb alles dunkel. Dennoch wartete Francisco noch zwei Minuten. Erst dann eilte er davon, die Dorfstraße entlang, zielsicher den Stolperfallen ausweichend, die von Karrenrädern in den Untergrund gegraben worden waren. Fatima bestand aus zwei, drei Handvoll Häusern, die ohne beson-
dere Ordnung in der kargen Landschaft standen, gerade so, als habe ein Riese sie achtlos hingewürfelt und dann vergessen. Bald schon lag das Dorf hinter Francisco, und er strebte dem Hügel zu, der sich ein ganzes Stück jenseits des letzten Gehöftes erhob und den ein einsamer Baum krönte. Wie ein vielarmiges Skelett stand er da oben, die Glieder wie in einem irrsinnigen Tanz erstarrt. Scherenschnittartig zeichnete er sich tiefschwarz gegen das Rund des Mondes ab, und zu beiden Seiten erkannte Francisco zwei vertraute Gestalten. Sie hatten ihren Ruf also auch vernommen! Während er die Flanke des Hügels hochrannte, rief Francisco keuchend ihre Namen. »Lucia! Jacinta!« Die beiden Mädchen hatten ihn längst bemerkt. Das Mondlicht vertrieb das Dunkel der Nacht, und als der Junge bei seinen Freundinnen anlangte, da schienen ihm ihre Gesichter wie mit silberner Farbe bemalt, die zudem noch geheimnisvoll leuchtete. Lucia und Jacinta strahlten im wahrsten Sinne des Wortes, und nicht anders mußte Francisco auf sie wirken. »Ihr habt sie auch gehört?« fragte er, obschon er die Antwort bereits kannte. Die Mädchen nickten. »Hat sie …«, setzte der Junge an, »… ich meine, hat sie etwas gesagt? Oder euch nur gerufen?« »Sie möchte uns etwas mitteilen«, erwiderte Lucia. Ihre Augen waren dunkel und groß wie die eines Kälbchens. »Hat sie das genau so gesagt?« hakte Francisco nach. Lucia nickte. Ihre Zöpfe schaukelten wie Pendel über ihre schmalen Schultern. »Ja. Bedeutender, hat sie gesagt, als alles, was sie uns zuvor gesagt hat.« »Mein Gott …!« entfuhr es Francisco. Er fröstelte in der lauen Nacht.
Bedeutender als alles vorher Gesagte … Hieß das … schlimmer als alles andere? Eine kleine Hand legte sich auf seine Lippen. Jacinta sah strafend zu ihm auf. »Wie kannst du den Namen des Herrn –« fuhr sie in kindlicher Entrüstung auf, wurde aber unterbrochen. »Laß es gut sein, kleine Jacinta!« Die Stimme glich einem warmen Wind, der durch die Nacht fuhr, die mit einemmal noch heller war als in der Sekunde zuvor. Im Licht des Mondes manifestierte sich ein weiteres, ein gleißendes Licht wie von weißer Glut, so strahlend und rein, wie nichts auf der Welt sein konnte – – weil dieses Licht nicht von dieser Welt war. Und was sich darin manifestierte, war von überirdischer Schönheit. Ein Wesen wie ein Geist. Aber der reinste Geist von allen! Die Mutter Gottes. »Maria …!« kam ihr Name aus dreier Kinder Mund.
* Zweimal war sie ihnen schon erschienen. Und beide Male hatte sie ihnen große Dinge verkündet, auf daß die Kinder die Welt warnten! Kindliche Unschuld sollte die Bedeutung der Prophezeiungen noch unterstreichen – – aber wer maß in dieser Welt den Worten von Kindern schon Bedeutung bei? Francisco, Lucia und Jacinta kannten keine Angst vor der gleißenden Erscheinung. Grenzenlose Ehrfurcht erfüllte sie, und Staunen war in ihnen, wie es nur Kinder empfinden konnten. Beides öffnete ihre Herzen und ihre Geister gleichermaßen, machte sie bereit, alles aufzunehmen, was die Erscheinung ihnen mitzu-
teilen hatte. Nicht das geringste Fünkchen Zweifel trübte ihre Wahrnehmung, sie waren ganz Ohr. Und mehr noch: Wäre die Welt in diesem Augenblick um sie her in Trümmer gegangen, sie hätten nicht einmal mit den Wimpern gezuckt. Auf einer anderen, unbedeutenden Ebene seines Denkens fürchtete Francisco um sein Augenlicht. So blendend hell war die Erscheinung, aus purem Licht gemacht, daß ihm Tränen über die Wangen rannen. Aber zugleich wußte er, daß die Tränen nichts mit dem Licht zu schaffen hatten; ihr Fluß wurde gespeist von jenem Gefühl, das in ihm war, und von dem Wissen, daß er die Mutter Gottes, ihre Anmut und Schönheit, nie mehr würde schauen dürfen. All dies aber vermochte sein Gehör nicht zu betäuben. Der Junge sog jedes Wort auf, das Maria zu ihnen sprach, und den Mädchen erging es nicht anders. Die Mutter Gottes füllte die Seelen der Kinder mit Wahrheit. Mit grausamer, furchtbarer Wahrheit, die diese Welt dereinst überkommen würde – – und der die Menschheit zum Opfer fallen konnte, wenn ihr nicht Einhalt geboten wurde! Wenn niemand die Weissagungen ernstnahm und danach handelte.
* Irina erreichte das Dörfchen Fatima am Abend des 13. Oktober 1917. Es bereitete ihr keine Mühe, als Gast in einem der abgelegeneren Höfe unterzukommen. Das Blut der Bauersfrau, eine dralle Gestalt mit rotem Gesicht und derben Händen, half der Vampirin, die Strapazen der eiligen Reise vergessen zu machen, bevor sie ihr das Genick brach. Für ihren Gemahl nahm sich Irina mehr Zeit. Obgleich er ihrem Sinn für männliche Schönheit nicht im geringsten nahekam, teilte sie mit ihm das Lager und ließ sich seine ebenso derben wie unbeholfe-
nen Bemühungen gefallen. Hauptsache war, daß sein Blut in Wallung geriet. Als sie merkte, daß er dem Höhepunkt zustrebte, stieß sie den Bauern von sich, packte ihn im Nacken und zog ihn zu sich. Ruckartig stieß sie die Zähne in seine Schlagader und soff daraus, bis sie satt war. Danach ließ sie den Mann achtlos ausbluten, bis das Rascheln des Lakens, auf dem er sich wimmernd wand, verklang. Der Bauer erwachte in dem Moment zu seinem zweiten Leben, als Irina sich wieder angezogen hatte. »Wie ist dein Name?« fragte sie, während er sich unsicher erhob und blinzelnd um sich sah, als begreife er noch nicht recht, wie ihm geschehen war. »Carlos«, antwortete er lahm. »Erzähle mir von den wundersamen Dingen, die man neuerdings über Fatima berichtet, Carlos.« Und ihr Diener, treu ergeben und hörig, tat, wie Irina ihm hieß. Er berichtete von den Marienerscheinungen, die drei Kindern des Dorfes in jüngster Vergangenheit zuteil geworden waren. Und davon, daß die Angst im Dorf umging deswegen. Weil von furchtbaren Weissagungen die Rede war. »Wie oft hatten die Kinder diese … Erscheinungen?« wollte Irina wissen. »Zweimal, so sagt man.« »Und wo finde ich sie?« »Das eine, ein Mädchen namens Lucia, wohnt gleich auf dem Hof da drüben.« Carlos zeigte in Richtung des Fensters, hinaus in die mondhelle Nacht. Irina nickte. »Dann werden wir Lucia jetzt besuchen. – Komm mit!« Carlos folgte ihr wie ein Hund seinem Herrn. Seiner toten Frau widmete er nicht einen einzigen Blick. Sie war ihm so fremd wie das Leben, das er verloren hatte.
* Sie hatten den benachbarten Hof noch nicht erreicht, als Irinas nachtsichtiger Blick die kleine Gestalt erhaschte, die wie ein Schatten in die Nacht floh. Ein Kind. »Lucia«, flüsterte die Vampirin. Wo mochte das Mädchen hingehen zu so später Stunde? »Die Eltern haben ihren Kindern verboten, die Häuser zu verlassen«, erklärte Carlos unaufgefordert. »Sie wollen verhindern, daß es zu weiteren … Erscheinungen kommt. Sie fürchten um das Wohl ihrer Kinder.« Irina nickte versonnen. »Dann sollten wir Lucia folgen. Vielleicht –« Sie ließ den Rest unausgesprochen. Sie ahnte, weshalb Lucia sich aus dem Elternhaus gestohlen hatte. Und diese Ahnung glich ganz jener, die Irina veranlaßt hatte, Fatima aufzusuchen. Es war, als könne sie eine Spur wittern. Eine Spur, die zum Lilienkelch führen mochte. Oder wenigstens in seine Nähe, im weiteren Sinne; vielleicht ließ sich – wie auch immer – in Erfahrung bringen, wo sich der Gral befand. In sicherer Entfernung folgten die Vampirin und ihr Diener Lucia, die einen Hügel außerhalb des Dorfes erklomm. Alsbald gesellten sich ein weiteres Mädchen und ein Junge zu ihr – – und schließlich die Mutter Gottes selbst.
* »Die Zeit der Zeiten wird kommen – und damit das Ende …«
Irina hatte Mühe, den Worten der Erscheinung zu lauschen. Die Nähe der Lichtgestalt machte ihr zu schaffen, als leckten Feuerzungen nach ihr. Sie fürchtete, ihre Haut würde Blasen werfen, das Fleisch darunter gesotten und ihre Knochen zu Asche. Aber nichts von dem geschah. Nur der Schmerz blieb. Aber auch ihn vermochte Irina zu ignorieren – – weil die Bedeutung des Ereignisses, dessen Zeuge sie wurde, alles andere überwog! Es war eine Chance! Die Erscheinung wußte um so vieles … also mußte sie auch um den Verbleib des Lilienkelchs wissen! Dieses Wissen wollte Irina ihr entreißen, um jeden Preis! »Herrin, was –?« Irina hörte Carlos erschrockenen Ruf kaum. Sie stürmte los, den Hügel hinauf. Wie eine Furie kam sie über die Kinder, stieß sie ungestüm beiseite, just in dem Moment, da die Erscheinung zu verblassen begann. »Nein!« kreischte die Vampirin. »Bleib!« Das lichte Abbild Marias lächelte ihr zu, spöttisch, wie es ihr schien. Irina war kaum noch Herrin ihrer Sinne. Sie reagierte nur noch, gehorchte blind dem, was der ehemalige Hüter in sie gesät hatte – dem Wunsch, den Gral der Alten Rasse zu finden, unter allen Umständen. Die Vampirin sprang. Stürzte sich auf die Erscheinung – – und tauchte in sie. Eine Flut brennenden Lichtes nahm Irina auf. Ein Sturm kochender Energien zog und zerrte an ihr – und in ihr. Riß an ihrem Geist, ihrem Innersten, tobte darin wie mit tausend Klauen und Zähnen. Und in all dem Chaos war ein Gedanke, klar und deutlich, als rühre ihn nichts an. Auf schlimmere Weise kann vor mir kein Vampir zu Tode gekommen sein.
* Sechs Wochen später Carlos erinnerte sich nicht daran, was auf dem Hügel geschehen war. Etwas hatte jeden Gedanken daran aus seinem Hirn gelöscht, weggebrannt, wie man mit glühendem Eisen ein Geschwür von der Haut tilgte. Wohl aber wußte er noch, wie er in jener Nacht seine tote Frau begraben hatte, unweit der Scheuer, inmitten dichten Buschwerks, und die aufgeworfene Erde hatte er sorgsam festgetreten und mit dornigem Gestrüpp getarnt. Den Leuten im Dorf erzählte er, Rosinande sei krank und wolle keinen Menschen sehen, keinen Besuch empfangen. Den Doktor, den ein fürsorglicher Nachbar aus dem nächsten Dorf geholt hatte, wies Carlos an der Tür ab. Der gute Mann konnte von Glück reden, daß er seine Hilfe nicht mit mehr Nachdruck aufdrängte. Carlos hätte nicht gezögert, ihm den Hals umzudrehen. Nachdem er ihm das Blut aus selbigem gesoffen hätte … Der Durst trieb den untoten Bauern elend um. Aber er wagte es nicht, seinen Trieb zu stillen. Zu leicht hätte man ihm im Dorf auf die Spur kommen können. Und überdies durfte er sein Haus nicht unbeaufsichtigt lassen – – um seiner Herrin willen. Sie schlief in seinem Bett, seit Wochen schon. Seit er sie … An diesem Punkt versickerte Carlos’ Denken stets. Er wußte nicht mehr, wie sie in sein Haus gekommen war. Egal. Wichtig war nur, daß er ihren Schlaf hütete. Irgendwann würde sie erwachen, und dann würde sie ihm erlauben, seinen Durst zu löschen, draußen, irgendwo. Seite an Seite würden sie fortgehen, er würde ihr folgen, wohin sie sich auch wenden mochte.
Bis dahin begnügte sich Carlos mit dem Blut von Tieren. Es stillte kaum seinen Hunger, das Sättigungsgefühl schwand, kaum daß er sich des Kadavers entledigt hatte. Aber ihr unbeseeltes Blut half ihm zumindest, die Wochen zu überdauern. Dann, eines Nachts, als Carlos am Küchentisch sitzend seine Zähne in den Balg einer fetten Ratte schlug, stand sie plötzlich hinter ihm. »Was bist du doch für eine widerwärtige Kreatur«, hörte er Irina sagen. Und es waren die letzten Worte, die er hörte. Seine Herrin drehte ihm das Gesicht nach hinten, und er erhaschte noch einen allerletzten Blick auf ihr bleiches Gesicht, ehe sich ewige Dunkelheit über ihn senkte.
* Ihr Blut war kälter als je zuvor. Und die Kälte in ihr reichte tiefer als in jedem anderen ihrer Art. Irina hatte sich verändert, ohne zu wissen, aus welchem Grund. Was geschehen war in jener Nacht, sie hatte es vergessen. Die Erinnerung daran war ausgelöscht – bis auf einen vagen Schemen, der weder zu deuten noch zu lüften war. Irgendwann, dessen wenigstens war sich Irina sicher, würde er sich heben, und sie würde erkennen, was er verbarg. Dann würde sie ihre Bestimmung erfahren. Bis dahin aber … Lange Jahre lagen vor Irina. Jahre, in denen sie gänzlich aus der Art schlug. Sie zog umher, bereiste die Welt, von steter Unruhe getrieben, ein sinnloses Dasein führend. Einen Sinn … das war es, was sie brauchte. Eine Aufgabe. Einmal auf diesen Gedanken gekommen, fiel es Irina nicht schwer, eine solche zu finden.
Sie besaß ein ganz besonderes Talent. Irina verstand sich aufs Töten! Auf viele Arten des Tötens, und kein Mensch konnte sie für dieses Tun zur Rechenschaft ziehen. Weil sie über allen irdischen Gesetzen stand. Einer solchen Mörderin würden viele Menschen die Welt zu Füßen legen, wenn sie nur ihre Dienste in Anspruch nehmen durften. Langeweile und Müßiggang wurden in den Jahren zu Fremdwörtern für Irina. Erfüllung indes fand sie nicht. Lange nicht …
* Gott schuf die Katze, damit der Mensch einen Tiger zum Streicheln hat. Victor Hugo
Vatikanstadt 28. September 1978, 16 Uhr Kardinal Jean Villot war einer der letzten Menschen, die Albino Luciani lebend sahen. Luciani freilich ahnte dies nicht einmal. Villot dagegen wußte es … Aber nichts von seinem Wissen, nichts von dem, was er im Verborgenen höchstselbst in die Wege geleitet hatte, war Kardinal Villot an diesem Spätnachmittag anzumerken, als er Albino Luciani in dessen Wohngemächern gegenübersaß. Albino Luciani … Ein kleiner, stiller Mann von 65 Jahren, bescheiden und voller De-
mut, die personifizierte Unscheinbarkeit quasi – und doch der mächtigste Mann im weltweiten Gefüge der katholischen Kirche! Und mehr noch: ein Mann, der binnen kürzester Zeit Pläne für eine Revolution geschmiedet hatte, die als größte, bedeutsamste in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingehen konnte – – wäre ihm die Zeit geblieben, seine umwälzenden Ideen auch umzusetzen. So würde »nur« er selbst einen Platz in der Historie finden – als Träger eines der kürzesten Pontifikate in den Annalen der katholischen Kirche. Als Papst für 33 Tage … Papst Johannes Paul I. lächelte unentwegt, derweil er mit Kardinal Villot redete. Und sein ruhiger Ton ließ vermuten, er spräche über das Wetter oder sonst etwas Belangloses. Tatsächlich aber ging es um Dinge, die den Vatikan in seinen Grundfesten erschüttern konnten und würden, waren sie erst einmal in Gang gesetzt. Und Johannes Paul I. war auf dem allerbesten Wege, eben diese Dinge zu bewegen. Doch Villot wußte, daß dieser Weg enden würde. Lange vor dem Ziel. Noch heute Nacht! Dieses Wissen flößte ihm die nötige Ruhe ein. Gleichmütig lauschte er dem, was der Heilige Vater ihm zu sagen hatte. Jedes Wort zielte darauf ab, die Politik des Vatikans in jeglicher Hinsicht zu erneuern. An diesem 28. September hatte Johannes Paul I. das Istituto per le Opere Religiöse ins Visier genommen, die Vatikanbank. Es war erstaunlich, was dieser Mann innerhalb der 33 Tage, die seit seiner Amtseinführung vergangen waren, an Informationen zusammengetragen hatte. Er wußte um Vorgänge und Machenschaften, über die weltweit allenfalls ein Dutzend Menschen Kenntnisse besaßen, und dieser Albino Luciani hatte sie nun schwarz auf weiß vorliegen. Auf einer anderen Liste, die die persönliche Handschrift des Paps-
tes trug, standen Namen. Namen von Männern in höchsten Würden, derer er sich entledigen wollte. Er betrachtete sie als Krankheitsherde im Körper der katholischen Kirche, und er würde sie daraus entfernen und durch Männer seines Vertrauens ersetzen. Villot wußte, daß auch sein Kopf auf dem Spiel stand, obschon sein Name nicht auf der Liste stand. Nicht auf dieser jedenfalls. Darauf waren lediglich jene aufgeführt, die in Diensten der Vatikanbank standen. Um es in weltlicher Sprache auszudrücken: Papst Johannes Paul I. war dabei, die katholische Kirche im allgemeinen und den Vatikan im besonderen zu entrümpeln. Er wollte den in Jahrhunderten gewachsenen Filz tilgen, verborgene Verbindungen kappen, modernes Gedankengut einbringen. Eine Katastrophe also bahnte sich an! Für all jene zumindest, deren Wurzeln in diesem Sumpf aus Korruption und dunklen Machenschaften lagen und deren Leben darob prächtig gedieh … In kürzester Zeit hatte sich Albino Luciani, dieser kleine Mann, mehr Feinde geschaffen als die Größten dieser Welt. Und die allermeisten dieser Gegner waren durchaus willens, ihre eigenen Pfründe mit allen Mitteln zu verteidigen. Jean Villot, Kardinal und Staatssekretär, war nur einer von ihnen … Aber er war beruhigt. Und er hatte im Gespräch mit Luciani beinahe Mühe, sich seine Gelassenheit nicht anmerken zu lassen. Er behalf sich damit, daß er Einwände vorbrachte und den Heiligen Vater bat, seine Entscheidungen noch einmal zu überdenken. »Die Presse wird neugieriger«, mahnte Villot einmal mehr zur Vorsicht. Er nippte bedächtig an seinem Glas mit Kamillentee. »Man hat draußen längst Wind davon bekommen, daß Untersuchungen gegen die Vatikanbank im Gange sind.« »Draußen«, unterbrach ihn der Papst, ohne lauter zu werden als
zuvor. Nur in seinen Augen blitzte es mißbilligend auf, wenn auch nur ganz kurz, und man mußte Albino Luciani schon gut kennen, um es überhaupt zu bemerken. »Eben diese Denkweise ist es, die mir nicht gefällt. – Es soll kein Drinnen und Draußen mehr geben, wenn vom Vatikan die Rede ist. Alles soll eins werden. Dann werden sich die Menschen von selbst der Kirche wieder zuwenden, anstatt ihr den Rücken zu kehren.« Die Menschen, dachte Villot bitter, als käme es auf sie an! Als spielten sie noch eine Rolle in unserer Welt! – Was für ein naiver Narr du doch bist … Das Lächeln, das er Luciani schenkte, war bemerkenswert perfekt. »Wahrhaft große Worte«, sagte er ruhig. »Denen umgehend Taten folgen werden«, erklärte der Papst, »Marcinkus’ Stunde schlägt als erste.« Bischof Paul Marcinkus war in der Vatikanbank auf höchster Ebene tätig. Und er hatte etliche Geschäfte zugunsten »guter Freunde« eingefädelt – das wußten außer diesen amici nur ein paar wenige. Und das wußte offensichtlich auch der »lächelnde Papst«. Er lächelte auch jetzt, als er Villot mitteilte: »Marcinkus wird abgelöst. Nicht in einem Monat, nicht in einer Woche, sondern morgen schon. Er wird beurlaubt, bis wir einen passenden Posten für ihn finden.« Villot stellte Betroffenheit zur Schau, wiegte den Kopf. »Ich bin nicht sicher, ob dies ein guter Entschluß ist. Marcinkus’ Gesundheit scheint mir seit einiger Zeit angegriffen –«, und Villot kannte auch den Grund dafür: Paul Marcinkus wußte längst, daß ihn der Papst aufs Korn genommen hatte!, »– und eine Nachricht wie diese könnte ihm weiter schaden …« Lucianis Miene änderte sich nicht um einen Deut, drückte nach wie vor etwas wie stille Heiterkeit aus, als er sagte: »Nun, dann sollten wir ihn nach Chicago versetzen. Er ist doch dort in der Nähe gebürtig, nicht wahr? In einem Ort namens Cicero, wenn ich nicht irre.
– Heimatluft wird ihm gut tun.« Jean Villot konnte kaum an sich halten. Verdammt, dieser Kerl wußte über jeden Furz Bescheid! »Ja, sicher«, beeilte er sich zu sagen, ehe sein Mißmut offensichtlich werden konnte, »das wird ihm gefallen, denke ich.« Johannes Paul I. warf einen flüchtigen Blick auf die Wanduhr. Kardinal Villot wußte, was das bedeutete, und machte Anstalten, sich zu erheben. Er war entlassen – wenn auch nur aus dieser Unterhaltung. Vorerst … Zu mehr allerdings würde es nicht mehr kommen. Unwillkürlich sah auch Villot zur Uhr. Sie zeigte halb acht. Albino Lucianis Zeit lief ab. Für alle anderen würde sie stehenbleiben. Jean Villot lächelte beim Abschied. Nichts würde sich ändern … … der italienischen Lösung sei Dank!
* Vatikanstadt 28. September 1978,19:50 Uhr Im dritten Stock des Apostolischen Palastes setzte sich Albino Luciani mit seinen beiden persönlichen Sekretären, den Patres Diego Lorenzi und John Magee, zu Tisch. Die Schwestern Vincenza, Assunta, Clorinda und Gabriella, mit der Betreuung des päpstlichen Haushalts beauftragt, trugen ein einfaches Mahl auf: Brühe, Kalbfleisch, grüne Bohnen und Salat. Wortlos zogen sich die Nonnen zurück, nachdem der Heilige Vater ihnen lächelnd signalisiert hatte, daß alles zum Besten war. Die drei Männer am Tisch sprachen wenig während des Essens. Ein Teil ihrer Aufmerksamkeit galt den Nachrichten, die im Fernsehen gezeigt wurden und in denen Hunger, Krieg und Tod die be-
herrschenden Themen waren, wie an so vielen anderen Abenden. Wenn es nach Johannes Paul I. ging, würden diese Dinge in Zukunft zumindest ein wenig an Bedeutung verlieren. Und er sprach bei Tisch darüber, wenn auch eher wie im Selbstgespräch als zu seinen Sekretären, und es schien den beiden fast, als müsse sich der Papst von der Richtigkeit seiner Ideen und seines Tuns überzeugen, indem er laut darüber redete. »Die Kirche muß in den für die Menschheit wichtigen Fragen eine an den wirklichen Nöten und Bedürfnissen der Gläubigen orientierte Haltung einnehmen. Wir müssen den Reichtum und die Macht von uns werfen. Diese Welt braucht eine Kirche, die wieder allein auf das setzt, was von jeher ihr größter Trumpf, ihr mächtigstes Argument und dauerhaftester Reichtum war: das Evangelium.« »Ein langer Weg«, merkte Diego Lorenzi an. »Gott schenkt mir Geduld«, lächelte Johannes Paul I. »und Zeit.« Eher zufällig sah er auf seine Armbanduhr – und verkniff sich mit sichtlicher Mühe einen Fluch. »Sie steht schon wieder!« schimpfte er. Lorenzi und Magee grinsten einander zu. Die neue Uhr des Papstes war ihm zum ständigen Ärgernis geworden, und das nicht nur, weil sie fortwährend nicht recht funktionieren wollte. Monsignore Macchi, der Sekretär des verstorbenen Papstes Paul VI. hatte sie ihm geschenkt, nachdem in der Kurie abfällige Bemerkungen über Lucianis unansehnlich gewordene alte Uhr die Runde gemacht hatten. Mit etwas so Häßlichem dürfe der Papst nicht herumlaufen, hatte Macchi gemeint, das schade dem Image der Kirche … und genau diese Geschichte erzählte Albino Luciani jetzt ein weiteres Mal. »… als ob ich ein Gebrauchtwagenhändler wäre, der des seriösen Eindrucks wegen auf ordentliche Bügelfalten und saubere Fingernägel achten müßte!« kam er sich ereifernd zum Ende.
Beim Schlußgong der Nachrichtensendung stellte er seine Uhr, dann hob er die schlichte Tafel auf und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Eine halbe Stunde später verband Pater Lorenzi den Papst telefonisch mit Kardinal Colombo in Mailand, mit dem Luciani etwa eine halbe Stunde sprach. Kurz vor 21:30 Uhr kam Papst Johannes Paul I. noch einmal aus seinem Arbeitszimmer, um den Patres Lorenzi und Magee eine gute Nacht zu wünschen. »Buona notte. A domani. Se Dio vuole.« (»Gute Nacht. Bis morgen. So Gott will.«) Gott wollte nicht. Diego Lorenzi und John Magee waren die letzten Menschen, die Albino Luciani lebend sahen. Sie aber wußten es zu dieser Zeit noch nicht.
* Vatikanstadt 28. September 1978, nach 21:30 Uhr Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, unbemerkt in die Vatikanstadt einzudringen. Denn der Weg durch die Luft war unbewacht; jedenfalls wäre eine Fledermaus, die in diesen kleinsten Staat der Welt flog, niemandem dergestalt aufgefallen, daß er die Beobachtung gemeldet oder ihr auch nur selbst größere Bedeutung beigemessen hätte … … aber Irina wählte den Weg zu Fuß in die Città del Vaticano. Die Gestalt der Fledermaus war ihr nach wie vor zuwider. Nach all den Jahren immer noch … Wie eine Touristin spazierte sie die Via di Porta Angelica entlang und fiel, wenn überhaupt, nur deshalb auf, weil sie zu so später
Stunde noch allein unterwegs war. Tagsüber herrschte reges Treiben um die Vatikanstadt herum sowie auf dem Petersplatz und im Petersdom, jenen beiden vatikanischen Bereichen, die Fremden zugänglich waren. Nachts indes kehrte Ruhe ein. Irinas Schritte hallten hohl von der Mauer wider, die zu ihrer Rechten verlief. Ein Stück weiter vorne, nahe des vatikaneigenen Postamtes, wußte sie ein Tor, das in die Stadt führte. Diesen Weg wollte sie nehmen. Sie gab sich vollkommen arglos. Als sie um die Ecke bog, hielt den Blick leicht gesenkt – und entließ einen leisen Ruf des Erschreckens, als sie gegen jemanden prallte! »Wohin des Wegs?« Irina wurde auf italienisch angesprochen, nicht ganz akzentfrei. Sie hob den Kopf, blinzelte beinahe schon auffällig verwirrt und lächelte dem Schweizergardisten schließlich betont unsicher zu. Ein Milchgesicht, noch grün hinter den Ohren, und die gelb-blaue Uniform roch regelrecht neu. Irinas Lächeln vertiefte sich um eine Nuance. »Ich wollte nur … Spazierengehen«, sagte sie. »Hier dürfen Sie nicht herein«, erklärte der Gardist bestimmt. »Sind Sie sicher?« Der junge Bursche öffnete schon den Mund, eine Erwiderung auf der Zunge – aber kein Wort drang über seine Lippen. Und im nächsten Augenblick hatte er bereits vergessen, was er hatte sagen wollen. Schritte klangen hinter Irina auf. Ein Schatten schob sich zwischen sie und den jungen Gardisten. »Gibt es Probleme, Eric?« fragte eine rauhe Stimme. Irina wandte sich nicht nach dem zweiten, unüberhörbar älteren Gardisten um. Ihr Blick hing wie gebannt an ihrem Gegenüber, fesselte ihn – spielte mit ihm. Wie ein Fisch auf dem Trockenen bewegte er die Lippen, ohne einen Ton hervorzubekommen. Irina wühlte förmlich mit unsichtba-
ren Fingern in seinem Kopf, wirbelte seine Gedanken durcheinander und verwirrte ihn bis an die Grenze des Erträglichen. »Signorina?« sprach der andere sie jetzt direkt an. »Was wollen Sie hier?« Irina antwortete, ohne ihn anzusehen. »Das wollen Sie nicht wissen.« »Das … das will ich nicht wissen«, echote der andere lahm. »Vergeßt beide, daß ihr mich gesehen habt«, verlangte Irina. Sie wartete die Antwort der Gardisten nicht ab. Sie wußte, daß ihre Begegnung schon in diesem Moment aus beider Gedächtnis gelöscht war. Wie ein Schatten huschte sie an ihnen vorüber. Und in der nächsten Sekunde verschmolz sie mit den Schatten, im Begriff und bereit, den dunkelsten aller Schatten über den Vatikan zu breiten – und über die Welt. Den Schatten tiefster Trauer …
* Nichts und niemand stellte sich Irina in den Weg. Wann immer sie auch nur das geringste Geräusch vernahm, wurde sie gleichsam unsichtbar, wartete vollkommen lautlos, bis deroder diejenigen verschwunden waren, dann erst ging sie weiter. Es war wie ein Spiel. Ein Nervenkitzel, den sie genoß, weil sie wußte, daß ihr letztlich nichts geschehen konnte. Das Risiko trug allein ihr Auftraggeber. Er (oder waren es deren mehrere? Das wußte Irina nicht, und es war im Grunde auch nicht von Belang) hatte ihr die Pläne zukommen lassen, nachdem sie den Auftrag angenommen gehabt hatte. Diesen Unterlagen hatte die Vampirin nicht nur die Grundrisse der relevanten Gebäude entnehmen können, sie hatten ihr auch verraten, wann wo mit einer Patrouille zu rechnen war und welcher vati-
kanische Würdenträger hinter welcher Tür residierte. Aufgrund dieser Informationen, die selbst ihr einflußreicher Auftraggeber nur unter größten Mühen aus dem Vatikan hatte schmuggeln können, war es beinahe schon ein Kinderspiel, zu einem der wichtigsten Männer dieser Welt vorzudringen. Die hohen, bisweilen kathedralenartig anmutenden Gänge und Hallen, die Irina wie auf Samtpfoten durchquerte, verschafften selbst ihr etwas wie ehrfürchtige Schauer. Der Prunk übertraf nahezu alles, was die Vampirin bislang zu Gesicht bekommen hatte. Und sie hatte vieles gesehen im Laufe der Jahre. Mehr, als die allermeisten Menschen in ihrem ganzen Leben schauen konnten. Irina war an Orten gewesen, die anderen tabu waren. An Orten auch, die viele nicht einmal für existent hielten. Stets war ihr der Tod gefolgt, einem unsichtbaren Schatten gleich. Und überall hatte sie ihn zurückgelassen. Denn der Tod war zu ihrer Profession geworden, zu ihrem Geschäft. Und doch war alles kaum mehr als ein Spiel für Irina, mit dem sie sich die Zeit, über die sie im Überfluß verfügte, vertrieb. Irina hatte Staatsmänner getötet. Sie hatte politische Quertreiber in aller Herren Länder umgebracht und auf Wunsch von Wirtschaftsgrößen unliebsame Konkurrenten beseitigt. Irina, die Vampirin, war zu einer Killerin geworden, zu einer Auftragsmörderin, die mit Geld nicht zu bezahlen war – weil sie sich mit Geld nicht bezahlen ließ. Irina forderte anderes als Lohn. Dinge, die gleichfalls nicht mit Geld zu bezahlen waren. Und heute Nacht würde sie endlich das bekommen, wonach ihr schon seit langem gelüstete. Etwas, das sie reizte, seit sie damals von seiner Existenz erfahren hatte … … und alles, was sie dafür tun mußte, war, den Papst zu töten. Lächelnd kam Irina vor der Tür zum Schlafzimmer des Heiligen Vaters an.
* Johannes Paul I. schlief. Und er lächelte. Wie ein Schatten glitt Irina an sein Bett, das sie sich prachtvoller vorgestellt hatte, wie auch der gesamte Raum nicht ihren Erwartungen entsprach. Seine Ausstattung war geradezu schlicht, wenn auch keineswegs ärmlich. Zweckmäßig eben. Irina schüttelte den Kopf, als ihr Blick den alten, zerbeulten Wecker auf dem Nachtkästchen streifte. Die Wohnstatt des Oberhauptes einer Weltreligion hatte sie sich anders ausgemalt … Mondlicht fiel ungehindert durch die Fenster, deren Gardinen nicht zugezogen waren. Dahinter lagen die vatikanischen Gärten, deren Bewuchs sorgsam gestutzt war und wie mit silbernem Staub überpudert wirkte. Diesen Silberglanz wob der Mond auch über alles im Zimmer, und selbst das Gesicht des Papstes schien zu strahlen; ein Eindruck, den sein geradezu seliges Lächeln noch verstärkte. Irina betrachtete den Schlafenden eine Weile lang, dann beugte sie sich vorsichtig über ihn, brachte ihr Gesicht ganz nah an das seine, bis sie seinen gleichmäßigen Atem als warmen Hauch auf ihrer Haut spürte – und fröstelte … Einen Moment lang sann sie darüber nach, warum nie ein Vampir vor ihr versucht hatte, was sie jetzt im Begriff war zu tun. Wäre es nicht ganz im Sinne der Alten Rasse gewesen, den mächtigsten Mann der katholischen Kirche für sich zu gewinnen – oder vielmehr zur Marionette, zum Diener des vampirischen Volkes zu machen? Ein Grund mochte sein, daß solch große Einflußnahme dem geheimen Wirken der Alten Rasse eher zuwider gelaufen wäre. Aber wie lange wollte ihr Volk denn noch aus dem Verborgenen heraus die Fäden ziehen? Wann endlich würden sie die Herrschaft über die Menschheit antreten und den Platz einnehmen, der ihnen
allein ihrer Macht wegen gebührte? Daß der Lilienkelch nach wie vor verschwunden war, konnte eine Erklärung dafür sein, daß in den seither vergangenen Jahrhunderten kein solcher Übernahmeversuch unternommen worden war. Aber warum war es nicht schon zuvor geschehen, als der Hüter noch die Welt bereist und die Sippen besucht hatte, als die Vampire über die Nachwuchsfrage nicht einmal hatten nachdenken müssen? Irina fand keine Antworten auf diese Fragen. Es mochte sein, daß sie sich ihrem eigenen Volk in den zurückliegenden Jahrzehnten, da sie als Einzelgängerin umhergezogen war, zu sehr entfremdet hatte, um dessen Beweggründe noch zu verstehen. Trotzdem, ihr war, als gäbe es solche Antworten. Und sie hatte das Gefühl, daß sie zum Greifen nahe lagen … Irinas rechte Hand faßte nach der Bettdecke, zog sie über die Brust Albino Lucianis herab. Ihre Linke drehte sich in den Kragen seines Nachtgewandes. Der Ruck, mit dem die Vampirin ihn hochzerrte, ließ den Papst die Augen öffnen. Sein Lächeln erstarb. Lange bevor er selbst starb.
* Niemand hatte ihr Kommen bemerkt, und niemand bemerkte, wie Irina die Gemächer des Papstes verließ. Den Vatikan indes verließ sie noch nicht. Die Vampirin durchstreifte zwei, drei Korridore, huschte leichtfüßig eine Treppe empor und blieb vor einer Tür stehen, gegen deren Holz sie in einem bestimmten Rhythmus klopfte. Sie hörte rasche Schritte, dann wurde die Tür geöffnet. »Kardinal Villot, nehme ich an?« sagte sie lächelnd. »Dann nehme ich an, daß sie erledigt haben, weswegen ich Sie hergebeten habe?« entgegnete Jean Villot. Er lächelte nicht. Sein Gesicht
wirkte starr, wie aus trocken gewordenem Teig geformt. Irina konnte den heftigen Schlag seines Herzens regelrecht spüren, und trotzdem sie gesättigt war vom Blut Albino Lucianis, erregte sie dieses Gefühl aufs Neue. Villot gab den Weg in den Salon frei und bedeutete Irina mit einer nervösen Geste, einzutreten. Gewissenhaft und leise schloß er dann die Tür und sperrte ab. Die Vampirin war überrascht, einen zweiten Mann vorzufinden. Groß und kräftig war er, selbst im Sitzen hünenhaft, aber sein Gesicht war aschfahl, und tiefe Linien zogen sich wie Gräben hindurch. Irinas fragender Blick schien ihm Aufforderung zu sein, sich vorzustellen. »Paul Marcinkus«, sagte er rauh. »Bischof Marcinkus.« Irina wandte sich an Villot, der hinter sie getreten war. »Sie haben viele Mitwisser, wie mir scheint«, meinte sie. »Ich bin nicht der alleinige Drahtzieher«, erklärte Kardinal Villot. »Oh, dann habe ich wohl den wichtigsten Männern der katholischen Kirche einen großen Gefallen erwiesen, wie?« Sie lächelte spöttisch. Weder Villot noch Marcinkus erwiderten etwas darauf. »Nun, dann erfüllen Sie Ihren Teil unseres Handels, und schon sind Sie mich los«, sagte Irina auffordernd. Kardinal Villot nickte bedächtig, und einen Moment lang glaubte die Vampirin einen eigentümlichen Glanz in seinen Augen zu bemerken. Aber wenn da etwas gewesen war, dann erlosch es so rasch, wie es gekommen war. »Ihren Lohn«, sagte Villot rauh, »natürlich. Sie sollen ihn erhalten.« Seine Hand verschwand für einen Augenblick in den Schatten, die unter einem kleinen Beistelltisch nisteten. Irina nahm an, daß er einen dort verborgenen Knopf gedrückt hatte. Und sie hatte recht. Nur ein paar Sekunden vergingen, dann klangen draußen vor der
Tür Schritte auf, kaum hörbar, weil von dickem Teppich gedämpft, aber das Gehör der Vampirin war scharf wie ihr Blick nachtsichtig. Das Klopfen an der Tür entsprach exakt jenem Rhythmus, in dem auch sie sich hatte melden müssen. Villot bedeutete Paul Marcinkus mit einem Blick, die Tür zu öffnen. Er selbst schien mit einemmal müde, geradezu schwächlich, als hätte ihn die Begegnung mit der Vampirin den allergrößten Teil seiner Kraft gekostet – oder als würde ihm die Tragweite dessen, was er angezettelt hatte, erst jetzt richtig bewußt … Er hatte den Papst ermorden lassen – den Stellvertreter Gottes auf Erden, als den ihn die katholische Kirche sah! Die ungesunde Gesichtsfarbe des Kardinals rührte ganz gewiß nicht allein von der trüben Beleuchtung des Salons her … Marcinkus zog die Tür auf, und Irina war regelrecht überrascht, als sie draußen zwei Schweizergardisten sah. Sehr geheim hielt man offenbar nicht, was heute Nacht im Vatikan geschehen war … Wortlos traten die beiden Uniformierten ein. Die Degen an ihren Gürteln schabten über den Stoff ihrer Beinkleider. Mit stoischer Miene blieben die Männer vor Villot stehen. »Ihr wißt, was ihr zu tun habt«, sagte der Kardinal nur. Der ältere der beiden Gardisten nickte knapp. »Dann geleitet unsere Besucherin und gebt ihr, was sie sich verdient hat«, wies Villot die Männer an. Zackig wandten sie sich um, kehrten zur Tür zurück, nahmen dort zu beiden Seiten Aufstellung und warteten darauf, daß Irina ihnen folgte beziehungsweise vorausging. Die Vampirin wandte sich zuvor jedoch noch einmal an Jean Villot. »Ich danke Euch, Kardinal«, sagte sie, zuckersüß. »Ihr wißt gar nicht, wie tief ich in Eurer Schuld stehe für den Preis, den Ihr mir gebt.« Villot lächelte schwach. »Sie haben ihn sich redlich verdient.«
»Wenn ich Euch je wieder zu Diensten sein kann, dann –«, erbot sich Irina, aber Villot unterbrach sie mit einer raschen Geste. »Ich glaube nicht, daß wir uns wiedersehen«, sagte er. Und dachte: Nicht in dieser Welt jedenfalls … Die Vampirin verließ den Salon, die Gardisten folgten ihr, Marcinkus schloß die Tür und lehnte sich aufstöhnend dagegen. »Villot, was haben wir getan?« seufzte er. »Das Richtige«, behauptete der Kardinal, ins Leere starrend. Paul Marcinkus ließ sich schwer in einen Sessel dem Kardinal gegenüber fallen. Mit beiden Händen wischte er sich übers Gesicht, als könne er allein damit die Geister vertreiben, die sie gerufen hatten. »Was, wenn die beiden versagen?« fragte er nach einer Weile. »Wenn es ihnen nicht gelingt, dieses Weib –« Villot winkte ab. »Dann wird sie sich eben nehmen, was wir ihr versprochen haben. Nicht umsonst ließ ich sie tatsächlich in den Tresorraum führen.« »Fürchtest du nicht, sie könnte zurückkommen, um uns –?« »– zu töten, wie sie ihn getötet hat?« Jean Villot hob die Schultern. »Ich glaube nicht. Wenn sie das Pergament erst hat, wird sie kein Risiko mehr eingehen wollen.« »Und die Gardisten?« »Sind absolut zuverlässig. Ich selbst habe sie ausgewählt. Zudem werden sie nach Erfüllung ihres … Auftrags in den Hauptmannsrang erhoben; das wird ihren Eifer beflügeln und ihre Münder verschließen.« »Deine Worte in Gottes Ohr«, murmelte Marcinkus düster. Villots Lippen verzogen sich zu einem abseitigen Grinsen. »Ich bezweifle, daß wir heute Nacht auf Seine Hilfe hoffen dürfen …«
* Der ältere der beiden Schweizergardisten ging voran, der andere
hielt sich hinter Irina, während sie durch eine Reihe verwinkelter Flure gingen, die im Halbschatten spärlicher Beleuchtung lagen. Einmal ging es über eine schmale Stiege in die Höhe, dann wieder hinab, und die Vampirin wurde das Gefühl nicht los, daß ihre beiden Führer vor allem eines im Sinn hatten: daß sie die Orientierung verlor. Vielleicht wollten sie damit verhindern, daß Irina später den bewußten Raum wiederfand, weil dort weitere Schätze des Vatikans lagern mochten. Vielleicht aber verfolgten sie auch ein ganz anderes Ziel … Irina war in jedem Fall auf der Hut. Der Bereich des Vatikans, den sie schließlich erreichten, unterschied sich in seiner Ausstattung nur wenig von jenem, in dem Irina auf den Papst und dann auf die Verschwörer getroffen war. Prunkvoller Zierat war überall zu sehen, allenfalls wirkte alles ein bißchen verlassener, ganz so, als komme hier nur selten jemand her. Feiner Staub lag auf allem wie feiner Puder, und die Luft roch und schmeckte abgestanden, schal. Vor einer doppelflügeligen Tür machte der vorausgehende Gardist halt. Er zog einen Schlüssel aus der Tasche seiner Pluderhose und schloß auf, dann öffnete er die Tür und ließ Irina wortlos den Vortritt. Sie trat über die Schwelle – und erschauerte! Ohne den Grund dafür zu kennen oder ihn gar zu sehen. Die Luft in diesem Salon mit der hohen Decke schien wie von elektrischer Spannung erfüllt. Irgend etwas kribbelte auf der Haut der Vampirin, unsichtbaren Insekten gleich, mit Beinen aus Eis. Irina spürte … Nähe. Anders vermochte sie es nicht auszudrücken. Sie fühlte sich am Ziel. Dabei kannte sie das Ziel als solches gar nicht wirklich. Sie wußte nur, daß es ein solches gab; über seine Beschaffenheit, seine wahren Bedeutung indes wußte sie nichts. Noch nicht …
Hinter ihr fiel die Tür mit dumpfem Laut ins Schloß, aber erst ein weiteres Geräusch ließ Irina aufschrecken und herumfahren. Ein metallisches Schleifen war es gewesen … Die Vampirin fuhr herum – und duckte sich wie ein Raubtier zum Angriff. Weil die beiden Schweizergardisten mit blankgezogenen Degen vor ihr standen, die Klingen gegen sie gerichtet! Einem ersten Reflex folgend, wollte Irina die Maske fallen lassen, ihr wahres Gesicht – das einer blutgierigen Bestie – zeigen und sich auf die beiden Gardisten stürzen … … aber sie beherrschte sich. Denn mit ihren Degen konnten ihr die Soldaten des Vatikans durchaus gefährlich werden. Ihre vampirische Selbstheilungskraft vermochte Wunden rasend schnell heilen zu lassen, aber sie war nicht imstande, ein durchbohrtes Herz zu schließen – oder einen abgetrennten Kopf zu ersetzen … Nichtsdestotrotz pulste das schwarze Blut, sonst nur ein träger Fluß, vor Erregung durch ihr Adernetz, fast schmerzhaft, als seien die Kanäle plötzlich schmal geworden. Sekunden verstrichen, in denen nichts geschah, niemand sich rührte. Dann zuckte die Klinge des älteren Gardisten nach vorne, wie ein Blitz auf Irina zu! »Laß es!« Ihre Stimme klang nicht einmal sonderlich laut. Eher warnend. Und zugleich so bestimmt, daß der Soldat vielleicht selbst dann die Waffe zurückgezogen hätte, wenn Irinas hypnotische Macht nicht verfangen hätte. Die Hand mit dem Degen sank nach unten, bis die Spitze der Klinge den Boden berührte. Der Blick des zweiten Gardisten irrte zwischen seinem Kollegen und der Vampirin hin und her. »W-was …?« stammelte er.
Der andere reagierte nicht, stierte einzig Irina an, aus glasigen Augen und offenen Mundes. Die Vampirin wandte sich lächelnd dem Jüngeren zu. »Steck das Ding weg«, sie wies mit dem Kinn auf den Degen, »du könntest dich verletzen, Kleiner.« »Ja«, erwiderte der Gardist. »Sie haben recht, Signorina.« Und schon verschwand die Klinge in der Scheide. »Ihr habt Glück, daß ich heute ausgesprochen guter Laune bin«, erklärte die Vampirin dann. »Deshalb will ich euch noch ein wenig Vergnügen gönnen, bevor –« Den Rest ließ sie unausgesprochen. Statt dessen sagte sie: »Kommt her, alle beide!« Schweigend gehorchten die im Bann der Mörderin stehenden Männer. »Zieht mich aus«, verlangte Irina. Und sie taten es. Schälten die Vampirin aus ihrem nachtfarbenen Gewand, berührten ihre Haut mit Fingern und Lippen, und sie genoß das Gefühl wie eine heiße Dusche. Als einer von beiden allerdings nach ihrer Scham langte, stieß Irina die Gardisten zurück. »Nur einem von euch will ich meine Gunst schenken«, sagte sie. »Dem stärkeren! – Nehmt eure Waffen!« Die Gardisten zogen blank, ohne zu zögern. »Duelliert euch!« forderte Irina. »Bis aufs Blut!« Und ein Kampf entbrannte, wie ihn keiner der beiden Gardisten je zuvor geführt hatte. Denn es ging um Leben und Tod!
* Irina rechnete insgeheim damit, daß der ältere der beiden Männer das Duell für sich entscheiden würde. Über weite Strecken der heftigen Auseinandersetzung machte er die bessere Figur, führte die
Klinge sicherer als sein Kontrahent. Längeres Training war sein Vorteil. Daß es doch anders kam, lag an einem dummen Zufall. Der Ältere stolperte über eine Falte im Teppich, der sich unter den Füßen der ständig in Bewegung befindlichen Kämpfer verschoben hatte – und der junge Bursche nutzte seine Chance eiskalt! Als der andere um sein Gleichgewicht rang, brachte er ihn mit vorgestrecktem Bein vollends zu Fall, und noch in der Sekunde ließ sich der Jüngere mit vorgereckter Klinge förmlich auf den Gestürzten fallen. Die Degenspitze drang dem Älteren mitten in die Brust, und sein Mörder ließ die Waffe kurzerhand stecken, so daß es aussah, als sei sein Opfer am Boden festgenagelt. Blut brach dem Sterbenden aus den Kinnwinkeln, derweil sich seine Uniform dunkel färbte. Er sprach kein Wort, hustete einmal, bäumte sich kurz auf und sank dann zurück, schon tot, als er zu liegen kam. Der junge Gardist drehte sich nach Irina um. »Ich habe gewonnen«, sagte er, mit einem Stolz, der klang, als versuche ein schlechter Schauspieler ihn auszudrücken. »Ich habe … Sie gewonnen.« Er verzog die Lippen zu einem unechten Lächeln. Dann wollte er auf die Vampirin zugehen, doch sie wies ihn mit vorgestreckter Hand ab. »Augenblick noch«, sagte sie. »Verrate mir erst, wo ich meinen Lohn finde.« »Lohn?« echote der vatikanische Soldat. »Die Schrift!« präzisierte Irina ungeduldig. Der Gardist schwieg, warf aber einem goldgerahmten Ölgemälde, das ein biblisches Szenario zeigte, einen bezeichnenden Blick zu. »Alles klar«, lächelte Irina zufrieden. Sie trat auf den jungen Mann zu, der sie wie im Fieber anglotzte und heftig schluckte, als er ihre Finger an seinem Hals spürte. Im nächsten Moment spie er Blut. Als die Fingernägel der Vampi-
rin sich in messerscharfe Krallen verwandelten und sich tief in seine Kehle gruben. Der Gardist sank zu Boden und erstickte an seinem eigenen Blut.
* Irina verfolgte seinen Todeskampf nicht weiter. Sie ging zu dem Bild an der Wand und nahm es vom Haken. Sein Gewicht schien sie nicht einmal zu spüren, so achtlos warf sie es beiseite. In der Wand dahinter war ein Tresor eingelassen. Möglicherweise hätte die Vampirin den zugehörigen Schlüssel bei den Gardisten gefunden, aber die Zahlenkombination kannte sie ohnedies nicht. »Also anders«, knurrte sie kehlig – und ließ nun doch geschehen, was sie beim Angriff der beiden Gardisten noch unterdrückt hatte. Sie ließ ihr anderes, dunkles, bestienhaftes Wesen zutage treten! Irinas Gesicht verzerrte sich, Muskeln schwollen zur Stärke von Schiffstauen, und eine monströse Hand packte den Drehgriff des Tresors – um dessen Tür mit einem gewaltigen Ruck kurzerhand aus dem Schloß zu reißen! So schnell sie mutiert war, so rasch verwandelte sich Irina auch zurück. Der Tresor war leer bis auf ein Stück Papier. Zusammengerollt lag es da, von einem schlichten Band gehalten. Und doch sah sich Irina endlich am Ziel!
* Irinas Hand tauchte in den Tresor und nahm heraus, was sich darin befand. Ein unscheinbares Pergament – – und doch unendlich viel mehr als das!
Irina wußte es in dem Moment, da sie das Papier berührte. Es war wie nichts, was sie je zuvor erlebt, gespürt hatte. Niemand vor ihr hatte dieses Gefühl je gehabt. Es war – unbeschreiblich. Elektrisierend. Beflügelnd. Erhebend. All das, und doch ganz und gar anders. Einzigartig im wahrsten Sinne des Wortes. Ein jenseitiges Feuer schien das Pergament zu umfließen, gelb wie Schwefelglut und doch weder heiß noch kalt. Es prickelte auf Irinas Haut, als es an dem Papier herabfloß wie eine zähe Masse und ihren Arm umschloß, gleichsam in sie eindrang und ihren Geist mit Bildern füllte, die sie nicht verstand – noch nicht … Irina verließ den Vatikan, ohne sich danach noch daran erinnern zu können, auf welchem Weg sie es getan hatte. Es war nicht wichtig. Nichts war mehr wichtig; nichts von dem, was bislang von Bedeutung gewesen war. Nicht einmal an den Verrat den beiden hohen Kirchenleute konnte sie sich recht erinnern. Ihr bisheriges Leben schien hinter einer Nebelwand verschwunden zu sein. Neuer Sinn erfüllte Irinas Leben. Sie war auserwählt. Sie hielt die Dritte Weissagung Fatimas in Händen. Und mit ihr die Antworten auf jene Fragen, die sie sich kurz zuvor noch gestellt hatte. Irina wußte. Und handelte fortan danach.
* 20 Jahre später, September 1998 Im Kloster von Coimbra, Portugal Eine rote Kerze tauchte das Zimmer in tiefe Schatten. Und die Äbtis-
sin sprach, als säße sie einem kleinen Mädchen gegenüber. »Schlaf jetzt ein, Lucia. Ich sehe, wie müde du geworden bist. Ich selber werde noch ein wenig durch die Gänge wandern. Mach die Augen zu. Ich lösche die Kerze …« Die alte, bettlägerige Frau starrte verschwommenen Blickes zu ihrer Mutter Oberin empor. Einen Moment lang sah es aus, als wollte sie sich fügen – auch, weil sie viel zu schwach zum Widerspruch wirkte. Dann aber bäumte sie sich in den Kissen auf und preßte mit einer aufgebrachten Stimme, brüchig wie Glas, hervor: »Er weiß, was ich weiß! Dieser … Mann weiß es! Ich habe ihm und seinen Vorgängern alles aufgeschrieben. Warum unternimmt er trotzdem nichts? Warum läßt er die Menschen blind und ahnungslos in einen Abgrund taumeln?« Die Äbtissin legte ihre Hand beruhigend auf die knochige Schulter der Greisin. »Du sollst nicht immer davon reden, auch nicht daran denken! Es regt dich viel zu sehr auf. Dein Herz ist nicht mehr so stark wie früher … Ich bin sicher, der Heilige Vater unternimmt sehr viel – hinter den Kulissen. Vergiß nicht, daß er eine immense Verantwortung trägt, unter der andere längst zusammengebrochen wären. Nach dem Attentat gelangte Johannes Paul II. nie wieder zu alter Gesundheit zurück.« »Auch das Attentat wurde prophezeit«, erwiderte Lucia dos Santos, als zwinge sie der Altersstarrsinn dazu. »Schon in der zweiten Weissagung! Aber es geht um die dritte und letzte! Francisco, Jacinta und ich sollten sie verkünden, aber die Kirche hinderte uns daran!« Die Äbtissin auf dem harten Stuhl am Kopfende des Bettes nickte beklommen. »Du hast mir oft vorgeworfen, wir würden dich hier einsperren, damit du dem Heiligen Vater nicht vorgreifen kannst, aber das –« »Vorgreifen?« Die Frau, die bis zur Brust zugedeckt dalag, schüttelte in einem Anflug großer Verzweiflung den Kopf. So heftig, daß es hörbar in den Wirbeln knackte. »Wie könnte ich vorgreifen? Ich
habe alles vergessen, was von Bedeutung war. Doch es gibt das Papier. Das Pergament, auf das ich niederschrieb, was die Welt hätte erfahren sollen, um sich zu besinnen und die Kraft zur Umkehr zu finden. Warum ist man bis heute der Anweisung noch immer nicht gefolgt …?« »Es zu veröffentlichen?« »Ja!« Die Äbtissin zuckte hilflos mit den Schultern. In diesem Moment wirkte sie, obwohl halb so alt wie Lucia, fast erschöpfter als diese. »Du sagst, es sollte dem ausdrücklichen Willen der Muttergottes zufolge 1960 geschehen. Aber es geschah nicht. Dafür muß es Gründe geben. Vielleicht … hat deine Niederschrift nie den vorgesehenen Adressaten erreicht.« »Monsignor da Silva war ein Ehrenmann, wie man ihn heute nicht mehr findet. Er hat sich seinerzeit dafür verbürgt, die Botschaft persönlich dem Heiligen Stuhl zu übergeben!« »Du hattest auch danach noch häufiger Kontakt zum früheren Erzbischof von Leiria. Wie erklärte er dir, daß deine Niederschrift nie die ihr gebührende Beachtung fand?« »Er sagte, er habe sie 1957 eigenhändig in dem versiegelten Umschlag nach Rom gebracht und dem Offizium übergeben. Ob Pius XII. sie jedoch gelesen hat, wußte er nicht zu sagen. Pius starb im Jahr darauf, zwei Jahre also, bevor der Inhalt der Weissagung öffentlich gemacht werden sollte. Seitdem habe ich nichts mehr davon gehört. So kann das Unheil seinen Lauf nehmen, ohne daß irgend jemand es noch aufzuhalten vermag … Allmächtiger Gott im Himmel, ich wünschte, ich könnte es aufhalten. Aber …« Tränen brachen aus den von runzliger Haut umgebenen Augen, deren blasses Blau den Eindruck erweckte, in seichtes Meerwasser zu blicken. »… aber ich erinnere mich selbst nicht mehr an den Inhalt der Weissagung!« »Wie konnte das geschehen?« »Wenn ich das wüßte. Nachdem ich alles niedergeschrieben hatte,
war nicht nur meine Seele erleichtert, sondern auch mein Gedächtnis. Ich schloß das Pergament in einen Umschlag ein und übergab sie dem Erzbischof da Silva. – Mutter Oberin, etwas Schreckliches steht uns bevor. Zeichen werden von Anfang und Ende künden. An mehr erinnere ich mich nicht …« Als Lucia dos Santos, die nunmehr greise Seherin des kleinen Dörfchens Fatima verstummte, fand auch die Äbtissin des Karmeliterklosters keine Worte mehr, die ihr der Situation angemessen erschienen wären. Schweigend erhob sie sich von ihrem Stuhl. »Ich werde jetzt –«, setzte sie gerade zur Verabschiedung an, als die Tür der spartanischen Unterkunft mit heftigem Schwung aufgerissen wurde und eine aufgeregte Ordensschwester den Raum ohne die üblichen Gebote des Anstands und der Rücksichtnahme stürmte. Entsprechend hob die Äbtissin zu einem Tadel an: »Schwester Severin …« Doch die eingetretene Ordensschwester ließ auch jeden sonstigen Respekt missen. Atemlos fiel sie der Mutter Oberin ins Wort: »Kommt! Kommt schnell! Die Nachrichten … Ihr müßt sie euch anschauen, bitte fragt nicht lange!« »Nachrichten?« Die Äbtissin hatte sich nun vollends vom Stuhl erhoben, machte jedoch keine Anstalten, der hastig hervorgestoßenen Aufforderung zu folgen. Schwester Severins Stimme überschlug sich, als sie »Jerusalem!« schrie und hinzufügte: »Die Heilige Stadt … Sie geht unter …! Sie bringen es gerade in den Nachrichten! Kommt, ich bitte euch! Die anderen haben sich bereits im Aufenthaltsraum versammelt! Man braucht euch! Man erwartet eine Stellungnahme von euch …« … geht unter! hallte es wie ein Echo im Schädel der Äbtissin nach. Benommen folgte sie der Schwester, die sie am Arm gefaßt hatte und nun förmlich zwang, ihr nach draußen zu folgen und Lucia dos Santos’ Unterkunft zu verlassen. Jerusalem?
Der Luftzug, mit dem die Tür wieder zuschwang und ins Schloß geworfen wurde, blies die Kerze neben der bettlägerigen Alten aus. Die Dunkelheit senkte sich wie ein erstickendes Tuch über die einundneunzigjährige Frau, die vor langer Zeit von der Vorsehung berührt worden war. Sie und zwei andere Kinder, die aber längst als Greise gestorben waren … Lucia dos Santos starrte in die Dunkelheit. Jerusalem geht unter! echote es auch in ihr. Dann begann ihr der Schweiß auszubrechen. Binnen Sekunden waren ihr Nachthemd und die Zudecke vollkommen mit Feuchtigkeit durchtränkt, während das Herz der alten Frau immer stakkatoartiger trommelte, während sich ihre Brust immer wieder schmerzhaft zusammenzog und es wie glühende Nadeln durch ihre Arme bis hin in die gichtkrummen Finger stach. Furchtsam, weil immer noch am Leben hängend, versuchte sie den Knopf zu erreichen, mit dem sie Hilfe rufen konnte. Vergebens. Wie gelähmt lag sie da. Ihre Muskeln und Gliedmaßen gehorchten ihr nicht mehr. Übergangslos floh der Schmerz, schien alles Fleisch, das ihre morschen Knochen ummantelte, zu ertauben. Lucia dos Santos lag da, als bestünde die Dunkelheit aus einer schnellhärtenden Masse, in der sie einzementiert worden war. Und dann – – schwebte plötzlich eine Wolke, weißer als Schnee, über ihrem Bett! Eine Wolke, die die Konturen einer menschlichen Gestalt annahm … Heilige Jungfrau Maria …! »Jerusalem geht unter«, wiederholte die überirdisch schöne, mädchenhafte Gestalt traurig, was Schwester Severin vorhin gerufen hatte. »Nun beginnt, was nicht mehr aufzuhalten ist. Die Stadt, in der mein und Gottes Sohn ans Kreuz genagelt wurde, stirbt, und ihr Untergang ist –«
– das erste der prophezeiten Zeichen! Lucia schrie qualvoll auf. Zumindest von ihrer Zunge war die Lähmung gewichen. Und auch von ihrer Erinnerung! Ja, sie erinnerte sich wieder! Sie erinnerte sich, daß es insgesamt sieben Zeichen geben würde, nach deren Eintreffen eine schreckliche Züchtigung über die Welt und die Menschen kommen würde. Die dritte Weissagung von Fatima, von Lucia selbst dereinst niedergeschrieben, warnte vor diesem Moment. Schockiert versuchte sich Lucia der anderen sechs Zeichen zu erinnern. Aber es gelang ihr nicht. Und die Marienerscheinung sagte: »Der Satan zerstört Jerusalem. Er läßt die Maske fallen. Die Menschen fliehen blind vor seinen Knechten. Und nach dem Untergang der Stadt werden die Apostel der Letzten Tage die nächsten Zeichen säen! Die Menschheit ist verloren! Ihr steht Schlimmeres als der Tod bevor: Ein Leben im Schatten! Ein Leben in Angst, ewiger Furcht! Sie haben dir nicht zugehört, sie haben dir nicht geglaubt, Lucia, mein Kleines, und nun ist es zu spät. Nun kann ich dich nicht von der Schuld freisprechen, daß du versagt hast. Büße deshalb dein Versagen. Werde mein Zeichen. Meine letzte Warnung, die zu lesen jene imstande sind, die das dritte Geheimnis kennen. So gering die Hoffnung auch sein mag, daß einer von ihnen das Unheil noch abwendet, sie besteht. Sie besteht, bis die Glocke des Untergangs zum siebten Mal geschlagen hat. Dann aber … Dann aber wird Finsternis einkehren in die Herzen und in die Seelen derer, für die mein Sohn gestorben ist …« Die leuchtende Erscheinung über Lucia verblaßte. Es sah aus, als würde sie zu einem winzigen Punkt zusammenschrumpfen, um schließlich lautlos wie ein sterbender Funke zu verlöschen. Lucia war ganz schwindelig geworden von den Ausblicken, die ihr die Muttergottes viele Jahrzehnte nach der letzten Begegnung er-
neut gewährt hatte. Nach und nach kehrte die Gewalt über ihren Körper zurück, so daß sie es bereits überstanden zu habe meinte. Doch dann setzte das ein, was die Marienerscheinung angekündigt hatte. Büße dein Versagen! Lucia schrie gellend auf. Sie war nie mit einem Mann zusammen gewesen, und folglich konnte sie auch nicht wissen, wie sich der Schmerz anfühlte, den jede Frau durchlitt, bevor sie den Lohn ihrer größten Qualen in Händen halten durfte. Noch lauter schrie die alte Frau. In den Pausen zwischen den Schmerzen sank sie erschöpft in sich zusammen. Sie wußte nicht, was geschah, aber sie konnte es … fühlen, wie es wuchs. In ihr … Heilige Jungfrau Maria, was hast du mir angetan?
* »… und die Gesegnete Stadt wird aus der Hand des Versuchers selbst den Untergang erfahren. Zur hellen Tagesstunde wird sich Nacht herniedersenken und alles Leben tilgen. Dies aber wird das erste Zeichen sein …« Aus der dritten Weissagung
Die Äbtissin des Karmeliterklosters zu Coimbra sah und hörte nicht länger, was um sie herum vorging. Für einen zeitlosen Moment lief das Leben wie ein Film vor ihr ab. Den Blick auf die Mattscheibe des Fernsehgeräts geheftet, das im Aufenthaltsraum aufgestellt war, versank sie in einer Flut von Bildern und Worten.
Ein Nachrichtensprecher, hinter dem ein nebulöses, wolkenartiges Gebilde eingeblendet war – offenbar war es mittels hochmoderner Infrarottechnik aus dem Dunkel der Nacht herausgeschält worden – erklärte gerade: »… erreichten uns erste Bilder via Satellit, die uns ein CNN-Team übermittelte. Der Blick der Kamera ist auf die Berge von Jerusalem gerichtet. Alt- und Neustadt sind hinter einer Art … Wolke verschwunden. Bis zur Stunde wissen wir nicht, ob es sich um Staub oder Asche oder sogar um beides handelt. Jeder Kontakt nach Jerusalem ist abgebrochen. Etwas Furchtbares muß dort geschehen sein! Inzwischen geht das Gerücht, die israelische Regierung habe ein Kampfgeschwader ins Luftterritorium der Stadt entsandt, das in die Wolke eindrang und dann spurlos verschwand …«* »Mutter Oberin … sagt, ist das ein … ein Schwindel?« Die Äbtissin interessierte sich nicht dafür, wer die Frage an sie richtete. Ohne den Blick von der Nachrichtenübertragung abzuwenden, fragte sie, verblüfft über die Beherrschtheit ihrer Stimme: »Was meinst du mit Schwindel?« Daß ihnen eine Lüge aufgetischt wurde, hatte sie nicht einen Moment in Betracht gezogen. »Ich meine, ist das vielleicht nur eine Fiktion?« erwiderte die Ordensschwester – Mary, wie die Äbtissin nun erkannte – in schwankendem Tonfall. »Es kann doch nicht wirklich sein, daß …« Schwester Mary schwieg kurz, räusperte sich und fügte leise, fast flüsternd hinzu: »Aber dies hier ist ein seriöser Sender, und niemand würde solche Scherze mit der Heiligen Stadt treiben … Niemand würde das …« Die Äbtissin schwieg, weil es nichts darauf zu antworten gab. Es war kein Scherz. Es handelte sich nicht um die Dokumentation einer fiktiven Katastrophe, sondern um die nackte und schonungslose Wahrheit! Ohne es zu wollen, mußte die Äbtissin ausgerechnet in dieser Si*siehe VAMPIRA T50: »Armageddon – Die letzte Schlacht«
tuation an Lucia dos Santos denken, die viele Jahre im Kloster der heiligen Dorothea in Oporto gelebt hatte, bevor sie nach Coimbra umgesiedelt war. Nicht ganz freiwillig. Papst Johannes Paul I. – der »lächelnde Papst« – hatte es in der kurzen Spanne, die er in Amt und Würden gewesen war, veranlaßt … Die Äbtissin stoppte den Flug ihrer Gedanken. Sie fühlte die Augen aller Versammelten auf sich gerichtet. Aber statt ihnen Mut und Trost zuzusprechen, kehrte sie den Schwestern abrupt den Rücken und eilte zur Tür hinaus. Ohne auf die Rufe, die sie zurückzuhalten versuchten, zu achten, lief sie den ganzen Weg bis zu Lucias Unterkunft zurück. Schon von weitem hörte sie gräßliche Schreie, die alle diffusen Ahnungen, von denen sie heimgesucht wurde, zu untermauern schienen. Die alte Lucia brüllte, als litte sie Höllenqualen. Schnell öffnete die Äbtissin die Tür. Sie erwartete, Lucia im Sterben liegend anzutreffen. Einmal hatten die Aufregungen und Ereiferungen ja ihren Tribut fordern müssen … Es war stockfinster im Raum. Zwar gab es elektrisches Licht, aber Lucia hatte es stets verpönt und Kerzenschein vorgezogen. Die Äbtissin machte sich nicht die Mühe, eine neue Kerze anzuzünden. Ihre Hand klatschte auf den Schalter links an der Wand. Eine Glühbirne flammte auf. Sie vergoß trübes, gelbes Licht. Aber es genügte, um die Äbtissin das schreckliche Wunder schauen zu lassen. Lucia dos Santos, die einundneunzigjährige Greisin, lag immer noch in ihrem Bett. Aber sie hatte die Zudecke von sich gestrampelt, so daß ihr abgemagerter Körper vollständig zu sehen war. So lag sie da auf ihrem Rücken, der ewig wund war, weil sie aus eigener Kraft nicht mehr aufstehen konnte, während ihr Bauch … … aufgebläht war wie ein Ballon! Die Hand der Äbtissin fand den Weg in die Tasche ihrer Kutte
und schloß sich um die Perlen des Rosenkranzes. Mit zitternder Stimme leierte sie das Gebet herunter, das auf ihre Zunge drängte. Dann drehte sie sich auf dem Absatz herum und floh aus dem Raum. Wie von Furien gehetzt. Und in den Grundfesten ihres Glaubens erschüttert …
* Gegenwart, Oktober 2000 Die untergehende Sonne ließ Moskau in Flammen aufgehen. Diesen Eindruck jedenfalls hatte Max Beaderstadt, als er den Blick vom Fenster seines hiesigen Refugiums aus über die Dächer der Stadt schweifen ließ. Und fast wünschte er sich, es wäre so. Daß Moskau niederbrannte. Oder daß irgend etwas anderes geschehen möge, etwas Großes, das Verwirrung stiftete und alle Aufmerksamkeit band und von ihm ablenkte. Max Beaderstadt gab einen Laut von sich, der als freudloses Lachen gedacht war und dann doch viel mehr einem Schluchzen ähnelte. Ein widerwärtig erbärmlicher Ton war es. So erbärmlich, wie Max Beaderstadt sich fühlte. Weil er versagt hatte. Weil er ihr sein Versagen eingestehen mußte. Und weil er wußte, wie sie mit Versagern umzuspringen pflegte … Als Max Beaderstadt aus Sydney aufgebrochen war, hatte er wie abschiednehmend aus dem Fenster seines privaten Learjets geschaut. Weil er tatsächlich nicht sicher sein durfte, seine Heimatstadt wiederzusehen. Nicht wirklich lebend zumindest … Der Max Beaderstadt, den die Welt kannte, schien in Sydney zurückgeblieben zu sein. Der Mann, der jetzt in der Moskauer Nieder-
lassung von Beaderstadt Industries am Fenster des feudalen Direktionsbüros stand, hatte kaum noch etwas mit dem als spleenig geltenden Multimilliardär und Herrscher eines weltumspannenden Firmennetzes zu tun. Max Beaderstadt empfand sich selbst als fremd. Ganz so, als stehe er im wörtlichen Sinne neben sich, als stummer und unsichtbarer Beobachter. Gott, hätte er es doch nur gekonnt! Wäre es doch wirklich so! Wieder stieß Beaderstadt diesen unangenehmen Laut aus, und abermals verabscheute er sich dafür. Wie er auch den Mann verabscheute, zu dem er in Erwartung ihres Besuches geworden war: klein, schwach – bedeutungslos …? Bedeutungslos genug, daß sie auf ihn und seine Hilfe, die Nutzung seiner Verbindungen und seines Einflusses verzichten konnte? Aus diesem Gedanken versuchte Max Beaderstadt Zuversicht zu schöpfen. Er hoffte, daß er – und vor allem seine Position in der Weltwirtschaft – wichtig genug war, um sie von vorschnellem Handeln und drakonischen Strafmaßnahmen Abstand nehmen zu lassen. Er würde ihr überdies versichern, daß er seinen Fehler wieder gutmachen würde. Und er mußte ihr verdeutlichen, wie bedeutsam es für ihre gemeinsame Sache sein konnte, wenn sie der Chimäre namens Lilith Eden habhaft wurden! All dies aber war tausendfach leichter gedacht als getan … Max Beaderstadt wußte, daß es auf viele Dinge ankommen würde: auf die richtigen Worte etwa, ebenso auf den passenden Ton und die rechte Gestik … Und selbst dann blieben noch unwägbare Faktoren: ihre Laune beispielsweise … Jenseits der Scheibe versank Moskau in Dämmerlicht, in das die Dunkelheit floß, als gieße man Tinte in Wasser. Und je mehr die Helligkeit draußen schwand, desto deutlicher sah Beaderstadt sein Spiegelbild auf dem Glas, durchscheinend wie ein Geist, buchstäb-
lich nur ein Schatten seiner selbst. Er verzog die dünnen Lippen zur Andeutung eines Lächelns; die beiden Bartspitzen, die ihm links und rechts des Kinns wuchsen, zuckten schwach. Beaderstadt seufzte, einem steinalten Mann gleich, schwer und gequält, als entfliehe ihm der allerletzte Atem. Wie stark er doch sein könnte! Wenn sein Wille nur stärker gewesen wäre, jenem anderen überlegen, der tief in ihm nistete und dem er sich unterzuordnen hatte – wann immer diesem fremden Etwas der Sinn danach stand … Max Beaderstadt wandte sich vom Fenster ab und drehte sich schwerfällig um. Sein Blick strich durch den riesigen Raum, der jetzt zu weiten Teilen im Dunkeln lag. Nur am Kopfende, wo der imposante Schreibtisch stand, an dem auch Zaren schon gesessen hatten, schuf eine einsame Lampe ein Insel aus gelbem Licht, das sich aber an den Rändern des antiken Möbelstücks schon beinahe verlor. Tiefe Schatten bevölkerten das Dunkel ringsum, kompakter als die Finsternis, materiell. Sie ängstigten Max Beaderstadt nicht, im Gegenteil bescherten sie ihm ein Gefühl der Vertrautheit, das Gefühl, immer noch Herr wenigstens dieser Dinge zu sein. Aus aller Welt hatte er sie zusammengetragen beziehungsweise zusammentragen lassen. Historische Zeitzeugen jedweder Gestalt – Statuen, Waffen, Folianten, Tafeln, Kunstschätze und dergleichen. All dies zu sammeln bedeutete Max Beaderstadt mehr als nur ein Hobby; es war eine Leidenschaft, die an Besessenheit grenzte, bisweilen darüber hinausging und ihm letztlich noch zum Verhängnis geworden war. Wie von selbst kehrte der Gedanke an das Fremde, das in ihm war, in Beaderstadts Denken zurück, kroch durch seine Gehirnwindungen, als wäre der bloße Gedanke daran schon lebender Teil dieses Etwas, dessen Vorhandensein der Milliardär seiner Obsession zu verdanken hatte. Als sei es seine Strafe dafür, daß er den Rest der
Welt um diese Stücke von unschätzbarem Wert betrog … Wüßte er es doch nur zu beherrschen – wie einfach wäre alles gewesen! Und wie wenig hätte er sie dann zu fürchten gehabt! Sie … Selbst in Gedanken vermied Max Beaderstadt ihren Namen, dessen lieblicher Klang über ihre wahre Natur hinwegzutäuschen versuchte. Und dann, urplötzlich, entfuhr er ihm doch, einem Ruf des Erschreckens gleich. Kalt wie ein eisiger Wind strich er ihm über die Lippen. Als sie sich aus den Schatten löste, in deren Netz sein Blick sie nicht zu sehen vermocht hatte. »Irina …!«
* Vollkommen lautlos trat sie auf ihn zu, als berührten ihre Füße den Boden nicht. Ihre Bewegungen war katzenhaft und lasziv in einem, und ihre gesamte Erscheinung verursachte Beaderstadt ein fast schmerzhaftes Brennen in den Lenden, derweil er alle Mühe hatte, sich sein Schaudern nicht anmerken zu lassen. Wie vergeblich, geradezu lächerlich sein Versuch war, bewies ihm nicht zuletzt Irinas spöttisches Lächeln. Sie wußte nur zu gut, wie sie auf jeden Mann wirkte, ganz gleich, in welchem Verhältnis er zu ihr stand. »Wie …«, setzte Max Beaderstadt an, räusperte sich und fuhr dann mit kaum festerer Stimme fort, »… wie lange bist du schon hier?« Sie zuckte die Schultern. »Eine Weile.« Eher unbewußt durchquerte Beaderstadt den Raum und schloß die Tür zum Vorzimmer. Zwar hatte er die Mitarbeiter, die auf dieser Etage des Firmengebäudes tätig waren, bereits vor Einbruch der Dämmerung nach Hause geschickt, damit niemand seine Besucherin
sah (und damit ihr niemand zum Opfer fiel!), aber er wollte verhindern, daß jemand auch nur zufällig Zeuge seiner Begegnung mit Irina wurde, ein übereifriger Mann vom Wachdienst etwa. Nicht zuletzt handelte er damit auch in Irinas Sinn. Immerhin hatte sie selbst sein Büro in Moskau als Treffpunkt vorgeschlagen (gefordert war wohl der passendere Ausdruck). Bei vorherigen Treffen waren sie einander bisweilen in Hotelzimmern begegnet, ab und an auch an verschwiegenen Orten außerhalb der Stadt. Nie aber hatte Irina ihn zu sich bestellt. Wo sie »lebte«, wußte Beaderstadt demzufolge nicht – und damit stand er vermutlich nicht allein. Irina ließ nicht die allergeringste Sicherheitsregel außer acht. Ihre heutige Position, ihre Macht und ihre absolute Bedeutung für »die Sache« kamen nicht von ungefähr. Auch diese Raffinesse, Irinas Voraus- und Umsicht zählten zu den Gründen, aus denen Max Beaderstadt sich klein und hilflos fühlte im Vergleich zu ihr, nichtig geradezu, obschon er in der Hierarchie ihres Bundes auf oberer Ebene rangierte. An der Spitze indes gab es nur einen Platz – den Irina ganz allein besetzte. Und diese Spitze ragte weit über alles andere auf! Als Max Beaderstadt sich wieder umdrehte, war Irina verschwunden, in die Schatten eingetaucht, einer von ihnen geworden. Eine Weile lauschte er angestrengt, aber er hörte nichts außer seinem eigenen Atem und dem harten Pochen seines Herzens, das ihm wie dumpfer Trommelschlag vorkam. »Es gibt also Probleme?« Irinas Stimme kam aus dem Nichts. »Ja, wie ich schon sagte …«, erwiderte Beaderstadt. Sein Blick irrte hin und her. Und er berichtete, wie er in Sydney auf Lilith Eden, die Hybridin, aufmerksam geworden war. Davon, daß er sie ausfindig gemacht hatte, weil er sie ihrer aller Sache, ihrem gemeinsamen Ziel zunutze machen wollte – als stärkste, mächtigste aller Chimären! Mit seinem Sohn Armand hatte er sie vermählen wollen, um ein wahres Über-
wesen zu schaffen – und war gescheitert …* Max Beaderstadt verstummte. Und Irina schwieg. Die Stille wurde zu etwas Erstickendem, wie Gift, das die Luft durchwob und Beaderstadt den Atem nahm. Nervös begann er an seinem Kragen zu nesteln, immer unruhiger werdend, und schließlich empfand er sich ankündigende Panik. Als Irina endlich aus dem Dunkeln trat, fühlte sich der Milliardär geradezu erleichtert, obwohl ihre Miene keinen Zweifel daran ließ, was sie am liebsten mit ihm getan hätte. Er hob die Hände, nicht zu hastig, nicht zu ergeben; die Geste sollte beruhigend wirken, nichts sonst. »Es besteht kein Grund zur Sorge«, sagte er dann, nicht entschuldigend, sondern wiederum nur beruhigend, »wir …« Ein Blitzen in Irinas Blick unterbrach ihn. »Du hast mich enttäuscht, Max« sagte sie leise. Gefährlich leise. Beaderstadt schluckte. Aber er wich ihrem Blick nicht aus. Er bewahrte Haltung. Er war nicht irgendwer! Und er war nicht allein … Lautlos rief er nach dem, was in ihm hauste, Geist und Leib mit ihm teilte und sich beider bediente, wenn es seinen Zielen zuträglich war. Aber erhielt keine Antwort. Nur etwas wie eine … Regung verspürte er. Als erwache etwas in ihm, einem schlafenden Tier gleich, das träge ein Auge öffnete, weil es in seiner Ruhe gestört worden war. Doch allein aus diesem Gefühl zog Beaderstadt Kraft. Ein wenig jedenfalls. Und genug, um vor Irina nicht im Staub zu kriechen. »Du mißverstehst die Situation«, wandte er ein. »Gib mir nur etwas Zeit, und ich werde diese Chimäre finden und töten! Ich –« »Du verstehst nicht« gab Irina kalt zurück. »Diese Chimäre, wie *siehe VAMPIRA T53: »Chimären« und T54: »Über den Tod hinaus«
du sie nennst, ist womöglich wertvoller für uns, als du es dir vorstellen kannst. Dein Versagen liegt daran, sie entkommen zu lassen.« »Aber …«, begann Beaderstadt – und verstummte, als er sich darüber klar wurde, daß nicht einordnen konnte, auf was Irina hinauswollte. Der einzige Fakt, dessen er sicher sein konnte, war sein Scheitern – und die Strafe, die Irina Versagern zuteil werden ließ. Hilf mir! flehte er stumm in die Tiefe seines Ichs hinab, hoffend, daß Irina die Zweigleisigkeit seines Denkens nicht bemerkte. »Dieses Wesen ist keine Laune der Natur, keine abnorme Hybridin«, fuhr Irina fort. »Sie ist eine Vampirin!« »Eine … Vampirin?« echote Beaderstadt. »Aber es gibt keine –« »Du ahnst nicht, wie recht du hast«, fiel Irina ihm ins Wort. »Aber aus anderem Grund. Ich weiß, daß es einst Vampire gab, daß sie aus dem Verborgenen über die Menschen herrschten. Und … daß sie vor fast genau zwei Jahren vom Antlitz der Erde verschwunden sind, von einem Tag auf den anderen. Wenn jetzt diese Vampirin auftaucht, muß sie das große Sterben irgendwie überlebt haben – oder die erste Vertreterin einer neuen Generation sein. Auf jeden Fall stellt sie ein Rätsel dar, das ich lösen muß.« Beaderstadt war verwirrt. Und verärgert. Bislang hatte er geglaubt, ein Vertrauter Irinas zu sein, wichtig genug, über solche Vorgänge informiert zu werden. »Hätte ich das gewußt, wäre ich die Sache anders angegangen«, erwiderte er, jetzt mit einer Schärfe im Ton, die ihn selbst fast überraschte. Er fühlte sich mit einemmal … nun, nicht wirklich stark, aber selbstsicherer als eben noch. Als festige ihn innerlich etwas, wie ein Korsett, das sein Ego stützte. Und rauh fügte er hinzu: »Und hättest du mich nicht hierher bestellt, könnte ich in Sydney längst Dinge in die Wege leiten …« »Du kritisierst mich?« fiel ihm Irina ins Wort. Beaderstadt zwang sich, ihrem Vorwurf mit starrer Miene zu be-
gegnen. »So würde ich das nicht nennen …« »Sondern?« »Du solltest mir Gelegenheit geben, die Angelegenheit zu unseren Gunsten zu bereinigen. Immerhin müßte das auch in deinem Sinne sein, nicht?« Irina trat einen Schritt auf ihn zu. »Ich möchte ehrlich zu dir sein, Max.« Ihr vertraulicher Ton war unüberhörbar aufgesetzt. »Ich habe dich nach Moskau befohlen, um dich … nun, zu bestrafen.« Beaderstadts Adamsapfel begann auf- und abzuhüpfen, als hinge er an einem Gummiband. Feiner Schweiß trat ihm auf die Stirn. Sein Blick flackerte. »Um mich zu … bestrafen?« echote er lahm. Irina nickte leichthin. »Ja. Um dich zu töten, Max.«
* »Aber …« Max Beaderstadts Lippen bewegten sich, ohne daß ein weiterer Ton darüber gekommen wäre. Laß es nicht zu! schrie er lautlos. Du darfst nicht zulassen, daß sie mich umbringt … Du KANNST es nicht zulassen! Etwas in ihm erwachte. Er spürte es. Aber noch unternahm dieses Etwas nichts. Es blieb wachsam, mehr nicht. Aber das genügte. Max Beaderstadt gewann seine Fassung zurück. »Du solltest dir das noch einmal überlegen«, sagte er gepreßt. »Ich kann immer noch viel für unsere Sache tun. Mehr als jeder andere …« »Ich habe es mir überlegt, Max«, antwortete Irina. »Sehr gründlich sogar.« Sie kam ein weiteres Stück näher, rückte fast schon auf Tuchfühlung heran. Ihre Hand kroch über seine Brust, seiner Kehle zu. Ihre Zeigefinger berührte seinen Hals, genau dort, wo das rasende Blut die Schlagader zucken ließ. Beaderstadt spürte Irinas scharfen Nagel auf seiner Haut, spürte
leisen Schmerz. Und er hörte ihre Stimme, rauchig, kehlig, animalisch fast. »Ich werde dich …« Der Schmerz nahm zu. Ihr Finger rückte um eine Winzigkeit zur Seite und bohrte sich millimetertief in seine Haut. Wärme, auf einen winzigen Punkt konzentriert. »… am Leben lassen, Max.« Irina trat zurück, lächelte grausam, kalt. Beaderstadt fror. Unwillkürlich fuhr er sich mit der Hand über den Hals, wischte das Blut, das aus der kleinen Wunde quoll, fort. »Ich danke dir«, sagte er heiser, kaum verständlich. »Ich hoffe, daß ich mein Wohlwollen nicht bereuen muß.« »Das wirst du nicht tun müssen«, versprach Beaderstadt, »sei dir dessen gewiß.« Irinas Blick bohrte sich förmlich in den seinen. »Sei vor allem du dir gewiß, Max, daß ich ein weiteres Versagen nicht dulden werde. – Du bist nützlich, sicher … aber du bist nicht unersetzlich.« »Ich … ich weiß.« Irina wandte sich zum Gehen. Auf halbem Wege hielt sich noch einmal inne. »Geh zurück nach Sydney, Max«, sagte sie, »und versuche alles, um der Vampirin habhaft zu werden – lebend! Halte mich über jeden eurer Schritte auf dem laufenden. Ist das klar?« »Natürlich«, versicherte der Milliardär eilfertig. »Wir werden uns der Vampirin annehmen – zu deiner und unser aller Zufriedenheit.« »Max?« »Ja?« »Du hast ja keine Ahnung, wie schwer es ist, mich zufriedenzustellen.« Irinas rauhes Lachen klang noch durchs Dunkel, als sie den Raum längst schon verlassen hatte.
* Seufzend zog Irina die Zähne aus dem Hals des jungen Burschen. Sie löste ihre Hand von seinem Nacken. Kraftlos sank der arme Kerl zu Boden, in den Unrat, der die schmale Gasse zwischen zwei Häusern fast knöchelhoch bedeckte. Irgendwo darunter raschelte und fiepte eine Ratte. Irina wischte sich die Lippen sauber und trat hinaus auf die Straße, setzte ihren Weg fort. Moskau … Sie hatte oft überlegt, was sie an diese Stadt band. Vielleicht lag es am Blut ihrer Menschen. Vielleicht gab es tatsächlich kleine, aber feine Unterschiede zwischen dem Blut verschiedener Völker. Wie zwischen den verschiedenen Jahrgängen ein- und derselben Rebsorte. Vielleicht auch nicht … Irina lächelte. Ein Mann, der ihr entgegenkam, bezog es auf sich, erwiderte das Lächeln – und ahnte nicht, wieviel Glück ihm in diesem Augenblick beschieden war … Die Vampirin dachte an Max Beaderstadt. Sie hatte nicht wirklich vorgehabt, ihn zu töten. Aber sie wollte, daß er es glaubte. Deshalb hatte sie ihm nicht einfach nur am Telefon gedroht, sondern ihn nach Moskau bestellt. Um ihm zu zeigen, welchen Respekt er ihr zu zollen hatte. Immerhin, er war auserwählt. Einer von wenigen, die mehr genossen als nur Irinas Gunst. Sie waren zu wahrhaft Großem berufen. Sie durften teilhaben an der Weissagung und ihrer Erfüllung dienen. Konnte es eine größere Aufgabe geben? Nicht nach Irinas Verständnis. Denn die Prophezeiung war ihr Leben, ihr ganzer Daseinszweck geworden, nachdem sie sich ihr offenbart hatte, damals im Vatikan, vor zweiundzwanzig Jahren.
Und nichts durfte ihr Ziel gefährden! Irina verlangsamte ihren Schritt. Sie konnte sicher sein, daß Max Beaderstadt und sein Gefolge alles in ihrer Macht stehende tun würden, um diese neu aufgetauchte Vampirin aufzuspüren. Eine Überlebende … Was war ihr Geheimnis? Wie hatte sie der Vernichtung im Jahre 1998 – über die Irina wenig mehr wußte, als daß sie geschehen war – entgehen können? Sie mußte über besondere Fähigkeiten verfügen. Oder war sie tatsächlich ein Neuanfang in der Historie der Vampire? Konnte dann die Macht bloßer Menschen genügen, sie zu bezwingen? Oder bedurfte es dazu einer ebenbürtigen, vielleicht sogar überlegeneren Kraft? Der einer Vampirin eben: ihrer eigenen. Der Gedanke an ihre Herkunft schien Irina seltsam unwirklich. Zwar trank sie noch immer Blut, um ihren Körper jung zu erhalten, doch ansonsten war alles aus ihr gewichen, was einst, vor der Begegnung mit dem Pergament, die Vampirin ausgemacht hatte. Sie übertrug nicht einmal mehr den Keim, der ihre Opfer zu Dienerkreaturen werden ließ. Vermutlich war dies auch der Grund dafür, warum sie als einzige der Vernichtung entgangen war: weil sie nun einer anderen Macht diente. Irina ging noch langsamer. Ließ den Blick schweifen. Moskau … Vielleicht würde sie die Stadt bald schon verlassen. Verlassen müssen. Richtung Sydney …
Epilog Anderthalb Wochen später Auf der nördlichen Erdhalbkugel begann es gegen Mittag dieses Tages aus zuvor völlig heiterem Himmel warnungslos und in sturzflutartiger Manier zu regnen. Über dem Kloster von Coimbra ballten sich fette schwarze Wolken, als wären sie aus dem Nichts dorthin gemalt worden. Die Äbtissin saß zu dieser Zeit in ihrer Amtsstube und überprüfte die Bilanzen des Winzereibetriebes, der dem ansässigen Orden der Karmeliter gehörte. Als sich der Himmel verdunkelte, blickte sie von ihren Papieren auf. In diesem Moment zuckte der erste Blitz aus den Wolken. Er fuhr geradewegs auf das Kloster herab und spaltete eine uralte Eiche in dem von Kreuzgängen umgebenen Innenhof. Das Fenster der Schreibstube wies zum Hof hin, so daß die Äbtissin, nachdem sich ihre Augen von dem blendenden Lichtzacken erholt hatten, genau in die lodernden Flammen des Baumes blickte, dessen Brand auch die herabstürzenden Wassermengen nicht zu ersticken vermochten. Kreidebleich wurde die Leiterin des Klosters. Sie hatte dergleichen schon viermal erlebt. Das erste Mal in der Nacht, als Jerusalem unterging. Und zuletzt vor wenigen Tagen. Jedesmal waren die abnormen Unwetter heftiger geworden. Und diesmal … »Das fünfte Zeichen«, murmelte die Äbtissin, das Gesicht wächsern und gelbstichig zugleich. Als sie sich erhob, tat sie es so hölzern und unkontrolliert, daß der Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, nach hinten kippte und zu Boden fiel.
Sie achtete nicht darauf. Ihr ganzer Körper prickelte und brannte, als läge er unter einem Ameisenhügel begraben und müßte dort erdulden, daß er über und über mit der Säure des Geziefers besprengt wurde. Langsam, jeder Schritt eine Mühsal, verließ sie die Stube und begab sich zu Lucias Zimmer, vor dem sich schon eine Traube von Schwestern versammelt hatte. Die Tür stand offen, aber dem Anschein nach hatte es niemand gewagt, den Raum dahinter zu betreten, aus dem das Wehgeschrei tönte, das normalerweise die Ankunft eines neuen Erdenbürgers begleitete. Die Mutigste war, wie beinahe üblich, Schwester Severin. Sie stand immerhin schon jenseits der Schwelle, als die Äbtissin sich einen Weg zu Lucia bahnte. Aber auch Severin hatte es offenbar nicht über sich gebracht, zu der greisen Seherin zu eilen und ihr den Beistand zu leisten, den sie brauchte. In der Qual ihrer … Wehen. Das vormals noch leise Gemurmel, das die furchtsamen Gebete der Ordensschwestern transportierte, schwoll hinter der Äbtissin zu einem Chor an, der sie selbst flüchtig an eine Satansbeschwörung denken ließ – an das völlig Entstellte des eigentlichen Sinnes also. Sie fröstelte. Und während das Brennen und Prickeln auf ihrer Haut erträglicher wurde, obwohl sie ihre Befürchtung bestätigt fand, fauchte sie in die Runde: »Holt endlich den Doktor! Seht ihr nicht, wie sie leidet?« Jemand löste sich aus der Menge und wankte durch den Korridor davon. Wenig später waren Schrittgeräusche zu hören, die verrieten, daß die Schwester zu rennen begonnen hatte wie vielleicht noch nie in ihrem Leben. Die Äbtissin ging zu Lucia und nahm die schweißnasse Hand der
Greisin in ihre eigenen Hände. »Schon gut. Dir wird gleich geholfen, mein Kleines …« Es war das fünfte Mal. Lucia starrte mit leerem Blick zu der Äbtissin empor. Ihr Gesicht war naß von Tränen, die der Schmerz aus den Augen gequetscht hatte. Eine Weile schien es, als wäre sie zu keinem Wort fähig. Dann krächzte sie: »Ich sehe Blut. Der Himmel weint Blut …!« Die Äbtissin drückte die runzlige Hand fester. »Es geht gleich vorbei!« Es war immer vorbeigegangen, dieses unerklärliche, entwürdigende Schauspiel. Lucias Fingernägel krallten sich ins Fleisch der Äbtissin, als der nächste Schub einsetzte. Die nächste Wehe. Niemand schien es freiwillig zu ertragen, aber alle Augen waren auf die alte Frau gerichtet, die Tochter eines einfachen Bauern aus Fatima, die dalag, die Knie leicht angezogen, als ließe sich der ziehende Schmerz dadurch besser ertragen, und der Bauch prall wie ein aufgeblasener Ballon, so gewaltig, daß jeder Betrachter unwillkürlich fürchtete, er könnte bersten. Die Äbtissin leistete Lucia Beistand, bis endlich der Arzt erschien. Er war schon die Male zuvor gerufen worden und eingeweiht. Noch während er seine Tasche auf dem Bett neben Lucia abstellte und mit geübten Bewegungen eine schmerzlindernde Spritze aufzog, wandte er sich vorwurfsvoll an die Äbtissin und fragte: »Wann wollen Sie es endlich melden? Wenn Sie es nicht wollen, werde ich es tun!« »Das dürfen Sie nicht, und das wissen Sie. Sie haben einen Eid geschworen.« »Und sie glauben nicht, daß mich das hier …«, er zeigte mit der Injektionsnadel auf Lucia dos Santos, »… von jedem Eid entbindet?«
»Nein.« Mit einem ärgerlichen Brummen auf den Lippen widmete sich der Arzt seiner Patientin. »Die fünfte Scheinschwangerschaft … bei einer Dreiundneunzigjährigen! Ich muß den Verstand verloren haben, daß ich mich darauf einlasse …!« »Wir alle haben den Verstand verloren – aber hielten Sie es für eine Alternative, daß auch der Rest der Welt ihn verliert?« fragte die Äbtissin tonlos. Der Doktor schwieg. Lucia seufzte erleichtert, als das Morphium seine Wirkung entfaltete. Der Einsatz der Droge gefährdete kein sonstiges Leben außer dem ihren. Der aufgeblähte hohle Bauch war leer. Zumindest hoffte dies ein jeder, der Lucia dos Santos in ihrem Siechtum zu sehen bekam. Bislang war jede dieser Pseudoschwangerschaften ebenso abrupt wieder abgeklungen, wie sie eingesetzt hatte. Eine Greisin gebar kein Kind mehr. Aber was hatte es dann zu bedeuten? Sieben Zeichen hatte Lucia prophezeit. Und ein jedes dieser Zeichen erkannte sie erst, wenn es eingetreten war. Sämtliche Details dessen, was sie einst niedergeschrieben und dem Vatikan übergeben hatte, hatte sie vergessen. Es war eine Tragödie. Für die ganze Menschheit. Aber auch für Lucia ganz persönlich. Die Äbtissin saß bis zum Einbruch der Dunkelheit neben dem Bett der gestraften Seherin. Niemand sonst störte länger die Ruhe der Alten. Die Wehen waren abgeklungen, der Bauch wieder flach. Wie im Delirium hatte Lucia das fünfte Zeichen geschildert: Ströme von Blut, die vom Himmel fielen … Die Äbtissin starrte auf die arme alte Frau hinab, deren Züge sich selbst im Schlaf nur langsam entspannten.
Was soll ich tun? dachte sie. An wen soll ich mich wenden? Wer könnte dir – und uns – helfen? Den Heiligen Stuhl schloß sie als Möglichkeit aus. Sie hatte unerklärliche Angst, die Vorgänge dorthin zu melden. Als sie sich schließlich erhob und ihre einsame Wacht am Bett der Seherin beendete, war ihr letzter Gedanke, bevor sie den Raum verließ: Was, wenn uns keine zwei Zeichen mehr als Frist bleiben, sondern nur noch eines? Was, wenn Lucia selbst ein Zeichen ist? Leise schloß sie die Tür und ging in die Stille, voller Angst. Und ohne Hoffnung. ENDE
Die Prophezeiungen von Fatima Manch einer mag die »dritte Weissagung«, um die sich die Handlung der VAMPIRA-Romane derzeit dreht, für eine Erfindung der Autoren halten. Die Wahrheit ist: Sie existiert wirklich! Schon im Jahr 1915 sahen die Hirtenkinder Lucia dos Santos, Jacinta und Francisco Marto beim Beten in der Nähe des kleinen Dörfchens Fatima in der portugiesischen Provinz Estramadura eine seltsame Erscheinung über den Bäumen des Tales schweben: eine Wolke »weißer als Schnee, durchscheinend und von menschlicher Gestalt«. Auch im darauffolgenden Jahr kam es während der Gebete der Kinder zu unerklärlichen Sichtungen. Mehrmals kreuzte eine Lichtgestalt, die wie ein von der Sonne durchdrungener Kristall strahlte, die Wege der drei Spielgefährten in einer drei Kilometer von Fatima entfernten Senke namens Cova da Iria, wo sie die Schafe ihrer Eltern hüteten. In eben dieser Senke kam es dann erstmals am 13. Mai 1917 zu einer Muttergottes-Erscheinung, die sich von da an allmonatlich bis zum Oktober desselben Jahres wiederholte. Lucia, Jacinta und Francisco erfuhren an diesen Tagen, speziell an jenem 13. Oktober 1917 Dinge, von denen die Öffentlichkeit bis zum heutigen Tage nur bruchstückhaft in Kenntnis gesetzt wurde. Bei der dritten Wiederkehr verkündete Maria, die Mutter Jesu Christi, den Kindern drei Botschaften, von denen zwischenzeitlich zwei bekanntgegeben wurden. Die dritte und dramatischste aber schlummert noch immer in den Geheimarchiven des Vatikans. Sie erlangte unter der Bezeichnung »Das Geheimnis von Fatima« oder »Die Dritte Botschaft von Fatima« weltweite Berühmtheit, gerade weil um ihren Inhalt soviel Geheimniskrämerei betrieben wurde und wird. Die erste der insgesamt drei Botschaften war eine Höllenvision, die den Seherkindern zeigen sollte, wohin die Verderbtheit der
Menschen führen würde. In der zweiten sprach die Muttergottes vom baldigen Ende des damals bereits im dritten Jahr tobenden 1. Weltkrieg und warnte zugleich vor dem nach trügerischem Frieden drohenden nächsten Weltkrieg. Eine Woche vor dessen Beginn flackerte ein grandioses, beängstigendes und bis heute ungeklärtes Lichtphänomen über den Nachthimmel, das viele als das in der Fatima-Botschaft erwähnte »Zeichen am Himmel« deuteten. Über den wahren Inhalt der unter Verschluß gehaltenen dritten Weissagung von Fatima darf weiter spekuliert werden. Sie wurde von Lucia dos Santos erst im Jahr 1943 niedergeschrieben, und zwar in portugiesischer Sprache – 26 Jahre nach den Erscheinungen. Lucia selbst sagte dazu, von ihren Kritikern befragt, die ihr vorwarfen, nach so langer Zeit nur noch verfälschte Erinnerungen an die damaligen Geschehnisse zu besitzen: »Ich weiß, daß ich nichts sage noch schreibe, was von mir kommt, und danke Gott für den Beistand des Heiligen Geistes, der, wie ich spüre, mir das eingibt, was ich schreiben oder sagen soll …« Der Inhalt der dritten Weissagung sollte nach dem ausdrücklichen Willen der Muttergottes 1960 der Welt von dem zu dieser Zeit amtierenden Papst verkündet werden. Das geschah jedoch nie. Pius XII. verstarb zwei Jahre vor diesem Datum, und sein Nachfolger, Johannes XXIII. soll den Erhalt des versiegelten Umschlags mit der Fatima-Botschaft mit den Worten kommentiert haben: »Ich behalte mir vor, es mit meinem Beichtvater zu lesen.« Das Dokument ruhte fortan im Schreibtisch seines Gemachs. Der Wille der Muttergottes wurde nicht erfüllt. 1960 verstrich, und die Welt wurde um das für sie bestimmte Wissen betrogen. Bis heute. Über diplomatische Kanäle gelangte irgendwann ein Text an die Öffentlichkeit (und damit auch, für jeden nachlesbar, ins Internet), bei dem es sich angeblich um eine »frei nacherzählte« Version der tatsächlichen Niederschrift Lucias handeln soll. Darin ist von der »großen Züchtigung« die Rede, die zum Millenium über die
Menschen kommen soll. Und weiter: »… die Großen und Mächtigen werden so hilflos sein wie die Kleinen und Schwachen … Kardinäle werden gegen Kardinäle und Bischöfe gegen Bischöfe sein! Die Kirche wird sich verfinstern, und die Welt gerät in große Bestürzung. Zur Jahrtausendwende wird eine Zeit kommen, da die Kirche in höchste Not gerät. Helle Flammen werden aus den Gemächern des Vatikans schlagen, wo es zu scheußlichen Szenen kommen wird … Die Zeit der Zeiten kommt und das Ende …« Was es mit diesen Weissagungen auf sich hat, können auch die VAMPIRA-Autoren nur mutmaßen. Und genau das haben wir mit diesen Bänden getan. Darin wird nicht etwa, wie vielfach befürchtet, das Ende der Welt den Hirtenkindern von Fatima prophezeit, sondern … Aber das wird natürlich erst im Laufe der Serie verraten. Die Geschwister Marto starben übrigens schon sehr bald nach den Marienbegegnungen an den Folgen der grassierenden Spanischen Grippe, Francisco 1919 und im Jahr darauf Jacinta. Nur Lucia dos Santos wurde alt. Sehr alt. Sie trat 1921 dem Kloster der heiligen Dorothea bei, 1948 wechselte sie ins Karmeliterkloster von Coimbra, wo sie fortan in strenger Klausur lebte. Und immer noch lebt, ängstlich der Dinge harrend, die da unaufhaltsam kommen werden? Adrian Doyle
Das Werkzeug Leserstory von Klaus Giesert Ich habe ein ungutes Gefühl. Eine böse Ahnung, ja, die drängende Gewißheit, daß etwas Schlechtes geschehen ist. Etwas Schlechtes, bei dem ich mitgewirkt habe. Dieses Gefühl wühlt sich durch meinen Geist, rumort in meinen Eingeweiden und stört meinen Schlaf, nimmt mir jeden Appetit und die Fähigkeit, mich auf andere Dinge zu konzentrieren oder auch nur aufmerksam zuzuhören. Ich hasse dieses Gefühl der Unsicherheit, dieses Gefühl, benutzt und betrogen worden zu sein, offenen Auges und reinen Gewissens einer anderen Sache dienlich gewesen zu sein, die mir nicht nur unbekannt, nein, die mir womöglich aufs Höchste zuwider gewesen wäre … oh, mon Dieu … Wenn ich es nur wüßte … Wenn ich doch nur wüßte, daß ich mich irre, daß mein Gefühl mich täuscht, daß es meine Sinne gewesen sind, die mich im Stich gelassen und betrogen haben … Doch tief in meinem Innersten spüre ich, daß ich richtig liege – man hat mich betrogen und benutzt … Wie gern würde ich mich selbst verfluchen wegen meiner Kurzsichtigkeit und dem fehlenden Geschick, solche Dinge früher zu erkennen … oder zumindest, solche Dinge dann nicht erst im nachhinein zu bemerken, damit sie mir die Ruhe nehmen und mich in ein Dilemma stürzen können … Alors, ich bin ein Handlanger des Todes, sein verlängerter Arm. Ich lebe in Paris, und das heißt in diesen Tagen, daß ich im Zentrum des Universums stehe – oder vielleicht auch nur mitten in der Hölle auf Erden. Aber das kommt auf den Winkel des Betrachters an, aus dem er die Geschehnisse dieser Tage verfolgt und erlebt … Wir schreiben das Jahr des Herrn 1794, und es wird alles anders
sein als vorher, das haben wir uns geschworen. Dafür sind wir auf die Straßen gegangen, dafür haben wir gekämpft, haben uns erhoben gegen die Macht des Königs und des Adels. Dafür haben wir die Bastille gestürmt, unser Leben riskiert und getötet. Wir haben den contrat social, den Gesellschaftsvertrag, aufgelöst, den wir so nie geschlossen hatten, und für neue Verhältnisse gesorgt. Liberté! Egalité! Fraternité! Niemals wieder einen absolutistischen Herrscher, um dessen Füße sich das adelige Geschmeiß windet, um damit um Aufmerksamkeit und ein Stück Zucker zu buhlen! L’homme est né libre, et partout il est dans les fers. Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten … Niemals wieder! Unsere Ideale waren so gut, unsere Ziele so integer. Allen Bürgern sollte es besser gehen – und dem Adel an den Kragen! Im wahrsten Sinne des Wortes. Doch was ist aus unserer révolution geworden? Was haben sie aus all dem, was so gut begann, gemacht? … Die Revolution sollte rein sein wie eine Jungfrau, wie eine Frau von stämmiger Statur und beherztem Temperament, doch nicht ohne Anmut. Und grausamer Schönheit. Die Revolution sollte eine solche Frau sein, die mit entblößtem Busen und barfuß über die Barrikaden steigt, hinter denen wir uns verschanzt hatten, um endlich das Zeichen zu geben zum Losschlagen. Ihr wollten wir folgen, wie sie über die Toten schritt und wild die Muskete mit Bajonett über ihrem Haupte schwang. Ja, so wollten wir unsere Tochter, die Revolution, gern sehen … Doch irgendwann veränderten sich ihr Gesicht und ihr vormals so verführerisch schöner Körper. Irgendwann verwandelte sie sich in eine wilde Furie mit einer verzerrten Dämonenfratze, mit Klauenhänden, von denen das so wahllos geopferte Blut tropfte. Unsere schöne Tochter entpuppte sich vor unser aller Augen als willige Dirne mit klaffend offenem Schoß, für jeden bereit, der nur den Mut oder den Schneid hatte, nach vorn zu treten und sich an ihr zu bedienen … Seit einem Jahr leben wir nun unter der Schreckensherrschaft, die sich aus der Revolution herausgeschält hat. Als vor einem Jahr die
Hinrichtungen begannen, war alles noch in Ordnung. Was haben wir gejubelt, als der Kopf Ludwig XVI. rollte! Was haben wir bei jedem Adeligen gejubelt, der hiernach seinen Kopf verlor! Krieg den Palästen! Und Friede den Hütten! So sollte es sein! Doch dann … L’appétit vient en mangeant. Der Appetit kommt beim Essen. Und nachdem sich alle daran gewöhnt hatten, daß Köpfe auf den Marktplätzen rollten und Blut in Sturzbächen floß, gab es kein Halten mehr … Dann begann die Revolution, diese maßlos immer mehr nach Blut dürstende, kannibalische Hure, ihre eigenen Kinder zu fressen … Als Robespierre, dieser verfluchte Jakobiner, Hebert hinrichten ließ, wunderte es mich. Als Justizminister Danton seinen Kopf verlor, weil seine Politik in den Augen Robespierres zu gemäßigt erschien!, war ich verwirrt. Und als der Konvent zuletzt Robespierre selbst absetzen und hinrichten ließ, kannte mein Entsetzen keine Grenzen mehr! Es ist nämlich so, daß mir nicht nur die Sinnlosigkeit all dieses Mordens schier den Verstand raubt. Dies allein würde schon Schmerz genug bedeuten … Doch es ist noch schlimmer für mich … bei weitem schlimmer … Was ich mit all den Hinrichtungen zu schaffen habe, daß sie mich so unendlich härter treffen als jeden anderen denkenden, kritischen Bürger neben mir? Ich werde es Dir verraten … Die Erstürmung der Bastille lag nur wenige Monate zurück, als ein Mann, ein Anatomieprofessor der Pariser Universität, am 10. Oktober des Jahres 1789 vor der Nationalversammlung die Gleichheit aller Verurteilten vor dem Tode forderte. Kein Mensch sollte mehr den Qualen der Folter ausgesetzt werden, und jeder, ungeachtet seines Standes, sollte für das gleiche Verbrechen die gleiche Strafe erhalten. Ihm schwebte eine schnellere, schmerzlosere Tötungsart vor. Der Verbrecher sollte enthauptet werden, mittels einer einfachen mechanischen Vorrichtung.
Zwei Monate später beschrieb er den hörenden Ohren im Parlament diesen Apparat: »Der Mechanismus wirkt wie der Blitz, der Kopf rollt, das Blut sprudelt, der Mensch ist nicht mehr.« Und zwei Jahre später nahmen sich die Herren in der Nationalversammlung seiner Vorschläge an. Am 3. Juni 1791 bestimmten sie, »daß jedem zum Tode Verurteilten der Kopf abzutrennen sei.« Und am 20. März 1792 erließen sie die Verordnung, daß die Enthauptung von nun an mit einer Maschine auszuführen sei, eine Hinrichtung, die »zweckmäßig, für alle gleich und, soweit möglich, human sein soll.« Die Konstruktionspläne dieser Maschine hatte jener Anatomieprofessor bereits bei seiner zweiten Rede vor dem Parlament in der Tasche gehabt. Sein Name war Dr. Joseph-Ignace Guillotin. Und ich selbst habe in den letzten zwei Jahren unzählige Male den Hebel an dieser Tötungsmaschine betätigt, um das schwere Fallbeil herniedersausen zu lassen auf die Genicke der Verurteilten. Unzählige Male war ich, einer der Scharfrichter von Paris, der Handlanger des Todes, der verlängerte Arm, der die Tötungsmaschine bediente, die nach ihrem Erfinder Guillotine genannt wird … Human sollte der Tod sein, den ich den Delinquenten gebe! Doch niemand, weder die Mitglieder des Parlaments, noch Robespierre oder einer der anderen Bluthunde, noch der alte Dr. Guillotin haben mitansehen müssen, wie sich die Gesichter der Enthaupteten noch einige Zeit lang bewegten, wie die Lippen der Geköpften noch letzte unausgesprochene Worte zuckten oder die abgetrennten Köpfe mit den Zähnen knirschten … Ich bin überzeugt davon, in den abgeschlagenen Köpfen befanden sich noch für eine kurze, aber dennoch beachtliche Zeit sowohl Bewußtsein als auch Schmerzempfinden … also Leben. Stell dir vor: Dein letzter klarer Gedanke vor dem Tod ist die Erkenntnis, daß dein Kopf vom Halse abgetrennt ist und in den bereitgestellten Korb fällt … Wer möchte das selbst seinem schlimmsten Feinde wünschen? Ich war lange Jahre Scharfrichter und habe dies alles gesehen. Und ich sage dir, in keinem Punkt war der Tod durch diese Höllenma-
schine humaner als jede andere Art, aus dem Leben zu scheiden! Ich weiß nicht, wie viele Leben ich allein im Laufe des letzten Jahres genommen habe, wie viele Unselige durch meine Hand starben, die einfach nur das Pech hatten, politisch anders zu denken oder verdächtig zu sein. Wem auch immer … Ich habe an die Ideale der Revolution geglaubt. Habe deswegen bereitwillig, reinen Herzens und besten Wissens den Tod gesät unter allen Feinden, die unsere junge Freiheit zu fürchten hatte. Und wenn ich mich auch in meinem ganzen Zweifel an den unerschütterlichen Glauben klammere, daß ich mein Amt für eine gute Sache ausübte, so erschüttert mich jetzt die Vermutung, nein, die Erkenntnis daß ich mich habe mißbrauchen lassen zu Zwecken, die nichts mit der Revolution, nichts mit den bedeutenden Dingen zu tun haben, die unser Reich reformieren sollten … Wir, die wir aufgeklärt sind von den hell leuchtenden Geistern unserer Zeit, von Voltaire, La Mettrie, d’Holbach, Montesqieu und Condorcet, sind zurückgefallen in die Abgründe der tiefsten mittelalterlichen Vergangenheit und haben das Wiederaufleben lassen, was wir eigentlich weit hinter uns gelassen zu haben glaubten. Wie lächerlich erscheinen uns heute Verdächtigungen wie solche gegen unschuldige Frauen, die angeblich ihre Mitmenschen mit bösem Kräuterzauber behext, die mit dem Teufel gebuhlt und beim Hexensabbat gotteslästerliche Rituale gefeiert haben sollen. Doch wie lächerlich werden wir dereinst in den Augen kommender Generationen aussehen, wenn sie davon hören, daß wir unsere großen Denker und einstigen Lehrer unter die Guillotine schoben, nur weil irgendein demagogischer Kleingeist sie als Verräter oder einfach als Verdächtige denunzierte … So ist es auch an jenem Tag gewesen, als ein anonymes Schreiben an der Tür unseres braven Bürgers Gabin hing. Mit dem handgeschriebenen Brief wollte ein »Sympathisant«, wie der Verfasser sich selbst bezeichnete, auf die Machenschaften eines überlebenden Adeligen aufmerksam machen, nämlich auf einen ausländischen Grafen,
der in einem Bürgerhaus am Montmartre residierte und angeblich Geheimdienstverbindungen zum Königreich England unterhielt – und dies bedeutete in diesen Tagen den sicheren Tod! Verwunderlich waren nur die geheimnisvollen Instruktionen, die der unbekannte »Sympathisant« zur Verhaftung und anschließenden Hinrichtung dieses angeblich aus Rumänien stammenden Landesverräters mitlieferte. Man solle ihn kurz vor Tagesanbruch in seinem Hause auflauern und verhaften – man könne ihn ganz leicht in Schach halten mit Feuer und den Insignien des Herrn, da er als rumänischer Fürst sehr gottesfürchtig sei … Man solle ihn sogleich in ein finsteres, sonnenabgeschiedenes Verlies bringen und am nächsten Abend nach Sonnenuntergang zum Schafott führen. Und ihn enthaupten. Mon Dieu, wie dumm müssen wir gewesen sein, daß wir nicht argwöhnten … wie dumm … Im Dunkeln führten sie den Delinquenten, den niemand verstand, da er uns in dieser fremden, unkultiviert klingenden Sprache anbrüllte, zum Marktplatz, eingerahmt von bewaffneten Männern mit Kreuzen. Trommler gingen vorneweg und schlugen den langsamen Marsch an, mit dem jeder zum Tode Verurteilte zu mir geleitet wurde. Die Menge auf dem Marktplatz war ruhig, so daß einzig das Geschrei des rumänischen Grafen zu hören war. Oh, er schrie sich wahrhaftig die zum Tode verdammte Seele aus dem Leib. Vielleicht aus Verzweiflung, dachte ich damals. Heute denke ich, es war der Schmerz, der ihm zugefügt wurde von den heiligen Insignien, mit denen man ihn in Schach hielt. Damals dachte ich, die Todesangst wäre verantwortlich für die erschreckende Blässe seines Gesichts. Heute weiß ich, daß er schon immer so blaß gewesen sein muß … so … blutleer. Als er hinkniete vor der großen Guillotine, verstummte sein Geschrei. Wie bei den meisten, die von der Erkenntnis erfaßt wurden, daß ihr Tod nun unmittelbar bevorstand. Schicksalergeben beugte er sich vor, die Hände auf den Rücken gebunden, das Gesicht angespannt, während ich mit einem Holzrahmen seinen Hals fixierte. Er schloß die Augen. Und auf einmal legte sich ein Ausdruck von
Ruhe, von Gefaßtheit und Frieden über seine Züge, ich habe das schon oft erlebt. Und ich weiß, daß es besser ist, wenn man es in diesem Moment schnell macht, um nicht den Augenblick zu verpassen, in dem der Delinquent mit dem Leben abgeschlossen hat und bereit ist, den Tod zu empfangen. Dementsprechend betätigte ich den Hebel – und mit einem leisen reibenden Geräusch fiel das Beil nieder in sein Genick und durchtrennte seinen Hals. Der Schädel fiel in den Weidenkorb – und die Menge begann zu johlen, wie es sich gehört … Doch etwas war anders als sonst. Vielleicht hatte ich es gespürt, weil ich direkt neben ihm stand, vielleicht war es auch nur eine unheilvolle Ahnung … Vor allen anderen ergriff mich tiefste Furcht vor dem Geköpften und vor der Dunkelheit, die über der Stadt lag. Vor allen anderen sahen meine Augen, wie der Körper des Enthaupteten an Substanz verlor, an Form und Gestalt. Es schien, als fiele der Leib in sich zusammen. Und tatsächlich stob einen Augenblick später schwarzer Staub aus den Öffnungen hervor, zu den Ärmeln, am Kragen und unten an den Hosenbeinen heraus … Augenblicklich war der schadenfrohe Jubel verstummt, hörte die Menge auf, den Delinquenten noch nach seinem Ableben zu verhöhnen. Anstelle dessen trat schweigendes Entsetzen, als jedermanns Auge erfaßte, was sich da bei mir auf dem Schafott abspielte. Der Rumäne zerfiel zu Staub! Und von irgendwoher erklang ein neues Gelächter, gehässiger als alles, was ich zuvor gehört hatte, höhnischer, als es der schaulustige Pöbel jemals zustandegebracht hätte. Aus den Gassen erklang dieses Gelächter, aus der Dunkelheit der unbeleuchteten Straßenzüge, und von den Dächern herab. Und einmal glaubte ich dort oben in schwindelnder Höhe sogar ein paar umherspringende Gestalten auszumachen, die mit den Schatten verschmolzen und in der Dunkelheit verschwanden … Danse macabre … Die Menge verlor sich. Die Schaulustigen stoben in alle Windrichtungen davon und machten, daß sie nach Hause gelangten, wo sie sich hinter schweren hölzernen Türen und dichten Fensterläden ver-
barrikadieren konnten. Auch die Trommler und Soldaten zogen in ungeordneter Formation dahin zurück, woher sie gekommen waren – sagen wir es offen, sie rannten Hals über Kopf davon! Nur ich blieb auf dem Schafott stehen, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen, das Dunkel um mich her mit grenzenlosem Schrecken bewundernd, den grausamen Stimmen und ihrem Gelächter aufmerksam lauschend … Ich hatte keine Angst vor ihnen. Ich wußte, daß sie nicht über mich oder einen anderen herfallen würden. Nicht hier. Und nicht jetzt. Wenn sie es gewollt hätten, hätten sie es an jedem anderen Ort in jeder anderen Nacht zuvor bereits getan … oder würden es später irgendwann einmal tun, wenn es ihnen so gefiel. Nein, vor ihnen fürchtete ich mich nicht … Was mich innerlich zerriß, war die Erkenntnis, dieser Gedanke, der mich in diesem Moment heimsuchte. Ich hatte gewußt, daß es sie gab. Wer hatte nicht wenigstens schon einmal von ihnen gehört … von den Untoten? Wer hatte ernsthaft geglaubt, daß es sie nicht auch bei uns in Paris geben könnte? Und wer hatte noch nicht davon gehört, daß auch sie untereinander Kämpfe ausfochten, daß auch sie zerstritten waren? So wie die Pariser Sippe einen rumänischen Eindringling nicht dulden würde … Aber wer hätte gedacht, daß sie sich unserer Revolution bedienen würden, um ihre Kriege auszufechten? Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt! Und dort, als sie aus den Gassen heraus und von den Dächern herab über mich lachten, fühlte ich mich zum ersten Mal mißbraucht und verraten vor allem, woran ich jemals geglaubt hatte. Ich werde niemals wieder tun können, was ich tat … ENDE © Klaus Giesert, Greifswalder Straße 190, 10405 Berlin
Fanal des Blutes von Doreen deVert »… und der Himmel wird in flüssiges Feuer getaucht sein, und der Menschen Blut wird sich über die sündige Erde ergießen. Wer aber solchen Regen berührt oder davon berührt wird, der ist verderbt und verdammt noch vor dem Ende, noch bevor die Alte Welt im Chaos versinkt. Blutrot ist das Zeichen, das des Menschen Dämon aus der Taufe hebt. Gewaltige Ströme werden vom Himmel regnen, und dies wird das fünfte Zeichen sein von sieben, ehe sich die Weissagung in all ihrem Schrecken erfüllt und der Mensch sein Haupt beugen muß vor den neuen Herrschern …« Fragment der dritten Weissagung