Der dritte Aussteiger Roman von Reiner Vial
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Der dritte Aussteiger Roman von Reiner Vial
Der dritte Aussteiger © 2001 – Reiner Vial, Nachrodt-Wiblingwerde – Alle Rechte bleiben vorbehalten WICHTIG! Ich stelle diesen Roman auf meiner Homepage http://www.reiner-vial.de zum kostenlosen Download zur Verfügung. Dieser darf, ausschließlich unverändert und ungekürzt, auf Datenträger oder als Ausdruck beziehungsweise Kopie, grundsätzlich nur kostenlos, weitergegeben werden. Jede kommerzielle Verwendung und Wiedergabe in Publikationen aller Art, auf privaten wie gewerblichen Homepages und in elektronischen Medien ist nur nach meiner vorhergehenden Zustimmung und eventueller Honorarvereinbarung erlaubt. Dieses gilt sowohl für die vollständige wie auszugsweise Wiedergabe. Grundsätzlich muss immer auf meine Urheberschaft und meine Rechte hingewiesen werden! Bei jeder Verwendung oder Wiedergabe entgegen vorstehender Bedingungen, bei Verfälschung oder nur Veränderung der Texte sowie bei jeder Art des Diebstahls meines geistigen Eigentums, ganz oder teilweise, behalte ich mir sowohl straf- wie zivilrechtliche Schritte vor!
Zum Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis Hinweis: Die unterstrichenen Kapitelbezeichnungen (z.B. Kapitel 1 ) sind Hyperlinks. Wenn Sie hier klicken, gelangen Sie direkt auf die Seite, auf der das gewünschte Kapitel beginnt. Der dritte Aussteiger......................................................... Vorwort Beate, Zachi bittet zum Diktat........................................... Kapitel 1 Wenn doch der Große wie der Kleine wäre........................ Kapitel 2 Wenn aus einer Liebe ernst wird....................................... Kapitel 3 Die Zeit, die ich gerne noch mal leben möchte................... Kapitel 4 Vertretung im Geschäft und im Ehebett.............................. Kapitel 5 Wenn die Wege auseinander gehen..................................... Kapitel 6 Mit Hendrik kam auch ein Wenig Liebe.............................. Kapitel 7 Lass uns jetzt gemeinsam gehen......................................... Kapitel 8 Flamenco und Tarragona für Don Jürgen........................... Kapitel 9 Salvador, der Familienkomplettierer.................................. Kapitel 10 Eines Tages kommt Papa Jürgen wegen mir....................... Kapitel 11 Als wäre es immer so gewesen........................................... Kapitel 12 Wenn Engel vom Himmel fallen......................................... Kapitel 13 Auch Ehefrauen kann man tauschen................................... Kapitel 14 Der dritte Start mit lauter Pannen...................................... Kapitel 15 Fahr zur Hölle Don Alberto............................................... Kapitel 16 Ein Imperium wird zum Töchterchen................................. Kapitel 17 Auch du bist schon tot....................................................... Kapitel 18 Wenn Sterne ihre Bahn verlassen....................................... Kapitel 19 Ein Donnerschlag zum Finale............................................ Kapitel 20 Wer leben will muss aussteigen.......................................... Kapitel 21 Ramona, die gegensätzliche Frau....................................... Kapitel 22 Opas lustvolle Arbeitslosenzeit.......................................... Kapitel 23 So nicht mein Herr Heuer und werter Herr Lehrer.............. Kapitel 24 Mitbringsel aus dem Loveparadies..................................... Kapitel 25 Abgang von der Lebensbühne............................................ Kapitel 26 Der Sprung in den Krater................................................... Kapitel 27 Einen Bruder wird man nicht los........................................ Kapitel 28 Versöhnung kann man nicht erzwingen.............................. Kapitel 29 Mit 56 in ein neues Leben.................................................. Kapitel 30 Der vollbeschäftigte Aussteiger......................................... Kapitel 31 Der Prophezeiung letzter Teil............................................ Kapitel 32 Die Vergangenheit kann man nicht abschütteln.................. Kapitel 33 Auch ich bin nicht ganz ohne............................................. Kapitel 34 Warum haben die Weiber es immer so eilig........................ Kapitel 35 Die Eintrittskarte in den Himmel........................................ Kapitel 36 Wenn ein alte Bekannte nicht wieder erkennen.................. Kapitel 37 Ganz ohne Ärger geht es nicht........................................... Kapitel 38 Paps, es ist schon wieder passiert....................................... Kapitel 39 Wenn Aussteiger aussteigen.............................................. Kapitel 40 Der Pate und seine Leute................................................... Kapitel 41 Gleicher Tag, gleiches Amt und anderer Ort...................... Kapitel 42 Wenn uns Michaela nach München lockt........................... Kapitel 43 Und zu guter Letzt noch ein Kapitel von Beate.................. Kapitel 44 Zum Vorwort
Zum Inhaltsverzeichnis
Vorwort In meinen beiden vorhergehenden Werken beschäftigte ich mich mit dem Erscheinungsbild unserer Kultur auf der einen Seite und der Frage nach dem wahren Leben auf der anderen. Dabei stellte ich menschliches Leben mit christlichem Wertbezug den humanitären Existenzen mit rein materialischen Orientierungen gegenüber. Dabei waren die sozial Schwächeren, der Baluwayer Schwiegersohn Wernfried Weissner und der Pleitier Peter Schröder, immer die „strahlenden“ Helden und ihnen gegenüber standen die „bösen“ Reichen, der Herr von Baluway Hans-Werner Rinke und der Multimillionär Hannsfrieder Klettner. Dabei kann der Eindruck entstanden sein, ich sei entweder Sozialneider oder Klassenkämpfer. Beides bin ich mit Sicherheit nicht aber es dürfte im Bereich der Logik liegen, dass es ohne Unrecht auf der einen Seite keine Benachteiligten auf der anderen gibt. Und wie sollte der sozial Schwächere dem „Stärkeren“ benachteiligen, übervorteilen oder unterdrücken? Druck kann immer nur von Oben ausgeübt werden. Durch solche Feststellungen erweckt man sehr schnell den Eindruck einer Schwarz-Weiß-Malerei, der reinen Oberflächenbetrachtung von Vor- und Kehrseite. Oben sind immer die Schurken, die Bösen, und Unten immer die geschundenen Guten. Diese Auffassung ist aber grundsätzlich falsch. Alle sind wir Menschen, die Reichen und Mächtigen genauso wie die Armen und Schwachen. Alle haben wir Stärken und Schwächen, alle haben wir Empfindungen, Ideen und Meinungen. Man sollte nicht vor Leuten mit „hohen“ Positionen oder viel Geld auf die Knie fallen und auch über die da unten nicht die Nase rümpfen. Nur wenn wir erkennen, dass es weder Über- noch Untermenschen gibt können wir unser Zusammenleben ordnen, nur dann können wir Fortschritt und Gerechtigkeit einhergehen lassen. Über eines müssen wir uns allerdings klar sein, dass wir die paradiesische Idealgesellschaft nie erreichen können. Aber warum sollten wir nicht danach streben diesem Maximalziel immer wieder ein kleines Stück entgegen zukommen. Der kleinste Schritt in Richtung von mehr Gerechtigkeit ist ein Riesenschritt in die Zukunft des menschlichen Lebens. In Anbetracht meiner zuvor beschriebenen kleinen Philosophie ergab sich für mich persönlich mal der Zwang, auch den Menschen in den Leuten, die ich in den beiden vorhergehenden Werken der Negativseite zugeschlagen habe, darzustellen. Das Problem eines Autors ist dann jedoch, dass in bestimmten Handlungen sich, wenn man Leben oder Kultur spiegeln will, immer nur die beiden Seiten antipodisch gegenüber stehen. Und wenn man nicht von Revoluzzern oder Terroristen schreiben will bleibt in Geschehnissen über einen bestimmten Zeitraum für die Reichen und Mächtigen immer die Rolle des Bösen. Der Mensch, der sie aber in Wirklichkeit sind, wird uns dabei gar nicht verdeutlicht; es sei denn man schriebe eine christliche oder „nur“ humanitäre Bekehrungsgeschichte. Na ja, ein Bisschen von Letzterem hat meine Geschichte schon, was ja bereits aus dem Titel „Der dritte Aussteiger“ hervorgeht. Diese Bekehrung resultiert allerdings nicht aus einer Einzelhandlung sondern sie ist ein Resümee eines Lebens. Ich erfand die, doch irgendwo spannende Biografie des Walter Heuer, der vom Sohn eines kriegsversehrten Landwirtes und Brennstoffhändlers zum Multimillionär aufstieg. Die Höhen und Tiefen seines Lebens, seine Glücksgefühle wie seine Enttäuschungen, stehen im Mittelpunkt dieses Romans. Wert lege ich jetzt auf das Wort „erfand“. Alle Personen und Handlungen sind von mir frei erfunden. Allerdings kann es, wenn man realitätsnahe schreiben will, nicht ausbleiben, dass es im Einzelfall durch Zufall Ähnlichkeiten zu wirklichen Ereignissen gibt. Hieraus kann man allerdings keine Rückschlüsse auf tatsächliche Abläufe aus dem Leben lebender oder verstorbenen Personen ziehen. Alles ist reine Fiktion und hat sich nur in meinem „Oberstübchen“ so abgespielt. Und jetzt Schluss mit der Vorrederei. Nun wünsche ich Ihnen nur noch gute Unterhaltung und diesen oder jenen nützlichen Denkanstoss. Nachrodt-Wiblingwerde, im Dezember 2001
Zum Kapitel 1
Zum Inhaltsverzeichnis
Beate, Zachi bittet zum Diktat Heute ist es nun 40 Jahre her das Maurer Geschichte schrieben. Auf den Tag genau vor 40 Jahren, am 13. August 1961, wurde in Berlin fleißig mit erstaunlichem Tempo gemauert. Praktisch an einem Tag wurde um das, amerikanischer, britischer und französischer Sektor genannte, Anwesen eine „Hofmauer“ errichtet und paradoxer Weise nicht die darin sondern die draußen, vor den Westsektoren lebenden Leute eingemauert. Berlin wurde, im Gegensatz zu Helgoland, wo es umgekehrt ist, eine grüne Insel im roten Land. Wenn wir es sprachlich genau nehmen wurde niemand eingemauert aber Millionen wurden ausgemauert. Na ja, so schnell wie das Unikum stand, war es auch wieder verschwunden. Ab dem 9. November 1989 war sie fast genauso schnell wieder weg wie sie mal entstanden war. Dieses, ob wohl der vorletzte Pate der Maurerbande, ein gewisser Herr Honecker, noch kurz vorher behauptet hat, dass das Kuriosum noch 100 Jahre stehen würde. Das war wohl kein Irrtum sondern es lag vermutlich an unerklärlicher deutscher Zeitrechnung. Da gab es schon mal eine Horde, anders kann man wohl die braune Massenbewegung nicht nennen, die von einem tausendjährigen Reich quakte und dann 12 Jahre später alles in Klump und Asche gelegt hatte. Traurig nur, dass es heute immer noch so viele miniintelligente Zeitgenossen gibt, die die Idiotie der Schwerstverbrecher glorifiziert. Das war ja gerade ein toller Sprung: Da rede ich drei Sätze von der hundertjährigen Mauer und bin Schwupp beim tausendjährigen Reich. Ob das wohl mit der engen Geistesverwandtschaft der handelnden Leute zusammenhängt? Den handelnden Leuten in beiden Systemen ging es um alles Mögliche, nur um nichts logisch Nachvollziehbaren und gar nicht um das, worum sich auf Erden eigentlich alles drehen sollte beziehungsweise müsste: um den Menschen. Aber was sagte Jesus als die Ehebrecherin gesteinigt werden sollte? War das nicht „Wer von euch ohne Sünde ist der werfe den ersten Stein“? Geht es den Toppkapitalisten, zu denen ich bis vor Kurzem selbst gehörte oder vielleicht gar noch zugehöre, um den Menschen? In diesem Zusammenhang ist doch eine andere Tagesaktualität interessant. Da hat der Milliardenmacher Bayer ein Medikament mit Namen Lipobay in den Konsum gebracht und das war so phantastisch, dass Leute die ihren Cholesterinspiegel senken wollten jetzt unter Muskel- und Gliederschmerzen leiden – über 50 Leute sollen daran sogar bereits gestorben sein. Jetzt wäre es für mich ja eigentlich vordringlich, dass man sich über die Linderung der Leiden der Geschädigten schnellstmöglichst Gedanken macht. Hört man aber den Medienleuten zu, dann geht es um fallende Aktienkurses, das durch den niedrigen Kurs der Gigant zum Übernahmeobjekt werden könnte und um die Bereicherung der Angehörigen der Verstorbenen mittels US-Justiz. Also erst das Geld, dann noch mal Geld, dann lange nichts und hinter einem großen Haufen Müll der Mensch. Die Krone der Schöpfung ist zum nebensächlich, säkularisierten Objekt in einem „globalisierten“ Wirtschaftssystem geworden. Ja, ja, schon gut, ich weiß: Wer selbst viel Dreck am Stecken hat sollte sich nicht als der große Moralist aufspielen. Gerade ich bin ja jemand, der sich jetzt bemüht aus der eben kritisierten Mühle auszusteigen und sich den Menschen, und damit auch mich mir selbst, zuzuwenden will. Ich bin auch nicht der erste sondern „leider“ erst der dritte Aussteiger in unserer Familie. Aber jetzt bin ich im Zuge der Niederschrift im Begriff schon sehr viel vorweg zunehmen. Zum Zachi genannten dritten Aussteiger kommen wir erst am Ende dieser Lebensgeschichte, die ich nun meiner Beate in die Tasten ihres PCs diktieren will. Jetzt, hier und heute, kann ich noch nicht mal sagen, ob wir überhaupt mal in der Geschichte zu dem, gerade 10 Minuten zurückliegenden, Punkt kommen, an dem ich „Beate, Zachi bittet zum Diktat“ sagte. Jetzt erlaube ich mir nur mal eventuelle Leser auf die Folter zuspannen und anzukündigen, dass dieses die Story ist, wie ich zum dritten Aussteiger, den meine Maus Beate liebevoll Zachi nennt, geworden bin. Ich werde jetzt aber nicht weiter vorgreife und auch nicht mehr kreuz und quer vom Hölzchen aufs Stöckchen und umgekehrt springen. Ab jetzt gehen wir chronologisch durch das Leben des Walter Heuer, so heiße ich wirklich, das am 14.03.1945 in Romansweiler begann. Was, Sie kennen Romansweiler nicht? Es handelt sich um ein Dörfchen was heute so tausend bis eineinhalbtausend Einwohner hat – damals werden es wohl so zirka 500 gewesen sein - und seit 1975 zur Stadt Waldheim im gleichnamigen Kreis gehört. Von Waldheim selbst ist das Dorf laut gelben Hinweisschild acht Kilometer entfernt. Während die Stadt Waldheim selbst knapp 100 Meter über Normalnull, also über dem Wasserspiegel des Amsterdamer Hafens, liegt befindet sich Romansweiler laut Begrüßungstafel am Ortseingang immerhin auf der windigen Höhe von 462 Metern. Die wichtigste Verbindung zwischen Waldheim und Romansweiler ist die schmale Kreisstraße 12 die sich über Serpentinen durch Nadelwälder, Weiden und Getreidefelder hinauf ins Bergdorf windet. Mitten in Romansweiler finden wir die, der Gotik nachempfundene Pfarrkirche Sankt Josef. Man könnte annehmen, das Dorf sei um die Kirche herumgebaut worden. Das kann aber nicht sein, da der Grundstein zur Kirche erst 1912 gelegt wurde und die im Dorf liegenden Bauernhöfe meist auf eine Reihe Jahrzehnte mehr zurückblicken können. Der älteste Hof stammt aus dem 17. Jahrhundert. Urkundlich wurde Romansweiler erstmalig 1556 im Zusammenhang mit der Reformation erwähnt. Da erhielt ein Romansweiler das Privileg katholisch bleiben zu dürfen obwohl sein Landesherr zu den Calvinisten gewechselt war – laut Augsburger Frieden von 1555 hätte der Romansweiler auch evangelisch werden müsste. Ich nehme mal an, dass der Romansweiler Knappe Geld hatte und damit sein Oberhaupt entsprechend schmieren konnte. „Bimbes“ wirkt ja bekanntlich auch heute noch Wunder. Ganz so alt war der Hof meiner Eltern nicht. Das genaue Jahr seiner Begründung weiß ich leider nicht; lediglich das er aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammte. Damit habe ich jetzt auch verraten, dass meine Eltern, wie alle „Ureinwohner“ von Romansweiler, von Hause her Landwirte waren. In solchen Dörfchen war es früher üblich, dass fast
jeder zweite Bauer noch etwas, was zum dörflichen Alltag gehörte, zusätzlich betrieb. Einer war Metzger, der Andere hatte einen Tante-Emma-Laden, wieder Andere hatten einen Schmiede oder eine Tischlerei und die beiden Gastwirte darf man natürlich auch nicht vergessen. Nur der Pfarrer und seine Haushälterin waren landwirtschaftslose Dorfbewohner. Meine Eltern hatten es als zweites Standbein mit der Kohle. Nein, nein, nicht im heutigen mamonistischen Sinne sondern sie hatten es mit dem richtigem schwarzen Gold, sprich mit Steinkohle und Briketts. Mein Vater Ernst Heuer war also der Kohlenhändler im Dorf. Die Kohle „importierte“ er aus dem Ruhrgebiet, welches damals noch zurecht den Namen „Kohlenpott“ trug. Er importierte seine Sachen nicht nur aus Schalke und anderen Kohlenstaub bedrohten Orten sondern er exportierte auch was aus dem Dorf, nämlich Brennholz nach Waldheim. Damals als es noch keine Zentralheizungen gab oder wo diese nur höchst selten waren, verfeuerten die Leute in ihren Allesbrennerherden oder Kanonenöfchen Kohle oder Briketts. Aber die musste man erst zum Glühen bringen und dazu brauchte man Streichhölzer, die Zeitung von Gestern und kleingespaltenes Holz. Da Städter entweder kein spaltbares Holz oder keine Fähigkeiten zum Spalten von Holz hatten, beförderte mein Vater dieses halt von Romansweiler nach Waldheim. Als ich mich im Alter eines Knirpses befand ging es bei uns gemächlich mit Pferdefuhrwerken zu. Ich weiß nicht, ob das eine Folge des Krieges war, dass wir die Kohlen nicht motorisiert zu den Leuten brachten, denn auf unserem Hof stand noch bis Mitte der 50er-Jahre ein langsam zerfallenes, nicht mehr fahrtüchtiges Vorkriegsvehikel herum, welches jedem verriet, dass bereits vor den Wirren des Krieges die Kohle mit Motorkraft zu den Kunden kam. Wenn meine Eltern oder andere Erwachsene mal nicht hinsahen, nutzten wir Kinder diesen Schrottlaster zum Spielen. Dabei dürfte es unserem „Alten“ wohl weniger um Besitzstandswahrung als vielmehr um die Unfallgefahr, die von dem LKWSchrott ausging, gegangen sein. Warum der allerdings nicht beseitigt wurde entzieht sich meiner Kenntnis. Das ist nicht das Einzigste was außerhalb meines Wissenstandes liegt. Ich weiß so gut wie nichts von dem, was meine Eltern zur Zeit des braunen Verbrechens und im Krieg gemacht haben. Ich weiß nicht wie sie zur Naziidiotie standen und an welchen Raubmordzügen der sogenannten Wehrmacht mein Vater teilgenommen hat. Über diese Dinge haben sich meine Eltern in meiner Kindheit meist ausgeschwiegen. Vergangenheitsbewältigung durch Verdrängen und Totschweigen? Was ich zur politischen Einstellung meiner Eltern sagen kann, ist dass mein Vater ursprünglich ein großer Fan von Konrad Adenauer, den er oft liebevoll „Conny“ oder „der Alte“ nannte, war. Ebenso sprach er bewundernd und ehrfurchtsvoll von Ludwig Ehrhardt, den er fast für ein Hypergenie auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik hielt. Als ich so etwa 10 Jahre alt war fielen die beiden Politiker bei ihm so ein Wenig vom Sockel. Grund dafür war die, von der Adenauer Regierung betriebene Wiederbewaffnung, die er sogar bis zu seinem Tode 1972 für die größte politische Fehlentscheidung der Nachkriegsgeschichte hielt. Als die Bundeswehr geschaffen war, hat er sich politisch nicht mehr öffentlich festgelegt. Er hat mir später mal gesagt, dass er seit der Wiederbewaffnung immer SPD gewählt habe aber es wäre wohl besser, wenn er dieses als Geschäftsmann für sich behalten habe. Weil ich mir die Gründe für Letzteres denken kann habe ich ihn diesbezüglich auch nie um eine Begründung gebeten. Als ich vorhin „Totschweigen“ diktierte war dieses nicht 100%-ig korrekt, denn ein ganz klein Wenig weiß ich schon aus dieser Zeit. Das ist einmal, dass mein Vater sowohl vor wie nach dem Krieg Bauer und Kohlenhändler war. Und das er meinen Bruder bevor er in den Krieg zog und mich nach dem er wieder nach Hause kam zeugte; aber beide sind wir während des Krieges geboren. Mein Bruder Jürgen ist der „Aprilscherz“ von 1940; er wurde also am 1. April 1940 geboren. Wenn ich von diesem Tag neun Monate zurückrechne, muss seine Zeugung also vor dem Überfall auf Polen gelegen haben. Ich weiß nicht genau, wann mein Vater zum Kriegszug von der politischen Führung genötigt wurde. Ich weiß nur, dass er gesund und mit je zwei Beinen und Augen zu dem Wahnsinn musste und Anfang Juni 1944 mit nur einem Bein und nur noch mit dem rechten Auge vorzeitig heimkehrte. Da ich am 14.03.1945 geboren bin, ist mir bewusst, das er ein ganz wichtiges Teilchen nicht im Krieg gelassen hat und dieses dann auch gleich eingesetzt hat. Ich habe früher oft darüber nachgedacht, was meine Mutter empfunden hat, als sie damals mit dem Einbeinigen im Bett lag. So ganz einfach dürfte es für sie, dessen schmucker Mann mal einst zu Hitlers Horden gezogen wurde und so teilhalbiert wieder gekommen ist, auch nicht gewesen sein. Alles in Allem dürfte sich aber daher die Haltung meiner Eltern zur Vergangenheit und ihr Nachkriegspazifismus aus dieser Angelegenheit erklären lassen. Die erste Nachkriegszeit muss für unseren Vater sehr hart gewesen sein. Kohlen in Säcke schaufeln und diese auf Pferdewagen laden, dann alles zu den Leuten karren, dort abladen und in den Keller schütten ist wohl echte Knochenarbeit, die sogar unseren beiden gesunden Mitarbeitern ordentlich zusetzte. Na ja, mein Vater musste das alles mit einer Prothese, die mit heutigen beim besten Willen nicht vergleichbar sind, bewältigen. Schon wegen unserer 5 Pferde, die er für die beiden Zweispänner und dem einen Einspänner benötigte, musste auch die Landwirtschaft beibehalten und betrieben werden. Ich kann voll nachvollziehen, dass der allergrößte Wunsch meines Vaters der nach einer Motorisierung war. Am Kapital lag es allerdings nicht, dass hier so schnell nichts raus wurde. Schließlich hatten wir ja den Hof, zu dem einiges an Feld- und Waldbesitz gehörten, und die damals doch florierende Kohlen- und Brennholzhandlung. Das Alle 1948 bei der Einführung der D-Mark mit 40 Mark Kopfgeld angefangen wären, also alle die gleichen Chancen gehabt hätten, ist wohl eines der schönen, unwahren aber nicht ausrottbaren Gerüchte. Wer im Wirtschaftswunderland reich wurde ist auch vor der Währungsreform nicht arm gewesen.
Die Motorisierung unserer Firma scheiterte vielmehr an der behördlichen Fahrerlaubnis für den „Krüppel“ Ernst Heuer. Die Beinprothese war dabei weniger maßgeblich wie „nur“ das eine Auge. Ich war wohl „zu klein“ um zu verstehen, warum mein Vater damals erstens immer knochenhart mitarbeitete und andererseits die Anschaffung von Motorfahrzeugen von seiner eigenen Fahrerlaubnis abhängig machte. Auf jeden Fall war es, als ich 4 oder 5 Jahre alt war, soweit: Vater hatte wieder eine „Fleppe“ und Fahrzeuge konnten angeschafft werden. Wir bekamen auf einem Schlag zwei Dreiradlaster. Meine Eltern feierten diesen Tag und wir Kinder, Jürgen und ich, verzeichneten den traurigsten Tag unserer Kindheit. Wir mussten uns von Max und Moritz, von Hanne und Lotte sowie vom alten Ramses, also von unseren Pferden, verabschieden. Daran, wie ich die Namen heute noch, nach über 50 Jahren, kenne, mag man ermessen wie wir Jungens an unseren Pferden hingen. Kaum auszudenken, was wir gefühlt hätten, wenn wir gewusst hätten, wohin unsere Fünf kamen: zum Pferdeschlachter. Obwohl wir ja als echte Bauernsöhne es gewöhnt waren, das unsere Hühner, Kaninchen und Schweine für spätere Sonntagsbraten bestimmt waren. Ja, ja, das Leben ist hart: Fressen und Gefressenwerden. Mit den Pferden war dann auch das Ende unserer Landwirtschaft gekommen. Unsere Felder wurden an Nachbarn verkauft; einige davon erst verpachtet aber dann auch verkauft. Auf jeden Fall war, als ich 1952 in unsere zweiklassige Volksschule eingeschult wurde, kein Stückchen Land, das wir unser eigen nannten, mehr zu verbuchen. Apropos zweiklassige Volkschule, einmal Klasse 1 bis 4 und dann 5 bis 8: Diese Institutionen, die bis Mitte der 60er-Jahre in unserem Lande gar nicht so selten waren, begründeten ja das merkwürdige Vorurteil, dass „Landeier“ blöder als Städter seien. Dieses ist natürlich, wie bei jedem Vorurteil, vollkommen falsch, nur jeder Stadtdepp hat mehrfach größere Chancen gehabt in der Schule gebildet zu werden als ein Genie vom Lande. Auf jeden Fall war ich 1956, als ich zum Gymnasium nach Waldheim wollte, für die Stadtfritzen ein Beweis für die Kunde vom Dorftrottel. Bei der damals üblichen Aufnahmeprüfung rauschte ich mit Pauken und Trompeten durch - die Defizite waren ja doch erheblich. Für mich hatte dieses dann im folgenden Schuljahr zur Folge dass mir reichlich Nachhilfe, was in den 50ern noch gar nicht so üblich war, verpasst wurde. Zum Lohn für die Paukerei bestand ich dann das Jahr darauf die Aufnahmeprüfung zur Städtischen Realschule Waldheim. Allerdings bin ich mir hinsichtlich der Realschulaufnahmeprüfung nicht so ganz sicher, ob mein Vater nicht mit geeigneten „Schmiermitteln“ nachgeholfen hat. Filzokraten und Koruptis sind ja keine Erscheinung der Neuzeit. Anno 1957 stellte die Familie Heuer ja schon einiges in dieser Gegend da. Unsere Dreiradlaster hatten gerade ihren Dienst für die Kohlenhandlung Heuer aufgenommen als zum schwarzen Gold noch andere Güter, bis hin zum kompletten Umzugsgut, die es von A nach B oder C zu transportieren galt, kamen. Damals sah man es nicht so tragisch an, dass die Güter, die mal auf unseren Karren waren, leicht kohleangestaubt waren. Etwa ein dreiviertel Jahr später kam zu unseren Dreirädern ein Opel Blitz hinzu, auf dem dann die Transportgüter ohnehin kohlefrei waren. Es blieb nicht bei dem einen Blitz es kamen noch zwei weitere und dann jede Menge Lastzüge hinzu. Ab 1954 gab es die Spedition Ernst Heuer GmbH, die die Kohlehandlung letztlich gänzlich ablöste. Unserem Vater war es inzwischen auch in Romansweiler zu klein geworden. Zum Einen bekamen wir einen „Platz“ bei der Ortseinfahrt Waldheim, direkt an der Bundesstraße gelegen. Hier war dann der Hauptsitz der Spedition. Aber dieses hatte ich eben gar nicht gemeint. Als wir 1955 ein weiteres Standbein zur Spedition erhielten gab es bereits zu dieser sechs weitere Niederlassung vom ostfriesischen Strand bis zum Alpenrand. Mit dem zweiten Unternehmensflügel begann unser Familienhäuptling auch gleich an allen sieben Standorten. Damals wollten die Leute alle nach Italien; die Wirtschaftswunderkinder wollten zeigen das sie sich es leisten konnte. Mein Vater kaufte Busse und gondelte die Herrschaften dahin. Natürlich gab es auch Leute die nur nach Österreich oder Holland wollten und die Busreisen Ernst Heuer GmbH kutschte auch diese zum Ort ihrer Träume. Da hatten wir nun zwei Firmen aber die gemeinsame Nutzung von Platz, Halle, Werkstatt, Logistik und Verwaltung ermöglichte bei beiden Unternehmen günstige Kalkulationen. Das war also die Situation als ich zur Realschule, die im Volksmund immer noch Mittelschule hieß, ging. Das erste Jahr war verdammt hart. Die Städter, die sich bequem von Schuljahr zu Schuljahr in geschlossenen Jahrgangsklassen begeben hatten, konnten sich doch einiges mehr aneignen als unser eins, der bei der Rechenarbeit im zweiten Schuljahr vom Diktat des vierten Schuljahres abgelenkt wurde. Natürlich konnten auch die Städter nicht einen solchen Schulluxus wie heute erfahren. Heute bricht das Klagelied der um das Abitur der i-Männchen zitternden Eltern aus, wenn mal 2 mehr als 25 in den „viel zu großen“ Klassen sitzen. Damals waren 50 und mehr in einer Klasse nicht außergewöhnlich. Aber immerhin, ich war ja schon immer ein clever Kerlchen und holte den Rückstand schnell auf und als ich 1963 die Schule verließ war ich der Primus unseres Jahrganges. Mein Bruder Jürgen war mir natürlich mit dem Altersunterschied von 5 Jahren um einiges voraus geeilt. Als ich zur Realschule kam verließ er diese gerade. Vater hatte ihn nach Groben bei einem „Kollegen“ in die Speditionskaufmannslehre geschickt. Das lag im Grunde ja auch nahe. Aber was war dann für mich geblieben? Richtig, der Beruf des Reiseverkehrskaufmannes. Auch ich musste zu einem Kollegen meines Vaters in die Lehre. Ich hatte nur einen etwas kürzeren Weg wie vor mir Jürgen: Ich brauchte nur bis zum Bahnhof in Waldheim, wo sich in der Bahnhofsstraße das Reisebüro Goldmann, die selbst auch zwei Reisebusse hatten, befand. Durch unsere Berufe war dann auch festgelegt, was für Jürgen und was für mich erbschaftsmäßig bestimmt war: Jürgen der Spediteur und ich der Busunternehmer.
Unsere Familie blieb bis in die zweite Hälfte der 60er-Jahre auf einem Grundstück in Romansweiler vereint. Das war zunächst der ursprüngliche Bauernhof im Ortskern, der sich Anfang der 50er zunehmendst zu einem Speditionsbetriebsgelände entwickelte. Auch als die Firma bereits nach Waldheim umgezogen war fungierte das Gelände immer noch als so eine Art heimische Außenstelle der Spedition. Erst Anfang der 60er-Jahre wurde das Hofgrundstück an das damalige Amt Romansweiler veräußert und „platt gemacht“. Das Amt baute dort die neue Dorfschule deren Zweck durch eine Schulreform 67 oder 68 entfiel. Danach wurden das Gebäude und das Grundstück dann an die St.-Josef-Kirchengemeinde verkauft und heute befindet sich dort der katholische Kindergarten und ein Gemeindehaus. Uns hatte es bereits Mitte der 50er etwas außerhalb von Romansweiler an den Waldrand verschlagen. Aus dem Erlös des Waldverkaufes an das Amt Romansweiler hatte Vater ein schickes, lagebegünstigtes Einfamilienhaus errichtet. Klar, es war der Stiel der damaligen Zeit, der heute niemanden mehr vom Hocker reißen würde aber die exzellente Lage ist schon ein Sack Geld wert. Wenn ich so die Zeit von meiner Geburt bis zum Ende meiner Lehre betrachte, muss ich sagen, dass ich einer ganz normalen bürgerlichen Landfamilie entstamme und unser „Glück“ einmal der bäuerlichen Erbschaft meines Vaters und zum anderen doch seinem Fleiß entsprang. Jürgen und ich konnten uns später ins gemachte Nest setzen. So kam uns dann später einiges, was unser Vater bis zu seinem Lebensende für eine liebgewordene Tradition ansah, viel zu suspekt vor; wir waren feinere „Pinkel“ geworden. Unser „Alter“ ging Woche für Woche zu seinem Stammtisch in Hubert Ringdorfs Kneipe und drosch dort eine Runde Skat. Oh je, uns zum gewöhnlichen Volk in eine Fusselverabreichung zu begeben, das wäre doch unter dem Niveau der Brüder Heuer gewesen. Vater kannte auch so gut wie jedem in Dorf und war mit allen per Du. Als Kinder oder Jugendliche war es bei uns entsprechend, aber dann gingen wir doch auf Distanz zum Volk. Vater war hemdsärmelig und sich nie zu Schade mal selbst Hand anzulegen, wobei es ihm auch nie etwas ausmachte, wenn er sich dabei, sogar ordentlich, beschmutzte. Wir dagegen waren Schlipssoldaten, die sich ausschließlich auf „strategische Anweisungen“ verstanden. Mit dem Worten „Schlipssoldaten“ habe ich jetzt auch indirekt die Bekleidungsordnung angesprochen. Vater fühlte sich im Sommer mit offenen kurzärmeligen Hemd wohl und wir dagegen glaubten nur in einer steifen Bankeruniform vollständig bekleidet gewesen zu sein. Also, damit habe ich jetzt diktiert, dass wir Jungens auf keinen Fall das originale Abbild unseres Vaters waren. Er war ganz anders wie wir; oft fast das krasse Gegenteil von uns. Wir sind halt typische Erben, also hochwohlgeborene Stützen irgendeiner Gesellschaft unter der jeder etwas anderes, nämlich das jeweilige Seine, versteht. Auch die Findung unserer unternehmerischen Entscheidungen entschieden sich doch sehr von der unseres „Alten“. Vater überlegte immer aus der praktischen Sichtweise. Ihm kam es darauf an, wie man etwas sowohl zur Zufriedenheit der Kunden wie der Arbeitnehmer bewerkstelligen konnte. Er arbeitete lieber mit seinen Mitbewerbern, die er stets „Kollegen“ nannte, zusammen und verschwendet nie einen Gedanken an Aufkauf oder gar an aus dem Markt drängen. Wir entschieden ausschließlich aus finanzstrategischer Sicht und beäugten unsere Mitbewerber dahingehend, ob wir den Fisch schwimmen lassen sollten, ihn wegdrängen oder aufkaufen sollten. Nicht die gute, erfolgreiche Arbeit zählte für uns sondern unser Interesse lag ausschließlich in der Wertschöpfung und insbesondere bei der Rendite. Erfolgreich waren allerdings beide Generationen, also sowohl Vater wie auch wir. Aber ich glaube heute, dass sich unser Vater wohler bei der Geschichte fühlte. Soeben hatte Beate die Diktatniederschrift einen Augenblick für zwei Anmerkungen unterbrochen: „Zachi, wenn man dich so reden hört könnte man annehmen, du hättest in deinem Vater so eine Überfigur ... man könnte sagen Übervater, gesehen. Dieses bestätigen auch insbesondere die letzten beiden Absätze in denen du die natürliche Opposition von Söhnen zu ihren Übervätern darlegst. Und insgesamt entsteht der Eindruck, deine Mutter habe mit eurer Geburt ihr Lebenszweck erfüllt und ansonsten überhaupt keine Rolle für euch gespielt. Aber du hast mir schon häufiger schwärmend von deiner Mutter erzählt. Da könnte man fast den Eindruck haben, du wärest ein kleiner Ödipussi.“. Diese beiden Fragen beantworte ich jetzt mal in umgekehrter Reihenfolge. Ich will den Verdacht, dass ich ein Ödipussi gewesen sei, weder strickt verneinen noch ohne weiteres bejahen; das kann ich nämlich aus meiner persönlichen Sichtweise nicht objektiv machen. Richtig ist, dass ich meine Mutter sehr geliebt habe. Dass ich wegen fast jedem kleinen Wehwehchen zu ihr gerannt bin und eine Mords Eifersucht gegenüber der Mutterbeziehung meines Bruders aufgebaut hatte. Nicht mein Vater sondern meine Mutter war die zentrale Figur meiner Kindheit und Jugend. Was hier den Eindruck der zentralen Vaterfigur vermittelt haben kann ist die Tatsache, dass für meine Lebensgeschichte, die ich ja eigentlich erzählen will, die Weichen, die der Unternehmer Ernst Heuer gestellt hat, die Richtung, die wir Jungens auf der Lebensbahn einschlugen, bestimmte. Zum Thema Übervater kann ich noch weniger sagen wie zu Ödipussi. Ich bin immer, sogar heute noch, sehr stolz auf meinem Vater gewesen. Er war für mich immer so eine Art sonderbares Vorbild: Was er wie gemacht hatte imponierte mir mächtig. Aber ich wollte es immer besser machen und glaubte es auch besser machen zu können. Da ist auch die Wurzel für die vielen hitzigen und emotionalen Diskussionen, die wir praktisch bis zu seinem Lebensende regelmäßig führten. Ich weiß, dass Jürgen ein gleiches oder mindestens stark ähnliches Verhältnis zu unseren Eltern hatte. Zwischen uns beiden kam dann mit zunehmenden Alter eine erbitterte Konkurrenz hinzu. Erst buhlten wir gegeneinander um die Gunst unserer Eltern, später versuchten wir uns, obwohl 5 Jahre zwischen uns liegen, die Frauen
auszuspannen und geschäftlich waren wir die ärgsten Konkurrenten obwohl wir doch gezwungen gewesen wären an einem Strick zuziehen. Aber belassen wir es an dieser Stelle mal bei dem bis jetzt Gesagtem. Es ist noch nicht die Geschichte die ich erzählen will sondern es handelt sich um eine Zusammenstellung der Voraussetzungen aus denen sich mein Leben und mein Handeln erklären lässt. Dieses muss man zum Verständnis meiner Lebensgeschichte kennen. Man könnte sagen, dass es sich um eine Art Einführung in die Lebensgeschichte handelt. Im nächsten Kapitel springen wir gleich in das Jahr 1967 zu dem jungen Erwachsenen Walter Heuer. Für den heutigen Montag machen wir erst mal Schluss. Zwar haben wir heute nicht das Toppsommerwetter von letzter Woche aber so schlecht, dass ich jetzt mit Beate in der Stube hocken müsste, ist es auch nicht. Vorher verrate ich meiner „Sekretärin“ noch, dass ich sie ab sofort nicht mehr erwähnen werde ... vielleicht noch am Schluss, wo sie chronologisch hingehört. Damit wäre jetzt das Fundament zum Buch „Der dritte Aussteiger“ gelegt. Ich nehme mir vor jetzt öfters mal „Beate, Zachi bittet zum Diktat“ zu scherzen und wenn dieses von jemand Dritten gelesen werden sollte, dann ist es gelungen, was jetzt noch nicht absehbar ist, mein Leben, das Leben des Walter Heuer, in einen Roman zufassen. Sorry Leute, auf Veranlassung von Beate muss ich mich jetzt ein Wenig korrigieren. Sie meint ich wäre jetzt erst 56 Jahre alt; das wäre noch kein komplettes Leben sondern erst die erste Hälfte. Wäre dieses Kapitel eine Email im Internet würde ich jetzt ein Smiley dahinter setzen. Warum nicht, machen wir es doch: Die erste 56-jährige Lebenshälfte ☺ Zum Kapitel 2
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Wenn doch der Große wie der Kleine wäre Groß zu sein, ist der wohl am meisten geäußert Wunsch. Der Knirps im Kindergarten möchte groß sein um in die Schule gehen zu können. Das pubertierende Schulmädchen möchte groß sein um jungen Männer den Kopf verdrehen zu können. Die „halbe Portion“ möchte gern groß sein damit er es seinen Widersachern mal so richtig zeigen kann. Der wackere Parteisoldat möchte groß sein um im Parlament medien- und einkommenswirksam auftreten zu können. Der Schützenfestschlagerstar möchte groß sein damit ihm eine tausendfache hysterisierte Masse kreischend zu Füßen liegt. Der Hinterhofquetschensbesitzer möchte gern groß sein damit er in der Wirtschaftswelt auch mal ernst genommen und nicht nur immer belächelt wird. Ein Bundeskanzler möchte groß sein damit man in 1.000 Jahren im Geschichtsunterricht an seinen Namen nicht vorbeikommt. Aber lediglich der Knirps und das Schulmädchen haben so eine Art Garantie darauf, dass ihre Wunschträume in Richtung Großsein mal in Erfüllung gehen – aber nicht selten stellt sich raus, dass dieses gar nicht das ist, was sie ersehnt haben. Nicht selten hört man daher auch: „Ach was war das schön als ich klein war. Wenn ich das doch noch einmal erleben dürfte.“ Es kommt auch vor, das jemand davon träumt, allerdings aus logischen Gründen nie real, noch mal klein zu sein, damit er noch mal groß werden und dann alles besser machen kann. Jetzt könnte man annehmen, dass wo doch alle immer mal äußern, dass sie groß sein möchten dann in der Konsequenz auch so wie der Große sein wollen. Aber dem ist nicht so: Fast keiner will so sein wie der Große. Da fallen dann Superlative wie: besser, menschlicher, flexibler, einsichtiger, innovativer und, und, und ... . Wenn Außenstehende, Abhängige oder Leute, die von anderen etwas bestimmtes erwarten mal alternierende Große und Kleine beurteilen fällt fast immer die Aussage: „Wenn doch der Große wie der Kleine wäre“ oder natürlich auch umgekehrt. Es kommt immer darauf an, was man von den Beiden erwartet und wer der Erwartungshaltung am nächsten kommt. In Familien mit zwei Söhnen beziehungsweise zwei Töchtern, hier nur äquivalent „Wenn doch die Große nur wie die Kleine wäre“, gehören solche Aussagen zum Alltag. So war es auch bei uns. Jürgen, der Große, war zum Beispiel Fortbildungssüchtig und ließ keine Gelegenheit zur Fortbildung aus. Er lernte Französisch, Spanisch und absolvierte einen studiumsähnlichen Kurs in Betriebswirtschaft bei einem privaten Fortbildungsinstitut. Ich dagegen wandte meine Zeit lieber dafür auf um auf Freiersfüßen hinter den Angehörigen des anderen Geschlechts herzugockeln. Diesbezüglich war öfters von meinen Eltern und insbesondere von meiner Mutter, wenn ich gemeint war, zu hören: „Wenn doch der Kleine wie der Große wäre.“ Und umgekehrt wenn Jürgen gemeint war halt umgekehrt. Wenn ich es mir so recht überlege funktionierte ja alles nur, weil eben der Große nicht wie der Kleine und umgekehrt war. Wenn Jürgen statt zu studieren auf Brautschau gegangen wäre und ich umgekehrt statt zu posieren mich dem Wissen der Zeit zugewandt hätte, wäre das letztlich ja auch nicht das gewesen, was „Uns Mam“, wie wir sie liebevoll nannten, sich wünschte. Angesichts der konservativen Moralbegriffe der 50er- und 60er-Jahre hatte der Wunschgedanke von meiner Mutter noch einen diverseren Hintergrund. Sie hielt mich für das, was ich tat, zu jung und für meinen Bruder, der bereits seit 1961 mit der Vollendung des 21. Lebensjahr zu den Erwachsenen zählte – damals mussten die Jungscher noch 3 Jahre länger warten bis sie der Gesetzgeber in diesen Stand erhob – wurde es nach ihrer Ansicht langsam Zeit zur stammhaltenden Familiengründung zu schreiten. Oft sagte Uns Mam besorgt zu unserem Alten, wenn Jürgen außerhalb der Hörweite war: „Jürgen ist doch hoffentlich kein Hundertfünfundsiebziger.“. Diesen Satz muss ich jetzt mal kurz für die Leser, denen ein oder zwei Jahrzehnte an meinem Alter fehlen erläutern. Der Paragraph 175 im Strafgesetzbuch kriminalisierte die Homosexualität praktisch generell. Der Schwule, der seine von Gott gegebenen Veranlagungen nicht unterdrücken konnte stand praktisch schon mit einem Bein im Gefängnis. Da Jürgen bis zu dem Zeitpunkt, von dem ich im Laufe dieses Kapitels berichten will, nie mit weiblichen Wesen in Verbindung gebracht werden konnte, kam die Befürchtung unserer Mutter nicht von ungefähr. Anders ich, der ich meine ersten Erfahrungen zu der Zeit, als Jürgen eigentlich schon oder endlich mal sollte, schon hinter mir hatte. Ich war gerade Vierzehn, als ich mein erstes einschlägiges Beisammensein mit einem Mädchen hatte. Dieses ist in der heutigen Zeit gar nicht so ungewöhnlich – aber damals? Die 50er-Jahre waren ja fürchterlich verlogen und schon fast lächerlich prüde. Man denke nur an den Film „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef. Damals löste dieser „verruchte“ Film einen Skandal aus weil so etwas nach damaliger Auffassung den Untergang unserer Kultur einläuten könne und heute gibt es noch nicht einmal eine Randbemerkung wenn besagter Film im Vormittags- oder Nachmittagsfernsehprogramm läuft. Wie päpstlich moralisierend die damalige Zeit war kann ich mit der Wiedergabe eines Vorfalles aus dem Jahre 1960 mal belegen. Ich war in einer Weinhandlung gewesen und hatte da einen Wein namens „Kröver Nacktarsch“ gesehen. Davon berichtete ich Irmgard Mayer, der damaligen Sekretärin meines Vaters. Sie belehrte mich, dass dieser Wein nicht Nackt-Arsch sondern Nack-Tarsch hieße. Meine Bemerkung „Und warum ist auf dem Bild ein nackter Jungenarsch, auf dem ein Winzer gerade ‚Klavier spielt’, zu sehen?“ löste bei ihr eine solche Empörung aus, dass sie dieses postwendend meinen Vater erzählen musste. Für mich, dem unanständigen Jungen war dann eine Woche Stubenarrest fällig. Diesen konnte ich dann dadurch auslösen, dass ich meinen Vater die Szene vom Weinetikett auf meinem Allerwertesten nachspielen ließ.
Damals waren wir alle „super“ aufgeklärt. Anlässlich unseres 14. Geburtstages erfuhren wir, dass der Anzug, den wir zu Weihnachten bekommen haben nicht vom Christkind, was es in Wirklichkeit gar nicht gäbe, stamme sondern von unseren Eltern, die diesen im Kaufhaus gekauft hätten. Aber die Kinder brachte nach wie vor der Klapperstorch oder die verlor der Esel im Galopp – auf jeden Fall konnten wir dazu keine zutreffende Auskünfte erhalten. Was wir Jungens und Mädchen uns nicht selbst an Aufklärerischem mitgeben konnten, bekamen wir erst mit nach dem wir es persönlich erfahren hatten. Eltern oder Lehrer hätten sich lieber die Zunge abgeschnitten bevor sie uns etwas von den sündhaften verkommenen Dingen wie Sexualität und Fortpflanzung, wenn wir mal von den Bienen absehen, verraten hätten. Wenn ich mir dieses mal aus heutiger Sicht logisch überlege, müssten sich damals ja alle Eltern ob ihrer „Schweinereien“, die sie zu unserer Zeugung begangen haben, tief in den Boden geschämt haben. Na ja, es war halt eine Frage des Alters. Das, was meine Eltern gemacht hatten um uns beide Jungens zubekommen und was Jürgen eigentlich ab einem bestimmten Geburtstag machen sollte, waren für den „kleinen Walter“ halt Schweinereien mit dem er seinen Platz im Himmel verspielen konnte. Ein solches Umfeldverhalten macht natürlich neugierig, sogar furchtbar neugierig. So kam es dann auch als ich gerade Vierzehn war zu jenem Vorfall mit meiner Klassenkameradin Gabi Köster. Gabi hatte so ein Wenig Schwierigkeiten in Mathe und ich war bei uns in der Klasse auf diesem Gebiet die Nummer Eins. Das brachte Papa Köster auf den Gedanken, ich könne seiner Tochter Nachhilfeunterricht geben. Diese Nachhilfe fand Dienstags- und Donnerstagsnachmittags in der Wohnküche der Kösters statt. Papa Köster war zu diesem Zeitpunkt wegen seines Dienstverhältnisses bei der Stadt Waldheim nie anwesend. Aber Mama Köster passte immer auf das ja nichts passierte. Aber trotz aller fürsorglichen Obhut musste es an einem Nachmittag passieren. Damals gab es noch keine große Verbreitung von Telefonanschlüssen und auch bei Kösters stand so etwas nicht in der Wohnung. Da passierte es, das praktisch gleichzeitig mit mir eine privilegierte telefonbesitzende Nachbarin an die Wohnungstür der Familie Köster klopfte. Das Krankenhaus hatte angerufen und Bescheid gegeben, dass es Frau Kösters Mutter schlecht gehe und sie sofort kommen solle. In ihrer Aufregung vergaß Gabis Mutter vor ihrem Weggehen die „enorme Gefahr“ für ihre Tochter, also mich, zur Sicherheit weg zu komplementirren. Gabi und ich waren also allein in einer sturmfreien Bude. Statt über Mathe sprachen wir über die Dinge, zu denen wir bei der Anwesenheit der Mutter nie gekommen wären. Gabi gestand mir, dass sie noch nie einen Penis original gesehen und einen solchen mal gerne in der Hand gehabt hätte. Umgekehrt ging es mir genauso. Auch ich hatte bisher noch keine weiblichen Geschlechtsmerkmale in direkten Augenschein nehmen und erst recht nicht befummeln können. Die Gelegenheit war günstig und wir vereinbarten unsere Kleider abzulegen. Leicht fiel es uns, die wir voll gehemmt waren, nicht aber mit pochenden Herzen schafften wir es, von einer unbändigen Neugierde getrieben, dann doch. Es wird wohl so eine halbe Stunde, die wir mit genauen Anatomiestudien verbrachten, vergangen sein als der „Blitz einschlug“. Gabis Oma war noch vor Eintreffen von Frau Köster im Krankenhaus verstorben. Davon war auch Gabis Vater im Amt informiert worden und dieser eilte zunächst mal spornstreichs nach Hause, wo er den „frischgeborenen“ Lüstling in eindeutiger Situation mit seiner Tochter vorfand, vor ihn hatte sich also der Schlund der Hölle geöffnet. Zunächst gab es Keile. Nein, nein, Mädchen schlug man nicht im Beisein Dritter; auch bei Kösters nicht. Aber mir ging es dafür wie dem armen Jungen auf Krövers Weinetikett. Vom rechtsstaatlichen Prinzip das niemand für die gleiche Sache zwei Mal bestraft werden darf hielt man zu jener Zeit wohl auch noch nichts. Ich war gerade eine schlappe Stunde zuhause als Herr Köster meinen Vater von dem ungeheuerlichen Vorfall berichtet hatte. Da langte auch mein Herr Vater noch mal kräftig zu und 14 Tage Stubenarrest erhielt ich dann noch als Zugabe daraufgelegt. Köster beließ es nicht nur bei der Information unseres Familienhäuptlings sondern setzte auch unseren Klassenlehrer davon in Kenntnis, was für ein „Früchtchen“ sich unter seinen Schülern befinde. Offensichtlich war damals der Pranger auch noch nicht abgeschafft, denn unser Pauker kanzelte mich vor versammelter Mannschaft im Unterricht kräftig ab. Ich fühlte mich wie ein kleines elendiges Würstchen. Ich nehme an, dass mich die Tatsache das mein Vater der „große“ Spediteur und Reisebusunternehmer war vor dem Rausschmiss von der Realschule bewahrt hat. Ja, ja, die Sitten waren damals halt streng aber den Kniefall vor dem Geld kannte man auch in diesen Zeiten schon. Ein jedes Arbeitersöhnchen wäre nach einer solchen Sache wieder in die Volksschule zurückversetzt worden. Es war bestimmt nicht von den handelnden Erwachsenen beabsichtigt, das sie mit ihrem Täderä meine Laufbahn als Jungcasanova begründeten und begünstigten. Die Strafpredigt im Unterricht werteten mich nicht nur bei meinen Mitschülerin mächtig auf. Die Jungens hatten einen Riesenrespekt vor mir, dem tollen Hecht, und die Mädchen waren informiert, dass ich nicht wie meine Mitschüler ein unschuldiges keusches Jüngschen sonder ein früherfahrener Knabe, den sie selbst mal gern erleben wollten, war. Bis zum Ende meiner Schulzeit hatte ich mit fast allen Mitschülerinnen mal was. Ich glaube nur diejenigen, bei denen die Symphatikusfrequenz nicht mit meiner übereinstimmten, blieben von einem heimlichen Treff mit mir verschont. Natürlich ging es nicht immer aufs Ganze; das war auch erst über ein Jahr später erstmalig der Fall und „richtigen“ Geschlechtsverkehr hatte ich bis zu meiner Schulentlassung tatsächlich insgesamt auch nur drei Mal. Bei einigen blieb es beim schüchternen Geknutschte, bei anderen kam Busengestreichel hinzu aber meist war es dann doch ein vollständiges Petting bis zur gegenseitigen Befriedigung; aber auch nicht mehr. Mein Ruf hielt sich nicht nur im Klassenverband sondern wurde deutlich darüber hinaus getragen. So konnte auch mal ein Freund meines Vaters scherzen: „Mütter schließt die Töchter ein, Walter Heuer hat Ausgang.“. Also, zum
Kleinstadtplayboy bin ich nicht aus eigener Leistung oder aus angeborener Triebhaftigkeit sondern Dank ungewollter Empfehlung von Moralaposteln geworden. Somit kann ich nur bestätigen, dass Aufklärung und halbwegs toleranter Umgang mit diesen menschlichen Dingen weitaus besser als dümmliches Moralgedusel, wie in den Fünfziger, ist. So nach und nach gewöhnten sich auch meine Eltern an meinen „schlechten“ Ruf und meine Mutter beließ es dann nur bei der Ermahnung: „Walter, pass nur auf, dass da nicht irgendwelche Flittchen ein Kind von dir bekommen und wir dann Alimente zahlen müssen.“. In der Zeit wo es die Pille noch nicht gab bestand ja eine größere diesbezügliche Wahrscheinlichkeit. Nun, bis 1967 ist ja auch nichts passiert und dann war es, weil ich inzwischen ja auch erwachsen war, nicht mehr ganz so schlimm. So gingen unsere Jugendjahre ins Land. Ich derjenige, der keinen Rockzipfel vorbeiziehen lassen konnte ohne daran kleben zu bleiben und Jürgen das lerneifrige, solide Söhnchen welches lieber über Büchern hockte. Das sollte sich 1966, Jürgen war inzwischen 26 und auch ich hatte das Volljährigkeitsalter von 3 x 7 Jahren erreicht, schlagartig ändern. Da traten wir plötzlich Beide in einen erbitterten Konkurrenzkampf ein. Es begann damit, das unsere Eltern der Meinung waren, dass Simone Behrens die richtige Frau für einen von uns beiden Jungens sei. Wer der Auserwählte sein sollte, war Uns Mam und Paps eigentlich egal, allerdings hätte unsere Mutter am Liebsten den Großen zuerst im Hafen der Ehe einfahren gesehen. Simone wurde deshalb als Ideal angesehen, weil ihre Eltern ein großes Autohaus, nicht nur in Richtung PKW sondern auch für Nutzfahrzeuge hatten; was sich ja hinsichtlich unserer Geschäftszweige nicht schlecht dargestellt hätte. Da Simone das einzigste Kind des Ehepaares Behrends war und so auch von den Eltern verordnet einen einschlägigen kaufmännischen Beruf erlernt hatte, war sie für die Heuers die Traumfrau für einen der beiden Söhne. Bei dieser Gelegenheit fällt mir auch ein nettes Anekdötchen aus der Zeit als Steppke Walter gerade zur Schule ging und gerade mal das Alphabet beziehungsweise dessen Anwendung erlernt hatte ein. Behrens hatten frührer bei ihrem Autohaus eine BP-Tankstelle. Auf einmal hatte Klein Walter die Lösung für die Abkürzung BP herausgefunden: Ganz einfach, das heißt „Behrends Penzin“. Unsere Mutter erzählte diese Kindermundstory immer sehr gerne. So auch auf der kleinen Grillparty, wie sie damals auch nur in den etwas besser gestellten Kreisen veranstaltet wurden, Anfang September 1966. Dazu hatten meine Eltern die Familie Behrens eingeladen. Simone hatte von ihren Eltern an diesem Abend einen ganz klaren Auftrag erhalten: Flirten, flirten und nochmals flirten. Einen der beiden Heuer Jungens sollte sie abstauben – Mittelstand zu Mittelstand. Die damals 20-jährige Simone machte ihre Sache wirklich gut und ich entbrannte postwendend. Als einiges bei mir „feststand“ wollte ich sie auf meine „Bude“ entführen um ihr meine Plattensammlung – Elvis Presley und Beatles – zu zeigen, was sie im Normalfall auch in die, von mir eigentlich angestrebte Horizontale gebracht hätte. Aus Letzterem wurde nichts, weil auch unser „Großer“ zur Freude von Uns Mam, von mir zunächst unbemerkt, ebenfalls angebissen hatte. Jürgen begleitete uns, sehr zu meinen Ärger, auf mein Zimmer und als Simone da zuerkennen gab, dass sie auch auf deutschen Schlager, der damals auch noch bei vielen Jugendlichen „in“ war, stand, komplimentierte sie mein großer Bruder von meinen auf sein Zimmer. Und, was bis jetzt noch nie passiert war geschah: Der „Kleine“ wurde zu den Mamas und Papas zurückgeschickt. An der Zeit, die deren Plattenbesichtigung in Anspruch genommen hatte und an der nicht mehr so korrekten Frisur Simones erkannte ich dann, dass mein Bruder offensichtlich zu dem Vergnügen, welches ich gerne gehabt hätte, gekommen war. Und an den Augen der Mütter konnte man sehen, dass sie darüber sehr glücklich waren – die inszenierte Bals war erfolgreich verlaufen. Bedingt durch meinen diesbezüglichen sportlichen Ehrgeiz kamen jetzt ein paar heiße Wochen auf uns zu. Ich ließ keine Gelegenheit aus, die meiner Meinung dafür angetan gewesen wäre meinen Bruder die Braut auszuspannen. Im Januar 1967 war ich endlich erfolgreich aber dann ... . Als ich des Abends vom Platz nach Hause kam stand Simone heulend bei uns vor der Tür. Sie hatte sich eigentlich bei Uns Mam ausheulen wollen, aber die war ausgerechnet an diesen Tag zu einer Freundin nach Seetal gefahren. Also nahm ich das arme Mädchen fürsorglich mit auf mein Zimmer und erfuhr zunächst nur, das Jürgen ein Schwein sei. Wir saßen auf meiner Bettkante und ich hatte sie tröstend fest in meine Arme genommen. Was sie in mir in dieser Zeit erzählte habe ich inhaltlich gar nicht so registriert, da ich auf ganz was anderes aus war. Zufall oder Versehen vortäuschend berührte ich ihren Pullover an der Stelle, wo er ihre Busen bedeckte. So richtig „fühlen“ konnte ich das was ich wollte allerdings nicht, da das Fleischige noch in einem Büstenhalter steckte. Also zog ich ihren Pullover nebst Bluse und Unterhemd ein Wenig hoch um mit meiner Hand näher ans Ziel zu kommen. Simone war überhaupt nicht abgeneigt und entblößte sich sehr eilig selbst. Nicht nur oben sondern innerhalb eines kleinen Augenblickes war sie vollkommen nackt und legte sich breitbeinig auf mein Bett. Dieser „Aufforderung zum Tanz“ kam ich prompt nach und schwupp lag ich, ebenfalls splitternackt auf sie. Es war so schön, dass ich spontan eine komplette Liebesnacht einplante. So richtig fetzig sollte es zugehen. Ich ging hinunter ins Wohnzimmer und holte aus Vaters Barfach eine noch nicht angebrochene Flasche Weinbrand – nichts besonderes, nur einen ganz normalen deutschen Weinbrand. Dazu zwei Schwenker und die gerade dort im Fach liegende Packung Salzstangen. Weder meine Eltern noch mein Bruder waren zu diesem Zeitpunkt im Hause. Und dann eröffneten wir unsere kleine Party für zwei Splitternackte. Weder Simone noch ich hatten eine bemerkenswerte Alkoholverträglich – was nicht trainiert wird kann man auch nicht besitzen. In der Zwischenzeit trudelten dann auch die drei restlichen Familienmitglieder Heuer Zuhause ein. In unserem Rausch beschlossen wir beiden in dem Aufzug, in
dem wir uns befanden, nämlich im Adams- und Evaskostüm, eine Polonaise durchs Haus zu machen und beglückten so auch unsere, inzwischen im Wohnzimmer versammelte, Restfamilie. Jetzt kann ich auf Grund meines rauschbedingten Black Outs nicht mehr erzählen was alles passierte, aber auf jeden Fall war dann das endgültige Aus für Simone in unserem Haus gekommen. Meine doch für die Zeit noch halbwegs toleranten Eltern konnten so etwas allerdings mit ihrem überlieferten Moralverständnis absolut nicht vereinbaren. Für mich war das allerdings keine Tragödie, da auch für mich der schnelle Schluss mit Simone Behrens vorprogrammiert war. Mein Bruder hatte sich umorientiert und mein Sportgeist verlangte nun von mir, ihm die Neue auszuspannen. Aber ich hatte mich ein Wenig getäuscht, es gab keine Neue auszuspannen sondern eine im Wettbewerb mit Jürgen zu Gewinnende. Vaters neue Sekretärin Anna Katharina Bauer war ein wirklich zauberhaftes Wesen. Sie hatte ein mädchenhaftes, makelloses Gesicht. Ihr Stupsnäschen war aus meiner Sicht direkt zum Anbeißen. Persönlich kenne ich keine andere Frau, die so wunderschöne hellblaue Augen wie sie hat. Anna Katharina war nicht sehr groß, nur 1,59 Meter bei einem Gewicht von 52 Kilo – aber die Rundungen befanden sich grundsätzlich immer an der richtigen Stelle. Vom Wesen her wirkte sie leicht verschüchtert und anheimelnd. Ich möchte jetzt niemanden auf die Füße treten aber wenn ich ehrlich bin muss ich gestehen, das Anna Katharina die mich am Meisten berauschende Frau meines Lebens war. Und so wie ich das sah, sah es Jürgen zunächst auch. Aus heutiger Sicht scheint mir der Grund, warum Simone Behrens Jürgen für ein Schwein hielt, zu den Rätseln zu gehören, die ich bis zu meinem Lebensende nicht lösen kann. Von Anfang an wusste ich zwar, dass Anna Katharina der Grund dafür war. Aber Jürgen war zu Anfang nicht weiter als ich bei ihr vorgestoßen. Wir warben mit all unserem Vermögen um ihre Gunst und sie stellte sich unnahbar da. Kurz und gut, Anna Katharina war die Traumfrau. Daher war es für mich mehr als verwunderlich, als Jürgen Ende März 1967 nach einem Wochenendaufenthalt in Berlin freiwillig aus dem Rennen ausschied. Auf einmal war ich ohne Mitbewerber bei der Bals um unser Fräulein Bauer. Da habe ich gerade eine Anrede, die in den 60er-Jahren noch für unverheiratete Frauen üblich war, gebraucht, aber so hatte ich Anna Katharina entsprechend der Etikette damals noch ansprechen müssen. Auf meinem 22. Geburtstag am 14. März hatte ich bei ihr den plumpen Versuch mit dem berühmten Bruderschaftskuss versucht, den sie sich aber zu dem Zeitpunkt energisch verbeten hatte. Einmal Berlin, immer wieder Berlin. Das scheint die damalige Devise meines Bruders Jürgen gewesen zu sein. Wochenende für Wochenende machte er sich auf dem weg über die Transitautobahn, die wir in unserem Jargon Transvestitenauerbahn nannten, in Richtung Berlin (West). Die Schreibweise Berlin (West) war damals, wenn man nicht die lange Bezeichnung „Westteil der alten Hauptstadt Berlin“ sagen wollte, für treubundesrepublikanische Leute verpflichtend, denn im Jargon der DDR-Holzköpfe unterschied man die selbstständige politische Einheit Westberlin von Berlin, der Hauptstadt der DDR (Doofen, Deppen und Rotznasen). Aber nichts desto Trotz bekamen wir Ende April die Antwort auf die Frage warum Jürgen laufend nach Berlin wollte frei Haus geliefert. Er stellte uns Roswitha Schrimpf aus Berlin-Lankwitz vor. Roswitha arbeitet im Übergangslager Marienfelde als Betreuerin und war neben der deutschen und englischen Sprache auch noch der französischen, polnischen und russischen mächtig. Ihre Sprachkenntnisse waren das, was Jürgen angelockt hatte. Wie er diese festgestellt hat, das heißt wie sie sich kennen gelernt hatten, weiß ich leider nicht aber auch ich wäre nicht an ihr vorbei gegangen, denn sie war ein Sexigirl, das jedem Mann auf Anhieb das Messer in der Hose aufspringen lässt. Das Gemeine an Roswitha war, dass sie einen immer sehr nahe an sich herankommen ließ, wobei sie ihre Sexattribute voll ausspielte, um einen dann fünf Minuten vor Toresschluss wieder aussteigen zu lassen. Bei dem Tempo, was mein großer Bruder jetzt vorlegte, blieb ich gegenüber Jürgen auch weitgehendst chancenlos. Wir kannten Roswitha noch gar nicht richtig als schon die Hochzeitsglocken läuteten. Am 6. Juli 1967 wurden Jürgen und Roswitha getraut. Das wäre für mich ein Grund gewesen, die Finger von meiner Schwägerin zulassen aber ich akzeptierte dieses nicht mal als Vorwand und ließ keine Gelegenheit aus, sie herum zu kriegen. Erfolgreich war ich in jener Zeit allerdings bei ihr nicht. Etwas über zwei Jahre später, am 13. September 1969, machten mich Roswitha und Jürgen zum Onkel – da wurde Astrid, das einzigste Mädchen im Hause Heuer geboren. Kurz nach seiner Hochzeit waren Jürgen meine Bemühungen um meine Schwägerin aufgefallen und er hat mir mächtig die Leviten gelesen. Aufgrund seines Altersvorsprunges war er mir auch in den beiden Heuerfirmen ein Stück voraus und er nutzte dieses um mir mit Vaters Hilfe zunächst einen mächtig auszuwischen. Ihm gelang es, mich für eine Zeit in die Position des Hanswurstes in der Firma zu drängen. Wenn ich was anordnete hatte dieses nur Gültigkeit, wenn dieses auch von Vater oder Jürgen bestätigt wurde. Wenn irgendwo ein „Hilfswilliger (Hiwi)“ benötigt wurde, dann war ich dieses, wenn man den Hiwi bei Jürgen angefordert hatte. Wenn irgendetwas schief gelaufen war, konnte mich ein jeder gegenüber meinen Vater und Jürgen als der Urheber des Schlamassel bezeichnen – die Beschuldiger bekamen mit Sicherheit Recht. Kurz und gut, ich hatte unter massiven Mobbing – so sagt man allerdings erst neuerdings - zu leiden. Unbeabsichtigt bekam ich mal mit, wie sich unser Lagerhandlanger mit einem unserer neuen Fahrer unterhielt und von mir, als den blöden Sohn des Alten sprach. Noch heute glaube ich, dass ich diese Bösartigkeiten nicht verdient gehabt habe. Jürgen hätte mir meine Ambitionen auf seine Frau sicherlich auf intelligentere, menschenwürdigere Art und Weise austreiben können.
Bekanntlich krümmen sich getretene Würmchen. Bei mir sah das so aus, dass ich meinen Bruder, den ich trotz geschwisterlichen Zwistigkeiten, bis zu jenem Zeitpunkt sehr geliebt habe plötzlich er- und verbittert hasste. Ich glaube, dass ich auch in meinem späteren Leben zeitweilig auf diese Hassgefühle, die ab und an wieder in meinem Inneren auftauchten, zurückgegriffen habe. Mobbing ist die Hölle, in der Gift und Galle gegart werden. Damals schwor ich mir, dass ich Jürgen geschäftlich und privat fertig machen und vernichten wollte. Wenn ich es mir so recht überlege war die Heimzahlung des Mobbings sehr häufig die Triebfedern meines Handelns und diese haben dann über einige Leute Leid und Unrecht gebracht. Das reut mich heute sehr, aber wer kann schon ein Daunenkissen wieder mit den Originalfedern auffüllen, wenn man das Kissen vorher aufgeschnitten und im Sturm ausgeschüttelt hat? Aber was soll die Spekulation, was gewesen wäre wenn nicht ... ? Zum Kapitel 3
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Wenn aus einer Liebe ernst wird Es war ein Freitag im August 1967 und das Ende der Schulferien stand bevor. Obwohl wir damals einen wesentlich geringeren Motorisierungsgrad hatten waren an einem solchen Tage haufenweise Staus angesagt. Ein Hintergrund war sicherlich, dass ein großer Teil der Autobahnen, die wir heute kennen, damals erst gebaut wurden. Da quälte sich der Verkehr über Land- und Bundesstraßen sowie durch Ortsdurchfahrten. Überall da, wo sich die Verkehrswege kreuzten brach dann alles zusammen und die übel nach Benzin stinkenden Staus entwickelten sich wie heute – damals nur quer durch die Ortschaften. Da kamen auch unsere LKWs und insbesondere unsere Busse, die die Leute aus den Ferien heimholten, auch nicht wie wünschenswert auf dem Platz an. Da bei deren Einfahrten immer noch was zu erledigen war, wurde mir, der ich gerade im Stand des Betriebsstiesels war, von meinem Vater eine Nachtschicht verordnet. Fräulein Bauer hatte sich, was mich eigentlich überraschte, freiwillig bereit erklärt ebenfalls noch eine Spätschicht zu fahren. Erst sah mein Vater das gar nicht so gerne aber Anna Katharina, auf die er nach meiner Meinung selbst ein spezielles Auge geworfen hatte, konnte ihm irgendwie um den Finger wickeln und sie erhielt daraufhin auch grünes Licht. Noch vor einem Vierteljahr wäre ich jetzt fast vor Freude über die günstige Gelegenheit „ausgerastet“. Jetzt aber war ich der geschmähte Junior und ich befürchtete, das jetzt jeder Annäherungsversuch für mich zu einem Bumerang werden könnte. Also hielt ich mich, an dem einen Schreibtisch sitzend, zurück. Sie saß mir direkt gegenüber an dem anderen Schreibtisch und erledigte noch einigen Formularkram. Ich tat derweil, außer sie unentwegt mit einem traurigen Gefühl anzusehen, absolut nichts. Plötzlich hielt sie inne und schaute mich mit ihren leuchtend blauen Augen an. Ich fühlte mich ertappt und schaute spornstreichs auf die vor mir liegende Schreibtischauflage. „Wollten sie mir was sagen Herr Heuer?“, fragte sie mit leiser und warmer Stimme. „Nein, nein, nichts, ich war nur ein Wenig in Gedanken“, wehrte ich etwas verlegen ab. In der gleichen Stimmlage wie zuvor setzte sie wieder an: „Woran denken sie denn? Vielleicht an ihren Geburtstag ... sie wissen schon?“. Unzweifelhaft spielte sie jetzt auf den missglückten Versuch des Bruderschaftskussaustausches an und ich war jetzt etwas ratlos ob des Zieles ihrer Frage. Ich sagte nichts und wagte auch nicht den Kopf zu heben. Plötzlich merkte ich wie mir ein paar Tränen die Wange runterliefen und ich begann weinerlich: „Fräulein Bauer. Ich wollte mir Zuhause eigentlich nur ein Spaß erlauben und habe dabei reichlich Bockmist gebaut. ... Das weiß ich selbst. Dafür stecke ich jetzt reichlich Prügel von meinem Vater und meinem Bruder ein. Und fast die ganze Belegschaft, die noch nicht mal weiß um was es geht, keilt fröhlich mit auf mich ein. Das kann ich eigentlich ganz gut wegstecken, denn ich weiß, dass es noch mal andere Zeiten geben wird oder ich die Konsequenzen ziehen werde. Aber bitte, bitte, machen sie nicht mit. Das kann ich überhaupt nicht vertragen, das tut mir sehr weh. ... Denn ich habe mich in sie verliebt. Ganz ehrlich, sie sind die erste Frau der Welt bei der ich so was empfinde. Für mich sind sie wie eine Fee. Bitte, bitte tun sie mir nicht weh.“. Jetzt konnte ich mich aber nicht mehr halten und heulte los. Ich legte meinen Kopf auf meine, über der Schreibtischauflage gekreuzten Arme und wäre am Liebsten in den Boden versunken. Jetzt vernahm ich ihre, ebenfalls nach Weinen klingende Stimme: „Ach Walter, ich liebe dich doch auch. ... Ich habe dich von Anfang an geliebt. Damals auf deinen Geburtstag wusste ich, das ich zwischen dir und deinen Bruder stand und es reichlich Ärger gegeben hätte, wenn ich dir deine Frage so beantwortet hätte wie ich es wollte. Jetzt kann ich dir aber alles, auch die Fragen, die du dann nicht gestellt hast mit Ja beantworten. Ja, ich bin Anna Katharina und du kannst zu mir Anna oder Anni sagen. Ja, ich möchte mit dir gehen. Ja, ich möchte mit dir schla...“. An dieser Stelle brach sie ab und ich, der ich mich inzwischen wieder aufrecht gesetzt hatte und sie ansah, konnte deutlich sehen wie sie errötete. Spontan sprang ich auf und ging um die Schreibtische herum auf sie, die jetzt ebenfalls aufgesprungen war, zu und nahm sie in meine Arme um sie fest an mich heranzupressen. Unsere weitaufgerissenen Münder legten sich jetzt aufeinander und ein wildes Spiel der Zungen begann. In diesem Moment konnte ich feststellen, dass aus einer Liebe, wie ich sie so erstmalig empfand, ernst geworden war. Auch die Tatsache, dass Liebe auf Gegenseitigkeit beruht, konnte ich erstmalig erleben; jetzt wusste ich auch Anni liebt mich wirklich. Wer aber jetzt glaubt, es hätte sich an diesem „Vorfall“ eine heiße Liebesnacht angereiht der irrt. In der Firma war uns das doch ein Wenig zu „unheimlich“. Sicher haben wir uns nett, glücklich und verliebt unterhalten und auch ab und zu mal eine Zärtlichkeit ausgetauscht; aber mehr nicht. Im Halbstundentakt kamen jetzt auch unsere Fahrzeuge rein. Immer wenn Dritte dabei waren, nannten wir uns auch immer ohne Versprecher förmlich „Fräulein Bauer“ und „Herr Heuer“, woraus dann, wenn wir wieder unter uns waren, dann wieder Walter und Anni wurden. So war es jedenfalls bis kurz nach Zehn als nur noch ein Bus ausstand und mein Vater noch mal reinschaute und mich fragte: „Würdest du bitte Fräulein Bauer nach Hause fahren ... es ist ja schließlich schon spät. Ich bleibe dann bis der Schreiner (Name unseres noch ausstehenden Fahrers) hier ist im Laden.“. Da verplapperte ich mich: „Natürlich bringe ich Anni nach Hause das hätte ich sowieso gemacht.“. Anna Katharina hatte meinen Verplapperer sofort registriert und nutzte das gleich um Klarschiff zu machen: „Ach Walter, es ist ja noch so schön draußen. Da kannst du doch den Wagen stehen lassen und wir können doch zu Fuß gehen.“. Mein Vater reagierte darauf in einer von mir zu diesem Zeitpunkt vollkommen unerwarteten Weise: „Walter kommst du denn vor Morgen früh noch mal zurück oder kann ich, wenn ich hier fertig bin, das Tor abschließen. Du kannst auch deinen Wagen erst an die Straße setzen, weil es mich
nichts angeht was ihr macht. ... Aber das es bei euch endlich gefunkt hat, freut mich trotzdem. Ehrlich gesagt habe ich darauf gehofft, als ich euch Beide heute Abend hier allein gelassen habe.“. Im Laufe der folgenden Woche kam es dann zu einer Aussprache zwischen Vater und Sohn. Paps gestand mir, dass er, wenn er jetzt noch in meinem Alter wäre, sich Anni genauso geschnappt hätte wie ich. Irgendwie habe auch er sich in das Mädchen verliebt aber im Hinblick auf sein Alter habe Uns Mam nichts zu befürchten. Meiner Mutter wäre vom ersten Augenblick aufgefallen, wie mich Anna Katharina angehimmelt habe. Jürgen habe nur mit ihr anbändeln wollen um mir Eins auszuwischen. Er hoffe nun umgekehrt, dass meine Bemühungen um Roswitha den gleichen Grund gehabt hätten. Sich an die Ehefrau des Bruders heranzumachen wäre in seinen Augen eine unbeschreibliche Ungeheuerlichkeit und deshalb hätte ich wirklich ein paar Kräftige hinter die Löffel verdient gehabt. Er wolle nun das Kriegsbeil wieder eingraben, aber wie ich mit Jürgen klar käme, wäre meine Sache wo er sich nicht reinhängen wolle. Bei dieser Gelegenheit sprach er dann an, dass Jürgen am Wochenende die Einweihung seines Eigenheimes am Rande von Waldheim, welches er gekauft hatte, mit der Familie feiern wolle. Jetzt müsse ich, der dazu wohl mehr förmlich als ehrlich eingeladen sei, entscheiden ob ich mit Anni erscheinen wolle oder ob ich, um dem aus dem Wege zu gehen, mir und meine Beste von ihm einen Wochenendausflug spendieren lassen wolle. Die Entscheidung in der letzten Angelegenheit wollte ich dann doch mit Anni durchsprechen und mein Vater unterbreitete darauf den Vorschlag ich solle Anni doch ruhig hereinrufen. Ich ging zur Tür, die ich kurz öffnete und dann sagte ich in den Raum: „Anni Schatz, kannst du mal einen Augenblick rein kommen.“. Dabei hatte ich missachtet das sich Jürgen im Raum befand und bekam dafür prompt meine Quittung: „Na, will der Kleine seiner Angebeteten gestehen dass er meine Frau flach legen wollte.“. Anna Katharina wusste, wie alle in der Firma, bis jetzt nur, dass es Ärger im Familienkreis gegeben hatte, den detaillierten Grund hatte sie aber erst in diesem Augenblick erfahren. Nachdem sie eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte bekundete sie etwas trotzig: „Das war gemein.“. „Ich weiß, Schatz,“, erwiderte ich, „aber das ist vorbei und ich mache das bestimmt auch nie, nie wieder.“. Sie schaute mich treuherzig an: „Ach Schatz, dich habe ich doch gar nicht gemeint. ... Ich meinte doch deinen Bruder. Aber mach dir mal keine Gedanken. Ich glaube dich ganz gut kennen gelernt zu haben und habe, ohne dass du es gebeichtet hast, gewusst was passiert ist. Aber beruhige dich, so viel anders wie du ist dein Bruder auch nicht und hätte das umgekehrt mit großer Wahrscheinlichkeit auch gemacht. Das war ja der Grund dafür, dass ich bis letzten Freitag meine Liebe zu dir verheimlicht habe.“. Mein Vater, der dieses mitbekam, wurde ein Wenig nachdenklich: „Anni, ... ich hoffe, dass ich das jetzt auch zu ihnen sagen darf Fräulein Bauer.“. Nachdem sie dieses bestätigt hatte fuhr er fort: „Anni, sie haben ...“. Jetzt wurde er von Anna Katharina unterbrochen: „Wenn schon Anni, dann bitte auch du. Aber ich werde zu ihnen ...“. Nun ging die Unterbrechung von ihm aus: „Aber nur auf Gegenseitigkeit. Also wenn sie schon nicht Paps oder Vati zu mir sagen wollen, dann nennen sie mich doch bitte Ernst. Aber Paps wäre mir lieber.“. „Also offiziell verlobt sind wir ja noch nicht.“, antwortete sie etwas schüchtern, „Das wäre ja der Zeitpunkt ab dem man Vati sagt. Aber wenn ich ihnen .... oh entschuldige, ich meinte wenn es dich freut, nenne ich dich gerne Vati. ... Paps zu sagen, sollte doch das Vorrecht deiner Söhne bleiben.“. Nun aber zu dem was Paps eigentlich sagen: „Anni, jetzt zurück zur Sache. Ich habe festgestellt das sie, ... äh du recht hast. Die beiden Jungens sind aus dem gleichen Holz geschnitzt. ... Vielleicht haben sie ja das von mir. Damit habe ich Walter eigentlich etwas Unrecht getan, als ich Jürgen aufgrund seiner Petze geholfen habe den ‚Kleinen’ hier im Laden einen Denkzettel zu verpassen. Vielleicht liegt sogar die Schuld allein bei mir und meiner Frau als wir unseren Ältesten unbedingt unter die Haube bringen wollten. Der wollte sich seine Frau wahrscheinlich selbst auszusuchen und das Ganze hat nur im Zuge eines nachvollziehbaren Grundes zu einem Kain-und-Abel-Verhältnis geführt, wofür Walter dann das Kainsmal tragen musste. ... Das war aber nicht der Grund warum wir dich reinriefen.“. Und jetzt berichtete er ihr von dem Hintergrund und schloss damit ab, das er auf Grund von Jürgens Verhalten kurz zuvor, jetzt der Meinung sei, dass es wohl noch nicht an der Zeit zur brüderlichen Aussöhnung sei und aus seiner Sicht jetzt feststände, dass er uns den Wochenendurlaub spendiere. Wir stimmten zu und konnten am Wochenende nach Hörnum/Sylt starten. Ob es Vater wohl bewusst war, dass er eigentlich unnütz zu viel Geld bezahlte, in dem er uns, entsprechend der damaligen Vorstellungen, zwei Einzelzimmer buchen ließ? Benutzt haben wir natürlich nur eins. Das Ganze hatte uns so gut gefallen, dass wir dieses jetzt im vierzehntägigen Abstand wiederholten. Es war natürlich nicht immer Hörnum, es folgte Winterberg im Sauerland, Langweer im holländischen Friesland, Berlin, Passau und Biberach an der Riss. An den Wochenenden wo wir in heimischen Gefilden blieben gab es jeweils Samstags- und Sonntagsnachmittags ein, sich mit leichten Varianten, stetig wiederholendes Ritual. Am Samstag saßen wir mit meinen Eltern zusammen und am Sonntag gab es dann eine gleichartige Veranstaltung bei Mama Bauer. Frau Bauer war 1953 von ihrem Exmann, einem Schneidermeister, geschieden worden und seit dem blieb sie mit ihrer, am 11. August 1947 geborenen Tochter, alleine. Ehrlich gesagt: Ich fand Mama Bauer einfach Klasse und habe mich mit ihr schon beim ersten Mal, als mich Anni mit nach Hause brachte, angefreundet. Vom Charakter und Auftreten glich sie meiner eigenen Mutter, aber während Uns Mam mir gegenüber auch mütterliche Autorität walten ließ, konnte ich Annis Mutter förmlich um den Finger wickeln.
An einem Samstag in der beginnenden Weihnachtszeit sorgte Anni für eine tolle neue Nuance in unserem Leben. Sie saß mit gesenkten Kopf am Kaffeetisch und sprach leise: „Ich habe euch was ganz Wichtigstes zu sagen.“. „Dann mal los“, ermunterte mein Vater sie. Daraufhin schaute sie ihn an und sagte, wie sie üblicher Weise Vati sagt „Opi“ und dann schaute sie Uns Mam an und sagte entsprechend „Omi“. Danach senkte sie wieder den Kopf und fügte noch „Das war’s“ an. Trotz ihres gesenkten Kopfes merkte ich wie sie dabei etwas „verschmitz“ lächelte. Meine Mutter hatte als erste sofort und richtig verstanden. Aus ihr sprudelt somit auch gleich „Wann ist es denn soweit?“ heraus. Was Anni ebenso spontan mit „Im Mai“ beantwortete. Während sie diese Antwort gab wand sie mir ihr Gesicht zu und fragte lächelnd: „Und was sagt der Papi dazu?“. Diese kleine Szene bei uns zu Hause hat mich so überwältigt, dass ich mich heute, nach über 30 Jahren, noch an fast jedes Detail der Geschehnisse jenes Nachmittags erinnern kann. Vater eröffnete dann anschließend mit der Bemerkung, dass nun ja aus Liebe ernst geworden sei und das wir uns dann mal mit den ernsten Dingen beschäftigen sollten, die „große Gesprächsrunde“ des Dezembersamstages. Also, er leitete damit dann auf Themen wie Hochzeit, eheliche Wohnung und so weiter über. Zunächst fragte Uns Mam: „Ich gehe mal davon aus, dass das Kind nicht vaterlos zur Welt kommen soll und ihr noch vor der Niederkunft heiraten wollt?“. So war es halt in den 60er-Jahren noch und Anni gab auch gleich zu erkennen, dass sie darüber schon nachgedacht habe: „Walter und meine Mutti haben am gleichen Tag Geburtstag. Ich würde diesen Tag als Hochzeitstag ganz toll finden.“. Sie wandte sich jetzt mir zu und fragte: „Was meinst du, Schatz?“. Ich, der ich auch so eben erst von der Begründung der eigenen Familie erfahren hatte, stimmte spontan zu und somit war dieser wichtige Punkt abgeschlossen. Das Thema eheliche Wohnung fiel dann wieder ganz in die Kompetenz von Paps. Er hatte sich laut seinen Worten schon seit einiger Zeit mit den Gedanken befasst, für sich und meine Mutter eine Eigentumswohnung in Waldheim zu kaufen. Bei Immobilien Schroer habe er dieser Tage ein geeignetes Objekt in der Robert-Koch-Straße, welches im Januar oder Februar beziehbar sei, gesehen. Da er so etwas momentan nicht für aktuell gehalten habe, habe er sich allerdings diese Sache nicht mit dem notwendigen Kaufinteresse verinnerlicht. Aber gleich kommenden Montag wolle er zu Schroer und sich sachkundig machen. Wenn das klappt könnten wir sein Häuschen in Romansweiler auf Rentenbasis kaufen. Dem schloss sich, nach unserer Zustimmung, dann noch ein etwas längerer Vortrag über Kauf durch nahe Angehörige, Übernahme, Erbschaft und Schenkung sowie den einschlägigen Passagen im Steuerrecht an. An dieser Stelle merke ich so zwischendurch mal an, dass meine Eltern besagte Eigentumswohnung und wir mein Elternhaus bekamen. Nun aber zurück zu jenen Samstag, der noch in einen Überfall auf Mama Bauer und in Arbeit ausarten sollte. Uns Mam unterbrach den „Steuerrechtsexperten“ Ernst Heuer: „Na ja, Ernsti, über die Modalitäten könnt ihr euch noch reichlich unterhalten. Jetzt bin ich erst mal mit praktischen Vorschlägen dran. Jürgens Zimmer oben steht ja nun schon ein ‚paar Wochen’ leer. Wenn wir diese mit dem nebenanliegenden Zimmer von Walter mal vorrübergehend zusammendenken, hätten die beiden doch eine provisorische Übergangswohnung. Ein Klo ist ja auch oben; Bad und Küche könnt ihr bei uns mitbenutzen. Anni Mädchen, willst du nicht schon mal mit deinem Künftigen zusammenziehen? Wegen meiner könnte das sofort geschehen.“. Und oh Schreck, Anni war überschwänglich begeistert und der Stress ging los. So gegen 17 Uhr brachen wir zur ersten Fahrt des Tages von Romansweiler nach Waldheim auf, um in der dortigen Hochstraße die Wohnung von Mama Bauer von den persönlichen Sachen meiner Anni zu entlasten. Sie saß mit glücklichen, verträumten Gesicht auf dem Beifahrersitz und war außergewöhnlich wortkarg. Offenbar war sie geistig in die Welt einer rosaroten Zukunft entschwunden. Das gab mir, der in den letzten zwei Stunden praktisch von neuen Aspekten überfahren worden war, ein Wenig Gelegenheit über das aktuelle Geschehen nachzudenken. Na ja, das Anna Katharina schwanger war kann man unter „vorhersehbar“ abhaken. Schließlich waren wir ja nicht zum Mensch-ärgeredich-nicht-Spielen in die Wochenenden gefahren – und Bildungstouren waren es ja auch nicht. Aber sowohl meine Eltern wie Annis Mutter hatten dieses, sich wohl bewusst darüber was da passieren „könnte“, alles mit Wohlwollen akzeptiert; der erste Anstoß kam ja sogar von meinem „alten Herrn“. Dann heute der glatte Ablauf der Schwangerschaftsmitteilung und die postwendenden Vorschläge in Richtung ehelicher Wohnung? War die Kenntnis des Angebotes von Immobilien Schroer wirklich Zufall? Hatten wir nicht bei einem, dem Wunschdenken entsprungenen, Plan wie vorgesehen mitgespielt? Versetzen wir uns doch mal in die damalige Zeit. Die „sexuelle Revolution“ wurde damals erst von Oswald Kolle angestoßen und stand im Wesentlichen noch bevor. Alleinerziehende Mütter und/oder Konkubinen in Onkelehen, also in Partnerschaftsverhältnissen ohne Trauschein, waren gesellschaftlich geächtet. Was heute Kult ist war damals der moralische Sumpf. Da lässt man zwei junge Leute unterschiedlichen Geschlechts alle 2 Wochen vorsätzlich in die Betten springen? Man wird uns doch wohl nicht für Engelchen gehalten haben? Da kann es doch nur das Ziel gewesen sein, dass das, was gesellschaftlich verpönt war, eintrat und man anschließend die konventionellen Konsequenzen zieht, sprich vor dem Traualtar tritt. Ein Motivationsschub für meine Eltern lag wohl auch in der Tatsache, dass damals ein quer durch die Damenbetten hüpfender Junior dem Image eines Unternehmens und damit den Umsätzen schaden konnte. Also sollte mich ein solch zauberhaftes Wesen wie Anna Katharina von der freien Wildbahn holen. Außerdem würde sie, so haben wohl meine Eltern gedacht, mich von meiner Schwägerin fernhalten können und damit den familiären, aber in der Firma ausgetragenen, Konflikt lösen. Die Hintergedanken von Mama Bauer sind kürzer zu erklären: Für die war der Junior der Firmen Ernst Heuer halt eine gute Partie.
Auch was die Wohnraumfrage anbelangte lässt sich dieses wohl analytisch erklären. Meine Eltern hatten nun mal vor nicht allzu langer Zeit sich ihr Häuschen am Romansweiler Waldrand errichtet. Aber mit ihrem zunehmenden Alter fiel ihnen die Bewirtschaftung immer schwerer. Immerhin hatte meine Mutter doch schon erhebliche Schwierigkeiten mit ihrer Diabetes und beginnender Inkontinenz und mein kriegsversehrter Vater konnte auch nicht mehr so richtig. Da dürften sie sich sehnlichst so ein Altenteil wie die Eigentumswohnung in der Waldheimer Robert-Koch-Straße gewünscht haben. Andererseits passte es wohl nicht in ihre Vorstellungswelt, dass ihr Heim in fremde Hände oder in die eines Filous, wie sie Betthüpfer, so wie ich vorher mal einer war, nannten, fiel. Damit nicht im letzten Moment doch noch was dazwischen kommt, wollten sie dadurch abwenden, dass sie alles unter der eigenen Aufsicht belassen wollten. Und so ist auch das Inshausholen der zukünftigen Schwiegertochter erklärt. Jetzt muss ich aber trotzdem gestehen, das damals praktisch alles auch in meiner persönlichen Interessenssphäre lag und daher lief es dann auch wie geschmiert über die Bühne. Inzwischen waren wir in der Hochstraße bei meiner Schwiegermutter in spe angekommen. Auf der einen Seite brauchte man Mama Bauer nicht viel zu erklären, denn Anna Katharina hatte unmittelbar nach dem sie vom Frauenarzt nach Hause kam ihrer Mutter ihre Schwangerschaft mitgeteilt. Den 14. März 1968 als möglichen Hochzeitstermin hatten Mutter und Tochter gemeinsam angedacht. Dem, dass Anni schon vor der Hochzeit zu uns übersiedeln würde, hatten sie eine große Wahrscheinlichkeit zugerechnet, aber das dieses nun von Jetzt auf Gleich geschehen sollte rührte Annis Mutter schon ein Wenig an. Für sie hieß das, dass sie plötzlich alleine war. 20 Jahre war ihr Töchterchen immer bei ihr gewesen und seit ihrer Scheidung vor 14 Jahren war sie immer nur für Anni da gewesen. Da flossen jetzt natürlich reichlich Tränen; meist bei der Mutter aber auch ab und an bei der Tochter. Einziger Trost für dieses Wochenende war das wir am nächsten Tag wie vorgesehen zum Sonntagsnachmittagskaffee „antanzen“ würden. Der „Umzug“ ließ sich relativ schnell abwickeln. Es ging ja nur darum Annis persönliche Habe, wie Kleidung, Hygieneartikel aber auch Kuscheltiere, Schallplatten und Erinnerungsstücke, von der mütterlichen Wohnung ins schwiegerelterliche Heim zu transportieren. Mit Möbel und so weiter hatten wir nichts „am Hut“. Da in Jürgens ehemaligen Zimmer sich noch das komplette Mobiliar im Leerzustand befand gab es ja genügend Platz für den Besitzstand meiner Zukünftigen. Letzteres war ja überhaupt der Hauptgrund für den Zimmerbedarf, denn bis zur Hochzeit waren wir ohnehin immer nur in einem Zimmer vereint – und da wäre ja mein Zimmer absolut ausreichend gewesen. Ich musste zwar drei Mal zwischen Romansweiler und Waldheim hin- und herkutschen aber gegen halb Zehn war alles erledigt. Es war sogar alles korrekt eingeräumt, so dass wir unseren Interessen und Vergnügen nachgehen konnten. Was dieses in der ersten Nacht im Haus am Waldesrand war, brauche ich ja wohl an dieser Stelle nicht genau auszuführen; es sei denn, ich würde die Erotik im Roman priorisieren. Am Sonntagnachmittag waren wir dann wie geplant und versprochen bei Mama Bauer. Diese regelmäßig um Drei beginnende Visite war in der Regel um Fünf immer abgeschlossen. Heute dehnten wir sie jedoch bis halb Sieben aus. Aus meiner Sicht hing diese Ausdehnung nicht nur mit der Tröstung der nun alleingelassenen Mutter zusammen sondern auch damit, dass Jürgen und Roswitha, ebenfalls im vierzehntägigen Rhythmus, des Sonntags zur Visite bei unseren Eltern antraten. Mit denen wollte ich an jenem Tag nun wirklich nicht zusammentreffen. Aber nicht jeder Wunsch geht in Erfüllung. Auf Betreiben meiner Eltern mussten mein Bruder und meine Schwägerin bis zu unserer Rückkehr ausharren. Meine Eltern hatten sich vorgenommen, anlässlich der Familienerweiterung den schädlichen Bruderzwist beizulegen. Wie ich später erfuhr hat der Vorfall, der zu tatsächlichen Wende führte, in der Folgewoche zu reichlich Zoff in der Ehe meines Bruders geführt. Roswitha hatte bekundet das man mir Unrecht täte, denn es wäre alles von ihr ausgegangen. Im Gegenteil, ich sei so ein feiner Mensch, dass ich um meinen Bruder nicht weh zutun alle Schuld auf mich nehmen würde. Na ja, ganz so weit war Roswitha nicht von der Wahrheit entfernt. Ich hatte ja schon mal geschrieben beziehungsweise diktiert, dass meine Schwägerin eine Vorliebe dafür hatte jemanden ganz nahe an sich heranzulocken und dann plötzlich die Schotten dicht zu machen. Sie gestand ihren Schwiegereltern und ihrem Mann, dass dieses mit ihrer exhibitionistischen Neigung, der sie eine prickelnde Spielart verliehen habe, zusammenhinge. Leistete dann aber einen heiligen Schwur, mich zukünftig nie wieder diesbezüglich missbrauchen zu wollen. Das konnte ich nicht ahnen als wir so gegen Sieben zuhause eintrudelten. Im ersten Augenblick war ich, als ich mich im Wohnzimmer bei meinen Eltern zurückmeldete ein Wenig sauer meinen Bruder zu erblicken. Aber Jürgen stand als er mich sah spontan auf und kam auf mich zu um mich in seine Arme zunehmen: „Mensch Walter, was war ich für ein Arsch. Ich habe dir so viel Unrecht angetan. Bitte verzeih mir und lassen wir es doch wie früher sein.“. Dabei kam es zu einem Erlebnis, was ich seit unserer Kindheit nicht mehr hatte: Jürgen weinte auf meiner rechten Schulter und darauf konnte ich mich nicht mehr halten und weinte mit. Als wir beide uns wieder beruhigt hatten wandte sich Jürgen meiner Anni zu. Auch die nahm er kräftig in den Arm und sagte: „Herzlich willkommen liebe Schwägerin. Das bist du ja jetzt nach euerer Verlobung.“. „Entschuldigung Herr Heuer,“, begann Anni wie sie ihn ja bis letzten Freitag angesprochen hatte worauf Jürgen einschritt: „Mädchen, du gehörst jetzt zur Familie und da bin ich der Jürgen. Du wolltest mir bestimmt sagen, dass ihr keine offizielle Verlobung gefeiert habt. Na, dass können wir gerne nachholen aber an der Tatsache ändert das nichts.“. An dieser Stelle kann ich jetzt die ausführliche Beschreibung dieses Treffens abschließen. Bis hier ist ja auch das Geschehen noch in meiner Erinnerung so als sei es erst gestern geschehen. Vom Rest weiß ich
lediglich noch, dass wir bis in den späten Abend in gemütlicher Runde beisammen saßen und dass dabei meine Schwägerin außergewöhnlich zurückhaltend, fast keusch und ruhig, war. Allerdings was am nächsten Morgen auf dem Platz ablief gehört wieder zu meinen stark verinnerlichten Erinnerungen. Für unsere Mitarbeiter liefen ja einige Wunder ab, an denen ich mich im Stillen köstlich amüsierte. Dass ich mit Anni zusammen war stellte ja kein Geheimnis da und es wurde sicherlich hinter unserem Rücken im Tratsch gemutmaßt, dass Anni im Bett Kariere machen würde und von der Sekretärin zur Juniorchefin aufsteigen würde. Mit so etwas, was nicht selten im Neid geboren wird, muss man leben. An diesem Vormittag kam es dann für unsere Leute aber knüppeldicke. Trotz unserer Beziehung war Anna Katharina, wie alle anderen Mitarbeiterinnen in der Verwaltung auch, immer pünktlich um Acht zum Dienst erschienen. Der Chef und seine Junioren erlaubten sich, wenn nichts Besonderes anlag, das Privileg immer erst eine Stunde später zu erscheinen. Na ja, ein Ritual welches man aus fast allen Firmen kennt und die heutzutage durch die immer beliebteren Gleitzeitregelungen leicht ins Wanken gekommen ist. An jenem Montag war sie zunächst nicht erschienen. Um Neun erschien als Erster Jürgen auf dem Platz und erkundigte sich als erstes danach ob ich schon da gewesen sei. Dafür gab es einen Hintergrund: Vater wollte seinen Wagen in die Werkstatt des Autohauses Behrens bringen, damit diese den jetzt 2 Jahre alten Schlitten durch den TÜV bringen sollten. Ab dem Autohaus wollte er dann von mir chauffiert werden. Am Vortag stand aber noch nicht fest, ob er dann anschließend wegen seiner neuen Prothese nach Seetal musste oder ob das auch erst einen Tag später geschehen konnte; dieses sollte am frühen Montagmorgen telefonisch abgeklärt werden. Falls ich ihn hätte nach Seetal fahren müssen, wollte ich vorher am Platz vorbeifahren und meine „Braut“ dort absetzen. Da Jürgen an diesem Morgen seine „Schwägerin“ für seine dienstlichen Obliegenheiten einspannen wollte, er aber jetzt nicht plump nach Anni fragen wollte, fragte er halt nach seinem Bruder. Da ich noch nicht da war, konnte sie dementsprechend auch noch nicht da sein und Jürgen konnte die Gelegenheit nutzen um erst mal zu Fuß zum nächsten etwa 500 bis 1000 Meter entfernten Zigarettenladen zu laufen um sich mit seinen HB einzudecken. Nach dem Geschehen der letzten Zeit war die Frage nach dem kleinen Bruder für die Heuerleute schon mal das Wunder Nummer Eins an diesem Tage. Als wir dann kurz darauf eintrafen gab es das Wunder Nummer Zwei. Wir trafen zu Dritt ein. Das heißt, dass für unsere Leute sichtbar Anni offensichtlich bei mir übernachtet haben musste. Ja, ja, die Moral. Einen kleinen Spaß hatten die Leute auch noch: Mein Vater saß wegen seines Holzbeines und der größeren Beinfreiheit vorne auf dem Beifahrersitz und meine Zukünftige war hinten eingesperrt. Grund: Mein Wagen war mit Kindersicherungen hinten ausgestattet und die Hintertüren ließen sich, da diese irgendwie aktiviert war, nicht öffnen. Folglich musste ich ihr, wie ein Herrenfahrer, von Außen die Türen öffnen. Als „Dank“ bekam ich in aller Öffentlichkeit und in Anwesenheit des Seniors ein Küsschen. In diesem Moment merkte man förmlich, dass wir jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aller Anwesenden standen. Da setzte ich jetzt natürlich noch Einen drauf und nahm sie während des Weges zum Büro in meinen rechten Arm. Vater ging äußerst rechts und so hatten wir die „Kleine“ in unserer Mitte. Aber aller guten Dinge sind Drei. Inzwischen war Jürgen wieder zurück und während mein Vater schon mal ins Büro ging warteten wir auf ihn, was ja noch letzten Freitag undenkbar gewesen wäre. Auch meinem Bruder war die hochspannende Atmosphäre auf dem Platz nicht entgangen und musste auch noch etwas Entsprechendes drauflegen: Er kam freundlich lächelnd auf uns zu und begrüßte Anni mit einem familiären Wangenkuss. Jetzt hatten wir die Leute ja praktisch auf Hundert gebracht und genossen dieses auch augenscheinlich. Eigentlich waren wir jungen Leute dann ein Wenig enttäuscht als uns unser Vater mit der versammelten Büromannschaft in der Tür entgegenkam und auch noch die Leute auf dem Platz herbeirief. Jetzt gab es erst mal eine Festansprache: „Meine Damen und Herren, ihnen ist sicherlich soeben einiges an Veränderungen bei uns aufgefallen. Das mein Sohn Walter sich in unsere reizende Anni ... also unser Fräulein Bauer, verliebt hat ist ja wohl niemanden verborgen geblieben. Wie heißt es so schön: Verliebt, verlobt, verheiratet. Am Wochenende haben die Beiden schon mal Punkt 2 erfüllt und sich verlobt. Punkt 3, die Hochzeit folgt am 14. März nächsten Jahres. Da es sich wohl nicht mehr lange verbergen lässt, kann ich ihnen auch verraten, dass die Beiden auch schon mal den Grundstein für eine richtige Familie gelegt haben und ich freue mich schon richtig darauf, voraussichtlich im Mai Großvater zu werden. Bevor jetzt jemand etwas von ‚trockener Luft’ behauptet, teile ich ihnen mit, dass wir heute ausnahmsweise mal alle Tätigkeiten hier um Drei einstellen und uns zum Umtrunk in der Halle versammeln.“. Als so gerade der Eindruck aufkam, als wolle er die Leute nun wieder an die Arbeit schicken, hatte auch Jürgen noch das Verlangen etwas zu sagen: „Moment mal, bitte. Ich weiß, dass sie alle mitbekommen haben, dass ich mit meinem Bruder so einen etwas massiveren Streit hatte. Worum es ging sollte Angelegenheit der Familie bleiben. Ich will nur dazu sagen, dass ich der böse Bube war und mein Bruder recht hatte. Anlässlich der Verlobung habe ich mich bei ihm bereits im Familienkreis entschuldigt, aber trotzdem ist es mir ein Bedürfnis, dieses noch mal hier in aller Öffentlichkeit zu tun: Walter, entschuldige mich.“. Wir umarmten uns und bekamen den Applaus der Mitarbeiter. Damit war jetzt in allen Punkten eine Klärung herbeigeführt. Was letztlich ja auch Klatsch und Tratsch vorbeugt und, nicht minder wichtig, zur Akzeptanz. Letzteres ist ja dahingehend von Bedeutung, dass kein Unternehmen ohne vernünftige Hierarchie und Autorität zu führen ist – und diese erreicht man, ich glaube sogar ausschließlich, nur durch Akzeptanz.
Die Zeit, die ich gerne noch mal leben möchte Was verbinden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, mit der Jahreszahl 1968? Etwa das fürchterliche Grauen des Vietnamkrieges, was aufgrund der mittlerweile flächendeckenden Verbreitung der Fernseher, Abend für Abend frei Haus in der Tagesschau geliefert wurde? Na ja, durch Rambo und andere „Hollywoodschinken“, wie auch spätere sauber und human dargestellte Telekriege, wie zum Beispiel der Krieg Irak/Kuwait, oder durch Kriege wie in Bosnien, Kosovo oder Tschetschenien, wo das Kriegsgrauen immer nur von einzelnen pathologischen Bösewichten ausging, ist ja alles relativiert worden und die Entscheidungen für den Dienst an der Waffe fallen heute den jungen Leuten wieder leichter. Heute wollen ja sogar die Mädchen und Frauen mitmischen. Oder verbinden Sie mit 1968 die fast oppositionslose Zeit des Bundeskanzlers Kiesinger, wo die Regierung die Notstandsgesetze gegen den mehrheitlichen Willen der Bundesrepublikaner durchsetzte? Damals hatten wir ja eine große Koalition und das kleine Häuflein von FDPler konnte wohl kaum ernsthaft als die Opposition bezeichnet werden. Denken Sie bei 1968 an die vom damaligen Außenminister Willy Brand eingeleitete Friedenspolitik? War das nicht eine schwere Schlappe für die damaligen Gegner des Kurses, der 1990 zur deutschen Einheit führte, dass Willy Brand, der für sie der Vaterlandsverräter Herbert Fram war, für diese Friedenspolitik mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde? Ist es nicht eine Ironie der Geschichte, dass der damalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, der damals ein erbitterter Gegner der Ostpolitik war, sich später stolz als der „Kanzler der Einheit“ bezeichnen konnte. Insbesondere Jüngere werden jetzt sagen: „Wovon redet der denn, ich habe doch im Fernsehen ganz was anderes von den 68er gesehen?“. Daran merkt man, dass das, was damals den Stein ins Rollen gebracht hat, sprich Vietnamkrieg, Große Koalition und Notstandsgesetzes, auf dem Wege ins Vergessen sind. Dafür werden die daraus folgenden Reaktionen abschreckend überbewertet. Damals war der, der SPD zuzurechnende Sozialiste Deutsche Studentenbund, kurz SDS, die führende studentische Bewegung. Was die eigentlich wollten, wussten damals auch nur die Leute die darin selbst aktiv waren. Die SDSler pflegten eine so hochintellektuelle Sprache, dass sie von Außenstehenden, selbst wenn sie nicht der untersten Bildungsschicht angehörten, überhaupt nicht verstanden wurden. In dem Zusammenhang wird auch immer der damalige SDS-Vorsitzende Rudi Dutschke genannt. Das es aber auch die Leute, die wir heute zur politischen Elite zählen, und viele, viele, die heute Hochschullehrer sind waren, ist bei stimmungsmachenden Nachbetrachtung scheinbar belanglos. Heute sieht es so aus als wäre damals ein gewalttätiger Flächenbrand ausgelöst worden. Belegt wird das immer mit den gleichen Bildern von Krawallen in Berlin und Frankfurt. Na ja, mehr kann man davon auch nicht zeigen, denn mehr an „Aktionen“ gab es dann wirklich nicht; die „Studentenunruhen“ sind im vollen Umfang dokumentiert. Sorry, diese Aussage passt bekanntlich beiden Seiten nicht, denn die Einen hätten sich selbst gerne größer gesehen und die Anderen stellen es gerne immer chaotischer da – politische Wahrheit ist was Wählerstimmen bringt. Im weiten Land war davon nichts zu sehen. Hier im Kreis Waldheim war meines Wissens nie eine rote Fahne hinter der Chaoten hertänzelten zu sehen. Hier sind nie junge Leute mit dem Ruf „Hoh – Hoh – Hoschimin“ in einer Volkstanz ähnlichen Formation über die Straßen gehüpft. Auch wenn man heute die Bilder von Vorlesungen an der Freien Universität in Berlin sieht und einem erzählt wird das wäre an allen bundesdeutschen Universität so gewesen sei, muss man doch skeptisch werden. Wo kommt denn die große Zahl der Leute her, die damals ganz „stink normal“ durchstudiert haben? Ich persönlich glaube, dass die entscheidendste Veränderung in 1968 im Medienbereich stattfand. Die Medien waren vom Beobachter zum Macher mutiert. Es wurde Stimmung gemacht und damit wurden dann diese oder jenen Dinge hochgespielt oder gar auf die Tagesordnung gehetzt, die dann für Andere, denen es nur darauf ankam dabei zu sein, interessant wurden. Auf jeden Fall hat die Mehrheit der Bundesbürger 1968 genauso erlebt wie später geborene die heutige Zeit erleben. Aber etwas wurde damals doch zum Flächenbrand. Es war das, was ich mit einem Sprüchlein aus der damaligen Zeit andeuten möchte: „Frau Holle für die Kleinen, Ossi Kolle für die Großen.“. Oder mit einem englischen Spruch, der aus dem Lager der Revoluzzer kam: „Fuck for peace“. Auch bei uns las man in den Illustrierten, die nach und nach auf den Zensurbalken über nackte Busen verzichteten, die Gedanken des Sexapostels Kolle. Auch bei uns liefen Schulmädchenreports und Filme nach der Marke „In der Lederhose wird gejodelt“. Und wenn man vom Ficken oder Bumsen sprach, wurde man nur noch darauf angemacht, wenn Personen unter 18 anwesend waren oder wenn der Ort, wo die Aussage fiel, nicht für „Sauereien“ angebracht waren. Allerdings als damals mal in Seetal sich ein paar Mädchen „Oben Ohne“ am Weiher aufhielten, führte das noch zu einen größeren Polizeieinsatz – und bestraft wurden sie später auch wegen Erregung öffentlichen Aufsehens. Also auf keinen Fall war es von 68 auf 69 auf einmal vollkommen anders. Aber eines muss man gestehen, ein allgemeines gewaltiges Umdenken in allen Bereichen ist schon in diesem Jahr 1968 in Gang gekommen und es hat sich die Gesellschaft dann in den folgenden zwei Jahrzehnten zu dem entwickelt, was man heute für normal hält. Für mich persönlich treffen alle Erinnerungsassoziationen nicht zu. Für mich stellt das Jahr 1968 die glücklichste Zeit meiner ersten 55 Lebensjahre da. Die Einschränkung auf diese Lebensjahre aus dem Grunde, weil es im Augenblick so aussieht, als führe zur Zeit mein Lebenszug wieder auf einer Glücksschiene – was ich allerdings jetzt aus logischen Gründen nicht abschließend bewerten kann. Jetzt kann ich nur sagen, dass 1968 die Zeit war, die ich gerne noch mal leben möchte. Könnte ich eine Zeitreise machen, ließ ich mich in das Jahr 1968 beamen. Auch dann wenn ich nicht mehr in die Zukunft zurückkehren könnte. Dann hätte ich sogar den Vorteil, die Fehler die mein Glück wie zartes Glas
zerbrechen ließen, zu vermeiden. Da das aber nicht geht bleibt mir heute nur die Erinnerung, die mich auch immer so ein Wenig romantisch wehmütig stimmt. Damals hatte ich, auch noch aus heutiger Sicht, die schönste und bezauberndste Frau, die mir jemals über den Weg gelaufen ist, an meiner Seite. Und diese nur für mich, für andere Männer war sie unnahbar. Das aber nicht nur aufgrund meiner Person sondern das war ihr Wesen. Dieses wurde mir auch recht deutlich gemacht, als ich im Januar 68 von meinem Vater wegen der Formalitäten hinsichtlich der Überführung, Abnahme und Zulassung unseres neuen Zuges ins Autohaus Behrens delegiert wurde. Natürlich war das vor Ort mit einer mordsmäßigen Beklemmung verbunden, da auch Herr Behrens seine Tochter Simone für diese Angelegenheit abgeordnet hatte. Ich merkte förmlich, dass Simone einen schweren Kloß im Hals hatte als sie mich in ihrem Büro, in dem wir dann alleine waren, begrüßte: „Guten Tag Herr Heuer. Nehmen sie doch bitte Platz.“. Ich reichte ihr die Hand und begann: „Guten Tag Fräul ... – Quatsch, nur weil wir, ... vielmehr ich mal eine Dummheit gemacht habe, brauchen wir uns ja jetzt nicht den Kragen steif ziehen. Simone entschuldige bitte das, was ich dir damals angetan habe.“. Jetzt lachte sie erleichtert und erwiderte: „Mensch Walter, was heißt hier was du mir angetan hast. Wir waren zu Zweit und haben uns eigentlich gegenseitig nichts vorzuwerfen. Ich war das genau wie du.“. Wir haben später öfters mal geschäftlich miteinander zutun gehabt und dieser Eisbruch war dahingesehen recht nützlich. Innerhalb von 10 Minuten hatten wir das Geschäftliche erledigt und Simone lud mich noch zu einem Kaffee ein. Dabei berichtete sie mir: „Du bist jetzt bestimmt glücklich mit Anna Bauer. Ich bin mit ihr zur Schule gegangen und sie war ab einer bestimmten Zeit meine Erzrivalin. ... Nicht nur meine sondern die fast aller Mädchen bei uns in der Klasse. Erst war ja die Welt noch in Ordnung. Sie war zwar eine kleine Streberin aber ansonsten nur ein unwahrscheinliches Küken. Als dann aber die Tage kamen ... Du weißt was ich meine – änderte sich das schlagartig. Anna wurde verdammt hübsch. Dir kann ich es ja sagen: Ich bin krankhaft neidisch und eifersüchtig auf sie. Sogar jetzt, wo wir hier zusammen sitzen, auch noch. Die Jungens wollten nichts von uns anderen wissen sondern hatten nur noch Augen für Anna. Alle waren hinter ihr her; zuletzt Jürgen und du. Aber die Zicke ... Entschuldigung, das war mir jetzt so rausgerutscht – ließ sie alle abblitzen. Wir hätten gerne mal gewollt ... also harmlos; küssen und so. Du verstehst wie ich das meine – und kamen zu nichts. Sie konnte und wollte aber nicht; sie stand über den Dingen. Das hat ihr nicht geschadet sondern im Gegenteil: Die Jungens wurden dadurch noch versessener auf sie. Ich weiß sogar von Zweien die sich umbringen wollten weil sie nicht an Anna rankamen. Und wir anderen wurden gar nicht wahrgenommen. Du musst ein toller Hecht sein, denn wie ich weiß bist du der Einzigste, der es geschafft hat. ... Und am Geld kann es nicht liegen, denn Breuers oder Lorenz sind bestimmt ebenso betucht wie ihr ... Breuers stehen offensichtlich noch besser da wie ihr Heuers. Aber deren Jungens sind ebenso abgeblitzt wie andere. Wenn ich mal den Neid beiseite lasse, muss ich dich beglückwünschen, du hast die Superfrau ... Da kann ich nicht mithalten.“. Zurück im Büro war ich dann so ein knappes Stündchen allein mit Anni. Dabei berichtete ich ihr in geschönter Form – ich wollte keinen unnötigen Zwist auslösen – von dem was mir Simone erzählt hatte. Und dann fragte ich sie ob ich ihr mal eine intime Frage stellen dürfte. Als sie dieses bejahte fragte ich: „Simone sagte alle Jungens außer ich wären bei dir abgeblitzt ... du wärest unnahbar. Aber ... also wenn du nicht willst brauchst du mir die Frage nicht zu beantworten. – Also damals in Hörnum hatte ich hundertprozentig den Eindruck, dass du vollkommen unerfahren bist. Aber, dass du unschuldig wärest habe ich auf jeden Fall nicht bemerkt.“. Leicht errötet und mit leiser Stimme antwortete sie: „Na, warum sollte ich dir nicht antworten? Du lagst auf Sylt gar nicht so falsch. Ich hatte vorher nur ein einziges Mal Geschlechtsverkehr und bei dem ist meine Unschuld draufgegangen. Das war übrigens am gleichen Ort wo wir es erstmals miteinander hatten. Nur nicht im Bett sondern in den Dünen. Ich war vor drei Jahren mit der AWo im Heim an der Düne. Da lernte ich Christian Wolf, einen netten Jungen aus Berlin, der im Fünf-Städte-Heim war, kennen. Am Abend, bevor er wieder abreiste, wollte ich es unbedingt mal versuchen. Es ging ruckzuck. Ich hatte gerade mal mein Höschen unten als er mir seinen rein steckte. Da kam es ihm schon und ich spürte Blut. Na ja, da war ich voll durcheinander und habe ihn fürchterlich beschimpft. Worauf er heulend weg lief und ich mir überlegte ob ich mich umbringen müsse. Das ist alles was ich vor dir an einschlägigen Erfahrung hatte. Also streng gesehen bist du doch der Erste mit dem ich es richtig hatte. ... Aber du brauchst mir jetzt im Gegenzug nicht alle deine Abenteuer aufzählen, da wir ja noch ein Bisschen arbeiten müssen.“. Beim letzten Satz wurde ihre Stimme wieder lauter und dabei lachte sie erlöst klingend. Und mich machte es noch glücklicher. Bis jetzt habe ich meine Anni immer wie eine unantastbare Heilige beziehungsweise wie eine Novizin in einem überstrengen Orden dargestellt. Das war sie zum Glück nicht; sie war ein Mensch aus Fleisch und Blut. Dieses wurde unter anderem am 26. Januar, einen Samstag, deutlich. An diesem Tag feierte Roswitha, also meine Schwägerin, ihren 23. Geburtstag. Sie ist also nur ein paar Tage älter als ich. Neben ihren Geburtstag gab es aber eine Menge zu feiern: Einen Tag vorher hatte Anni ihren letzten Arbeitstag als Sekretärin in der Firma Ernst Heuer. Von nun an sollte sie jetzt die Frau an der Seite des jüngeren Juniors sein. Unsere Eltern hätten ihr letztes Wochenende im eigenen Heim feiern können und dementsprechend war für mich das letzte Wochenende als Mitbewohner im Elternhaus gekommen – am nächsten Wochenende sollte ich der Hausbesitzer sein. Am Tag zuvor hatte es auf dem Platz einen kleinen Umtrunk als Annis Ausstand gegeben und am darauffolgenden Wochenende war anlässlich des Hausbesitzerwechsels eine etwas größere Party in Romansweiler angesagt. Deshalb sollte am besagten Sechsundzwanzigsten Roswithas Geburtstag, der
ja ohnehin keine besondere Jahreszahl ergab, nur in einem kleinen Kreis gefeiert werden. Nur in einer Viererrunde, aus Roswitha, Anni, Jürgen und mich bestehend, wollten wir uns in Jürgens Heim zusammensetzen. Roswitha und Jürgen hatten sich zwar inzwischen hinsichtlich ihres Exhibitionistinnengeständnis wieder versöhnt aber so hellleuchtend wie zuvor schien deren Ehesonne noch nicht wieder. Dank der Tatsache, dass Anni keine Nonne war, sollte auch wieder das Glück in die Ehe meines Bruders einziehen. Irgendwie kamen wir auf das Thema Miniröcke und neuartige Strumpfhosen zu sprechen. Anni stellte fest, dass dieses zur Zeit kein Thema für sie sei, da man jetzt schon mehr und mehr an ihrem Bauch feststellen könne, das sie in anderen Umständen, wie man damals noch so schön umschreibend sagte, sei. Da schien ihr ein Minirock ein Wenig unpassend. Jürgen fragte darauf: „Kann man denn schon was sehen?“. Anni fragte „Ja, willst du mal sehen?“ und ohne die Antwort abzuwarten nahmen die Dinge blitzartig ihren Lauf. Sie zog ihr „Sackkleid“ über den Kopf aus. Dann zog sie ihr Höschen bis unterhalb des Schamhaaransatzes runter und hob ihr Hemd bis in Höhe ihres weißen Büstenhalters. So stand sie jetzt vor Jürgen, der „wissenschaftlich interessiert“ auf die bloßen Stellen blickte. Etwas empört räusperte sich Roswitha: „Willst du dich nicht gleich ganz ausziehen?“ und bekam prompt die Antwort: „Warum eigentlich nicht? Ich kann mich doch sehen lassen und ganz ehrlich gesagt, ich empfinde es lustvoll wenn man mich ... Also, ehrlich gestanden bin ich eine Exhibitionistin.“. „Dann haben wir ja Beide die gleiche Veranlagung“, resümierte Roswitha, „und, weil ich mir mal bei deinem Mann eine entsprechende Befriedigung verschaffen wollte, hatten Jürgen und ich das ganze Theater, in das auch noch unsere Schwiegereltern einbezogen wurden.“. Anni ließ daraufhin verschämt ihr Hemd los und zog das Höschen wieder rauf. „Schade,“, meldete sich Jürgen jetzt zu Wort, „im Grunde habe ich gerne hingeschaut und irgendwo sagt in mir ein kleines Männlein, dass es mich ein Wenig heiß macht wenn andere meine Frau beäugen. So klamm heimlich denke ich immer mal daran, ein Aktbild von dir zeichnen zu lassen und hier im Wohnzimmer aufzuhängen. Wäre es damals nicht Walter gewesen, dann hätte ich mich dabei sogar noch aufgegeilt.“. Das es nicht nur eine exhibitionistische Show Roswithas war sondern ich zu mehr strebte behielten beide in Rücksicht auf Anni allerdings für sich. „Na, dann seit ihr beiden verbrüderte Männer ab heute ja wirklich quitt,“, stellte Roswitha fest, „dann können wir es ja wieder unter uns so sein lassen, wie es vor meinem Geständnis war.“. Von Jürgen war nur noch das Wort „Okay“ zu hören und dann nahm er sie in die Arme und küsste sie innig. Während dessen schaute mich Anita, die immer noch in ihrer Unterwäsche war an und fragte ob ich ihr böse sei. „Im ersten Moment Ja,“, bekannte ich, „aber ich muss zugeben, dass ich ähnlich wie Jürgen empfinde.“. Worauf sich Anni dann etwas verschämt ihr Kleid wieder anzog. Nach einem kleinen, ehrlich und nett geführten weiteren diesbezüglich Plausch stelle Jürgen fest: „Irgendwo sind wir tatsächlich alle gleich. Ehrlich gesagt, ich würde mich eigentlich ganz gerne auch mal nackt vor Anni zeigen und Walter wahrscheinlich desgleichen vor Rossi. Nur ihr beiden Frauen ward so ehrlich, das auch zuzugeben – und wir Kerle nicht. Ihr werdet es jetzt für Stuss halten aber ich hätte große Lust eine Runde Strippoker zu spielen.“. „Warum nicht?“, setzte Roswitha jetzt das Gespräch fort, „Aber ihr beiden Männer müsst für heute und in alle Ewigkeit versprechen, nicht der Frau des jeweils anderen zunahe zukommen. Wenn ihr die Finger nicht bei euch behalten könnt, dann greift zur eigenen Frau. ... Unter der Bedingung kann es ja ganz knisternd zugehen.“. Jetzt waren wir so weit, dass uns in unserer erwachten Lüsternheit nichts anderes blieb als das Vorgeschlagene tatsächlich auszuführen. Wir hatten „sogar“ einigen Spaß dabei. Ich wurde als erster von völliger Nacktheit getroffen. Mir folgte Jürgen, dann kam Anni und ein Wenig zu meinen Verdruss Roswitha erst ganz zum Schluss. Was mich richtig selig machte, war das Bekenntnis sowohl von Jürgen wie Roswitha, dass Anni wirklich von umwerfender Schönheit sei. Diese Geschichte ist aus mehrerlei Gründen erzählenswert. Erstens lief die Ehe meines Bruders danach auf ihren Höhepunkt hinaus; die Beiden waren glücklicher wie zuvor. Auf der anderen Seite hatten wir uns alle Vier entsprechend der Zeit nun auch vom prüden Muff der 50er-Jahre befreit. Aber die daraus folgernde „lockere Normalität“ unter uns sollte später die Ursache für Einiges, dem ich hier nicht vorgreifen möchte, sein. Was mich damals beglückte kann ich nicht so recht beschreiben. Ich versuche es mal mit den Worten, dass ich feststellen konnte, dass meine zukünftige Frau keine Fatahmorgana, keine Vision die sich jeden Moment auflösen könnte, war sondern ein Mensch, fass- und haltbare Realität. Kurze Zeit später gab es dann das Fest des Jahres: Unsere Hochzeit. Dreimal feierten wir Polterabend. Am Freitag vor dem 14. gab es einen riesen Empfang für Freunde, Bekannte, Kunden und Geschäftspartner. So zirka 300 Leute hatten sich im Saalbau des Hotels Koffler in Waldheim versammelt. Einen Tag später, am Samstag, gab es ein Betriebsfest der Heuerfirmen in dem kleineren Saal des Hotels Seeblick in Seetal. Letztlich feierten wir einen „normalen“ Polterabend mit Familie und Verwandtschaft einen Tag vor der Hochzeit in unserem Heim in Romansweiler. Und dann, am Donnerstag, den 14. März 1968, stand Anni im langen weißen Kleid mit einem Strauß Orchideen vor mir und wir wurden in einem weißen Rolls Roys, den Paps in Düsseldorf gemietet hatte, erst zum Rathaus in Waldheim, wo das Standesamt auch für das Amt Romansweiler zuständig ist, und dann in die Pfarrkirche St. Josef in Romansweiler gefahren. Von dort gab es dann so eine Art Trauprozession durchs Dorf zu unserem Haus am Waldesrand. Da fand dann die allerletzte Feierlichkeit statt; nur noch Familienangehörige und nächste Verwandte wie Onkels und Tanten, Vettern und Cousinen, waren noch dabei. Wenn ich heute diese Festivitäten Revue passieren lasse und dann an das, was daraus
geworden ist, denke erlebe ich immer ein Wechselbad der Gefühle zwischen sentimentaler Wehmut und dann aus Wut und Ärger. Wieso wird die werte Leserschaft schon sehr bald erfahren. Nicht ganz 14. Tage später, am Montag, 1.4.1968, gab es den nächsten bedeutenden Anlass im Hause Heuer. Jürgen konnte an diesem Tag zum vierten Mal auf die Vollendung eines mystischen Siebenjahreszeitraum zurückblicken. Die ersten sieben Jahre, von denen die meisten in den Krieg fielen, waren seine „echte“ Kindheit, dem die sieben Jahre des Schulkindes folgten. Dann zählte man ihn sieben Jahre zu den „Halbstarken“, also zu den Jugendlichen, und letztlich konnte er im vierten Abschnitt als Erwachsener zum Geschäftsmann reifen. So sah jedenfalls die Zeitrechnung unseres Vaters aus. Anlässlich seines 28. Geburtstages wurde er zum Geschäftsführer der Spedition Ernst Heuer GmbH ernannt. Entsprechend sollte ich noch bis zum 14. März 1973 warten, bis ich Geschäftsführer der Busreisen Ernst Heuer GmbH sein sollte. Eigentlich war dieser Tag, der mit einem entsprechenden Empfang gefeiert wurde, nur von formaler Bedeutung, denn danach lief es bis auf einige winzige Details genauso wie vorher. Vater war und blieb der Boss und wir, seine Jungens waren seine linke wie rechte Hand. Meine Situation in der Firma hatte sich gegenüber dem Vorjahr glatt umgekrempelt. Ich wurde von Mitarbeitern und Geschäftspartnern ob meiner außerordentlich schönen und gescheiten Frau, mit der ich mich natürlich trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft gerne sehen ließ, bewundert und das hatte natürlich Auswirkung auf meine Akzeptanz. Obwohl mein Vater immer noch der eigentliche und Jürgen, zumindestens in der Spedition, der offizielle Boss war, kamen die Leute, weil ich offensichtlicher nahbarer erschien, mit allen Möglichkeiten zu mir und ich hatte immer, auch wenn es noch so verzwickt war, eine Lösung parat. Bei Geschäftsverhandlungen erwies ich eine Menge Geschick und wurde dann von Vater und Jürgen auch oft, wenn es darum ging bessere Konditionen herauszuholen, vorgeschickt. Und so war ich ein glücklicher Geschäftsmann – leider. „Leider“ deshalb, weil mich diese Zeit so prägte, dass aus mir der Walter Heuer werden konnte, der ich später war. Der Erfolg verwöhnte mich und ich hob ab. Unweigerlich kam der Zeitpunkt wo ich nicht mehr auf dem Boden, auf dem die Menschen leben müssen, stand. Meine damals gerühmte Freundlichkeit wurde zur verlogenen Diplomatie. Letztlich war ich so erfolgsgewohnt, dass ich ihn unbedingt haben musste und dann setzte ich harte Bandagen ein um ihn auf alle Fälle zu kriegen. Nach und nach hatte ich immer weniger Mitmenschen und immer mehr Gegner. Glück wurde für mich zum Unglück und die Erfolge führten zu der Niederlage. Aber bis wir bei diesen Dingen sind ist noch einiges zu schreiben. Jetzt kam nochmals ein glücklicher Höhepunkt wegen dem ich unter anderen diese Zeit gerne noch einmal leben möchte. Am Dienstag, dem 7. Mai 1968, kam unser Dietmar zur Welt. Was war das für ein aufregender Tag. Berechnet war der 12. Mai als vorgesehener Geburtstermin. Also hätte Anni laut „Vorhersehung“ noch ein paar Tage bis zum Muttertag, das stand tatsächlich auf dem Kalenderblatt des 12. Mai 1968, Zeit gehabt. Aber man kann ja nie wissen und so mit kriegte sie mich nur mit x-facher Beteuerung, dass alles in Ordnung sei, aus dem Haus. So auch an diesem 7. Mai. Ich war eben auf dem Platz als mir mein Vater entgegenkam: „Walter, du musst uns unbedingt helfen. König (einer unserer LKW-Fahrer) ist es in Hilbeck, das ist der Gegend von Hamm, das kannst du über die A1 erreichen, schlecht geworden. Zum Glück ist er rechts rangefahren bevor er zusammenbrach. Und noch ein glücklicher Umstand ist, dass ihn die Bullen („Kosenamen“ für Polizisten) dabei beobachtet haben und in gleich ins Evangelische Krankenhaus Hamm gebracht haben ... Der arme Kerl hatte ein Herzinfarkt. Kannst du bei Lehmann (ein anderer Fahrer) vorbeifahren und diesen nach Hamm bringen damit er den Transport fortsetzen kann und dann fahr doch bitte ins dortige EVK ... ich glaube so sagten sie – fahren und dich um König kümmern. ... Ach so, du wirst wohl anderthalb Stunden brauchen. In Hilbeck wird ab halb Elf ein Peterwagen auf euch warten. Und jetzt ab die Post.“. Da konnte ich natürlich nichts dagegen machen, ich musste los. In Hilbeck, ich glaube das ist ein Straßendorf, standen die Polizisten wirklich hinter dem Zug mit der Aufschrift „Spedition Ernst Heuer GmbH“. Ein Polizist, ich schätzte ihn auf so um die Dreißig, kam auf mich zu und fragte: „Sind sie Herr Heuer?“. Als ich bejahte, nahm er seine Mütze in die linke Hand und reichte mir die rechte entgegen: „Herzlichen Glückwunsch, Herr Heuer. Ich soll ihnen mitteilen, dass ihr Sohn Dietmar in der Zwischenzeit geboren ist. Ihm und ihrer Gattin geht es gut. Ihr Herr Vater bittet sie ihn, wenn ihr Fahrer das Fahrzeug übernommen hat, anzurufen.“. Ich glaube, dass war die beste Kunde, die ich in meinem ganzen Leben jemals von einem Polizisten erhalten habe. Die jüngere Leserschaft wird jetzt den Kopf schütteln und fragen ob wir uns keine Handys hätten leisten können. Vielleicht zum Erstaunen der Älteren sage ich jetzt, dass die damalige Bundespost bereits ab Mitte der 60er-Jahre ein allerdings dürftiges Mobilfunknetz betrieb. Die Autotelefone waren klobige und schwere Kästen, die Sprech- und Verbindungsqualität war miserabel und die Kosten waren kalkulatorisch nicht vertretbar. Aus einer Telefonzelle rief ich Paps an. Er berichtete mir, dass sich Anni schon als ich gerade weg gewesen wäre, gemeldet habe. Herr Schmiedel, ein Großkunde mit dem Jürgen gerade verhandelte, habe Verständnis gehabt und um Vertagung auf den Abend gebeten. Darauf sei Jürgen gleich „los gerast“. Als er in Romansweiler ankommen wäre, sei es schon „höchste Eisenbahn“ gewesen. Anni wäre gerade mal 5 Minuten im Kreißsaal gewesen, da habe mein Sohn schon brüllend verkündet, dass er auf der Welt wäre. Anni und Dietmar seien wohlauf. Dafür wäre der frischgebackene Onkel, also Jürgen, und die beiden Omas so aufgelöst, dass man momentan mit denen nicht richtig reden könne. Inzwischen sei Rosi mit Frau König auf dem Wege nach Hamm. Wenn ich mich von meinen Vaterfreuden erholt hätte,
sollte ich ruhig zurückkommen. Letztlich wollte er mir noch Ermahnungen hinsichtlich Vorsichtigfahren geben aber ich beendete schnell und schon rollte mein Wägelchen bereits in Richtung Waldheim. Zwei Stunden später war ich dann bei „meiner Familie“. An dieser Stelle kann ich wohl die Einzelberichte aus meiner Glückszeit beenden. So wie in den ersten fünf Monaten des Jahres 1968 ging es noch bis Ende des Jahres und auch im Folgejahr weiter. Ein glückliches Ereignis jagte das andere. Während dieser Zeit konnten wir auch ein harmonisches Leben sowohl in unserer kleinen Familie, bestehend aus Anni, Dietmar und mir, wie auch in der Großfamilie, zu der auch Jürgen, Rosi, ab 13.9.69 Anita, meine Eltern sowie auch Mama Bauer gehörten, verzeichnen. Sicher gab es hier und da mal einen Streit – zu einem schönen Sommer gehören auch Gewitter – aber nie war es was Ernsthaftes. Geschäftlich konnten wir in 68 und 69 den höchsten Zuwachs der 60er-Jahre erzielen, obwohl es gesamtwirtschaftlich zum Ende des Jahrzehnts schlechter als zu dessen Beginn lief. Kurz: Es waren zwei Jahre, die man in einem Herz-Schmerz-Roman platzieren könnte. Ich betone noch mal: Es war die Zeit, die ich gerne noch mal leben möchte. Zum Kapitel 5
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Vertretung im Geschäft und im Ehebett So schön, wie es in den beiden beschriebenen letzten Jahren lief, ging es leider nicht weiter. Allerdings kann ich das Ende der Glückszeit nicht mit einem genauen Datum fixieren; da schlich sich doch einiges durch die Hintertür ein. Unsere Ehe war nach und nach nicht mehr das was sie einmal war. Erst fand ich es rührend und süß wie sich Anni um unseren „süßen kleinen Fratz“ kümmerte, dann musste ich feststellen, dass dieses doch sehr zu meinen Lasten ging. Bei ihr hieß es „Dietmar hinten“ und „Dietmar vorne“ und dann kam lange nichts bevor ich dann dran war. In diese Rangfolge mischte sich dann ungewollt Mama Bauer zwischendurch noch ein. Sie litt wie meine Mutter unter einer chronischen Reizblase, Bluthochdruck und anderen ernsteren Beschwerden. Aufopfernd kümmerte sich Anni um unseren Jungen und ihre Mutter und dabei wurde ich so nach und nach zum fünften Rad am Wagen. Auch im Bett spielte sich bei uns nur selten mal was ab, was aber nicht nur an den zuvor beschrieben Dingen lag. Ich erwähnte ja bereits, dass meine Mutter die gleichen Leiden wie Mama Bauer hatte. Nur um Uns Mam kümmerten sich nicht Anni oder Roswitha sondern unser Paps. Aber er war nicht mehr der Jüngste und hatte selbst so allerlei Beschwerden. So fiel er praktisch in den Firmen flach und damit blieb alles an Jürgen und mir hängen. Es stellte sich heraus, dass wir nicht gerade nach dem modernsten Stand organisiert waren und alles war im Stiele unseres Vaters auf die Herren des Hauses Heuer zugeschnitten. Als Trio unter der allerdings vorzüglichen Regie unseres Vaters war gar nicht aufgefallen wie arbeitsaufwendig letztendlich die ganze Geschichte für uns war. Wenn wir die Sache mal rein rechnerisch betrachten ergab sich, dass Vater 40% und Jürgen sowie ich 30% des Arbeitsaufwandes trug. Nach dem „Ausfall“ unseres Seniors mussten Jürgen und ich halt dann hat das Ganze 50 zu 50 übernehmen. Mit anderen Worten: Wenn wir vorher „nur“ 45 Stunden pro Woche im Dienst waren wurden da jetzt 60 raus. Da Jürgen im zweiten Halbjahr kränkelte – er stöhnte oft über Bauchschmerzen und Unwohlsein – kam auch noch eine Menge seines Anteiles auf mich zu. Natürlich war ich so in der Regel zu Hause immer nur ein müder Krieger. Am 6 Januar 1970 kam dann der absolute Tiefschlag. Ich erinnere mich genau an das Datum, weil an diesem Tage in Süddeutschland Feiertag war und wir mit zwei Mitarbeitern, die wir vorrübergehend von Bayern hierher geholt hatten, Ärger hinsichtlich der Feiertagsbezahlung hatten. Jürgen stand auf dem Standpunkt, sie wären hier in Waldheim eingesetzt und bei uns wäre kein Feiertage und damit entfiele auch der Zuschlag. Ich beendete die Auseinandersetzung mit dem Worten: „Entschuldigung Jürgen, du hast Unrecht. Bei vorrübergehenden innerbetrieblichen Umsetzungen ist tarifrechtlich nicht entscheidend an welcher Betriebsstätte sie eingesetzt werden sondern dort wo sie eingestellt sind.“. Unsere Fahrer waren happy und Jürgen sauer. Also stritten wir uns im Büro ein Wenig. Dieses jedoch sehr sachlich, wobei ich seinen Vorwurf, dass ich das vor den Leuten ausgeführt habe statt ihn vorher bei Seite zu nehmen, wirklich einsichtig schlucken musste. Während dieser „Unterhaltung“ schrie Jürgen plötzlich auf und wälzte sich auf dem Boden: „Walter ruf den Krankenwagen, ich sterbe!“. Das habe ich prompt getan aber sonst kann ich, weil ich vollkommen geschockt war, wenig von der jetzt folgenden Stunde berichten. Jürgen hatte Darmverschlingungen und einen akuten Durchbruch. Der arme Kerl musste viel erdulden. Erst am 9. Oktober des gleichen Jahres war er wieder zuhause und in der Zwischenzeit ist er achtzehn Mal operiert worden. Es war ja noch einiges, wie Lungenembolie, Gallensteine und so, hinzugekommen. Jetzt stand ich alleine in den Firmen da und der Tag hat, wie mein Vater spaßiger Weise immer sagte, nach wie vor nur 24 Stunden und eine Nacht. Bisher hatte sich Paps den von mir vorgeschlagenen Modernisierung immer widersetzt – jetzt blieb ihm nur die Zustimmung. Hinsichtlich des ersten Schrittes, der auch noch seiner hundertprozentigen Zustimmung bedurfte, gab es stundenlange Auseinandersetzungen. Er war immer flott mit dem Spruch, dass es drei Methoden zum Pleite machen gäbe, dabei. Es gäbe eine schnelle, eine angenehme und eine sichere Methode. Schnell geht es im Spielcasino, angenehm mit Wein Weib und Gesang und letztlich sicher mit der EDV. Und ausgerechnet die, nach seiner Ansicht, sichere Methode sollte mein erster Schritt sein. Nein, nein, wir wollten nicht selbst Computer, damals nur Großrechner da es PCs noch nicht gab, anschaffen. Das wäre über den damals möglichen Investitionsrahmen hinausgegangen. Eine EDV war damals eine Millioneninvestition. Wir schlossen uns einer Datenverarbeitungsgemeinschaft unter Federführung von Big Blue, den damals größten Büromaschinenkonzern der Welt, an. Jetzt wissen die Jüngeren nichts mit Big Blue anzufangen – oder? Dahinter stecken die drei Buchstaben IBM. Die Firma die 10 Jahre später den ersten PC auf dem Markt bringen sollte und die, die mit dem Sohn des sehr reichen Rechtsanwalts Gates den Pixelpickerladen Microsoft, aus dem sie allerdings in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre vollständig wieder ausstiegen, gründete. Na ja, es war schon enorm was ich aus den Bereichen Lohn- und Finanzbuchhaltung, Fakturierung und Disposition in die Richtung Elektronische DatenVerarbeitung (EDV) abschieben konnte. Nicht nur ich wurde entlastet sondern wir konnten auch teueres Personal abbauen. Die deutlich niedrigen EDV-Kosten wirkten sich natürlich auch auf das Betriebsergebnis und in Folge auf unseren Gewinn positiv aus, worüber Paps eigentlich hätte jubeln müssen. Aber stattdessen machte er mir in einer sentimentalen Dusselei, so wie ich es damals sah, immer fürchterliche Vorwürfe hinsichtlich meiner Personalpolitik, die er als eiskalten Egoismus bezeichnete. Damals machte ich das, was später mein Alltag wurde, zum ersten Mal. Aber nicht nur im Bereich Verwaltung sondern auch im Bereich Werkstatt wurde ich zum Arbeitsplatzkiller. Alle unsere Niederlassungen hatten eine solche
Einrichtung, die ich für den Bereich Pflege und Wartung noch eingesehen hätte; aber das wir überall einen eigenen Reparaturbereich hatten, wollte ich absolut nicht einsehen. Ist ja gut und schön alles schnell und selbst reparieren zu können. Aber dazu gehört ein umfangreiches Lager was gepflegt und verwaltet werden muss. Das bedeutet Kapitalbindung und „unnötigen“ Personalaufwand. In erbitterten Auseinandersetzungen mit meinem Vater setzte ich durch, dass wir ab 1970 diese alles den Firmen, deren Unternehmenszweck die Nutzfahrzeugreparatur war, überließen. Nur für Kleinreparaturen blieben unsere drei mobilen Wartungstrupps zuständig. Auch diese Wartungstrupps waren eine personalsparende Maßnahme meinerseits. Statt in allen 9 Niederlassungen Fachleute für Wartung bereitzustellen schuf ich drei Trupps, einen für Nord- und für West- und einen für Süddeutschland. Betriebswirtschaftlich gesehen kann deutlich weniger erheblich mehr bringen ohne das was liegen bleiben muss. Somit blieb für uns an den Plätzen nur noch der Bereich Pflege, der auch einerseits von den Fahrern selbst und andererseits von billigen Hilfskräften durchgeführt werden konnte. So hatte ich dann innerhalb eines halben Jahres 48 Fachkräfte freigesetzt. Das war damals allerdings noch nicht so tragisch wie heute, da alle innerhalb kürzester Zeit wieder einen anderen „Brötchengeber“ hatten. Die Zeit der Vollbeschäftigung war zwar 1970 bereits vorbei aber von Arbeitslosigkeit waren in erster Linie damals fast nur ungelernte Kräfte oder Leute, die ein Wenig Dreck am Stecken hatten, betroffen. Wenn ich es mir so überlege, dürfte es auch einen großen Zusammenhang zwischen der damaligen Arbeitslosenquote und den, im Zuge der Emanzipation auf den Arbeitsmarkt drängenden Frauen gegeben haben. Die Frauen waren meist nicht oder nur schlecht qualifiziert, da bislang die Devise „Du heiratest ja doch“ der Berufswahl von Mädchen vorangestellt wurde. Damals gab es auch noch das „böse“ Wort von den Doppelverdienern, was immer dann auftauchte wenn von berufstätigen Ehefrauen die Rede war. Aber wie es auch sei, mein guter 68er-Ruf von dem Junior, den die Mitarbeiter in allen Belangen ansprechen konnten, war nun dahin. Nur in einem Punkt nutzte mir die komplette Diskutiererei mit meinem Herrn Vater herzlich wenig: Ich war „dahinter gekommen“ das Speditions- und Busreiseunternehmer nicht unbedingt über einen eigenen Fuhrpark verfügen müssen. Wozu gibt es den Subunternehmer, die einen Investitions-, Unterhaltungs- und Verwaltungsaufwand deutlich unter den Kosten, als wenn man es selbst machen kann, abnehmen. Ich wollte bei Zügen und Bussen nicht mehr zu Neu- oder Ersatzinvestionen schreiten sondern alles was da anfällt an Subunternehmen vergeben. Einen Teil des vorhandenen Fuhrparks wollte ich an die Fahrer mit dem Argument der Existenzgründung verpachten. Allerdings wollte ich einen, zwar stark verkleinerten, eigenen Fuhrpark im Unternehmen belassen. Vater ließ mich im Busbereich so schalten und walten wie ich es wollte, denn der war ja für mich bestimmt. Aber im Speditionsbereich legte mir Paps die Fesseln an. Das war der Bereich meines Bruders, den ich zwar im Geschäft zu vertreten hatte aber das ging, wo ich ja ehrlich gesagt zustimmen muss, über die Vertretungskompetenz hinaus. Natürlich kann man sich nicht etwas einfallen lassen und schon geschieht es. Da muss eine ganze Menge veranlasst und besprochen werden und dieses zusätzlich zum laufenden Alltagsgeschäft, dass ja dank der personenbezogen Strukturen, die mein Vater im Laufe der Jahre entwickelt hatte, nicht delegiert werden konnten. Die Tatsache, dass ich überhaupt keine Möglichkeiten zum Delegieren hatte unterschied den späteren Manager Walter Heuer von dem Anfänger aus dem Jahre 1970. Praktisch hatte ich dank dieser Sache eine 7-Tage-Woche mit 16 bis 20 Stunden täglich und Zuhause war ich in dieser Zeit eigentlich nur Gast. Bei Jürgen im Krankenhaus war ich anfänglich mehrmals in der Woche und das wurde immer weniger, letztlich alle 14 Tage oder 3 Wochen nur einmal. Dieses waren aber keine Visiten die sich aus brüderlicher Liebe sondern nur aus geschäftlicher Notwendigkeiten erklärten. Immer nur wenn ich seine Zustimmung, das heißt seine Unterschrift, brauchte begab ich mich zu dem Schwerkranken. Nur wenn es nicht so glatt lief und wir uns erst mal auseinandersetzen mussten, dauerte ein Besuch mal länger als 15 Minuten. Ab und zu erwischte ich mich mal bei dem Gedanken, dass ich es um einige Pünktchen leichter gehabt hätte wenn er endlich abkratzen würde. Aber nicht er sondern meine Schwiegermutter „kratzte ab“. Jetzt muss ich mich erst mal für meine pietätlose Ausdrucksweise entschuldigen. So habe ich nie gesprochen; so was macht ein feiner Mensch, mit anderen Worten ein verlogener Diplomat, nicht. Hier wollte ich jetzt nur meine damalige Denkweise wahrheitsgemäß wiedergeben. Zum Vergleich sage ich es mal so, wie ich damals von Geschäftsterminen entschuldigte: „Meine liebe, werte Schwiegermutter ist leider verstorben. Vielleicht ist es besser so, denn sie musste in letzter Zeit doch viel leiden.“. Mama Bauer starb zwei Tage nach ihrem Geburtstag, der bekanntlich auch meiner ist. Für Anni war es ein schwerer Schlag aber ich konnte mich wenig darum kümmern, denn einer muss ja zusehen, dass der Schornstein raucht. Wenn man im letzten Satz an richtiger Stelle ein „leider“ einfügt hat man meinen tatsächlichen Wortlaut, so wie ich es damals wirklich sagte. In der Realität fühlte ich mich von der Anzeichen der Trauer meiner Frau um ihre Mutter genervt. Na ja, ab diesem Zeitpunkt saß Anni mit unserem kleinen Dietmar immer allein im Haus und ich kam nächtens einmal vorbei um im wahrsten Sinne des Wortes zu schlafen. Den letzten ehelichen Verkehr hatte ich mit Anni Anfang Januar; bevor Jürgen ins Krankenhaus kam. So suchte sie mich Ende März im Büro auf: „Schatzi, hör mal, so kann das nicht weiter gehen. Irgendwann wird der kleine Dieti zu dir Onkel sagen und ich weiß dann gar nicht mehr wie das ist, wenn ich mit dir zusammen bin. Dieses wird ja wohl nur ein Übergang sein. Erstens dürfte das, was du anstrebst, in Kürze auch mal Früchte tragen und zweitens wird es ja bei Jürgen nicht mehr so lange dauern. Aber trotzdem, lass dir doch helfen. Dann profitieren wir doch beide davon. Mensch, ich bin doch ausgebildete Sekretärin und habe in der Spedition Neumann gelernt und dann war ich hier. So ein Bisschen Ahnung habe ich doch auch. Geben wir doch tagsüber
Dietmar zu Rosi, der es nichts ausmachen würde neben Anita auch noch unseren dabei zu haben, und lass mich hier mithelfen. Bitte, bitte Schatzi .... ich liebe dich doch so.“. 1968 wäre ich vor Freude bis bald unter die Decke gesprungen, aber jetzt passte mir das gar nicht ins Kalkül. Sollte ich mich auf die Stufe eines Quetschenwirtes herab begeben? Wie stehe ich denn gegenüber Kunden und Mitarbeitern da? Sollen die glauben, ich könnte mir keine Sekretärin mehr erlauben und müsste jetzt meine Frau einspannen? Diese sagte ich ihr dann durch die Blume, das heißt, ich begründet es mit dem Geschäftsimage. Weinend antwortete sie mir leise: „Walterchen, hast du mich denn gar nicht mehr lieb? Das lässt sich doch alles begründen. Alle Leuten wissen doch das dein Vater nicht mehr kann und dein Bruder im Krankenhaus liegt. Wenn ich dir hier helfe, dann kann ich doch ein Wenig bei dir sein ... und damit würdest du mich doch glücklich machen.“. Hier ging ich gar nicht mehr groß darauf ein sondern ich wimmelte sie mir mit ein Wenig Schmus und unter Hinweis auf den Faktor Zeit förmlich vom Hals. Damals fand ich es standesgemäß und vernünftig; heute weiß ich, dass dieses einer meiner Riesenfehler, die ich im bisherigen Leben begangen habe, war. Es kam noch dicker. Zeitweilig spürte ich an bestimmten Stellen, dass ich ab und zu doch etwas zur Befriedung meiner säugetierkonformen Triebe brauchte; auch ich konnte mir nichts aus den Rippen schwitzen. Zwischendurch erledigte ich so etwas dann mal ruckzuck im Handbetrieb auf der Toilette. Aber mit Anni wollte ich nicht, da mir das doch ein Bisschen zu aufwendig erschien. Die wollte ein Wenig mehr wie drüber, rein und ahhh. Dafür war ich wirklich nachts im Bett zu geschafft, da wollte ich dann doch lieber einfach nur schlafen. Da überlegte ich mir einen Besuch in einem Bordell und verwarf auch prompt den Gedanken wieder, da ich gesehen werden könnte und mir so was letztendlich dann ja auch eine Menge Zeit rauben könnte – und später, wenn es zeitmäßig wieder hinhaut kann ich ja wieder mit Anni, die in meinen Augen immer noch nicht an Schönheit zu überbieten ist. Beim Eros ist zuerst das Auge gefragt und nur mit Erotik macht Sex erst richtig spaß. Da kam ich auf eine teuflische Idee. Ich fuhr mal kurz bei Roswitha vorbei. Ich gab an, zufällig vorbeigekommen zu sein und wollte mich nur mal kurz nach ihr erkundigen. Sie erzählte mir wo ihr Jürgen überall fehlte, allerdings sprach sie das Bett nicht an. Dafür machte ich das: „Hast du nicht ab und zu das Gefühl etwas zwischen die Beine haben zu müssen oder reicht dir deine Schmusehand?“. Sie sah mich ganz empört an und fragte entsetzt tuend: „Läufst du inzwischen vor Geilheit über? Was wolltest du denn, mir zusehen wie ich es mir selber mache oder ein schnelles Nümmerchen schieben?“. Jetzt war unser „Gespräch“ nach meiner Ansicht so tief geglitten, dass es auf den Rest auch nicht mehr ankam und sagte: „Warum nicht, beides hintereinander“. Jetzt rechnet ich mit dem Rauswurf, aber es kam anders. Sie sprach jetzt lüstern und begann sich langsam auszuziehen. Im Zustand völliger Nacktheit legte sie sich auf dem Teppich. Bevor sie mit der rechten Hand ihre linke Brustwarze bespielte und mit der linken im Vaginalbereich kreiste, sagte sie mir noch: „Beim Zusehen kannst du dich ja schon mal ausziehen.“. Aufgrund des Vorgespräches dauert es an jenem Tag eine halbe Stunde; bei den nächsten Malen „schafften“ wir es in der Hälfte der Zeit. Damit habe ich schon gesagt, dass wir es dann öfters, immer regelmäßiger werdend, miteinander getrieben haben. Jetzt hatte ich also nicht nur die Vertretung meines Bruders im Geschäft sondern diese auch in seinem Ehebett übernommen. Natürlich zeigten meine organisatorischen Aktivitäten mit der Zeit auch Erfolge auf. Ab Mai oder Juni sank doch der Zeitaufwand, den ich für meine Unternehmer- beziehungsweise Managertätigkeit benötigte, deutlich ab. Sicher ist es richtig, dass man gegenüber den Mitarbeitern so etwas nicht zugibt, schließlich will man ja als der Hochleister, als das Vorbild für Arbeitswillen und –einsatz gelten. Trotzdem konnte ich mich jetzt auch wieder familiären Angelegenheiten zuwenden. Jetzt gab es doch mal dieses oder jenes Stündchen und den Sonntag sowieso, wo ich mir die Zumirgehörigkeit von Anni und Dietmar bewusst machen konnte. Sicherlich sagte mir mein unternehmerischer Trieb, dass ich noch einiges in Richtung Expansion oder Diversifikation in die Wege leiten könnte, aber noch war Paps praktisch der alleinige Gesellschafter ohne den nichts lief und in der Unternehmenshierarchie kam ich sowieso erst hinter Jürgen. So waren mir ein Wenig die Hände beim futuristischen Management gebunden. Jetzt kam es auch wieder zu Glücksmomenten mit meiner Frau und ich hätte auf die Lustdienste meiner Schwägerin eigentlich verzichten können. Diese hatte mir aber die Pistole auf die Brust gesetzt: „Als du nur mal Zeit für ein schnelles Nümmerchen hattest war ich dir gut genug. Wenn du mir da auch noch Geld für gegeben hättest, könnte man sagen, dass ich deine Hure gewesen wäre. Das lasse ich aber nicht auf mir sitzen. Wenn du mich jetzt vernachlässigst weil du alles was du brauchst jetzt wieder genüsslich bei deiner Frau holen kannst, dann wird sie ganz schnell erfahren was du in Wirklichkeit so treibst. Mit anderen Worten: Ich bin eine Frau aus Fleisch und Blut und noch lange nicht vergeistigt. Ab und an brauche ich mal was. Als du was brauchtest habe ich es dir gegeben; jetzt bist du dran.“. Ich hätte es auch kürzer sagen können: Roswitha erpresste mich zur Fortsetzung meiner Seitensprünge. Dieser oder jener wird jetzt sagen, dass das nicht lange gut gehen konnte. Ging es auch nicht. Auf Annis 23. Geburtstag am 11. August, kam ich so gegen Fünf nach Hause. Es war ein Dienstag, an dem ich in der Regel erst gegen Acht da gewesen wäre, aber aus besagtem Anlass kam ich mal früher. Da Jürgen am nächsten Tag „unters Messer“ sollte und wohl alles dafür sprach, dass er dieses nicht überleben würde, hatten wir natürlich nichts in Richtung Feier vorgesehen; ich wollte mich nur mal nett mit meinen Beiden zusammensetzen. Als ich kam war Roswitha gerade da. Sie hatte Jürgen im Krankenhaus besucht und während dieser Zeit die kleine Anita in Annis Obhut gegeben. Nun das
Geburtstagskind ließ ihre Schwägerin an diesem Tag nicht gleich mit unserer Nichte von dannen ziehen sondern lud sie erst mal zur Geburttagstorte ein. So gegen Sechs ging Roswitha dann doch und sie hatte noch nicht mal die Haustür hinter sich zugezogen als mich Anni fragte: „Kannst du dir vorstellen das Rosi schwanger ist? Dann muss die aber fremd gegangen sein.“. Nach meiner Rückfrage „Wieso“ bekam ich die Erklärung: „Ach, wir hatten uns über Frauenthemen unterhalten. Da hat Rosi gesagt, dass ihre Tage ausgeblieben wären und sie das Gefühl habe schwanger zu sein. Sie wolle jetzt zum Frauenarzt zum Schwangerschaftstest gehen. Das wäre doch wohl ein Kuckucksei, denn Jürgen kann es ja nicht gewesen sein.“. Ich stellte mich dumm und gelassen. Letzteres fiel mir verdammt schwer, denn ich wäre am Liebsten gleich nach Waldheim zu meiner Schwägerin gefahren und hätte sie am Liebsten ordentlich zur Rede gestellt. Wenn ich mich nicht verraten wollte blieb mir nichts anderes als jetzt tapfer weiterzuspielen. Irgendwie muss ich mich doch in soweit verraten haben, dass Anni die Wahrheit ahnte. Das wurde durch ihre skeptischen, nicht harmlos klingenden Worte, deutlich: „Walter, du hast doch wohl nichts mit Rosi gehabt? Wenn du sie geschwängert hättest wäre das der absolute Gipfel. Dir ist doch klar, dass, wenn das der Fall ist, dieses für uns das Ende für immer bedeutet. Du hast dann alles zerstört was uns heilig ist.“. Während sie das sagte kullerten ein paar Tränen an ihren Wangen herunter. Ich beteuerte zwar überschwänglich, dass da nichts wäre aber geglaubt hat sie mir offensichtlich nicht. Den ganzen Abend und auch später im Bett verhielt sie sich leicht distanziert mir gegenüber. Am nächsten Morgen, das kann sich wohl jeder denken, führte mich mein Weg nicht gleich ins Büro sondern zu Roswitha. Als ich reinkam frühstückte sie gerade mit ihrer inzwischen 11-monatigen Tochter Anita und ich polterte gleich los: „Sag’ mal hast du eigentlich einen Knall! Was hast du Anni erzählt? Du bist wohl inzwischen vollkommen durchgeknallt.“. Rosi musste zunächst ihre daraufhin brüllende Anita beruhigen und gab mir dann keck kund: „Wieso, es ist doch besser schon mal in kleinen Häppchen anzufangen. Was meinst du, was los ist wenn das wie eine Bombe platzt. Ich will ja nicht euere Ehe kaputt machen sondern ich will mich mit euch arrangieren.“. „Also gut,“, begann ich meine wütende Antwort: „wann fährst du nach Holland?“. Der Hintergrund meiner Frage war, dass 1970 noch jede Abtreibung in Deutschland auf Grund des § 218 im Strafgesetzbuch ein Tötungsdelikt darstellte. Wer es sich leisten konnte fuhr in die liberalen Niederlande und ließ die Angelegenheit dort ausführen. Roswithas anschließende Ausführungen hauten mich glatt um: „Also Walter, eine Abtreibung kommt überhaupt nicht in Frage. Meinst du ich setze die Pille vorsätzlich ab und lasse mich von dir schwängern damit ich mein Kind anschließend wie ein Geschwür in den Eimer werfen lasse. Nee Junge, da müssen wir jetzt durch.“. Dann erläuterte sie mir ihre Beweggründe: „Ich liebe Jürgen wirklich ... genauso wie Anni dich liebt. Aber, da können wir uns leider nichts vormachen: Ich glaube nicht, das Jürgen noch einmal nach Hause kommt. So weh es mir tut aber ich habe mich darauf eingestellt. ... Bedenke, ich komme aus ganz kleinen Verhältnissen. Ich bin in Rostock geboren und mein Vater arbeitete auf der Werft. Am 13. August 61 waren wir bei meiner Tante in Westberlin und sind nach dem Mauerbau nicht mehr zurück gegangen. Nach längerer Arbeitslosigkeit hat mein Vati dann bei Borsig gearbeitet. Meinst du, da möchte ich noch mal runter. Wenn Jürgen stirbt hat er nicht viel zu vererben; der dicke Brocken gehört immer noch deinen Vater. Wenn der dann stirbt bist du der dicke Otto und sahnst das Erbe bis auf ein paar kleine Pflichtteilchen ab. Und daran will ich mich über ein gemeinsames Kind von uns beiden beteiligt sehen. Und beschweren kannst du dich nicht. Auf den, zugegeben bösen Gedanken bin ich blitzschnell gekommen als du zu mir kamst und mich zu deiner Nutte machen wolltest. Tut mir leid, ich habe mich protestuiert und verzichte nicht auf meinen Lohn.“. Wir haben uns danach noch etwa eine Stunde, laufend durch Anita-Gebrüll unterbrochen, gestritten. Am Liebsten hätte ich meine Schwägerin umgebracht. Als ich ins Büro kam saß da zu meinem Schrecken Anni auf meinem Platz und Dietmar spielte im Raum. Mit todernster Stimme sprach jetzt meine Frau: „Ich habe es mir gedacht, Walter. Du brauchst jetzt nicht zu lügen. Ich bin hinter dir hergefahren und weiß dass du bei der Frau deines Bruders warst. Gestern konnte ich es nur ahnen und heute weiß ich es: Du hast was mit Roswitha gehabt und das bleibt nicht ohne Folgen. Ich habe dir ja schon gestern gesagt welche Konsequenzen das für uns hat. Ich werde jetzt intensiv die Vorbereitung für mein Ausscheiden aus deinem Leben kümmern. Es tut mir sehr, sehr weh ... du altes Schwein.“. Jetzt musste sie erst mal weinen, was dann auch bei unserem Sohn die Tränenbächlein auslöste. „Wäre Dietmar nicht,“, setzte sie nach einem Augenblick immer noch weinend fort, „würde ich mich jetzt ... obwohl ich noch so jung bin, umbringen. Der Kleine brauch mich aber ... und ihn dir überlassen kann ich ihn leider nicht ... Er soll auf keinen Fall so werden wie du. So, jetzt halte ich dich nicht mehr länger auf und gehe. Solange ich noch in deinem Haus wohne, wäre ich dir dankbar wenn du mich wie eine fremde Untermieterin behandeln würdest. Ich ziehe nach Oben in Jürgens ehemaliges Zimmer und da hast du Zutrittsverbot.“. Sie reinigte sich mit einem Taschentuch das Gesicht. Stand auf, nahm Dietmar auf den Arm und verließ das Büro ohne noch ein Wort meinerseits abzuwarten. Der Tag war gelaufen. Ich konnte eigentlich keinen klaren Gedanken mehr fassen. Verständlicherweise kann ich in Folge der psychischen Labilität jenes Tages auch meine Erinnerung lange vergebens nach chronologischen Zusammenhängen durchforsten. Ich weiß nur noch, dass ich im Laufe dieses Tages dann bei meinen Eltern auftauchte um mich im wahrsten Sinne des Wortes auszuheulen. Vater hat mir zwar ordentlich den Kopf gewaschen aber letztendlich auch zugesagt den Versuch zu unternehmen den Scherbenhaufen zu begrenzen und wenn möglich zu kitten.
Während meines Katzenjammerbesuches traf die Nachricht ein, dass Jürgens Operation gut verlaufen sei aber man noch nicht in Jubel ausbrechen könne; es wäre immer noch kritisch. Darauf ordnete Paps an, dass Jürgen vorläufig noch nicht von unserer Schande erfahren dürfe. Später versuchte er die beiden Schwiegertöchter zu sich an den Tisch zu bekommen. Es gelang. Die beiden Heuerfrauen erschienen mit ihren Kindern. Allerdings weiß ich nicht was dabei gelaufen ist, denn ich war ein ungebetener Gast. Aber das Ergebnis kenne ich: Die Damen waren nicht von ihren Standpunkt abzubringen. In den folgenden Tagen besserte sich Jürgens Zustand ein Wenig. Vater wollte, bevor ein Kind in den Brunnen fällt, für klare Verhältnisse sorgen. Gemeinsam mit einem pensionierten evangelischen Pastor, mit dem mein Vater, obwohl wir katholisch waren, befreundet war, besuchte er Jürgen. Die beiden konnten Jürgen die fürchterlichen Tatsachen schonend beibringen. Danach hatten Roswitha und ich ein von Jürgen ausgesprochenes absolutes Besuchsverbot im Krankenhaus. Opa musste ihn von Zeit zu Zeit mal Anita mit ans Krankenbett bringen. Anni, die er auch gerne gesprochen hätte, schrieb ihn ein, so viel ich weiß netten, Brief, in dem sie sich dafür entschuldigte, dass sie es nicht fertig bringen würde ihn zu besuchen. Mit jedem Tag der jetzt folgte kam der Zeitpunkt, wo Anna Katharina zusammen mit unserem Sohn Dietmar das Haus verlassen würde, näher. Seltsamer Weise empfand ich keinen Liebeskummer. Sollte die Liebe bereits erloschen gewesen sein? Was ich zerbrochen sah war mein Besitzerstolz. Hatte ich nicht die allerschönste, bezauberndeste Frau besessen? Nachträglich weiß ich, was Schlimmes in mir passiert war. Anni war nicht mehr die Frau, der Mensch für mich; sie war in meinem Kopf zu einem allerdings begehrenswerten Objekt geworden. Und an den Besitz dieses Objekts hatte ich mich gewöhnt; er war für mich selbstverständlich geworden. Deshalb konnte ich auch mein böses Spiel mit einem anderen Objekt, Roswitha, treiben. Na ja, mein zunehmendst größer werdender rationeller Egoismus machte es mir nach und nach möglich, mich mit dem Ist-Zustand abzufinden. Letztlich fühlte ich mir sogar auf den Schlips getreten: Wie hatte ich mich zum Wohle aller ins Zeug geworfen und mich krumm gelegt. Ich glaubte, dass in diesem Zusammenhang mal so kleine verständliche menschliche Fehltritte, wie ein Seitensprung mit Folgen, verzeihbar sein müssten. Kurz: Ich fühlte mich als Opfer der Anderen und es wollte mir nicht einleuchten warum mir die undankbaren Anderen so etwas antaten. Noch mal zur Klarstellung: So dachte ich damals. Nur tragisch, dass ich für die Korrektur dieser geistigen Schieflage dann über zwei Jahrzehnte benötigte. Zum Kapitel 6
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Wenn die Wege auseinander gehen Im Monat September des Jahres 1970 gab es für mich ein Leben zwischen Baum und Borke. In dieser Zeit zeigte sich aber auch, dass ich eine ganze Menge Managerveranlagung besaß. Nach der Devise „tote Enten soll man schwimmen lassen“ verschwendet ich keinen Augenblick für einen Kampf mit ungewissen Ausgang. Ich kämpfte nicht um meine wunderschöne bezaubernde Frau und ich sah keine Veranlassung zu einem kämpferischen Engagement in Hinblick auf die Beilegung unseres Bruderzwistes. Ich weiß auch heute noch nicht ob solche Kämpfe Erfolg gebracht hätten aber aus späteren Äußerungen anderer, insbesondere die von Jürgen, Uns Mam und Roswitha sowie indirekt auch von Anni, weiß ich dass meine Gegenüber eigentlich so etwas in jener Zeit von mir erwarteten. Stattdessen spann ich eine Analyse über des Gesehene zusammen, in der ich meine inzwischen schmutziggraue Weste als blütenweiß erscheinen lassen wollte. Ein Manager kann eine Fehlentscheidung nach der anderen treffen. So lange er seinen „Murks“ als sachgerecht und eigentlich zukunftsorientiert darstellen kann, wirkt sich dieses nicht negativ auf seine Karrierebahn aus. So ergab meine damalige Analyse in meiner Betrachtungsweise, dass ich immer sachgemäß und im Sinne zukünftigen Erfolges gehandelt hätte. So stand dann die Behauptung, dass ich mich zur Abwendung eines familien- und unternehmensschädigenden Fremdganges meiner Schwägerin aufgeopfert hätte obwohl ich mit der Fortführung der Geschäfte unserer Unternehmen bis am Rande menschlicher Leistungsfähigkeit belastet gewesen wäre. Das es bei solchen Höchstleistungen mal zu kleinen Pannen kommen kann, da es da wo gehobelt wird auch Späne fallen, wollten die „bösen Anderen“ entsprechend meiner Analyse nicht einsehen. Es gab für mich keinen Grund warum sie mir verzeihen mussten sondern ich musste darüber nachdenken ob ich ihnen verzeihen könnte. Ein Manager hat sich nicht für die Wirklichkeit zu interessieren sondern er hat sie vorzugeben. Das Abhaken nach Schönung ist bestenfalls ein Drittel des Tätigkeitsfeldes eines Managers. Die Entwicklung von Strategien, wie man als Phönix aus der Asche hervorgehen kann, und dieses in erster Linie auf die eigene Position bezogen, ist der größere, markantere Teil seines Wirkens. Aber gerade diesbezüglich saß ich in der anfangs erwähnten Klemme zwischen Baum und Borke. Jürgen war inzwischen zu einer Anschlussheilbehandlung in Bad Hersfeld und unser Vater vertagte alle Entscheidungen auf die Tage nach der Heimkehr seines Ältesten und ließ dabei alle Varianten einer gesellschaftlichen unternehmerischen Personalentscheidung offen. Ich konnte nicht ausschließen, dass ich aus der ganzen Geschichte abgefunden werden sollte. Nur die Aussage, dass ich meine Eltern mit meiner Verhaltensweise zutiefst enttäuscht habe, bekam ich täglich ein bis zwei Mal zuhören. Wie sollte ich unter diesen Voraussetzungen Zukunftsstrategien entwickeln können? Dieses spielte schon bei den Überlegungen zur „Abwicklung meiner Ehe“ eine Rolle. Mir war klar, dass wir es 1968 „leider“ unterlassen hatten, in einem Ehevertrag solche Wahrscheinlichkeiten vorsorglich abzudecken. Jetzt musste ich darüber nachdenken wie ich Anni günstig abfinden und wie ich sie zu einem entsprechenden Vertragsabschluss bewegen konnte. Und das Ganze unter Berücksichtigung der Tatsache, dass ich nicht wusste, wie mein Vermögensstand nach Jürgens Rückkehr sein würde. Schließlich gehörte ja alles noch unserem Familienhäuptling, sprich unserem Paps. In meinen Überlegungen musste ich auch eventuelle Sentimentalitäten meines Vaters in Richtung seines Enkels Dietmar berücksichtigen. Denn wenn ich Anni mit einer für mich tragbaren Abfindung und Kindsunterhalt im Rahmen der gesetzlichen Regelungen „loswerden würde“, könnte ich im Hinblick auf den Kleinen bei meinen Eltern eventuell weitere Jalousien herunterlassen. An meinen machohaften Ausführungen erkennt jeder, dass ich in keiner Weise mit der Intelligenz und dem eigenen Willen meiner Frau Anna Katharina, die jeden Austausch persönlicher Gedanken mit mir mied, gerechnet hatte. Sie hielt mich für inkompetent und verhandelte ohne mein Wissen mit meinem Vater. Dieser bestellte mich Mitte September zu einem Sechsaugengespräch, also mit Anni, ihm und mir, in seine Wohnung. Er eröffnete die Runde mit einem Statement: „Also eine Scheidung von euch Beiden dürfte wohl nicht mehr abwendbar sein. Das ändert bei mir nichts an der Tatsache, dass ich unsere Anni ins Herz geschlossen habe und sie auch bis zu meinem Lebensende darin behalten werde, dass Dietmar mein Enkel ist und bleibt und auch nichts daran, dass du Walter unser Sohn bist und ich diese nie vergessen werde. Ich glaube, dass wir Prügeleien den Kneipenstehern überlassen und wir unsere Wege vernünftig auseinander gehen lassen sollten. Walter, hier ist ein Vertragsentwurf den ich mit Anni ausgearbeitet habe. Diesen solltest du jetzt genau lesen, damit wir, bevor wir zum Abschluss kommen, noch mal darüber sprechen.“. Ich habe meinen Vater bis zu diesem Zeitpunkt noch nie so förmlich in Familienangelegenheiten sprechen hören. Die erste Passage des Vertrages empfand ich als Kröte, die ich zu schlucken hatte. Da es damals im Scheidungsrecht noch das Verschuldensprinzip, was allerdings nach dem Willen der sozialliberalen Koalition (SPD/F.D.P.), die wir seit Ende 1969 hatten, durch das Zerrüttungsprinzip ersetzt werden sollte, gab wurde mir in diesem ersten Vertragsabschnitt das hundertprozentige Verschulden zugewiesen. Der letzte eheliche Verkehr, der damals bei Scheidung noch eine bedeutende Rolle spielte und angegeben werden musste, sollte Neujahr 1970 stattgefunden haben. Obwohl wir weiterhin unter einem Dach gewohnt hätten, sollte es laut Vertrag bereits im Februar eine Trennung von Tisch und Bett gegeben haben. Mit diesen Punkten war dann eine schnelle Scheidung ohne großes Schmutzig-Wäsche-Waschen möglich. Im Februar 1971 wurden wir dann auch ohne großes Tedere vom Amtsgericht Waldheim geschieden. Der Scheidungstermin war dann mein letztes persönliches Zusammentreffen mit der wunderschönen Anni.
Der zweite Teil unseres Vertrages wäre unter anderen Umständen dann auch ganz in meinem Sinne gewesen. Anni stellte für ihre eigene Person keine großen Ansprüche. Sie wollte jetzt ihre Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Sie hatte sich deshalb bei einem Unternehmen in Berlin eine Anstellung als Chefsekretärin beschafft, die sie zum 19. Oktober 1970 antreten wollte. Als Abfindung für die Jahre, die sie auf ihrem eigenständigen Lebenswege „verloren“ hatte sollte ich ihr eine Eigentumswohnung in Berlin-Steglitz kaufen und einrichten. Eigentlich mit meinen 70erVermögensverhältnisse ein „kleiner Fisch“, aber ich wusste in diesem Moment noch nicht, wie ich aus den Auseinandersetzungen mit meinem Vater und Jürgen herauskommen würde und ob dass, dann meine eigene Zukunftschancen verbacken hätte. Wenn der größte Teil des Kapitals, mit dem ich möglicher Weise in Heuerkreisen abgefunden werde, dabei darauf geht, fehlt es mir gegebenenfalls bei der Begründung einer eigenen selbstständigen Unternehmung. Also musste ich schon heftig beim Zustimmen schlucken, aber ich sah keine Chance diese zu verweigern. Auch der dritte Abschnitt des Vertrages, in dem es um Dietmar ging, ließ mich nicht gerade in Jubel ausbrechen obwohl er, von den Summen abgesehen, dem entsprach, wie ich ihn selbst verfasst hätte. Es ging um den Unterhalt für unseren Sohn Dietmar. Anni hatte über meinen Vater mehr als das Doppelte wie ich meinem Sohn zugestanden hätte ausgehandelt. Und das obwohl ich ihr hierin das alleinige Sorgerecht ohne ein Besuchsrecht zugestand. Anni verpflichtete sich jedoch mindestens an zwei Wochenenden im Jahr mit Dietmar seine Großeltern zu besuchen. Diese Besuche sollten mit einem Kontaktverbot meinerseits verbunden sein. Erbrechtlich sollte es für Dietmar kein Unterschied sein ob wir noch verheiratet sind oder nicht. Ich sollte jedoch auf alle eventuellen späteren Ansprüche gegenüber Dietmar verzichten. Der Vertrag wurde, sogar ohne große Diskussion abgeschlossen und damit gingen Annis und meine Wege auseinander. 14 Tage später zog Anni dann aus unserem Heim aus und nach Berlin. In dem gleichen Haus, in dem sie die Eigentumswohnung hatte, wohnte auch, was sie vorher allerdings nicht wusste, auch Christian Wolf noch bei seinen Eltern. Diesen Namen habe ich ja schon mal bei meiner Niederschrift erwähnt. Richtig, es ist der junge Mann, der ihr mal in den Ferien auf Sylt die „Unschuld geraubt“ hatte. Der Zufall half hier nach, dass eine längst zurückliegende Urlaubsliebe wieder, und dann richtig, entflammen konnte. 1972 wurde aus Anna Katharina Heuer geborene Bauer dann Frau Wolf. Noch ein Jahr später wurde dann Christina, Annis und Christian Wolfs Tochter, geboren. Wie ich gehört habe sollen die Beiden sehr glücklich miteinander gewesen sein und Annis zweiter Mann soll auch ein guter Stiefvater für meinen Sohn Dietmar gewesen sein. Aber noch weitere Wege gingen damals auseinander. Auch die Ehe meines Bruders mit Roswitha wurde „abgewickelt“. Die dritte Passage deren Auflösungsvertrages brachte für deren Tochter Anita das gleiche Ergebnis wie in unserem Fall für Dietmar. Nur die großzügigere Anita-Besuchsregelung für Jürgen unterschied deren Vertrag deutlich von dem unsrigen. Der Rest jedoch war vollkommen anders. Hier hatte Roswitha alle Schuld zu übernehmen und auf alle Ansprüche gegenüber Jürgen zu verzichten. Da hätte Rosi nie zugestimmt, wenn mein Vater nicht noch den Vertrag, den ich mit ihr zu schließen hatte, durchgesetzt hätte. Auch dazu beorderte mich Paps, nur ein paar Tage nach der Zusammenkunft mit Anna Katharina, zu einer Dreierrunde. Als ich erschien war Roswitha schon da. Wie damals bei Dietmar kümmerte sich auch jetzt die Oma, also Uns Mam, um ihr Enkelkind Anita. Ich setzte mich mit einem flapsigen, man kann schon flegelhaften, Verhalten gegenüber Rosi, die ihrerseits jedoch recht nett zu mir war, an den Tisch und bekam erst mal gehörig von meinem Vater den Kopf gewaschen: „Hör mal Walter, ich erwarte, dass du dich jetzt umgehend bei Roswitha entschuldigst. Ich weiß was zwischen euch gelaufen ist und finde dieses beim besten Willen nicht in Ordnung. Beide habt ihr euch, ... so sehe ich dieses auf jeden Fall, wie zwei Asis benommen. Aber trotz allem ist und bleibt Roswitha eine ansonsten nette Frau. Wenn ich ihr moralische Vorhaltungen machen wollte, müsste ich das in einem noch stärkere Maße dir gegenüber machen. Denn alles, sogar euere ‚Schweinerei’ ist in erster Linie von dir ausgegangen und Rosi hat dann mitgespielt. ... Also entschuldige dich jetzt sofort.“. Während ich meine Standpauke erhielt saß Rosi in einer schuldbewussten und gar nicht schadenfreudigen Haltung da. Irgendwie dachte ich in diesem Augenblick innerlich, dass sie doch recht „süß“ sei und entschuldigte mich daher sogar aufrichtig und ehrlich. Während Vater dann ein Statement hielt betrachte ich eingehend Roswitha. Sie war bei Weitem nicht so schön wie Anni aber alles was bei Männern Bewegung auslöst war an ihr dran. Insbesondere schaute ich auf ihre sittsam übereinander geschlagenen langen Beine und fühlte mich dabei irgendwo lustvoll angeregt. Dieses war mit ein Hintergrund, warum ich in Folge dem Komplott, den Paps mit Jürgen ausgeheckt hatten, zustimmte. Der Vertrag mit meiner Schwägerin sah vor, dass ich, als der Hauptschuldige, für Roswitha großzügige Unterhaltsleistungen zu erbringen habe. Den sollte ich entkommen können, wenn ich Rosi, die ich zum Zwecke der Probeehe, oder besser gesagt Bewährungsehe, unmittelbar nach Annis Auszug in mein Haus aufnehmen musste, bis spätestens Silvester 1973 aber nicht vor Juni 73 heiraten würde. Sollte Rosi sich einer „Eheverfehlung“ schuldig machen sollte sie jeden Anspruch gegen mich verlieren und umgekehrt, im Falle meiner Untreue, sollte die Unterhaltsleistung rückwirkend zum 1. Oktober 1970 in Kraft treten. Aufgrund meiner Einwendungen wurde der Abschluss eines Ehevertrages zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht ausgeschlossen. Ich weiß nicht ob solche Verträge überhaupt möglich oder sittenwidrig sind aber wir schlossen diesen mit dem Vorsatz, uns auch daran zu halten, ab. Alle beteiligten Seiten hatten jedoch andere Beweggründe für diese Angelegenheit. Jürgen
wollte nichts für seine untreue Ehefrau aufwenden und diese auch nicht mehr nach seiner Rückkehr in seinem Hause antreffen. Roswitha wollte nicht Vollendens aus dem Haus Heuer geworfen werden und konnte tatsächlich, wie sie mir viel später mal gestand, immer noch die Hoffnung, dass sie, wenn die Zeit Wunden geheilt hat, Jürgen, den sie nach wie vor liebte, zurückgewinnen könne, wahren. Für unseren Vater ging es darum das, was er in seinem arbeitsreichen Leben zusammengebracht hatte, auch zusammen gehalten würde. Und letztlich mir ging es nur darum, mit einem halbwegs blauen Auge davonzukommen und eine Zweckehe mit meiner damaligen Schwägerin schien mir im Grunde noch nicht mal unübel. Die beiden Ehewege konnten so schon vor Jürgens Heimkehr auseinander gehen, die Trennung der Heuerunternehmen sollte unmittelbar nach der Wiederherstellung von Jürgens „Einsatzfähigkeit“ erfolgen. Nach Vaters Willen sollte Jürgen jetzt nicht nur auf dem Papier sondern auch in der Realität die Geschäfte der Spedition Ernst Heuer führen. Ich sollte wie ein Prokurist mich künftig ausschließlich im Bereich Busreisen Ernst Heuer, über die Paps auch weiterhin seine Hände halten wollte, betätigen dürfen. Nach Abschluss des Roswitha-Vertrages erhielt ich den Auftrag, Vorschläge zur Entflechtung der beiden Unternehmen auszuarbeiten, so dass es kein Zwang zur Zusammenarbeit mit Jürgens Spedition bestand. Dabei sollten aber aus der Trennung der siamesischen Unternehmenszwillinge auch keine Nachteile entstehen. Die Entscheidung wie es sein würde hielt sich Paps jedoch alleine vor. Also stand ich wieder vor einem Berg Arbeit; diesmal eine echte Strafarbeit. An Ideen mangelt es mir jedoch nicht, denn ich hatte mir das, was ich jetzt vorschlug im Unreinen schon lange vorher mal angedacht. Meine Aufgabe bestand jetzt in der Konkretisierung der Angelegenheit und aus der Zusammenstellung von Zahlenmaterial, was bei der Realisation unerlässlich schien. Meine Idee war es die Plätze, wie wir salopp zu unseren Niederlassungen sagten, wie eigenständige Firmen abzurechnen. Das heißt, diese nicht wie Kostenstellen sondern wie selbstständige GmbHs zu behandeln. Jede „Platz GmbH“ stellt ihre Leistung entweder der Spedition oder dem Busunternehmen in (interne) Rechnung. Darin rechneten wir allerdings nicht mit D-Mark sondern VE, also Verrechnungseinheiten, ab. Die Gesamtkosten sollten dann zu bestimmten Zeitpunkten auf die beiden Unternehmen entsprechend der jeweiligen VEs aufgeteilt und gegebenenfalls aus dem jeweiligen Betriebsergebnis ausgeglichen werden. In Anbetracht meines derzeitigen Standes in der Familie und den Unternehmen sowie im Hinblick auf die Tatsache, dass ich mich, wenn ich das Sagen im Busunternehmen habe, schrittweise vom eigenen Fuhrpark trennen will, schlug ich vor, die Plätze offiziell der Spedition zuzuordnen. Ich ging noch einen Schritt weiter und schlug vor, die Verwaltung des Busunternehmens nach und nach, beginnend am Hauptsitz in Waldheim, auszugliedern und denen neuzugründende oder zu übernehmende Reisebüros zuzuordnen. Mein Vater sah darin meinen Friedenswillen und ich sah es als ersten Schritt vom Reisebus- zum Busreise-Unternehmen. Dieses ist jetzt grob und leichtverständlich wie ich mir das Weitergehen vorstellte. Mit den Details würde ich, so glaube ich, nur langweilen und deshalb fahre ich jetzt mit dem Geschehen im Hause Walter Heuer fort. Für das Konzept, was in Folge den Grundstein meines Erfolges darstellte, benötigte ich wieder einmal drei Siebentagewochen mit 12 bis 16 Stunden täglich. Während dieser Zeit zog Anni aus und ich habe mich noch nicht einmal richtig von meiner Nochfrau und meinen Sohn verabschiedet. Lediglich am Morgen ihres Auszuges gab es ein förmliches Shakehands. Natürlich hätte es keine Katastrophe dargestellt wenn ich an diesem Tage mal eine Arbeitspause eingelegt hätte, aber ich sagte meine Beweggründe für meine Arbeitswut beim Abschied sogar ehrlich zu Anni: „Mach es gut Mädchen. Verzeih, das ich mir für euch auch heute nicht mehr Zeit nehme. Ich befürchte, dass es mir jetzt tatsächlich doch noch das Herz zerreißen könnte ... und dann ist doch nichts zu ändern. Da lenke ich mich meines Überlebens willen doch lieber mit Arbeit ab. Also nochmals: Verzeih mir und alles Gute für die Zukunft. Pass mir gut auf unseren Kleinen auf.“. „Schon gut, Walter“, antwortete Anni leise während sie mir die Hand reichte, „mir könnte es genauso gehen und daher bin ich über deine heutige Entscheidung nicht mal böse. Auch ich wünsche dir für deine Zukunft nur das Beste. Um Dietmar brauchst du dir keine Gedanken zu machen, da werde ich schon drauf achten.“. Einen Moment hatte ich den Eindruck als wäre Anni bereit sich noch einmal von mir küssen zu lassen. Das geschah allerdings nicht und als ich des Abends nach Hause kam war das Haus leer. Lange blieb es nicht so. Am übernächsten Tag war es genau umgekehrt: Des Morgens verließ ich ein leeres Haus und Abends traf ich Frau und Kind vor. Nicht meine Anni sondern Rosi, nicht meinen Sohn sondern meine Nichte Anita. Vorsätzlich hatte ich es mir an diesem Tage spät lassen werden und so kam ich erst kurz nach Mitternacht heim an den Romansweiler Waldrand. Anita schlief natürlich aber Roswitha hatte auf meine Rückkehr gewartet. Sie empfing mich korrekt bekleidet, mit freundlichen Gesicht und netten Worten. Ich dagegen frotzelte sie erst mal von der Seite an. Roswitha dagegen ließ sich nicht beirren und blieb freundlich: „Walter was soll es. Wir beide haben großen Bockmist gebaut und sollten jetzt das Beste daraus machen. Vielleicht entwickelt sich zwischen uns doch so etwas, was man Liebe nennen könnte. Ganz gleichgültig waren wir uns ja eigentlich nie ... zumindestens habe ich es bisher so empfunden.“. Sie schaute mich flirtähnlich lächelnd an und wartete ab, ob meinerseits eine Aussage erfolgte. Obwohl sie mich doch jetzt ein Wenig anrührte erwiderte ich jetzt nichts, worauf sie fort fuhr: „Ich bin absprachegemäß ins Schlafzimmer eingezogen. Wenn du willst, kannst du ruhig in dein Ehebett zurückkehren. Schätze, dass das sowieso irgendwann mal der Fall sein wird oder wolltest du künftig als geschlechtsloses Wesen leben?“. Jetzt sagte ich dann doch was: „Na ja, Rosi, auch ich gehe davon aus, dass wir früher oder später miteinander schlafen werden. Schon aus dem Grunde, weil du doch sexuell ganz aufregend auf mich wirkst ... das will ich ja nicht leugnen. Aber im Moment ist
zumindestens bei mir die Zeit dafür noch nicht reif. Vorläufig möchte ich es noch dabei belassen und noch weiterhin Oben schlafen.“. Sie zeigte Verständnis und verschwand mit einem „Guten Nacht, Walter“ im Schlafzimmer. Als ich am nächsten Morgen kurz nach Sieben herunterkam saß Anita in ihrem Stühlchen bereits am Tisch im Esszimmer. Auch für mich war, so gar sehr schön, gedeckt worden. Rosi kam mit dem frischen Kaffee aus der Küche. Über ihr kurzes, hauchdünnes Nachthemd hatte sie einen, die Durchsicht zulassenden Morgenmantel angezogen. Ich dachte mir: „Das Luder legt es aber auch glatt darauf an, mich zu verführen.“. Aber auch die Art und Weise wie sie mich anlächelte, während sie mir den Kaffee einschenkte, verrieten ihre diesbezüglichen Absichten. Ich dagegen blieb hart, aber in der Anfangszeit weniger vorsätzlich als viel mehr in Folge, dass mich dieses oder jenes an Anni erinnerte weshalb mir dann aufgrund einer Art Schwermüdigkeit die Lust verging. Roswitha erzählte mir später mal, dass diese Zeit für sie menschlich sehr hart gewesen sei. Irgendwie habe ihr Herz immer noch meinem Bruder gehört aber ihr Vorsatz sei es gewesen begangene Fehler nicht mehr zu wiederholen und tatsächlich mit mir ein neues Glück zu versuchen. Meine Reaktion seien oft demütigend gewesen aber sie habe sich in ihren Kurs dadurch nie beirren lassen. So kam es dann zum 9. Oktober 1970, an dem Jürgen von seiner schweren Krankheit genesen heimkehrte. Es sollte mein letzter offizieller Arbeitstag auf dem Platz in Waldheim sein. Ich hatte mein Projektpapier ohnehin fertig und Paps wollte diese jetzt übers Wochenende abschließend durchsprechen. Bereits in der Folgewoche wollte er unseren Anwalt damit beauftragen, alles in Vertragsform zu fassen. Vorläufig wollte jetzt Vater täglich wieder 4 bis 5 Stunden am Platz sein und Jürgen sollte dort ab dem darauffolgenden Montag als der Chef residieren. Mich wollte Jürgen dort nicht antreffen. Das führte für mich aber nicht zum Zwangsurlaub sondern ich war von Paps beauftragt worden mich in Heimarbeit und Außendienst um die Auslagerung der Busunternehmensverwaltung und um die Begründung oder Übernahme eines Reisebüros zu kümmern. Es sollte also alles so laufen, wie ich es vorgeschlagen hatte. Nachträglich muss ich sagen, dass 1970 das Jahr einer meiner größten persönlichen Schlappen war aber in Folge meine geschäftliche Karriere begründet wurde. Der Grundstein zum Einkommensmillionär, der ich nur fünf Jahre später schon sein sollte, war gelegt. Aber daran dachte ich in jenen Oktobertagen noch nicht. Mein Problem war es, dass ich jetzt mehr Zeit als je zuvor Zuhause verbringen würden. Und da war Rosis stetige Anwesenheit, womit ich mich zum betreffenden Zeitpunkt noch nicht abfinden wollte. Während meiner Heimarbeit fiel mir dann eine gegenläufige Entwicklung beim Unternehmen und bei meiner Nochschwägerin auf. Spedition und Busunternehmen wandelten sich in 1970 von einem herkömmlichen Familienunternehmen, mit einem „Patron“ und seinen Söhnen an der Spitze, zu einem zeitgemäßen mittelständischen Unternehmen. Aus der für damalige Zeiten modernen Frau Roswitha Heuer wurde eine Dame des Hauses im erzkonservativen Sinne. Auf jeden Fall erschien Rosi vorher insgesamt immer fortschrittlicher und etwas emanzipierter als Anni. Jetzt mutierte Rosi zur treusorgenden Frau und Mutter. Sie versuchte mir jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie bereitete die Mahlzeiten zu und deckte den Tisch fast immer wie zu einem Festmahl und wartete geduldig bis ich am Tisch platz nahm. Von ihr kamen keine Vorschläge und Anregungen sondern sie wartete auf das, was sie von mir angewiesen bekam. Ich brauchte praktisch nur zu Schnippen und schon sprang sie. Dabei wendete sie ihr Aufmerksamkeit nie von ihrer Tochter Anita ab. Natürlich weckte das den egoistischen Macho in mir und ich fühlte mich wie ein Pascha. Ich kann mich noch nicht einmal daran erinnern, dass ich böswillige Gedanken bei der Ausnutzung dieser Situation gehabt hätte. Später gestand sie mir, dass sie dieses anfänglich aus Schuldbewusstsein und Angst getan habe. Außerdem wollte sie sich bei mir „Einschleimen“ und währenddessen sowohl bei mir wie bei ihr echte Liebe wecken. Sie wollte den einmal begangenen Fehler nicht wiederholen. Durch die stetige Übung und die Begünstigung dieser Geschichte durch meine überwiegende häusliche Anwesenheit sei ihr das dann nach ein paar Tagen so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie dieses als normal und alltäglich angesehen hätte. Der Denkfehler dabei war, dass ein solches Verhältnis von vornherein nicht zur Liebe führen kann, denn in einem willigen Dienstmädchen was man ausnutzen kann vermag man keine liebenswürdige Frau entdecken. Lieben kann man nur jemanden, den man als gleichwertig erachtet und würdigt, es sei denn, das man ausschließlich körperliche Befriedigung fälschlicherweise mit dem Wort Liebe überbewertet. Auch auf dem letztgenannten Gebiet, der sexuellen Befriedigung, nutzte ich Roswitha schamlos aus. Ins Schlafzimmer bin ich anno 1970 nicht eingezogen; wir blieben also getrennt vom Bett. „Richtigen“ Geschlechtsverkehr haben wir in der Zeit nicht gehabt. Aber immer wenn es „über mich kam“, ließ ich es mir „von ihr machen“. Erstmalig war das Ende Oktober der Fall und hatte sich zunächst rein zufällig ergeben. Irgendwie hatte ich den halben Tag in seltsamer und unzweckmäßiger Haltung verbracht. In Folge fühlte ich mich vollkommen verspannt und nahm ein Wannenbad um mich zu entspannen. Gewohnheitsgemäß schloss ich die Badezimmer hinter mir nicht ab und so war es möglich, dass Roswitha eintreten konnte. Ohne Worte, nur mit einem Lächeln, kam sie an die Wanne heran und wusch mich ganzkörperlich mit zarter Hand. Ich wehrte dieses nicht ab sondern ich genoss dieses träumerisch. Als ich das Gefühl hatte an der Vorderseite meines Körpers genug bedient worden zu sein, drehte ich mich in der Wanne in Bauchlage und ließ Rücken, Po, und Beinrückseiten ebenso behandeln. Erst jetzt fiel das erste Wort im Badezimmer und es kam von ihr: „Und wie ist das mit deinem Schnippelchen?“. Ich sagte nichts, legte mich aber sofort wieder auf den Rücken und gab ihr so den zarten Zugriff zu meiner Männlichkeit zum Zwecke der Zärtlichkeit frei. Diese Behandlung, die sich da
einfach ergab, forderte ich danach regelmäßig ab. Rosi kam dabei nicht auf ihre Kosten und trotzdem beschwerte sie sich nicht darüber. Ein etwas seltsames Verhältnis entwickelte ich damals auch zu der kleinen Anita. Zu den Namen war sie übrigens über den Kosenamen meiner ersten Frau Anna Katharina gekommen. Der Name Anni gefiel Rosi und meinem Bruder so gut, dass sie ihre Tochter am Liebsten gleich so getauft hätten. Da dieser aber, wie fast alle Kosenamen, nicht zu den offiziell zulässigen Vornamen zählt, entschieden sie sich für den ähnlich klingenden Namen Anita. Zu der Kleinen, die ja eigentlich meine Nichte war, entwickelte ich ein echtes liebesvolles Vater-Tochter-Verhältnis. Ich tollte und spielte mit ihr rum, herzte und tröste sie wenn mal die Tränchen kullerten. Ich empfand es in keiner Weise störend wenn sie mich mal während der Arbeit unterbrach. Begünstig durch meine damalige Allgegenwart beschäftigte ich mich mit ihr mehr als zuvor mit meinem leiblichen Sohn Dietmar. Das einzigste Problem was Rosi in jenem Zeitabschnitt mit mir besprach, war die Sache das Anita zu mir „Papa“ sagte während das, laut Auskunft von Uns Mam gegenüber Jürgen nie fiel; aber er war wirklich der Papa. Irgendwie wollte ich, wie Rosi auch, diesbezüglich Jürgen nicht wehtun und andererseits keine zukünftigen Konflikte zwischen „wahren“ Vater und Tochter vorprogrammieren. Wir beauftragten Uns Mam dieses mal mit Jürgen abzusprechen. Der zeigte sich diesbezüglich jedoch verständig und ließ mitteilen, dass Anitas Wohl vorgehe und in dieser Richtung sei es besser so wie es wäre. Er ließ uns sogar sein Dank dafür, dass wir in diese Angelegenheit miteinbezogen hätten, ausrichten. Aus dem, was ich zuletzt berichtete, ist ersichtlich welche hohe und unüberwindliche Wand sich zwischen Jürgen und uns aufgebaut hatte. Wir hatten ihn in seiner Person auf schändliche Art schwer verletzt, was er natürlich nicht verarbeiten konnte. Später erfuhr ich mal, dass für ihn noch ein anderer Aspekt eine Rolle spielte. Er liebte Rosi wirklich und konnte den Verlust zunächst nicht überwinden. Daher verstand er unter dem aufgebauten Wall auch eine Art Schutzmauer zur Selbsterhaltung. In dieser Richtung und auch in seinem Bestreben zum Wohle seiner Tochter muss man es verstehen, dass er ab Anfang November freiwillig auf die Besuchsregelung aus dem Ehe-Auflösungs-Vertrag verzichtete. Ihm bereiteten die Wochenenden im Oktober unsägliche seelische Schmerzen und zusätzlich hatte er den Eindruck, dass es gar nicht gut für Anita wäre, wenn sie so hin und her gerissen würde. Jetzt war Anita schon fast 14 Monate alt und begann langsam die Situation zu verstehen. Diese war für ihn der Grund, die zwar richtige aber für ihn schmerzliche Konsequenz zu ziehen. Bei diesem Hintergrund ist es natürlich klar, dass ich auch in geschäftlichen Dingen mit meinen Bruder nur über unseren Vater „verkehren“ konnte. Auch in dieser Richtung verhielt er sich aus meiner Sicht unerwartet vernünftig. Er hatte keine Entscheidung boykottiert. Wenn von ihm Einwände kamen waren diese sachlich fundiert und er hatte in den meisten Fällen dann auch recht. Auch dass er Paps dahingehend ermahnte mir in Richtung Busunternehmen weitgehendst die Kompetenz zu überlassen und sich nur aus sachlichen Gründen einzumischen, kann man nicht gerade unter Selbstverständlichkeit abhaken. Sicherlich lag die Entflechtung der Familienunternehmen zu voneinander unabhängigen Betrieben, gerade in der entstanden Situation, auch in seinem ureigenen Interesse, aber trotzdem möchte ich jetzt sein vernünftiges Vorgehen nicht nur damit erklären. In der letztgenannten geschäftlichen Angelegenheit kam ich auch überraschend flott voran. Im Laufe des Jahres hatte ich mal gehört, dass mein alter Lehrmeister Goldmann sein Reisebüro aus Altersgründen auf- oder am Liebsten übergeben wollte. Reisebusse hatte er schon seit zwei Jahren nicht mehr. Bereits in der Woche nach Jürgens Krankenhausentlassung suchte ich Herrn Goldmann auf und erkundigte mich nach dem Stand der Dinge. Ich konnte das Reisebüro anpachten und das Geschäftshaus, in dem sich das Reisebüro befand, auf Rentenbasis kaufen. Hierin wurde dann die erste Hauptverwaltung der „Heuer Bustouristik“, wie ich zunächst mit der Busreisen Ernst Heuer GmbH inoffiziell firmierte. Hieraus sollte dann im Laufe der Zeit ein Spezialist für Bildungs-, Rund- und Städtereisen aber auch ein gewerblicher Organisator für Gelegenheitsfahrten für Schulträger, Verbände und Organisationen werden. Aus einem Personenbeförderer wurde eine Logistikunternehmen im Bereich Tourismus. Bereits im Laufe des Jahres 1971 lief dann der Prozess, dass nach deren Abschluss die Niederlassungen der Spedition nicht mehr identisch mit denen des Touristikunternehmens waren, ab. Somit waren nicht nur die Wege der Heuerehen sondern auch der Heuerfirmen in 1970 auseinander gegangen. Zum Kapitel 7
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Mit Hendrik kam auch ein Wenig Liebe Wir Heuers zählten zu den katholischen Kirchensteuerzahlern aber ansonsten konnte man uns nicht zu den Christen zählen. Die Kirchensteuer war für uns erstens eine Art Beitrag zu einem Taufen-, Hochzeiten- und BeerdigungsVeranstaltungs-Verein und dann so eine Art Rückversicherung: Es könnte ja doch was dran sein am lieben Gott, an Himmel und Hölle. Wenn es das alles nicht gibt, dann ist, wenn unsere Zeit abgelaufen ist, ohnehin alles egal – vorbei ist vorbei. Wenn aber was daran ist, dürfte es ganz gut sein, wenn man sich mit der Taufe, ab und zu eine Beichte beziehungsweise Kommunion und der Zahlung von Kirchensteuer ein Teilnahmebillet besorgt hat. So war für uns Weihnachten nicht das Fest der Geburt jenes Josua Ben Joseph (arabischer Name für Jesu Sohn des Josefs), dass er Gottes Sohn war wurde bei uns als schönes Märchen abgehandelt, sondern der Jahresendspurt des Einzelhandels von dem wir auch im Busbereich mit partizipieren konnten. Was es da nicht alles an großen Weihnachtsmärkten, auch schon in den 70er-Jahren, gab wo wir die Leute in Massen hinkarren konnten. Außerdem wirkte es sich umsatzpositiv aus, dass wir die Leute insbesondere aus den ländlichen Raum in die großen Einkaufszentren kutschen konnten. Die Aussagetendenz des vorhergehenden Absatzes kann ich heute keinesfalls mehr gut heißen aber damals, in der stark polarisierenden ersten Hälfte der 70er-Jahre, lagen wir damit im atheistischen Trend. Das, was man heute in Theologenkreisen Säkularisation (Verweltlichung) nennt, setzte Anfang der 70er mit Macht ein. Dieses aber nur am Rande; jetzt geht es mir in erster Linie darum wie sich um die Weihnachtszeit und dem Jahresende 1971 eine Änderung im Verhältnis von mir zu Roswitha abzeichnete. Dieses hängt aber stark mit dem Vorhergeschriebenen zusammen. Wir empfanden Weihnachten als eine Zwangspause, die uns kalendermäßig aufgezwungen wurde. Dieses war für uns in jenem Jahr besonders unangenehm, denn die Ruhe und das gesamte sentimentale Gedusele, wie es an solchen Tagen üblich ist, würde uns überall auf das stoßen, was wir in dem zurückliegenden Jahr verloren haben. Wir, vielmehr ich, beschlossen die Tage für strategische Überlegungen hinsichtlich touristischer Ausbeute der Gebiete jenseits des Eisernen Vorhanges, wie man damals zu der, auch quer durch Deutschland verlaufenden, Grenze zwischen West- und Osteuropa sagte, die Dank Brandtscher Friedenspolitik in den Bereich der Möglichkeiten rückte, zu nutzen. Wir werteten ein Berg an Informationsmaterial, was wir von östlichen staatlichen Unternehmen erhalten hatten, aus und nahmen diesen oder jenen schriftlichen Kontakt auf. In meinem Eifer bemerkte ich erst später, dass ich Roswitha in einer Art und Weise eingespannt hatte, wie ich es Anni nie zugestanden habe; so wie ich es zuletzt sogar noch energisch abgelehnt hatte: Ich habe sie voll in meine geschäftlichen Belange eingespannt; sogar als vollwertige Arbeitspartnerin. Die Ausgangslage war Rosis umfangreichen sprachlichen Fähigkeiten. Ich habe ja schon anfangs mal erwähnt, dass sie Englisch, Französisch, Polnisch und Russisch konnte. Gerade die beiden letzteren Sprachen war ja bei dem was wir da machten höchst interessant. Versehentlich war ich von meinem Machosockel gestiegen und war darüber, als ich es merkte, noch nicht einmal böse. Ich besprach mit Rosi sogar ob sie wegen der Kinderbetreuung zunächst von Zuhause für das Unternehmen in dieser Richtung tätig sein könnte. Und schwups, war ich bei einem weiteren Punkt über meinen Schatten gesprungen: Ich hatte nichts zu- oder angewiesen sondern mit ihr besprochen. Ich weiß nicht ob Rosi dieses auch im ersten Moment durchblickte. Sie war auf jeden Fall mit Eifer dabei und in diesem kann sie es möglicher Weise übersehen haben. Die zweite beziehungsweise dritte grundlegende Änderung in unserem Verhältnis hat sie bewusst mitbekommen und auch auf ihre Art ausgekostet. Diese hing mit dem näher rückenden Geburtstermin unseres Kindes zusammen. Bei unseren Neujahrsbesuch bei unseren Eltern wurden die entsprechenden Weichen gestellt. Uns Mam war mit ihrer Krankheit im großen Umfang auf die Betreuung und Hilfe durch meinen Vater angewiesen aber von Pflegebedürftigkeit oder gar Bettlägerigkeit konnte man jedoch noch nicht sprechen. Zur Betreuung der kleinen Anita reichten ihre Fähigkeiten, insbesondere wenn sie dabei von Paps unterstützt wurde, allemal noch aus. So war ursprünglich der Plan, dass Anita, wenn es soweit ist, zu Oma und Opa gebracht werden sollte. Beim Neujahrskaffeeplausch sinnierte meine Mutter, dass es auch mal wieder ganz schön wäre, ein paar Tage am Romansweiler Waldrand zu verbringen. „Warum können wir nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden?“, schlug Paps vor, „Da sind doch die beiden Dachkammern. Wir beide könnten doch da mal einen Monat Stadtranderholung genießen und dabei gleichzeitig unsere Großelternpflicht gegenüber unserem Anitachen nachkommen.“. Das hörte sich gut an; so gut das wir alle gleich zustimmten. Letztendlich wurde vereinbart, dass meine Eltern von Mitte Januar bis Ende Februar, notfalls auch länger, zu uns kommen sollten. Woran ich bei meiner Spontaneität nicht gedacht hatte, dass ich eine der Dachkammern, die sich mein Vater selbst offeriert hatte, selbst noch in Person bewohnte. Das wurde mir erst bewusst, als wir wieder in unserem Heim ankamen und Roswitha fragte: „Macht es dir was aus, wenn ich deine Sachen erst morgen im Laufe des Tages von Oben ins Schlafzimmer hole oder muss es sofort sein?“. Etwas verblüfft fragte ich nur kurz „Wieso?“ zurück. „Ich gehe mal davon aus, dass du nicht bei deiner Mama oder bei deinem Papa schlafen willst.“, resümierte Rosi, „Und ob du nun in 14 Tagen oder gleich umziehst, macht das den Kohl wohl auch nicht fett.“. Der spätere Bundeskanzler war da nicht gemeint, der war zu jener Zeit noch nicht in Amt und Würden. Na ja, jetzt wollte ich mir keine weitere Blöße mehr geben und gab mich geschlagen. Sie hatte es geschafft, ich zog zu ihr ins Schlafzimmer. Daher beantwortete ich ihr ihre ursprüngliche Frage mit: „Du musst weder sofort noch morgen meine Sachen runterholen, denn dafür bin ich selber zuständig. Aber ich lasse mir gerne dabei helfen. ... Übrigens, was erledigt ist belastet einen nicht mehr. Deshalb würde ich gerne sofort loslegen.“. Ein strahlendes Gesicht, wie ich es bei Roswitha seit dem sie bei mir ist noch nicht gesehen
hatte, zeigte mir, dass sie dieses jetzt glücklich machte. So ganz nebenbei kann man also feststellen, dass ich in einem weiteren Punkt die Pascharolle abgelegt hatte. Wer jetzt denkt, dass es dann gleich in der ersten Nacht wieder zur Sache ging, der hat sich getäuscht. Wir haben zwar in herrlicher Weise Zärtlichkeiten ausgetauscht und Rosi hat mich auch manuell befriedigt; mehr ist aber nicht passiert. Vor Roswithas Entbindung hatten wir im absoluten Sinne überhaupt keinen Verkehr, weder miteinander noch sind wir fremd gegangen. Die Erklärung gab ich Rosi zu Beginn der Zärtlichkeiten in unserer „ersten“ Nacht: „Sei mir bitte nicht böse, aber du bist hochschwanger und da kann ich einfach nicht mit dir. Ich habe das Gefühl dir und/oder dem Kind damit zu schaden ... und dann ist einfach die Luft bei mir raus.“. Das war zwischendurch bemerkt damals bei Anni genauso was ich aber in dieser Nacht aus verständlichen Gründen nicht erwähnte. Es hätte so aussehen können als wollte ich „meine Frauen“ miteinander vergleichen und nach meiner Ansicht hatten beide so etwas nicht verdient. Na ja, so lief es bei uns jetzt Anfang 1971 wie in einer fast normalen Ehe. Es fehlte nur noch die Liebe. Diese höchste menschliche Empfindung hatte sich auch jetzt bei uns noch nicht eingestellt. Das hing wohl damit zusammen, dass meine Liebe immer noch Anni gehörte und es bei Rosi wohl entsprechend mit Jürgen war. Noch waren wir nicht frei. Dieses wurde uns in der Nacht nach dem offiziellen Scheidungstermin bewusst. Am Abend war ich nicht ansprechbar gewesen und wollte auch sehr früh ins Bett. Sowohl meine Eltern wie auch Rosi hatten dieses auch eindeutig verstanden und ließen mich ohne Fragen zustellen gewähren. Ich lag im Dunklen mit dem Kopf auf meinem Kissen und weinte, nach meiner Ansicht nicht hörbar, vor mich hin. Trotzdem hat es Rosi bemerkt. Sie sagte allerdings kein Wort sondern beließ es dabei mir tröstend über den Kopf zu streichen. Als ich mich ein Wenig beruhigt hatte und gerade das Gefühl hatte ich würde einschlafen, merkte ich, dass auch Rosi weinte und ich gab ihr die zärtliche Trostspende zurück. Über diese Sache haben wir nie gesprochen, wir hatten uns halt verstanden. Nur eines war ab dem Tag danach anders: Bisher hatte ich sie wechselweise mit Roswitha und mit Rosi, meist sogar mit Roswitha, angesprochen; ab jenen Tag gebrauchte ich nur die Anrede Rosi oder allgemeine Kosworte wie Maus, Schatz und so weiter. Es hatte sich also schon allerhand in unserer Bewährungsehe getan und wäre nicht dieser Vertrag gewesen, hätte ich in jener Zeit bereits ein Hochzeitstermin ins Auge gefasst. Als ich am Abend vom Geschäft, wo es auch mit zunehmenden Erfolg lief, nach Hause kam sprach ich dieses auch im Familienrat an. Von Paps bekam ich aber dann die Erläuterung: „Nein, nein, mein Junge, dass mit der zweiten Hälfte 1973 war meine Idee und ich würde euch dringend raten euch auch daran zu halten. Das wird euer kritisches drittes Jahr sein. Also der Zeitpunkt wo die meisten Ehen, die nicht auf soliden Füßen stehen, zerbrechen. Das ist ein Zeitraum, den niemand erbschleichend oder nur forderungsabwehrend übersteht. Wenn ihr über diese Hürde kommt besteht die große Wahrscheinlichkeit auch im Ehealltag glücklich zu werden. Das seit ihr nicht nur euch sondern auch eueren Kindern schuldig, denn die Kinder haben unter Trennungen am Meisten zu leiden. So lange sie noch ganz klein sind und sie selbst noch mit der Entdeckung der Welt, in die sie ohne ihr zutun geboren wurden, beschäftigt sind, kann der Schaden vielleicht noch etwas begrenzt werden, insbesondere auch dann wenn es keinen großen Wirbel, sprich Scheidungsauseinandersetzungen, gibt. Aber macht euch keine Illusionen schon Säuglinge registrieren das Auseinandergehen ihrer Eltern und nehmen Schaden; aber zum Glück nicht in dem Maße wie später, wenn sie alles bewusst miterleben.“. Jetzt unterbrach er erst mal seine Ausführungen um sich einen Schluck Bier zu genehmigen und fuhr dann fort: „Ich will auch nicht leugnen, dass ich dabei auch an die Geschäfte, die ich aufgebaut habe, gedacht habe. So mancher Kleinbetrieb, wie die unserigen, sind durch Scheidungsquerelen, insbesondere durch hohe Unterhaltsforderungen und Leistungsunwillen, zerhakt und ins Aus geführt worden. Das will ich jetzt mal bei euch Beiden, obwohl es schon danach roch, nicht unterstellen aber was einmal eingerissen ist wird auch schnell zur Mode.“. Bevor er zum Fazit kam unterbrach er noch einmal biertrinkender Weise: „Ich rate euch also dringend den vereinbarten Termin zu beachten. Denkt auch daran, dass ihr es im Vergleich zu Anderen in einer vergleichsweißen Situation auch im öffentlichen Ansehen recht leicht habt. Rosi ist schon Frau Heuer, auch wenn der Name von deinem Bruder stammt, und euer Kind wird von vornherein, genau wie Anita, Heuer heißen. Wenn ihr euch als Herr und Frau Heuer anmeldete, stimmt das, obwohl ihr nicht verheiratet seit, sogar und keiner wird euch von der Seite ansehen. Und wir, Mutti und ich, haben uns auch damit abgefunden, dass ihr Beide ein Paar seit. Also, den Termin abwarten schadet euch nicht aber es dürfte sehr nützlich sein.“. Mit seinen letzten Worten hatte Vater auch den Zusammenhang der damaligen Moralauffassung und dem, zu dieser Zeit noch geltenden starren Namensrecht angesprochen. Die eben angesprochenen Moralbegriffe spielten auch eine Rolle bei Rosis Verhandlungen mit dem Krankenhaus, in dem sie entbinden wollte. Sie sprach ihren Wunsch, dass ich bei der Entbindung anwesend sein könne, aus. Das wurde aber strickt abgelehnt, denn dieses sei im Städtischen Krankenhaus Waldheim nicht zulässig und über eine Ausnahme wolle man, da wir ja auch nicht verheiratet seien, in keiner Weise nachdenken. Rosi erkundigte sich daraufhin bei allen im Umkreis und infrage kommenden Krankenhäuser aber bekam nirgendwo einen anderen Bescheid. Bereits zehn Jahre später wäre dieses bei vielen Häusern keine Frage gewesen. In den 70-ern hat es doch einen grundlegenden Wandel gegeben, dem man nach 1982, so empfinde ich es jedenfalls, mächtig gegensteuern wollte. So kam es dann, dass ich am 24. Februar als überstrapaziertes Nervenbündel über drei Stunden vor einem Kreißsaal verbrachte. Vorher, am Morgen, saßen wir gerade zu Fünft, meine Eltern, Anita und wir, am Frühstückstisch als Rosi
plötzlich in die Runde verkündete: „Es geht los“. Dieser Tag, der auf dem Kalender als Aschermittwoch ausgewiesen war, war auch genau der vorausberechnete Termin und Rosis Tasche stand schon seit zwei Tagen gepackt und griffbereit neben der Tür zum Windfang. Also konnten wir ohne weitere „Vorrede“ gleich zum Krankenhaus fahren. Ich lieferte Rosi vor dem Kreißsaal ab, erledigte die Aufnahmeformalitäten und fuhr dann erst noch einmal zur Firma, um dort meine Tagesanweisungen loszuwerden. Ich hatte aber darüber hinaus keine Absicht, an diesem Tag noch einmal zur Firma zurückzukehren. Im Krankenhaus zurück erfuhr ich was Väter, deren Nachwuchs sich ein Wenig Zeit nehmen, alles erleiden müssen. Aber bitte, bitte, komme niemand auf den Gedanken von mir ein Bericht hiervon zu erwarten. Ich war völlig durchgedreht und bekam schon am nächsten Tag nicht mehr alles in die Reihe. Was ich noch weiß ist, dass nach einer, von mir als Unendlichkeit empfundenen Zeit eine Krankenschwester mir zu meinen Sohn Hendrik gratulierte. Ich war sogar in diesem Moment verblüfft, dass sie den Namen, den wir tatsächlich erst eine Woche vorher ausgesucht hatten, kannte. Eigentlich logisch, denn Rosi hatte ja während der Geburt genügend Zeit zu verkünden, wie unser Stammhalter heißen solle. Danach bekam ich Rosi und Hendrik kurz zusehen und durfte dann erst mal zur Beruhigung nach Hause nach Romansweiler. Dort brauchte Paps dann fast eine halbe Stunde um mir klar zu machen, dass ich Rosi eine Vollmacht unterschreiben lassen sollte, mit der er am nächsten Tag Hendrik amtlich beim Amt Romansweiler unter den Lebenden weilend melde könne. Auch von mir brauchte er eine Unterschrift unter einem Formular in dem ich die Vaterschaft anerkannte und auch dieses musste ich dann noch, zwecks Unterschrift durch Rosi, mit ins Krankenhaus nehmen. Jürgens Familienstammbuch, Rosi war ja noch seine Frau, hatte er bereits vorliegen und die Papiere, die ich vom Krankenhaus mitbekommen hatte, steckte er gleich ein. Ja, ja, bei unseren Familienverhältnissen war es nicht leicht, den Behörden klar zu machen, dass Hendrik Heuer unter den Lebenden weilt. Ich weiß jetzt nicht, ob ich das, was ich eben schilderte genau richtig wiedergegeben habe, denn ich war völlig aufgekratzt und daher froh, dass sich Paps darum kümmern wollte. Am Nachmittag erschien ich dann zur offiziellen Besuchszeit, die es damals noch in fast allen Krankenhäuser gab, wieder im Städtischen. Als ich erschien, war Rosi gerade aufgewacht und machte nicht gerade den muntersten Eindruck. So setzte ich mich erst mal an die rechte Bettseite und schaute sie nur an; vornehmlich in ihre braunen Augen. Und sie schaute zurück und sah irgendwie glücklich aus. Sie reichte mir ihre linke Hand, die ich in meine beiden Hände nahm. So verging fast eine Viertelstunde ohne das ein Wort fiel. Dann sagte Rosi etwas mühsam und leise: „Walter, ... mein Schatz. Ich glaube mit Hendrik kam auch ein Wenig Liebe.“. Und ich antwortete nur: „Was heißt hier ein Wenig. ... Ich liebe dich.“. „Ich dich auch ... und wie“, setzte sie noch nach. Das war das erste Liebesgeständnis unter uns beiden – und es war so gar ehrlich. Damit war das Eis zwischen uns endgültig gebrochen und es war der Beginn einer an und für sich harmonischen Ehe, die zunächst noch von keinem Standesamt beurkundet worden war. Etwa fünf Minuten darauf war Rosi so munter, dass sie die Unterschriften, mit deren Einholung mich mein Vater beauftragt hatte, leisten konnte und dann bekam ich von ihr noch ein paar Aufträge, die es zu erledigen galt. Damit war sie gerade durch als unser laut schreiende Sohn, der an die Brust wollte und sollte, hereingebracht wurde. Ich durfte den kleinen Schreihals noch kurz bewundern und wurde danach unter Hinweis auf die Krankenhausordnung hinaus komplimentiert. Das passierte mir im Laufe der Woche, die Rosi noch im Krankenhaus verbrachte regelmäßig, das heißt täglich. Was habe ich unserem Kleinen nur getan, dass er immer just zu der Zeit, wenn sein Vater seine Mutter besuchte, Hunger verspürte oder wusste er nicht, dass wir nicht verheiratet waren und ich deshalb dem Stillen nicht beiwohnen durfte. Erstmalig war ich am Nachmittag des darauffolgenden Mittwochs, kurz nach dem ich meine Beiden aus dem Krankenhaus abgeholt hatte, beim Stillen zugegen. Nicht nur ich sondern auch Hendriks Schwester Anita sowie Oma und Opa. Letztere räumte dann am darauffolgenden Freitag dann wieder beruhigt und glücklich das Feld. Am Abend, nach dem Auszug meiner Eltern saßen Rosi und ich bei einer lockeren Plauderei zusammen. Wir machten uns über unsere seltsamen Verwandtschaftsverhältnisse lustig. Rosi war meine Schwägerin und somit sind ihre Kinder meine Neffen beziehungsweise Nichten. Somit bin ich der Onkel meines Sohnes und der Stiefvater meiner Nichte. Mein Bruder ist im Gegenzug ab dem Zeitpunkt, wo wir heiraten, auch der Onkel seiner Tochter. Und Anita ist die Schwester ihres Cousins. Plötzlich unterbrach Rosi unsere Flachserei: „Schatz, ist dir auch aufgefallen, dass wir zum ersten Mal seit dem wir zusammen sind ganz unverbindlich miteinander blödeln. ... Das geht doch eigentlich nur, wenn man auch zusammen glücklich ist.“ Ich stutzte jetzt auch über die neue Qualität unserer Verbindung und stellte fest: „Ich glaube das sind wir auch ... Und ehrlich gesagt, ich hätte nie geglaubt, dass wir dieses jemals sein könnten.“. An den Inhalt unserer ersten humorvollen Plaudereien kann ich mich nach einer so lange Zeit noch erinnern, da ich die damals „aufgedeckten“ paradoxen Verhältnisse später viele Male im engeren Kreis, wenn es gemütlich und fröhlich zuging, wiederholend angeführt habe. Dagegen weiß ich beim besten Willen nicht mehr worum es bei ersten Streit, den wir am nächsten Mittag hatten, ging. Ich glaube, dass es darum ging, dass ich eine kleine Feier zum 14.3., meinem Geburtstag, vorschlug obwohl ich im Januar eine solche zum 26.1., Rosis Geburtstag, strickt abgelehnt hatte und sie aus Gleichbehandlungsgründen auch jetzt meine Feier ablehnte. Wie geschrieben: Ich glaube dass es darum ging, weiß es aber nicht mehr. Jedenfalls war Besagtes damals mal ein Streitthema, aber ob das der erste war ...? Wichtig ist hier nur, dass es einen Streit gab und dabei Rosi selbstbewusst und klar Stellung bezogen hat. Und dieses war für mich eine neue Erfahrung. Sicherlich waren auch Anni und ich zeitweilig mal gegensätzlicher Meinung, aber Anni beließ es dann
immer bei Vorschlägen mit zugehörigen Bitten; Stellung hat sie selbst nie bezogen. Heute weiß ich jedoch, dass gerade Auseinandersetzungen ein wichtiger Bestandteil einer Partnerschaft sind. Streit kann nur entstehen, wenn man miteinander spricht und sich dabei auch was zu sagen hat. Mit Streitkultur verhindert man eventuell auch das der Partner auf eingefahrenen Gleisen in offene, bereitgestellte Messer fahren kann. Jetzt bin ich an einem Punkt, wo ich doch mal die beiden Frauen miteinander vergleichen möchte. Anni war ein Gedicht von Schönheit und Anmut, da konnte Rosi bei Weitem nicht mithalten. Dagegen besaß Rosi eine gehörige Portion Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen, was bei Anni nie richtig deutlich wurde. Anni besaß eine liebenswerte Naivität, dem bei Rosi eine Portion Realitätsbewusstsein gegenüber stand. Ich könnte zusammenfassen, dass Anni eine Fee aus dem Märchen und Rosi eine Frau aus der Wirklichkeit, aus dem realen Leben, war. Beide Frauen waren auf ihre Art sehr, sehr liebenswert. Dieses meine ich im ursprünglichen Sinne des Wortes: Beide waren der Liebe wert. Damals träumte ich öfters davon, wie schön es wäre wenn ich ein Bigamist hätte sein dürfen und beide Frauen zur gleichen Zeit an meiner Seite hätten sein können. In der Bibel heißt es, dass niemand zwei Herren dienen und lieben kann aber in diesem Fall ist das Wort Herren auch ohne Weiteres gegen das Wort Damen austauschbar. Und so kam es, dass so ab März/April 1971 meine Liebe, die zuvor ausschließlich Anni gehörte, nach und nach auf Rosi überging. Jetzt muss ich sagen: Ich habe Rosi geliebt. Mit Hendrik kam tatsächlich die Liebe – aber nicht wegen ihm sondern wegen seiner Mutter. Ich habe Rosi ihretwegen geliebt. Die Liebe zu Rosi veränderte auch meinen Stiel in Bezug auf Geschäft und Familie. Ich war immer, auch als Junggeselle und zu Annis Zeiten, sehr gerne zu Hause. Natürlich brachte ich auch immer geschäftliche Angelegenheiten im Kopf mit nach Hause. So einfach rupps abschneiden und radikal zwischen Dienst und Privatsphäre trennen kann man wohl nur mit einem einfach konstruierten Denkapparat, zumindestens ist das meine Überzeugung. Das ich aber geschäftliche Dinge gerne im privaten Umfeld erledigte war neu bei mir. Insbesondere alles was mit Kalkulation und Strategie zutun hatte verlegte ich auf einmal gerne in den privaten Bereich. Dabei spielte nicht die angenehmere Atmosphäre die maßgebliche Rolle sondern die Tatsache, dass ich in Rosi eine wackere Mitstreiterin hatte. Sie beteiligte sich und wirkte mit. Viele positive Anstöße kamen von ihr und nicht selten hat sie mich vor Schritten, die sich möglicherweise negativ ausgewirkt hätten, bewahrt. Das Rosi sich stets auf einem realen Boden hielt und Sentimentalitäten wenig Raum gab mag man ihr menschlich als kleines Negativum anlasten können aber dem Geschäftserfolg diente es ungemein. Den großen Nutzen ihrer Sprachkenntnisse hatte ich ja bereits erwähnt. Bei gesellschaftlichen Anlässen, zu denen ich eingeladen wurde oder geladen war, stand zu Annis Zeiten immer meine Frau aufgrund des Glanzes, der von ihrem Äußeren und ihrem Wesen ausging, im Mittelpunkt. Da kam Rosi nun beim besten Willen nicht ran. Sie war lediglich des Öfteren das Ziel eindeutiger Anmache, insbesondere zu fortgeschrittener Zeit wenn vorher auch Alkohol im Spiel war. Sicher kokettierte sie damit aber überschritt dabei nie bestimmte Grenzen. Sie hatte aber eine Eigenart, der ich damals einen enormen Stellenwert einräumte: Wenn man Geschäftsfreunde einlädt oder zu geschäftlichen Empfängen geht, hat man dabei natürlich zielorientierte Hintergedanken. Rosi erkundigte sich vorher nach meinen Zielvorgaben und konzentrierte sich erfolgreich bei solchen Anlässen darauf, mich bei der Durchsetzung meiner Vorstellungen zu unterstützen oder diese sogar eigenständig durchzusetzen. Sie verstand es vorzüglich Schlappen und Schwächen anderer mit blitzschneller Kombinationsgabe für sich zu nutzen, worauf ja auch mein 70-er Dilemma zurückzuführen war. Kurz: Rosi war die geborene Geschäftsfrau. Heute muss ich sagen, dass ich zwar von Hause her geschäftliches Talent mitgebracht habe aber meine Anfangserfolge situations- und trotzbedingt waren. Dabei wäre es dann ohne Rosi wahrscheinlich auch geblieben. Ich wäre sicherlich immer der kleine Busunternehmen im Schatten des Vaters und Bruders geblieben. So gesehen hat Rosi das aus mir gemacht was ich später war. Bewerten lässt sich dieses jedoch nur, wenn man die ganze Geschichte kennt. Aber auch dann muss man einsehen, dass auch das Spätere nur sein konnte und kann, weil Rosi das aus mir machte, was ich war und aus heutiger Sicht – Gott sei dank – hoffentlich nicht mehr bin. Es ist wohl doch was an dem Spruch dran, dass hinter jedem großen Mann eine starke Frau steht. Mit dem Erwachen der Liebe zu Rosi war auch meine Karriere geboren. Was ich in diesem Zusammenhang noch für erwähnenswert halte, ist dass sich Rosi nur ungern und selten in den Bereichen Hausfrau und Mutter vertreten ließ. Wir griffen zwar ab und zu mal auf Babysitterinnen zurück aber Kindermädchen kamen für Rosi nicht in Frage. Was im Hause zu erledigen war besorgte sie selbst oder bewegte mich dieses zu erledigen. Auch ein Hausmädchen war also für sie ausgeschlossen. Nur wenn wir Partys oder Empfänge gaben wurden kurzfristig Aushilfen angeheuert. Dahinter stand bei ihr nicht etwa der konservative 3-K-Tick (Küche, Kinder, Kirche) sondern ihre Vorstellung, Dritten möglichst wenig Zugang zur Privatsphäre und Einblick in diese zu gestatten. Diese galt nicht nur gegenüber Fremden sondern auch gegenüber der Familie. So hatten dann auch meine Eltern mit ihrer Schwangerschaftsvertretung bei uns ausgedient; es folgten nur regelmäßige gegenseitige Besuche in herzlicher und netter Atmosphäre. Da dabei immer die Kinder im Vordergrund standen und Vater seine Geschäftsbesuche auf zirka 2 Stunden alle 2 Wochen beschränkte, hatte ich mich in ganzer Linie auch ihm gegenüber, dank Rosis Art, freigeschwommen.
Mit Jürgen hatten wir null Kontakt. Als es Ende 1971 so gut wie keine Gemeinsamkeiten zwischen der Spedition und der Heuer Bustouristik mehr gab bedurften wir nicht mal mehr Paps Person für indirekte Verhandlungen oder Absprachen. Was mit Jürgen zu regeln war konnte, wie mit x-beliebigen fremden Unternehmen, über Dritte, Angestellte oder Rechtsanwälte, erledigt werden. Lediglich Uns Mam war bekannt, dass sich Jürgen regelmäßig nach dem Wohlergehen und dem Geschick seiner Tochter Anita erkundigte. So verschwand er auch immer mehr aus Rosis Denken, während bei mir Anni immer mehr vom alltäglichen Bewusstsein in das Reich der Erinnerung verschwand. Unsere Vorehen haben also Rosi und mich später nicht mehr belastet. Bevor ich dieses Kapitel schließe möchte ich aber noch auf eine kleine Gegensätzlichkeit hinweisen: Im vorherigen Kapitel erlebten wir Rosi hundertprozentig anders wie sie sich dann in Wirklichkeit entpuppte. Ja, sie war auch eine große Schauspielerin. Auch anfangs war ihr Selbstbewusstsein, ihre Zielstrebigkeit und ihr Durchsetzungsvermögen mit im Spiel. Sie hatte ein Ziel, welches mit unserem Vertrag zusammenhing, und setzte alles dran dieses durchzusetzen. Nur die Liebe war noch nicht mit im Boot, die kam erst mit Hendrik. Diese Liebe einte uns und wir zogen nun an einen Strick. Es stimmt wirklich, dass die Liebe die Welt verändern kann. Heutzutage würde ich noch draufsetzen, dass Hass im Gegensatz dazu nur verzerrt und zerstört. Zum Kapitel 8
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Lass uns jetzt gemeinsam gehen Das Jahr 1972 war von uns nach den beiden vorrangegangenen „Katastrophenjahren“ als eins, dass man als normal bezeichnen könnte, angedacht. Detailliert gesagt wollten wir, nach dem wir 70/71 alle Familienfeiern haben ausfallen lassen, jetzt jeden Geburtstag angenehm feiern. Bis auf einen fallen alle monatsweise in das erste Halbjahr. Zuerst Rosi im Januar, im Februar ist Hendrik dran, im März ich selbst, Uns Mam steht im April auf dem Kalender – und wenn wir mit ihm ins Reine kämen wäre Jürgen auch im April mit von der Partie – und Paps ist ein Kind des Maien. Nur die kleine Anita muss sich noch bis September gedulden. Rosi sollte also am 26. Januar anlässlich ihres 27. Geburtstages die Feierserie eröffnen. Wir hatten schon alle Vorbereitungen getroffen, da kam es mal wieder anders wie gewünscht. Am Nachmittag des 25. Januars rief mich Rosi im Büro an und teilte mir mit, dass Paps nach einem Hustenanfall, bei dem er Blut gespuckt habe, keine Luft mehr bekommen habe und mit dem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht worden sei. Sie wolle jetzt hinfahren und mal schauen was los ist. Ihr Anruf hatte jetzt in erster Linie den Grund, dass sie mich fragte, ob sie mir ausnahmsweise die Kinder mal ins Büro bringen dürfe. Ganz recht war es mir allerdings nicht, denn ich erwartete einen leitenden Mitarbeiter unserer Hausbank mit dem ich die Finanzierung unserer ersten Großstadtniederlassung in Düsseldorf durchsprechen wollte. Aber was soll’s, ich sprach meine Sekretärin Frau Schmidt, selbst Mutter von zwei Kindern, an ob ich sie zur Abwechselung mal berufsfremd einsetzen dürfe, was sie dann allerdings sogar gerne machte. Zu diesem, eben beschriebenen Zweck musste ich in der Folgezeit Frau Schmidt mehrmals in Anspruch nehmen. Mein Vater hatte Kehlkopfkrebs und wurde operiert aber es wollte danach nicht besser werden. Da fiel er für die Pflege von Uns Mam, die nach einem Schlaganfall im September auch nur noch im Rollstuhl saß, aus. Da blieb nichts anderes als das Rosi bei ihr für Paps einsprang. Uns Jungens, also Jürgen oder mich, hätte sie ohnehin nicht an sich herangelassen und fremde Pflege, zum Beispiel durch die Caritas oder so, verweigerte sie strickt. Rosi übernahm die Sache auch wie selbstverständlich – sie war eine verdammt „starke“ Frau – und suchte sie vier Mal täglich zur Pflege auf. Beim zweiten und dritten Besuch nahm sie auch die Kinder mit. Auf der einen Seite freute sich darüber die Oma und auf der anderen Seite die Kinder. Nur bei der ersten und letzten Visite, wo dann auch gründliche Hygiene anstand, war es, abgesehen von Uns Mam Mimossiteten, dann doch nicht angebracht. In der Regel war dann ich, der Vater, der zuständige Nachwuchsbetreuer. Aber nicht immer lassen sich geschäftliche Termine so steuern, dass das auch wie gedacht klappt. So musste dann Frau Schmidt, die schon beim ersten Mal einen tollen Draht zu Anita und Hendrik aufgebaut hatte, ran. Solche Probleme, wie ich sie so eben beschrieb sind sicherlich bedeutende Hintergründe für unsere heutige Kinderfeindlichkeit. Vom Wirtschaftlichen her hätten wir Heuers uns ohne Weiteres ein Kindermädchen leisten können aber das wollten wir beiden Elternteile nicht. Aber inwieweit hat die breite Masse eine solche Entscheidungsfreiheit. Kann sich das ein normaler Arbeitnehmer leisten? Natürlich, da erzählt man einem was von der steuerlichen Absetzbarkeit der Kinderbetreuungskosten. Aber Absetzen heißt nicht wiederkriegen, jedoch bezahlen muss man das Mädchen sofort, denn die kann ja auch nicht von Luft und Liebe leben. Letztlich muss man, wenn man was von den Steuern absetzen will, auch erst mal ein solches Einkommen haben, dass man diese Steuern bezahlen müsste. So sind Kinder bei Frauen, denn die hält man ja auch heute noch, selbst in progressiven Kreisen, zuständig für die Kinderziehung, der Grund für einen Karriereknick. Da es in Folge solcher Geschichten zu Wenig entsprechend qualifizierte Frauen mit ununterbrochener Berufserfahrung gibt, erwecken diverse Quotenregelung eher den Eindruck, dass da die Poweremanzen in höheren Politkreisen mal wieder was ausgeheckt haben obwohl sie gar nicht wissen was überhaupt los ist. Na ja, staatliche Abhilfe wie Krippen, Hort, ambulante Kinderbetreuung und so weiter kosten viele Steuertaler und so eine Quotenregelung kann man mal eben Zuckzuck in die Welt setzen. Und dabei werden dann so ganz nebenbei nicht selten die Gleichbehandlungsrechte des Mannes verletzt. Umkehrung ist halt keine Gleichberechtigung. Anfänglich dachten wir ja, es würde nicht so lange bei Paps dauern – der hatte immerhin schon andere Dinge überstanden. Aber es sah gar nicht so aus wie wir uns das gewünscht hätten. Immer wenn es so aussah als würde es bergauf gehen baute er immer sehr schnell wieder ab. In den nächsten drei Monaten kam er noch insgesamt drei Mal unters Messer. Rosi fiel jetzt auch die Betreuung unserer Mutter deutlich schwerer, denn schließlich macht sich ja die Arbeit in unserem nicht gerade kleinen Haus auch nicht von selbst. Die Kinder waren zu klein um zu verstehen, dass sie ihre Mama mal vor Arbeit bewahren könnten und die Unterstützung der Arbeit ihres Mannes, also meiner, ließ sich Rosi trotz allem nicht nehmen. Mit Jürgen hatte ich ab Mitte März bis Ende April insgesamt drei Mal schriftlichen Kontakt. Auch er bedauerte „dass Roswitha sich kaputt mache“ und glaubte auch, dass es an der Zeit wäre was zu unternehmen. Selbstverständlich wollte er, wenn wir was einleiten würden, sich hälftig an der Sache beteiligen. Aber Uns Mam lehnte dieses immer wieder ab und Rosi behauptete es sei nicht nötig. Zur großen Freude aller besserte sich Anfang Mai Paps Zustand zusehendst und die Ärzte glaubten schon einen Entlassungstermin näher rücken zu sehen. Dann kam jener 10. Mai 1972, ein Tag darauf war der Vatertag jenes Jahres angesagt, als Rosi des Morgens Uns Mam friedlich schlafend im Bett vorfand. Sie schlief so fest, dass niemand sie mehr wecken konnte. Mit „schlafend“ habe ich jetzt den Eindruck, den Rosi zunächst hatte, beschrieben – unsere Mutter war in der Nacht verstorben. An diesem Morgen sprach ich erstmals seit fast zwei Jahren wieder mit meinem
älteren Bruder Jürgen; allerdings nur am Telefon. Ich rief ihn an und übermittelte ihm die Nachricht vom Tode unserer Mutter. Er war bereit die Formalitäten zu erledigen und mein Part sollte es sein die Hiobsbotschaft unserem Vater zu übermitteln. Wichtige Angelegenheit hin und wichtige Angelegenheit her, ich machte mich gleich auf den Weg ins Krankenhaus. Zunächst bekam ich einen Schrecken, denn Vater hatte, als ob er wüsste was geschehen war, über Nacht enorm abgebaut. Ich staunte dann über die transspiritative Bindung zwischen zwei Menschen, die so wie unsere Eltern miteinander verbunden waren. Vater sprach mich an und dabei fiel ihm das Sprechen wirklich sehr schwer: „Hallo Walter, mein Kleiner, du bist gekommen um mir zu sagen, dass Uns Mam ... wie ihr Jungen immer so lieb sagt, gestorben ist. Ach, tröstet euch, die hat ausgelitten und der geht es jetzt besser.“. Ich wusste in dem Moment nicht, ob er das jetzt religiös meinte und fuhr erst mal dazwischen: „Ach Paps, aber du kommst doch wieder auf die Beine und bleibst uns doch noch ein Weilchen erhalten.“. Mit schwerer Stimme fuhr er unbeirrt fort: „Ach Junge, lass uns jetzt gemeinsam gehen. Sagte nicht der Herr am Kreuz zu dem Mitgekreuzigten: ‚Wahrlich, wahrlich, heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein’. Ich möchte auch dort bei der Frau sein, die mein Leben war.“. Jetzt wusste ich, dass er es religiös gemeint hatte und fragte ob er einen Priester wünsche, aber den hatte er schon selbst bestellt. Da kann man nichts machen, der letzte Funken Lebenswille war in meinem Vater erloschen. Am Wochenende war er nicht mehr ansprechbar. Wir hatten jedoch ein schwerwiegendes Problem zu lösen: Gegenüber Rosi, Jürgen, mir und dem Priester hatte er im Beisein von Ärzten beziehungsweise Pflegepersonal den Wunsch geäußert wir sollen mit der Beisetzung unserer Mutter warten bis er soweit wäre. Er wollte unbedingt mit ihr gemeinsam gehen. Aber in Sachen Menschlichkeit sind Behörden wohl schlechte Ansprechpartner. Na ja, wir können es dem massiven Einsatz von Vikar Rösner und des Chefarztes Dr. Tracht danken, dass letztendlich erreicht wurde, das die Beisetzung unserer Mutter so terminisiert wurde, dass unsere Eltern, wenn Vater bis Freitag 19.5. stürbe am Dienstag nach Pfingsten, also am 23.5.72 erfolgen könnte. Paps „schaffte“ es; am Mittwoch dem 17., also genau eine Woche nach Uns Mam, verschied er im Städtischen Krankenhaus Waldheim. Am Pfingstdienstag fand dann die Trauerfeier für unsere Eltern in der Kapelle des Waldfriedhofes in Romansweiler statt. Dieses sollte der erste Tag an dem Rosi und ich wieder mit Jürgen zusammentreffen würden sein. Es wäre die Gelegenheit gewesen auf ihn zuzugehen und ihm zusagen: „Jürgen entschuldige uns. Lass uns jetzt noch einmal neu beginnen und ab jetzt gemeinsam gehen“. Ich habe hieran wohl gedacht, aber es mir nicht ernsthaft vorgenommen. An dieser Stelle kann ich schon mal verraten, dass wir tatsächlich später mit Jürgen wieder zusammen kamen. Aber nicht an diesem Tag sondern viel, viel später. An diesem Trauertag war unsere Zusammenkunft fast gespenstisch. Jürgen war mit einer Dame erschienen, die ich bisher nicht kannte und auch später nicht weiter kennen lernte. Seine damalige Partnerin war insgesamt ein Jahr mit Jürgen zusammen und dann heirate sie einen Politiker. Zusammen gewohnt haben beide nie. Auffällig an ihr war, dass sie uns so betrachtete als hätten wir ihr etwas getan. Im Anschluss beschwerte sie sich auch noch bei Rosi, dass wir die Kinder, die die Trauerfeier gestört hätten, mitgebracht hätten. Mit den Worten „Es sind doch die Enkel“ schritt Jürgen allerdings ein und nahm sie beiseite. Als Jürgen in die Trauerhalle kam waren wir schon da und er gab Rosi und mir wortlos die Hand. Bei dieser Zeremonie mied ich es meinen Bruder in die Augen zu schauen. Und so wirkte diese Sache wie sie gedacht war: Alles für die Augen Dritter ohne wahrhaftige Teilnahme. Etwas anders verhielt sich Jürgen gegenüber den Kindern. Zunächst reichte er freundlich lächelnd dem kleinen Hendrik, der sich auf Rosis Arm befand, die Hand, in die Hendrik die seinige mit einem Lachen legte. Als Jürgen die Hand unsere Sohnes wieder losgelassen hatte, strich er ihm freundlich mit Zeigeund Mittelfinger über die Wange. Jetzt wendete er sich „seiner“ Tochter Anita zu. Während er auch ihr die Hand gab, sagte er: „Guten Tag, Anitachen“. Jetzt weiß ich nicht wie das Kind darauf kam mit den Worten „Guten Tag, Papa Jürgen“ zu antworten aber sie tat es kleinkindlich höflich. Rosi hatte sie auch nicht entsprechend instruiert und wir nahmen an, dass dieses auf Uns Mam, die sich mit unseren verworrenen Familienverhältnissen nie so recht abfinden wollte, zurückzuführen sei. Wir einigten uns allerdings darauf es gegenüber Anita dabei zu belassen, dass ich der Papa und mein Bruder Papa Jürgen sei. Ein Mädchen mit zwei Vätern. Jürgen verdächtigte jedoch, und das war uns nicht mal unrecht, Rosi dieser Vorgabe und schaute sie nach Anitas Worten freundlich lächelnd, als wolle er Danke sagen, an. Dann strich er Anita noch irgendwie glücklich durch die Haare. Danach nahm er mit seiner Partnerin auf der rechten Seite der ersten Reihe der Trauerhallenbestuhlung platz. Wir setzen uns nach links. Neben mir, ganz Linksaußen setzen wir Anita und rechts neben Rosi wurde Hendrik gesetzt, der aber dann später mehr auf dem Schoss seiner Mutter saß. Zwischen Hendrik und Jürgen blieb ein Platz frei. Nachträglich überlegte ich, dass es wohl besser gewesen wäre Knigge, der die Damen bei solchen Gelegenheiten rechts sitzen sehen möchte, zu vergessen und dass ich mich mit Anita auf die rechte Seite gesetzt hätte. Dann wäre die Kleine auf jeden Fall zwischen ihren beiden Papas gewesen. Hier sieht man wie Etikette im Grunde oft zur Lächerlichkeit führt. Nur aus dem Etikettengrund haben wir ja dieses Theater aufgeführt. Es war wohl niemand bei der Trauerfeier, der nicht wusste, dass die Dame an meiner Seite die geschiedene Frau meines Bruders war und dass das scheinbar zu uns gehörende Mädchen seine Tochter war. Warum dann noch dieses verlogene Spiel? Auch wenn heute Knigge nicht mehr in ist, gibt man sich immer noch bei offiziellen Anlässen so steif und verlogen. Und das Ganze soll dann fein und vornehm sein.
Nach der Beisetzung begaben wir uns mit den Anverwandten, die ich zum Teil nicht einmal kannte, zum BeerdigungsKaffee-Trinken in das Romansweiler Dorfgasthaus. Auf dem Wege dorthin gab es dann den Zwischenfall zwischen Rosi und Jürgens Partnerin, den ich bereits beschrieben habe. Im Saal des Gasthauses strebten sowohl Jürgen mit Partnerin und wie wir im Raum entgegengesetzte Plätze an, als wäre dieses vorher verabredet worden. Mein Bruder unterhielt sich mit der Seinigen und ich mit Rosi; mit allen anderen wurden im Grunde nur belanglose Floskeln ausgetauscht. Offenbar alles nur aus dem Zwang, dass man mal mit einander sprechen müsse. Während des Kaffeetrinkens war der Raum erfüllt vom Gemurmel und Getuschel. Bei den Wortfetzen die ich aufschnappte ging es meist um das Thema Erben. Zum Glück war dieses kein Thema unter uns Brüdern. Unser Vater hatte, wohl um zusätzlichen Bruderzwist zu vermeiden, mit uns Erbverträge, unter Beachtung der Auflagen des bürgerlichen Rechts, geschlossen. Im Großen und Ganzen war alles klar: Jürgen war jetzt „vollwertiger“ Spediteur und ich Busunternehmer. Jeder hatte sein Haus und der Erlös aus der Eigentumswohnung und elterliches Restvermögen sollte nach dem Tode unserer Mutter, der nun mit Paps eigenen zusammenfiel, an die anverwandten Leute, die keine Ruhe geben wenn sie nichts abbekommen, gehen. Paps weises Vorgehen kann ich nur wärmstens zur Nachahmung empfehlen, denn üblicher Weise heißt Erben immer Ausbruch eines erbitterten Familienkrieges. Unter Hinweis auf die Kinder verabschiedeten wir uns als erste aus der Runde. Diesmal zelebrierten wir gegenüber Jürgen die wortlose Abschiedszeremonie. Die Chance zur Einleitung des Familienfriedens war also vertan und wir gingen so nun auch auf getrennten Wegen weiter durchs Leben. In den eigenen vier Wänden angekommen gestand mir Rosi: „Du Schatz, heute ist ein ganz schwerer Tag für mich. Da ist der Abschied von Mutti und Vati, die ich ... glaube ich jedenfalls, sogar mehr wie meine eigenen Eltern gemocht und geliebt habe. Dann das Zusammentreffen mit Jürgen. Mann, wir haben uns doch mal geliebt ... richtig geliebt. Das ist doch ein Stück meines Lebens was ich nicht so einfach herausreißen kann. ... Aber keine Angst, jetzt liebe ich dich und keinen anderen.“. Und nach einer kurzen Pause fügte sie noch schwermütig an: „Aber schwer ist es doch.“. Erschreckend schnell hatte uns der vom Geschäft dominierte Alltag wieder. Schon am Folgetag war es für mich als wäre nichts geschehen. Für mich war der einzigste Unterschied, dass ich jetzt nicht mehr der geschäftsführende Junior sondern der Alleingesellschafter und Geschäftsführer war. Da musste einiges juristisch Formales erledigt werden womit ich, als erste Amtshandlung, Dr. Koch unseren Anwalt beauftragte. Bei der Gelegenheit wurde dann aus der Busreisen Ernst Heuer GmbH dann die Bustouristik Heuer GmbH. Dieses stand ohnehin schon auf unseren eigenen Bussen, sowie auf den von Subunternehmen, die fast ausschließlich für uns fuhren. Auch die Leuchtreklamen unserer Niederlassung und unser Werbematerial lief schon längst unter dem Bustouristik-Titel. Nur beim Amtsgericht und beim Finanzamt waren wir noch bis August 72 unter dem Namen Busreisen Ernst Heuer GmbH amtlich. Rosi engagierte sich jetzt zunehmendst im Geschäft. Ich glaube das zwischendurch immer mal Rosis Anteil an Konzepten und Strategien höher als der Meinige war. Mehr und mehr sprudelten Ideen aus hier heraus, an deren Umsetzung sie sich aktiv beteiligte. Dank ihres Einsatzes hatte ich viel Spielraum für Organisation und insbesondere Rationalisierung. Obwohl wir an mittlerweile neun Stützpunkten, über das gesamte Bundesgebiet verstreut, vertreten waren hatten wir immer noch nur regionale und keine bundesweite Bedeutung. Da konnte ich mich noch mächtig durch Vertretung durch Reisebüros Dritter und Eröffnung von eigenen beziehungsweise Übernahme von Reisebüros an neuen Orten ausweiten. Ich machte mir damals einen guten Namen als Investor und dass, wo ich zu jener Zeit immer noch alles solide finanzierte. Später war ich nicht mehr so zimperlich, da erhielten dann Kalkulation einen stärkeren spekulativen Charakter. Damals bot mir meine Gesellschaft mit beschränkter Haftung dafür noch nicht die Voraussetzung; das geht wesentlich besser bei Aktiengesellschaften. Im Jahre 1972 war allerhand los. Es war das Jahr des gescheiterten Misstrauensantrag gegen Willy Brand, dem ein sehr engagierter Wahlkampf folgte. Kein anderer Kanzler vor und nach ihm hat es so aufgrund seiner Person geschafft das Wahlvolk derartig zu polarisieren. Für die einen war er der Deserteur Herbert Fram mit dem Künstlernamen Willy Brand, wie es das berühmte Ekel Alfred in Wolfgang Menges Fernsehserie „Ein Herz und eine Seele“ ausdrückte, und für die anderen war er der Zeus der deutschen Nachkriegspolitik. Letztere waren offensichtlich die Mehrheit, denn am 19. November holte die SPD bei einer sehr hohen Wahlbeteiligung das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Ich betonte eben die sehr hohe Wahlbeteiligung weil ich dieses hinsichtlich der Wertung der Zustimmung für sehr wichtig halte. Man überlege mal, das eine Partei die bei 60% Wahlbeteiligung 51% der Stimmen erhält auf eine erwiesene Zustimmung von nur 30,6% der Wähler verweisen kann. Derjenige der bei 95% Wahlbeteiligung „nur“ 45% der Stimmen erhält bringt es aber auf 42,75% echter Wählerzustimmung. Außerdem hatte eine bis damals unbekannte Dame namens Alice Schwarzer für allerhand Wirbel gesorgt. Frauen, darunter auch sehr prominente, bekannten sich öffentlich dazu, sich am Abtreibungstourismus in die Niederlande beteiligt zu haben. Was ich damals jedoch in Hinsicht auf die Würde des menschlichen Lebens bedauerlich fand, war das da Emanzen mit der Devise „Mein Bauch gehört mir“ ins Land zogen und dass es Frauen gab, die schon drei Mal oder mehr abgetrieben hatten, als sei so etwas ein ganz normales Verhütungsmittel für das man nur ein Wenig mehr bezahlen musste. In diesem Jahr gab es Demos und Wahlveranstaltungen am laufenden Band, woran auch die Leute aus der Provinz teilnehmen wollten. In Folge dieser Sache gab es auch einen Riesenbedarf an Bussen im echten
Gelegenheitsverkehr. Das war zwar bis dato nicht unser Geschäftsbereich, der lag wirklich mehr beim Tourismus in allen Formen, das heißt Urlaubs-, Bildungs- und Rundreisen sowie ab und an Zubringerdienste zu Schiffen und Flugzeugen. Aber welcher echte Geschäftsmann lässt schon gerne etwas am Wegrand liegen; entweder verhindert er das andere es mitnehmen oder er nimmt es selbst mit. Ich wollte an dieses Gebiet, dass kostenträchtiger und aufwendiger als reiner Urlauberverkehr ist, auch nicht so recht ran. Aber Rosi. Was die alles organisierte um möglichst viele Demo- und Wahlkampffahrten mitzubekommen. Daraus entwickelte sich dann der Zweig „Vermittlung von Bussen für alle Gelegenheiten“, der zwar bei uns nie eine hervorragende Bedeutung erhielt aber der doch recht nett zum Betriebsergebnis beitrug – Kleinvieh mach halt tatsächlich auch Mist. Trotz allem Managementeinsatzes waren unsere Wochenenden ausschließlich einem bürgerlichen Familienleben reserviert. Wir vier Heuers waren dabei auch recht glücklich. Die meisten dieser Wochenenden verbrachten wir in unserem kleinem Reich am Romansweiler Waldrand. Einmal Anfang Juli und einmal Ende August zog es uns jedoch hinaus „in die Welt“. Im Juli begaben wir uns in ein kleines Fischerdörfchen in Ostfriesland, wo wir uns ein Bungalow angemietet hatten, und im August ging es nach Zandvort an der holländischen Küste, wo wir uns im Hotel Bouwes einmieteten. Als wir uns im Hotel anmeldeten spürten wir innerlich wieder die Merkwürdigkeiten unserer seltsamen Familienverhältnisse. Gut gelaunt äußerte sich Rosi, als wir auf unserem Zimmer ankamen: „Ja, ja, Mausi, da ist mal wieder deine Schwägerin glatt als deine Frau durchgerutscht und der Knabe von der Rezeption ist bestimmt davon überzeugt, dass deine Nichte deine Tochter ist. Wenn das Finanzamt uns das auch so abnimmt, können wir glatt nach Splittingtabelle unter Berücksichtigung von zwei Kinderfreibeträgen abrechnen.“. „Du hast recht,“, erwiderte ich ebenfalls gut gestimmt, „aber wir könnten aber auch dafür Sorge tragen, dass uns der Fiskus das wirklich zugestehen muss. Nur bei den zwei Kinderfreibeträgen müssen wir ein halbes Kind an deinen Exmann abtreten. Wir brauchen nur gemeinsam gehen ... und zwar zum Standesamt.“. „An mir soll es nicht liegen.“, tönte Rosi weiterhin fröhlich, „Was ist jedoch mit dem Vertrag, den wir mit deinem Vater geschlossen haben? Stehe ich nicht mehr in dem Verdacht eine Erbschleicherin zu sein?“. Da wurde ich etwas ernster und fragte sie wie sie das mit der Erbschleicherin gemeint hätte. Sie war jetzt auch ernster und erklärte mir: „Glaube man ja nicht, dass dein Vater dich im Vertrag treffen wollte. Der wollte seine Söhne schützen. Jürgen vor den Forderungen seiner untreuen Ehefrau und dich vor deiner erbschleichenden Schwägerin. Jürgen ist jetzt so oder so raus. Nur du kannst jetzt noch mein Opfer sein. Wenn wir nicht oder noch nicht heiraten bist du im Falle eines Falles mit und ohne Vertrag auch aus dem Schneider, denn Unterhaltspflicht für Geliebte, auch wenn es die Exschwägerin ist, gibt es noch nicht. Wenn du mich also in die Wüste schickst, sehe ich kaum eine Chance von dir die Fahrkarte zur nächsten Oase zu bekommen.“. Langsam wieder munterer sprechend antwortete ich ihr: „Ja, mein Paps war ein cleverer Geschäftsmann und da gehören solche Denkweisen eben wie selbstverständlich dazu. Aber ich bin jetzt mutig.“. Nachdem ich mich vor ihr hin gekniet hatte fuhr ich fort: „Gnädige Roswitha, liebste Rosi, willst du meine Frau werden? Frau Heuer wollen sie Frau Heuer werden?“. Wir lachten beide herzlichst und sie sagte: „Ja, ja, ja, heißgeliebter Schwager. Allzu gern werde ich Frau Roswitha Heuer geschiedene Heuer geborene Schrimpf ... Hört sich irgendwie fantastisch an.“. Und nochmals mussten wir kräftig lachen. Was zunächst wie ein Scherz von Wochenendurlaubern aussah wurde dann doch ernst. Am 3. Oktober 1972, der damals noch kein Feiertag war – das ist erst seit 1991 der Fall, heirateten wir beim Standesamt des Amtes Romansweiler in Waldheim. Allerdings gab es an jenem Dienstag keine Riesenshow so wie damals bei unseren ersten Vermählungen. Wir gingen in normaler „Abendgarderobe“, also nicht in Weiß und so, zu einem rein formalen Akt, ins Standesamt und begingen den restlichen Tag im Stiele einer kleinen Geburtstagsfeier; nur mit unseren Kindern und unseren Trauzeugen einem befreundeten Ehepaar aus der Nachbarschaft. Der nächste Tag war dann wieder ein Tag wie alle anderen auch. Trotzdem, ich war darüber glücklich und es erfüllte mich auch die erste Zeit immer mit Stolz, wenn ich Rosi mit „Meine Frau“ wahrheitsgemäß vorstellen konnte. Jürgen hat auf diese Eheschließung, die wir ihm hinsichtlich der Unterhaltsleistungen für Anita und eventuelle amtliche Auskünfte formell mitteilten, in keiner Weise reagiert. Aber warum auch? Im Gegensatz zum ersten missglückten Versuch hatten wir einen Ehevertrag ausgehandelt. Das „wir“ ist in diesem Falle vollkommen richtig angewendet. Wir haben uns zusammengesetzt und alles Punkt für Punkt gemeinsam besprochen und ausgehandelt. Man kann sagen, dass der Vertrag fair und vernünftig war. Im Falle eines Scheiterns der Ehe wären Rosi und die Kinder besser gestellt gewesen als mit gesetzlichen Ansprüchen. Im Falle einer Erbschaft, was wir auch in diesem Vertrag regelten, wären die Jungen Dietmar und Hendrik die Haupterben gewesen aber Rosi und Anita, die ja mal Jürgens Erbin sein würde, hätten auch was abbekommen womit sie ganz zufrieden sein konnten. Falls bei meinem Tod die Ehe nicht mehr bestehen sollte, wäre das Erbe für Rosi so eine Art Unterhaltsabfindung und ansonsten Altenteil gewesen. Wir hatten, wie man beim Lesen bemerkt, an alles gedacht, nur nicht an das, wie es später wirklich kam. Später war wirklich alles nicht einmal das Papier wert auf dem es geschrieben stand. Das hat man also von der vielgepriesenen deutschen Gründlichkeit und Akribie. Was Ehe und Familie anbelangte folgte jetzt eine einerseits glückliche und andererseits normale gutbürgerliche Ehe. Rosi war gleichzeitig eine erstklassige Geschäfts- und Hausfrau, für die Kinder war sie eine Mutter wie man sich diese nur wünschen kann. Rosi und ich waren in der kompletten Zeit, wo ich nicht geschäftlich eingespannt war, immer
zusammen. Wir sprachen sehr viel miteinander, was ja, wie gehört habe, ein Erfolgsrezept für Ehen sein soll. Dadurch, dass wir ständig beieinander waren hatten wir so gut wie keine Chance zur Untreue. Natürlich stritten wir uns auch mal, was aber meines Erachtens dazu gehört, denn Gewitter bereinigen die Luft. So blieb es bei uns bis zuletzt, so dass ich jetzt im weiteren Verlauf dieses Buches nichts mehr zu unserem Verhältnis schreiben muss. Dieses ist bis zum bereits erwähnten Schluss immer der Hintergrund. Zum Kapitel 9
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Flamenco und Tarragona für Don Jürgen Der Hochzeit von Rosi und mir folgten die bürgerlichen Jahre meines Lebens. Ich war noch nicht der große Wirtschaftslenker und ich war nicht mehr der wilde Junge, ich war Geschäftsmann und gutsituierter Familienvater. In dieser Zeit wurde ich mit Rosi bei gesellschaftlichen Anlässen immer präsenter. Dem Rat meines Vaters folgend stellte ich mich öffentlich als politisches Neutrum da. Ich war allen wohlgesonnen, nahm gegenüber keiner Seite eine Kontrastellung ein aber ich habe auch niemandes Fahne getragen. Schließlich sollten alle Seiten, gleichgültig ob Rot, Schwarz oder Gelb – Grün war damals noch nicht von Bedeutung, zumindestens in Wirtschaftskreisen nicht -, alles was es an Aufträgen im Bereich Tourismus gibt an die Heuer Bustouristik vergeben. Na ja, da ist es ganz gut wenn man schon nicht „einer von uns“ ist, dann doch als jemand der mit denen sympathisiert gilt. So bekamen auch alle Spenden von mir. Natürlich nichts Bedeutendes, denn das Geld ist in meiner Firma oder in meiner Familie besser aufgehoben als auf Waschmittel- oder Margarinewerbung ähnlichen Plakaten, auf denen überall Strahlemännchen zusehen sind, an umweltverschandelnd aufgestellten Plakattafeln. Also viel mehr als steuerlich abzugzugsfähig – alles Mögliche kann man absetzen, Parteispenden kann man aber abziehen – durfte es nicht sein. Wenn ich das Geld dem Finanzamt gebe versickert es irgendwo im Haushalt, gebe ich es den Parteien verbreiten die innerhalb ihrer Mitgliedschaft in Mundpropaganda, dass man bei uns, ihrem Sympathisanten, buchen solle. Es kommt so in jedem Falle wieder rein und bei den Fiskalrittern ist es futsch. Der Nachteil, dass ich so keine Stellung beziehen konnte, ließ mich damals ziemlich kalt, denn im Großen und Ganzen lag die sich nach Osten öffnende Politik der sozialliberalen Koalition ganz in meinem Sinne, da die touristische Erschließung des Ostblocks einiges auf der Gewinnseite versprach. Andererseits waren die wirtschaftsliberalen Ansichten der Konservativen auch als ganz sympathisch für meinen „Vermögenshaushalt“ zu erachten. Die Beteiligung an Politikschmierdiensten, wie damals in den Staatsbürgerlichen Vereinigung, waren für mich damals noch nicht interessant, denn dafür war ich zu jener Zeit ein noch viel zu kleiner Mittelständler. Natürlich trat ich auch als „edler“ Spender in den Bereichen Sport, Kultur, Kirche und auf karitativen Gebiet auf. Schließlich sind große Erwähnungen in der Presse und die Belobigungen im Volksmund sowie an den Stammtischen wesentlich effizienter als teuere, von Werbeagenturen entwickelte und geschaltete Anzeigenserien. Diese Spenden setzten immer nur ein kleines Rechenexempel voraus. Dieses galt weniger für die steuerliche Behandlung, denn das Absetzen von Spenden oder von Betriebsausgaben führt fast zum gleichen Ergebnis. Aber das Geld war sicher besser auf meinem Konto als auf dem irgendwelcher Organisationen aufgehoben und daher musste ich die Spenden immer so kalkulieren, dass sie so hoch waren, dass ich anschließend auch groß erwähnt würde – zumindestens eventuelle Mitbewerber musste ich ausstechen – aber zuviel durfte es auch nicht sein. Dieses musste mindestens günstiger als die Kosten einer ehrlichen Werbeaktion sein. Jede Mark, die man rausschickt, muss ja schließlich im Doppelpack wieder zurückkommen. In den 70er-Jahren entwickelte ich meine Sozialphilosophie, die mich in den zwei folgenden Jahrzehnten leiten sollte. Ich sah mich als Kämpfer und Leistungsträger für die eigene Sache und an meinem Erfolg würden dann die Anderen schon automatisch partizipieren. Wenn mein Unternehmen wächst brauche ich Kulis, die die Arbeit machen – gerade im Dienstleistungsbereich lässt sich ja leider nicht alles auf Maschinen schieben. Die Kulis bekommen ihren Lohn, mit denen sie erstens ihre Familie durchfüttern können und zweitens auch durch Buchungen wieder in mein Unternehmen einbringen können. Nach meiner Ansicht mussten Löhne so hoch sein, dass die Empfänger keinen Grund hatten auf die Barrikaden zu gehen – die innere Sicherheit ist schließlich irgendwie vom sogenannten sozialen Frieden abhängig – und andererseits mussten sie sich zu ausreichend hoher Massenkaufkraft addieren, da wir, die wir fast ausschließlich vom Binnenmarkt abhängig waren, nicht in ein Konjunkturloch rutschen wollten. Wer mehr haben will, der muss eben bereit sein, so wie wir, mehr Leistung zu bringen und Risiko zu tragen. Das ich im anderen Boot gesessen hätte, wenn ich nicht der Erbe meines Vaters gewesen wäre, hatte ich zur damaligen Zeit ganz vergessen. Auch mein Brüder Jürgen entwickelte sich zur gleichen Zeit vom biederen Kaufmann, so wie unser Vater einer war, zum Toppmanager. Die Unterschiede zwischen uns dürften wohl durch die unterschiedlichen Zielgruppen unseres unternehmerischen Wirkens zu begründen sein. Ich zielte mit der Touristik auf die einzelnen Konsumenten während er mit seinem Gütergeschäft auf die Industrie und mittelständische Produktionsunternehmen abzielte. Während ich durch politische Neutralität besser an meine Kunden kam, war es für ihn besser einer der ihren zu sein und engagierte sich deshalb auch in Unternehmerverbänden, der IHK und der CDU. Hinsichtlich unseres Bruderzwistes erwiesen sich die unterschiedlichen Zielgruppen dahingehend als sehr hilfreich, dass selten Gefahr bestand, dass wir auf den gleichen gesellschaftlichen Anlässen auftauchen würden. Aber ansonsten waren wir uns Alles in Allem mehr als ähnlich. Wie bei allen anderen Unternehmern auch hieß unser übereinstimmendes Ziel „Wachstum und Expansion“. Nur unsere Wege unterschieden sich deutlich. Ich setzte auf Angebotserweiterung und Eigenständigkeit während Jürgen Spezialisierung und Kooperationen favorisierte. Im Transportgeschäft konzentrierte er sich mehr und mehr auf Gefahrgut während im Speditionsgeschäft, also im Logistikbereich, alles vom Rind beziehungsweise Schwein bis zu Maschinen, ganze Brücken sowie Halbfertigzeuge und Werkzeuge über die Spedition Ernst Heuer GmbH quer durch
Europa und nach Übersee verbracht werden konnte. Was kein Gefahrgut war wurde von einem seiner Partner gekutscht. Ziemlich stark lehnte er sich an den großen spanischen Transport- und Speditionsunternehmer Alberto di Stefano an. Das Ereignis der 70er-Jahre, was so wohl mir in der Touristikbranche wie Jürgen im Frachtgeschäft zu schaffen machte, war die durch den Nahostkrieg bedingte Ölkrise. Sonntagsfahrverbote, Autobahnhöchstgeschwindigkeit 100 km/h, Treibstoffzuschläge und so weiter brachten doch einiges durcheinander. Na ja, im jetzt laufenden Jahrhundert dürfte man wahrscheinlich so etwas noch mal erleben können. Wenn ich sehe wie wir mit den Rohstoffen, aus denen man Energie erzeugen kann – hier auch insbesondere das Öl -, umgehen und dann nachschaue wieweit Politik und Wirtschaft die Weichen für die Zeit, wenn die Vorräte langsam zur neige gehen, stellen, bin ich durchaus der Meinung, dass das was wir damals kurzfristig erlebten mal zum Dauerzustand werden könnte. Aber was soll’s, wir verdien jetzt an der Ausbeutung der Erde und nach uns die Sintflut. Vielen, die die Ölkrise damals miterlebten ist diese gar nicht mehr so richtig in Erinnerung. Das mag daran liegen, dass diese von einem anderem spektakulären Ereignis, über das man heute noch detailliert diskutiert, überlagert wurde. Deutschland wurde 1974 im eigenen Land zum zweiten Mal Fußballweltmeister. Wir hatten wieder einen König: Beckenbauer I., der Libero des Weltmeisters. Soweit der politische und gesellschaftliche Hintergrund zu der Zeit, in der sowohl Jürgen wie auch ich Einkommensmillionäre wurden. Während es Jürgen bereits 1974 „gepackt“ hatte musste ich noch ein Jahr warten, bis ich diese Grenze überschreiten konnte. Rosi und ich hatten uns überlegt, dass es eigentlich ganz angenehm wäre, wenn wir uns eine standesgemäße „Hütte“, also ein größeres Eigenheim, was man im Volksmund auch als Villa bezeichnen kann, zulegten. Da nichts passendes käuflich zu erwerben war wurden wir somit bauwillig. Es hätte eigentlich schon 1975 losgehen können aber wegen des Wirbels auf kommunaler Ebene hatten wir uns noch ein Wenig Geduld verordnet. Bei den Behörden wussten viele nicht ob sie noch oder schon zuständig waren und falls Ratsbeschlüsse notwendig waren, wurde man auf den kommenden größeren Rat verwiesen. Hintergrund war die damalige kommunale Neuordnung, die meines Erachtens mit der Devise „Gigantomie statt Konzepte“ ablief. Man war zuvor mit der Gemeindefinanzierung in einer Sackgasse aufgelaufen und statt über neue Finanzierungs- und Verwaltungsmodelle nachzudenken strickte man aus kleinen Gemeinden eine größere Stadt. Man glaubte damit die Verwaltungen verschlanken zu können, was ja einen Spareffekt haben würde, und so auch gleichzeitig durch Zusammenlegen Raum für Bau- und Gewerbe-Erwartungs-Gebiete, auf die die Gemeindefinanzierung nach wie vor seit Preußenzeiten beruht, zu schaffen. Wenn wir so weiter machen, werden wohl irgendwann alle Bundesländer Stadtstaaten sein und die kommunalen Kassen immer noch nicht besser gefüllt sein – dafür haben wir dann aber eine immer größere Bürgerferne. Also in dieser Zeit, wo Romansweiler ein Stadtteil von Waldheim wurde, wollten wir die „höchststrapazierten“ Kommunalbeamten und –politiker nicht noch mit Bauanträgen und eventuell Flächennutzungsplanänderungen belästigen und vertagten das Ganze noch mal um ein Jahr. Aber ansonsten kosteten wir sehr gerne von den Früchten unserer Arbeit und verwirklichten uns diesen oder jenen Wunsch. Das dazu Wagen der gehobenen Klasse sowohl für Rosi wie für mich dazu gehörten wird sich jeder auf Anhieb gedacht haben. Aber auch Urlaub wurde von uns ab 1975 wieder ganz groß geschrieben. Im Mai hätte ich ja gerne eine Karibikkreuzfahrt unternommen aber die redete mir Rosi wegen der Kinder, für die das noch nichts wäre, aus. Deshalb bescheideten wir uns mit einem Frühling in der Toskana. Wenn schon keine Kreuzfahrt dann doch ein Turn mit einer Luxussportyacht, den wir im August auf den Seen im niederländischen Friesland über das Wasser gehen ließen. Alle guten Dinge sind drei und deshalb planten wir über Weihnachten und Neujahr einen Trip nach Lorett de Mar in Spanien. Wir wählten diesen Ort obwohl es da kein Hotel, was unserem Stand angemessen war, gab. Ab und zu kann man ja ruhig durchblicken lassen, dass man ein normaler Mensch geblieben ist. Geplant und ausgeführt. Am 22. Dezember starten wir dann in einem Lufthansajet nach Barcelona, von wo wir dann mit einem Taxi entlag der Costa Brava nach dem nördlich gelegenen Lorett fahren wollten. Aber oh Schreck, bei diesem Flug saßen in der ersten Klasse nur sechs Personen und davon hießen fünf mit Nachnamen Heuer. Außer Rosi, Anita, Hendrik und mir war auch noch Jürgen mit an Bord. Er befand sich in Begleitung einer dunkelhaarigen Dame mit dunklen Teint und dunkelblauen Augen. Sie war bei Weitem nicht so schön wie meine Exfrau Anni und auch beim besten Willen nicht so sexy wie meine jetzige aber sie hatte so einen exotischen Reiz, der mich in früheren Jahren auch in den Bann gezogen hätte. Na ja, als mich dieser Reiz später mal in den Bann ziehen sollte – tat er es dann nicht mehr. Aber soweit sind wir noch nicht, jetzt sind wir erst bei der Beschreibung unseres in den Süden Fliegens. Alle erwachsenen Heuers hatten, wie später alle gestanden, das Gefühl einander ansprechen zu müssen. Aber keiner machte es, sondern wir ignorierten uns wie Fremde, die sich noch nie im Leben begegnet sind. Nur die inzwischen 6-jährige Anita wechselte, nach dem Rosi sie, mit meiner Zustimmung, dazu ermuntert hatte, für fünf Minuten ein paar Worte mit ihrem Papa Jürgen. Mein Bruder strahlte und aus dem freundlich lächelnden Gesicht seiner Begleiterin konnte man ersehen, dass es ihr gefiel. Obwohl die Dame in Jürgens Begleitung ganz offensichtlich wusste wer wir waren standen wir im Gegenzug vor einem Rätsel. Auch der Zweck von Jürgens Reise entzog sich unserer Kenntnis. Wir mussten noch bis zum Silvestermorgen warten, bis wir durch Zufall eine Aufklärung erhielten. Ich wollte mir am Hotelkiosk ein paar Gauloises holen und dabei fiel mein Blick so nebenbei auf die dort ausgelegten Zeitungen. Da wurden meine Augen von einem zweispaltigen Bild auf der Titelseite einer spanischen Boulevardzeitung angezogen. Darauf waren mein Bruder und die
Dame, die wir beim Hinflug an seiner Seite haben kennen gelernt. Auf ihren langen schwarzen Haaren war ein Brautschleier gesteckt. Obwohl ich kein Wort Spanisch sprechen, verstehen oder lesen kann kaufte ich die Zeitung. Die Verkäuferin schaute auch von dem Bild zu mir hin und her. Da ich annehme, dass sie nicht wusste wer ich war, ist ihr wohl beim Verkauf die Ähnlichkeit zwischen dem Herrn auf dem Bild und mir aufgefallen; Jürgen und ich sehen uns tatsächlich sehr ähnlich. Ich war richtig außer Atem, als ich, nach dem ich auf unser Zimmer gestürmt war, tönte: „Rosi, das ist der Hammer des Jahres. Schau mal hier auf dem Bild ist Don Jürgen.“. Die Angesprochene schaute mich an als müsse sie gleich den Arzt rufen und nahm mir dabei die Zeitung aus der Hand. Inzwischen hatte sich Anita dazwischen gemogelt und aus dem Kindermund schallte: „Das ist nicht Don Jürgen, das ist Papa Jürgen.“ Und just in diesem Moment gingen Rosis Augen, die zuvor noch gar nicht durchblickte was anlag, ruckartig nach unten auf die Zeitung. „Eu jeu“, plumpste jetzt aus ihrem Munde, „mein Exmann ist offensichtlich auch wieder unter der Haube.“. Meine Frau machte sich auch dann so gleich an das Studium des Artikels. Sie kann zwar auch kein Spanisch aber dafür Französisch. Diese beiden Sprachen haben, zumindestens beim geschriebenen Wort, große Ähnlichkeit, so dass es Rosi gelang, die zugehörige Bildunterschrift und den Artikel ins Deutsche zu übertragen – übersetzen kann man in einem solchen Fall ja wohl nicht sagen. Jetzt wussten wir es, die Frau, die wir an Jürgens Seite beim Herflug kennen gelernt hatten, war Carmen, die Tochter des spanischen Großspediteurs Alberto di Stefano und ab dem Vortag, also ab dem 30.12.75, unsere Schwägerin. Jürgen und sie hatten sich am Tage zuvor in der Sakra Santa Famila (Kathedrale der Heilligen Familie) in Barcelona das Jawort gegeben. Laut Zeitung soll es dann auf dem Landsitz von di Stefano ein rauschendes Fest mit viel Tarragona gegeben haben. Auf diesem waren die prominentesten Flamencotänzer des Landes aufgetreten. Ich ließ mir dann eine neue Schlagzeile einfallen: Flamenco und Tarragona für Don Jürgen. Nach Beendigung des folgenden Lachers gestand Rosi: „Komisches Gefühl wenn der Exmann und Vater der eigenen Tochter wieder heiratet.“. Wir hatten bei dieser Gelegenheit die Anwesenheit der Kinder zu Wenig beachtet und zur Strafe wurde es kompliziert. Anita wusste, das haben wir ihr nicht vorenthalten, dass Jürgen ihr eigentlicher Vater war aber wie das eigentlich zusammenhängt haben wir ihr bis zu diesem Zeitpunkt nicht erklärt. Sie hätte es wahrscheinlich sowieso nicht verstanden. Jetzt wollte sie aber genau wissen warum Papa Jürgen Mamas Exmann war und warum Hendrik wohl ihr Bruder aber Jürgen für ihn Onkel Jürgen und nicht Papa Jürgen ist. Jetzt mussten wir es ihr, ohne sie dabei zu schocken, erklären. Was die Sache nicht leichter machte war die gleichzeitige Anwesenheit von Hendrik. Der wollte natürlich auch alles genau wissen aber in dem Alter wirkt sich beim Verständnis die Jahresdistanz doch noch enorm aus. Für Anita war es kompliziert, dass Papa Jürgens Frau nicht dann automatisch für sie Mama Carmen aber Tante Carmen war. Und Hendrik fand es ungerecht, dass, wenn Carmen und Jürgen mal ein Kind kriegen sollten, dieses zwar Anitas Bruder oder Schwester aber nicht seine sein sollten. Ansonsten mussten wir jedoch erkennen, dass Kinder mehr verstehen als man aus erwachsener Sicht glaubt. Auch am Abend wurde mein Bruder noch einmal das Kinderthema Nummer Eins. Wir beabsichtigten zunächst mit unseren Kindern bis zur ausreichenden Bettschwere auf dem Zimmer zu feiern. Danach, jedoch auf keinen Fall vor Elf, wollten Rosi und ich noch für zwei Stunden auf der Silvestergala des Hotels erscheinen. Daher bestellte ich beim Zimmerservice eine Flasche Tarragona und für die Kinder eine mit roten Traubensaft. Die Getränke sollten sich ähneln. Da fragte Anita ganz keck: „Kommt Papa Jürgen auch?“. Wie aus einem Munde fragten Rosi und ich „Wieso“ zurück und erfuhren: „Ja, Papa hat doch heute morgen gesagt der Tarragona wäre für Don Jürgen ... aber da hat er doch Papa Jürgen gemeint?“. Na ja, dieses ließ sich ja leicht aufklären aber der wehmütige Gedanke Anitas, der auf Grund dessen entstand, ließ es dann doch komplizierter für uns werden. Sie fragte nachdenklich: „Papa Jürgen ist doch dein Bruder, Papa und dein Mann, Mama. Warum kommt er dann nicht mal zu uns.“. Das war nun wirklich für sie schwer zu verstehen warum das nicht der Fall war. Dieses insbesondere auch hinsichtlich unserer stetigen Aussage gegenüber den Kindern, dass man, wenn man sich gestritten hat, auch wieder vertragen muss. Letztlich sprach Anita etwas aus, was mir heute wie eine Prophezeiung vorkommt: „Eines Tages kommt Papa Jürgen wegen mir und ich bin nicht mehr da.“. An diesem Silvestertag kamen wir nicht mehr dazu uns unter die Feiernden zu mischen. Der Lärm, der von den anderen feiernden Hotelgäste verursacht wurde und das, was sie über ihre Familienverhältnisse erfahren hatten, hatte unsere Kinder so aufgekratzt, dass wir sie einerseits nicht zum Einschlafen kriegten und andererseits nicht allein lassen konnten. Also blieb es an diesem Abend nicht bei der einen Flasche Tarragona auf dem Hotelzimmer sondern letztendlich hatten wir uns zu Zweit ganze drei Flaschen á 0,7 Liter zu Gemüte geführt. Das führte dann dazu, dass wir erst immer ausgelassener wurden und dann bekam Rosi einen Moralischen. Also zuerst prosteten wir uns auf das Wohl von Don Jürgen und seiner bezaubernden Senora zu und dann flossen bei Rosi die Tränen. Sie beklagte alles kaputt gemacht zu haben und dass die Kinder das mit zunehmenden Alter auszubaden hätten. Etwas unlogisch war aber ihre Erkenntnis, dass, wenn sie nicht den Mist gemacht hätte, wir auf der Hochzeit von Don Jürgen dabei gewesen wären. Mein Einwand, dass es ohne ihren Mist nicht zur Hochzeit des Don Jürgen gekommen wäre, sorgte dann dafür das ihr Moralischer wieder in beidseitige Albernheit umschlug, mit der wir letztendlich, erstmalig in 1976, einschliefen. Später erfuhren wir, das die Hochzeit Jürgen Heuer mit Carmen di Stefano keine Liebesheirat war sondern der große Alberto di Stefano hatte die Vermählung seines einzigen Kindes und Erbin mit dem, aus seiner Sicht, fähigen „Erbschaftsverwalter“ arrangiert. Di Stefano stammte aus einer erzkonservativen und streng katholischen spanischen
Familie. Nach dem er an Francos Seite am Bürgerkrieg teilgenommen hatte startete er seine Karriere, die ihm im Laufe der Zeit zu einem der größten europäischen Spediteure werden ließ. Zuvor besaß er in Katalanin allerdings schon nicht kleine Landgüter. Klar, dass man für ein solches Imperium, was sich schon um 1950 abzeichnete, einen Erben von „eigenem Blut“ benötigt. So musste sich Don Alberto an das Zeugen eines Erben machen. Natürlich sollte das ein Junge, der Salvador heißen sollte, sein. Aber es kam anders wie gedacht, statt Salvador kam 1951 Carmen. Das wäre ja alles nicht so schlimm, denn als reicher Mann kann man ja sogar ein paar Mädchen „großfüttern“ und brauch deshalb nicht vor dem Zeugen des Stammhalters zurückschrecken. Aber da spielte die Gesundheit seiner Frau nicht mit, diese erkrankte kurz nach Carmens Geburt und konnte danach keine weiteren Kinder mehr bekommen. Da es die Scheidung im katholischen Francospanien nicht gab und di Stefanos konservative Erziehung die Hinzuziehung einer dritten Erbengebärmaschine untersagte, blieb es halt bei der einen leiblichen Tochter. Und Adoption wäre ja nicht vom eigenen Blut gewesen, was für Don Alberto absolut ausgeschlossen war. Also musste dann der Schwiegersohn das sein, was er von seinem Sohn erwartete hätte. Nun, das war dann mein Bruder, der alle Voraussetzung mitbrachte. Katholisch, selbst Spediteur, also vom Fach, und selbst ein Wenig auf dem Konto. Des weiteren war Jürgen von Statur und Erscheinung nicht ungeeignet den richtigen Enkel zu zeugen. Der einzigste Fehler, den di Stefano an meinem Bruder entdeckte war das er Deutscher und kein Spanier war. Aber diesbezüglich waren ihm Deutsche lieber wie Franzosen oder Italiener, denn schließlich hat die Legion Kondor ja seinem Franco im Bürgerkrieg zur Seite gestanden. Aber dieser Hintergrund war kein Hindernis für eine, sagen wir mal akzeptable, Ehe. Carmen war in einem Klosterinternat zur orthodoxkatholischen Ehefrau erzogen worden. Sie war darauf getrimmt ihrem Manne untertan zu sein. Und hässlich oder gar abstoßend war Carmen ja nun auch nicht. Vielleicht wäre sie sogar sexy gewesen wenn sie nicht alles, was mit Geschlechtlichkeit zusammenhängt, erziehungsbedingt unterdrückt hätte. Auf der anderen Seite war Jürgen kein Typ der einen schlechten Ehemann abgeben könnte. Ganz im Gegenteil, ich muss ihm wirklich bescheinigen, dass er auf diesem Gebiet bedeutend höhere Qualitäten wie ich habe hat. Er muss wohl diesbezüglich alles von unserer Mutter abbekommen haben, während ich mehr auf unseren Vater geschlagen bin. Der war zwar bis zu Letzt ein treuer Ehemann und guter Vater, aber der hätte schon mal ganz gerne verhindert, dass etwas anbrennt. Dem hätte ich schon zugetraut, dass, wenn wir nicht seine Söhne gewesen wären, er sich an Anni oder Rosi rangemacht hätte. Also Jürgen und Carmens Ehe funktionierte. Bis ... na ja, alles später an der richtigen Stelle. Der spanischen Hochzeit folgte eine weitere, eine Geschäftshochzeit. Mitte 1976 fusionierten die Speditionen Heuer und di Stefano zur EuroSpe. Jürgen blieb seinem strategischen Kurs der Kooperation treu, er wurde nur immer aggressiver. Wer mit ihm kooperierte musste aufpassen seine Eigenständigkeit zu behalten. Natürlich konnte ich im Hinblick auf das Scheffeln von Millionen nicht mit Jürgen mithalten, was mich natürlich auch entsprechend neidisch machte. Außer Rosi hat aber niemand etwas von meinen Neidambitionen mitbekommen. Auch auf einem anderen Gebiet hatte ich das Nachsehen: Er wurde immer einflussreicher und damit mächtiger. Ein paar Millionen auf dem Konto bringt einem die richtigen „Freunde“ und die sind der Schlüssel zur Macht. Ganz eindeutig hatte Jürgen zu der Zeit den diesbezüglichen brüderlichen Wettbewerb gewonnen. Dieses war für mich der Grund nicht auf ihn zuzugehen und aus seiner Sicht wäre es an uns gewesen den ersten Schritt zu unternehmen, womit er noch nicht einmal Unrecht hatte. Zum Kapitel 10
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Salvador, der Familienkomplettierer Mitte 1976 kamen zu meinen Eigenschaften als Unternehmer und Familienvater noch eine dritte hinzu: die des Bauherrn. Und dieses gleich im Doppelpack. Die „Hauptverwaltung“ der Heuer Bustouristik platzte im ehemaligen Reisebüro aus allen Nähten und von unserem Traum vom größeren schicken Eigenheim habe ich ja schon berichtet. Ich beauftragte zwei Architekten: Einmal war es der jüngere Horst Rosier, der uns das Geschäftshaus errichten sollte, und für unsere „Hütte“ spannte ich den älteren und erfahrenen Hans Hermann Kreft ein. Natürlich hatte ich mir was dabei gedacht. Ich hatte mir vorher angesehen was die beiden Architekten bisher gemacht hatten; natürlich nicht nur die Arbeiten dieser sondern auch die von deren Kollegen. Rosier baute nüchtern und sachlich während alles was Kreft machte nach meiner Meinung irgendwo schön und auch ein Bisschen verspielt war und beide waren Spitze bei dem was sie machten. Und jetzt brauche ich nicht weiter erklären, warum ich wen mit was beauftragt habe; das erklärt sich meines Erachtens von selbst. Alles was ich mit den Architekten zu besprechen hatte lief in den eigenen vier Wänden ab und so konnten doch viele nützliche Anregungen seitens Rosi mitaufgegriffen und eingebracht werden. Paradoxer Weise brachte Rosi mehr ins Geschäftshaus als ins Privathaus ein, was ich vorher doch eher in ihrer Interessensphäre gesehen hätte. Die Grundstücksfrage stellte sich auch mit zwei stark differierenden Schwierigkeitsgraden da. Für das Geschäftshaus bekamen wir schnell, praktisch von Heute auf Morgen, ein preiswertes Grundstück innerhalb des neuen Gewerbegebietes Weberfeld. Dieses war bereits Anfang der 70er-Jahre als solches ausgewiesen worden, aber, da die Gemeindegrenze die Fläche ein Wenig durchschnitt – allerdings waren sich schon damals die Stadt Waldheim und die Gemeinde Ostendorf einig – hat man mit den Baugenehmigungen die kommunale Neuordnung abgewartet. Na ja, Ostendorf kam zu Waldheim und damit war dann alles problemlos klar. Auch ansonsten ging bei dieser Geschichte alles recht flott. Bereits im Dezember zogen wir um und im Februar 1977 feierten wir mit einem Empfang die offizielle Einweihung. Das Reisebüro im Bahnhofsviertel hielten wir danach jedoch bei. Das Haus wurde in 77 renoviert und die ehemaligen Verwaltungsräume in Mietwohnungen umgewandelt. Mit dem Wohnhaus war alles erheblich komplizierter. Ich wollte ja unbedingt ins Malerviertel, wo bisher schon die lokale „Oberschicht“ residierte, auch mein Heim platziert sehen. Ob Dürer-, Rembrandt- oder Holbeinstraße war mir dahin erst mal egal – Hauptsache im Viertel der Pinselvirtuosen. Alle verfügbaren Grundstücke hatten einen Makel. Entweder waren die Grundstücke zu klein, zu verschachtelt, mit Auflagen versehen oder noch mit abbruchreifen Uraltgebäuden bebaut. Einmal passte das Haus, so wie wir es uns vorstellten, nicht in das einheitliche Bild der Straßenfront und einmal war das Grundstück so ungünstig gelegen, dass jede Möbelanlieferung eine vorherige „Ingenieurleistung“ erfordert hätte. Letzteres muss man sich auch mal während der Bauzeit vorstellen. Und zu allem diesbezüglichen Übeln kamen dann die komplizierten, sehr unflexiblen Denkweisen bei den Behörden die letztendlich ihren „Segen“ geben mussten. Letztlich glückte es dann aber doch. In der Spitzwegstraße 10 wurde dann auf 3.000 Quadratmetern unser „Häuschen“ mit zirka 350 Quadratmeter Wohnfläche errichtet. Einen Pool, der bei schlechter Witterung mit einer Art Wintergarten ummantelt werden konnte, eine Sauna und eine Partybar waren die Plus, die wir in unserer bisherigen Unterkunft am Romansweiler Waldrand nicht einmal hätten verwirklichen können. Ein Leidwesen meinerseits waren in der Spitzwegstraße die Nachbarn zur Rechten und zur Linken, die ich schon vor Baubeginn als „absolute Spinner“ enttarnte. Rechts war es der Herr des Hauses. Friedrich von Stein war ein penibler Recht- und Ordnungsenthusiast, der schon beim ersten Mal, als wir ihm begegneten, die Nase hinsichtlich unserer „kleinen“ Kinder die Nase rümpfte. Ich hatte fast den Eindruck, dass er offensichtlich als alter „Großmann“ geboren war. Zur Linken war es Frau Neumann, eine, wie sie sich entpuppte, tratschende Moralistin, die offensichtlich, so meine Betrachtungsweise, auf einen anderen Stern lebte. Mit beiden hatten wir später häufig nachbarschaftliche Auseinandersetzung. Insgesamt drei Mal mussten für mehr oder weniger Dummzeug, mehr kann ich dazu nicht sagen, Anwälte und Richter bemüht werden. Na ja, von irgendwas müssen Juristen ja auch leben. Ich habe dieses jetzt einmal erwähnt und werde nun nichts mehr von diesen kleinkarierten Plänkeleien berichten, da ich so was nicht einmal des Hinsehens für würdig halte. Jetzt könnte es diesen oder jenen interessieren ob wir in Waldheim nicht gelegentlich Jürgen oder seiner Frau über den Weg gelaufen sind und wie das dann war. Nun, Jürgen war Anfang 76 in die Gegend von Stuttgart, wo sich die deutsche Hauptniederlassung der deutschen EuroSpe jetzt befand, gezogen. Er war also räumlich am Ort unseres Lebens- und Geschäftsumfeld nicht anwesend. Die Waldheimer Niederlassung der EuroSpe war zu jener nicht mehr die bedeutendste im Unternehmen und wurde 1981 sogar ganz aufgegeben. Trotzdem blieben Carmen und Jürgen Waldheimer Bürger, zumindestens mit Zweitwohnsitz, denn sein hiesiges Haus gab mein Bruder nicht auf. Es wurde auch nicht vermietet sondern durch einen gewerblichen Verwalter „in Schuss“ gehalten. Meines Wissens ist es dann nicht mehr von den Eigentümer, also von Jürgen, bewohnt worden; nicht einmal an gelegentlichen Wochenenden. Später erfuhr ich mal von Jürgen, dass es dafür eigentlich kein Grund gegeben habe sondern es wäre reine lokalpatriotische Sentimentalität gewesen. Er hing halt an seiner Heimat und ließ es sich was kosten, was er sich allerdings auch leisten konnte.
Anfang Juni 1978 konnten wir unser neues Heim in der Spitzwegstraße beziehen und das wollten wir dann zum Anlass nehmen, uns wieder auf Jürgen zu zubewegen. Diverse Male hatten wir schon überlegt, ob, wann und wie wir diesen Schritt vornehmen sollten. Ende April/Anfang Mai saßen Rosi und ich, als die Kinder gerade im Bett waren, zusammen und fixierten den Termin für unseren Einweihungsempfang auf den 10. Juni 1978. Jetzt überlegten wir, wenn wir dazu einladen wollten, sollten oder müssten. „Wollten“ bezieht sich auf die Leute, mit denen wir uns persönlich gern umgeben, „sollten“ auf diejenigen, von denen wir uns eventuell etwas zum privaten und insbesondere geschäftlichen Vorteil versprachen, und „müssten“ auf jene, die uns aufgrund ihrer Nichteinladung einen Nachteil bescheren könnten. Bei reinen Geschäftseinladungen spielen die Erstgenannten überhaupt keine Rolle aber die anderen sind dann der eigentliche Hauptgrund. Womit ich jetzt ausgedrückt habe, dass man auf Geschäftempfängen die Freunde willkommen heißt, die man privat nicht so gern dabei hätte aber man als Geschäftsmann irgendwo gezwungen ist diese Leute mit einzubeziehen. Über kurz oder lang führt das dann dazu, dass man nur noch Freunde hat, die eigentlich im Sinne des Wortes keine sind. Das führt über die Jahre dann dazu, dass wenn das Geschäft nicht mehr ist man alleine und einsam da steht. Diese Tendenz zeichnete sich bereits mehr als deutlich bei dem Bezug unseres neuen Heimes ab. Von fast 50 Leuten die wir einluden waren gerade 5 (2 Herren und 3 Damen), die wir in die Kategorie „echter privater Freunde“ hätten einreihen können. Da schlug Rosi vor, die Zahl von Fünf auf Sieben zu erhöhen und die Zwei, die sie zusätzlich vorschlug, lagen uns ganz besonders am Herzen. Jetzt merkt jeder, dass wir unser neues Heim zum Anlass nehmen wollten uns bei Jürgen zu entschuldigen und ihn und seine Frau einzuladen. Wir vertagten prompt die Aufstellung unserer Gästeliste und arbeiten, im wahrsten Sinne des Wortes, an dem Brief, den wir ihm schreiben wollten. Das war gar nicht so einfach. Das ging schon mit der Formulierung der Anrede los. Sollten wir nur ihn oder auch Carmen ansprechen? Was wollten wir schreiben? „Lieber Jürgen, liebe Carmen“ könnte jetzt irgendwie in den „falschen Hals“ kommen. „Sehr geehrter Jürgen, sehr geehrte Carmen“ hört sich so an als schrieben wir einem Geschäftspartner, mit dem wir bei irgendeiner Gelegenheit das Du vereinbart hatten aber dem gegenüber wir ansonsten doch Fremde geblieben sind. So schreibt man seinem Bruder nicht. „Guten Tag, Jürgen, guten Tag, Carmen“ hört sich nach meinem Geschmack albern an. Überhaupt war Carmen ein Problem. Sie war zwar unsere Schwägerin aber vertraulich waren wir bis dato nicht, wir hatten sie ja offiziell noch nicht einmal kennen gelernt. Letztlich blieb uns „Hallo Jürgen, hallo Carmen“ was uns beiden zwar etwas flapsig vorkam aber besseres wollte uns partout nicht einfallen. So zog es sich bei dem doch etwas langwierigen Entwurf des ganzen Briefes durch. Es ging einmal um das was wir ihm mitteilen wollten und dann um das, wie wir es formulieren könnten. Leider kann ich heute, nach so langer Zeit den Brief nicht mehr wörtlich wiedergeben. Das einzigste was ich noch wörtlich weiß, ist die Grußformel zum Schluss: „Wir hoffen nochmals mit ganzem Herzen, dass du uns das Unrecht was wir dir angetan haben, verzeihen wirst und dass wir in Zukunft wieder eine echte Familie in Harmonie sein werden. Dein Bruder Walter und Rosi, sowie dein Töchterchen Anita und letztlich Hendrik.“. Die Bitte um Verzeihung war der detaillierte erste Teil unseres Briefes, dem ein kurzer Bericht von unserem neuen Heim folgte. Der dritte und jetzt wichtigste Teil war die Einladung zur Einweihungsfeier am 10. Juni, den wir dahingehend ergänzten, dass es uns freuen würde wenn sie ihren Besuch auf ein paar Tage ausdehnen könnten. Den Brief schrieb ich handschriftlich ins Reine, damit ja nicht der persönliche Charakter verloren ging. Entgegen meinen üblichen Geflogenheiten legte ich den Brief nicht in der Firma zur Ausgangspost sondern ich bemühte mich damit zum Postamt. Der Grund war aber kein Misstrauen gegen irgendjemand oder irgendetwas sondern dass er dort mit unserer Frankiermaschine abgewickelt worden wäre, was mir in diesem Fall zu unpersönlich gewesen wäre. Ich kaufte also nach alter Väter Sitte eine Briefmarke, klebte diese auf den Briefumschlag und warf die Sendung in den Briefkasten am Eingang zum Postamt Waldheim ein. Beim Einwurf pochte mir richtig das Herz, obwohl in diesem Moment nichts passieren konnte, was dieses Pochen hätte rechtfertigen können. Voller Ungeduld, praktisch wie ein kleiner Junge vor dem Weihnachtsfest, wartete ich dann in der Folgezeit auf die Rückantwort. Etwas über eine Woche später hatten wir diese dann tatsächlich im Hausbriefkasten. Jürgen hatte nicht wie wir „Hallo Walter, hallo Rosi“ geschrieben sondern „Mein lieber Bruder, meine immer noch liebste Rosi“, was uns beide, die wir ja inzwischen schon eine ganze Portion härter gesotten waren, so anrührte, dass wir doch ein Wenig Flüssigkeit aus unseren Augenecken wischen mussten. Jürgen schrieb das alles mal ein Ende haben müsse, auch tiefer gehender Streit und er uns verzeihe. Er bedankte sich für die Einladung, die er aber Absagen musste. Der Grund war sogar erfreulich: Carmen sei schwanger und der vorausberechnete Geburtstermin fiele mit unserer Einweihungsfeier zusammen. Er verriet uns, dass das Kind, wenn es ein Mädchen würde Montserrat heißen solle und für einen Jungen hätten sie den Namen Salvador vorgesehen. Damals hatte man in der Regel noch keine Ultraschallanwendung zur vorherigen Geschlechtsbestimmung künftiger Erdenbürger eingesetzt. Ich weiß jetzt nicht ob man die damals noch nicht kannte oder ob es halt nur unüblich war. Jürgen schrieb weiter, dass sie angedacht hätten, dass ich einer der beiden Taufpaten sein solle. Der zweite sollte der Großvater Alberto di Stefano sein. Aber ob Pate oder nicht Pate, was von Carmens Familie abhänge, wären wir so oder so zur Taufe eingeladen. Zum Schluss wandte sich mein Bruder noch an Rosi, der er schrieb, dass sie immer noch ein Platz in seinem Herzen habe und wenn sie schon nicht hätten Mann und Frau sein können, jetzt doch ein gutes Verhältnis vom Schwager zur Schwägerin pflegen könnten. Nach dem er uns auftrug
Anitachen einen Kuss von ihrem Paps Jürgen zu geben, endet er mit „Herzlichst Jürgen und Carmen“. Wir waren, nach dem wir nacheinander den Brief gelesen hatten, glücklich wie ein junges Mädchen nach dem ersten Kuss. So zog dann der 10. Juni, ein Samstag an dem wir unseren Eröffnungsempfang geben wollten, ins Land. Am Morgen habe ich noch mit Jürgen telefoniert und erfahren, dass sich weder eine Montserrat noch ein Salvador zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg aus dem schützenden Mutterleib ins Leben gemacht hätten. Bereits um 17 Uhr wurde „unser Fest“, was wir auf keinen Fall bis in die Nacht verlaufen lassen wollten, eröffnet. Es war so eine Art Stehparty mit kaltem Büfett und Sektglanz in der Hand. Grüppchenweise tauschte man entweder Geschäftliches oder nebensächliches Blabla aus. Rosi war mal wieder die absolute Spitze im Vorantreiben angedachter Geschäftsangelegenheiten. Zwischen Sieben und Acht machte sich das Gros der Besucher bereits wieder auf den Weg zu weiteren Anlässen. So war dann nur noch eine gemischte Partymannschaft, 3 Paare, davon eines wir selbst, und ein einzelner Herr, zur Tagesschauzeit noch bei uns versammelt. Wir setzten uns dann noch in einer sehr gemütlichen Runde zusammen. Das dominierende Getränk war, wie in „normalen“ Kreisen auch, bei den Herren das Bier, welches wir nach Ablage der letzten Monokelmanieren aus den Flaschen tranken. Kurz vor Neun hatten dann die Damen eine fixe Idee. Sie wollten auch unseren Pool gebührend mit einem Bad einweihen. Flugs legten sie ihre Kleidung bis auf ihre Höschen ab und begaben sich Oben Ohne ins Wasser. Nun, im Jahre 1978 war diese gar nicht mehr so unüblich und nur ein Tor hätte sich was böse dabei gedacht. Nur der einzelne Herr, der ehemals mit Jürgen zur Schule gegangen war und von uns als guter Romansweiler Nachbar eingeladen war, hatte die reichlichen Bierportionen mit Schnaps gemischt und war in Folge zu jener Zeit etwas übermütig. Er fasste Monika, einer Freundin Rosis, doch glatt an ihre prallen Brüste und bekam, was durchaus gerechtfertig ist, von der Belästigten kräftig ein Paar hinter die Ohren. Ich stellte ihn daraufhin freundlich zur Rede und ermahnte ihn er möge Platz nehmen und sich ruhig verhalten.. Der „Trottel“ hingegen wiederholte dann seine Schandtat auch noch bei Rosi, die inzwischen neben uns stand, und ich warf ihn dann postwendend hinaus. Vielleicht hätte ich diese Geschichte, die ich ansonsten unter „Lappalie“ abhakte, sogar schnell vergessen, wenn sie nicht noch später in unserer Beziehung zu Jürgen eine übergewichtige Bedeutung erhalten hätte. Aber schön chronologisch der Reihe nach. Montagsnachmittag rief mich ein vor Begeisterung überschäumender Jürgen an und teilte mir mit, dass Salvador, der Familienkomplettierer, angekommen sei. Er nannte mir auch Maße und Gewicht; aber solche Daten habe ich mir noch nie merken können. So geht es wahrscheinlich nicht nur mir sondern fast allen Männer während Frauen nach solchen Sachen, an die sie sich selbst auch ein Leben lang erinnern können, immer als erstes, wenn sie von einer Geburt erfahren, abfragen. „Komplettierer“ verstand er jetzt in zwei Richtungen: Einmal würden er und Carmen zu einer richtigen Familie komplettiert und andererseits kämen wir jetzt dadurch wieder zur kompletten Heuerfamilie zusammen. Alles andere sollte uns schriftlich und ausführlich erreichen. Es kam aber nichts. Am Telefon ließ er sich in der Folgezeit von seinem Hausmädchen oder seiner Sekretärin, je nachdem wo ich anrief, verleugnen. Briefe, die wir schrieben, blieben unbeantwortet. Erst Mitte August, wir waren gerade aus dem Urlaub zurück, kam ein auf der Maschine geschriebener Brief von Jürgen, diesmal mit der Anrede „Sehr geehrter Walter“, zu uns, in dem er mitteilte, dass sie in Erfahrung gebracht hätten, das wir in unserer Freizeit Orgien feierten und er deshalb im Hinblick auf die sittenstrenge Familie seiner Frau keinen Kontakt mit uns wünsche. Und damit war das, was hätte so schön sein können, erst mal wieder vorbei. Im ersten Augenblick fielen Rosi und ich aus allen Wolken und wussten erst nicht, wo das herkommen könnte. Wir waren doch ein grundsolides Ehepaar und hatten nichts Anrüchiges veranstaltete noch hatten wir an so etwas teilgenommen. Da fiel uns dann dieser Horst Schindler, der sich auf unserer Einweihungsparty daneben benommen hatte, ein. Mit einer Mordswut im Bauch setzte ich mich in meinen Wagen und fuhr nach Romansweiler um diesen „Knaben“ zur Rede zu stellen. Er hatte kaum die Tür geöffnet, da wetterte ich los: „Du blöde Sau, was hast du meinem Bruder erzählt.“. Horst war richtig fix und fertig und bibberte förmlich vor Angst. Trotzdem bat er mich herein und weinend vor mir kniend versicherte er mir, nur die Wahrheit gesagt zu haben. Er wäre am Montag nach unserer Einweihungsfeier dienstlich in Stuttgart gewesen und habe da rein zufällig Jürgen getroffen, der ihm im Wagen vom Bahnhof in sein Hotel mitgenommen habe. Dabei sei man auch auf Rosi und mich zu sprechen gekommen und er habe dann Jürgen gesagt, dass er bei uns wohl derzeitig schlechte Karten habe, weil er eben das gemacht hatte, was wir ja bereits wissen. Horst will Jürgen glaubhaft beteuert haben, dass er sich im besoffenen Kopf daneben benommen und ich richtig gehandelt habe. Jetzt saß ich da und irgendwie glaubte ich diesem armen Teufel. Da ich aber nicht verstehen konnte, dass Jürgen wegen einer solchen Banalität das zarte Pflänzchen einer wiedererwachenden Familie ausreißen könnte, überwogen doch die Zweifel an der Richtigkeit seiner Aussage. Da begriff ich, wie schwer es Strafrichter haben, wenn sie einen solchen „Kerl“ verurteilen müssen. Seine Worte waren glaubhaft und sprachen für ihn aber alle Indizien standen gegen ihn. Mich beruhigter gebend erzählte ich ihm dass meine ihm bekannten Angelegenheit mit Jürgen beinahe wieder gekittet gewesen wären und gab ihm dann Jürgens letzten Brief zu lesen. Wie vom Blitz getroffen stürzte er plötzlich zum Telefon und wählte die Nummer, die er dem Briefkopf des ihm soeben gegebenen Briefes entnahm. Er bekam tatsächlich Jürgen ans Telefon und er begann, dass ich gerade bei ihm säße und ... . Ja, bis zu diesem „und“ war er gekommen, da wurde auf der anderen Seite aufgelegt. Ein zweiter Anwahlversuch scheiterte, da Jürgen nun nicht mehr
für ihn zu sprechen war. Er wurde recht abrupt abgewimmelt. Ich weiß nicht wer am anderen Ende war, da er aber glaubte im Hintergrund „Carmen, leg doch einfach auf“ gehört zu haben, kann man wohl annehmen, dass es meine Schwägerin war. Letztlich musste ich doch Horst Schindler glauben. Aber was war der wahre Grund für Jürgens Verhalten? Darüber haben Rosi und ich lange Zeit gerätselt, aber wir sind nicht darauf gekommen. Wir hätten uns beim besten Willen nicht vorstellen können, dass Anita, wie wir Jahre später erfuhren, die eigentliche Ursache war und die Geschichte, die durch Horst Schindler ausgelöst wurde, nur ein Vorwand darstellte. Der „große“ Alberto di Stefano, Carmens Vater und Oberhaupt der Familie, wusste zwar das Jürgen geschieden war und seine Exfrau jetzt seine Schwägerin war, aber dass die beiden eine gemeinsame Tochter hatten, war ihm bis zur Geburt seines Enkels Salvador unbekannt geblieben. Carmen wusste dieses jedoch, auch bereits schon vor dem Flug nach Barcelona, wo wir uns ja zufällig begegnet waren. Jürgens Frau hatte dann etwas leichtfertig zu ihrem Vater gesagt, dass sie uns einladen wollten und bei der Gelegenheit könne ja auch Anita ihren Halbbruder kennen lernen. Diese schluckte Don Alberto noch, aber er wollte gleich von Jürgen wissen, wie das mit „eventuellen“ Unterhalts- oder Erbschaftsansprüchen dieser jungen Dame aussehe. Und als Jürgen ihm dann von seinem Auseinandersetzungsvertrag mit Rosi erzählte, fielen alle Jalousien runter und Jürgen bekam ein Kontaktverbot zu seiner Familie Dieses kann man nur verstehen, wenn man Don Alberto di Stefano kennt. Deshalb greife ich mal vor und beschreibe mal, wie ich ihn später kennen und verachten lernte. Sehr häufig sprach er von seinen höchsten Tugenden: Mannesehre, Familientreue, Erhalt des Erbes von den Väter und von christlicher Sittenstrenge. Von Macht und Geld, die ihn wirklich beherrschten sprach er nie, aber er handelte ausschließlich in deren Diensten. Dieser machtbesoffene Herr kämpfte um jeden Pfennig. Für ihn waren Jürgen und Carmen menschlich absolut bedeutungslos aber sehr wichtige Objekte. Carmen war von ihm ausersehen, den Salvador, der ihm 1951 versagt geblieben worden ist, zu gebären – den Erben von seinem Fleisch und Blut. Da ihm das offensichtlich nicht ausreichte, war für Salvador auch noch das Erbe, dass sein Vater eingebracht hatte, bestimmt. Für di Stefano war es direkt eine Katastrophe, dass es im Bezug auf das Vatererbe noch eine Mitbewerberin zu Salvador gab. Besonders dramatisierte er dieses in die Richtung, dass man ihm dieses verheimlicht habe. Für Jürgen begann am 12 Juni 1978 auch ein richtiger Spießrutenlauf. Sein Schwiegervater machte ihm zur Auflage, dafür Sorge zu tragen, dass seine Tochter „angemessen“ abgefunden werde. Das große Problem war aus di Stefanos Sicht, dass wir ja auch nicht gerade arm waren und man da nicht so operieren könne, wie es für Kinder von Familiendirnen, wie er Rosi zu beschimpfen pflegte, angemessen wäre. Mein Bruder jedoch zeigte Charakter und stellte sich auf die Hinterbeine. An das Kontaktverbot hielt er sich um noch größeren Schaden zu verhindern aber seine Tochter aus dem Rennen zu werfen, verweigerte er bis auf Letzte. Darauf fiel Jürgen zunächst in die Acht des großen Don Albertos. Auf dem Papier war er weiterhin, der Geschäftsführer der EuroSpe Deutschland GmbH, aber zu sagen hatte er praktisch nichts. Fast zwei Jahre spielte es daher keine Rolle ob er im Büro war oder nicht; Jürgen war in jener Zeit nur ein zahnloser Papiertiger. Erst Anfang 1980 stieg Jürgen wieder zu neuem Glanz auf. Di Stefano wollte mit der EuroSpe einige gewaltige Expansionssprünge machen und auch ein Wenig ins Reederei- und Luftcargogeschäft einsteigen. Dazu brauchte er zwei oder drei Dinge: Die volle Verfügung über Jürgens Anteile, ein Joint-und-Venture-Kapitalgeber, der aber seine Pläne auf Jürgen aufgebaut hatte und noch jede Menge Kapital, wie man es an der Börse bekommen kann. Ohne Joint und Venture hätten ihm ein paar Mittelchen zu Börseneinführung, die wirklich das brachte was di Stefano sich davon erhoffte, nämlich jede Menge Kapital, gefehlt. Jürgen war jetzt aber auf keinen Fall bereit seinem Schwiegervater bedingungslos vor die Füße zu fallen. In seiner zweijährigen Verbitterungsphase war Jürgen offenbar hart geworden und forderte nicht nur seine Macht, die er bei Salvadors Geburt verloren hatte, zurück sondern darüber hinaus auch erheblichen Einfluss im Gesamtimperium. Sein Schwiegervater musste ihm letztendlich einen Vorstandsposten in der künftigen EuroSpe AG garantieren. Davon wussten Rosi und ich, die wir inzwischen auch immer reicher wurden und inzwischen auch Kooperationsstrategien mit namhaften Reiseveranstaltern betrieben, natürlich nichts. Wir bekamen auch nur alles aus den Wirtschaftsteilen der Zeitungen und aus den einschlägigen Sendungen von Funk und Fernsehen mit. Da erfuhren wir allerdings, dass die EuroSpe am 2. November 1981 an die Börse gegangen sei und deren Vorstandsvorsitzender Alberto di Stefano heißen sollte. Der wichtigste Mann neben Don Alberto sollte Jürgen Heuer sein. Nach der erfolgreichen Börseneinführung ging Jürgen doch daran, klar Schiff mit seiner inzwischen 12-jährigen Tochter Anita zu schaffen. Da das Mädchen noch nicht geschäftsfähig war ging das Ganze natürlich nur über Rosi, der Mutter. So bekam meine Gattin dann ein Schreiben von Jürgens Anwälten. Mein Bruder wollte die Unterhaltsleistung und spätere Erbschaftsansprüche mit einem größeren Aktienpaket auslösen. Bis zur Anitas Volljährigkeit sollte Rosi die Depotverwalterin sein, wobei sie zukaufen aber nicht verkaufen durfte und er wollte Zeit seines Lebens die Stimmrechte wahrnehmen. Im Falle des vorzeitigen Ablebens Anitas sollte das Paket wieder an ihn zurückfallen. Falls Jürgen vor Erreichen von Anitas Volljährigkeit verstirbt, sollten wir, also Rosi und ich, bis zu deren Volljährigkeit deren Stimmrechte gemeinsam wahrnehmen. Auf Letzteres konnten wir uns damals keinen Reim machen, aber heute
weiß ich, dass er so Anitas Anteil ein für alle mal di Stefanos Einfluss entziehen wollte. Ansonsten wollte er ein schwebendes Damaklosschwert tief an einem sicheren Ort eingraben. Im Grunde gefiel uns Jürgens Angebot ganz gut. Nur hinsichtlich der Größe des Paketes glaubten wir als echte Wirtschaftsleute verhandeln zu müssen. Das er jedoch die Stimmrechte der erwachsenen Anita wahrnehmen wollte war für uns nicht einsichtig. Mit Ersterem, der Größe, wurden wir uns mit Jürgens Anwälten schnell einig, denn die Gegenseite hatte dieses in Etwa so auch erwartet. Das Zweite, die Stimmrechte, wurden zu einem aufwendigen Fight. Nur einschließlich Anitas Anteil waren Jürgens Stimmrechte in der Größe, dass in der Aktiengesellschaft kein Weg an ihm vorbeiführte. Ohne diese bestand jederzeit wieder die Möglichkeit, dass er wieder zum „Bimbo“ seines Schwiegervaters würde. So zogen sich die Verhandlungen hin bis letztendlich der Aktiendeal nicht mehr zustande kommen konnte. Die Verhandlungen liefen über unsere Anwälte und ein persönlicher Kontakt wurde von beiden Seiten nicht nur nicht versucht sondern sogar strickt abgelehnt. Ab und zu tat mir dieses sogar richtig weh. Nun laborierten wir schon seit über 10 Jahren an einem Bruderzwist, der durch Zeitablauf weder von dem einen noch für den anderen noch ein Grund für ewige Feindschaft sein konnte. So Manches mal, wenn wir diesbezüglich mit Juristen zusammen saßen, dachte ich: „Mann jetzt reichst, jetzt mache ich es, wie es sich unter Brüdern gehört.“. Aber dann passierte wieder nichts, leider. Zum Kapitel 11
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Eines Tages kommt Papa Jürgen wegen mir Der Dienstag, 5. Juli 1983 war der Tag der Wende. Bei dieser Aussage wird jetzt mancher stutzen und fragen: „War das nicht ein Jahr früher?“. Ich spreche jetzt auch nicht von der „sittlich moralischen Wende“ des Kanzlers Kohl, die in den nächsten 16 Jahren die bundesrepublikanische Gesellschaft in eine Ansammlung von geldverehrenden Egozentrikern verwandeln sollte, sondern von der Wende in der Geschichte der Waldheimer Unternehmerfamilie Heuer. Diese Wende wurde eingeleitet durch ein sehr tragisches Ereignis, das wir alle bis zum heutigen Tage nicht verstehen und vergessen können. In dieser Zeit waren diensttägliche Sitzungen mit einem unserer Anwälte praktisch so eine Art Routine für mich geworden. Entweder saßen wir in unserem Verwaltungsgebäude oder in der Anwaltskanzlei des Nachmittags ab 16 Uhr beieinander. Der Grund war, dass ich eine Fortentwicklung in der Zusammenarbeit mit unseren Subunternehmen anstrebte und dann in diesem Zusammenhang einzelne Verträge zu ändern waren. Also kurz und ehrlich gesagt, ich wollte die Leute fester an die Heuer Bustouristik binden; also meinen Einfluss auf fremde Unternehmen ausbauen. Bei dieser Gelegenheit sprachen wir, falls in der Angelegenheit bezüglich Anitas Aktienanteil an der EuroSpe etwas aktuell war, auch immer über diese Dinge. So auch an diesem 5. Juli. Meine Sekretärin hatte die Anweisung während dieser Dienstagssitzungen ausschließlich Telefongespräche in unaufschiebbaren Angelegenheiten durchzustellen. Klar, dass man dann wenn das Telefon trotzdem schellte immer ein ungutes Gefühl hatte, denn meistens sind nur „Unglücke“ unaufschiebbare Angelegenheiten. Ausgerechnet als mein Stimmungsbarometer auf ein Hoch zulief, weil es so aussah, als kämen wir in der Angelegenheit Anita endlich dem Ziel nahe, schellte das Telefon. Am anderen Ende war Rosi, die ich aufgrund ihrer heulenden und schluchzenden Stimme kaum verstehen konnte. „Walter komm nach Hause ... Anita ist tot ... Man hat sie umgebracht”, war die niederschmetternde Kunde, die ich jetzt vernehmen musste. Natürlich wurde unsere Besprechung sofort abgebrochen und ich begab mich postwendend nach Hause in die Spitzwegstraße. Als ich ankam war immer noch ein, offensichtlich auf mich wartender Mitarbeiter der hiesigen Kripo anwesend. Er teilte mir mit, dass man das Mädchen in einem Waldstück nahe der Waldheimer Gesamtschule, die Anita jetzt besuchte, vollkommen nackt, wahrscheinlich nach einer Vergewaltigung erschlagen, gefunden habe. Allerdings konnte er zu den Umständen zu diesem Zeitpunkt noch nichts näheres sagen, außer das man kein einzigstes Kleidungsstück von dem, erst in 2 Monten 14-jährigen Kind gefunden habe. Nach dem der Kriminalbeamte gegangen war und wir uns den Umständen entsprechend ein Wenig erholt hatten, war unser erster Gedanke dass wir Jürgen, Anitas leiblichen Vater, informieren müssten. Dieses wollte Rosi dann selbst übernehmen. Um ein Abwimmeln am Telefon vorzubeugen sagte sie der Sekretärin gleich um was es ging. Dementsprechend war dann auch Jürgens Reaktion, nach dem das Gespräch durchgestellt war: „Rosi Mädchen, was ist los, was ist mit unserem Anitachen?“. Mit weinender Stimme teilte sie ihm dann das mit was wir wussten. Jürgen, sagte das er jetzt natürlich kommen wolle und kündigte seinen diesbezüglichen Rückruf an. Als dieser dann etwa eine halbe Stund später erfolgte fragte er, ob er in der kommenden Nacht mit Carmen und Salvador erst mal bei uns schlafen könne. Am nächsten Tag wolle er dann auf unbestimmte Zeit in sein immer noch eigenes Haus ziehen. Natürlich gaben wir ihm auf seine Anfrage einen positiven Bescheid und nachts um Zwei trafen die Drei dann bei uns ein. Natürlich hatten wir auf sie gewartet. Jetzt brauche ich ja nicht zu schreiben, dass ich mir unser erstes echtes persönliches Wiedertreffen bestimmt anders vorgestellt hätte. Als ich die Tür öffnete stand ich nun erstmals offiziell meiner Schwägerin gegenüber und wusste im ersten Augenblick nicht wie ich mich verhalten sollte. Da ich mit den Gedanken die ganze Zeit, seit dem ich die Schreckensnachricht erhalten hatte, „woanders“ war, gab es meinerseits keine Überlegungen für diesen Fall. Ein Glück, dass Carmen das Eis sofort auftaute. Sie reichte mir schicklich die Hand und sagte überaus freundlich: „Guten Tag Walter. Ich habe mir für diesen Augenblick einen schöneren Anlass gewünscht aber leider konnten wir uns diesen nicht mehr aussuchen. Auch dir mein herzliches Beileid. Ich kann mir vorstellen, dass dich dieser Schlag noch schwerer wie Jürgen trifft.“. Danach wandte sie sich der hinter mir stehenden Rosi zu, nahm sie in ihre Arme und sagte mit warmer Stimme: „Mein Beileid auch insbesondere für dich Roswitha. Da ich selbst Mutter bin, kann ich mich darein versetzen was jetzt in dir vorgeht. Du bist jetzt wohl die Ärmste von Allen.“. Danach hielt Carmen Rosi noch eine Weile in den Armen und später sagte mir meine Frau, dass sie dieses als wohltuend und tröstend empfunden habe. Jürgens Begrüßung lief mit weniger Worten ab. Er stand zunächst abseits mit dem schlafenden Salvador im Arm und wartete bis die beiden Frauen sich trennten um der seinigen den schlafenden Jungen zu übergeben. Dann reichte er nur mit dem Wort „Rosi“ Roswitha die Hand. Mehr wäre bei den Beiden auch nicht gegangen, denn sie brachen in diesen Moment in Tränen aus. Rosi wandte sich nach dieser verständlichen Weinphase und einem schnellen tränentrocknen um, legte ihren rechten Arm um Carmens Hüfte und führte sie in Innere. Das war dann die Gelegenheit wo mir Jürgen immer noch weinend in den Arm fiel. Er sagte nur: „Mensch Kleiner, warum muss das gerade uns passieren.“. Ich konnte ihm jetzt auch nichts antworten, denn auch mich überfiel jetzt das heulende Elend. Die Frauen kümmerten sich anschließend erst mal darum, dass der kleine Salvador ins Bett kam. Währendessen einigten wir Brüder uns darauf, dass wir das Schwein, welches „unsere“ Tochter umgebracht hat, eigenhändig erschlagen würden wenn wir es zu fassen bekämen. Anschließend saßen wir noch fast eine Stunde zu Fünft zusammen. Der Fünfte im Bunde war Hendrik, der natürlich auch vollkommen fertig war und den wir wahrscheinlich nur noch mehr geschadet hätten wenn wir ihn zu Bett
geschickt hätten. Ich weiß nicht wie Rosi eine, doch eigentlich nebensächliche Aussage aus Anitas Kindermund vom Silvester 1975, einen Tag nach Jürgen und Carmens Hochzeit, bis dato behalten hatte. Die Kleine sagte damals: „Eines Tages kommt Papa Jürgen wegen mir und ich bin nicht mehr da.“. Rosi sagte, dass sie das aus irgendeinen Grund öfters mal an diesen Spruch habe denken müssen und das wäre das Erste gewesen, woran sie gedacht habe als sie sich von dem Schock nach der Nachricht am zurückliegenden Nachmittag erholt habe. Sie glaubte nun, das Anitas bald 8 Jahre zurückliegende Prophezeiung jetzt bitterböse Wahrheit geworden wäre. Weder Jürgen noch ich konnten ab dem Zeitpunkt den Spruch auch nicht mehr wieder vergessen. Dieser Spruch spielte am Donnerstag der folgenden Woche, nachdem Anitas Leichnam von der Staatsanwaltschaft freigegeben worden war, bei der Trauerfeier in der Friedhofskapelle in Seetal noch einmal eine Rolle. Wir waren unter großer Geheimhaltung nach Seetal ausgewichen, weil wir die „große Anteilnahme der Bevölkerung“ scheuten. Dieses bei solchen Fällen übliche Ritual erschien uns eher als ein Festival der Voyeure und wir glaubten, dass uns dieses eher schade als tröste. Die Dabeiseinmüsser bekamen dann ihre Chance bei der Beisetzung am Nachmittag in Waldheim, an dem allerdings niemand von der Familie teilnahm. Damit handelten wir uns allerdings die Kritik der lodermäuligen Journalisten, Klatschtanten und –onkels ein, was uns aber dann mehr oder weniger egal blieb. Auf der Trauerfeier sprach Jürgen dann ein paar Abschiedsworte zu der im Sarg liegenden Anita: „Anitachen, du hast es vorausgesehen: Jetzt ist dein Papa Jürgen zu dir gekommen und du bist nicht mehr da. Aber warum nur, ... warum, ... warum? Jetzt bleibt mir nur der Abschied, warum nur warum?“. Und dann brach er in Tränen aus wobei er sich dann in Rosis Arme flüchtete. Bis zur Aufklärung, etwa 14 Tage später, blieb Jürgen mit Familie in Waldheim. Von seinem Plan sein eigenes Haus zu bewohnen nahm er Abstand und blieb stattdessen bei uns. In dieser Zeit kamen wir uns dann schrittweise auch familiär wieder so nahe, so wie wir uns alle dieses seit Jahren unter besseren Umständen gewünscht hätten. Das Geschehen während dieser Zeit könnte einen spannenden Kriminalroman füllen. Die ersten Feststellungen am Tatort und am Opfer ergaben einige außergewöhnliche Dinge: Die Leiche ist nicht versteckt worden sondern befand sich etwas abseits des Weges hinter Büschen. Der Ort entsprach solchen Örtlichkeiten, wie sie gerne von jungen Liebespaaren für ein Schäferstündchen aufgesucht werden. Alles deutet daraufhin, dass der Fundort auch der Tatort war aber Kampfspuren waren nicht feststellbar. Anita ist offensichtlich mit nur einem kräftigen, von Vorne ausgeübten Schlag auf den Schädel getötet worden. Die Verletzungen ließen auf eine Stange oder einem sonstigen geometrischen „Werkzeug“, das so nie in der Natur vorkommt, als Tatwerkzeug schließen. Die Kripo rätselte auch sehr an der Tatsache, dass selbst im weiteren Umkreis kein Kleidungsstück von Anita zufinden war. Von einem vergleichsweißen Fall hatten die Kripoleute noch nicht gehört. Es stand auch fest, dass Anita während der Tat entjungfert worden ist und es gab Anzeichen dafür, dass sie sich nach der Entjungferung nicht mehr erhoben hatte. Es war so als sei sie im Liegen erschlagen worden. Nur der tödliche Schlag kann dann unmöglich so erfolgt sein, wie dieses aufgrund der Verletzung den Anschein ergab. Ein Kriminalbeamter mutmaßte uns gegenüber: „Es sieht so aus, als wäre ihre Tochter jemanden freiwillig in dieses Versteck gefolgt und habe sich dort selbst entkleidet. Dann ... so sieht es aus – wurde sie niedergeschlagen und vergewaltigt. Der Täter ist vielleicht davon ausgegangen, dass ihre Tochter noch lebte und hat, um einen eventuellen Vorsprung zu gewinnen, ihre Kleidung mitgenommen. Er könnte angenommen und gehofft haben, dass ihre Tochter aus Scham ihn nicht direkt verfolgen würde. ... Aber wie gesagt, alles nur eine reine private Spekulation meinerseits. Es kann natürlich ganz anders gewesen sein. Und wir werden alles daransetzen, den Fall zu lösen; das verspreche ich ihnen.“. Nachdem ich einen Moment nachgedacht hatte fragte ich noch: „Nur ein Schlag? Ich habe mal gehört, dass so was nur vorkommt, wenn das Opfer an einer bestimmten exponierten Stelle, zum Beispiel an der Halsschlagader oder ziemlich oben am Hautnervenstrang, getroffen wird, also dieses eher einem Unfall gleicht, oder wenn der Schlag unheimlich kräftig ausgeführt wird. Worauf lassen denn Anitas Verletzungen schließen?“. „Das ist der springe Punkt,“, antwortete der Beamte, „es war ein sehr kräftiger Schlag. Und da liegen die Abers bei meiner Theorie. So ein Schlag kann in der Regel nur vertikal, also eigentlich nicht an einer liegenden Person, ausgeführt werden. Und wenn jemand einen solchen Schlag ausführt, dürfte er wahrscheinlich auch eine Tötungsabsicht gehabt haben, was Täter in der Regel um sicher zugehen, nachprüfen. Da ergibt dann die Mitnahme der Kleidung keinen Sinn mehr in meiner Theorie.“. Dieser kräftige Schlag sprach auch dagegen, dass der erste Verdächtige, den man ermitteln konnte, wirklich der Täter sein könne, obwohl es bei ihm möglich gewesen wäre, dass ihm Anita freiwillig ins Liebesversteck folgte und sich dort auch aus eigener Veranlassung entkleidete. Die Kripo hatte ermittelt, dass die Klasse, die Anita derzeitig besuchte, wegen Erkrankung eines Lehrers bereits ab 11:30 Uhr schulfrei hatte. Anita hatte ihre erste Liebe zu Gerald Wagner, einem Klassenkameraden, entdeckt und ist mit ihm nach dem vorzeitigen Schulschluss in Richtung des Wäldchens, in dem man sie dann später fand, spaziert. Gerald gibt an, sie seien bis zu einer Bank am Waldrand gegangen, wo sie Küsse ausgetauscht hätten. Anita habe dann Durst verspürt und sie hätten sich dann in einem kleinen Tante-EmmaLaden gegenüber ihrer Schule eine Flasche Cola kaufen und gleich trinken wollen. Als sie jedoch von der Bank in Richtung Laden aufbrechen wollten, sei eine Dame, die Anita offensichtlich kannte, über den Waldweg vorbeikommen und diese hätten sich dann unterhalten. Er habe daraufhin vorgeschlagen, dass er schnell alleine zum Colaholen aufbrechen wolle und sofort zurückkäme. Als er 10 Minuten später zurückgekommen sei, wäre die Bank leergewesen, weder Anita noch die Frau sei noch da gewesen und er habe sich richtig „schwarz“ geärgert, was bei so einer Enttäuschung auch nachvollziehbar ist.
Aufgrund von Geralds Personenbeschreibung konnte tatsächlich eine Dame, die Anita kannte, ausfindig gemacht werden. Diese bestritt aber erst an diesem Nachmittag an dem Ort gewesen zu sein. Es handelte sich um Klaudia Schimanowski, einer Mitarbeiterin des Frisörsalons Rita, bei dem auch Anita Kundin war. Nachdem man ihr vorhalten konnte, dass sie auch von anderen Zeugen zur fraglichen Zeit in der Nähe des Wäldchens gesehen worden war, gestand sie ein gelogen zu haben. Als Grund für die Lüge gab sie an, sich bei ihrer Chefin Rita Löwe krankgemeldet zu haben weil sie, obwohl sie selbst anderweitig verheiratet war, eine Verabredung mit dem Mann ihrer Arbeitgeberin gehabt habe. Das Treffen mit Anita gab sie nun zu und sagte aus, sie habe noch etwa eine Viertelstunde mit ihr auf der Bank gesessen. Da aber weder der junge Mann zurück noch ihr Freund überhaupt gekommen sei, wäre sie noch ein wenig im Wald spazieren gegangen und Anita wäre in Richtung Schule, offensichtlich um ihren Freund entgegen zugehen, gegangen. Auch Peter Löwe, der fremdgehende Gatte der Frisörmeisterin, bestritt erst mal alles und gab dann, nachdem auch er von Dritten in Tatortnähe gesehen worden war, die Verabredung zu. Er sei aber zuvor von seiner Frau aufgehalten worden und deshalb zu spät erschienen. Als er dann am Treffpunkt, also an dieser Bank, angekommen sei, habe er dort niemanden getroffen, weder seine Freundin, noch Anita, noch den jungen Mann. Brisant wurde die Sache, als die Frisörmeisterin aussagte, ihr Mann sei ein Jahr zuvor nur knapp einer Anzeige entgangen, weil er ein Verhältnis mit dem damals 15-jährigen Lehrmädchen im Frisörsalon gehabt habe. Ihr Mann stünde offensichtlich auf ganz junge Mädchen. Jetzt könnte man annehmen, dass dieses eine Racheaussage einer gehörnten Ehefrau gewesen wäre, wenn nicht das Exlehrmädchen diese Angelegenheit als wahr bestätigt hätte. Von der Statur her kam Peter Löwe, der „Fremdgänger“, für den Todesschlag eher in Frage als der schmächtige Gerald Wagner. Aber bei Gerald fand man dann aber ihn stark belastendes Material, nämlich Anitas Kleidung. In einem Plastiksack fand man diese in einer Mülltonne, die zu dem Mietshaus, in dem Gerald bei seinen Eltern wohnte, gehörte. Die komplette Kleidung war wirklich in einem einwandfreien Zustand, wie diese nur sein kann, wenn die Kleidung freiwillig abgelegt wird. Er blieb aber bei seiner ursprünglichen Aussage und gab an, nicht zu wissen, wie die Kleidung in die Mülltonne gekommen sei. Laut Kripo soll sich der Junge dabei doch bei nebensächlichen Aussagen erheblich in Widersprüche verwickelt haben. Walter Schreiber, ein Mietbewohner des Miethauses, in dem Wagners wohnten, meldete sich kurz darauf mit einer Entlastungsaussage für den Jungen bei der Polizei. Ein unbekannter Mann sei mit einem älteren Opel vorgefahren und habe die Plastiktüte in der Mülltonne entladen. Obwohl er in der Nähe gestanden habe, hätte er den Mann nicht angesprochen, da ihm seine kräftige Statur eingeschüchtert habe. Die Personenbeschreibung, die er abgab, passte auf den Mann der Frisösemeisterin, der tatsächlich auch einen älteren Kadett fuhr. Aber dieser blieb bei seiner ursprünglichen Aussage und beteuerte weiter, an diesem Nachmittag zu Fuß unterwegs gewesen zu sein. Was dann von seiner Ehefrau bestätigt wurde. Frau Löwe sagte aus, der Wagen ihres Mannes habe den ganzen Nachmittag auf dem Hof gestanden. Schreiber, der ursprüngliche Entlastungszeuge, wurde dann auf einmal selbst zum Verdächtigen. Er war den Nachbarn als Spanner, der sich auf junge Pärchen spezialisiert hatte, bekannt. Sehr häufig soll er sich im Bereich des Wäldchens, welches sehr häufig von Schülerinnen und Schülern der Gesamtschule während der Freistunden, zum Austausch von Zärtlichkeiten aufgesucht wird, aufhalten. Auch an diesem Tage ist er im Umfeld der Schule gesehen worden, was er dann letztlich eingestand. Er will allerdings Anita und Gerald an diesem Tage nicht gesehen haben und blieb auch hartnäckig bei seiner Aussage mit dem fremden Mülltonnenbestücker. Die Aussage des dritten Verdächtigten, also von Schreiber, dass er das Auto und den Mann häufig bei der Gesamtschule gesehen habe, führte dann zum möglichen Täter Nummer Vier, gegen den dann zunächst die meisten Indizien sprachen aber der es dann letztendlich auch nicht war. Rainer Schalla, ein Onkel Geralds und Manta-Liebhaber, hat ein Klempner- und Installationsgeschäft. Seine Mitarbeiter waren zu jenem Zeitpunkt mit allerlei Mängeln an der Heizungsanlage der Schule beschäftigt. Sehr oft war er selbst vor Ort; auch am Mordtag. Gerald hatte ihn, als er Cola holen wollte, getroffen als er gerade mit einem Rohr in der Hand in Richtung des Waldes unterwegs gewesen war. Die Widersprüche des Jungens bei Nebensächlichkeiten beruhten auf das Zusammentreffen mit seinem Onkel, den er sehr verehrte. Da Anita mit einem geometrischen, nicht in der Natur vorkommenden Gegenstand erschlagen worden war, verdächtigte Gerald selbst seinen Onkel – halt wegen des Rohres. Geralds Onkel gab an, er habe das Rohr, was ihm hinsichtlich Gewährleistung teuer gekommen wäre, am Waldrand auf „amerikanische Weise“ habe entsorgen wollen. Als er aber die Kripo zu dem Ort, wo er das Rohr „entsorgt“ haben will, führen sollte war dort weit und breit kein Rohr mehr zu finden. Da er, laut seinen Mitarbeitern, für die amerikanische Entsorgung über eine Dreiviertelstunde benötigte sprachen tatsächlich alle Indizien gegen ihn. Auch der Mann an der Mülltonne bei Wagners ist er gewesen. Er bestreitet aber, dass er dort eine Plastiktüte reingeworfen habe. Er habe lediglich seinen Autoaschenbecher darin entleert. Warum das gerade dort geschah, erklärte er damit, dass er im Auftrage seiner Frau etwas bei seiner Schwester, Geralds Mutter, habe abholen wollen und diese nicht angetroffen habe. Da er gerade in unmittelbarer Mülltonnennähe geparkt habe und sein Aschenbecher überzulaufen drohte, habe er ihn dort in eine der Tonnen entsorgt.
Das besagte Rohr wurde dann 3 Tage nach der Festname Schallas durch Zufall gefunden. Mitglieder des Hegerringes Waldheim, also des Jägervereines, wollten etwa 500 Meter von der Fundstelle von Anitas Leiche entfernt einen Hochstand errichten. Sie hatten an der betreffenden Stelle drei Wochen vorher schon einen Bodenaushub vorgenommen, den sie jetzt mit Laub und Unterholz verschüttet vorfanden. Beim Beseitigen des Laubes fanden sie das Rohr. Und nicht nur das, sondern auch Gegenstände aus Anitas Besitz, zum Beispiel ihren Modeschmuckarmreif, ihre Armbanduhr und ihre Schuhe sowie ihren BH. Zuvor hatte man an Anitas Kleidung, die man in der Mülltonne gefunden hatte, Bodenrückstände ermittelt, die nicht vom Fundort der Leiche stammen konnten aber mit dem Boden an der Rohrfundstelle stimmten diese hundertprozentig überein. Nun mutmaßte die Kripo, dass der Täter offensichtlich doch die Leiche verstecken wollte und erst mal alles, was sich am Tatort befand, hierher geschafft hat. Als er dann die Leiche auch zum Versteck holen wollte hatten Dritte möglicher Weise das Opfer bereits gefunden und er musste von seinem Vorhaben absehen. Die Kleidung kann er später, als Gerald Wagner verdächtigt wurde, dort wieder abgeholt haben und diese so deponiert haben, dass der arme Junge damit belastet wurde. Als die Polizei kurz darauf den wirklichen Täter ermittelt hatte, erwiesen sich diese Annahmen sogar als richtig. Es erwies sich sogar vieles mehr als richtig. Alle bisherigen Verdächtigen hatten die Wahrheit gesagt; nur die Zeugin Klaudia Schimanowski nicht. Als sie noch mal befragt wurde ob ihr nicht doch noch was aufgefallen sei, packte sie aus. Als sie mit Anita auf der Bank saß sei plötzlich ihr stark angetrunkener Mann Willi Schimanowski, der ihr wohl nachgegangen sei, mit einer Eisenstange in der Hand aufgetaucht und sie sei voller Angst ins Waldesinnere davon gelaufen. Diese Eisenstange konnte sie nicht genau beschreiben, daher wäre es nicht ausgeschlossen, dass es sich um besagtes Rohr gehandelt habe. Nach seiner Festnahme legte Willi Schimanowski dann ein Geständnis ab: Er hatte von der Verabredung seiner Frau mit dem Mann ihrer Chefin am Morgen des Tattages erfahren und er hat sich danach erst mal „Einen angesoffen“. Entlang des Waldrandes hat er sich zum Zeitpunkt der Verabredung auch zu dem Treffpunkt begeben. Er wollte die Beiden zur Rede stellen. Am Waldrand beobachtete er dann Rainer Schalla bei der Entsorgung des Rohres, was er dann an sich nahm, um dann damit seine Frau und deren Liebhaber zu erschlagen. An der Bank angekommen traf er dort nicht nur seine Frau, die sofort weglief, sondern bei ihr auch Anita. Er hat dann das um Hilfe schreiende Mädchen in den Schwitzkasten genommen und zum Tatort verschleppt. Mit dem, über dem Mädchen erhobenen Rohr, hat er sie bedroht, damit sie nicht mehr schreie und sich auskleide. Voller Angst tat das Mädchen alles was der Kerl wollte, bis zu dem Zeitpunkt, wo sie sich zur Vergewaltigung hinlegen sollte. Da hat er zugeschlagen und sein sexbestialisches Vorhaben ausgeführt. Erst nach seinem Orgasmus will er bemerkt haben, dass das Mädchen bereits tot war. Schimanowski wäre selbst gern Jäger aber er konnte sich dieses Hobby aus finanziellen Gründen nicht leisten. Das hinderte ihm aber nicht, nach dem er sich in der Kneipe aufgedrängt hatte, an diversen Aktivitäten des Hegerrings teilzunehmen und so war er auch dabei, als der Aushub für den Hochstand vorgenommen wurde. In den Aushub wollte er die Leiche und deren Sachen vorübergehend verstecken und am nächsten Tag wollte er dann alles in ein endgültiges Versteck bringen. Zunächst deponierte er alle Sachen im Aushub und danach wollte er dann auch das tote Mädchen an diesen Ort holen. Als er zum Tatort zurückkam stand Peter Löwe, der „versetzte“ Liebhaber, vor dem Gebüsch hinter dem Anita lag. Schimanowski hat ihn aber in diesem Moment nicht erkannt und hat sich zur Sicherheit erst mal ein Wenig ins Waldesinnere zurückgezogen. Er legte sich auf den Waldboden und wollte einen Moment abwarten. In Folge seiner Trunkenheit ist er dabei aber eingeschlafen. Als er dann nach dem Wiedererwachen am Tatort seine „Arbeit“ fortsetzen wollte war die Polizei inzwischen vor Ort. Er hat sich daraufhin in entgegengesetzter durch den Wald davon gemacht. Als bekannt wurde das man den Jungen, Gerald Wagner, verdächtigte machte er dessen Anschrift ausfindig und ging mit einer Plastiktüte bewaffnet zum Hochstandaushub. Er packte Anitas Kleidung in die Tüte und stellte diese neben den Mülltonnen bei Wagners Wohnung ab. Sie sollten gefunden werden. Seine fixe Idee war es, dass man damit den Jungen überführe und dann keine weiteren Ermittlungen anstellte. Irgendein ordnungsliebender Mensch muss dann die Tüte von vor der Tonne in diese befördert haben. Damit war der Fall aufgeklärt, aber Jürgen und mir kam die Sache dann wie ein billiger Krimi vor, denn es gab aus unserer Sicht eine Menge Ungereimtheiten. Warum hat Frau Schimanowski anschließend keine Hilfe geholt? Dieses wäre ja noch damit zu erklären, dass sie ja ursprünglich nur davon ausgehen konnte, ihr Mann habe es nur auf sie abgesehen. Aber warum hat sie am nächsten Tag, als auch ihr bekannt war was geschehen war, nicht ausgepackt sondern im Gegenteil noch versucht eine falsche Spur in Richtung des unschuldigen Jungens zu legen? Da bleibt doch glatt der Verdacht, dass die Frau auch irgendeinen „Dreck am Stecken“ hatte. Ermitteln kann man gegen sie allerdings nicht mehr, da die süchtige Frau sich in der Nacht nach der Festnahme ihres Mannes einen „goldenen Schuss“ verpasste. Die Polizei will unmittelbar nach Auffinden der Leiche die Tatortumgebung, insbesondere wegen der fehlenden Kleidung, abgesucht haben, aber warum ist man da nicht auf das tatsächliche Versteck der Kleidung und des Tatwerkzeuges gestoßen? Wie ist es möglich, dass niemand Schimanowski gesehen und bemerkt hat – noch am Tattag und -ort, noch beim Abstellen der Plastiktüte an den Mülltonnen bei Wagners Wohnung? Fragen über Fragen. Aber was soll es, davon wird unsere Anita auch nicht wieder lebendig. Einer, der in diesen Kriminalfall verwickelten Personen kostete die Geschichte allerdings die Existenz. Der Klempner und Installateur Rainer Schalla wurde hinsichtlich Gewährleistung und Gutachten, die im Zusammenhang mit den
Mängeln an seinen Gewerken standen und durch den Fall ruchbar wurden, kräftig zur Kasse gebeten. Da jetzt alles auch öffentlich bekannt war, folgten der Geschichte Stornos und Auftragsrückgänge, was ihn letztlich in die Insolvenz trieb. Dabei war das Ganze mehr oder weniger banal und kommt beim Bau in den besten Familien vor. Nach Aufnahme des Schulbetriebes wurde festgestellt, das die Heizkörper laufend entlüftet werden mussten und der Heizkessel täglich einer Nachfüllung bedurfte. Irgendwo im Heizsystem musste Wasser austreten. Und diese Stelle wurden dann in den letzten drei Wochen vor der Tat gesucht. Ausgerechnet am Tattag fand man die Stelle. Unterhalb eines überdachten Ganges zwischen dem Hauptgebäude und einem kleineren Nebengebäude, in dem sich Musikraum, Bibliothek sowie eine kleine Aula befanden, verliefen Heizungsleitungen. In den letzten Tagen der Installationsarbeiten am Neubau – es war schon Pönale fällig – fehlte zum Glück nur ein kleines Stück Rohr. Vermeintlich clever, setzte Schalla hier ein Bleirohr, dass er zufällig von einer gleichzeitig ausgeführten Althaussanierung im Wagen liegen hatte, ein. Das Rohrleitungssystem bestand ansonsten aus Kunststopfrohren. An dieser Stelle trat nun das Wasser aus und suchte sich durch den Betonboden den Weg ins Erdreich. Schalla erfasste am Tag des Mordes die für ihn „schlimme“ Situation sofort und er wollte das Bleirohr am Waldrand verschwinden lassen. Jetzt kann natürlich niemand sagen, ob Anita noch am Leben wäre wenn das Rohr nicht am Waldrand gelegen hätte, aber das wir, die betroffene Familie, von dieser Annahme ausgingen, wird wohl jeder verstehen. So ist es auch nachvollziehbar, dass wir uns ursprünglich über Schallas Pleite sogar gefreut haben. Schimanowski wurde nie verurteilt. Als der alkoholkranke Mann in die U-Haft eingeliefert wurde war seine Leber bereits stark ramponiert. Zwei Wochen nach seiner Festnahme wurde er in ein Gefängniskrankenhaus verlegt, in dem er weitere zwei Wochen später verstarb. Wir haben gehört, dass er schwer gelitten habe. Humanisten und Christen mögen jetzt vielleicht Mordtrio schreien, wenn ich jetzt schreibe, dass wir das Leiden und den Tod des Mannes mit großer Genugtuung gefeiert haben. Aber wer kann sich in einem solchen Fall schon von satanischer Rache freisprechen? Wenn wir über den großen Teich blicken, sehen wir, das unmenschliche Rachegelüste sogar gesellschaftsfähig sind. Da tanzen Leute, wenn ein Todesurteil gesprochen wurde, besessen auf der Straße Freudentänze. Aber „Kopf ab“, wie es auch nach den Mord an Anita in Waldheim gefordert wurde, hat noch kein Verbrechen verhindert aber schon vielen unschuldig Verurteilten, das Leben gekostet. Zum Kapitel 12
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Als wäre es immer so gewesen Damals, im Juli 1983, war ich erstmalig nach über einem Jahrzehnt wieder mit meinem „großen“ Bruder unter einem Dach. Zum ersten Mal lernte ich meine Schwägerin Carmen, die ich zuvor ja nur einmal auf einen Flug nach Barcelona gesehen habe, mit dem inzwischen auch schon 5-jährigen Salvador, kennen. Unser 12-jährige Hendrik erlebte zum ersten Mal seinen Onkel, also den Mann der mal der Gatte seiner Mutter und der Vater seiner ermordeten Schwester war. Rosi war nun auch erstmalig seit Jürgen damals im Jahre 1970 im Krankrenhaus lag wieder mit ihrem Exmann in der gleichen Wohnung. Es war schon zunächst eine sonderbare Atmosphäre, man könnte fast beklemmende sagen. Immer wieder standen wir vor der Frage, wie machen wir es jetzt denn und kamen immer wieder zu dem Schluss, dass wir es so machen sollten als wäre nichts gewesen, als wäre es immer so gewesen. Wir Drei, Rosi, Jürgen und ich, die wir schon vor über einem Jahrzehnt mal zusammen waren, hatten uns verändert, was natürlich der jeweiligen anderen Seite auffiel. Der Einzelne nimmt Veränderungen an sich selbst eigentlich nur in spektakulären Fällen wahr, ansonsten geht man in seiner Selbsteinschätzung immer davon aus, dass man von jeher so war wie man jetzt ist. So bin ich bezüglich der an mir abgelaufenen Entwicklungen auf Jürgens Urteil angewiesen. Er sagte mal bei einer Gelegenheit, dass meine Erfolge bei den Damen und in der Firma damals als ich noch ein junger Mann war, auf meiner menschlich überzeugenden Art beruhten. Irgendwie hätte ich alle Leute mit einer Art überzeugenden Optimismus mitgerissen. Und so wäre ich eigentlich immer ein Abbild unseres Vaters gewesen. Aber ich hätte das, was früher offenbar eine natürliche Wesensart dargestellt hätte, zu einer Art Technik kultiviert. Was früher spontan wirkte käme jetzt grundsätzlich so rüber als sei es wohlüberlegt. Ich wäre viel diplomatischer und moderater geworden aber gleichzeitig erwecke ich den Eindruck, dass ich das, was ich mir vorgenommen habe auch durchsetzen würde; also nicht nur wolle sondern auch durchsetze. Aus einem hemdsärmeligen mitwirkenden Kleinunternehmer wäre ein steuernder Geschäftsmann, der viel Wert darauf legt, nach Außen sympathisch zu erscheinen, geworden. Er fasste es so zusammen: „Du bist der Typ, der jemanden den er entlässt, die Vorteile nicht mehr zum Dienst erscheinen zu müssen verkauft. ‚Verkauft’ sogar in dem Sinne, dass er noch Geld dafür nimmt.“. Aber auch er hatte sich weiter entwickelt und in vielen Punkten trieb er die eigene Entwicklung durch Studium und Training voran. Er wusste, das man aus der Körpersprache eines Menschen mehr erfahren kann als aus seinen Worten. Wenn sich zum Beispiel jemand bei Gesprächen oder Statements gelegentlich an die Nase fast, ist das in der Regel ein Zeichen dafür, dass er nicht von seinen Worten überzeugt ist. Oder wenn die Finger den Trend in Richtung Faust zeigen, belegt dieses, dass dem Menschen die Argumente ausgegangen sind und er jetzt mit dem Kopf durch die Wand will; er versetzt sich in gewalttätige Kampfbereitschaft. Ein anderes Beispiel finden wir im Hängen lassen der Arme. Sie verraten ein Schuldbewusstsein, also denjenigen dem bewusst ist, dass er sich auf dem falschen Dampfer befindet. Wenn man dieses weis und bei Verhandlungen seinen Gegenüber darauf abtaste hat man gewonnen. Im Umkehrschluss darf man sich aber nicht selbst verraten. Jürgen hatte sich ein fast körperschrachenloses Auftreten antrainiert. Immer nur eine korrekte Haltung. Die auf Unbeweglichkeit trainierten Augen richtet er starr auf seine Gesprächspartner oder, wenn er ihnen dokumentieren will, dass deren Argumente von ihm nicht für voll genommen werden, in eine Raumecke. Auf Kleidung legte er einen überzogenen Wert. Er wirkte in seinen „Uniformen“ pingelig und akribisch. Er war halt der Toppmanager geworden, an dem offensichtlich kein Weg vorbeiführte. Obwohl wir im Auftreten, das wir uns im Geschäft zugelegt und im Privaten nicht abstreifen konnten, so unterschiedlich, fast gegensätzlich, erschienen waren wir uns aber nach Rosis Feststellungen in Ansichten und im Wesen ähnlicher wie je zuvor geworden. Wir wären zu einem Ei wie das andere geworden. Fast könnte man den Eindruck haben, dass wir jederzeit austauschbar wären. Unser unterschiedliches Auftreten würde zwar unsere Gegenüber verwirren, aber im Ergebnis wäre es gleich ob Jürgen oder Walter erscheint. In einem stillen Stündchen dachte ich mal darüber nach, ob dieses nicht bei fast allen Wirtschaftslenkern und Politikern der Fall sei. Kann man nicht Politiker und Manager beliebig austauschen und kommt immer zum selben Ergebnis. Liegt das vielleicht daran, dass man in solchen Positionen mehr und mehr abstraktes Denken durch rationelle Analysen austauscht, dass man emotionale Spontanentscheidungen durch geplante Sachentscheidungen ersetzt. Wenn das wirklich der Fall ist, dürften die Toppleute von heute kaum einen Platz in den Geschichtsbüchern der Zukunft finden, auch wenn viele davon träumen, denn dort findet man nur diejenigen, die auf neuen Wegen etwas radikal umgekrempelt haben. Und Letzteres setzt das, dass, was den Menschen immer vom ultimativen Superhypercomputer unterscheiden wird, voraus: Abstraktes Denken. Was heute alle sagen, kann morgen dazuführen, dass man in künftigen Jahrzehnten unsere Zeit belächelt. Dagegen kann der Querdenker, der heute allein mit seinen Ansichten steht, derjenige sein, den man bewundert. Als Beispiele nenne ich nur Galliäus, Huss, Luther, Calvin, Kolumbus, Ghandi und viele, viele andere; allen die in den Geschichtsbücher als groß bezeichnet werden, gleichgültig ob Politiker, Wissenschaftler, Forscher oder Entdecker. Sie alle behaupten in ihrer Zeit das absolute Gegenteil von dem was alle für unumstößlich hielten, hier insbesondere der einstimmige Chor der damaligen Wissenschaftler. Also die Leute, die zu ihrer Zeit als Spinner abgetan wurden. Wir kennen sie heute, weil sie die Alleinigen waren, die offensichtlich recht hatten, zumindestens mehr recht wie alle anderen. Ich kann es jetzt mal kurz fassen: Sowohl Jürgen wie ich hatten das Zeug zum populistischeren Helden erworben aber zur großen Persönlichkeit hatten wir nicht das Zeug. Wir waren zum modernen Toppmanager aber nicht zur innovativen Persönlichkeit geboren. Eine Persönlichkeit kann man nicht austauschen oder ersetzen, aber Manager
und Politiker von der einen auf die andere Stunde, sie marschieren ja ohnehin alle in die gleiche Richtung. Die einzigsten Unterschiede bei denen sind die Worte, mit denen sie die jeweilige Hammelherde hinter sich scharen wollen. Nach diesem Ausflug ins Allgemeine aber wieder zurück zur Heuerfamilie in Waldheim. Da gab es nun auch „meine“ Rosi. Auch sie hatte sich nach Jürgens Feststellung in den letzten 12 Jahren wesentlich geändert. Sie war ziel- und selbstbewusster geworden. Ihre Eigenart typisch weibliche Formen und Rundungen zu betonen und auszuspielen hat sie weiterentwickelt und weiter kultiviert. Jetzt konnte sie eine begehrenswerte aber zugleich unerreichbare Ausstrahlung erzielen. Man könnte es mit den Worten beschreiben, dass sie dokumentierte, dass es so was Heißes, an dem man sich aber die Finger fürchterlich verbrennen kann, gibt. Unter vier Augen sagte mir Jürgen mal, dass er damit bei unserem Wiederzusammentreffen die meisten Schwierigkeiten gehabt hätte. Am Liebsten hätte er ihr gesagt: „Komm Schatz, vergessen wir die letzten 12 Jahre und gehen in unser ‚Ehebett’.“. In dem Moment wo er ihr wieder gegenübergestanden habe sei bei ihm die alte Liebe schlimmer als je zuvor wieder neu entbrannt. Dem konnte er nur mit Vernunft gegensteuern. Erstens befand er sich in einer unabwendbaren Abhängigkeit zu seinem Schwiegervater und andererseits hätte er seinen Traum von einer brüderlichen Gemeinsamkeit, von der er sich geschäftlich wie privat überaus viel versprach, für immer begraben können. Jürgen war also auf gefährliches Glatteis geraten, was später .... Stopp, Vorgreifen bringt der werten Leserschaft nichts. Für Jürgen muss unsere damalige wiedervereinte Zeit besonders schwer gewesen sein, denn was Carmen, seine Frau, anbelangte kam er nun wirklich nicht auf seine Kosten. Ich habe ja schon mal geschrieben, dass meine Schwägerin in keiner Weise hässlich oder abstoßend war und auch ein gewisser exotischer Reiz von ihr ausging. Aber das war auch alles was in dieser Richtung erwähnenswert wäre. Ansonsten war sie ganz Musterdame, ganz das Produkt einer Höherentöchterschule. Sie bewegte sich sehr fein nach der Choreografie ihres Schickimickiinternats und sprach gewählt und kultiviert. Eine lockere Plauderei mit ihr war fast nicht möglich. Nirgendwo brachte sie sich selbst ein und ihre Ansichten waren, so wie es ihr von ihrem Vater vorgeben war, konform des Ticks der sogenannten feinen Gesellschaft. Getrennte Schlafzimmer, so wie sie Jürgen und Carmen in ihrem schwäbischen Heim hatten, waren bei einer Frau wie bei meiner Schwägerin weder positiv noch negativ zu bewerten. Im Bett kam es sowieso nur zu gelegentlichen Übungen in der sogenannten Missionarsstellung. Woher ich diese Dinge aus dem Intimbereich kenne erfahren wir später – immer nur schön abwarten. Trotz dieses, fast klösterlichen Ehelebens drohte Jürgen für den Fall eines Seitensprunges das Aus. Glücklich war Carmen dabei keineswegs, wie dieses wohl an ihrem Alkoholismus, der mir schon in den ersten Tagen auffiel, zu sehen war. Sie ließ keine Gelegenheit für einen mit feiner Gestik ausgeführten Drink, meist Weinbrand, aus. Rosi, die mangels Personal, zu dem wir uns bis dato noch nicht entschieden hatten, die Einkäufe immer noch selbst tätigte, hat in den drei Wochen, wo Jürgens Familie anlässlich des Mordes an Anita erstmalig bei uns waren, mehr Weinbrand gekauft, wie, trotz gelegentlicher Empfänge, zuvor im ganzen Jahr. Man merkte meiner Schwägerin, wenn sie reichlich getrunken hatte, aber nichts an. Offensichtlich beruht Standfestigkeit doch auf kontinuierlichem Training. Als einzigste Aufgabe in ihrem Leben sah sie wohl in ihrem Sohn Salvador. Der wurde von ihr gehätschelt und gepäppelt. Und das merkte man dem Jungen auch absolut an. Er war total auf seine Mutter fixiert. Wenn sie nach einem Toilettengang nicht innerhalb von fünf Minuten wieder im Raum war, steigerte sich bei Salvador die Tränenbereitschaft. Hendrik war erst sehr stolz darauf einen so kleinen Vetter zu haben und buhlte um dessen Gunst. Er fand aber bei Salvador nur Beachtung, wenn dem Kleinen von seiner Mutter ausdrücklich angewiesen wurde mit seinem Cousin zu spielen. Ausbildungsmäßig wirkte mein kleiner Neffe aber seinen Altersgenossen weit voraus. Er operierte mit einem Wissenstand, den man eigentlich erst von Kindern im dritten oder vierten Schuljahr erwartet. Fast alle Leute, die mal mit Salvador zu schaffen hatten, sagten immer übereinstimmend: „Oh, wie ist der intelligent.“. Mit Intelligenz hatte dieses aber laut meiner Beurteilung nichts zutun sondern das war das Ergebnis des Schulungsdrill durch seine Mutter. Nachträglich gesehen behaupte ich, dass es dem Kleinen doch erheblich geschädigt hat. Dadurch, dass er auf einen kleinen Erwachsenen getrimmt wurde, blieben andere wichtige Entwicklungen auf der Strecke. Seine Schwächlichkeit und sein Kränkeln hing wahrscheinlich genauso damit zusammen wie seine Unfähigkeit sich sicher im unbekannten sozialen Umfeld zu orientieren. In der ersten Woche als sie bei uns waren, wich er praktisch nicht weiter als gerade mal 10 Zentimeter von der Seite Carmens. Wo ich jetzt alle in unserer Familie beschrieben habe fehlt nur noch Hendrik. Bis zu dem tragischen Ereignis mit seiner Schwester hätte ich ihn einfach als ganz normalen, altersgemäß entwickelten, intelligenten Jungen beschrieben. Er hing sehr an seiner Schwester obwohl kein Tag verging, wo die sich nicht mal heftig zankten. Da Jungens etwas später von den Auswirkungen der Pubertät erfasst werden als Mädchen und er ohnehin zwei Jahre jünger wie Anita war, hatte sich bei ihm im Gegensatz zu seiner Schwester noch keine Hinwendung zum anderen Geschlecht gezeigt. Der Tod Anitas hat ihn fürchterlich getroffen und eine Wesensänderung vollzog sich in dieser Zeit bei ihm nachvollziehbarer als bei jedem anderen. Damals entwickelten sich bei ihm schlagartig die Eigenarten, die heute seine Persönlichkeit ausmachen. Wenn ich diese mit den Meinigen oder der der anderen Familienmitgliedern vergleiche, finde ich seine Arten am ehesten bei unserer Mutter wieder. Auch von Rosis Art unterschied er sich deutlich. Wie kein anderer in der Familie nahm er nichts kritiklos hin. Er war der einzigste, der Erfolg nicht als absoluten Maßstab wertete sondern stets hinterfragte was es für seine persönliche Interessen bedeute. Um die Art, wie er Missgeschicke und Misserfolge wegstecken konnte, habe ich ihn oft beneidet. Bei einer Panne oder bei einem Rückschlag zuckte er mit den Achseln
und wandte sich dem Weitergehen zu. Eine Schuldfrage stellte er nie und seine Ursachenforschung hatte immer das Ziel künftig Gleiches oder Ähnliches zu vermeiden. Man könnte jetzt annehmen, das dramatische Geschehen hätte ihn hart gemacht und das eben Beschriebene beruhe darauf. So war es aber nicht. Mehr wie alle anderen Heuers konnte er sich seinen Mitmenschen zuwenden. Er konnte zuhören und sich in Andere versetzen. Es gab jedoch eine Zeit, wo ich diese Eigenart gar nicht so gern sah, da ich so etwas eher für die Qualifikation zum Priester aber nicht zum Geschäftsmann, der er nach meinen Vorstellungen eigentlich werden sollte, hielt. Nun brauche ich eigentlich nicht erwähnen, dass die ersten 14 Tage unseres neuerlichen Beisammenseins beherrscht wurden von dem Mordfall, den ich im vorhergehenden Kapitel ausführlich beschrieben habe. Trauer, Wut, Verzweifelung und Rache waren die Empfindungen die uns wechselweise und in allen möglichen Kombinationen erund ausfüllten. Aber mit jedem Tag der verging vergrößerte sich auch wieder der Platz, den wir für die Dinge des weitergehenden Lebens benötigten. In der dritten Woche wurde der wiederkehrende Alltag dann sogar dominierender in unserer Runde. Eine großen Raum nahm zunächst die Aufarbeitung unserer getrennt verlaufenen Vergangenheit ein. „Aufarbeitung“ ist vielleicht das falsche Wort, denn wir setzten uns eigentlich im Wesentlichen nur davon in Kenntnis was von dem, was die andere Seite nicht wissen konnte, gelaufen war. Dabei brachte ich dann in Erfahrung, dass sich Jürgen damals nach unserer Auseinandersetzung „Geld oder Liebe“ gefragt hat und sich dann für Geld entschieden hatte. Unter der Frage „Was bringt es mir“ verstand er nicht mehr das, was es seiner Person, seinen Vorlieben und Neigung bringt, sondern „nur“ die Summe, die seine Konten zahlenmäßig nach oben bewegten. Ihm machte es nicht mehr aus sich selbst als ein Schwein zu empfinden wenn das was er unternahm mit dem richtigen Geldwert dotiert war. Kurz: Er war seiner Zeit etwas voraus gewesen und hatte bereits in den 70er-Jahren die Veränderung vollzogen, die in der Ära Kohl gesellschaftliches Gut wurde. Er fuhr also den neoliberalen Kurs, dem Wohlstand über Wohlempfinden, dem der Standort über den Lebensraum geht. Was mir heute paradox erscheint, ist dass die Konservativen mit dem vorangestellten hohen C den Sozialismus aus dem Grunde, dass dieser die Gesellschaft über das Individuum, über den Menschen der Krone der Schöpfung, stellt und selbst stellen sie in einem wesentlich brutaleren Maße die Wirtschaft über die Einzelinteressen. Aber irgendwie liegt bei logischer Überlegung so der Unterschied zwischen den Ideologien nur in den Worten; für den betroffenen Benachteiligten dürfte das eine wie das andere aufs Gleiche hinauslaufen. Nur für die möglichen Profiteuere der einen oder anderen Richtung kann der Kampf der Ideologien wichtig sein. Aber diesbezüglich hat der Liberalismus einen Wettbewerbsvorteil, denn im Kampf ums Goldene Kalb kann, zwar nur rein theoretisch, jeder mal auf der Siegerseite sein – und wenn’s ein Lottogewinn möglich macht. Was das Gängeln des Einzelnen durch die Apparatschicks im Sozialismus anbelangt steht dem die Gängelung durch die Wirtschaft in keiner Weise nach. Ganz klar, normalerweise sollen Staat und Gesellschaft den Menschen dienen und Sozialisten sehen das umgekehrt. Auf den Liberalismus übertragen müsste es heißen, dass nicht die Wirtschaft für den Menschen da ist sondern der Einzelne dieser zu dienen habe – und wer das nicht einsieht ist halt ein Faulenzer. Ich habe soeben von Jürgen geschrieben und müsste mir jetzt wie der Pharisäer, der mit seinen ungewaschenen Finger auf andere zeigt und selbst nicht besser ist, vorkommen. Zu jener Zeit verband mich mit Jürgen nicht nur ein brüderliches sondern auch ein ideologisches Band. Ich war nur einen anderen Weg gegangen aber seiner brachte in Mark und Pfennig „ein Wenig“ mehr. Und nur das schien mir damals zu zählen. Aus diesem Grunde ließ ich durchblicken, dass ich nicht abgeneigt sei mit Sack und Pack ins di-Stefano-Imperium zum kräftigen Mitabsahnen einzusteigen. Dieses war für mich insbesondere dadurch interessant geworden als ich von meinem Bruder erfuhr, was sich alles Lukratives unter dem großen Mantel EuroTrans befand. Von einer Armaturenfabrik über Brauereien, Immobilien, Presseunternehmen bis zu zwei Zahnkliniken für Riesengeldhaufenbesitzer war alles was Geld bringt im Firmengeflecht di Stefano zufinden; da passt ohne große Überlegung auch noch ein Touristikunternehmen, dass ich zum Einstand mitbringen könnte, ganz gut rein. Diesbezüglich wurde ich dann von „unserem Großen“ auch noch schön angeheizt, wenn auch aus einem anderen strategischen Grund: Wenn ich die Heuer Bustouristik so teuer wie möglich an die EuroTrans veräußere und für das Unternehmen Aktien in Zahlung nehme, bekomme ich in der Aktiengesellschaft auch entsprechende Stimmanteile. Im Schulterschluss mit Jürgen haben dann die Heuers so viel Einfluss im Imperium, dass kein Geldstrom an uns vorbeifließen kann. Ausstechen könnten wir den kapitalmäßig übergewichtigen di Stefano aber erst nach seinem Tode und auch nur dann, wenn wir die versoffene und prüde Carmen, wie mir Jürgen damals sogar wörtlich sagte, im Hause und bei Laune halten. Deshalb habe er ja damals den Deal, sprich den Brautkauf, mit dem Alten gemacht. Nach den beschriebenen drei Wochen war ich mir mit meinem Bruder wieder so einig, als wäre niemals etwas zwischen uns gewesen. Innerhalb dieser drei Wochen, am 15.7., hatte Carmen ihren 32 Geburtstag, der aus Pietätgründen natürlich nicht gefeiert wurde. Laut Carmens und Jürgens Plan sollte die Feier in Abstimmung mit Alberto di Stefano am 6. August in Barcelona nachgeholt werden. Wir wurden dazu eingeladen und diese Einladung sollte laut Jürgen dazu genutzt werden mich beim Boss des Imperiums und der Familie di Stefano einzuführen. In zwei Vieraugengesprächen bekam ich von Jürgen Instruktionen was ich bei Don Alberto meiden sollte und womit ich ihn einwickeln könnte. Laut Jürgen sei alles was mit Meinungen und Standpunkten hat zu meiden. Di Stefano habe seine eigen politischen und religiösen Auffassungen, die er zu Dogmen erhoben habe, da dulde er keine Widersprüche. Also gilt es bei Weltanschauungsangelegenheiten selbst nichts zu sagen; ausschließlich bei direkter Befragung sei die Bestätigung von
di Stefanos Ansichten zulässig. Dagegen kann man mit weise klingendem Gerede über Geld, Börse oder Märkten bei ihm das erreichen, was man bei normalen Menschen Herz nennt. Man ist sich seiner absoluten Aufmerksamkeit sicher, wenn man, nachdem man zuvor allgemein über Marktchancen gefaselt hat, glaubhaft andeutet dass man dort was Profitables anzapfen will. Wenn er dann Näheres wissen will, muss man ihm dieses verweigern und ihm in Aussicht stellen, dass er die Information bestenfalls auf sein Risiko teuer kaufen kann. Dann hat man bei ihm gewonnen, dann wird man von ihm für ein Manager von Welt gehalten. Besonders wichtig sei, dass sich Rosi absolut zurücknehme und sich nur mit den anderen „spinnenden“ Damen unterhalte. Immer im Kreis herum, nie die Gesprächsführung übernehmen; das könne danach aussehen, dass die Frau „glaube“ was zu sagen zu haben. Don Alberto selbst interessiert sich nicht für anwesende Frauen, beobachtet jedoch genau wie sich die Damen seiner Gäste verhalten. Am besten würde sich Rosi dicht an Carmen halten. Seine Haltung gegenüber Frauen begründet di Stefano mit der Genesis, nach der nur der Mann Mensch sei und das Weib ihm zu dienen habe. Meine Frage, ob es nicht an der Zeit sei diesen bonierten Affen mit seinen mittelalterlichen Ansichten mal kaltzustellen, antwortete mir Jürgen: „Na Kleiner, so einfach ist das nicht, der Kerl ist zu mächtig. Aber eines zu deinem Trost: Alberto ist nur ein Mann fürs Große, Kleinvieh interessiert ihn nicht. Das heißt, dass du, wenn du von ihm dein Räppelchen bekommen hast, hinter seinem Rücken damit rappeln kannst; so oft, so lange und wie du willst. Außerdem kann die Type auch nicht ewig leben und dann habe ich die Katze namens Carmen im Sack.“. So flogen wir also zu Zweit, Hendrik wollten wir dieses erst mal ersparen und ließen ihn deshalb bei einem Freund übernachten, am Samstag, den 6. August 1983, mit gemischten Gefühlen nach Barcelona. Bereits für den nächsten Mittag hatten wir den Rückflug gebucht. Normalerweise hätten wir uns gerne ein paar Tage in der schönen katalanischen Hauptstadt aufgehalten aber wenn es bei di Stefano nur halbwegs so abläuft, wie es uns Jürgen geschildert hat, sind wir doch lieber fernab in unserem kleinen Waldheim. Na ja, Jürgen hatte nicht übertrieben und es lief eine Audienz bei König Alberto zu Ehren von Prinzessin Carmen ab, die hinsichtlich Etikette jedem verknöchertem Adelshaus zu Ehre gereicht hätte. Mit Empfängen, wie ich sie bisher kannte, hatte das Ganze nichts zutun. Aber hinsichtlich meines Zieles war ich erfolgreich. Ich erzählte ihm etwas vom Devisenhunger der Ostblockstaaten und von Gewinnspannen beim Kompensationshandel. Damit trug ich natürlich Eulen nach Athen, denn das wusste er natürlich selbst. Dann ließ ich durchblicken, dass ich über meine frühen Tourismusaktivitäten in der Sowjetunion über beste Kontakte verfüge und derzeitig von östlicher Seite hinsichtlich einiger westlicher Produkte, die sogar vollkommen legal gehandelt werden könnten, bedrängt würde und die Sowjets mich dafür mit Krimsekt, echten Kaviar oder anderen begehrten Dinge totschießen wollten. So bald ich mit der Organisation der Absatzwege in Westeuropa durch wäre, hätte ich den Tanker im Trockendock. Da habe ich eigentlich noch nicht mal gelogen, nur das Projekt war bei mir nicht heiß, weil mir damals für den Aufbau einer notwendigen Logistik für eine solche Unternehmung das Kapital fehlte. Aber Don Alberto hatte ich neugierig gemacht und er wollte mehr wissen, worauf ich ihm keck antwortete: „Entschuldigung verehrtester Herr di Stefano, ich gebe grundsätzlich keine Tipps ... gleichgültig wer mich darum bitte. Der Verkauf ist denkbar, aber dann, dass werden sie sicherlich verstehen, muss die Marge stimmen.“. Don Alberto hatte verstanden. In den folgenden zwei Monaten hatte ich noch drei Kontakte mit dem großen di Stefano und dann verkaufte ich überteuert 74,9% der Heuer Bustouristik als EuroTours GmbH an die EuroTrans AG und di Stefano begründete ein Kompensationshandelsgeschäft an dem ich mit 35%, ohne das ich eine Einlage eingebracht hatte, beteiligt wurde. Bei der Touristik blieb ich und bei der Kompensation wurde ich Geschäftsführer und außerdem konnte ich im Aufsichtsrat der EuroTrans Platz nehmen. Mit einem Schlag hatte ich mit meinem Bruder fast gleichgezogen. Ab diesem Zeitpunkt operierten Jürgen und ich in nie da gewesener Einigkeit. Wir bauten zwar unsere Machtposition im di-Stefano-Imperium nicht aus aber beim Erschließen immer neuer Geldquellen am Fiskus vorbei waren wir emsig. In letzterer Angelegenheit war uns das international operierende und stark verschachtelte Unternehmen sehr nützlich, denn da blickt kein Fiskalritter durch und ihm bleibt nichts anderes als uns halt zu glauben. Durch den geschäftlichen Schulterschluss rückten wir dann auch wieder familiär näher zusammen. So einmal im Monat waren wir dann entweder in Schwaben oder hier in Waldheim beieinander. Im Herbst 1984 waren wir für ein paar Tage gemeinsam in Florida und im Sommer 85 unternahmen wir Brüder eine gemeinsame Geschäftsreise nach Hongkong und Japan, während unsere Frauen sich mit den Kindern auf einen di Stefano gehörenden Landsitz in Andalusien erholten. Für den Sommer 1986 hatten wir einen gemeinsamen Urlaub in Skandinavien geplant, der dann ... Ach, warten wir es ab. Auf jeden Fall konnten wir in jener Zeit von guten harmonischen Familienverhältnissen sprechen, die uns letztendlich so vorkamen, als wäre es immer so gewesen. Eine Wandlung gab es dann doch noch. Obwohl Rosi und Carmen vollkommen unterschiedliche Personen waren bauten die beiden eine echte Freundschaft zueinander auf. In Folge dieser Beziehung taute Carmen auch ein Wenig auf. Sie wurde etwas lockerer und sie lernte auch das Plaudern. Aber ganz über ihren Schatten springen konnte sie natürlich nicht, sie blieb immer di Stefanos sittenstreng erzogene Tochter mit den Werten, die ich seit dem Ende des Mittelalters für abgeschafft hielt. Das war dann auch der Grund, dass wir, in Rücksprache mit Jürgen, bis auf wenige Ausnahmen die Familie meines Bruders nicht zu gesellschaftlichen Anlässen einluden. Bei uns gab es natürlich keinen Saus und Braus und keine Orgien, wie man jetzt glauben könnte, aber allein die lockeren Redensarten wenn zum gemütlichen
Teil, den man im Hause Alberto di Stefano offensichtlich überhaupt nicht kannte, übergangen wurde hätten vielleicht das Weltbild unserer feinen Dame ins Wanken gebracht. Und wenn dann noch, was hin und wieder auch mal vorkam, Oben Ohne im Pool geplanscht worden wäre, hätten wir glatt beim Herrn des Imperiums zum Rapport erscheinen müssen. Zum Kapitel 13
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Wenn Engel vom Himmel fallen Ostern 1986 hatten Rosi und ich uns vorgenommen in Memorain zu unserem ehemaligen jungen Eheglück mal richtig zu turteln. Dem Kalender entsprechend wollten wir auch ein Wenig Osterhäschen spielen; ich wollte ein richtiger Rammelmann sein. Unser Vorhaben wurde geboren als wir feststellten, dass wir erstmalig seit langer Zeit eine „sturmfreie Bude“ haben würden und wir höchstwahrscheinlich darin auch nicht gestört würden. Hendrik war mit den St.-Georgs-Pfadfindern, bei denen er vor einem Jahr mit Begeisterung eingestiegen war, hiken. Ich wusste zwar nicht, was das war, aber er war in einem geordneten Umkreis mal ein paar Tage aus dem Haus. Die Familie meines Bruders konnte uns auch nicht stören, denn die war von dem Patron der Familie und des Imperiums di Stefano zu einem mittelalterlichen Treffen, bei dem auch der 46. Geburtstag Jürgens gefeiert werden sollte, nach Andalusien geladen. Wegen der bereits beschriebenen Atmosphäre im Hause des Don Alberto waren wir allerdings sehr froh, dass wir nicht dabei sein mussten. Die Börse und alles was mich sonst interessierte und weshalb man mich hätte stören können waren geschlossen. Das muss man doch ausnutzen. Der „Karl Freitag“, wie ich scherzhaft den Feiertagsnamen zu verunglimpfen pflegte, bescherte uns auch das, was wir uns wünschten. An diesem Tag ließen wir, was es bei uns bis jetzt in einem solchen Ausmaß auch noch nicht gegeben hatte, kein Fetzen Textil an unsere Körper und benahmen uns wie pubertierende Jungscher, die gerade ihre Sexualität entdeckt haben. Recht seltsam, dass ich ausgerechnet an diesem Tag in einer sehr rührseligen Weise an meine erste Frau Anna Katharina denken musste. Das Bild „meiner“ wunderschönen und zauberhaften Anni wollte mir eine Zeit lang nicht aus den Sinn gehen. Merkwürdig, dass sie mir ausgerechnet an diesem 28. März 1986 und insbesondere auch am Folgetag immer wieder in den Sinn schoss obwohl ich jahrelang keinen besonderen Gedanken an sie und meinen Sohn Dietmar verschwendet hatte. Nachträglich kann ich mir das, so wie es in meinen Erinnerungen geblieben ist, nur auf zweierlei Weisen erklären: Vielleicht spielt mir nur meine Erinnerung einen Streich und hat es mich, bis auf diese besondere Gelegenheit, vergessen lassen, dass ich doch öfters an sie gedacht habe. Oder es gibt doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als wir mit naturwissenschaftlichen Gesetzen erklären können, denn auch Anni hatte an dem, in diesem Jahr sehr früh fallenden Karfreitag an mich gedacht. Anni hatte mir hinsichtlich des am 7.5. bevorstehenden 18. Geburtstages unseres Sohnes Dietmar geschrieben. Was sie geschrieben hatte, erhielt später noch eine andere mystische Bedeutung für mich. Am frühen Nachmittag des Ostersamstags, den wir in ähnlicher, jedoch in einer mehr bekleideten Weise wie den Vortag begonnen hatten, schellte auf einmal, in diesem Augenblick unerwartet, das Telefon. Als ich abgehoben und mich gemeldet hatte vernahm ich vom anderen Ende eine seufzende und heulende männliche Stimme: „Guten Tag Herr Heuer. Ich bin Christian Wolf der Mann ...“. Und mehr konnte ich in diesem Moment nicht verstehen aber ich wusste wer mich da anrief: Christian Wolf der zweite Mann meiner ersten Frau. Daher sagte ich dann in einem Tonfall, der nach meiner Vorstellung, beruhigend wirken musste: „Was ist denn Herr Wolf, ... was ist mit Anni?“. Einen Moment hörte ich nur Schluchzen und dann fuhr er fort: „Katha“ – offensichtlich pflegte er ihren zweiten Vornamen in der Koseform zu gebrauchen – „Christinchen (seine Tochter Christina) und Dietmar haben heute morgen einen Rundflug ...“. Jetzt konnte er nicht mehr und ich hörte ihn nun deutlich heulen. Mir war inzwischen auch schon sehr mulmig geworden und mir schwante Schreckliches und deshalb wartete ich ab bis er sich ein Wenig beruhigt hatte. „Die Engel sind vom Himmel gefallen“, fuhr er plötzlich fort, „und die Kinder sind tot. Katha ist schwer ...“. Und jetzt gab es eine weitere Unterbrechung, der dann noch „Katha wird es wohl nicht überleben“ folgte bevor er auflegte. Der arme Mann muss fix und fertig gewesen sein und hatte mir offensichtlich aus diesem Grunde nicht gesagt wo er sich befand. Vielleicht war ihm dieses selbst gar nicht bewusst geworden, denn entgegen meinen Erwartungen schellte das Telefon kein zweites Mal. Auch ich hatte jetzt total abgeschaltet und war vollkommen durchgedreht. Ich sagte nur noch zu Rosi „Anni und Dietmar sind mit dem Flugzeug abgestürzt“ bevor ich erst mal zusammensackte. Rosi stand vor mir und fragte weniger neugierig als besorgt klingend: „Wo denn, Schatz?“. Ich schüttelte nur den Kopf und stöhnte: „Weiß ich nicht“. Meine Frau gebot mir mich erst mal auf die Couch zu legen und nahm das Zepter in die Hand. Ich kann heute nicht mehr wiedergeben was Rosi alles in dieser Zeit unternahm. Ich glaube sie hat bei der Auskunft die Nummer der Wolfs in Berlin ausfindig gemacht und dort, wo dann keiner abnahm, angerufen. Danach hat sie wohl bei der Nachrichtenredaktion des WDR angerufen, wo man nichts von einem Flugzeugabsturz wusste. Der Radiomann, mit dem sie gesprochen hatte, wusste nur von einer Agenturmeldung, dass in Österreich, genau gesagt in Zell am See, ein Sportflugzeug mit deutschen Touristen abgestürzt wäre. Darauf machte Rosi dann die Nummer der dortigen Gendarmerie ausfindig und rief diese an. Jetzt erfuhren wir, dass Anni mit ihren Kindern tatsächlich dort einen Rundflug gebucht hatte und die viersitzige Maschine aus bisher ungeklärter Ursache aus etwa 1.000 Meter Höhe abgestürzt sei. Der Pilot und die Kinder seien sofort tot gewesen und Anni würde noch leben aber viel Hoffnung hätten die Ärzte nicht. Nachdem Rosi dieses alle gemanagt hatte, verschwand sie in der Küche um mir erst mal einen kräftigen Kaffee zuzubereiten. Sie hatte unseren Kaffeeautomaten noch nicht in Gang gesetzt als ich mit den Worten „Ich mach mich fertig und fahre los“ hinter ihr stand. Darauf nahm sie mich in den Arm und drückte mich erst mal auf den Stuhl vor dem Küchentisch und sagte mit einer mitfühlenden Stimme: „Ach Schatz, wo willst du denn hinfahren? Du kannst doch
nichts mehr machen. Trink dir erst mal einen Kaffee, rauche dir eine Gauloises und beruhige dich. Nachher rufe ich dann in Österreich im Krankenhaus an und ...“. Weiter kam sie nicht, denn ich hatte sie unterbrochen: „Bitte Mäuschen, versteh mich jetzt bitte. Mir geht es jetzt so wie damals Jürgen als unsere Anita umgebracht wurde. Mit Dietmar kann ich nie mehr sprechen aber Anni lebt noch. Vielleicht kann ich mich noch von ihr richtig verabschieden ... Das habe ich damals, wo wir auseinander gingen nicht getan. Ich glaube, dass sie einen richtigen Abschied verdient hat. Bitte versteh mich.“. Sie verstand mich und schloss mich erst mal richtig in ihre Arme in denen ich mich dann zunächst richtig ausweinte. Dabei strich mir Rosi über die Haare und sagte schwermütig: „Ich habe so ein komisches Gefühl, dass ich dich jetzt auch verlieren würde wenn ich dich jetzt gehen lasse. Bitte, bitte, bleib hier.“. Es nutzte alles nichts. Ich hatte einen Drang nach Zell am See zu fahren, dem ich nicht widerstehen konnte. Dann trank ich noch den Kaffee, den mir Rosi zubereitet hatte, rauchte dabei eine Zigarette und ging dann ins Schlafzimmer um mich fertig zumachen. Rosi war schon dort um mir ein paar Sachen zusammenzupacken. Noch einmal sagte sie mir dass ich doch nichts machen könnte und bat mich ebenfalls noch einmal flehentlich dazu bleiben. Es nutzte nichts. Ein paar Minuten darauf fuhr ich den Wagen aus der Garage und es begann eine abenteuerliche Fahrt. Es ging schon auf dem Gehsteig bei unserer Torausfahrt los. Dort hätte ich beinahe eine Anwohnerin unserer Straße angefahren. Auf der Landstraße Nummer Sowieso, ich kann mir diese Nummern nicht immer so merken, wurde ich durch einen Starenkasten mit 32 km/h über der zulässigen Höchstgeschwindigkeit geblitzt. Als ich an der Raststätte Holledau, nachdem ich getankt hatte, wieder auf die Bahn auffuhr habe ich einen anderen PKW abgedrängt. Dieses sind nur die paar Dinge, die mir noch bewusst sind. Ich gehe mal davon aus, dass ich auf dieser Fahrt, wo meine Gedanken ganz woanders, nur nicht hinter dem Steuer, waren, noch mehr solche Sachen gebaut habe. Mein Gedanken waren wieder und wieder bei meiner wunderschönen Anni. Mir fielen fast alle Situationen unseres gemeinsamen Lebens ein. Jeder einzelne Punkt ihres bezaubernden Körpers bildete sich vor meinem geistigen Auge ab. Immer und immer dachte ich: „Anni bleib leben, Anni warte auf mich, ich will mich von dir Engel verabschieden.“. Und pausenlos feuchteten sich dabei meine Augen. Irgendwie wurde ich das irrational Gefühl, dass sie erst am Vortage von mir gegangen sei und ich schuld am Flugzeugabsturz sei, nicht los. Daran kann ich mich alles auch heute noch erinnern, nur an die eigentliche Fahrt nicht. Von dem was auf der Autobahn los war ist fast alles weg. Wahrscheinlich habe ich dieses schon in der Zeit, die zu den schrecklichsten Stunden meines Lebens gehören, gar nicht bewusst war genommen. Daher ist mir bis heute noch nicht richtig klar, was wo, wann und wie tatsächlich passierte als es dann rumste. Ich weiß nur, das es plötzlich bummste, ich über die Mittelleitplanke schepperte und dann ... nichts mehr. In der Gegend von München, den genauen Ort weiß ich nur aus dem späteren Verfahren, war ich mit einem, nach einem Überholvorgang wieder einscherenden niederländischen Reisebus bei hoher Geschwindigkeit kollidiert und auf die Leitplanken, über die ich fast 200 Meter rutschte, geraten. Letztlich habe ich mich überschlagen und bin auf der rechten Fahrspur auf dem Dach liegen geblieben. Ein nachfolgendes Fahrzeug ist dann noch in mein Wrack gerast. Laut Aussagen von den anderen Beteiligten und Zeugen soll es fast ein Wunder gewesen sein, dass ich noch lebte und niemand anderes verletzt wurde. Ich persönlich weiß, wie ich schon schrieb, davon nichts, nichts außer das, was ich soeben als meine Erinnerung niedergeschrieben habe. Der Punkt, an dem mein Gedächtnis wieder einsetzte hatte das Datum des 13. April 1986, ein Sonntag. Über 14 Tage sind einfach weg aus meinem Leben. Ich hatte erst in einem echten und dann in einem künstlichen Koma gelegen. Seltsamerweise wusste ich beim Wachwerden wo ich war, dass die rothaarige Dame im grünen Anzug eine Krankenschwester war und konnte sie dementsprechend auch mit meinem Anliegen ansprechen: „Schwester ich habe Schmerzen, fürchterliche Schmerzen. Bitte geben sie mir etwas.“. Ich weiß nicht wo dieses „außergewöhnliche“ Wissen herkam und habe es auch nie hinterfragt. Ich habe es nie in Erfahrungen bringen wollen weil ich Angst hatte, dass mir dann auch andere schreckliche Dinge, die ich lieber in den tiefsten Tiefen meines Unterbewusstseins versteckt wissen wollte, wieder ins Gedächtnis kommen könnten. Vergessen dürfte in den meisten Fällen eine Gnade sein und daher habe ich auch kein Verständnis für die Psychotherapeuten, die sich auf den Wiener Romancier Siegmund Freud stützen, die mit aller Gewalt die Dinge aus dem Unterbewusstsein wieder ins Bewusstsein holen wollen. Diese Scharlatane machen doch aus jemanden, der glaubt nicht richtig dabei zu sein, mit ihrem Tiefenpsychologie genannten Hokuspokus einen echten Irren. Wenn all das Schreckliche, was man besser verdrängen sollte, wieder bewusst wird, muss man ja „bekloppt“ werden. Auch was jetzt alles unmittelbar nach meinem Erwachen passierte ist mir nicht im Gedächtnis geblieben. Ich weiß dann erst wieder, dass Rosi nach einer Weile mit einem Arzt im Raum stand. Der Weißkittel, mit dem Stethoskop als Standeszeichen in der Tasche damit er nicht mit einem Pfleger verwechselt werde, sagte zu ihr: „Frau Heuer, ich glaube wir haben gewonnen. Ihr Mann scheint es geschafft zu haben.“. Danach flossen Freudentränen bei ihr und sie sagte in einer Endlosschleife: „Walter, Walterchen, Schatz, Walter, Walterchen, ...“. Insbesondere aus der ostasiatischen Küche kennen wir eine an und für sich gegensätzliche Wortschöpfung für eine Geschmacksrichtung: Süßsauer. Ich kreiere jetzt eine ähnliche Wortkombination: Glücklichtraurig. Nur mit diesem Wortmonster glaube ich Rosis Gesichtsausdruck, als sie neben meinem Bett saß und ihre rechte Hand leicht auf meinen linken Arm gelegt hatte, beschreiben zu können. Mehr, was jetzt nach so langer Zeit noch berichtenswert wäre, passierte an diesem Tag nicht mehr.
Am nächsten Tag war ich dann schon aufnahmefähiger und Rosi konnte mir berichten was so alles in der Zwischenzeit passiert war. Zu dem Zeitpunkt, wo ich verunglückte war Anni bereits tot. Rosi erzählte: „Ach Walterchen, ich habe mir solche Gedanken gemacht. Ich hatte das sichere Gefühl, dass du Anni nicht mehr erreichen würdest. Als ich dann die Nachricht von deinem Unfall erhielt hatte ich höllische Angst, dass sich auch das andere Gefühl, dass ich dich, wenn du aus dem Hause gehst, für immer verlieren würde, bewahrheiten würde. Gott sei dank, das Gefühl hat mich getäuscht. Du wirst gesund und dann wieder bei mir sein.“. Davon war ich zu diesem Zeitpunkt auch überzeugt. Dass sie ihr Gefühl doch nicht so ganz getäuscht hatte, konnten wir an diesem Tag noch nicht wissen. Auch dieses ist ein Mysterium, für dass ich nie eine Erklärung gefunden habe. In jenem Moment hatten wir aber auch diesbezüglich noch keinen Grund über Mystik nachzudenken. Das war bei der anderen Geschichte, die jetzt aufs Trapez kam, schon was anderes. Rosi war mit Hendrik in Berlin auf der Beerdigung gewesen, da unser Sohn der Meinung war, er wolle auf der Beerdigung seines Halbbruders genauso dabei sein, wie er und Salvador bei der Beerdigung ihrer Halbschwester dabei gewesen seien. Das Argument, dass er Dietmar ja nur vom Hörensagen kenne, tat er damit ab, dass Salvador Anita ebenso wenig gekannt habe und trotzdem auf der Trauerfeier gewesen wäre. Dort haben dann meine Beiden auch Christian Wolf, Annis zweiten Mann, kennen gelernt. Der arme Mann, den Rosi übrigens hübsch und nett fand, wäre vollkommen fertig gewesen aber er habe immer wieder mit Überzeugung beteuert, dass er es seiner Katha einfach schuldig sei weiter zu machen. Anni habe ihm immer wieder gesagt, dass gleichgültig was komme, er nie davon laufen dürfe. Das habe sie übrigens letztmalig an dem Karfreitag gesagt, als sie den Brief an mich, den Rosi schon vor der Trauerfeier dem Hausbriefkasten entnehmen konnte, fertig geschrieben habe. Wolf hatte diesen am Mittwoch, als er von Zell nach Berlin zurückgekehrt war, der Post übergeben und schon am nächsten Tag war er in Waldheim. Von Heute auf Morgen war damals gar nicht so selbstverständlich und auch heute noch geht es bei der Post nicht immer so schnell. Der Brief interessierte mich jetzt doch sehr und ich fragte Rosi ob sie diesen mithabe. Als sie dieses bejahte bat ich sie ihn mir vorzulesen. Wie immer bei den wenigen Malen wenn sie mir wegen Dietmar geschrieben hat begann der Brief mit „Lieber Walter“. Sie hat diese Anrede in der ganzen Zeit seit unserer Scheidung nicht gescheut. Am Anfang wies sie daraufhin das Dietmar am 7. Mai volljährig würde. Von der sozialliberalren Koalition, also noch vor der Regierung Kohl, war ja das Volljährigkeitsalter auf 18 herabgesetzt worden. Ein wichtiges Argument war damals, das 18-jährige wohl ohne Einwilligung der Eltern zum Bund dürften oder müssten aber ansonsten als Minderjährige nicht für vollgenommen würden. Verteidigen ja aber Wählen nein. Mit der Volljährigkeit endet dann auch im Regelfall die Unterhaltspflicht – was ich übrigens im Falle Dietmar sogar vorerst ignoriert hätte -, wenn dem Lebensabschnitt nicht unmittelbar ein Studium oder Ausbildung folgen würde. Dann liegt die Obergrenze dann beim 27. Lebensjahr. Dietmar wolle studieren. Dieses würde er mir gerne persönlich sagen und, abgesehen davon dass er mich jetzt auch richtig kennen lernen wollte, würde er gerne seine Lebensplanung mit mir besprechen. Sie war davon überzeugt, dass ich dem zustimmen würde und bat um eine Terminvereinbarung. Dann folgte der Teil, denn ich als mystisch bezeichnen möchte und den ich jetzt mal aus dem Gedächtnis rekonstruiere: Ach lieber Walter, wir Zwei waren wohl nicht füreinander bestimmt. Ich weiß, dass meine Bestimmung Christian heißt. Aber trotzdem ist das kein Hindernis dafür, dass wir uns immer, vielleicht für eine Ewigkeit, lieben. Ich liebe Dich immer noch – aber ganz anders wie meinen Christian. Es wäre schön, wenn es sich bei Dir mit mir und Rosi ebenso verhalten würde. Ich weiß nicht, was mich treibt Dir dieses jetzt zu schreiben, aber irgendwie glaube ich jetzt, dass dieses die letzte Möglichkeit ist dieses zu tun. Hängt das nun damit zusammen, dass unser Dietmarchen jetzt volljährig wird oder weil ich geträumt habe, jetzt als Dein Schutzengel einberufen worden zu sein. Ja, mein Traum vom Schutzengel. Ich träume öfters mal und weiß wenn ich aufwache nur, dass ich geträumt habe – mehr nicht. Aber einen Traum, den ich immer wieder träumte seit dem ich mit Christian glücklich bin, kann ich nicht vergessen. Vielleicht weil es immer der gleiche Traum ist. Erst falle ich aus großer Höhe auf dem Boden – es tut gar nicht weh. Dann stehe ich auf; aber praktisch als Geist, denn mein Körper bleibt liegen. Dann sehe ich Dich. Du wolltest scheinbar zu mir laufen und ich hebe Dich auf aber Du siehst mich nicht und gehst Deines Weges weiter. Ich bin immer ganz dicht bei Dir geblieben, wie ein Schutzengel. Da läufst Du plötzlich auf einen Vulkan und willst hineinspringen. Ich fange Dich auf und bringe Dich zu Deinen Sohn und lege Dich in seine Arme. Hinter ihm steht eine Frau die ich nicht erkennen kann, aber Rosi ist es nicht. Sie sagt mir „Danke schön Anna Katharina, Du hast mir Walter gebracht. Er ist jetzt mein und ich werde ihn für immer glücklich machen. Jetzt kannst Du heim zu Deinen Kindern gehen.“ Danach wache ich auf. Jetzt, vor zwei Tagen träumte ich dieses wieder. Diesmal war etwas neu in dem Traum. Als ich als Geist aufstand sagte eine gewaltige, aber gutmütige Stimme: „Anna Katharina, es ist soweit, die Zeit ist gekommen. Nimm jetzt Abschied.“. Als ich danach aufwachte, glaubte ich, dass ich nur noch wenige Tage zu leben habe. Ich bin nicht traurig, ich habe keine Angst aber ich glaube meine Lebensuhr ist abgelaufen. Sollte das wirklich so sein, dann Lebe wohl Walter. Und habe keine Angst, ich Dein Schutzengel werde bei dir bleiben. Deine Anni. – Soweit der aus dem Gedächtnis rekonstruierte „Abschiedsbrief“ meiner ersten Frau.
Was uns damals im April 1986 auf der Intensivstation beschäftigte, war dass Anni ihren Tod und dass ich auf der Fahrt zu ihr verunglücken würde genau vorausgesehen hat. Aber was war das mit dem Rest? Was sollte das mit dem Vulkan? Wo das Erste gestimmt hat könnte auch an dem anderen Teil was dran sein. Heute weiß ich es, aber damals war es unser großes Rätsel, welches uns auch bei weiteren Besuchen Rosis beschäftigte. Sie hatte sich in München ein Hotelzimmer genommen und konnte mich so täglich besuchen. Nach meinen Aufwachen kam auch Jürgen einmal die Woche vorbei, mal mit und mal ohne Carmen. Hendrik durfte mich, weil er noch nicht volljährig war, auf der Intensivstation nicht besuchen. Er konnte erst, nach dem ich Anfang Mai auf die offene Station verlegt worden war, kommen. Dann war er aber jedes Wochenende da. Werktags war er wegen der Schule zu Hause in Waldheim. Laut Rosis Worten kam er offensichtlich Zuhause alleine ganz gut zu recht. Dann kam der 17. Juni 1986, wo auch Rosis Ahnungen ihrer Erfüllung entgegen gehen sollten. Das hatte es noch nie gegeben, an diesem Dienstag bekam ich, obwohl Feiertag war – damals war der 17. Juni noch der Tag der Einheit, an dem an den, von der Sowjetunion blutig niedergeschlagen Bauarbeiteraufstand 1953 in der DDR erinnert wurde -, keinen Besuch. Auch nicht von Rosi die täglich kam. Auch Jürgen, der seinen Besuch sogar angekündigt hatte, nicht. Am nächsten Morgen kam Rosi schon sehr früh mit heulendem Gesicht auf mein Einzelzimmer. Mit zitternder Stimme begann sie: „Walter, Schatzi, wir haben eine Riesenscheiße gebaut. Kannst du uns verzeihen?“. Auf einmal lag ein gewaltiger Brocken auf meiner Seele und ich wusste sofort was passiert war: „Du hast mit Jürgen geschlafen?“. Sie sagte nichts und nickte nur schwer und schuldbewusst mit dem Kopf. Natürlich musste ich jetzt erst mal mehrfach heftig schlucken und dann gab ich mich, innerlich jedoch schwer getroffen, salomonisch: „Ach Roswitha mir bleibt nichts anderes als euch zu verzeihen. Erstens liebe ich dich und ein Nichtverzeihen würde mich daher selbst am Meisten treffen. Zum Anderen muss ich mir wohl oder übel an die eigene Nase fassen. Was haben wir denn damals getan? Wie könnte ich euch für etwas abstrafen was ich selbst getan habe. Aber verstehen kann ich dich nicht ... tut mir leid. Du bist doch schon einmal mit so etwas schwer auf die Nase gefallen“. Was ich da gesagt hatte, war damals sogar meine ehrliche Meinung. Die Angesprochene widersprach nur in dem Punkt „Auf die Nase gefallen“, denn das Gefühl habe sie nicht sondern sie war überzeugt, ich sei dann ihr Glück gewesen. Rosi erzählte mir dann mit gesenkten Kopf und der Stimme einer Sünderin was gelaufen war. Schon vor einiger Zeit hatten die Beiden sich gestanden, dass sie sich noch nicht ganz vergessen hatten. Etwas Liebe dümpelte immer noch in Beiden vor sich hin. Jürgen hatte immer gebettelt: „Lass es uns doch noch nur ein einziges Mal miteinander haben. Nur ein einziges Mal und dann lasse ich dich für immer in Ruhe.“. Nicht aus Mitleid sondern weil sie sich das selber gerne noch mal wünschte gab Rosi nach. Sie trafen sich schon am Montag, als Rosi nach dem Besuch bei mir aus dem Krankenhaus kam und dann blieben sie die Nacht beieinander. Meine Frage ob es denn jedenfalls schön gewesen sei wollte mir Rosi nicht beantworten – aber das hätte ich im umgekehrten Fall auch nicht getan. Laut Rosi sollte ich, was ich auch durchaus nachvollziehen kann, nichts davon erfahren, wenn nicht am Morgen des Siebzehnten plötzlich Carmen im Zimmer gestanden hätte. Sie muss schon eine ganze Zeit vor der Tür gelauert haben und nutzte den Moment, als der Zimmerservice das Frühstück brachte. Sie hat den jungen Mann praktisch ins Zimmer geschubst – und sich natürlich mit. Rosi lag noch vollkommen nackt unter der Bettdecke und Jürgen, der die Tür geöffnet hatte, war auch nur mit einem Morgenmantel, den ihm Carmen mit einem Ruck vom Körper gezogen hatte obwohl der Hotelboy noch im Raum war, bekleidet. Jetzt konnten Jürgen und Rosi die Spanierin mal von ihrer sprichwörtlichen temperamentvollen Seite kennen lernen. In einer Mischung aus Deutsch und Spanisch gab es über eine Stunde eine Schimpfkanonade. Dabei hat Carmen ihre Schwägerin laufend nach dem Vorbild ihres Vaters als Familiendirne bezeichnet. Zum Anziehen ist das Sünderpaar dabei nicht gekommen, denn die gehörnte Ehefrau hatten den Beiden, immer wenn sie ein Kleidungsstück in die Hand nahmen, dieses wieder aus der Hand gerissen. Plötzlich habe das Musterstück von Prüderie eine Reitpeitsche in der Hand gehabt und von den Beiden verlangt, es vor ihren Augen zu treiben. Als sie sich weigerten hat sie Jürgen erst ins Gesicht – er soll dort einen mächtigen Striemen gehabt haben, dessen Spuren man tatsächlich bis zum heutigen Tage noch sieht – und dann mehrfach kräftig auf den Penis geschlagen haben. Einen kräftigen Tritt in die Hoden soll die wilde Spanierin noch nachgesetzt haben. Ehrlich gesagt, habe ich mir damals gedacht, dass ihm diese zurecht geschehen wäre. Aber eines kann ich schon mal sagen: Ob er dort Narben wie im Gesicht abbekommen hat weiß ich nicht, da ich meinen Bruder danach nie mehr nackt gesehen habe, aber ansonsten hat er, laut eigenen und auch Rosis Worten, keinen Dauerschaden davon getragen – impotent ist er nicht geworden. Letztlich, als sich Jürgen vor Schmerzen krümmte, hat sie dann offiziell, inzwischen wieder ganz die feine Dame spielend, erklärt, dass sie sich scheiden lassen wollte. Als sie das Zimmer verließ fuhr sie zurück in das schwäbisches Heim der Familie Jürgen Heuer, holte dort Salvador und düste mit diesem noch am gleichen Tag von Stuttgart nach Spanien, wo sie dann auch nach meiner Krankenhausentlassung noch war. Am Tage des Geschehens haben sowohl Rosi wie Jürgen es nicht fertig gebracht mich zu besuchen. Am Folgetag hat sich Rosi dann auf den Büßergang zu mir gewagt. Jürgen besuchte mich gar nicht mehr, er konnte mir wohl nicht unter die Augen treten. Rosi kam noch eine weitere Woche täglich und dann teilte sie mir mit: „Liebster Schatz, ich liebe dich, ich liebe dich und ich liebe dich. Aber di Stefano, diese elendige Drecksau ... wenn ihn doch der Teufel bald holte. Die Medien und die Politiker rühmen
diesen Pisser, der in meinen Augen der letzte Dreck ist, als den großen Wirtschaftslenker mit hohen moralischen Anspruch. In Wirklichkeit ist der das asozialste Subjekt was jemals gelebt hat. Also diese Sau verlangt von Jürgen, dass ich mit Hendrik bei ihm aufgenommen werde, ansonsten wollte er uns erledigen. Das was er gesagt hat, was er machen wolle kann man ruhig ernst nehmen. Also Walter ich ziehe jetzt ... .“. Und nun brach sie in bittere Tränen aus, Rosi heulte und schluchzte. Dann sprang sie plötzlich auf: „Adieu Walter, ich liebe dich. Adieu, ich gehe für immer.“. Und danach war sie nicht mehr im Krankenhaus gesehen. Womit Don Alberto meinen Leuten drohte und womit er sie erpresste hat mir Rosi bei der Gelegenheit nicht gesagt. Aber das war auch nicht nötig, denn ich konnte mir das ohnehin denken. Sogar ohne dass ich dabei Gefahr lief falsch zu liegen. Es waren Dinge, die heute keinen von uns mehr dazu bringen würden unser privates Glück auf dem Altar des Gottes Mammon zu opfern. Damals jedoch bedeuten diese Dinge für uns die Apokalypse, denn wir lebten ganz nach der Devise „Lieber reich als glücklich.“. Alle unseren Beziehungen, Kontakte und Aktionen hing damals unmittelbar mit der Person Alberto di Stefano zusammen, wo ich mich in den letzten 3 Jahren sogar mit Freude eingeordnet hatte. Im Falle eines Falles wäre ich zu jener Zeit genauso im Stahlnetz gefangen gewesen wie mein Bruder. Mit Leichtigkeit konnte uns Don Alberto damals auf das Abstellgleis bringen, wobei wir ihm noch ein Großteil von dem, was wir von unserem Vater ererbt hatten, hätten abtreten müssen. Später erfuhr ich, dass er darüber hinaus sogar durch die Blume mit einem echten Kriminalakt „Marke Mafia“ gedroht hatte. Er bemerkte, dass das, was er sich mit der Straftransaktion nicht aneignen könne ohnehin irgendwann in der Familie di Stefano landen würde, da er einen Bluterben Salvador habe. Dagegen habe Hendrik, als letzter Heuerableger, der nicht von seinem Blut wäre, von seiner Mutter, einer Familiendirne, ein gefährliches Leben aufgedrückt bekommen, was sein Enkel mit Sicherheit überleben würde. Verdeutscht könnte man sagen, dass di Stefano eine Morddrohung gegen Rosis und meinen Sohn ausgesprochen hat. Na ja, echte Mafiosi kommen nicht aus den Slums sondern aus den Wirtschaftskreisen. Damit war, nach diesem Stand, ihre dunkle Ahnung vom Ostersamstag in Erfüllung gegangen. Damals ahnte sie, dass wenn ich fahren würde, sie mich für immer verlieren würde. Offensichtlich hat sich mich für immer verloren. Ich machte mir dann meine Gedanken darüber, was wohl die Vorausahnungen sollten. Sollten es Warnungen sein? Wo doch Anni geträumt hat, dass sie aus großer Höhe fallen würde, warum stieg sie dann ins Flugzeug? Warum hat mich Rosi gehen lassen, wo sie doch wusste mich so zu verlieren; warum hat sie mich nicht niedergeschlagen? Na ja, dass ist alles ein Bisschen weit hergeholt. Vielleicht ist auch nur so, dass ich jetzt im Nachhinein etwas hinein interpretiere und damit die vergangene Wirklichkeit umgestalte. So wie verschiedene Leute einen immer den Blödsinn von Nostradamus als Prophezeiung verkaufen wollen. Wäre was ganz anderes passiert, hätte ich vielleicht auch da genaue Übereinstimmungen finden können. War es bei Rosi vielleicht nur die Angst, dass ein Unglück bei meiner damaligen Verfassung fast vorprogrammiert war? War es bei Anni vielleicht nur so ein sexueller Traum, in denen bekanntlich viel gefallen und geschwebt wird, weil sie von mir nicht loskam? Vielleicht hat sich da bei ihr ein Schutzengelkomplex gebildet, den sie nur rein zufällig Karfreitag niedergeschrieben hat. Wer weiß, wer weiß, alles nur Spekulationen und Esoterik, von denen ich damals als Realist nichts hielt und heute nichts, weil ich ... Ach, gedulden Sie sich noch ein Wenig, liebe Leserin, lieber Leser. Zum Kapitel 14
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Auch Ehefrauen kann man tauschen Am 10. Juli 1986 war es dann soweit, ich konnte das Krankenhaus in München endgültig verlassen. Einen Tag zuvor hatte ich einen unerwarteten Anruf aus Spanien erhalten. Der Imperator des di-Stefano-Reiches, von mir auch Don Alberto genannt, rief mich mit der Kunde an, dass er in Erfahrung gebracht habe, dass mich die „Jenseitsmechaniker“ und „Pharmaabsatzaktivisten“ am nächsten Tag laufen lassen wollten. Die „Kosenamen“ die ich soeben für Chirurgen und Internisten gebrauchte waren wirklich di Stefanos Sprachgebrauch bei dieser Gelegenheit entlehnt, was mich dahingehend erstaunte, dass sich dieses Musterexemplar eines etwas in einer falschen, späteren Epoche geborenen spanischen Edelmannes so gut in der deutschen Sprache auskannte, dass er sich im spöttischen Jargon artikulieren konnte. Aber die anderen Dinge, die er von mir wollte, überraschten mich noch wesentlich mehr: Zum Einen hatte er meine Abholung aus dem Krankenhaus perfekt organisiert und zum Zweiten bot er mir einen Erholungsurlaub auf seinen Landsitz in Andalusien an. Beides in einer Art und Weise, die mir nicht erlaubten Nein zu sagen. Also erschienen am Donnerstagmorgen ein Schlipssoldat aus der mittleren Hierarchie der EuroTrans und eine kunstblonde Sekretärin, die mit einer Palette voller Schönheitstinkturen ein glänzendes aber schlechtes Gemälde einer Frau aus sich gemacht hat – dafür stank sie aber nach allen möglichen orientalischen Düften, die von verschiedenen Leuten fälschlicher Weise auch Wohlgerüche genannt werden -, um mich ab zu holen. Aus meinen Worten ließt man schon, dass ich persönlich nicht auf Frauen, die sich nach Vorgaben der Makeupmischer aufgetakelt haben, stehe. Irgendwie rieche ich lieber Frauen und nicht so ein Parfümzeug. Über den Schlipssoldat kann ich allerdings nicht lästern, da ich in der Regel genauso uniformiert durch den Alltag stolziere. Mir gegenüber waren die beiden auserwählten Angestellten jedoch sehr unterwürfig; schließlich war ich einer ihrer Big Bosse. Wenn man Dank Erbschaft, guten Beziehungen und dem Glück zu rechten Zeit am rechten Ort gewesen ist und dadurch einen Posten erhalten hat ist man ja kein Mensch mehr sondern man ist was Bessere. Eigentlich Quatsch, denn ob wir Sozialhilfeempfänger, Kofferträger, Pförtner oder Bundeskanzler, Professor, Bankdirektor beziehungsweise Arbeitgeberpräsident sind wird nicht in erster Linie von Intellekt und Leistung bestimmt sondern durch Herkunft und dem Wechselspiel des Lebens. Hätte mein Vater nicht mehr aus seiner Kohlenhandlung gemacht wäre ich heute vielleicht ein kleiner Nebenerwerbsbauer. Autorität und Hierarchie sind zur Aufrechterhaltung einer Gesellschaftsordnung unablässig aber das man dann Menschen zu Götter erhebt ist wohl ein menschlicher Tick, der vielleicht schon aus der Steinzeit in unsere Moderne übertragen wurde. Mit ein bisschen weniger Menschenanbetung könnte es vielleicht um ein mehrfaches besser gehen, denn wir würden niemanden mehr des Titel halber was abnehmen sondern ersatzweise lieber selber denken. Und Denken hat noch nie geschadet. Also gut und schön, die beiden EuroTrans-Lakaien brachten mich nach Waldheim, wo ich denen dann auf di Stefanos Verfügung Loggia bieten musste. Am nächsten Morgen habe ich die beiden diensteifrigen Geister in einen schweren Konflikt gebracht: Don Alberto hatte für 10 Uhr morgens zwecks Auflösung des gemeinsamen Hausstandes für mich einen Termin mit Rosi arrangiert. Der Patron hatte wohl angewiesen, dass die Beiden dabei bleiben sollten aber ich bestand darauf, dass man uns alleine lasse. Wenn sollten sie nun Folge leisten, dem göttlichen Boss im fernen Spanien oder dem leibhaftigen Unterboss vor Ort? Na ja, in diesem Fall hatte ich den längeren Arm und ich konnte sie sogar zu einem Spaziergang aus dem Hause weisen. Ich war mir sicher, das Alberto di Stefano nie davon erfahren würde, denn wenn die beiden Mitarbeiter den Mund aufmachen und sich verraten würden, hätte das wohl arge Konsequenzen für ihre Zukunft im Unternehmen gehabt. Andererseits fürchtete ich auch kein Verplappern, denn für solche Missionen wählt man Menschen aus, die die Eigenschaften der drei weisen Affen – nichts sehen, nichts hören und nichts sagen – in sich standardmäßig vereinen aus. Was wir machten als ich mit meiner Frau alleine war kann man sich bestimmt denken. Nein, kein Sex denn dazu war die Situation nicht angetan. Wir heulten, heulten bitterliche Kullertränen, wie kleine Kinder deren Lieblingsonkel mit deren begehrtestem Spielzeug in dunkle Fluten versunken ist. Es tat uns alles so fürchterlich leid und wir wünschten uns sehnlichst, dass es einen großen Knall gäbe, der uns aus diesen Alptraum erwecken sollte – aber nichts dergleichen passierte. So beschlossen wir letztlich, weil wir keinen anderen Ausweg sahen, uns zur Buße in unser Schicksal zu fügen. Dadurch verzögerte sich der Beginn unserer Auseinandersetzungsverhandlungen ein Wenig. Die liefen dafür aber dann schneller wie vorgesehen ab. Trotzdem trafen die Hiwis (Hilfswilligen) bei ihrer Rückankunft noch mal mit meiner Nochangetrauten zusammen. Rosi hatte noch einen draufgesetzt und erledigte mit mir, wie in normalen Ehezeiten, meine Reisevorbereitung. Als wir uns verabschiedeten sagte ich dann: „Mäuschen, es kann wohl nie mehr das sein, was nach meinem Willen eigentlich sein müsste. Aber ich vergesse jetzt nicht mehr, dass du meine Rosi bist und Jürgen mein Bruder ist. Auch wenn wir künftig wenig Kontakt haben sollten werden wir trotzdem niemals Fremde oder Feinde sein.“. Wir umarmten und küssten uns noch einmal sehr kräftig und dann gingen wir auf getrennten Wegen in unser weiteres Leben. Am nächsten Tag brachte mich dann ein Lufthansajet nach Sevilla, wo ich von dem großen Don Alberto persönlich in Empfang genommen wurde. Schon auf der Fahrt zu seinem Landsitz kam er in seinem Pulmann gleich zur Sache. Erst bekam ich reichlich Honig um den Bart geschmiert. Laut di Stefano sei ich der Fähigere der beiden Heuerbrüder und er sprach mir sein Mitgefühl dafür aus was mir mein Bruder und die „Familiendirne“ angetan hätten. Er teilte mir mit, dass er beschlossen habe meinen Bruder aufs „Altenteil“ zu setzen und mich anstelle dessen zu seinem Sozius in der
Unternehmensleitung machen wollte. Deshalb solle ich umgehend meinen Rücktritt vom Aufsichtsrat erklären, damit mich dieser pünktlich vor der nächsten Hauptversammlung auf den Vorstandssessel hieven könne. Er erklärte, dass er mich schon vor dem „Zwischenfall“ statt meines Bruders zum Kronprinzen erkoren habe. Bevor ich aber der Thronfolger sein könne müsse noch eine „Umstrukturierung in der Familie“ vorgenommen werden. Wie er dieses dann begründete haute nach meiner Ansicht dem Fass den Boden aus: „Der allmächtige Gott hat in seiner Vorsehung bestimmt, dass Salvador ... was übrigens im Deutschen Erlöser heißt – einstmals das, was ich von meinen Vätern ererbt und ich erhalten habe, weiter führen soll. Dieses Erbe kann nur über meine Carmen weitergegeben werden, dass ist, wie ich mit Bestimmtheit weiß, der Wille des Herrn. So ist es ihre Pflicht, Herr Heuer, meine Carmen zu ehelichen. Salvador hat das Recht den Namen seines Vaters, auch wenn es der Stiefvater ist, und Gatten seiner Mutter zu tragen. Und zum Glück kann man heute auch Ehefrauen tauschen.“. Sein „ungeheuerlicher“ Plan war, das sowohl ich wie auch Carmen die Scheidung einreichen und dann später überkreuzt wieder heiraten sollten. Er plante, dass ich dann seinen Enkel zu adoptieren habe, während ich gleichzeitig Hendriks Erbschaftsansprüche vertraglich und testamentlicht einzuschränken hätte. Ich sollte also meinen Bruder als Schwiegersohn ablösen. Da war ich erst gar nicht mit einverstanden und musste dann erfahren, weshalb ich nicht nur zu einer Verhandlung sondern zu einem Erholungsurlaub nach Andalusien beordert worden bin. Ich wurde im Verlaufe der folgenden zwei Wochen förmlich weichgeklopft. Mal mit einem Zuckerbrot und mal mit einer Peitsche. Während der gesamten Zeit bekam ich Carmen nicht zu Gesicht. Während der „Verhandlungen“ schaffte ich es die Themen „Salvador adoptieren“ und „Hendrik enterben“ vom Tisch zu bringen. Auch ein Kontaktverbot zur Familie meines Bruders konnte di Stefano nicht durchsetzen. Den dicksten Brocken setzte ich aber damit durch, dass Carmen wohl sein Vermögen erben sollte, ich dieses aber bis zum 25. Lebensjahr Salvadors uneingeschränkt verwalten sollte. Nur zur Veräußerung oder für Fusionen, die sie mir aber nur mit gewichtigen Grund verweigern durfte, benötigte ich Carmens Zustimmung. Dieser Verhandlungserfolg, der mich bei Don Alberto im höchsten Licht erscheinen ließ, hatte natürlich nur dann einen Sinn wenn ich dem Ehefrauentausch zustimmte. Nun würde ich also zum zweiten Mal im Leben mir die Frau meines Bruders nehmen. Man müsste eigentlich annehmen, dass mich der katholische Herr schon im Fegefeuer, wo ich ihn im Grunde meiner Seele hinwünschte, schmoren sah. Als alles unter Dach und Fach war bekam ich dann meine Zukünftige erstmals während meines Andalusienaufenthaltes zu Gesicht. Ich wurde auf ihr Zimmer gebeten und glaubte eine Überraschung zu erleben. So hatte ich sie noch nie gesehen: Sie hatte kein Kleid an und empfing mich im Unterrock. Wider erwarten pflegte sie durchaus moderne Unterwäsche zu tragen. Erstmals konnte ich ihre wahren Körperformen erkennen und sagte mir, dass sie doch gar nicht so übel sei. Es war doch alles weiblich rund, allerdings mit dem Trend zur Pummeligkeit. Da der Unterrock tiefer dekolletiert war, als die Kleider, die sie zutragen pflegte, und sie einen weißen Halb-BH trug, erhielt ich auch die Draufsicht auf ihre sehr fleischigen Busen. „Na Walter, alles nicht so schlimm, damit kann man auch ganz zufrieden sein“, dachte ich mir nach dem ersten alles erfassenden Blick. Aber denkste, die Dame pflegte, wenn sie alleine oder nur mit ihrem Ehemann war, immer so aufzutreten. Das hatte ausschließlich den Grund, ihre Kleider, von denen sie allerdings haufenweise hatte, zu schonen. Auch wenn sie sich halbliegend auf der Couch niederlegte war das keine Aufforderung zum Tanz, denn auch hier ging es nur um eine entspanntere „Sitzweise“, die nur maximal ihr Gatte zu Gesicht bekam. Um allen Irrtümern vorzubeugen sagte sie mir dieses auch gleich und wies dabei daraufhin, dass sie mich diesbezüglich bereits als ihren Gatten betrachte. Geschlechtsverkehr käme aber für sie frühesten falls nach der Scheidung, wahrscheinlicher sogar erst nach der Eheschließung, in Betracht. Verständlich, dass ich mir im Stillen „Armer Walter, das hast du nun davon“ dachte. Carmen sprach mit mir in dem halblockeren Ton, den sie, nachdem sie seinerzeit etwas warm geworden waren, nur im Umgang mit Rosi pflegte. Ihr war bekannt, dass ich laut Absprache mit ihrem Vater, in der kommenden Woche erst mal wieder nach Waldheim zurückkehren würde. Dort wollte ich unter anderem dann die, mit dem Vater verabredete „Familienumstrukturierung“ mit Rosi und Walter aushandeln. Sie warnte mich eindeutig vor einer Wiederannäherungen an meine Frau. Dann kamen aber ihre Wünsche: Sie benötigte für Salvador ein Kindermädchen. Dabei betonte sie ausdrücklich, dass es sich um eine bewusst katholische Erzieherin handeln sollte. Am Liebsten hätte ich sie gefragt, warum wir nicht gleich eine Nonne einstellen sollten. Dann wollte sie noch eine Köchin, einen Chauffeur – so etwas in der Art eines Eunuchen – und ein Dienst- und Hausmädchen, möglichst keusch, also von Gestern. Da es mit einer solchen Truppe, wie sie diese zu Jürgens Zeit auch in Schwaben hatte, in meiner „kleinen Villa“ zu klein sei, insbesondere da separate Schlafzimmer für sie Bedingung seien, sollte ich mich nach einem geeigneten Objekt umsehen und es entweder kaufen oder mieten. Da ich, weil ich ja den vorhergehenden Haushalt meines Bruders kannte, dieses voraussah, steckte ich diese Order auch unbekümmert ein. Dass sie nicht eher zu mir ziehen wollte bis alles erledigt sei, betrachtete ich eher als Gewährung einer Galgenfrist als eine Drohung. Als ich mich eine Woche darauf wieder in heimischen Gefilden befand nahm ich auch alles in Angriff. Zwar nicht mit Übereile, dafür fand ich bei mir nirgendwo eine Motivation, denn im Grunde war ich froh noch ein „paar Tage“ in Freiheit genießen zu können, aber immerhin Schritt für Schritt. In einem Fall gab es jedoch, ohne dass ich es selbst gewollt hätte, eine echte Blitzaktion. Ich lud Jürgen, Roswitha und Hendrik zu einem „kleinen“ Gespräch in meine Villa in der Spitzwegstraße ein. Roswitha rief mich an und entschuldigte sich und Hendrik: „Verstehe bitte Walter, es fällt uns im Moment unheimlich schwer mit dir zusammen zu sein, denn wir lieben dich. Wir brauchen etwas
Verarbeitungszeit damit wir ohne Katzenjammer und dummen Gedanken mit dir zusammensitzen können. Das hast du und das hat Hendrik nicht verdient. Die Einzigste von uns Dreien, der es zurecht so geht bin ich und ich bitte um Gnade. Jürgen kommt aber. ... Bist du uns böse?“. Sicher hatte ich dafür Verständnis und andererseits war es ja auch ganz in meinem Sinne, denn auch ich hatte unheimliche Probleme in Hinsicht auf meine Nochfamilie. So erschien dann Jürgen alleine. Es war das erstemal nach dem Vorfall, dass wir uns persönlich gegenüber standen. Er machte ganz den Eindruck wie damals in unserer Jugendzeit, wenn Paps oder Uns Mam dem Großen plausibel gemacht hatten das er dem Kleinen unrecht getan habe. Deshalb wollte ich ihn ermuntern und sagte: „Komm Jürgen, ist doch alles kein Problem. Ich habe dir mal die Frau geklaut, jetzt hast du sie wieder. Da sollten wir jetzt einen Strich drunter ziehen und du bleibst der Große und ich der Kleine.“. Mit meinen Worten wollte ich ihm auch klar machen, dass mir in keiner Weise an einem erneuten Bruderzwist gelegen sei. Jürgen griff aber meine Worte „Große“ und „Kleine“, deren Urheberschaft in Bezug auf uns bei unseren Eltern liegt, in einem anderen Zusammenhang auf: „Beim Big Old Man (gemeint war di Stefano) ist es aber umgekehrt. Du bist jetzt der Große und ich darf mich freuen, wenn ich überhaupt noch der Kleine sein darf ... schätze dass ich eher der Nobody bin.“. Beide lachten wir jetzt ein Wenig und nahmen im Anschluss am Wohnzimmertisch Platz. Da legte Jürgen gleich los: „Ja, wir haben jetzt zwei Dinge zubekakeln und ich glaube, dass wir uns da einigen können. Einmal hast du und einmal habe ich die Arschkarte gezogen. Dein Pech ist, dass du jetzt die Halbnonne Carmen heiraten musst und meins ist es, dass meine Managerkarriere, zumindestens in unserem Laden beendet ist. Ich weiß nicht, dass ich das als Pech bezeichnen kann, denn im Moment überlege ich noch was ich machen kann und will und dabei komme ich immer mehr zu dem Schluss, das mir ein Ruhestand mit 46 auch ganz gut gefallen würde. Also wo ich gefeuert werden soll, lasse ich mich feuern und wo ich zurücktreten soll, da trete ich zurück. Nur meine Anteile und mein Stimmrecht in der Hauptversammlung behalte ich vorerst weiter ... und da bin ich auch zu keiner Verhandlung mit di Stefano bereit. Wenn ich mir klar geworden bin was ich will, werde ich meine Vermögensangelegenheiten Anwälten übergeben, die dann mit dir und/oder deinen Anwälten verhandeln sollen. Anwälte deshalb weil Salvadors, Hendriks, Rosis und auch noch Carmens Interessen mit eine Rolle spielen. Ich glaube mit dir würde ich mir auch ohne die einig.“. Jetzt unterbrach ich ihn erst einmal: „Ich hake hier einmal ein. Ich denke das wir, was diesen Part anbelangt, praktisch einig und jetzt durch sind. Don Alberto möchte mir deine Posten zuschieben. Ich glaube du stehst dich hinsichtlich Abfindungen besser, wenn du dich feuern lässt. Also werde ich unserem Patron sagen, dass er das veranlassen soll und ich hätte mit dir ausgehandelt, dass du dagegen nichts unternehmen würdest. Was die Vermögensabgrenzung anbelangt, würde er ... du kennst ihn ja besser als ich – auch gerne ein Ergebnis sehen, aber ich denke, dass ihm nichts anderes übrig bleibt als den Lauf der Dinge abzuwarten. Und ich bin deiner Meinung. Also prüfe was du willst und dann können wir drüber sprechen. Wir haben ja Zeit. Wir sind noch jung und da kommt es auf ein paar Monate oder wegen meiner auch Jahre nicht an.“. Damit hatten wir den geschäftlichen Teil aus beidseitiger Sicht erfolgreich abgehandelt und di Stefano nahm das Ergebnis später zur Kenntnis und ging zur Tagesordnung über. Jetzt kamen wir zu dem, aus meiner Sicht, dickeren Brocken: Unsere Frauen. Ich sollte mich getäuscht haben, denn auch hier kam Jürgen gleich mit der Lösung: „Ja Kleiner, du sollst jetzt Albertos Erbträgerin zur Frau nehmen. Das musst du wissen, ich habe nichts dagegen. Dazu müssen wir uns aber erst mal scheiden lassen. Also reichen wir sie ein ... oder habe ich der Ehre zu Liebe was von der anderen Seite zu erwarten?“. Dieses bestätigte ich ihm zwischendurch und er fuhr fort: „Na, dann macht mal und Rosi und ich warten dann ab um es glatt über die Bühne gehen zu lassen. Auch den Gefallen dass ich Rosi heirate, werde ich ihm ...“. Jetzt unterbrach ich noch mal: „Das möchte er zwar gerne und wenn ihr es wollt geht das in Ordnung. Aber ansonsten bin ich der Meinung, dass es dem Alten nichts angeht und ....“. Jetzt wurde ich unterbrochen: „Natürlich hat der ein Interesse daran oder meinst du, er wollte weitere Erbschaftsmitstreiter zu Salvador haben oder sich mit anderen Gelddynastien, in die ich einheirate, zu schaffen haben. Mir hätte es Spaß gemacht, ihm da eins auszuwischen. Aber ich habe Rosi immer geliebt ... auch wo du sie mir damals genommen hast. Jetzt nehme ich sie mir wieder und gebe sie nie mehr ab ... das schwöre ich dir. Meine erste Frau wird auch meine letzte sein. So liegt es sogar auch in meinem Interesse das Big Old Man in diesem Punkt siegt.“. Damit waren wir uns tatsächlich durch die Bank einig und konnten noch einen Moment von Bruder zu Bruder plauschen. Das wichtigste Ergebnis dabei: Wir wollten uns gegenseitig nichts nachtragen. Außerdem wollten wir uns zwar nicht laufend auf der „Pelle hängen“, aber uns auch keinesfalls aus dem Wege gehen. Bei offiziellen Anlässen wollten wir uns wegen der Klatschmäuler und insbesondere auch wegen Carmen nicht gegenseitig einladen. Diese Vereinbarung, die wir dann letztendlich auch umsetzten, führte dazu, dass wir dann in Folge, wie es heute bei den meisten Familien der Fall ist, friedlich nebeneinander herlebten. Eine zweite mir aufgetragene Angelegenheit erledigte ich im eigenen Interesse sehr schnell: Das Engagieren eines Chauffeurs. Bedingt durch mein Ostercrash war mein grauer Führerschein eingezogen und diesen bekam ich nach der Gerichtsverhandlung auch so schnell nicht wieder zurück. Damals hatte ich noch den Dünkel, dass die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln oder gar Fußwege unter meiner Standeswürde liegen würden. Wenn ich aber immer wieder Leute aus der Firma abziehe damit mich diese kutschen, machte ich immer wieder darauf aufmerksam, dass der „Chef die Fleppe weg hat“, was der notwendigen Autorität nicht gerade dienlich ist. Was Carmen anbelangte hatte ich erst angenommen, dass sie nie einen Führerschein gehabt habe weil für sie nichts anderes denkbar gewesen wäre, als ihrem Stand entsprechend chauffiert zu werden. Ich hatte mich aber geirrt und von Jürgen erfahren, dass sie den, den sie
einstmals hatte, nach einem Alkoholtest, der nach einem Unfall fällig war, habe abgegeben müssen und jetzt nicht des Standes sondern des Alkohol halber keinen mehr haben wolle. Also stellte ich Bernd Völler als unseren Privatchauffeur ein. Völler war 54 Jahre und seine Kinder waren aus dem Haus. Obwohl er zuhause einen richtigen Hausdrachen sitzen hatte, war er ehetreu und hielt nichts von Wein, Weib und Gesang. Beim Auswahlverfahren, es hatten sich immerhin 32 Herren beworben, stellte ich fest, dass dieser Carmentick vom eunuchenähnlichen „Kutscher“ wohl weniger ein Splin des sittenheuchelnden Konservatismus war sondern das da was handfestes, was mit Mark und Pfennig zutun hat, dahinter steckte. Der Kerl war froh mal von zu Hause weg zu sein, mied aber Kneipen und Amüsierstätten. Den Mann konnte man prima ausnutzen. Er war zu jeder Tages- und Nachtzeit, werktags wie sonn- und feiertags bereit einen dahin zu kutschen, wohin man wollte. Mit einem „Aha“ schoss mir dann das was der Fürst zum Bischoff sagte in den Kopf: „Halt du sie dumm, dann werde ich sie ausnehmen und wir können gemeinsam herrschen.“. Nur so nebenbei: Heutzutage sagt das der Bankvorsitzende zum Medienzar. Aber einen besonderen Vorteil für mich, insbesondere im Hinblick auf die prüde Trinkerin, die ich später zuhause sitzen hatte, konnte ich an Herrn Völler entdecken: Er konnte alles was er mitbekam für sich behalten. Na, ich glaube mich jetzt deutlich genug ausgedrückt zu haben. Meine zweite Einstellung, die Hauswirtschafterin, entsprach dagegen gar nicht den Vorgaben, die ich von Carmen erhalten hatte. Stefanie Goldmann war erst 32 Jahre alt und recht attraktiv. Sie war keinesfalls so rückständig und klamottig wie sich die di Stefanos das gewünscht hätten und in dem Moment wo ich sie einstellte, hatte sich gerade ihre Freundin, mit der sie 7 Jahre zusammen war, von ihr getrennt. Da habe ich auch gerade den Grund genannt, warum diese dann auch das Wohlwollen von Don Alberto und Tochter erhielt: Bei „hochgradigen“ Lesben kann der Herr des Hauses so gut wie keine „Zicken reißen“ und unabhängig, also Leute auf die niemand wartet, kann man arbeitszeitmäßig auch ganz gut ausnehmen. Als Frau Goldmann am 2. November ihren Dienst antrat, war das auch für mich, der nun schon „lange“ alleine in dem Haushalt „hauste“, den Rosi zuvor immer so meisterhaft im Griff hatte, ein Segen. Eine Köchin brauchte ich, der ich in dieser Zeit lieber in guten Restaurants mit anderen, Geschäftsfreunde oder Mitarbeiter, speiste, noch nicht und daher unternahm ich da zunächst nichts. Um die Erzieherin brauchte ich mich dann überhaupt nicht zu kümmern. Das erledigte Carmen selbst. Sie hatte in Sevilla Montserrat Costa, eine spanische Lehrerin, die auch später mit nach Deutschland kommen wollte, zu diesem Zweck angeheuert. Als sie mir dieses mitteilte, fiel mir etwas nicht so ganz korrektes auf: Salvador war ja inzwischen stolze 8 Jahre alt und schulpflichtig. Aber der Schulpflicht kam er nicht nach. In seiner „schwäbischen Heimat“ war er nach Spanien abgemeldet worden und daher hatten die deutschen Behörden auch kein „Aufstand“ gemacht und in Spanien war er entweder nicht angemeldet oder er konnte aufgrund von dortigen Rechtsgrundlagen, was ich nicht glaube, mit Ausnahmegenehmigung der Schule fernbleiben. Oder konnte, was ich auch für sehr wahrscheinlich halte, der große di Stefano mit seinem Geld die Beamtokraten davon überzeugen, dass die Schulpflicht für alle, nur nicht für seinen Enkel gilt. Lehrstoff hat Salvador allerdings dabei nicht verpasst, denn er wurde ja von seiner Mutter und dieser Montserrat unterrichtet. Und die legten eine strammes Tempo vor, denn der Knirps musste inzwischen den Stoff des siebten oder achten Schuljahres pauken. Aber ich muss ganz ehrlich gestehen, dass mir dieses, wie überhaupt das Meiste was Salvador anbelangte, bestenfalls am Rande interessierte. Ich lernte Montserrat kennen als ich über Weihnachten und Neujahr am di Stefanoschen Familienpalaver, diesmal wieder in Barcelona, teilnehmen musste. Am schnellsten habe ich sie beschrieben, wenn ich sage, dass es genauso eine Type wie Carmen war. Nur Montserrat trank nicht und Carmen war ihr gegenüber doch ein Wenig schöner. Während meines Spanienaufenthaltes wurde ich auch von Don Alberto darauf angemacht, warum ich noch kein passendes Haus für seine Tochter, seinen Enkel und so ganz nebenbei für mich gefunden habe. Er vermutete, dass das daran liegen könnte, dass ich mich auf diese Landgegend in Deutschland, wo ich herkäme, konzentrieren würde. Ich hätte ja eine unabhängige, örtlich ungebundene Position, die ich praktisch von jedem Ort in Deutschland, und wenn ich sprachlich besser drauf wäre von jedem Ort Europas, ausüben könne. Ich solle nun mal langsam zur Sache kommen. Im Laufe des Januar 1987 kam mir dann, aus meiner Sicht ein Bisschen zu schnell, der Zufall zur Hilfe. Im Sommer war hier im Waldheimer Malerviertel, in dem ich mich ja auch niedergelassen hatte, ein ebenso wie wir begüterter Witwer gestorben. Der gute Mann war noch nicht ganz unter der Erde, da brach schon der obligatorische Krieg der Erben aus. Über Weihnachten hatten die „den-Hals-nicht-voll-krieger“ einen Waffenstillstand und ein Treffen vereinbart. Viel war dabei allerdings nicht rausgekommen. Nur das sie die Villa Dürer-/Ecke Rembrandtstraße, bevor sie beginnt „Geld zu fressen“, kapitalisieren wollten um den Erlös unter sich aufzuteilen. Als sie mit ihren Anliegen an den Immobilienmakler, den ich auch in meiner Angelegenheit beauftragt hatte, herantraten war der Fall gelaufen: die Protzhütte ging in meinem Besitz über. Ganz ehrlich, meine kleinere „Hütte“ hatte mir um einige Grade mehr behagt, als dieser, offensichtlich nur zum Nachweis dass man es sich leisten könne gebaute Kasten. Überall zu viel Protz und zu wenig natürliche Atmosphäre. Aber was soll’s mein zukünftiger Schwiegervater wollte es so und ich hatte auch selbst nichts gegen ein Bisschen Renommieren. Im Gegensatz zu meiner alten Unterkunft hatte ich hier keinen Pool, was aber bei der Art meiner Zukünftigen kaum was zu sagen hatte.
Nun brauchte ich nur noch, damit das spanische Prinzeschen kommen konnte, eine Köchin. Das war allerdings eine leichte Übung. Ich ging in das Restaurant „El Toro“, wo es, wie man von dem Namen, der auf Deutsch „Der Stier“ heißt, ableiten kann, eine spanische Küche gab. Das könnte doch was für die Dame, die ich mir des Geldes halber als Frau ins Haus holen wollte, sein. Geld stinkt zwar nicht, aber wenn man damit wedelt schnüffeln fast alle hinterher. So auch der Wirt des „El Toro“. Als ich ein paar Scheinchen hingeblättert hatte und mit gutem Lohn winkte, meinte er, dass seine Frau tagsüber bei mir und Abends im Restaurant kochen könne. Aber ich muss sagen, dass die Frau wirklich gut kochte – und das nicht nur spanisch. Maria Soares war wirklich ein Glücksgriff. Nun war alles soweit vorbereitet, dass der Tausch der Ehefrauen endgültig über die Bühne gehen konnten. Auch die Scheidungsverfahren waren soweit gediehen, dass es jetzt nur galt den kalendermäßigen Ablauf des Trennungsjahr abzuwarten. Im September 1987 fanden dann die beiden Termine, die es anschließend den Heuers erlaubte wieder überkreuzt zu heiraten, statt. Was voreheliches Leben anbelangte war Jürgen natürlich der große Glückspilz, denn er lebte mit einer tollen Frau, die zwischenzeitig mal meine war, zusammen wie Mann und Frau – und sie waren glücklich. Auch ich hatte meine Zukünftige und Nochschwägerin seit April 87 unter meinem Dach aber wir wohnten schön sittsam in getrennten Zimmern. Als ich nach dem Scheidungstermin mal anfragte ob ich schon dürfte wurde ich auf den Hochzeitstermin verwiesen. Aber trotzdem, ich hätte nicht gedacht, dass einen solche Frauenverhaltensweisen richtig heiß machen könnten. Jetzt dürfte aufgefallen sein, dass ich in diesen Kapitel nichts von meinen geschäftlichen Aktivitäten erzählt habe. Was soll ich denn erzählen? Als ich nach Krankenhaus- und Andalusienaufenthalt mal wieder reinroch, stellte ich fest, dass es auch ohne mich ging. Vorher glaubte ich unentbehrlich zu sein und anschließend wusste ich wie entbehrlich ich im Grunde war. Und was hatte ich mich vorher in den Laden reingehangen, ich hatte kaum Zeit. Im Krankenhaus wurde ich gezwungen mir Zeit zu nehmen. Na ja, dann bleiben für den Toppmanager mit seinem selbstvermeintlichen 16 Stundentag dann noch die großen strategischen Entscheidungen. Aber ganz große fielen 86 und 87 ohnehin nicht an und was es da gab machte Don Alberto alleine. Ich war es erstens meinem Ego schuldig und zweitens musste ja vor den Leuten der Eindruck, dass ich zur Spitze der Leistungsgesellschaft gehöre, aufrecht erhalten bleiben. Na ja, das gehört halt dazu, sich wichtiger zu geben, wie man ist. Zum Kapitel 15
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Der dritte Start mit lauter Pannen Beamtokraten und Politikusse haben eine Vorliebe für die Erledigung von Vorgängen durch Vorsicherschieben bis zum St.-Nimmerleinstag. Das nennt man dann kurz Aussitzen. Unterstützt werden sie dabei von den Medien, die wissen, dass die Leuten den Dingen, die sie länger als 4 Wochen regelmäßig vorgesetzt bekommen, keine Bedeutung mehr beimessen und lieber Flöhen, die zu Elefanten aufgeblasen wurden, nachjagen. So kommt es, das sich für brandheiße Dinge, die heute die Nation aufregen, in 4 Wochen, ohne das irgendetwas gelöst wurde, nur noch Betroffene und Experten interessieren. Ich nenne hier als Beispiel nur ein paar Stichworte: AIDS, Flüchtlinge in Zentralafrika, Hochwassergeschädigte in Köln oder im Oderbruch, BSE, Maul- und Klauenseuche, Tschernobyl – das war ja das Toppereignis in 1987, also der Zeit von der ich gerade berichte - und vieles mehr. Erinnern Sie sich noch an das Riesentheater als die jeweilige Sache aktuell war? Was hat sich seitdem geändert und wer interessiert sich heute noch dafür? Und wo sich niemand mehr für interessiert, brauch auch kein Beamter oder Politiker mehr einen Gedanken daran verschwenden. Es sei denn er wäre als Experte zum speziellen Fachbereichsleiter erkoren worden, dann muss er ohne nach rechts und links zu blicken, auch wenn schon bei unseren australischen Antipoden ein Bohrstab in den Himmel wächst, weiter in die Tiefe bohren, um dieses ausschließlich aus Amtberechtigungs- und Dokumentationsgründen zu archivieren. Es gibt natürlich auch ein paar Dinge, die Manager meines Schlages durch Aussitzen, zumindestens bis zu dem Punkt wo sich dann andere mit der Sache herumschlagen müssen, vom Schreibtisch kriegen können. Jedoch eine Angelegenheit, die ich gerne ausgesessen hätte, ließ sich so nicht erledigen, es sei denn ich hätte auf die Macht und den Reichtum, was ich mir nur in der Eigenschaft als di Stefanos Schwiegersohn verschaffen konnte, verzichtet. Jetzt weiß jeder, was ich meine: Die Verehelichung von Carmen Heuer geborene di Stefano, Mutter meines Neffen Salvador. Sowohl ihr Vater so wie sie selbst erinnerten mich seit den Scheidungsterminen im September täglich, teilweise sogar mehrfach, an meine eingegangenen Verpflichtungen und drohten dabei durch die Blume mit den Konsequenzen, die auf mich warten sollten, wenn ich mein Wort nicht halten sollte. Als dann meine Exfrau Rosi und mein Bruder im November ernst machten wurden mir diese dann, ausnahmsweise und nur in dieser Sache, massiv als Vorbild serviert. Na ja, letztlich gab ich mich während eines geschäftlichen Treffens mit Don Alberto in Genf geschlagen und stimmte mit ihm den 15. Januar 1988 als Termin für meine dritte Hochzeit ab. Die Terminabstimmung war deshalb nötig, weil der große di Stefano bei der zweiten Trauung seiner Tochter mit einem Heuer unbedingt dabei sein wollte. Aber ansonsten sollte es kein großes Aufsehen geben, denn man hatte mich längst einigen Leuten als meinen eigenen Vorgänger untergeschoben; man hatte praktisch klammheimlich meinen Bruder gegen mich ausgetauscht. Dabei nutzte man konsequent den gleichen Nachnamen, meine große Ähnlichkeit mit meinen Bruder und die Tatsache, dass man im di-Stefano-Clan und auch in dessen geschäftlichen Umfeld in der Regel so mit sich selbst beschäftigt ist, dass man sein Gegenüber kaum richtig wahrnimmt. Und den Leuten, den trotzdem was aufgefallen war, hatte man ein Ableben meines Bruders vorgelogen und mich dann gelobt, dass ich nach alttestamentlichen Vorbild in die Ehepflichten meines Bruders eingetreten sei. Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, hätte ich so etwas im 20. Jahrhundert nicht für möglich gehalten. Und wie viele andere Reichen und Mächtigen auch, hielt sich di Stefano gegenüber der Medienöffentlichkeit distanziert und seine Familie wurde denen gegenüber bestens abgeschirmt. So war auch nichts von der Paparazzia und der Tratschmeute zu erwarten, was natürlich in unserer aller Sinne war. Neben Don Alberto, der jetzt auch schon seit 2 Jahrzehnten Witwer ist, sollten nur noch unsere, von ihm ausgewählten Trauzeugen an diesem Akt teilhaben. Zu diesem Ehrenamt war von unserem Patron ein Paar aus der Nähe von Hamburg auserkoren. Randolf Berger, ein förmlich „arschkriechender“ Jurist, war der Sohn einer Cousine von di Stefano. Im di-Stefano-Imperium war er zuständig als Pfadfinder im deutschen Abschreibungsdschungel. Wenn man als gehobener Mittelständler auch im Chor der Gleichen immer Jammerarien von dem, dank hoher Lohn und Lohnnebenkosten sowie hoher Steuerlast, gefährdeten Standort Deutschland singen muss, ist und bleibt die Bundesrepublik Deutschland das El Dorado der Abschreibungskünstler. Nur in Deutschland kann man, obwohl man jährlich dreistellige Millionensummen einfährt, dank professioneller Abschreibung jahrelang von der Entrichtung von Körper- und Einkommenssteuer befreit sein. Die Absenkung des Spitzensteuersatz hat also nur den Sinn, die Gelder, die man nicht investieren will – Investitionen kann man ja abschreiben – vor St. Fiskus zu schützen. So lange wir einen Spitzensteuersatz von über 50 Prozent haben ist man als Hochleister der Gesellschaft gezwungen, die Gewinne in Niedrigsteuerländer, unter anderem zum Beispiel in das Herzogentum Luxemburg, zu verschieben. Und so lange sich die breite Masse über die Sozialhilfe- und Arbeitslosengeldempfänger in der sozialen Hängematte im Freizeitpark Deutschland, so wie unter anderem unser damalige Bundeskanzler sagte, aufregt, ist kein Platz für das Nachdenken über Steuermanipuleure und –hinterzieher, obwohl aus dieser Gruppe ein Einzelner der Gesellschaft mehr schaden kann als alle Sozialhilfebetrüger zusammen. Jetzt muss ich erst einmal „Sorry“ für meine gelegentlichen Abschweifungen ins Allgemeine sagen. Aber wer die Menschen kennen lernen will, muss sich auch deren gesellschaftliches Umfeld ansehen. Nun aber zurück zu unserer Geschichte. Dieser Randolf Berger mit seiner Frau, deren einzigstes Attribut ihr offensichtlich mit Silikon gestylter Busen war, zu sagen hatte sie nicht viel Gescheites und sonst war nicht viel an ihr dran, sollten neben dem Brautleuten
und dem Brautvater die einzigste Gäste sein. Sogar für Salvador, Carmens Sohn, sollte die Trauung seiner Mutter kein Grund für schulfrei sein. Wäre nicht Don Alfredo aus dem fernen Spanien zu seiner ersten und einzigsten Visite in Waldheim angereist, hätten wir möglicher Weise nach dem Amtsakt gleich wieder unseren Alltagsgeschäften nachgehen können. Damit habe ich also schon erwähnt, dass diese, für unseren „Häuptling“ nebensächliche Hochzeit in Waldheim stattfinden sollte. Ob wohl ich nun zum dritten Mal im gleichen Trauzimmer verehelicht werden sollte, stand doch eine Premiere bevor. Bei meinen ersten Trauungen war immer das Standesamt des Amtes Romansweiler, das es nach der kommunalen Neuordnung 1975 nicht mehr gab, zuständig und nun war also erstmalig das der Stadt Waldheim zuständig. Aber hinsichtlich meines derzeitigen Wohnsitzes, der übrigens gar nicht nach dem Geschmack unseres Patrons war, wäre die Stadt Waldheim auch ohne Neuordnung zuständig gewesen. Jürgen, der ja vor uns geheiratet hatte, war zum zweiten Mal im gleichen Trauzimmer erschienen und das hört sich nun besonders nett an: Zwei Mal mit der gleichen Frau. Carmen hatte er ja in Spanien geheiratet und im Traditionsdenken der di Stefanos hat diese Ehe ewigen Bestand. Das war dann auch der Grund warum Don Alberto dem Ort Waldheim für diese aus seiner Sicht nur formalen Eheschließung nicht nur zustimmte sondern sogar in seinem Sinne bezeichnete. Eine solche, auf Sparflamme gekochte Vermählung wäre also gar nicht berichtenswert, wenn es um diese nicht eine Menge Pannen, die zum Teil auch künftige Entwicklungen andeuteten, gegeben hätte. Es ging schon am Nachmittag des Vortages los. Ich hatte Herrn Völler, unseren Fahrer, zum Flughafen geschickt um meinen Schwiegervater abzuholen. Ich drückte im ein Bild des „hohen Herrn“ in die Hand und sagte ihm, dass der mit der Maschine aus Barcelona kommen würde. Das war schon die erste Panne: Don Alberto flog nicht von seinem Heimatsitz sondern aus Paris – weiß der Teufel was er da gemacht hat – an. In Kombination mit dem Ereignis, was ich mal salopp als zweite Panne bezeichne, war für Don Alberto das Chaos vorprogrammiert. Völler fuhr bei useligen Wetter los und kam zwischen Waldheim und Flughafen in ein „Schneeunwetter“. Na ja, da lief es nicht so wie üblich und er kam dadurch eine stunde zu spät am Airport an. Statt zwei hatte es fast drei Stunden gedauert. Er machte sich erst mal sachkundig ob die Maschine aus Barcelona gelandet sei. Der Zufall wollte es, dass tatsächlich eine halbe Stunde vorher ein Flieger aus der katalonischen Hauptstadt gelandet war aber der Flug aus Paris wegen eines technischen Problems zwei Stunden Verspätung hatte. Da die Pariser Maschine noch nicht da war, konnte sich auch Don Alberto nicht melden als Herr Völler ihn ausrufen ließ. Völler rief mich an und unterrichtete mich vom Stand der Dinge. Ich mutmaßte, dass es mein Schwiegervater wohl nicht hätte abwarten können und deshalb wohl schon in einem Taxi hierher unterwegs sei. Welches Malheur dann, als er sich später telefonisch als soeben gelandet meldete. Da blieb natürlich nichts anderes als tatsächlich ein Taxi zunehmen. Aber statt Alberto di Stefano stand zirka drei Stunden später der Taxifahrer allein vor der Tür. Sein Fahrgast hatte kurz vor Waldheim ein Herzattacke bekommen und der Taxifahrer hat ihn, so wie es richtig ist, statt an dessen Fahrtziel im Krankenhaus abgeliefert und fragte jetzt bei mir höfflich wegen der Begleichung seiner Rechnung nach. Dieses war die erste von einer Reihe ähnlicher Probleme, die der Big Old Man, in den nächsten zwei Jahren haben sollte. Dadurch fiel er für unsere Hochzeit aus, denn im Krankenhaus musste er eine Woche verweilen. Für mich war das eine wichtige Weichenstellung, denn in den nächsten Monaten musste ich den Patron mehr und mehr bei diversen Angelegenheiten vertreten und so war er letztlich auf mich angewiesen. Früher als gedacht, hatte ich die Macht im „Imperium“. Am jenen Abend war es mit ganz recht, dass Carmen alleine zu ihrem Vater ins Krankenhaus wollte. Nachdem sie gerade mit Herrn Völler aus dem Haus war, kam die nächste Pannenkunde per Telefon. Randolf Berger teilte uns mit, dass er bei der derzeitigen Wetterlage nicht den Mut habe mit dem Wagen zu unserer Hochzeit anzureisen. Sie hätten bereits eine Zugverbindung, mit der sie am nächsten Morgen um 9:18 Uhr in Waldheim einträfen, rausgesucht. Recht leichtfertig überredete ich sie sich von unserem Herrn Völler, einem erfahrenen und sicheren Fahrer, abholen zu lassen. Die Panne, die ich damit verursachte, bekam ich dann raus als Völler mit Carmen zurückkam. Ich hatte nicht daran gedacht, dass der gute Mann seit morgens Fünf auf den Beinen war. Das waren immerhin bis zu diesem Zeitpunkt, fast 10 Uhr abends, immerhin schon 17 Stunden und nach Hamburg und zurück brauch man bei normaler Wetterlage zirka 8 Stunden, wo wir ja jetzt mindestens zwei Stunden drauflegen mussten. Ich bekenne mich ja zum Ausbeutertum, aber jetzt unseren Fahrer loszuschicken schien mir doch zu gewagt. Kurzerhand beauftragte ich ein Taxiunternehmen, was auch die Sache zu meiner vollsten Zufriedenheit ausführte. Aber der gute Randolf Berger fühlte sich durch mich getäuscht, was zu einem späteren ständigen Opponieren mir gegenüber führte. Das Übel dabei war, dass ich diesen Knaben nicht loswerden konnte, da er leider zuviel wusste. Der eigentliche Hochzeitstag begann für Carmen mit einer Superpanne, die aber für unser zukünftiges internes Verhältnis bestimmend war. Auch am 15. Januar 1988 war wie üblich das Frühstück auf 7:00 Uhr terminisiert.. In der Regel wird die Dame des Hauses ein halbe Stunde vorher von Steffi Goldmann, unserem Hausmädchen, geweckt. Inzwischen war es Zehn nach Sieben und Salvador und ich warteten auf die Dinge die da kommen sollten aber nicht kamen. Ganz offensichtlich hatte Steffi verschlafen und ich ging daher zu ihrem Zimmer. Dort klopfte ich heftig an ihre Tür und vernahm keinerlei Reaktion. Da blieb nichts anderes als Carmen zu wecken und diese sollte dann sehen was los ist. Also machte ich mich auf den Weg zu dem Zimmer, in dem die Dame, die in drei Stunden meine Ehefrau sein
sollte, „wohnte“. Um kein Aufsehen zu erregen klopfte ich dort nicht an sondern ging gleich hinein um sie mit ruhiger Stimme aus dem Morgenschlaf in den Hochzeitstag zu holen. Ich hätte mal besser angeklopft, denn so hätte ich eher Aufsehen vermeiden können wie umgekehrt. Nachdem ich leise „Carmen“ ins Dunkel des Zimmers gesagt hatte gab es ein doppelstimmiges Gekreische. Carmen und Steffi lagen zärtlich umarmt und nackt im Bett meiner Braut. Der batteriegetriebene und auf 6:00 Uhr gestellte Wecker hatte in der Nacht seinen Geist aufgegeben und die beiden Damen zum Verschlafen verführt. So musste dann meine Braut den Tag ihrer Hochzeit mit einem Outing beginnen: Carmen war lesbisch veranlagt und hatte schon vor einiger Zeit, ohne dass ich es gemerkt habe, ein Verhältnis mit Steffi Goldmann begonnen. So offen und ehrlich wie in diesem Moment hatte ich Carmen noch nie erlebt. Sie gestand mir, nichts bei Männern zu empfinden. Damit die „ehelichen Pflichten“ bei Jürgen schmerzlos funktionierten habe sie regelmäßig Gleitmittel verwendet. Das erklärte natürlich vieles. Das sie einen direkten Hass auf Männer hatte und daran ihr eigener Vater, der sie ab ihren 12. Lebensjahr zu sexuellen Handlungen, allerdings keinen direkten Geschlechtsverkehr, gezwungen hatte, erfuhr ich allerdings erst deutlich später. Das Theater, was meine zweite Ehe hat zerbrechen lassen, war weniger durch Eifersucht auf meinen Bruder Jürgen als durch die Wut auf meine Frau Rosi, die Carmen diesbezüglich verschmähte, hervorgerufen worden – was aber damals keiner, außer Carmen selbst, wusste. Aufgrund dieser Sache konnte ich dann noch vor der Eheschließung einen Packt mit Carmen schließen, der ein, zumindestens für über zwei Jahre, harmonisches Zusammenleben zwischen uns beiden eröffnete. Ich erklärte ihr, dass ich ihr Verhältnis mit dem Hausmädchen akzeptieren und tolerieren wolle, dafür müsse Carmen mir gelegentliche Seitensprünge zugestehen. Auf ehelichen Verkehr wollte ich freiwillig verzichten, was mir allerdings dann nicht schwer fiel, denn wem macht es schon mit einem „Bügelbrett im Bett“ Spaß. Jetzt war ich durch Zufall zu Carmens Vertrauten geworden und fast schlagartig entwickelte sich zwischen uns beiden ein offenes Freundschaftsverhältnis. Die zweite Panne des Tages kann man allerdings als Omen für dass, was später unsere Freundschaft belasten sollte, ansehen. Durch die Witterung hatte es in unserem Viertel einen Schaden an der Stadtgasleitung gegeben. So konnte Frau Soares das Festmahl nicht bei uns im Hause zubereiten. Der Einfachheit halber schlug sie ein Ausweichen in das Restaurant ihres Mannes, also dem El Toro, vor. Weder die frischgetrauten Eheleute, noch deren Trauzeugen, noch Salvador – und andere waren nicht da - hatten dagegen Einwände. Mein Vorschlag an Carmen auch Steffi mitzunehmen lehnte meine Gattin jedoch aus diversen, allerdings nicht unberechtigten, Gründen ab. Wir saßen in einer gemütlichen Runde, die eigentlich nur gelegentlich von unserem Trauzeugen wegen der Taxiabholung mit einer nicht der Atmosphäre angepassten Bemerkung unterbrochen wurde, beisammen. Mit Carmen hatte ich mich nie zuvor so angeregt und langanhaltend unterhalten, wie es während der Runde der Fall war. Mir war zwar nicht entgangen, dass Herr Soares häufig, später in immer kürzeren Abständen, erschien um meine Frau zu bedienen aber ich registrierte es gar nicht so recht, weil ich ja ein ungewöhnliches Trinkverhalten bei ihr mir bereits gewohnt war. Alkoholkranke besitzen in der Regel ein recht gutes Stehvermögen aber auch kein unendliches. Vor allen wenn diese, doch armen Leute auf einer gewohnten Schiene fahren, sowie Carmen mit Weinbrand oder Rotwein – allerdings nicht beides in Kombination -, können sie praktisch Unmengen verzehren ohne dass sie aus der Rolle fallen. An diesem Tag nahm meine Frischangetraute jedoch eine Expedition quer durch die Schnapsbar vor, wobei noch zusätzlich einige Gläser Tarragona als Standardgetränk den Weg über ihren Mund in ihren Magen nehmen mussten. Mit der Zeit wurden Carmens Aussagen zunehmendst wirrer, also der Sinn schwand immer mehr, und sie begleitete fast jeden Satz mit einem kurzen, gekicherten Lacher. Und dann kam der Zustand, in dem ich sie mir zuvor habe gar nicht vorstellen können. Sie war, wenn ich es einmal volkstümlich sagen darf: vollkommen blau. Das tat mir jetzt wegen des Jungens leid und war mir gegenüber dem Ehepaar Berger peinlich. Ich rief zu Hause an und erbat mir Hilfe bei unserem Hausmädchen, dass ja, wie ich seit heute Morgen wusste, auch die Partnerin meiner Frau war. Steffi ließ sich von Herrn Völler herfahren und zog meine Frau erst mal aus dem Verkehr. Unser Fahrer kam anschließend noch mal zurück und holte die Trauzeugen, Salvador und mich zu einer Hochzeitsrunde ohne Braut in meine Villa. Kurz nach 19 Uhr bat mich Steffi Goldmann „mal kurz“ auf das Zimmer meiner Frau. Hier zeigte sich deutlich was sich seit heute geändert hatte. Ich war der Vertraute meiner Frau, wozu es mein Bruder in über 10 Ehejahren nie gebracht hatte. Carmen schämte sich jetzt wieder zu der Gesellschaft zu stoßen. Aber sie wollte jetzt doch so gerne wieder zu uns kommen und nur noch Saft, Limonade und Cola zu sich nehmen, hatte aber Angst vor einem Entzugszittern und gegebenenfalls dann falschen Verhalten. Ich denke, dass meine Worte wohl jetzt richtig waren: „Ach Carmen, die Beiden werden sich hüten über dir die Nase zu rümpfen. Du bist die Tochter von Alberto di Stefano und Frau seines größten Partners und seines designierten Nachfolgers. Die werden sich hüten dir was anmerken zu lassen. Und wenn du es zwischendurch mal nötig hast, dann stupst du mich an ... du willst doch neben mir sitzen. Dann gebe ich Frau Goldmann ein Zeichen und die bringt dir dann eine Cola mit einem Schuss Weinbrand ... Aber das jetzt nicht übertreiben.“. Bevor sie ihr Einverständnis erklärte hatte sie noch eine Bitte: „Walter, ihr beide Steffi und du seit jetzt meine besten Freunde. Könnt ihr nicht zueinander Du sagen. ... Irgendwie fühle ich mich dann wohler.“. Na ja, meine Frau kam wieder mit runter und trat wie ihr geraten recht selbstbewusst auf. Eine Cola mit Schuss hat sie an diesem Abend, der noch bis kurz nach Zehn dauerte nicht gebraucht, aber nach dem Abschluss nahm sie doch einen kräftigen Schluck aus der Weinbrandflasche. Auf die, eigentlich vorher lang ersehnte Hochzeitsnacht verzichtete ich
und trat meinen Platz in Carmens Bett an Steffi ab. Dafür genehmigte ich mir am nächsten Tag, einen Samstag, ein flotten Nachmittag in einem Bordell für den gehoberen Anspruch – und das mit Zustimmung der Ehefrau; dass soll mir mal jemand anderes sagen. Den Samstagabend und den Sonntag verbrachte ich bei einem zuvor nicht erwarteten harmonischen „Familienleben“ in meiner Villa. Solche Wochenende, wie dieses nach meinem dritten Start in ein Eheleben, waren dann im Verlauf der nächsten Zeit die einzigsten persönlichen Oasen in meinem Leben, nur an solchen Tagen war ich noch der Mensch Walter Heuer. Ansonsten entwickelte ich mich, so wie ich das jetzt in der Nachbetrachtung sehe, zum lebenden Roboter. Ich habe mich in den Jahren 1988 und 89 noch einmal drastisch geändert. Bedingt durch die, zunächst häufige und später ständige Vertretung von Alberto di Stefano ging ich mehr und mehr in Geschäft und Wirtschaft auf. Persönliche Interessen, auch mein Drang zum anderen Geschlecht, schwanden mehr und mehr in den Hintergrund. Ich lebte und dachte nur noch für die EuroTrans AG, deren Töchter und alle dem was mit der AG verflochten war. Dabei dachte ich dann zunehmendst nicht mehr unternehmens- beziehungsweise branchenbezogen sondern in wirtschaftsstrategischen Dimensionen. Es ging nicht mehr um Sinn und Nutzen einer Unternehmung sondern ausschließlich darum, wie sich dieses oder jenes auf dessen Marktwert auswirkt und wie ich damit Einfluss auf die Börsenkurse nehmen kann. Letztendlich war es mir vollkommen egal ob wir Urlaube und Transporte anbieten oder Computer, Zahnbürsten oder nur Bleche. Unternehmensnamen und Standorte wurden mir zunehmendst schnuppe; es zählten nur die Kosten auf der einen Seite und Renditen auf der anderen Seite die XYZ in Irgendwo verursachten oder erbrachten. Mittelständische Unternehmenskultur wurde durch Kapitalmanagement ersetzt. Ich wurde dem kranken Don Alberto immer ähnlicher und der freute sich in mir den richtigen Kronprinzen gefunden zu haben. Auch die Bewertung der Menschen selbst ändert sich bei mir. Nicht der Symphatikus oder Interessenkongruenz bestimmten die Einordnung meiner Gegenüber in eine Positiv-Negativ-Skala, sondern das, was sie zu bieten hatten und wie schwer oder leicht sie es mir machten daran zukommen. Viele, die ich früher für Arschlöcher hielt waren nun auf einmal meine „Freunde“ und umgekehrt. Sehr schnell nahm ich Leute in meinen engeren Kreis auf und ließ sie genau so schnell wieder fallen. Wenn ich mich bei meinen engsten Mitarbeitern nach ihrem persönlichen Wohlergehen oder nach deren Familie erkundigte lag die Motivation nicht im wahren Interesse sondern in Lehrsätzen bezüglich Personalführung. Eigentlich war es mir egal wie es denen ging. Wenn sie erschienen und als meine Kofferträger agierten war es gut. Und wenn mal nicht, dachte ich sofort über den Ersatz des betreffenden Arbeitnehmers nach. Wenn ich mich heute rückbesinne erschreckt es mich immer sehr tief, wie ich damals nach und nach auch meine eigene, durch persönliches logisches Denken gebildet Meinung aufgab und mich den in erfolgreichen Kreisen üblichen Trendmeinungen anschloss. Bis zu dem Zeitpunkt wo ich in di Stefanos Stiefel trat favorisierte ich eine antizyklische angebots- und nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik und jetzt wurde ich zum Vertreter der nur angebotsorientierten neoliberalen Denkweise. Früher wusste ich, dass Letzteres nur mit stetigen Zuwachs funktionieren kann und es den aufgrund natürlicher Wachstumsgrenzen nicht geben kann. Und dann war ich ein fanatischer Vertreter solcher Schnellballsysteme. Machen wir es kurz: Ich war ein Wirtschaftboss wie alle anderen geworden. Das Individuum, das nur rein zufällig Unternehmer war, war gestorben. In den Stiefeln des großen Alberto di Stefano war ich zum zeitgemäßen, jederzeit durch Tausende anderer austauschbarer, Allerweltsmultimillionär geworden. Nichts besonderes mehr, nur bekannter als gleichartige Typen aus unteren Einkommensschichten. Von der Masse der Menschen unterschied ich mich nur noch dadurch, dass ich mit einer Fehlentscheidung größeren Schaden anrichten und selbst in einem solchen Fall noch davon profitieren konnte. Don Alberto hatte richtig entschieden: Ich war sein ihm würdiger Nachfolger. Ein Problem hatte ich doch. Di Stefano hatte sein, inzwischen über ganz Europa gestreutes Imperium, in Spanien aufgebaut. Dass ich mich als sein Vertreter und Schwiegersohn somit mehr auf der iberischen Halbinsel als anderswo aufhielt war mir eigentlich egal, denn ich hatte im Grunde auch keine Augen mehr für die Schönheiten dieser Welt und das Wetter interessierte mich nur hinsichtlich der Energiekosten, die bestimme Wetterlagen verursachten. Problem war, dass er seine Hierarchie mit seinen Landsleuten aufgebaut hatte. Die wichtigsten Stiefelknechte und Kofferträger waren Spanier deren Sprache ich nicht verstand. Laufend hatte ich das Gefühl, dass diese das nutzen würden um mich zu hintergehen. Auf Carmen konnte ich nicht, wie das bei Rosi der Fall war und gewesen wäre, zurückgreifen, denn der Macho di Stefano hatte seine Tochter zur Edeldame aber nicht zur Geschäftsfrau gedrillt. Carmen hat bei allen Dingen, die man im wirtschaftlichen Leben gebraucht erhebliche Defizite. Dieses, also den Standort der Zentrale, wollte ich unbedingt ändern, aber so etwas wäre immer an Don Albertos Veto gescheitert, obwohl ich inzwischen in allen anderen Dingen absolut freie Hand hatte. Nur aus diesem Grunde änderte sich in dieser Zeit meine negative Einstellung gegenüber meinem Schwiegervater, dem ich mich ansonsten so angepasst hatte, nicht. Aber auch meine dritte Frau Carmen veränderte sich nach unserer Hochzeit. Jetzt war ich laufend in Spanien und früher hätte sie es sich nicht nehmen lassen mit in ihr herkömmliches Umfeld zu gelangen. Nach unserer Hochzeit lehnte sie aber Spanienreisen zunehmend ab und blieb lieber in ihrer neuen Heimat Waldheim. Aber weder die Stadt Waldheim noch ich waren der Grund dafür sondern ihre Freundin Steffi. Zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie echte Partnerschaft und lockerte dadurch immer mehr auf. Selbstverständlich konnte sie nicht über ihren Schatten springen aber sie vollzog die umgekehrte Entwicklung wie ich. Während ich immer mehr Roboter wurde, wurde sie immer mehr
Mensch. Das hätte es früher nie gegeben, dass sie sich in Begleitung eines Partners oder einer Partnerin zu Fuß unter die Menschen begab. So berichtete mir Rosi Jahre später mal von einer Begegnung mit Carmen in der Waldheimer Innenstadt, die meine zweite Frau fast sprachlos gemacht hätte. Erstens war es für Rosi überhaupt überraschend ihre Schwägerin dort zu treffen und als Carmen sie dann noch locker angesprochen und sich nach ihren Befinden erkundigt habe, sei sie sich wie in einem unverständlichen Traum vorgekommen. Auch für Salvador gab es Änderungen. Steffi und Carmen mobbten Montserrat Costa aus dem Haus und kümmerten sich letztendlich nur noch selbst um Carmens Sohn. Dieser verweltlichte dabei ein Wenig. Aus einem „katholischen Klosterschüler“ wurde ein Junge aus sittenstrengem konservativen Haus. Also es gab keine 180-Grad-Wendung aber einen Fortschritt in Richtung Welt und Leben. Eines konnte man allerdings nicht ändern: Die Anfälligkeit und Schwächlichkeit des Jungens. Häufig litt Salvador unter Asthmaanfällen, was Don Alberto dann, wenn er davon hörte, immer zu dem dringenden Rat, der Junge müsse auf ein Internat, beflügelte. Diesem widersetzte sich Carmen aber energisch – was auch als ein neuer Zug an ihr gewertet werden muss, denn früher hätte sie so etwas nie gewagt. Zum Kapitel 16
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Fahr zur Hölle Don Alberto Es ist doch seltsam, wie es immer Zeitpunkte gibt wo praktisch ein Ereignis das andere jagt und dann folgen ganze Perioden einer kontinuierlichen höhepunktlosen Entwicklung, die sich aber deutlich von der Zeit vor dem Schlüsselereignis unterscheiden. Diesbezüglich denke ich da zunächst mal an meine Hochzeit mit Carmen und die dann folgende Zeit. Ende 1989 sollte dann ein weiteres Schlüsselereignis in meinem Leben einen neuen Abschnitt anstoßen. Diesmal fielen meine persönlichen Wendepunkte mit großen, geschichtlichen zusammen. Sie entsinnen sich doch an den 9. November 1989, an dem Tag wo, ausgelöst durch einen Irrtum beziehungsweise Übermittlungsfehler an den SED-Funktionär Günter Schabowski, sich plötzlich die Mauer öffnete und in Folge fiel. Dieses Ereignis traf die Weltöffentlichkeit plötzlich wie eine, von einem Terroristen heimtückisch gelegte Bombe, obwohl sich eine entsprechende Entwicklung vorher abzeichnete. Der Ostblock hatte sich förmlich an die Wand gewirtschaftet und wurde im Inneren durch Unzufriedenheit bis hin in die höchsten Funktionärskreise zermürbt. Alle rechneten jetzt mit einer Liberalisierung und man machte sich Gedanken, wie diese aussehen würde und wie man von ihr profitieren könne. Dass die Mauer fallen würde und es in Folge dessen zur Wiedervereinigung kommen würde hatte aber niemand geahnt. Wer heute behauptet er habe das vorausgesehen darf ruhig für einen „Schwätzer“ gehalten werden. So hatte sich auch meine persönliche Geschichte vorher abgezeichnet aber was dann wirklich passierte war eine Überraschung größeren Ausmaßes. Ich habe ja schon davon berichtet, dass sich Alberto di Stefano in den letzten beiden Jahren krankheitsbedingt von mir, zuletzt fast ständig, vertreten ließ. Jetzt wollte er die Konsequenzen ziehen. Wie alle Jahre wieder sollten Weihnachten und Jahreswechsel auf seinem Landsitz bei Barcelona „erlebt“ werden. Zum 29. Dezember, den letzten Werktag des Jahres 89, hatte er zu einem besonderen Empfang geladen. Er wollte Geschäftsfreunden und ausgewählten Medienleuten seinen Rücktritt als Vorstandsvorsitzender der EuroTrans AG sowie von der Geschäftsführung diverser eingeschachtelter Unternehmen bekannt geben. Mich wollte er dann den Leuten als sein Nachfolger präsentieren. Intern war abgesprochen, dass ich ihn nur noch bei bestimmten Großentscheidungen zu konsultieren hatte, ansonsten sollte ich der „Herr im Imperium“ sein. Er wollte sich danach auf seinen andalusischen Landsitz zurückziehen. Zwischen Schwiegervater und –sohn war auch abgesprochen, dass ich die Konzernszentrale von Barcelona nach München verlegen konnte. Aber wie so oft, kam jetzt natürlich alles anders. Jetzt, wo ich das Zepter übernehmen sollte, wurde auch Carmen gegenüber ihren, von ihr gehassten, Vater mutig. Erstmalig sollte uns auf der diesjährigen Weihnachtsreise Steffi begleiten. Meine Frau wollte mit dem „Hausmädchen“ vor ihren Vater treten und ihm sagen: „Mein Herr Vater, ich bin ein Lesbe und Stefanie ist meine Partnerin. Und wenn es dir nicht passt berichte ich allen Leuten was du mit mir gemacht hast.“. Und danach wollte Carmen ihre Freundin heiß und innig küssen. Steffi war zwar mit von der Partie als wir am Freitag, dem 22. Dezember 89, nach Barcelona flogen aber Carmens Plan wurde nie in die Tat umgesetzt. Der Grund lag im besorgniserregenden Gesundheitszustand von Don Alberto. Wir erlebten ihn praktisch in drei Zuständen: Einmal ganz weggetreten, dann mal in einer Art totaler Verwirrung und nur wenig in den Zustand, in dem er seine Umwelt wahrnahm. Nur beim dritten Zustand sprach er vernünftig und logisch mit uns, ansonsten hörte sich alles nach der Offenbarung des Johannes oder nach den Prophezeiungen des Nostradamus an. Steffi und ich hatten Mühe Carmen auszureden, nicht doch eine der wenigen echten Wachphasen für ihr Vorhaben zu nutzen. Das war für Carmen der Anlass uns zu berichten, was dieser „heilige Edelmann“ seiner Tochter alles angetan hatte. Das meine Frau sich nicht persönlich entwickeln durfte, dass sie nicht erzogen sondern wie ein Zirkuspferd abgerichtet wurde und nie nach eigenen Interesse für sich entscheiden durfte, bedarf jetzt keiner besonderen Erwähnung mehr, da man dieses zwischen den Zeilen, die ich bis jetzt geschrieben habe, lesen kann. Ich habe es zwar bereits erwähnt aber tatsächlich erfuhr ich erst jetzt, Weihnachten 1989, dass Don Alberto auch seine Tochter sexuell missbrauchte. Er hat zwar, wie Carmen berichtete, nie seinen Penis bei ihr eingeführt, aber ansonsten gab es die ganze Palette sexueller Spielarten, vom sogenannten „Blasen“ bis zur exhibitionistischen Showmasturbation. Weinend gestand mir Carmen, dass sie damals, als sie Jürgen und Rosi in Flagranti erwischt hatte, in ihrem damaligen Mann ihren Vater gesehen habe und Jürgen habe das einstecken müssen, was sie ihrem Vater zugedacht habe. Als sie uns, also Steffi und mir, dieses am Abend des Vierundzwanzigsten berichtete, hatte sie uns in der Richtung weich geklopft, dass wir zustimmten, dass sie ihren Plan in der nächsten Wachphase des „Schweins“ ausführen solle. Dazu kam es aber nicht mehr. Am Morgen des 1. Weihnachtstages bekam er zwischen Vier und Fünf einen Herzinfarkt an dem er dann verstarb. Es ist weder mit humanitärer, noch mit christlicher Einstellung und auch nicht mit guter Erziehung vereinbar, dass ich jetzt wünschte „Fahr zur Hölle Don Alberto“, aber ich dürfte nicht der Einzigste gewesen sein, der so dachte. Die seltsamste Kombination von Gefühlserregungen, die ich jemals in meinem Leben erfahren konnte, kam jetzt von meiner Frau. Ganz unmotiviert jubelte sie zeitweilig los, wobei es zu richtigen Freudenschreie kam. Ich kann allerdings nicht wiedergeben was sie jubelte, da sie sich dabei ausschließlich ihrer spanischen Muttersprache bediente und fragen wollte ich auch nicht. Mitten im Jubel brach Carmen dann in bitterlichen Tränen aus, die dafür sprachen, dass sie tief um ihren Vater trauerte. Was mir in der Nachbetrachtung doch etwas unerklärlich scheint ist, dass die alkoholkranke Carmen bis nach der Beisetzung sogar weniger Alkoholisches verzerrte als in normalen Zeiten.
Steffi und ich mussten uns aber mehr um Salvador kümmern. Für den Jungen war sein Großvater so eine Art „lieber Gott“ gewesen und bei ihm mischten sich Trauer und Verzweifelung. Mir schien, dass der Junge wirklich der einzigste sei, der Trauer um diesen Alberto di Stefano empfand. Viele Leute drückten zwar ihre Bestürzung und tiefempfundene Anteilnahme aus, aber ich schätze dass es sich um 100 Prozent Lippenbekenntnisse handelte; die meisten waren doch recht froh, dass dieser Typ das Zeitliche gesegnet hatte. Aber es gab auch nicht wenige, die der Tod von Don Alberto in Besorgnis versetzte. Das waren die Leute, die bei ihm Trittbrett fuhren oder in seiner Hierarchie groß geworden waren. Die sahen jetzt, wo der „Deutsche“, wie man mich gering schätzte, das Ruder übernimmt ihre Zukunft nicht mehr ganz so rosig. Die „trauerten“ also aus egoistischen Gründen. So unrecht hatten diese auch nicht, denn ich war jetzt der mächtige Mann im Imperium. Ich war sogar mächtiger als Don Alberto jemals gewesen war. Meine Frau war die Mehrheitsaktionärin aber ich hatte das Sagen über ihr Vermögen. Dazu kamen meine eigenen eingebrachten Anteile sowie die meines Bruders, der sich in letzter Zeit aus allem raushielt und mir vor den beiden letzten Hauptversammlungen eine Vollmacht zur Wahrnehmung seines Stimmrechts ausgestellt hatte. Meine erste Handlung als „neuer Imperator“ ging dann sogar noch in Richtung Machtausbau. Sogar mit Carmens Zustimmung kapitalisierte ich di Stefanos Landsitze in Spanien, außer in Barcelona und Andalusien gab es noch drei weitere, und verwendete das Kapital um einer spanischen Bank ihr Aktienanteil, der viertgrößte Anteil nach di Stefanos und Jürgens sowie meines eigenen, „abzukaufen“. So etwas geht natürlich nicht von Heute auf Morgen, sondern das war ein Prozess, der in 1990 lief. Ein anderer, familiärer Prozess lief dazu parallel. Nach unserer Rückkehr aus Spanien sprach ich Jürgen an, ob er jetzt nicht an meiner Seite wieder aktiver werden wollte. Er bekundete mir jedoch, dass ihm am Gegenteil, am gänzlichen Aussteigen gelegen sei und lud mich zu ihm ins Haus. So kam ich dann Ende Januar 1990 erstmalig wieder für ein paar Stunden mit meinem Bruder und mit Rosi zusammen. Die anfänglichen gegenseitigen Hemmungen versuchte ich damit auszuräumen in dem ich Rosi mit den Worten „Na Rosi, die beste Schwägerin, die ich jemals hatte“ begrüßte. Da konnte ich von Glück sprechen, dass ich Carmen nicht dabei hatte, denn sie war schließlich ja auch mal meine Schwägerin gewesen und genau das war Rosi sofort aufgefallen und von ihr kommentiert worden. Darauf sagte ich dann nur: „Ach Carmen ist besser als du vielleicht glaubst. Sie ist zwar immer vermögend gewesen aber glücklich war sie noch nie ... und ich kann sie mit Sicherheit nicht glücklich machen.“. Darauf hatte Jürgen dann die Frage: „Entschuldigung Walter, ich will euch jetzt nichts; also bitte nicht böse sein. Ich hatte immer das Gefühl Carmen sei lesbisch ... ist da was dran?“. Als ich ihm dieses bestätigte erfuhr er, der mit Carmen über ein Jahrzehnt verheiratet war, erstmalig von ihrer wahren Veranlagung. Als ich dann berichtete das Steffi ihre Partnerin sei, fragte Rosi, anschließend etwas verlegen ob ihrer kecken und spontanen Frage: „Und wie kommst du damit klar?“, was ich dann wahrheitsgemäß mit dem Recht auf Seitensprünge beantwortete. Jürgen gab sich jetzt scherzend aber ich hatte schon verstanden, dass das „Aber nicht mit Rosi“ ernst gemeint war. Der Prolog zum Gespräch hatte dann doch eine lockere Atmosphäre, in der mir Jürgen seine Vorstellungen unterbreiten konnte, erzeugt. Er wollte aussteigen und sich ganz ins Privatleben zurückziehen. In Seetal, direkt am See, befände sich bereits sein Eigenheim, ein kleines Häuschen im Bungalowstiel, im Bau. Dort wollte er sich dann nur noch ehrenamtlich betätigen. Beim dortigen Fußballverein SG Seetal bestände zur Zeit Bedarf nach einem Geschäftsführer und er wolle sich bei der Hauptversammlung im Februar als Kandidat für diesen Posten zur Verfügung stellen. Vielleicht käme für ihn auch so ein Bisschen Mitmischen in der Kommunalpolitik in Frage aber ansonsten wollte er ganz Privatier sein. Sein Plan war jetzt seine Aktien und sonstigen Anteile zur veräußern und sich dafür langfristige festverzinsliche Anlagen mit jährlicher Zinsausschüttung, von der er leben wollte, zuzulegen. Das hätte er auch jederzeit ohne mich machen können, aber er bot mir gegenüber Dritten, zum Beispiel Banken und Börse, ein Vorkaufsrecht an. Was ich wollte, sollte ich auch haben. Bei meiner damaligen Machtbesoffenheit nahm ich alles und hatte deshalb anschließend mächtig „Arbeit“ mit der Finanzierung des Paketes. Na ja, an diesem Abend vereinbarten wir dann die komplette Angelegenheit Rechtsanwälten zu übergeben, die das Ganze festklopfen sollten. Bei der Gelegenheit wollten wir dann auch unsere gegenseitigen Erbschaftsangelegenheiten vertraglich regeln. Am ersten Abend war letzteres nur kurz angesprochen, aber es wurde zum Knackpunkt der Juristenarbeit. Wäre es nach Jürgen gegangen, dann hätte er Hendrik, den gemeinsamen Sohn von Rosi und von mir gleich mit einbezogen. Jürgen hatte die Vorstellung, dass ich die Anlagen deutlich aufstocken sollte und der Zinserlös aus der Aufstockung Hendrik zu Gute kommen sollte. Nach dem Tode von Jürgen sollte dann Hendrik diese Anlagen komplett erhalten. Mein Sohn wäre also aus meiner Erbfolge in die seines Stiefvaters und Onkels gewechselt. Mir war die Aufstockung ein „zu dicker Brocken“ und Rosi wie der Betreffende selbst war dieses allerdings ganz und gar nicht recht. So drehten sich diesbezüglich dann die Tätigkeit der Anwälte öfters mal im Kreis ohne das sich da ein Ergebnis abzeichnete. Letztlich war aber doch alles „im grünen Bereich“; auch ohne Einbeziehung unseres Sohnes. Im Sommer zog Jürgen in sein Seetaler Haus und am 9.11.1990, ein Jahr nach dem Mauerfall war das von ihm vorgeschlagene Geschäft, jedoch wie schon so eben geschrieben, ohne Einbeziehung Hendriks, perfekt. Nach diesem Zeitpunkt hatte ich dann sogar ohne böse Absicht oder Feindschaft, außer Geburtstags- und Weihnachtsgrüße keinen Kontakt mehr zur Familie meines Bruders – so wie es damals auch bei Anni und Dietmar war.
Ich hatte auch beim besten Willen keine Zeit, denn ich powerte pausenlos auf dem geschäftlichen Gebiet. Dabei ging ich recht hemmungslos und ohne emotionale Bindungen vor. Nach dem Fall der Mauer errichtete ich zunächst, über die Treuhand subventioniert, drei neue Niederlassung für die EuroSpe und die EuroTours in der Ex-DDR, die man heute landläufig als Neue Länder bezeichnet. Dafür wurden dann zwei Standorte im Westen liquidiert. Man könnte böse sagen, dass Wessis mit ihren Lohnsteuergroschen den Abbau ihrer Arbeitsplätze finanziert hätten. Da das Speditionsgeschäft in Spanien, dem Herkunftsland der di Stefanos, nicht so einträglich war, „verhökerte“ ich die EuroSpe Espana in „Einzelteilen“ und verlegte die Konzernsspitze nach Deutschland – nicht nach München wie ursprünglich vorgesehen sondern nach Leipzig, wo ich Subventionen abstauben konnte. Die fünf lukrativen Standorte der EuroTours hielt ich weiterhin aufrecht während ich die beiden „mageren“ Busniederlassungen liquidierte. Insgesamt verloren fast 100 Mitarbeiter in 1990 und 91 ihren Arbeitsplatz. Während der Konzernsumsatz in diesen beiden Jahren „nur“ um knapp 17% stieg legte das „Imperium“ beim Gewinn um fast 40% zu. Der Umsatzanstieg hatte in erster Linie seine Ursache darin, dass ich so ganz locker den Ossis, gerade auf dem touristischen Gebiet, die soeben erworbene DMark wieder aus der Tasche zog. Aber damals profitierten ja auch viele, die gleich auf dem Zug aufsprangen, wie wir vom West-Ost-Kaufkraft-Transfer. Wem störte schon, dass so was immer zu einer kurzfristigen Überhitzung und anschließenden zu mittel- oder gar langfristigen Schwierigkeiten führt. Noch heute humpelt aus diesem Grunde die Bundesrepublik hinter der Entwicklung in anderen europäischen Staaten her. So hatte ich nicht nur für Jürgens sondern auch für meine eigene Familie praktisch keine Zeit. Bei letzterer war ich jedoch ein bis zwei Mal im Monat ein „Wochenendgast“. Da gab es dann in der Regel zwei Dauerthemen die regelmäßig angesprochen wurden. Einmal waren das Salvadors immer häufiger werdenden Asthmaanfälle und zum anderen Carmens „unentwegte Sauferei“. Heute muss ich gestehen, dass ich bei diesen Angelegenheiten nur scheinbar Anteil nahm, was heute mein Gewissen schwer belastet. In den beiden Jahren nach di Stefanos Tod wurde meine Teilnahmslosigkeit durch die Liebe zwischen Steffi und Carmen mehr als ausgeglichen und so hatte ich damals vermeintlich auch keine Veranlassung ein Sündergewissen zu entwickeln. Einzig dadurch, dass ich Steffi dabei unterstütze Carmen eine Entziehung anzuraten, machte ich mich etwas mehr nützlich als ein gewöhnlicher Gast. Ich glaube, dass mir damals nur ein menschlicher Zug geblieben ist – und der ist auch im Urtrieb aller Tiere zu finden: Der Drang zur Paarung. In dieser Beziehung war ich sogar wieder richtig jung geworden. Ich stand gar nicht mehr so sehr auf „Omas über Dreißig“ sondern ich suchte mir gerne frisches Blut, dass altersmäßig in den Zwanzigern anzusiedeln war. Das „Anheuern der Damen“ fiel mir gar nicht schwer, denn ich schätze mal, dass es fast jede zweite Frau war, die sich von mir mit einem Tausender ins Liebeslager locken ließ. Aus heutiger Sicht finde ich, dass es bei uns in den 80er- und 90er-Jahren in unserer Gesellschaft einen drastischen Werteverlust gegeben hat, der sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks noch dramatisierte. Die sittlich moralische Wende, die Kanzler Kohl in seiner Regierungserklärung 1982 verkündet hatte, war offensichtlich zu einem Schuss nach Hinten geworden. Werte, die Persönlichkeiten ausmachen und das Zusammenleben der Menschen harmonisieren, traten hinter dem eigentlich nur wirtschaftlich bedeutenden Geldwert zurück. So wurde nach meiner Ansicht auch Liebe und Erotik auf dem Altar des Gottes Mammon geschlachtet. So war doch manche junge Frau bereit, wenn sie Spaß dabei kriegen und einen Tausender dabei kassieren konnte, mit mir ins Liebeslager zu steigen. Dabei spielte es keine Rolle ob sie anderweitig verliebt, verlobt oder verheiratet waren. Die meisten dieser Damen sagten mir doch, dass sie lieber aus diesen oder jenen, ausnahmslos egoistischen Gründen sowieso lieber Single bleiben wollten. Diese Ansichten waren bei den Damen zwischen Zwanzig und Neunundzwanzig deutlich stärker vertreten als bei älteren, womit ich mir im Grunde auch meine Vorliebe für dieses Alter erkläre, denn richtig „knackig“ sind, zumindestens nach meinem Geschmack, doch eher die Frauen ab Dreißig. Das krasseste Beispiel von Prostitutionsbereitschaft von nichtgewerblichen Durchschnittsfrauen erlebte ich im August 1990 in London, wo ich mich eine knappe Woche zu Geschäftsgesprächen aufhielt. Nach einem zähverlaufenden Verhandlungstag begab ich mich noch auf einen Entspannungsdrink in die Hotelbar. Neben mir stand beziehungsweise saß ein junges deutsches Ehepaar; beide werden wohl so Mitte Zwanzig gewesen sein. Sie, die sich mir als Tini vorstellte, hatte ein Superfahrgestell, das heißt lange, schlanke gut gestylte Beine. Ich kenne mich mit Maßen und Gewichten nicht so aus, nehme aber an, dass diejenigen Tinis dem entsprachen was man Idealmaße nennt. Sie hatte langes blondes Haar, das über die Schultern bis bald zum Po reichten. Wenn man von der Augen- auf die Haarfarbe schließen kann, nehme ich aufgrund ihrer hellblauen Augen an, dass Blond tatsächlich die Originalfarbe war. Also Alles in Allem eine „heiße Biene“. Mit solchen Frauen unterhält man sich gerne und etwas übermütig sagte ich ihr, dass ich ihren Mann beneide und gerne mal mit ihm das Bett tauschen würde. Es ist noch nicht einmal eine Entschuldigung wenn ich sage, dass ich dieses damals nicht ernst gemeint hätte. Aber spontan antwortete sie mir: „Ach mein Herr, wir leben im 20. Jahrhundert da kann man doch drüber reden. Ist alles nur eine Frage des Preises.“. Ihr Mann, der mich wohl richtigerweise als moneypotent erkannt hatte, warf gleich „Hast du einen Knall“ ein. Darauf sagte sie ihm: „Na stell dir vor, das wäre ein Tausender, dann könntest du dir doch trotz Londonurlaub den tollen PC, den du unbedingt haben willst, kaufen.“. Es zur Hälfte immer noch für Spaß haltend, winkte ich mit zehn Hundertmarkscheinen, die ich in der Regel immer als stille Reserve für unterwegs in meiner Brieftasche habe, Zahlungen nehme ich normalerweise mit Plastikgeld oder Schecks vor, und sagte dabei: „Na, daran soll’s nicht liegen.“. „Wenn sie jetzt auch noch hundert englische Pfund drauflegen ist die Sache perfekt.“, tönte sie dann noch.
Auch mit Letzteren konnte ich dienen. Da erhob sie sich von ihrem Barhocker und gab nach den Worten „Bis Morgen, Schnoopy“ ihrem Mann einen Kuss und nahm mich bei der Hand und fragte mich wo meiner Zimmer wäre. Natürlich machte der so dreist gehörnte Ehemann jetzt eine Szene. Aber ganz gelassen wandte sich Tini an mich und deutete an, dass sie jetzt die Scheinchen übernehmen wolle und wandte sich dann ihrem, kurz vor einem Tobsuchtsanfall stehenden Ehemann zu: „Denk an deinen PC. Die zehn Blauen (Hundertmarkscheine) werde ich jetzt erst mal für dich verwahren.“. Sie unterbrach ihre Rede und reichte ihm die englischen Noten und fuhr dann fort: „Und damit tröstest du dich heute Nacht erst mal.“. Paradoxer Weise setzte er die 100 Pfund bei einer Gewerblichen in Soho um. Dieses verkündete er uns voller Stolz sofort als ich seine bessere Hälfte vor dem Frühstück wieder bei ihm ablieferte. Vorher hatte ich jedoch eine tolle Nacht mit Tini, bei der ich deutlich merkte, dass sie mit so etwas gar nicht viel Erfahrung hatte. Nichts war besonders professionell; sie wirkte wie eine normale seitenspringende Hausfrau. So leicht hatte ich es bei der 24-jährigen Stefanie Berger, meiner damaligen Sekretärin, nicht. Da musste ich schon mehr Trickse und Charme aufwenden bis ich sie in der Horizontale hatte. Dafür hatte ich es mit ihr nicht nur ein Mal sondern es summierte sich letztlich auf fünf Schäferstündchen. Ich brauchte auch kein einziges Mal mit einem Tausender winken aber dafür kam sie mir letztlich doch erheblich teuerer wie alle anderen. Das erste Mal hatte ich mit ihr das Vergnügen in Hannover wohin ich sie mit zur CeBit genommen hatte. Auf dieser Messe verhandelte ich einmal mit Siemens und einmal mit IBM über die elektronisches Vernetzung „meines“ Imperiums. Beim Abendessen sprach mich Stefanie an: „Geben sie es zu, Herr Heuer, sie wollen mit mir ins Bett. Oder was sollen sonst ihre fast direkten Annäherungsversuche, insbesondere wenn sie mich zum Diktat zu sich gerufen haben?“. Ich machte mir erst Sorgen um meine Autorität und wollte mich mit „nur auflockernden Umgangston“ herausreden. Sie nagelte mich aber mit den Worten „Und warum zittert ihre Stimme dann immer dabei“ fest. Und dann folgte noch ganz forsch: „Machen sie jetzt keinen Fehler, Chef. Ich habe nämlich gerade meine heiße Phase und deshalb haben sie, wenn sie wollen heute auch bei mir Erfolg.“. Da gab ich mich ehrlich ertappt und lag schon 10 Minuten später mit ihr im Bett. Ich konnte dabei auch feststellen, dass sie im Gegensatz zu der eben beschriebenen Tini doch an Professionalität grenzende Fähigkeiten auf diesem Gebiet hatte. Die trieb es bestimmt oft und gern – und mit großer Wahrscheinlichkeit mit wechselnder Herrlichkeit. Im Büro verhielt sie sich danach jedoch immer normal und korrekt. Mit Ausnahme dann, wenn sie mir an meinen Chefschreibtisch die Dienste leistete, wie sie später Monika Lewinsky auch dem US-Präsidenten Bill Clinton bot, sprach sie mich grundsätzlich auch mit „Sie“ und „Herr Heuer“ an. Bis dann Anfang 1991 der „große Knall“ kam. Ich hatte sie zu einem Diktat hereingerufen. Sie setzte sich aber nicht, wie es üblich war, in dem Sessel vor dem Schreibtisch sondern nahm in einer etwas zweideutigen Sitzhaltung auf dem Tisch platz: „Walterchen, denk dir, wir werden Eltern. Ich bin schwanger.“. Völlig gelassen antwortete ich ihr: „Wie soll das denn funktionieren? Ich habe immer Kondome benutzt, da ich viel zu viel Schiss vor Aids habe. ... Und das gerade bei dir, wo du doch offensichtlich ganz gerne mal bei diversen anderen Gelegenheiten die Beine breit machst.“. Na ja, ein paar Mäzchen machte sie noch und dann konnte ich ihr meine Konsequenz verkünden: „Also, mit uns beiden wird es wohl nicht mehr funktionieren. Daher biete ich dir ... Mutterschutz hin und Mutterschutz her – einen Auflösungsvertrag an. Du bekommst 50.000 DMark und wir sind quitt. Es steht dir frei, zu beantragen, dass ein Vaterschaftstest durchgeführt wird. Sollte ein Wunder geschehen sein und ich doch der Vater sein, zahle ich selbstverständlich den Kindsunterhalt.“. Ich war mir vollkommen sicher; auch in der Richtung, dass sie aus guten Grund auf einem Vaterschaftstest verzichten würde. Bei Letzterem sollte ich mich jedoch getäuscht haben, sie bestand wider besseres Wissen auf den Test. Natürlich ergab sich das Ergebnis, so wie es nach meiner festen Überzeugung nicht anders sein konnte: Ich war nicht der Vater. Solche Sachen hakte ich in der Regel unter Banalität ab und erzählte davon zu Hause so gut wie nichts. Kurz nach dem Vaterschaftstest ergab es sich jedoch mal, dass Carmen aus Kummer über Salvadors damaligen Krankenhausaufenthalt zu tief ins Glas geschaut hatte. Während sie auf ihren Zimmer ihren Rausch ausschlief unterhielt ich mich mit Steffi Goldmann im Wohnzimmer. Dabei erzählte ich ihr beiläufig von ihrer Namenscousine und deren missglückten Versuch der Kindsunterschiebung. Da wusch mir „unsere“ Steffi erst mal den Kopf: „Walter, du hast mir mal gesagt, dass du Don Alberto, wie du Carmens Vater immer nennst, als er starb gewünscht habest er solle zur Hölle fahren. Nach allem, was ich weiß, hat er dieses auch verdient und ist dahin gefahren, wo du ihn hingewünscht hast. Aber peinlich für dich: Er hat dich vorher an die Leine genommen und will dich nachziehen. Wenn du so weitermachst wirst du eines Tages neben ihn in der Hölle landen.“. Sie führte aus, das ich inzwischen als Firmenboss schon eine gelungene Kopie des Alten sei. Wenn man sich überlegte, was er mit seiner Tochter gemacht habe, könne man davon ausgehen, dass er auch keine Gelegenheit ausgelassen habe andere Frauen als Lustobjekt zu missbrauchen. Ich würde also mehr und mehr zum wiedergeboren Don Alberto. Wenn ich so weiter machen würde, würde bestimmt bei meinem Tode auch mal jemand sagen „Fahr zur Hölle Walter Heuer.“. Ich nahm Steffis Standpauke, wie es sich für einen Toppmanager gehört, gelassen entgegen aber bewegt hat sie damit absolut nichts. Ich war damals so boniert und hoffärtig, dass ich meine Handlungsweisen noch entsprechend der Situation für richtig und gut hielt. Ganz im Gegenteil, fühlte ich mich irgendwo geschmeichelt, denn mehr und mehr hatte ich die Meinung anderer Profitfetischisten übernommen und der nach war mir Don Alberto im Bereich von Management und „Lebensart“ ein leuchtendes Vorbild geworden. Was sein sexuelles Fehlverhalten anbelangte, hielt ich das, was er Carmen angetan hatte, nach wie vor für eine kriminelle Sauerei. Was aber solche Dinge, wie ich sie selbst
betrieb, anbelangte war ich der Meinung, dass man sich ja nichts aus den Rippen schwitzen kann und ein bisschen Spaß ruhig sein darf. Na ja, da ich inzwischen zu einem absoluten Atheisten geworden war, glaubte ich ohnehin nicht an Himmel und Hölle. Ich ging davon aus, dass ich eines Tages mal an der Reihe wäre und dass es danach aus und vorbei sei ... und bis dahin muss man leben, denn danach bleibt nur der Name, den man sich geschafft hat aber wovon man selbst allerdings nichts hat. Es hört sich also alles so wie „Nach mir die Sintflut“ an und das war, auch wenn es mich heute erschrickt, damals meine feste Überzeugung. Zum Kapitel 17
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Ein Imperium wird zum Töchterchen Es kommt wohl selten vor, dass ein Autor einer Autobiografie mitten aus dem Leben in die aktuelle Jetztzeit springt. Aber ein makaberer Zusammenhang zwingt mich jetzt einfach dazu. Beate, der ich nach wie vor meine Biografie diktiere, hatte gestern, am 11. September 2001, diese Datei eröffnet und die Überschrift eingetippt, als wir aufgeschreckt von einer Meldung des Radios, das wir oft bei unseren Diktaten im Hintergrund laufen lassen, vom PC vor den Fernseher wechselten und dann Ulrich Wickert beim moderieren einer dramatischen und schockierend wirkenden Extra-Tagesschau erlebten. Für uns besonders makaber ist es, dass ich ausgerechnet, wie Sie, liebe Leserin und Leser, später merken werden, von den Ereignissen, die sich 1993 in meinem Leben ergaben, berichten. Ich wollte dieses Kapitel damit beginnen, was sich „ausgerechnet“ nach einem damaligen Besuch im World Trade Center in New York ereignete. Ausgerechnet zum Zeitpunkt als ich dieses diktieren wollte, erfuhr die Welt das bestialische, barbarische Majonetten des Satans aus unerklärlich übersteigerten Hass vorsätzlich mit Passagierflugzeugen in dieses World Trade Center und in einen Flügel des Pentagons gerast sind um Tausende unschuldiger Menschen mit in den Tod zu reißen. Bei einer solchen Nachricht stockt einem natürlich der Atem und wir konnten an diesem 11. September nicht mehr an unseren Buch weiterarbeiten. Erst jetzt, am Abend des 12. September, sind wir in der Lage weiterzumachen und sind dabei davon überzeugt, erst eine aktuelle Einblendung bringen zu müssen. Von Gestern auf Heute haben Beate und ich immer wieder darüber nachgedacht, woher dieser abgrundtiefe Hass kommt, der es immer wieder offensichtlichen Söhnen des Satans, wie diesem Osama Bin Laden, ermöglicht Menschen zu rekrutieren, die selbst unter Missachtung des eigenen Lebens zu solchen bestialischen Taten bereit sind. Was ist in den Leuten, die nach diesem teuflischen Massenmassaker, das meines Erachtens in der Weltgeschichte noch ohne Vorbild ist, auf den Straßen in Ostjerusalem Freudentänze aufführten, vorgegangen? Hier hat man nicht die USA an einer empfindlichen Stelle getroffen sondern man hat der Menschlichkeit und der Würde des Lebens den Krieg erklärt. Wir fragten uns fortwährend, wie man in Zukunft solchen abscheulichen Verbrechen begegnen kann. Kein Zweifel darüber, dass man die Rädelsführer und ihre Helfer in Politik, Wirtschaft und Theokratie ermitteln, aufgreifen und der irdischen Gerechtigkeit zuführen muss. Alles andere wäre ein Freibrief für künftige Hochkriminelle. Aber muss es jetzt nach der Devise „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zu Vergeltungsschlägen kommen? Führt dieses nicht letztendlich zu neuen, wieder tieferen Hass? Kann Vergeltung nicht zu einem Krieg führen, bei der solche Perversionen wie wir sie gestern in den Vereinigten Staaten erlebten, zu Mitteln der „normalen“ Kriegsführung werden? Was ist, wenn man den Tod und das Leiden vieler unschuldiger Menschen dann zu Kolalateralschäden erklärt? Jetzt ist man schockiert, aber an welche Grausamkeiten haben sich Menschen im Laufe ihrer Geschichte nicht alles gewöhnt. Sollten wir uns nicht überlegen wie wir die Wurzeln dieses letztlich weltvernichtenden Hasses ausgraben und vernichten können? Schaffen nicht Globalisierung, also die Deregulierung der Kapital- und Handelsmärkte, und restriktive Grenzabschottungen, wie dieses in den Asylrechten der Industriestaaten verankert ist, auf der anderen Seite Not und Elend. Wenn sich Kapitalströme auf Wenige in nur einigen Ländern konzentrieren dörrt man damit doch andere aus. Die von diesen Ungerechtigkeiten getroffenen Menschen sind für das Feuerschwert des Hasses empfänglich und werden durch eventuelle Vergeltung noch tiefer in den schmutzigen Sumpf menschlicher Empfindung gerissen. Sollten wir nicht umdenken und für viel mehr Gerechtigkeit auf dieser Erde sorgen? Sollten wir nicht die Menschen und das Leben hoch über die Wirtschaft und den Wohlstand stellen? Nur um jetzt Missverständnissen vorzubeugen, sage ich hier eindeutig, dass ich das, was da gestern passiert ist, zu tiefst verabscheue und nirgendwo eine Entschuldigung für so ein bestialische Vorgehen finde. Mein Mitgefühl und meine Anteilnahme gehört den Opfern dieses abscheulichsten Verbrechens, von dem ich zu meinen Lebzeiten gehört habe, und deren Angehörigen. Nach diesem aktuellen Einschub, den ich nicht unterlassen konnte, zurück zu meiner Lebensgeschichte, zum Aufstieg und Fall des Walter Heuer. Wie ich schon eingangs schrieb wollte ich berichten, was sich am 15. April 1993, dem Donnerstag nach Ostern, nach einem Besuch im World Trade Center, das seit gestern nicht mehr steht, ergab. Ich war Ostern nach New York gereist um den „feierlichen“ Abschluss der größten Transaktion meines Lebens zu begehen. Seit Anfang 1992 hatte ich mit einem Multi, dessen Name ich hier im Buch nicht nennen möchte, über die komplette Übername des ehemaligen di-Stefano/Heuer-Imperiums verhandelt. Im Februar 1993 waren wir uns handelseinig geworden. Der Multi übernahm alle Aktien und sonstigen Geschäftsanteile der EuroTrans und bezahlte diese 1:1 mit eigenen Aktien, die einen deutlich hören Kurswert hatten. Ich machte dabei einen „schlichten“ Gewinn von „nur“ 20,2 Prozent. Die im Streubesitz befindlichen EuroTrans-Aktien sollten an der Börse eingetauscht werden. In der Endphase der Verhandlungen waren die Aufsichtsräte einbezogen und auch die Zustimmung der außerordentlichen Hauptversammlung war kein Problem, denn meine eigenen Stimmrechte reichten für einen Mehrheitsbeschluss in der EuroTrans AG aus. So hatte ich es geschafft, aus einem Imperium ein kleines Töchterchen werden zu lassen. Bei dieser Aussage muss ich allerdings darauf hinweisen, dass „kleines“ ein relativer Begriff ist. Da es sich bei dem Multi um ein Unternehmen, was an der amerikanischen Börse groß geworden ist, handelte wurde der offizielle Übergang „meines kleinen Konzerns“ zu dem „Riesen“ auch an der Wall Street begangen. Anschließend gab es dann noch einen kleinen Empfang mit Sekt und einem Imbiss für ausschließlich ausgewählte Leute in den Geschäftsräumen einer Bank im World Trade Center.
Als ich danach in mein Hotel zurückkehrte und mich an der Rezeption erkundigte ob für mich was anläge, erfuhr ich, dass Carmen bereits mehrfach angerufen habe und es sich dringend angehört habe. Daher war meine erste Handlung, als ich auf meinem Zimmer angekommen war, ein Anruf im heimatlichen Waldheim. Erst war ich verärgert, dass sich Carmen erst nach mehrfachen Klingeln meldete und dann war sie so gut wie nicht zu verstehen. Es hörte sich so an, als habe sie bereits eine höhere Trunkenheitsstufe, auf der sie ein Moralischer mit schluchzendem Elend erreicht habe, erklommen. Außerdem sprach sie ein Kauderwelsch aus Deutsch und Spanisch, so dass ich ihr nur verärgert sagte: „Schlaf deinen Rausch aus und melde dich dann wieder.“. Dann knallte ich wütend den Hörer auf. Nach fünf Minuten schellte das Telefon und am anderen Ende hatte sich meine Frau zurückgemeldet. Diesmal lallte sie langsam und mit dem Versuch einer Betonung, so dass ich dann doch heraus bekam was sie wollte. Steffi hatte ihr erklärt, dass sie Carmens Sauferei nicht mehr ertragen wollte und bei Nacht und Nebel das Haus verlassen habe. Zu allem Übel habe, fast im gleichen Moment wo sie Steffis Abschiedsbrief erhalten habe, Salvador den schlimmsten Asthmaanfall, den er je gehabt habe, erlitten. Salvador sei jetzt im Krankenhaus. Mit ein paar Trostfloskeln und dem Hinweis, dass ich doch am nächsten Sonntag wieder Zuhause sei, wimmelte ich sie mir schnell ab, denn ich hatte noch eine Einladung zu einem Essen im „Hofbräuhaus“ in der 86. Straße. Ich hatte schon jetzt so viel Zeit verloren, dass ich nicht mehr auf die Bereitstellung eines Hotelwagens warten wollte und mir eines der berühmten Yellow Cabs, was eigentlich aus meiner damaligen Sichtweise unter meiner Würde lag, schnappen musste um zu meinen Verabredungsort zu gelangen. An die arme Carmen und ihren Jungen, der ihr ein und alles war, verschwendete ich keinen Gedanken mehr. Am nächsten Morgen hatte ich sie wieder an der Strippe: „Walter, helf' mir doch, du bist doch der einzigste Freund den ich im Leben hatte und habe.“. Selbst dieses veranlasste mich nicht, obwohl meine Mission in New York eigentlich erledigt war, nicht zu einer vorzeitigen Heimkehr. Heute stellt mein damaliges Verhalten immer einen schmerzhaften Schlag gegen mein Gewissen da. Da war ein Mensch der dringend nach meiner Hilfe schrie und ich missachtete dieses gänzlich und sonnte mich lieber im Lichte des Gottes Mammon in der Hauptstadt des Reiches um das goldene Kalb. Als ich am darauffolgenden Sonntag wieder in meiner Villa in Waldheim eintraf, fand ich Carmen unbekleidet auf der Couch schnarchend vor. Beim ersten Blick auf sie dachte ich: „Du bist ja schon ganz schön fett geworden“. Vor ihr lag Steffis, mit Tränen überzogener Abschiedsbrief, den ich jetzt erst mal aus dem Gedächtnis rekonstruieren möchte: Liebe Carmen, Du warst mal meine Herzliebste, das Wichtigste was ich hatte. Aber ich kann nicht mehr. Mit Dir kann man ja kaum noch sprechen, da du ewig besoffen bist. Im Suff schlägst du mich und du hast mir viele Verletzungen, körperlich wie seelisch zugefügt. Daher musst Du verzeihen, wenn ich Dich nie wieder sehen möchte. Ich werde die letzte Zeit aus meinem Gedächtnis streichen – sofern ich das kann – und dich als meine sweetie Carmen, die Du mal warst, in meinem Hinterstübchen speichern. Lebe wohl und vor allem Dingen wünsche ich Dir eine Heilung von Deiner schlimmen Krankheit – hoffentlich sehr bald!!!. Mit einem letzten Kuss, Deine „kleine“ Steffi. Soweit der Brief, der mich dann doch anregte etwas zu tun. Ich sorgte dafür, dass Carmen in ein Spezialsanatorium ins Sauerland kam und während der Zeit brachte ich Salvador in einer Kinder- und Jugendheilstätte, speziell auch für Asthmakranke, im Schwarzwald unter. Im Nachhinein muss ich sagen, dass diese Maßnahmen viel zu spät kamen. Ich hätte mich viel früher, als mich Steffi Goldmann immer und immer wieder darum bat, für diese Hilfe engagieren müssen. Weder für Carmen noch für Salvador brachte es jetzt noch viel. Salvador hatte die Maßnahme zwar Linderung gebracht aber für lebensverlängernde Therapien war es zu spät. Carmen rastete schon am zweiten Tag nach ihrer Rückkehr fast bei Entzugserscheinungen aus und steigerte sich innerhalb weniger Tage wieder auf ihr altes Format. Ich kann es heute kaum verstehen, dass ich während der Kuren meiner Familienangehörigen an sie kaum ein Gedanken verschwendete. Ich war voll in dem Job des Trouble Shooters, den ich im Vorstand meines Multis bekommen hatte, aufgegangen. Meine Aufgabe war der Aufkauf von Unternehmen aller Art, quer durch alle Branchen und Wirtschaftsbereiche. Einzigste Vorgabe war, dass das aufzuwendende Kapitel in Summe weiter unter dem liegt, was unser Konzern auf irgendeine Weise dabei rausschlagen kann. So gesagt, heißt dieses eigentlich Eulen nach Athen tragen. Das, was ich eigentlich damit sagen wollte, ist, dass es sich dabei um keine klassischen unternehmerischen Ziele handelt sondern um reine Kapitalzockerei mit dem Ziel des satten Profits. Und wie dieses Rausschlagen realisiert wurde, war eigentlich egal. Das konnte sein, dass ich ein Unternehmen kaufte, von dem nach „meiner“ Sanierung nur noch der gute Name und ein gut eingeführter, profitträchtiger Markt, der dann von einem rentablen Unternehmen im Konzern bedient wurde, übrig blieb. Es konnte sein, dass ich ein Unternehmen kaufte um es gleich „platt zu machen“, damit der fremde Mitesser aus dem Aquarium kam. Auch der Ankauf von Unternehmen, damit Mitbewerber zu Gesellschaften aus unserem Konzern keinen Fuß fassen können, ergibt einen Sinn, oft sogar auch, wenn man seinen Aufkauf anschließend liquidiert. Personalabbau verspricht selbst bei sinkenden Umsatzzahlen höhere Renditen und deshalb sind Aktien solcher Unternehmen für Börsenspekulanten höchstinteressant, da geht der Kurs hoch. Also kann man kleine Aktiengesellschaften erwerben, reichlich Personal freisetzen und nach erfolgtem Shareholding das
Aktienpaket bei wesentlich höheren Kursstand wieder absetzen. Aus heutiger Sicht war ich damals mit nichts Gescheiten beschäftigt, aber damit Tag und Nacht, an Werk- wie an Sonn- und Feiertagen. Aber Geld hat es gebracht, so viel dass ich gar nicht wusste, was ich damit anfangen sollte – Hauptsache ich hatte es. Die Resonanz auf meine Tätigkeit war aber extrem unterschiedlich. In Wirtschafts- und Bankkreisen galt ich als hochkarätiger Manager mit dem Gespür für das Richtige. In Gewerkschaftskreisen wurde ich als gefährlicher Jobkiller gehandelt; immerhin hatte ich bis Ende 1975 zirka 3.000 Arbeitsplätze in ganz Europa vernichtet und an einschlägigen Entscheidungen im wesentlich größeren Ausmaß mitgewirkt. Von den Politikern wurde ich hofiert als hätte ich den Stein des Weisen gefunden. Medienvertreter sahen mich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Auf der einen Seite war ich für sie der Toppexperte, der gerne nach allem Möglichen gefragt wurde, und auf der anderen Seite war ich ihnen zu bedeckt; von mir konnten sie nichts erfahren, was sie auflagen- oder einschaltquotenfördernd verwenden konnten. Eines setzt mich heutzutage in Schrecken: Um mich herum war aber niemand, den der Mensch Walter Heuer interessierte und im Gegenzug hatte ich zu niemanden, der nicht direkt oder indirekt mit Wirtschaft zutun hatte, Kontakt. In dieser Zeit lebte ich überwiegend in Zimmern der Hotels aus der oberen oder mindestens gehobenen Kategorie oder in den zum Konzern oder zu den aufzukaufenden Unternehmen gehörenden Gästehäusern. Einmal im Monat war ich jedoch für mindestens einen Tag in meiner Waldheimer Villa. Dabei habe ich mich dann immer nur am Rande um die ständigen Bewohner dieses Hauses, also um Carmen und Salvador, gekümmert. Gesprochen habe ich mit den Beiden kaum. Carmen bekam lediglich von mir ihre Rüffel weil sie schon wieder besoffen war oder weil sie schon wieder fetter geworden sei. Um sie sollte sich Frau Reimann, eine ehemalige Krankenschwester, die, nach dem ihre Kinder aus dem Haus waren, wieder arbeiten wollte und von mir als Hauswirtschafterin engagiert wurde, kümmern. Ich beschäftige mich lieber mit meiner Heimarbeit, das heißt Konzeptpapiere und Cash flows, die ich mir mit nach Hause genommen hatte. Na ja, ich war inzwischen Toppmanager und kein Mensch mehr. Nur der Sexualtrieb, sowie man ihn auch im Tierreich findet, war bei mir noch von einem natürlichen Wesen geblieben. Ich glaubte sogar daran, dass ich keine Zeit hätte, irgendwelche Frauen anzusprechen. Auch die Wege in Bordelle oder ähnlichen Lustbetrieben schienen mir zu aufwendig. Deshalb ließ ich mir Callgirls ins Haus kommen obwohl meine Frau anwesend war. Aber die war erstens lesbisch und zweitens immer besoffen. Aber die käuflichen Objekte zur Orgasmusbeschaffung gaben mir nicht das, was ich brauchte. Also beschloss ich mich doch wieder, trotz meiner knappen Zeit, ein Wenig auf der freien Wildbahn umzusehen. Unter anderem versuchte ich es bei einer meiner Sekretärinnen, die hielt jedoch, offensichtlich auf ihren Arbeitsplatz bedacht, seriöse Distanz. Es ergab sich dann aber doch noch eine Toppgelegenheit. Auf einem Empfang der heimischen IHK lernte ich das Ehepaar Schneider kennen. Er, 51 Jahre, mit nur wenig Haaren und dafür mit mehr Schmierbauch und sie, 32 Jahre, ein echtes Rasseweib. Er ist Besitzer eines Juweliergeschäfts und Vorsitzender der Waldheimer Werbegemeinschaft und sie die treibende Kraft ohne die bei denen nichts lief. Wie mir Elvira Schneider sagte, führten die beiden eine Geld- und Vernunftehe, in der das Bett ausschließlich zum Schlafen bestimmt sei. Wenn sie ihm einmal im Monat Einen wichse sei er voll zufrieden, aber sie brauchte ab und an ein bisschen mehr. Da sich so unsere Interessen trafen, nahm ich sie nach dem Empfang gleich mit nach Haus. Als wir dort ankamen saß Carmen in ihrer Unterwäsche im Wohnzimmer auf der Couch. Auf dem Tisch vor ihr stand eine noch halbvolle Flasche Weinbrand und eine etwas vollere Flasche Cola. In der Hand hielt sie einen Limonadenglas mit einem Mix aus beiden Getränken. Mit eigentlich noch glatter Stimme entschuldigte sie sich ob ihres Aufzuges, da sie mit keinem Besuch gerechnet habe, bei Elvira Schneider. Ich meinerseits pfiff sie darauf an: „Na Cognacdrossel, hast du wieder Tankschiff gespielt? Hättest dir was anziehen sollen damit man nicht auf Anhieb sieht was du für ein fettes Tönnchen bist.“. Carmen brach in Tränen aus und lief in Richtung ihres Zimmers davon. Das war das erste Mal, sowohl ein Schäferstündchen mit der Juweliersfrau wie ein, wie ich heute sagen würde, schmutziges und schäbiges Abkanzeln meiner Frau vor Dritten. Beides sollte sich, sogar eskalierend wiederholen. Ich brachte Elvira Schneider danach noch zwei oder drei Mal mit aber zu ihr gesellten sich noch zwei weitere Damen der Waldheimer Gesellschaft, die mit mir die Abwechselung vom Ehealltag genossen. Eine weitere „Gesellschafterin“ war Tanja Klopke, die 25-jährige Gattin des Inhaber der Metallwarenfabrik Waldheim. Tanjas Mann war entsprechend ihrer Worte nicht der potenteste Zeitgenossen und daher erlaubte sie sich für ihr körperliches Wohlempfinden regelmäßig einen Fremdbettenbesuch. Dagegen unternehmen konnte ihr Gatte relativ wenig, denn als die Metallwarenfabrik kurz vor dem Aus stand hatte Tanjas Vater Klopkes Verbindlichkeiten zu einem kleinen Teil abgelöst und zum größeren Teil verbürgt. Des weiteren hat er den Laden saniert; nicht auf meine Methode sondern durch Modernisierung. Kontinuierliche Investitionen um auch marktfähig zu bleiben waren wohl für den alten Klopke, dem Schwiegervater meiner Tagesmätresse, kein Thema. Aus meiner Sicht hat Klopke immer nur rausgeholt aber nie etwas rein gesteckt. Tanjas Vater hatte sich natürlich abgesichert und so war Klopke vor den Leuten der Boss aber die eigentliche Besitzerin des Ladens, wo er Chef spielen durfte, war halt Tanja, die dieses natürlich für ihre vergnüglichen Interessen nutzte. Ich hatte Tanja auf einer Matinee eines Künstlers aus dem Kreis Waldheim kennen gelernt – ab und zu muss man sich ja als kulturinteressierter Mann geben, insbesondere wenn man annimmt, dass man da was fürs Bett abstauben kann.
Als ich Tanja das erste Mal mitbrachte machte ich mein Meisterstück in barbarischen Eheverhalten. Ähnlich wie am Tage wo ich Elvira mitgebracht hatte saß Carmen im Wohnzimmer. Einzigster Unterschied, dass sie jetzt für solche Fälle vorgewarnt war und mit korrekter Bekleidung auf der Couch saß. Das sollte sich jetzt radikal ändern. Ich fuhr Carmen mit ironisch freundlicher Stimme an: „Na mein Suffköpfchen, ist dir vom vielen Sprit nicht warm. Willst du nicht lieber dein Kleid ausziehen. Ist doch auch besser für das Stück Textil. Wäre doch schade, wenn du darauf kotzt.“. Als ich mich dann mit bedrohlicher Haltung auf sie zu begab zog sie, so schnell es in ihrem angetrunkenen Zustand möglich war, ihr Kleid aus. Dabei weinte sie jämmerlich aber sagte nichts. Ich wandte mich Tanja, die ich vorher entsprechend präpariert hatte, zu und fuhr fort: „Na, ist das nicht ein prächtiges und mächtiges Stück Fleisch; mein Fettchen?“. Lachend schaute ich weiter Tanja an und sagte: „Sollen wir uns mal das Fettfleisch ohne Verpackung ansehen?“. Im Befehlston richtete ich mich jetzt im Anschluss an Carmen: „Mensch, zieh dich nackt aus du fette Saufkuh!“. Die Frau war so fertig, dass sie sich meinem unmenschlichen Benehmen nicht widersetzen konnte. Als Carmen nackt und zusammengekauert wieder auf der Couch saß, wandte ich mit lustheischender Stimme an Tanja: „Willst du meinem Weinbrandweibchen mal zeigen was für einen verführerischen Körper man haben kann wenn man nicht den Alkohol als Figurdesigner einsetzt?“. Meine mitgebrachte Gespielin machte das, was mir bei der vorhergehenden Absprache versprochen worden war: Sie strippte. Mit den erotisch verführerischen Striptease, wie man sie noch in 60er- und Anfang der 70er-Jahre noch kannte, hatte das Ganze nichts zu tun. Es glich eher den Stangenstrip genannten pornografischen Exhibitionieren wie man dieses heute in Amüsierschuppen dargestellt bekommt – es fehlte nur die Stange. Nach der Pornoshow legte sie sich mit ausgebreiteten Beinen auf den Teppich und forderte mich auf: „Komm, mach mir den Hengst.“. Natürlich hat sich Carmen, die uns jetzt, selbst nackt, bei einem wilden Paarungsakt zusehen musste, mehrfach versucht sich der Situation zu entziehen und wurde dann von mir immer barsch zum Bleiben gezwungen. Am Morgen danach las mir meine Frau die Leviten: „Walter, du magst dir jetzt wohl wie ein großer Mann vorkommen, aber was du da gemacht hast, beweist das Gegenteil. Du bist ein ganz kleiner und schmieriger Mensch. Du warst mal mein Freund, der einzigste den ich im Leben gehabt habe. Aber von dem Walter Heuer, der mein Freund war, ist nichts mehr übrig geblieben. Mein Vater hat mal einen Vertrag mit Mephisto unterschrieben und du bist, geblendet vom Glanz des Imperiums ... wie du immer sagst, in diesen Vertag eingestiegen. Unter dir müssen alle leiden: Deine Mitarbeiter, die du nach Belieben, nur auf deinen Vorteil bedacht, herumkommandierst und schikanierst. Die ehemaligen Angestellten und Arbeitern, dessen Arbeitsplatz du vernichtet hast. Deine Geschäftspartner, die du hemmungslos und heimtückisch übervorteilst und betrügst ... aber deshalb hält man dich ja auch für einen Toppmanager. Leiden müssen unter dir auch die Frauen, die du für ein Wenig Lustgewinn missbrauchst und entwürdigst. Schwer leiden muss ich unter dir, aber ich füge mich in mein Schicksal und den Grund will ich dir mit deinen eigenen Worten sagen: Es dauert bestimmt nicht mehr lange bis ich mich kaputt gesoffen habe ... aber ich kann nicht mehr anders, ich bin verloren.“. Jetzt unterbrach sie und musste sich erst einmal einen Schluck genehmigen. Ich saß dabei und wollte den Eindruck erwecken, dass mich das Ganze nichts anginge. Aber da kannte mich Carmen besser und sie fuhr, jetzt auf den Kern kommend, fort: „Also ich füge mich in mein Schicksal obwohl ich dir Einhalt gebieten könnte ... und das weißt du ganz genau. Mein Vater hat dir die Macht gegeben, aber das, worüber du Macht ausüben kann, hat er mir gegeben damit ich es an Salvador weitergebe. Du bist davon abhängig das unsere Ehe Bestand hat. So lange es nur mich betrifft kann es dabei bleiben. Ich wüsste sowieso nicht, wo ich hingehen sollte und was ich mit meinen Vermögen sinnvolleres als Verschenken und Versaufen machen könnte. Aber sobald Salvador in irgendeiner Weise in deinen Schmutz einbezogen wird oder wenn er deine Schweinereien miterleben muss, bist du erledigt. Ich rate dir dringend diese Worte ernst zu nehmen, in diesem Zusammenhang scherze ich nicht und ich spreche jetzt auch nicht im Delirium.“. Ich hatte diese Warnung schon richtig verstanden und nahm sie auch ernst. Aber damit hatte sich Carmen eine Falle gestellt: Das ich hinsichtlich des Vermögens von ihr abhängig war, war mir bewusst und bisher hatte ich auch immer vorgecheckt, wie weit ich gehen konnte. Jetzt hatte sie mir durch ihre Worte den Freibrief ausgestellt, dass ich aufs Ganze gehen konnte, wenn Salvador da raus bleibt. Aber diesbezüglich hatte ich doch sowieso noch einen kleinen Funken Restanstand und die damit verbundenen Hemmungen. Meine Attacken verübte ich grundsätzlich nur wenn Salvador nicht im Hause war und da wollte ich auch, ohne dass es Carmens Worte bedurft hätte, bei bleiben. Aber diesen Ausführungen fügte Carmen, nach einem weiteren kräftigen Schluck, noch was an, was mir doch zu denken gab: „Überlege dir mal, dass du mich neben dem Alkohol, den ich allein zu vertreten habe, noch richtig fertig machst. Wenn ich mal nicht mehr bin hast du daran eine gehörige Portion Mitschuld. Aber du wirst es nicht ungestraft getan haben werden. Du bekommst eines Tages deine Quittung und dann hoffe ich für dein Seelenheil, dass du dann das Richtige tun wirst. Die Weichen hast du selbst gestellt. Mein Vater hat dir ein kleines Imperium übergeben, aber du hast nach deinen eignen Worten daraus ein Töchterchen gemacht. Im Imperium warst du der Herr, da konnte dir niemand etwas, aber in dem Konzern bist du nur die männliche Amme des Töchterchen. Du bist also nur eine kleine Leuchte, die man, wenn sie nicht mehr genug Licht und Wärme gibt, ausblasen wird. Eines Tages ist deine Trickkiste leer und keiner fällt mehr darauf rein. Dann wird es andere geben, die was Neues auf Lager haben und dann setzt man dich für immer auf die Ruhebank. Du wirst dann nichts anderes als ein Kapitaleigner, der nichts zu sagen hat, sein. Dann wirst du merken, dass du allein auf dieser Welt bist. Und aus eigener Erfahrung kann ich dir sagen, dass das sehr schwer ist. Ich bin keine Prophetin aber was ich sage wird bestimmt kommen, denn du bist nicht der Erste. Leute deines Schlages
sterben oder vereinsamen und nur wenige Glückliche, die vielleicht einen guten Schutzengel haben, kommen anders davon.“. Als sie dieses gesagt hatte war mir doch innerlich ein Wenig mulmig. So ganz unrecht hatte sie ja gar nicht. Ihre Aussage traf auf alle Exmanager, deren Schicksal ich persönlich kannte, zu. Wäre ich, wie damals Alberto di Stefano, noch der Herr im eigenen Hause hätte ich die Möglichkeiten gehabt mich einem solchen Schicksal zu widersetzen. Jetzt beim Multi war ich, wenn wir jetzt mal Streubesitz außer acht lassen, nur einer der kleinsten Kapitaleigner. Ich hatte, von großen Gewinnerwartungen geblendet, meine selbstständige Macht verkauft. Sicher, ich war jetzt Toppmanager, der wegen seiner Erfolge, gut angesehen und gut honoriert war. Aber was ist, wenn die Erfolge ausbleiben? Aber auch in dieser Richtung hatten Carmens Kanonenkugeln das falsche Lager getroffen. Ich dachte oft über ihre nachvollziehbaren Worte nach und verspürte dann einen immer stärkeren Drang immer der Bessere zu sein; niemals zu unterliegen. Und dadurch wurde dann auch der Rest menschlichen Denkens bei mir vollkommen abgeschaltet. Ich wurde zu einer Erfolg produzierende Maschine. Aber wie lange geht so etwas gut? Zum Kapitel 18
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Auch du bist schon tot Alles Irdische hat einen Anfang und ein Ende, nichts ist von ewiger Dauer. Nur das eine dauert länger und das andere nur sehr kurz. Es gibt Menschen, die über 100 Jahre alt werden, und es gibt Neugeborene deren Leben bereits kurz nach dem ersten Schrei endet. Das ganze Geld auf Erden, die ganze menschliche Macht in einer Hand kann nichts daran ändern, dass alles einmal Vergangenheit sein wird und nur mikroskopisch Weniges entgeht dem Schicksal des allmählichen Vergessens. So ist es unabänderlich, dass auch mal die Hochphase des Toppmanagers Walter Heuer mal zu Ende gehen wird. Wie alle anderen auch, hoffte ich jedoch, dass mich diese Hochphase bis zu meinem Tode, der mich erst im hohen Alter erreichen sollte, begleiten würde. Aber bereits 1996, zehn Jahre nach dem Beginn der Ära des Toppmanagers Walter Heuer, wurde schon das Schild „Endstation“ am Horizont sichtbar. Richtig begonnen hatte diese Toppphase mit tragischen Ereignissen: Den Tod meiner ersten, wunderschönen Frau Anni und meines Sohnes Dietmar. Da hob mich der Fehltritt meines Bruders und meiner zweiten Frau in den Sattel, in dem ich danach als Herrenreiter reichlich Unheil anrichtete. Ähnlich dramatisch kündigte sich der „Anfang vom Ende“ an. Am 21. Januar 1996, einen Sonntag, hielt ich mich gerade in Wien auf. Die plötzliche Erkrankung eines Verhandlungspartners und die dadurch bedingte Zwangspause bei den damaligen, kurz vor dem Abschluss stehenden Gesprächen hatten es zweckmäßig erscheinen lassen, dass ich das Wochenende in der österreichischen Hauptstadt, die ich persönlich gar nicht so gerne mag, verbrächte. Ich mag Wien deshalb nicht so gerne, weil mir diese Stadt so melancholisch erscheint. Komisch, immer wenn ich in Wien war, hatte ich irgendein schwermütiges Gefühl. Wenn dann noch, wie an diesem Tag, das Wetter dunkel und uselig ist, sinkt mein persönliches Stimmungsbarometer auf nur knapp über den Nullpunkt. Ich hatte zu nichts Lust und las mir des Nachmittags, auf dem Hotelbett legend, ein paar für mich zusammengestellte Papiere – Statistiken, Analysen und Prognosen – durch. Richtig verarbeiten konnte ich das Ganze aber aufgrund der durch meine Stimmungslage verursachten inneren atmosphärischen Situation nicht. Jetzt kann man sich vorstellen, wie prummelig ich reagierte, als ich ausgerechnet an diesem Nachmittag einen Anruf von Carmen erhielt. Sie teilte mir fast formal mit, dass Salvador nach einem Asthmaanfall ins Koma gefallen sei und die Ärzte von einem lebensbedrohlichen Zustand sprächen. Sie beendete das Gespräch mit einer realistischen Einschätzung: „Ich weiß, dass dich dieses bestenfalls am Rande interessiert. Ich wollte es dir auch nur formell mitteilen. Falls sich was ändern sollte melde ich mich noch einmal ... und dann: Auf Wiedersehen.“. Sie hatte fließend und ohne Auffälligkeiten gesprochen, so dass ich davon ausgehen konnte, dass sie zu diesem Zeitpunkt tatsächlich einmal nüchtern war. Als ich dann am folgenden Wochenende in Waldheim war erlebte ich sie, das ganze Wochenende über in einer ähnlich beherrschten Situation. Ich traf sie bei meiner Ankunft ordentlich gekleidet, mit zurecht gemachten Haaren und nüchtern wirkend an. Sie hielt sich auch mit alkoholischen Getränken zurück. Lediglich drei oder vier Mal am Tag nahm sie ein Pinnchen Weinbrand zu sich. Es wirkte immer wie die Einnahme von Medizin. Des Nachmittags war sie dann für zwei bis drei Stunden bei ihren weiterhin im Koma liegenden Sohn. Sonntagsmorgens begab sie sich zum Hochamt in die Kirche. So wie an diesem ersten Wochenende verliefen alle bis Ende April, an denen ich zu Hause war. Selbst war ich nie bei Salvador. Etwas zu meiner Ehrenrettung muss ich jedoch sagen, dass ich in dieser Zeit keine Mäzchen, wie ich diese im vorhergehenden Kapitel beschrieben habe, unternommen habe. Am Wochenende vom 4. auf den 5. Mai war ich geschäftlich in der belgischen „Bierstadt“ Aalst an der Dender in der Nähe von Brüssel. Dieses Wochenende nutzte Carmen um die dramatische Wende einzuleiten. Sie hatte ohne mein Wissen höflich Jürgen, immerhin Salvadors Vater, und Rosi zu sich eingeladen und diese waren der Einladung auch gefolgt. Das Treffen soll, wie ich später erfuhr, über fünf Stunden gedauert haben. Natürlich kann ich jetzt, weil ich nicht dabei war, keine Einzelheiten wiedergeben. Ich weiß nur, dass sich Carmen offiziell und aufrichtig bei den Beiden für die Geschichte von vor 10 Jahren entschuldigte. Dazu hat sie Jürgen und Rosi ihre Lebensbeichte abgelegt. Ich weiß natürlich nicht, was sie erzählt hat aber mein Bruder und Rosi wussten anschließend alles von Alberto di Stefano aber nur ein Bisschen von mir. Carmen hatte mich, obwohl ich es eigentlich nicht verdient habe, gegenüber meiner Familie geschont. Das Wichtigste was es zu besprechen gab, war Carmens Wunsch, dass die lebenserhaltenen Apparate bei Salvador abgeschaltet werden sollten. Die Ärzte waren übereinstimmend der Meinung, dass Salvador wohl nie mehr aus dem Koma erwachen würde. Das Abschalten der Geräte, also die passive Sterbehilfe, ist in einem solchen Fall ja auch in Deutschland legal. Carmen wollte diesen Schritt jedoch nicht ohne Zustimmung von Salvadors Vater, also meines Bruders Jürgen, vornehmen. Jürgen, der seine Zustimmung gab, hatte an diesem Sonntag, wie er mir später sagte, den Eindruck dass sich Carmen auch habe Verabschieden wollen. Am frühen Montagmorgen rief mich Carmen in Belgien an. Sie hätte mich, wenn es möglich gewesen wäre, bereits am Sonntag angerufen, aber Anfang 1996 hatte ich mich, obwohl die Verbreitung der Mobiltelefone, die in Deutschland später mit dem Kunstwort „Handy“ benannt wurden, bereits begonnen hatte, noch nicht zu diesen „Spielerchen“ durchgerungen. So war ich ausschließlich unter wechselnden Festnetznummern, die ich stets meinem Leipziger Büro bekannt gab, zu erreichen. Carmen bedachte ich schon lange nicht mehr im Verteiler meiner jeweils aktuellen Telefonnummer. So musste sie also zunächst eine meiner Sekretärinnen erreichen - und das ist in der Regel sonntags so gut wie ausgeschlossen. Bei ihrem Anruf setzte mich Carmen ruhig und sachlich mit klarer Stimme davon in Kenntnis, dass sie, auch mit Jürgens Zustimmung, die Geräte, die den inzwischen einen Monat vor der Volljährigkeit stehenden
Salvador noch am Leben hielten, abschalten lassen würde. Es wären noch einige Formalitäten zu erledigen, so dass die Abschaltung am Dienstag oder Mittwoch erfolgen würde. Ich antwortete ihr, dass ich am Dienstag meine Geschäfte in Aalst erledigt hätte und dann unmittelbar danach nach Hause kommen würde. Alle weiteren Termine für die laufende und die folgende Woche wollte ich absagen. Offensichtlich wusste ich irgendwo doch noch was sich gehörte. Am Abend des gleichen Tages erhielt ich noch einmal einen Anruf von meiner Frau. Sie teilte mir mit, dass die Geräte am nächsten Morgen um Zehn abgeschaltet würden und ich konnte im Gegenzug berichteten, dass ich, wie zugesagt, alle Termine abgesagt hätte und Mittwochmorgen gegen 10 Uhr in Waldheim eintreffen würde. Danach sagte Carmen dann aber was, was bei mir dann bis zu meinen Eintreffen in Waldheim für reichlich Nachdenklichkeit sorgte: „Walter, ich danke dir, dass du mein Freund warst. Ich habe dir nichts zu verzeihen, weil du keine Schuld hast und ich wünsche dir einen Schutzengel, der deine Seele vor dem ewigen Feuer rettet. Lebe wohl.“. Was würden Sie denken, wenn ihnen jemand so etwas sagt? Genau das habe ich auch gedacht und fragte zurück: „Carmen, du willst doch keine Dummheiten machen?“ und bekam zur Antwort: „Nein Walter, du brauchst dir keine Gedanken zu machen, ich mache keine Dummheiten mehr.“. Und danach legte sie auf. Ich machte mir aber doch Gedanken und dabei flackerte in mir etwas auf, was in den letzten Jahren bei mir schon fast verschwunden schien: Menschliches Mit- und Nachempfinden. Ein Gefühl, welches ein Toppmanager nie zeigen darf, da das zu Sentimentalitäten führt und diese beeinflussen wirtschaftliche Sachentscheidungen. Wer Erfolg haben will muss harte Einschnitte vornehmen können. Jetzt kamen in mir die Schuldgefühle und Sorgen hoch. Hätte ich nicht Salvadors Leben retten können, wenn ich den Jungen angenommen hätte; wenn ich ihm eine intensive und vielleicht auch kostenaufwendige Therapie verschafft hätte? Ich bin doch ortsunabhängig und da hätte ich mich doch auch mit meiner Familie zum Beispiel im Schwarzwald niederlassen können. Die Kur dort brachte ihm Linderung; ein Daueraufenthalt hätte vielleicht sein Leben wesentlich verlängert oder gar gerettet. Und Carmen? Das „arme Mädchen“ war ja bis dato gar nicht richtig zum Leben gekommen. Als Kind wurde sie in der Zwangsjacke eines, dem mittelalterlichen Denken entlehnten erzkonservativen Lebens gedrillt; da war nichts mit Freiheit und Entfaltung der Person. Dazu wurde sie dann noch von ihrem superscheinheiligen Vater missbraucht. Sowohl Jürgen als auch ich haben sie praktisch als vermögensbildende Objekt „eingekauft“; mit dem Menschen Carmen haben wir uns, wie ich jetzt empfand, nie beschäftigt. Ich hatte doch ihre Alkoholkrankheit praktisch schon erkannt als sie noch meine Schwägerin war. Warum habe ich nichts unternommen? Alkoholismus ist zwar nicht heilbar aber „trockene Alkoholiker“ haben aber eine viel höhere Chance ein längeres, lebenswertes Leben haben zu können als ihre trinkenden Leidensgenossen. Ich nahm mir vor, in Bezug auf Carmen jetzt alles anders, alles viel besser zu machen. Aber dazu war es jetzt zu spät. Als ich am Mittwochmorgen nach Hause kam bot sich mir im Wohnzimmer eine gespenstische, schockierende Szenerie. Carmen saß in ihrer besten schwarzen Garderobe, auf dem Haupt ein Kopftuch wie man es von Kirchgängerinnen in Spanien oder Italien kennt, auf der Couch. Vor ihr auf dem Tisch eine umgefallene leere und eine stehende fast leere Weinbrandflasche. Ein Glas stand da nicht, so dass man davon ausgehen muss, dass sie aus der Flasche getrunken hat. Auf ihrer Kleidung und im noch stärkeren Maße auf dem Tisch war teilweise grünes, noch nicht antrocknendes Erbrochenes. In der Lache auf dem Tisch ein Tablettenröhrchen und ein Brief, denn man aufgrund der erbrochnen Exkremente nicht mehr lesen konnte. Ich fasste sie an den Arm und als ich feststellte, dass sie noch lebenswarm war wählte ich, mit einem Kloß aus Panik und Angst auf mich lastend, die Nummer 112 auf dem Telefon und bat um notärztliche Hilfe. Aber, der schon etwa 5 Minuten später eintreffende Notarzt konnte nicht mehr helfen, Carmen war schon seit etwa einer halben Stunde tot. In ihrem Leben war ihr letztlich nur ihr Salvador geblieben und wo der jetzt nicht mehr war, wollte sie offensichtlich auch nicht mehr leben. Und mir war jetzt so elend, ich fühlte mich so unendlich schlecht. Durch den Tod der Beiden hatte ich jetzt nicht nur die Macht über ihr Vermögen sondern dieses selbst. Und jetzt verfluchtete ich das was ich getan und erreicht hatte, der Preis war zu hoch. Ich kann heute zwar damit leben aber befreit wird mein Gewissen wohl nie mehr. Am Nachmittag erfuhr ich, dass ich mit dem gewissensbelastenden Brocken nicht alleine stand. Auch Jürgen und Rosi, die ich erstmals in ihrem Seetaler Heim aufsuchte, machten sich schwere Vorwürfe. Jürgen meinte sie nie richtig gekannt und geliebt zu haben. Als Beweis führte er an, dass er in über 10 Jahren Ehe nicht ihre wahre, lesbische Veranlagung erkannt habe. Er führte es darauf zurück, dass er immer Rosi geliebt und als zweites dem Geld angehangen habe. Der Mensch Carmen sei ihm nie richtig bewusst gewesen. Sein Sohn Salvador sei ein Stück von ihr gewesen, den er selbst als eigenständige Persönlichkeit nie wahrgenommen habe. Und daran schloss er eine, allerdings höchst berechtigte Attacke gegen mich an: „Ich wusste seit dem Tausch Carmen gegen Rosi von Salvador eben so wenig wie du von Hendrik in dieser Zeit und jetzt.“. Auf meine erschrockenen Ausflüchtete bemerkte er: „Warte ab, gleich kommt Hendrik. Dann wirst du staunen, was du alles von deinen Sohn weißt ... oder viel besser gesagt: nicht weißt. Stell dir vor, alles was inzwischen bei eurem Sohn geschehen ist, ist dir tatsächlich schon mal mitgeteilt worden. An deiner Reaktion oder vielmehr an deinem Nichtreagieren haben wir festgestellt, dass du die einzelnen Punkte gar nicht wahrgenommen hast. Du stecktest wohl so in deinen Geschäften, dass du das dich betreffende Leben gar nicht wahrgenommen hast. Ich glaube, auch du bist schon tot, du hast keine Empfindungen, keine Gefühle und kein Verständnis mehr und kannst nur wie ein biologischer Computer, Marke Manager, denken und kombinieren. Wirklich, auch du bist schon tot.“.
Ich konnte ihm zwar irgendwo inhaltlich folgen, verstehen konnte ich meinen Bruder aber erst als Hendrik erschien. Mein Sohn erschien in Begleitung einer dunkelrothaarigen gut aussehenden und gut gebauten jungen Damen. Als er mich begrüßte und mir seine Begleiterin vorstellte, wäre ich am Liebsten vor Scham tief in den Boden versunken: „Vater, das ist Silvia, deine Schwiegertochter. Sie ist genau einen Tag älter wie ich und in ein paar Tagen haben wir, wie du hoffentlich noch weißt, unseren zweiten Hochzeitstag.“ Daraufhin reichte mir Silvia mit den Worten „Tag Vater“ die Hand. Ich schlug die Augen nieder und schämte mich. Irgendwie entsann ich mich mal bei der morgendlichen Postdurchsicht eine Einladung zu deren Hochzeit gesehen zu haben. Ich habe mir dieses zwischen den Geschäften noch nicht einmal bewusst gemacht. Carmen hatte, wie ich erst jetzt erfuhr, ein Präsent geschickt und auch in meinem Namen gratuliert. Das kommt einen schon hart an, wenn man plötzlich feststellt, dass man die Hochzeit des eigenen Sohnes „versehentlich“ ignoriert hat. Erstmalig erfahre ich etwas von meiner Schwiegertochter, die sich am 26. des laufenden Monats bereits 2 Jahre an der Seite meines Sohnes befindet. Silvia ist die Tochter des Bauern Steinmar aus Ulkerde, einem Dörfchen, das wie Seetal etwa 30 Kilometer von Waldheim entfernt ist; gehört aber auch zum Kreis Waldheim. Sie ist angehende DiplomLandwirtin – sie stand damals kurz vor ihrem Abschluss. In diesem Zusammenhang erfuhr ich von einem weiteren gravierenden Detail aus dem Leben meines Sohnes, der mir zwar bekannt gegeben worden war und auch von mir, dem Manager in seiner im Gelddenken isolierten Geschäftswelt, einfach nur nebenbei, ohne Bewusstwerdung, mal vernommen worden ist. Ich ging davon aus, dass Hendrik in Berlin Wirtschaftsinformatik studiere um später in meine Fußstapfen treten zu können. Jetzt erfahre ich, dass er das Studium abgebrochen hat und bei seinem Schwiegervater in die landwirtschaftliche Lehre ging. Er wollte doch tatsächlich mit seiner Frau eine Bauernfamilie begründen. Mir war auf einmal klar, dass ich der letzte Mammonisten aus den Familien Heuer und di Stefano sein würde, alle anderen waren entweder tot oder ausgestiegen. Mein Handeln war reiner, augenscheinlich sinnloser Selbstzweck geworden. Ich tat es nicht für mich, denn mein Job ließ mir keine Gelegenheit die Früchte meines Handelns genießen zu können und ich tat es nicht für meine Familie, denn die wollten das gar nicht. Wie wenig Hendrik meine Lebensform achtete erfuhr ich dann aus seiner Rede: „Ach Vater, schau mal zum Fenster raus. Siehst du den See? Ist das nicht phantastisch wie sich die Sonne auf der Oberfläche spiegelt? Da auf dem Rundweg um den See ist ein kleiner Mischlingshund mit seinem Frauchen. Sie wirft ihm immer einen Stein oder einen Ball. Schau mal, mit welcher Freude der Kleine da mit wedelnden Schwanz rumtollt. Sieh mal drüben am Goldberg, dort über den hohen Tannen. Vom Regen eben sind dort noch abziehende Schwaden; ist das nicht schön? Wenn es dort noch stärker regnen würde könntest du jetzt einen Regenbogen sehen. Wann hast du so etwas mit baumelnder Seele zum letzten Mal gesehen? Wann hast du letztmalig in ein aufrecht lachendes Gesicht, so wie man es öfters bei Mama und bei Silvia sieht, gesehen? Wann hast du dich das letzte Mal über einen keck formulierten Spruch aus einem Kindermund gefreut? Wann ist dir persönlich ... und nicht deinem Geld – Zuspruch und Anerkennung von anderen Leuten zuteil geworden? Wann hattest du das letzte Mal das Gefühl ‚Wir gehören zusammen’? Ja, Vater das ist Leben, Leben spürt und empfindet man und ist nicht käuflich. Du verschanzt dich in Betonklötzen hinter Bilanzen und Kursen. Verplemperst deine kostbare Lebenszeit mit Wirtschaftsstrategien und deren Durchsetzung. Was hast du überhaupt davon, dass die Zahlen auf deiner Vermögensseite immer höher werden? Das ist ja x-mal mehr als man zum Leben braucht, irgendwo schon im sinnlosen Bereich. Wenn die Börse chrasht und du nur noch den halben Zahlenwert da stehen hast, bist du immer noch ein reicher Mann. Trotzdem verfällst du dann mit Sicherheit zusammen mit deines Gleichen, den anderen Bütteln der Banken und Börsen, in ein Jammergejaule als müsstest du am nächsten Tag verhungern. Das hat mit Leben nichts zu tun. Du gehörst zu den Leuten von denen der Apostel Paulus sagte: ‚Sie sind tot ob gleich sie noch leben’. Eines Tages steht an deinem Grab neben uns dein ungelebtes Leben und trauert mehr als alle anderen. Wenn solche Leute wie du sterben, sind sowieso die meisten Trauergäste entweder Heuchler oder Schaulustige. Bei den meisten Geldleutchen heucheln auch viele Erbschaftskriegbereiten den vor Trauer sterbenden Schwan. Aber du hast das tragische Glück, das alle, die als Erbschleicher in Frage kommen, schon vorher ausgeschieden sind ... entweder durch Tod oder freiwillig.“. Bei seiner „Predigt“, die ich mir ruhig und „etwas“ schuldbewusst anhörte, war mir einiges aufgefallen. Früher nannte er mich immer mehr vertraulich Papa und jetzt war ich förmlich „nur“ Vater. Es hörte sich wirklich wie eine Predigt, also wie eine Rede mit religiösem Inhalt, an. Ich selbst und damals mit mir Rosi und die Kinder, Anita und Hendrik, waren doch mehr zu Papierchristen, römisch-katholische Kirchensteuerzahler, verkommen. Wir waren doch mehr Atheisten, den sogar meist, wenn nicht die eigene Person betroffen war, die gewisse Portion Humanismus fehlte. Und Hendrik schien mir doch auf einmal stark religiös. Und irgendwo schwang da mit, als sei er ein Aussteiger wie sein Onkel – vielleicht sogar noch mehr, noch konsequenter. Da wollte ich nachhaken und begann erst traurig mit: „Hendrik, mir ist aufgefallen, dass du immer so förmlich Vater zu mir sagst.“. Da unterbrach er mich gleich: „Papa, entschuldige. Natürlich bist und bleibst du mein Paps ... und ich habe dich doch auch lieb. Im anderen Fall hätte ich mir doch die Rede eben gespart ... so was sagt man nicht zu Menschen, die einem gleichgültig sind. Papa, wenn ich dich eben mit Vater angesprochen habe, war das nicht bös gemeint. Das hängt bestimmt damit zusammen, das wir so lange nicht miteinander zu tun hatten. ... Es wäre doch schön, wenn es eines Tages wieder in Etwa so sein könnte, wie es früher einmal war.“. Dann stand er auf, umarmte mich und gab mir einen Wangenkuss und irgendwo spürte ich, dass dieses seit langen der erste menschliche Kontakt war, den ich warm und aufrichtig empfand. Das trieb sogar einen so hartgesottenen Manager wie mir die Tränen in die Augen.
Nachdem ich mich von meiner Rührung, die ich seit unendlicher Zeit so nicht mehr empfunden hatte, etwas erholt hatte, fragte ich weiter: „Mein Junge, ich habe den Eindruck, dass du sehr fromm geworden bist. Stimmt das?“. Ohne lange zu überlegen antwortete er: „Fromm oder nicht fromm ... was sagt das schon? Ich glaube an Gott den Schöpfer und an seinen Sohn Jesus Christus, unseren Erlöser. Aus reinem Egoismus gehen Silvia und ich fast jeden Sonntag in Ulkerde zur Kirche. Egoismus deshalb, weil wir davon überzeugt sind, dass wir uns mit Kirchgang keinen Fahrschein in den Himmel kaufen können. Um den Leuten was vorzumachen, machen wir es auch nicht. Das wäre laut Bergpredigt sogar eher abträglich fürs ‚Seelenheil’. Wir machen es, um nach dem alltäglichen Allerlei mal abschalten zu können, mal etwas erholsame Ruhe zu empfinden. Wir machen es um Gemeinschaft zu empfinden und uns mit anderen Gemeindemitgliedern in eine gegenüber dem Herrn und den Menschen offenen Stimmung zu singen. Und um die Predigt zu hören, damit wir uns damit auseinander setzen; das stärkt uns. Im Gottesdienst wird zwar auch gebetet aber das ist mir nicht so wichtig. Zum Zwiegespräch mit dem Herrn bevorzuge ich es mit ihm alleine zu sein.“. „Gibt es denn in Ulkerde eine katholische Kirche?“, wollte ich nach seiner Ausführung noch wissen und erfuhr, dass er zur evangelischen Konfession konvertiert sei. Er habe dieses nicht getan weil Silvia schon vor der Eheschließung evangelisch gewesen sei sondern er habe aus Überzeugung gehandelt. Er erklärte mir, dass die katholische Kirche das Sakramentale ganz oben anstelle. Nach seiner Ansicht versuche man sich so mit viel „Klimbim“ damit einen Platz im Himmel zu erwerben, wobei man dann Gefahr läuft, ansonsten wild mit Alaaf, Helau und Personalfreisetzung drauf zu zuleben, weil es ja nach der Beichte die Absolution von des Menschen, sprich Priesters, Gnaden gibt. Sakramente als Tribut für unchristliches Leben. Dagegen stände in der evangelischen, insbesondere der reformiert, also calvinistisch, ausgerichteten Kirche das Wort im Vordergrund. Lieber das Wort halten als mit sakramentalen Theater zu büßen. Das könnte leicht dazu führen, dass man vorsätzlich sündigt, weil man sich mit je 10 geplapperten Vater unser und Ave Maria davon sowieso freikaufen könne. Jetzt mischte sich Rosi ein: „Ja Walter, unser Hendrik ist ein echter Aussteiger wie er immer sagt.“. Etwas musste Hendrik seiner Mutter schon widersprechen: „Na ja, das behaupte ich ja nur weil Onkel Jürgen immer sagt er sei ein Aussteiger. Aber so ganz richtig ist das nicht, denn er ist eher ein Frühpensionär. Ich bin der Meinung, dass zu einem Aussteiger etwas mehr gehört. Aber schließen wir Frieden und sagen: Onkel Jürgen ist der erste Aussteiger in der Familie und ich der zweite. Und weil ich nicht der erste war, kann ich jetzt etwas konsequenter sein. ... Wäre schön, wenn Papa der dritte Aussteiger wäre.“. Während ich über die Worte noch nachdachte, erfuhr ich inwieweit unser Junge überhaupt darüber hinaus Aussteiger war. Zu seinem 18. Geburtstag hatte ich ihm, im Verhältnis zu mir kleineres aber im Hinblick auf die Allgemeinheit größeres Aktienpaket geschenkt. Dieses hatte er zu diesem Zeitpunkt schon fast veräußert. Mit dem Erlös hat er den vor seiner Hochzeit höher verschuldeten Steinmarhof entschuldet, saniert und die Umstellung auf ökologische Landwirtschaft, von der er mit seiner Silvia später leben wollte, angestoßen. Dann hatte er auch viel Geld in karikative Projekte seiner evangelischen Kirche in Ulkerde gesteckt. Die Sanierung des Kirchturmes und des Kirchendaches hatte er zu einem Drittel finanziert. Ich will jetzt mal ganz ehrlich sein: Das hat mir damals gar nicht so gut geschmeckt aber aus dem schweren Schuldbewusstsein, die Menschen in meiner Umgebung sträflich vernachlässigt zu haben, sagte ich lieber nichts dazu. Durch dieses plötzliche Wieder-in-mein-Leben-treten meines Sohnes war der eigentliche Anlass meines Besuches in Seetal für zwei Stunden fast ganz in den Hintergrund getreten. Wir wollten eigentlich die Bestattung unserer Verstorbenen, Carmen und Salvador, beraten. Dahingehend schien uns wichtig, was im Sinne der Verstorbenen gelegen hätte. Wenn wir sie auch im Leben nicht so gewürdigt haben, wie sie es verdient hätten, wollten wir dieses zumindestens auf ihrem letzten Gang machen. Wir waren uns sicher, dass sich Carmen dazu in ihrem Abschiedsbrief, der aufgrund des Erbrochnen leider nicht mehr lesbar war, geäußert habe. Das sie in ihrer spanischen Heimat bestattet werden wollte, glaubten wir ausschließen zu können, da sie dort unter ihrem Vater und den in seinem Hause gepflegten mittelalterlichen Sitten schwer gelitten habe. Man hatte ihr dort Kindheit und Jugend geraubt und sie wurde von dort letztendlich im wirtschaftlichen Interesse ihres Vaters an die Heuer Brüder als Ehefrau „verkauft“. Die ganz wenigen glücklichen Stunden erlebte sie in Deutschland. Hier wurde ihr Sohn Salvador geboren, hier fand sie, leider nur für eine viel zu kurze Zeit, ein Wenig wahre Freundschaft und echte Liebe bei Steffi Goldmann. Letztendlich waren wir übereinstimmend der Meinung die Beiden in Seetal zu bestatten, denn schließlich war Jürgen ja Salvadors Vater. Ich ließ es mir nicht nehmen, mir den Ankauf der Gruft mit Jürgen zu teilen und die anschließende Grabpflege allein zu übernehmen. Wir wollten sie in aller Stille, nur im Beisein der Familie und Steffi Goldmanns, bestatten, da wir annahmen, dass sie sich das so gewünscht habe. Es muss wohl Gedankenübertragung gewesen sein, denn als ich nach Haus kam, befand sich Steffis Bitte um Rückruf auf meinem Anrufbeantworter. Sie hatte dem „Automaten“ verraten, dass sie bis Mitternacht auf meinen Anruf warten würde. Also hatte ich auch keine Hemmungen jetzt kurz nach Zehn in Recklinghausen, wo sie jetzt wohnte, anzurufen. Steffi hatte aufgrund eines Abschiedsbriefes meiner Frau, den sie am Todestag von Salvador aufgegeben hatte, bei mir angerufen. Darin hatte Carmen ihren Selbstmord angekündigt. Wörtlich schrieb sie: „Wenn du meine einzigste Geliebte, diesen Brief erhältst, wird mein Weg auf Erden bereits beendet sein. Ich gehe jetzt zusammen mit meinem über alles geliebten Salvador heim zu meinen Schöpfer.“. Sie entschuldigte sich bei Steffi, dass sie ihr nachspioniert habe und ihre Adresse ausfindig gemacht habe. Noch ein letztes Mal erklärte sie, dass es außer Salvador nur zwei Menschen gegeben
habe zu denen sie wahre Freundschaft empfunden habe: Steffi und mich. Das wir sie allein gelassen hätten könnte sie verstehen, da sie schon damals so „kaputt“ gewesen sei, dass wir es nach menschlichen Ermessen nicht hätten bei ihr aushalten können. Sie bat uns, ihr im Gebet zu gedenken. Sie meinte ich wäre wohl ungläubig und bat deshalb Steffi, mich dazu zu bewegen, ausnahmsweise mal für sie und Salvador zu beten. Zum Abschluss kam das, was wir an diesem Abend erahnt hatten. Sie schrieb, dass sie in dem Abschiedsbrief an mich bitten würde, dass sie zusammen mit Salvador in Deutschland bestattet werden wollte und bat Steffi „ausnahmsweise“ an der Trauerfeier teilzunehmen. Während mir Steffi dieses berichtete klang sie traurig und ich merkte wie sie weinte. Sie berichtete mir dann noch, dass sie nach Carmen wohl mal dieses oder jenes Abenteuer aber bis heute noch keine andere feste Partnerschaft gehabt habe. Erst vor Kurzem habe sie überlegt ob sie doch wieder zu Carmen zurückkehren solle um ihr zu helfen. Jetzt wäre sie tief betrübt, dass dieses jetzt nicht mehr ginge. Sie reihte sich also genauso wie Jürgen, Rosi und ich, sich in die Reihe derjenigen ein, die das Gefühl hatten, Carmen schmählich in Stich gelassen zu haben. Durch die Ereignisse der letzten beiden Tagen hatte sich wieder der Mensch über den Manager gestülpt. Ich glaubte, dass Jürgen und Hendrik recht hatten: Auch ich war schon tot. Aber entgegen Carmen hatte ich aber die Chance wieder aufzuerstehen. Ich nahm mir vor diese Chance auch wahrzunehmen. Aber so einfach und schnell wird aus einem Saulus kein Paulus. Mir sollten vor meiner Auferstehung erst noch harte Prüfungen bevorstehen. Am nächsten Tag wurde ich jedoch noch ganz vom Auferstehungswillen, also von der Menschlichkeit, beherrscht. Meine Villa würde ja jetzt bis zu dem Punkt, wo ich mich vom Managertum endgültig abgeseilt habe – so wie ich es an diesem Tage noch vorhatte –, leer stehen. Da war es vernünftig, dass ich für meine Villa einen Verwalter, den gleichen der in früheren Jahren Jürgens Haus betreute, zu beauftragen. Jetzt musste ich zwangsläufig das bisherige Hauspersonal entlassen. Entgegen meinen Geschäftsgepflogenheiten nahm ich mir aber Zeit und führte mit jedem Einzelnen ein Gespräch. Alle bekamen von mir auch ein 5-stelliges Geldgeschenk in bar, was sie vor Finanz- und Arbeitsamt verheimlichen sollten. Ich wollte nicht einsehen, dass sie für die von mir ihnen zugedachten Abfindungen noch Steuern zahlen sollten und dann noch obendrein auf das Arbeitslosengeld eine Anrechnung bekamen. Auch am 13. Mai, am Tage der Beerdigung war ich immer noch ein Mensch. Mehrfach musste ich mir während der Trauerfeier und der Beisetzung Tränenflüssigkeit aus den Augen wischen. Ich merkte erstmalig, dass ich gar nicht ungläubig war sondern nur Gott aus meinem Leben verdrängt hatte. Ich sprach an dem Grab meiner Frau und meines Stiefsohnes sogar ein ernstgemeintes stilles Gebet. Ich betete, dass der Herr sie in sein Reich aufnehmen solle. Mir solle er verzeihen und helfen. Nach der Beisetzung unterhielt ich mich mit allen intensiv von Mensch zu Mensch. Ich lernte dabei meine Schwiegertochter eigentlich erst richtig kennen und mögen. Ich tröstete Steffi und sprach sie von ihren Schuldgefühlen frei. Ich zeigte Verständnis für die getroffenen Entscheidungen unseres Jungens und konnte sie nachvollziehen. Ich freute mich über Rosis Bekenntnis, dass sie tatsächlich beide Brüder innig lieben würde, sie aber jetzt treu an Jürgens Seite bleiben würde. Letztendlich bekannten Jürgen und ich uns, dass es zwischen uns doch ein starkes Band an Bruderliebe gäbe und wir zueinander stehen müssten. Wie schön wäre es gewesen, wenn mich nicht in der Woche darauf der Alltag wieder gehabt hätte, der dann auch einen Rückfall ins Managerleben bewirkte. Aber ich war nicht mehr der Alte. Wieder einmal hatte ein Schlüsselerlebnis für eine Veränderung in meinem Leben gesorgt. Zum Kapitel 19
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Wenn Sterne ihre Bahn verlassen Im Jahre 1997 kamen die großen, logisch meist nur schlecht begründbaren Euphorien, wie Aktienfieber, Handymanie und Internetrausch, auf. Alles hatte sich schon vorher abgezeichnet aber in jenem Jahr schien dann der Verstand vollendend abgeschaltet zu werden. Am 17. November 1997 wurde die T-Aktie ausgegeben und die Deutschen wurden ein Volk von Börsenexperten. Leider hatten die meisten Kollegen- und Familienkreisexperten recht Wenig Basiswissen um die Vorgänge rund um die Börse. Dazu kam dass staats- und bankenseitig teilweise mit zweideutiger und damit irreführender Argumentation Börsenpropaganda betrieben wurde. Und von den „Fachjournalisten“ von des Medienfürsten Gnaden wurde, möglicher Weise aus eigener Unkenntnis, viel „Blödsinn“ unters Volk gestreut. Wobei solche Behauptungen wie die, dass die T-Aktie die erste Volksaktie sei, noch mehr als harmlos sind. Die erste Volksaktie in Deutschland war übrigens in den 60er-Jahren die VW-Aktie – aber was soll’s? Andere Dinge waren viel schlimmer. Zum Beispiel wie man mit dem Wort „Anlage“ umging. Beim „kleinen Mann“ wurde damit ein Vergleich mit dem Sparbuch oder mit festverzinslichen Papieren assoziiert. Also glaubte er, dass es sich bei Aktien um eine gesicherte Grundanlage handelt, so dass man mindestens das, was man eingezahlt hat auch wieder herauskommt. Dass es sich bei Aktien um eine Unternehmensbeteiligung, die immer das Risiko beinhaltet, dass es auch nach Unten sogar bis zum Nullpunkt gehen kann, wurde nur von Wenigen, die dann laut Thekenrunde keine Ahnung hatten, verraten. Auch die Haken und Ösen an der hochgejubelten Telekom wurden nicht ausgeplaudert. Sie gehörte damals bei der Schuldenweltmeisterschaft zu den Treppchenstehern. Die Gewinne aus dem Aktienhandel sollten in die Schuldentilgung gehen. Geld, was man für seine Schulden aufwendet steht operativ nicht zur Verfügung. Damit werden dann möglicher Weise neue künftige Deckungslücken aufgetan und so wird man schnell zu einem Übernahmekandidaten für eine Elefantenhochzeit. Die Herkunft der Telekom aus der ehemaligen Deutschen Bundespost, also aus einer Behörde, hat aus Kapitalanlegersicht weitere Schwachstellen. Wobei die, den Leuten gewohnte starren beamtokratische Arbeitsweise immer deutlich teurer als die flexiblere, dafür aber etwas Risiko behaftetere, in der freien Wirtschaft ist, stellt noch das kleinste Übel da. Denn erstens sind die Leute lernfähig und werden sich schon mit der Zeit anpassen und die Fluktuation erledigt das Übrige. Schlimmer sind die unterschiedlichen Bewertungsansätze. Durch den im Vermögenshaushalt zu sichernden Wiederbeschaffungszeitwert (WBZV) der öffentlichen Hand kommen teilweise weit differenzierende Wertansätze zu marktkonformen Werten, also zu den Preisen die man wirklich beim Objektverkauf erzielen kann, heraus, die sich pauschal gar nicht und im Detail nur mit ungeheueren Aufwand bereinigen lassen. Da dieses ja heute alles schon Vergangenheit ist, können wir ja zum Beispiel die „T-Immobilen-Bewertung“ benennen, die die damaligen Wild-Drauf-Los-Anleger gerne heulend den Vorstandsvorsitzenden Ron Sommer in die Schuhe schieben möchten. Das war aber vorher absehbar und hätte auch ganz anderen Leuten wie Sommer passieren können. Vorwürfe muss man nur dem naiven blauäugigen Anleger machen: Warum hat er nur an reich werden gedacht, sich dabei nicht informiert und das Denken den Anderen überlassen? Am katastrophalsten ging es damals am aufkommenden „Neuen Markt“ zu. Da verkauften die Leute Zukunftsoptimums und Illusionen, also nichts reales. Man prognostizierte im Bereich Telekommunikation, hier insbesondere beim Mobilfunk, und beim Internet reinste Schnellballsysteme. Da las ich damals, mal den Unfug, dass wir zur Zeit 18 Millionen private Internetteilnehmer in Deutschland hätten und sich diese Zahl bis in die erste Hälfte des kommenden Jahrhunderts noch verdoppeln würde. Hätte der Mode- oder Gefälligkeitsanalyst in der Grundschule im Rechnen besser aufgepasst, hätte er vielleicht gemerkt, dass dann nach 2 ½ Jahren 108 von 82 Millionen Deutsche im Netz gewesen wären. Also meine Analyse: Augenwischerei durch vorsätzliches Schnellballsystem. Wenn sich aber die Kurse nach Illusionen und Schnellballsystemen ausrichten und dabei deutlich über Produktivität und realen Wertzuwachs des Unternehmens ansteigen, haben wir Mondkurse, die schon laue Lüftchen im Wirtschaftsleben in den Keller oder gar ins Aus pusten kann. Heute, im Jahre 2001, sehen wir ja was bei den Frondiensten an das Goldene Kalb herausgekommen ist. Aber Entschuldigung, ich kann die „armen“ Leute, die dabei viel Geld verloren haben nicht bedauern, denn wenn sie selber gedacht hätten statt gutgläubig hinter Massenverblödern herzulaufen wäre ihnen nichts passiert. Man kann immer nur sagen, dass das was alle sagen selten richtig ist, denn die Masse folgt immer gerne den Parolen, die so schön gut geschmiert runter gehen. Durch die Nutzung des Lemmingsprozesses kommt es zu Diktaturen und Massenverelendung, die dann immer wieder der Einstieg zu immer grausameren Kriegen sind. Wenn alle mal ein Bisschen denken würden, dann gäbe es tatsächlich Kriege wo keiner hinginge. Aber bevor ich jetzt ausschließlich auf die Splitter in den Augen der Anderen ziele sollte ich mich lieber mit dem Balken im eigenen Auge beschäftigen. Schließlich war ich damals Manager und ich war im Vorstand meines Multis der Trouble Shooter und Shareholder. Also genau der Mann, der mit dem Ziele der Profitmaximierung der Politik und der Öffentlichkeit diese Xse als Us vorgaukelte. Es waren die Leute meines Schlages, die zuvor beschriebenen Unfug als Weisheit verkauften. Jetzt könnte man annehmen, dass ich durch die Schüsselerlebnisse im Mai 1986 geändert worden sei. Bin ich auch, aber nicht so wie es sich in einer Bekehrungswundergeschichte anhören würde. Der Mensch Walter Heuer war schon nach ein paar Tagen wieder hinter dem gleichnamigen Manager verschwunden. Ich fuhr also, trotz ursprünglicher guter Vorsätze, wieder im alten Zug in gleicher Richtung weiter. Geändert hatte sich meine Motivation. Ursprünglich wollte ich immer reicher werden um einen möglichst dicken Haufen an meinen Sohn Hendrik und meinen Stiefsohn Salvador zu übergeben. Ich sah mich schon auf dem Sockel ihrer Verehrung leuchten. Aber Hendrik wollte
absolut nicht und ich musste diesbezüglich einsehen, dass sich daran nichts ändern würde, und Salvador war tot. Selbst war ich inzwischen so reich, dass ich davon bis ins hohe Alter, selbst bei reichlich Sponsoring zu allen möglichen Gelegenheiten, sogar mit etwas Saus und Braus hätte leben können. Für wen oder was tat ich es überhaupt noch. Es war halt nur noch mein Job, so wie das Steinschleppen des Bauhilfsarbeiters – nur körperlich ist meiner nicht so schwer. Da sind natürlich Nachlässigkeiten und mangelnder Einsatz, die ich für die folgenden Flops verantwortlich mache, vorprogrammiert. Auf noch einem anderen Gebiet hatte es eine Änderung gegeben. Ich war im Mai 1996 ein Witwer geworden, auf den sich die Damenwelt nach der Devise „Ich angle mir einen Millionär“ stürzen konnte, geworden. Ich brauchte also nicht mehr der Damenwelt nachsteigen um sie ins Bett zu kriegen sondern diese liefen in Scharen hinter mir her um mit mir in ein dauerhaft lukratives Liebes- oder sogar Ehelager zu kommen. Dieses, heute gesellschaftlich akzeptierte Prostituieren befällt nicht nur Single genannte ungebundene Damen sondern auch verheiratete Frauen. So schaffte ich mir dann im November 1996 bei einem Betriebsfest einen Feind, der dann seinerseits dazu beitrug, dass ich in ein offenes Messer lief und floppte. Dieses Betriebsfest war so ein „Ringelpietz“ für die Angestellten auf den höheren Etagen des Unternehmens, zu dem sie auch ihre Partnerinnen und Partner mitbringen konnten. Da gab es alles, was man von solchen Anlässen kennt. Eine prominente Tingeltangeldame und ein entsprechender Herr aus der Schlagerbranche traten, wie ein Magier, auf. Höhepunkt war die Darbietung einer brasilianischen Sambatruppe. Alles wurde musikalisch untermalt von einer regional bekannten Showband. Die Schlacht am Kalten Büfett war ebenso obligatorisch wie die komplette Palette alkoholischer Getränke. Schließlich muss man ja zur Hebung des Profitmaximierungswillen auch mal steuerbegünstigt abfeiern. Klar gehört auch der Gesellschaftstanz, vom Schmuseschaukeln bis zum Technozucken, auch zu solchen Festen. Klar das ich als millionenschwerer Witwer und Boss der Truppe ein begehrter Tanzpartner war. Oft gab es auf besonderen Wunsch die aus alten Tanzschulzeiten bekannte Damenwahl und im Nu stand eine ganze Truppe der holden – oder auch nicht holden – Weiblichkeit um meinen Sitz versammelt. Aber auch zur „normalen“ Herrenwahl machten mir viele Damen durch eindeutige Gestik und Flirt deutlich, dass sie gerne mal auf dem Parkett mit mir Körperkontakt hätten. Darunter war auch Brigitte Dörfler, die Frau meines Assistenten, die auf Kontakt mit meinem Körper aus war. Dörfler war bei uns im Haus dafür zuständig, für mich Analysen, Prognosen und Statistiken für meine Entscheidungsfindung zusammenzustellen. Um erfolgreich zu arbeiten war ich natürlich im hohen Maße auf ihn angewiesen. Daran dachte ich an jenem Abend nicht sondern ließ mich lieber von dem Rasseweib, mit dem mächtigen Busen, die leider im umgekleideten Zustand ein Wenig kräftig nach unten hingen, an seiner Seite blenden. Ich tanzte, insbesondere wenn es langsam und schmusig zu ging, am häufigsten mit ihr. Schätze mal, dass es jeder zweite Tanz an diesem Abend war. Beim Tanzen unterhält man sich auch und so fragte ich die Dörfler bei einem dieser Tänze was sie vom Fremdgehen hielte. Und als sie mir „Tragen sie immer das gleiche Hemd ... Übrigens ich bin Gitte“ antwortete war die Sache wohl gelaufen. Während das Fest noch bis Vier in der Frühe lief, waren sowohl Gitte wie auch ich kurz nach Mitternacht verschwunden, und zwar in mein Apartment. Ich hatte sie mit dem Vorwand sie echten Champagner und Cognac mit russischen Kaviar probieren zu lassen in meine Höhle „gelockt“; sofern man bei deren Aktivität überhaupt vom Locken sprechen konnte. Schon im Taxi zwischen Festhalle und Apartment hatte ich sie gefragt, ob sie strippen könne und mir diese mal vorführen wolle. Und so ging es dann nach dem ersten Schluck Champagner gleich zur Vorführung. Ich saß genüsslich mit geilen Blick im Sessel und sie zuckte, aus ihrer Sicht wohl erotisch, mit dem ganzen Körper während sie dabei bewusst langsam ein Kleidungsstück nach dem anderen auszog und in eine beliebige Raumecke warf. Die erste Bescherung bekam ich zu Gesicht, als sie sich ihres Büstenhalters entledigt hatte und mir diesen locker zugeworfen hatte. Ich sage nur, dass da was mächtig „platsch“ machte. Die zweite Überraschung sah ich, als sie ihren Slipper, während sie mir den Po zu wandte, herunterzog. Der Po war striemig vernarbt, so als wenn des öfteren darauf eine Peitsche gelandet wäre. Bei der Gelegenheit schaute ich auch genauer auf ihren Rücken und sah dort Male, die von dort ausgedrückten Zigaretten stammen konnten. Entweder war sie Masochistin oder einem Sadisten hörig. Aus ihrem Vorschlag, sie nach ihren Anweisungen zu misshandeln damit sie in Fahrt käme, entnahm ich, dass es sich um Ersteres handelte. Auf so etwas stehe ich ja nun gar nicht. Deshalb verschaffte ich mir nur noch ein schnelles Nümmerchen, nach der Devise „Drauf, Orgasmus und Fertig“ und bestellte ihr danach ein Taxi, dass sie in ihre eheliche Wohnung bringen sollte. Natürlich sagte ich ihr ehrlich, dass mir Sadomasochismus ein Graus sei und ich bei dem Gedanken daran nicht mehr richtig könne. Das eine „Bümschen“ wäre wohl nur möglich gewesen, weil sich im Laufe des Abends einiges in mir aufgestaucht habe. Na ja, sie akzeptierte es und war nicht einmal böse. Dafür war mir aber ihr Gatte bitterböse; ich war jetzt sein Erzfeind. Nicht, dass er mich danach angriff oder offen gegen mich opponierte, was ihm sicherlich auch sofort schlecht bekommen wäre, sondern heimtückisch und arglistig. Es sollte in Folge mir meine Aufgabe und ihm insgesamt den Job kosten. Er schaffte es, dass Sterne ihre Bahn verließen und abstürzten und ich habe ihm mit meiner immer nachlässiger werdenden Dienstauffassung kräftig dabei geholfen. Ich hatte mir als nächstes Opfer für meine Globalisierungstätigkeit ein kleinen Elektrogerätehersteller mit acht Handelsmärkten in verschiedenen Regionen ausgesucht. Mein Plan war es, dass Unternehmen erst dahingehend zu sanieren, dass von den Produkten in der Produktion nur ein Kühlschrank und eine Mikrowelle auf vorzüglichen
technischen Stand mit größeren Marktchancen übrig blieb. So konnte ich schon einmal die Belegschaft in der Produktion halbieren. Dann wollte ich die Märkte aus dem Unternehmensverbund ausgliedern und mit kräftigen Gewinn an eine Handelskette veräußern. Im Anschluss sollte der Laden dann ganz „platt“ gemacht werden und die beiden Produkte an eine nicht ganz ausgelastete, zu unserem Konzern gehörende Elektrogeräteproduktion in Portugal gehen. Da in diesem EU-Land die Kosten für die Arbeit sehr niedrig sind aber dabei auch die notwendigen Fachkräfte vor Ort vorhanden sind, eine absolut lukrative Angelegenheit. Es sah erst so aus als würde alles wie am Schnürchen laufen, bis dann der „dicke Hammer“ zuschlug. Die Handelsmärkte bekam ich nicht los. Einer dieser Märkte war ungeheuerliche Verbindlichkeiten von über 100 Millionen muntere Märklein eingegangen. Diese Folgen waren eindeutige Managementfehler, die die „alten“ Herren in dem Hause dazu bewegten so locker an uns zu veräußern – und ich war davon ausgegangen ein Schnäppchen gemacht zu haben. Jetzt blieb nur noch eine Alternative: Entweder mit einigem Kapitalaufwand zu Liquidieren oder für die symbolische Mark, bei einer tollen Mitgift aus der Schatulle unseres Konzerns, veräußern. Unsere Konzernsleitung nahm mir die Entscheidung ab und liquidierte den Laden Anfang Januar 1998, nach dem man zuvor das Jahresendgeschäft zur Schadensminderung mitgenommen hatte. Meine katastrophale Fehlentscheidung verdankte ich dem gewissen Herrn Dörfler. Nach dem ich mich an seine Frau „vergangen“ hatte leistete er, sogar mit immer freundlichen Gesicht, nur noch Dienst nach Vorschrift. Zuvor hatte ich ihn so gut „an der Leine“, dass ich alles, was ich für eine Entscheidung benötigte, ungefragt auf dem Tisch liegen. Nach irgendwelchen außergewöhnlichen Belastungen oder Vorgänge, die nicht direkt beim gekauften „Firmenmütterchen“ sondern in der Umgebung, also bei den Töchtern, anlagen hatte ich nicht gefragt und er hatte mir das, obwohl es vorlag und ihm bekannt war, nicht vorgelegt – und „platsch“, ich lag auf der Nase. Natürlich wurde ich wegen des „unverzeihlichen Saltos“ zu meinen Herren, den Globalisierungslenkern, nach New York zitiert. Ich stellte das Ganze wahrheitsgemäß da und bekam dafür die gelbe Karte. Mir wurde die Alternative anheim gestellt, entweder Dörfler zu feuern oder ihn enger an die Kette zu legen. Mir wurde eindeutig klargemacht, dass ich der Alleinverantwortliche sei und danach bekam ich noch eine Bewährungschance. Nach meiner Rückkehr knöpfte ich mir den Knaben in einem vertraulichen Gespräch vor. Ich war wild entschlossen, ihn, wenn er mir keine plausible Erklärung geben könnte, zu feuern. Er sagte mir dann bei unserem „Talk“ den wahren Grund, den ich natürlich menschlich nachvollziehen konnte aber als sein Boss nicht akzeptieren wollte. Da brach der „Kerl“ in bitterlichen Tränen aus und gelobte, wenn ich Gnade vor Recht gehen lassen würde, in Zukunft wieder so korrekt wie früher zu arbeiten. Für mich gab es jetzt eine simple Kosten- und Nutzenanalyse, also keine von Menschlichkeit geprägte Entscheidung. Ich ging davon aus, dass mein Erfolg insbesondere auch von seiner vorherigen vorzüglichen Arbeit abhing. Was ich hatte wusste ich; was ich kriegen würde wäre eine reine Glückssache gewesen. „Na ja,“, dachte ich mir, „wenn ich dem ein Bisschen auf die Finger schaue, wird es schon klappen.“. Ich ließ ihn dann drei Tage zappeln und teilte ihm mit, dass ich ihm noch mal eine Chance auf Bewährung geben wollte. Unser Herr Dörfler war überglücklich und es sah alles danach aus, als wenn er sich eifrigst an seine Bewährungsauflage halten würde. In diesem Fall hatte ich aber die Rechnung ohne meinen eigenen inneren Schweinhund gemacht. Jetzt war ich es, der sich verletzt fühlte und sich rächen wollte. Dazu ergab sich dann am 23. Februar 1998 eine „tolle“ Gelegenheit. Unser Leipziger Cheferbsenzähler (Buchhalter) hatte es geschafft; er wollte seine zukünftigen Einkünfte von der Rentenversicherung beziehen. Da das mit dem Rosenmontag, dem Höhepunkt des Karnevals zusammenfiel, gab es für unsere dortigen Toppleute einen lockeren Empfang in den Räumen der Geschäftsleitung. Als sich die Sektlaune gesteigert hatte lenkte ich, umkreist von weiblichen Mitarbeiterinnen, auf das Thema sexuelle Abartigkeiten über. Dabei war ich dann immer bemüht unseren Herrn Dörfler ins Gespräch mit einzubeziehen. Sicher war es eine Frechheit meinerseits als ich ganz keck fragte: „Steht denn eine Damen auf gekonnten Sadomaso. ... Denen kann ich unseren Herrn Dörfler wärmtestend empfehlen. Er ist Spezialist auf diesem Gebiet.“. Da hatte ich den armen Mann voll in die Breitseite getroffen. Sicherlich hätte er mich für diesen „Streich“ auch zum Richter bestellen lassen können, aber dann wäre er trotz meiner Nutzenrechnung wohl für den Arbeitsmarkt freigesetzt worden. Nach der Devise „Wenn schon, denn schon“ ersann er eine böse Rache, die uns dann beiden den Kopf kosten sollte. Ihn aus optischen Gründen sogar noch konsequenter als mich. Am Tage nach dem Vorfall erschien er freundlich wie immer und schoss mich sogar unaufgefordert mit allen möglichen Informationen zu. Und so ging das zunächst alle Tage weiter. Mitte März erhielt ich eine interessante Offerte aus Österreich. Dazu erhielt ich dann noch die allerbesten Prognosen und Analysen von Dörfler geliefert. Da war ich in meinem Element und nahm umgehend Kontakt mit dem zum Verkauf stehenden Unternehmen und den federführenden Banken auf. Für Mitte April, direkt nach Ostern, wurden Verhandlungen in Salzburg vereinbart. Wir reisten mit unserem Übernahmekommando pünktlich an und dachten alles schnell unter Dach und Fach zu haben. Aber das war ein Mords Irrtum, die Verhandlungen zogen sich ellenlang hin. Immer stimmte irgendetwas nicht. Mir kam zum ersten Mal etwas in meiner Laufbahn seltsam vor. Mehrfach wollte ich die Verhandlungen abbrechen und immer wieder kam dann die andere Seite mit einem Schmankerl, wie die Österreicher so salopp sagen, hinter mir her. Prompt wurde ich dann von Dörfler mit Informationen, die diese sogenannten Schmankerl aufwerteten, versorgt.
So wurde es dann langsam aber sicher Ende Juni. Da vernahm ich über Handy – mittlerweile war ich auch ständig mit dem neuesten Typ der Gattung ausgestattet – die Stimme eines meiner Herrn, die mich in die „heiligen Hallen“ unseres Konzerns nach New York zitierte. Dort sollte ich der versammelten Führungsmannschaft mal erklären, was ich da in Österreich überhaupt machen würde. Was ich dann jenseits des Teiches an Unterlagen zur Vorbereitung auf die Vorstandssitzung zu sehen bekam haute mich glatt um. Dörfler hatte mich furchtbar geleimt. Er hat mich bösartig und arglistig mit Falschinformation und gefälschten Unterlagen versorgt. Mit einem Kauf hätte ich unserem Konzern einen schweren „Marmorklotz“ unterschoben. Für Dörfler waren die Konsequenzen im Nu beschlossen und eingeleitet. Per Fax erhielt er seine außerordentliche Kündigung und gleichzeitig gingen bei der zuständigen Staatsanwaltschaft diverse Anzeigen ein. Ich durfte dann ein Tag in meinen Hotelzimmer warten, bis man mir dann mitteilte, wie der Stern Walter Heuer seine Bahn verlassen sollte. Das ich meiner Aufgabe enthoben werden sollte war zum Zeitpunkt der Kündigung Dörflers bereits beschlossene Sache und dieses war mir auch klar. Aber was sollte dem folgen? Am nächsten Tag erschien ich dann mit klopfenden Herzen zur Vorstandssitzung. Zunächst zeigte man mir dann mal wer und was ich für diese Herren war. Man bot mir zunächst bei den Sekretärinnen Platz und ließ mich dann über eine halbe Stunde warten. Als ich hereingerufen wurde, bekam ich den Sünderstuhl gegenüber dem Präsidenten zugewiesen. Er schaute mich einerseits böse und andererseits niederschmetternd an und alle anderen verhielten sich so als sei ich gar nicht existent. Niemand würdigte mich eines Blickes. Da saß ich armer Tor nun. An diesem Laden war ich mit einer höheren 2-stelligen Millionensumme beteiligt, aber er ist etliche Milliarden wert. Eine Million ist halt nur eine Promille, ein Tausendstel, einer Milliarde. Für die Masse bin ich ein sehr reicher Mann, für den Konzern aber nur ein armes Würstchen. Der Präsident verkündete mir dann kurz und schmerzvoll was man mir zugedacht hatte. Man wollte zunächst „schädliches Aufsehen“ vermeiden und deshalb sollte ich formell meinen Vorstandsposten behalten aber künftig nur auf besondere Aufforderung an dessen Sitzungen teilnehmen dürfen. Offiziell sollte ich ab sofort der Kontaktmann zu den europäischen Börsen und Banken sein aber nicht mit besonderen Vollmachten ausgestattet werden. Mit anderen Worten: Ich wurde entsprechend der Worte zum weisungsgebundenen Börsenmakler degradiert. Ich sollte auch nicht mehr in Leipzig thronen sondern in der Mainmetropole Frankfurt werkeln. Natürlich bot man mir auch eine Alternative für den Fall, dass mir das Ganze nicht passe an. Ich durfte aus Gesundheitsgründen zurücktreten. Auch meine Krankheit hatte man sich bereits ausgedacht: Man war der Meinung, dass sich ein Krebsleiden immer ganz gut verkaufen lässt. Der Zeitpunkt meines Rücktrittes sollte mir noch mitgeteilt werden. Während Rücktritt die absolute Chance für mich gewesen wäre zog ich den Job des Börsenhiwis vor. Diese Angelegenheit war in knapp 15 Minuten erledigt, dann konnte ich von dannen ziehen. Ich sollte also umgehend nach Leipzig um meinen Umzug nach Frankfurt am Main schnellstmöglich durchführen zu können. Das war natürlich keine erhebende Zeit für meines Vaters jüngsten Sohn. Als ich in der sächsischen Metropole „meine Koffer“ packte, spürte ich förmlich die mir zugedachte Häme und Schadensfreude. In Frankfurt hatte ich dann zwar ein geräumiges Büro und fünf Leute, drei Frauen und zwei Männer, Personal aber, ... na ja, ... . Die beiden Herren waren, zwar ein paar Etagen tiefer, Schicksalsgenossen von mir. Ihre Aufgabe war es zuvor Devisen rund um den Globus zu schieben und mit dem Auf und Ab der Wechselkurse richtiges Geld für unsere „Mutti“ in den Staaten zu verdienen. Sie waren leider nicht so reaktionsschnell wie sich das unsere Big Bosse so vorgestellt hatten; sie hatten nur ein paar Mal um Minuten zu spät gehandelt. Und nun waren sie als meine Assistenten nach Frankfurt abgeschoben worden. Hätten sie weniger Insiderwissen gehabt dürften sie sich bestimmt im Stellenmarkt der FAZ was adäquates suchen dürfen. Die Damen waren allesamt Sekretärinnen, deren größte Qualifikation ein flottes Aussehen war. Unsere Aufgabe war recht simpel; praktisch nur repräsentieren, also nicht mal Börsenmakeln. Mal ein Shakehands bei den Bankvorständen und mal bei jenen. Dann hatten wir Hin und Wieder unsere Meinung, die man uns zufaxte, den Medienvertretern zu verraten. Aus besonderen Anlässen mussten wir uns an der Börse blicken lassen, aber ja nichts unternehmen, es sei denn ausschließlich privat. Praktisch fungierten wir nur als Platzhalter für bestimmte Leutchen, die zu einem Zeitpunkt X hier den Laden übernehmen sollten und dann aus diesem eine Transaktion steuern, über die man sich uns gegenüber allerdings nicht ausließ, sollten. Zunächst mussten wir erst mal mit einander vertraut werden und dann mussten wir sehen, wie wir bei einem solchen „Arbeitsaufwand“ über die Tage kam. Natürlich kommt man unter solchen Umständen auf krumme Gedanken. Wir waren zwar kaltgestellt aber innerlich noch ganz heiß. Erst nahmen sich jeder von uns Herren seine Sekretärin vor und dann tauschten wir öfters mal die Partnerschaften. Als ich alle drei Mädels durch hatte, nahm ich dann gleich zwei auf einmal und meine Assistenten folgten prompt meinem Beispiel. Letztlich hatten wir dann die Devise „Sex zu Sechst macht Spaß vor und nach Sechs“, was wir dann der Einfachheit halber in Folge ab und zu auch mal während der Dienstzeit im Büro veranstalteten. In jener Zeit fand ich immer mehr Freude an Gruppensex und Swingertum. Daran ist ersichtlich, das ich, der einstmals leuchtende und stetig aufsteigende Stern, vollkommen aus der Bahn geraten war und kurz vor dem Absturz stand. Insgesamt war diese Zeit die „lustvollste Ära“ meines gesamten Wirkens. Außer mit Sex beschäftigt ich mich zwischendurch auch mal mit privaten Börsenspekulationen und wurde so auch im Zuge des damaligen Aktienbooms immer noch reicher.
Aufmerksame Leserin und Leser wird aufgefallen sein, dass ich in diesem Kapitel nichts von Waldheim, Seetal oder Ulkerde, nichts von Rosi, Silvia, Jürgen oder Hendrik geschrieben habe. Was hätte ich auch davon schreiben sollen? Etwa das wir Grußkarten zu Geburtstagen und Weihnachten ausgetauscht haben oder das ich ein paar Mal, jedoch immer nur kurz mit Hendrik telefoniert habe? Persönlich war ich während dieser Zeit nie im heimatlichen Kreis Waldheim und Mitglieder meiner Familie habe ich persönlich nicht zu Gesicht bekommen. Ich nahm jetzt nur Telefonund Kartenkontakte bewusst wahr aber ansonsten war alles wie vor jener schrecklichen Maiwoche. Aus dem Saulus war immer noch kein Paulus geworden. Zum Kapitel 20
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Ein Donnerschlag zum Finale Während der ersten Zeit in Frankfurt hatte ich noch fast täglich einen öffentlichen Auftritt im Auftrage meiner im globalisierenden Milliardenrausch lebenden Herren. In Deutschland lief gerade mal wieder die Massenshow, die man frei nach Shakespeare „Viel Lärm um nichts“ nennen könnte. Wenn ich dieses ohne Ironie sagen soll, müsste es heißen, dass der Bundestagswahlkampf 1998 lief. Nur gut, dass mir meine Meinung, die ich je nach Absprache meiner Herren mit ihren Politmajonetten vortragen musste, vorformuliert wurde, denn in diesem Jahr war es äußerst schwer das Richtige zu sagen oder zu empfehlen. Auf der einen Seite war da der Kanzlerwahlverein CDU – das war schon zu Adenauers Zeiten so -, dessen damaliger Häuptling Helmut Kohl nach Außen als der große Staatsmann auftrat und im Inneren alles beharrlich aussaß, mit seinem Juniorpartner F.D.P., der eigentlich mit der Devise jeder raffe für sich und lasse dem Staat draußen antrat aber ansonsten bequem auf dem schwarzen Trittbrett mitfuhr. Von jeher war dieses Lager schon immer die Toppfavoriten der Wirtschaft und des Mittelsstandes aber Bewegungslosigkeit ist nicht im Sinne, der vom stetigen Wandel existierenden Wirtschaft. Auf der anderen Seite die Sozialdemokraten, die mit gespaltner Zunge sprachen. Da war der offensichtlich mehrheitliche „Neuen-Mitte-Flügel“ um den medienwirksamen Gerhard Schröder, von dem man sich die Fortsetzung der bisherigen Politik mit neuen Schwung versprechen konnte, und auf der anderen Seite die letzten echten Sozis um Lafontaine, Dressler und anderen. Auf deren Trittbrett wollten dann die Grünen, die der autofahrenden Klasse einen „sozialen“ Benzinpreis von DM 5,-- aufhalsen wollte, mitfahren. Man überlegte damals, dass es, wenn sich bei denen der Schröderflügel durchsetzen würde, wegen des frischen Windes und der neuen Besen, im Sinne der Wirtschaft liegen dürfte. Aber wenn sich die „Traditionalisten“ durchsetzen wäre es doch besser gewesen wenn man bei der eingefahrenen Truppe geblieben wäre. Damals sagte mir manch einer aus Manager- oder Bankerkreisen, dass derzeitig eine große Koalition das absolute Ideal wäre. Den totalen Untergang hätte es nach Ansicht von Geldkreisen gegeben, wenn es eine auf Lafontaine ausgerichtete Sozi-Regierung, die sich den SED-Nachfolger PDS ins Boot geholt hätte, gegeben hätte. Ich war damals recht froh, dass bei dieser Ausgangslage meine Meinung auf der Vorstandsetage in New York produziert wurde, denn dann konnte man mir von dort auch nicht auf den Schlips treten, wenn meine Empfehlung in die falsche Richtung ging. Und mit Gesten und Bimbes, wie es später mal ein Sammler nannte, hatte ich zu meinem Glück auch nichts zu tun, da ich derzeitig nicht mehr das notwendige Supervertrauen der Geber besaß. Aber so große Bedeutung hat in Zeiten der Globalisierung, das heißt der vollkommenen Deregulierung von Kapital- und Handelsmärkten, die Politik auch nicht mehr, die kann ja nur noch den Kapitalströmen folgend die zweite Geige spielen. Ich halte die heutigen politischen Teleschlachten der Politikusse für reine Unterhaltungseffekte; die andere Seite würde, wenn sie dran wäre, bis auf ein paar kleine optische Nuancen es wahrscheinlich bis auf den letzten Strich genauso machen wie die, die gerade dran ist. Das enorme Engagement der Politiker im Wahlk[r]ampf ist wohl darauf zurückzuführen, dass die zu verteilenden Pöstchen für Beamte, aus denen sich heute überwiegend unsere Politikerschar rekrutiert, eine einkommensmäßige Karriere darstellen. Für mich habe ich beschlossen, bei künftigen Wahlen zuhause zu bleiben und dann die Ergebnisse im Fernsehen, so wie andere die Ziehung der Lottozahlen, zu verfolgen. Wie es dann letztlich kam, wissen wir ja alle noch: Herr Kohl, sorry: Herr Doktor Kohl – auf solche Kniefallablocker legte ja der Altkanzler unheimlich viel wert, wie anno „Ä.Ä. von und zum Monokel in Kakao gefallen“ -, musste mit seiner Truppe nach 16 Jahren die Koffer packen und die Sessel an sich selbst rot oder grün wähnenden Damen und Herren übergeben. Sicherlich entsinnen wir uns alle daran, was es dann in den ersten 100 Tagen der neuen Bundesregierung für ein Chaos gab. Nach den langen Jahren der Opposition verspürte die neue Mannschaft augenscheinlich so einen Druck, wie ein Häftling der nach langen Jahren Haft zum ersten Mal wieder eine nackte Frau in Natura sieht. Alles, was sie in den letzten 16 Jahren gerne gemacht hätten, wollten sie jetzt im Hauruckverfahren innerhalb weniger Tage nachholen. Dazu kamen dann noch die internen Flügelkämpfe, die letztendlich von den wirtschaftsgefügigen Populisten gewonnen wurden. Nach Lafontaines Abtritt im März 1999 war für Moneymaker offensichtlich die heile Welt wieder hergestellt. Es wurde ja recht deutlich mit Sekt und Jubel von den dummen Jungens an der Börse, so wie sie Lafontaine in seinem Buch „Mein Herz schlägt links“ nennt, dokumentiert. Na ja, mich regte das damals nicht so sehr auf, da ich im gleichen Monat wie der Saarländer Oskar Lafontaine die rote Karte zu sehen bekam. Ein Donnerschlag hatte auch mein Finale eingeleitet. Ich glaube ich muss mal hier so außerhalb der Handlung mal eine Zwischenbemerkung: Ich bin von Natur aus ein Mensch der ab und zu mal seine Meinung mit etwas Ironie und Satire würzt. Ich hoffe ja, dass es noch ein kleines Portiönchen von schriftstellerischer Meinungsfreiheit gibt und man mich, das Lästermaul, gleich vor dem Kadi schleppt. Ich bin halt ein Spötter aber ansonsten erkläre ich mich unschuldig. Ein Email-Smilie gefällig? Bitte schön: ☺ Aber jetzt erst mal wieder alles schön der Reihe nach. Als damals die Wahllokale geschlossen hatten wurden wir in unserem Frankfurter Büro förmlich aus dem Verkehr gezogen. Unsere Konzernsleitung hielt die Lage für so brisant, dass man dann doch lieber kompetentere Leute wie uns aufs Schlachtfeld schickte. Jetzt blieb uns allen im Grunde nur der Sex und mir, dem Reichen in der Truppe, noch ein Bisschen private Zockerei an der Börse. Irgendetwas im Sinne meiner Herrn bewegen durfte ich ja auch nicht mehr. Ehrlich gesagt, ein solches Leben ist auf die Dauer beim besten Willen nicht ausfüllend. Aber was sollte ich sonst machen? Ich musste doch immer berücksichtigen, dass ich mich, sowohl im Sinne meiner Bosse wie im eigenen, in Empfinden meiner Persönlichkeit begründeten, Interesse besser nicht
in der Öffentlichkeit sehen ließ. Eigentlich wäre ich ja jetzt ganz gerne nach Hause und zu meiner Familie gegangen aber die Scham des abgestürzten Sternes hinderte mich auch in dieser Angelegenheit immer wieder daran. An unseren Sexspielchen war letztlich nichts mehr geil; man kannte sich und hatte alles schon mal ausprobiert. Da war es für uns alle eine Erlösung, als ich Mitte November die Order erhielt, dass Frankfurter Büro bis zum 31. März des Folgejahres ohne Aufsehen aufzulösen. Man gab mir sogar eine Begründung: Die Strategie habe sich geändert und in Folge würde das Büro nun doch nicht wie ursprünglich vorgesehen benötigt. Mit den Leuten sollte ich Auflösungsverträge, in dem ich sie zum Ende des ersten Quartals 99 freisetzte, aushandeln. Es war kein Problem, denn die Leutchen kamen alle sofort wieder unter. Sie hatten schon vor Eintreffen der Liquidierungsanweisung ihre Fühler nach anderen Brötchengebern ausgestreckt. Unsere Sekretärinnen bekamen alle entsprechende Pöstchen in kleineren mittelständischen Betrieben in ihrer ursprünglichen Heimat. Sie konnten mit den Willen lieber wieder zu Hause zu sein argumentieren und ihre Tätigkeit bei uns war für ihre zukünftigen Chefs die allerbeste Empfehlung. Die Herren der Schöpfung kamen bei Sparkassen, denen deren Erfahrungen im Devisen- und Wertpapierhandel gelegen kam, unter. Nur für mich hatten die Herren eine weitere Beschäftigung im eigenen Lager ausgeguckt. Dahinter stand weder menschliche Gnade noch die Unverzichtbarkeit auf meine Qualifikation sondern alles das, was ich hinter den Kulissen mitbekommen habe, hielt man lieber unter dem Mäntelchen des eigenen Lagers versteckt. Es könnte ja möglicher Weise Mitstreiter oder die Öffentlichkeit auf dumme Gedanken bringen. Ich sollte zum 1. April des darauffolgenden Jahres kaufmännischer Vorstand und Seniorberater einer „aufstrebenden“ Internetfirma werden. In dem, zu unseren Konzern gehörenden Laden waren alles nur junge Leute zwischen Zwanzig und Dreißig. Die jungen Wilden hatten alle supertolle Ideen und konnten mit euphorischer Begeisterung Anleger mitreißen. Aber in den Bereichen Ökonomie und Realismus waren bei denen doch erhebliche Defizite unübersehbar. Nach dem Willen unserer Oberen waren die Aufgaben im 2-köpfigen Vorstand klar verteilt. Der, erst 25-jährige Vorstandsvorsitzende sollte den Laden mit seinen Illusionen, Visionen und Euphorien repräsentieren. Aber das sollte auch alles an Zuständigkeiten, die diesem Knaben zugedacht wurden, sein. Für die eigentliche betriebswirtschaftliche Leitung des internetten Schuppens sollte der zweite Mann, also ich, zuständig sein. Allerdings sollte ich mich ansonsten äußerst bedeckt halten. Ich fand die Aufgabe tatsächlich reizvoll und hätte dieses auch gerne gemacht. Das einzigste Haar in der Suppe war, dass ich an der Konzernsspitze dann auch auf dem Papier keine Funktion mehr haben und in meiner Honorierung abgestuft werden sollte. Aber Letzteres hinderte mich nicht doch zuzustimmen. Eines sah ich jetzt aber tatsächlich auf mich zukommen: Das Ende meiner Laufbahn. Aber das Finale sollte, laut meines eigenen Willens, nicht mit einem Donnerschlag eingeleitet werden sondern ich wollte mir „in Ehren“ den Zeitpunkt aussuchen. Na ja, wenn ich bei den Internetyuppies meine erste übliche 5 Jahresfrist abgedient habe, bin ich immerhin dann fast 60 Jahre – also der wohl offensichtlich richtige Zeitpunkt und über eine zweite 5-Jahresperiode könnte ich ja dann vielleicht, wenn ich noch keine Lust aufs Altenteil habe, immer noch nachdenken. Trotzdem wollte ich es jetzt insgesamt ruhiger angehen lassen und dem Börsenfieber ein Tschüss zurufen. Man hat zwar dank Internet und einschlägiger Fernsehsender immer die Möglichkeit am Börsengeschehen dran zu bleiben aber das ist auf Dauer auch nicht gerade ausfüllend und zum echten professionellen Agieren braucht man ein Wenig Background, den man in Privathäusern nicht vorfinden kann. Da besann ich mich guter alter Kleinanlegerregeln, nach denen man sein Kapital auf möglichst viele konservative Aktienwerte – möglichst quer durch alle Branchen –, Festanlagen und Renten streuen soll. Ein paar spekulative Werte dürfen natürlich auch dabei sein, aber wirklich nur ein paar. Diese Depot lässt man im Tresor verschwinden, um von Dividenden und gelegentlichen, inventurmäßigen Verkäufen zu leben - wenn man genug davon hat, geht das sogar ohne großes Überlegen. Nun war ja mein Kapital bis auf ein paar privatspekulativen Ausnahmen auf unseren Konzern konzentriert. Das konnte ich natürlich nicht auf ein Mal paketweiße an institunelle Anleger oder Großspekulanten abgeben. Abgesehen von Kurseinbrüchen würde so etwas einen Riesenwirbel auslösen. Ich musste also Zug um Zug alles bröckchenweiße absetzen und dann quer durch den DAX sowie dem Einheitsmarkt kaufen. Da so etwas dann aber eine Menge Zeit in Anspruch nimmt, wollte ich ab Ende November bis voraussichtlich April oder Mai 1999 Tag für Tag ein Stückchen aus meiner Torte abgeben um dafür Bonbons einzukaufen. Also, irgendwelche bösen Absichten hatten mich damals nicht dazu verleitet. Trotzdem sollte mein Vorgehen zum Donnerschlag zu meinem Finale führen. Als ich am Mittwoch, den 3. März 1999, so etwa Viertel vor Neun ins Büro kam, glaubte ich es würde ein Tag wie alle anderen werden. Ich ging gleich ans Telefon um meinen Börsenmakler die Verkaufs- und Kaufaufträge für den laufenden Tag durchzugeben. Neuerdings stand ich immer des Morgens um Sechs auf um mich über den letzten Stand des Börsengeschehens zu informieren und dabei stellte ich dann meine Tagesorder zusammen. Mein Makler deutete aber an, dass dieser Tag möglicher Weise für mich keiner wie alle anderen sein könnte. Ich hätte am Vortage Aufsehen erregt. Am Montag habe eine große deutsche Bank eine Kaufempfehlung für eine Aktie aus unserem Konzern ausgegeben. Da wäre dann kurz nach der Eröffnung meine Verkaufsorder genau über diesen Wert reingeplatzt und habe den Kurs etwas nach unten gedrückt. Mein Makler entschuldigte sich dafür, nicht besser aufgepasst zu haben, aber es wäre ja ohnehin nicht viel passiert, da der Kurs eine halbe Stunde später wieder angezogen habe und zum Schluss des Parketthandels habe dieser sowieso um einige Punkte im Plus gelegen. Aber da man die Köpfe zusammengesteckt habe schwane ihm nichts Gutes, denn schließlich sei die Börse eine schlimmere Gerüchteküche als die Zentralvereinigung
der Waschweiber. Na ja, ich hatte nichts Verbotenes getan und glaubte nicht, dass so etwas harmloses Folgen haben würde. Ich sollte mich aber getäuscht haben, denn ich hatte noch nicht lange aufgelegt, als mein Telefon bimmelte. Ich war zunächst recht verwundert als sich unser New Yorker Mister Osborne meldete, denn jenseits des Teiches dürfte es gerade Viertel nach Drei gewesen sein und wegen mir kleinen Leuchte dürfte sich dieser Osborne wohl kaum den Wecker gestellt haben. Der hohe Herr übermittelte mir mal wieder eine Einladung vors „Tribunal“. Dieses Mal aber nicht ins Mekka der Mammonisten auf der anderen Seite des Atlantiks sondern in meine frühere Wirkungsstätte in Leipzig. Dieses erklärte mir dann auch den frühen Zeitpunkt des Anrufes. Die Garde des Konzerns war, ohne dass ich, die aufs Abstellgleis gestellte Lokomotive, davon erfahren hatte, in die Mitteleuropäische Zeitzone gereist. Was die dort aushecken wollten und ausheckten weiß ich bis heute nicht, aber Gescheites wird es wohl nicht gewesen sein; so was gab es höchst selten bei der Truppe. Jetzt musste ich mich allerdings sputen, denn ich war zum gleichen Tag um 15 Uhr in die sächsische Messestadt geladen worden. Aber den Ernst der Lage hatte ich immer noch nicht erkannt und konnte deshalb noch, während ich mich aufraffte, das Liedchen „Sing mein Sachse, sing“, welches durch den Standort des Anrufers inspiriert worden war, vor mich herträllern. Als ich ein paar Minuten vor Drei in Leipzig vor dem Haus, dass ich selbst mal als Zentrale der EuroTrans AG eingerichtet hatte, stand, war mir allerdings nicht zum Trällern zu Mute. Es überkamen mich auf der einen Seite Wehmut und auf der anderen Seite Beklemmung. Wehmut deshalb, weil ich mich für den Begründer dieser Niederlassung hielt und weil ich darin mal der uneingeschränkte und unanfechtbare Herr war, insbesondere damals, als wir uns noch nicht dem Multi einverleibt hatten. Irgendwie war mir schon so, dass es mit mir, wenn ich da raus komme, als Businessmann vorbei sei. Beklemmung deshalb, weil ich die Häme und den Spott den ich seinerzeit bei meinem Auszug zu verspüren glaubte, jetzt wohl direkt in Empfang nehmen dürfte. Ich hatte mich nicht getäuscht. Die Leute, bei denen ich vorbeikam oder umgekehrt die mir begegneten, tauschten hörbar blöde Bemerkungen aus. Diesen Floskeln konnte ich entnehmen, dass die Leute im Haus offensichtlich schon mehr über mein Schicksal wussten als ich selber. Irgendwie konnte ich jetzt froh sein hier nicht residieren zu müssen, sonst hätte ich bestimmt erfahren, was für ein fürchterlicher Psychoterror Mobbing ist. Was dann ablief kannte ich schon aus New York. Wieder setzte man mich vor der Tür bei den Sekretärinnen ab. Der einzigste Unterschied zu New York war hier, dass man mir hier einen Kaffee anbot. Amerikaner sind ja für ihren Service berühmt aber im Geschäft hat man dort weniger mit solchen kleinen Sachen zu schaffen; da geht es immer nur schnell, schnell mit harten Bandagen, nüchtern und real ab. Wer nicht selbst Sekretärinnen oder Boys zum Kaffeeautomaten schickt muss dort halt darauf verzichten. Aber ansonsten musste ich hier wie damals eine halbe Stunde warten. Auch die Fortsetzung des Rituals zur Machtdemonstration glich der damaligen Geschichte bis aufs Pünktchen. Auch jetzt kam ich auf dem Sünderstuhl gegenüber dem Präsident, der mich dann ansah als sei ich der letzte Trottel den man mal kräftig eins drüber geben müsse, meinen Platz zugewiesen. Wieder taten alle dabei sitzenden VonOben-Herab-Regierer so als sei ich für sie nicht beachtenswert. Man beschäftigte sich mit seinen Unterlagen als sei eine unsichtbare Wand zwischen uns aufgezogen worden. Hätte man den Präsidenten nicht akustisch mit Plaudereien gestört hätte man auch dieses untereinander gepflegt, aber die Todsünde den Präsidenten zu stören wagt natürlich keiner. Mittlerweile war mir bewusst, dass der Mensch in einer globalisierten Welt nur dann zählt, wenn er wie ein frischgeöltes Laufwerk funktioniert – und dann zählt nicht er selbst sondern nur das was er macht. Nur die Leviten, die mir Mister Präsident jetzt verlas, waren um einiges umfangreicher wie damals im Reich des Gottes Mammon. Was ich mit meinen privaten Aktien, also mit meinem persönlichen Besitz machte, war für die oberen Konzernsherren ungeheuerlich. Der Big Boss sprach von Sabotage, Untreue und Insidergeschäften. Unter Androhung von Strafanzeigen und zivilrechtlichen Schadenersatzverfahren nach amerikanischen Recht legte man mir den sofortigen Rücktritt nahe. Damit ich nicht noch weiteren Schaden anrichten kann, bot man mir den Aufkauf aller meiner „Konzernsaktien“ zu 0,5% über Kurswert an. Das Erste, der Rücktritt, schmeckte mir selbstverständlich nicht. Ich glaube, dass so etwas niemanden schmeckt. Jetzt muss ich erst mal diesen Begriff, der sich nach Freiwilligkeit anhört, etwas erläutern. Höchst selten tritt in der Wirtschaft, wie auch in der Politik, jemand aus eigener Veranlassung zurück, auch aus Gesundheitsgründen nicht. In 99% der Rücktrittsfälle ist etwas vorgefallen. Man pflegt diesen Sprachgebrauch in der Regel nur um neugierigen Dritten mitzuteilen, dass man sich beidseitig unwillig zeigt, über die Gründe mehr auszuplaudern. Die zurückbleibenden Gremien haben meist eine schmutzige Weste aber die Macht und der Rücktreter hat im Sinne der Mächtigen nicht richtig gespurt und fährt allemal besser sich der Macht zu beugen, dass heißt, dass er doch empfehlenswerter Weise die „Klappe“ hält und macht was man ihm geraten hat. Jetzt könnte man sagen, dass man sich ja auch weigern könnte zurückzutreten. Was soll’s, der Rücktritt ist nur eine Verfahrensabkürzung; wer sich weigert wird vom Aufsichtsrat gefeuert, was dann allerdings immer mit „Schmutzig-Wäsche-Waschen“ verbunden ist. Mir blieb also nichts anderes, als mich kurz und bündig bereit zu erklären alle Sessel freizumachen. Die zweite Angelegenheit, der Verkauf meiner Anteile, lag nun ganz in meinem Sinne. Jetzt konnte ich mich freuen, dass es in Unternehmen keine Demokratie und keine mit einem Rechtsstaat vergleichbaren Strukturen gibt. Dann hätte ich nämlich die Chance zur Rechtfertigung erhalten, wobei ich dann meinen Richtern und Anklägern in Personalunion
verraten hätte, dass ich ohnehin alles, was mir meine Konzernsanteile bescheinigt, absetzen wollte. Ob die dann noch ein halbes Prozent auf den Tageskurs draufgelegt hätten? Vermutlich hätte das eher zum Gegenteil, also zum Runterhandeln des Kurswertes geführt, denn dann hätte mein Angebot und nicht deren Nachfrage gestanden. Dieser Punkt hielt mich dann noch bis zum frühen Abend in Leipzig, da dazu doch einiges Formales zu erledigen war, aber dann war ich meine Anteile früher als ich erhofft hatte los. Zum Glück hatte ich auch meine private Depotaufstellung in der letzten Zeit immer im Aktenköfferchen bei mir, um gegebenenfalls eine plötzliche Entscheidung mit meinen Makler über Handy treffen zu können. So hatte ich jedenfalls die Daten, die in Vollmachten eingesetzt werden, bei der Hand. Dadurch konnte diese Geschichte, deren Abwicklung mir in Leipzig doch sehr peinlich war, um ein oder zwei Tage verkürzen. Am nächsten Morgen erschien ich wie in letzter Zeit üblich um Viertel vor Neun im Frankfurter Büro. Wie am Vortage rief ich meinem Broker an, um ihn mitzuteilen dass ich nichts mehr zu verkaufen aber sehr viel zu kaufen hatte. Die Käufe sollte er jetzt in meinen Sinne selbstständig managen. Das wollte ich am gleichen Abend nach Börsenschluss – vorher kriegt man einen wackeren Broker ohnehin nicht aus dem Haus - mit ihm besprechen. Daher galt es jetzt nur eine Verabredung zu treffen. Viel brauchte ich nicht zu sagen, denn an der Börse stehen nicht nur Aktien sondern auch Klatsch hoch in Kurs. Als dann um halb Zehn unsere Belegschaft vollzählig war, fungierte ich letztmalig als Chef und berief eine „Betriebsvollversammlung“ ein. Ich führte damit den vorletzten Auftrag meiner Herren aus: Ich konnte den Leuten sagen, dass sie, selbst wenn sie nicht mehr genügend Resturlaub auf ihrem Konto haben, unmittelbar nach dem Zusammenpacken ihrer privaten Utensilien bezahlte Freizeit bis zum Ende ihrer Dienstzeit hätten. Ist zwar nicht ganz gerecht, denn der eine hat keinen mehr und der andere hätte auch ohne dieses ab der nächsten Woche abfeiern können, aber beschwert hat sich niemand. Diese Nachricht wurde somit von den Leuten auch mit Freude aufgenommen; es hatte ohnehin keiner mehr die große Lust. Ruckzuck hatten sie zusammen gepackt. Nach einem Glas Sekt zum Abschied schoben sie davon und ich habe keinen der fünf Leute bis zum heutigen Tage wiedergesehen. Nach dem die Leute abgezogen waren ging ich nun auch an das Zusammenpacken meiner eigenen Sachen, denn mein letzter Auftrag hieß um 13 Uhr das Büro an den beauftragten Abwickler zu übergeben. Und danach hatte ich Hausverbot; nicht nur in Frankfurt sondern in allen Räumen, die mit der Leitung von Unternehmen oder des Konzerns zutun hatten. Nach dem ich dann noch alles Notwendige wie Brokergespräch, Zusammenpacken und Spediteur übergeben – waren nur drei Kisten – sowie Aufgabe der Hotelwohnung erledigt hatte fuhr ich dann am Samstagmorgen gen Heimat. Während der Fahrt schossen mir allerlei Gedanken durch den Kopf: Nach dem Stand dieses 6. März 1999 sah es so aus, als sei meine Managerkarriere beendet. Ich war aufgestiegen von einem Sohn eines Bauern und Kohlenhändlers über mittelständischen Tourismusunternehmer zum Wirtschaftslenker. Ich kam mir unheimlich wichtig und unersetzlich vor. Jetzt merkte ich an der Tatsache, dass niemand von meinem Fall Notiz nahm und sich die Welt, auch bei meinem Exkonzern, weiter drehte wie unbedeutend ich eigentlich war. Heute Toppstar und Morgen vergessen. Ich war ein kleines Würstchen wie alle anderen Menschen auch, dass musste ich jetzt wie schon Millionen vor mir erkennen. In 8 Tagen würde ich meinen 54. Geburtstag feiern können. Ist es nicht ein Bisschen früh um die Hände in den Schoss zu legen und in der Versenkung zu verschwinden? Nein, ich wollte nicht aussteigen wie Jürgen; ich wollte weitermachen. Ich wollte alles daran setzen, um ganz oben wieder mitzumischen. Damit war meine nächste Zukunft beschlossen, ich wollte mich wie ein Weltmeister bewerben bis ich wieder in einem Geschäftsführer- oder Vorstandssessel sitze. Mindestens eine Fünfjahresrunde wollte ich noch drehen. Aber oh Schreck, „bewerben“ ist schnell gedacht aber wie sollte ich das bewerkstelligen? Ich war immer der große Boss und habe mich nie dazu herabgelassen mich selbst mit einem PC zu beschäftigen. Ich konnte nur mit dem Mäuschen und dem Mittelfinger-Adler-System im Internet rum spielen. Und wenn mal was hing, hatte ich Hiwis die sich darum kümmerten. Und jetzt sollte ich dort meine Bewerbungsunterlagen erstellen? Von Textverarbeitung hatte ich keinen blassen Schimmer, ich konnte allenfalls mal kurze E-Mails zusammenpicken. Ich würde eine Sekretärin brauchen. Aber wie sollte ich diese auslasten? Da kam nur eine Teilzeitkraft in Frage. Aber was für eine regelmäßige Arbeitszeit sollte ich mit der vereinbaren? 20 Stunden in der Woche dürften wohl auf die Dauer zu viel sein. Wie soll man unter den Bedingungen jemand bekommen, der auch noch was kann und diskret ist? Schließlich müssen Bewerbungsunterlagen für Topppositionen auch topp aussehen und es dürfte keine Empfehlung sein, wenn über deren Inhalte in Kneippen geplaudert wird. Und wenn ich dann meinen Job habe, dann ist die Pflicht und Schuldigkeit dieser Sekretärin getan. Das brauche ich gar nicht zu sagen, dass ergibt sich aus der Sache. Wie soll man da jemand finden? Ja, meine beiden ersten Frauen Anni und Rosi hätten das gekonnt. Aber Anni war tot und Rosi war in die Arme meines Bruders, wo sie ja auch ehrlich gesagt hingehörte, zurückgekehrt. Trotzdem sollte ich Rosi ansprechen, aber wie würde Jürgen dazu stehen? Na ja, wenn alles in seinem Heim in Seetal stattfindet wird er bestimmt zustimmen. Ich lade sie ganz einfach nächsten Sonntag, also am Vierzehnten, zu meinem Geburtstag ein. Dann kann ich ja mal kleinmütig mit ihnen darüber sprechen. Natürlich muss ich auch Hendrik und Silvia einladen, dass versteht sich von selbst. Aber würden die kommen, wo ich doch, solange ich Oben war, kein Gedanken an meine Familie verschwendet habe? Noch mal oh Schreck, einladen kann ich ja aber beim Ausrichten, man muss den Leuten ja was in netter angemessener Form anbieten, hapert es. Um so etwas haben sich früher erst meine Mutter, dann meine Frauen oder meine Angestellten gekümmert. Ich weiß gar nicht was da alles ansteht. Da gibt es doch Firmen, die sich Partyservice nennen, aber liefern die nicht nur Speisen und Platten? Muss nicht der Gastgeber selbst den für mich unbekannten Rest erledigen?
Überhaupt, wie sollte ich im Haus zu recht kommen? Sicher hatte ich den Verwalter, der Haus und Garten im leerstehenden Zustand in Schuss hielt und sich um Abgaben und anderen Kram kümmerte; ich brauchte nur zu zahlen. Aber wie ist das, wenn ich darin lebe? Wer kümmert sich um meine Wäsche, um den Einkauf und um die Mahlzeiten? Ich kann doch nicht drei Mal täglich zum Frühstück, Mittags- und Abendessen ins Restaurant „dackeln“, dann kann ich ja gleich als Einrichtungsgegenstand dort bleiben. Ich brauche unbedingt eine Hauswirtschafterin und zwar eine, die sich länger als 8 Stunden und nicht nur werktags um mich kümmert. Und was sollte ich der bei der Einstellung sagen? Etwa dass ich sie bis zu dem Zeitpunkt, der ja hoffentlich schon sehr bald ist, wo ich wieder einen Toppjob habe, ausbeuten will? Gibt es Leiharbeiterfirmen, die auch solches Personal anbieten? Mehr und mehr wurde mir klar, dass ich immer nur der Mann fürs Große, für strategische Entscheidungen und Anweisungen war, und praktisch eigentlich nichts konnte. Im alltäglichen Leben war ich hilflos. Jetzt wurde mir die Diskrepanz zwischen dem heilen theoretischen Wirtschafts- und Politikleben und dem wirklichen Leben deutlich. Bei den Gedanken, dass ich in dieser Situation noch für das existenziell Notwendige sorgen müsste, wird mir richtig schwindelig. Zum Glück war ich ein reicher Mann. Wenn ich bei dem Donnerschlag auch noch mein Vermögen verloren hätte, wäre ich jetzt ein hilfloser, lebensunfähiger Mann – dann könnte ich mich ja gleich aufhängen. Ich weiß, dass sich kein Mensch auf meiner früheren Ebene mit solchen Dingen beschäftigt. Vielleicht ist dass der Grund dafür, das viele richtige Entscheidungen glatt am wirklichen Leben vorbeigehen. Letztlich blieb mir nur der Gedanke, dass ich kleinlaut meine Familie um Hilfe bitten musste. Und zwar nicht erst zu meinem Geburtstag sondern sofort. Aber würden die bereit sein, wo ich doch für deren Belange kaum ein Auge und Ohr gehabt habe? Dabei war ich noch gut dran, denn ich hatte eine Familie. Was ist mit den Leuten, die wie ich abstürzen und diese nicht haben? Die sind allein, furchtbar einsam. In der folgenden Zeit konnte ich dann auch noch feststellen, dass die Leute, die ich früher um mich hatte, nichts mehr von mir wissen wollten, sie kannten mich noch nicht einmal mehr. Den Meisten war es lästig wenn ich sie mit irgendetwas, zum Beispiel einen Tipp zur Jobsuche, belästigte. In Managementkreisen war ich gestorben. Zum Kapitel 21
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Wer leben will muss aussteigen In dem Seemannslied vom Hamburger Veermaster heißt es unter anderen: In der Heimat angekommen fängt ein neues Leben an. In diesem Lied wird was fröhlich gefeiert, was mir praktisch aufgezwungen wurde. Ich hatte keine Wahl, ich musste ein neues Leben anfangen. Aber im vorhergehenden Kapitel habe ich ja schon geschrieben, dass ich mir da ein Wenig doppeltlinkshändig vorkam und nicht recht wusste wie ich dieses anstellen sollte. Ich hatte ja beschlossen, meine Familie um Hilfe zu ersuchen. Deshalb war auch der erste Gang in meiner Villa zum Telefon – und schon wieder kam ich ins Grübeln. Die meiste Hilfe versprach ich mir von Rosi, meiner Exfrau und Schwägerin. Aber konnte ich mit der Tür ins Haus fallen und zuerst bei ihr anrufen? Was ist, wenn nicht Jürgen sondern sie selbst am Telefon ist: Kann ich sie dann einfach überrumpeln? Sollte ich mich nicht besser erst mal bei Silvia und Hendrik melden? Meine Überlegungen wurde durch das Tüdellütt meines Handys unterbrochen – und das nahm mir die Qual der Wahl ab: Am anderen Ende war mein Bruder Jürgen. Jürgen hatte auf der Wirtschaftsseite des Waldheimer Kreisblattes, unserer Lokalzeitung, eine kleine Notiz gelesen, dass der heimische Manager Walter Heuer wegen Lungenkrebses von seinen Vorstandsposten zurückgetreten sei. Jetzt wollte er besorgt wissen: „Ist das wirklich der Fall, haben dich deine 50 Gauloises pro Tag geschafft oder hast du nur was ausgefressen?“. Als ich ihm Letzteres bestätigte war er zunächst erleichtert und wollte dann wissen wo ich jetzt steckte. Da verriet ich ihm die geschönt modifizierte Wahrheit: „Ich bin gerade zuhause angekommen und stehe vor dem Festnetztelefon und wollte mich erst mal beim Sohnemann und dann bei euch melden.“. „Was willst du denn alleine Zuhause?“, meldete er sich dazwischen, „Du könntest doch gleich mal zu uns rüber rutschen. Dein Söhnchen hättest du sowieso jetzt nicht erreicht, da er sowieso gleich hier eintrifft. ... Also, raff dich auf und komm her.“. Seit langer Zeit war erstmalig mal alles besser gelaufen als ich erhoffte hatte. Aber würde diese Phase jetzt anhalten und mich über dich noch zu bewältigenden Hürden bringen. Auf jeden Fall wollte ich jetzt der Einladung meines Bruders Folge leisten und setzte mich, nachdem ich mich ein Wenig frisch gemacht hatte, in meinen Wagen und fuhr Richtung Seetal. Als ich in Jürgens Haus ankam waren tatsächlich Hendrik und Silvia schon anwesend und hatten wie Rosi schon von meinem Bruderherz erfahren, was Sache war. Aber Jürgens Information hatte alle neugierig gemacht und so musste ich erst mal berichten, was da gelaufen war. In etwa einer halben Stunde erstatte ich einen wahrheitsgemäßen Bericht über das, was in den letzten zwei Jahren passiert war. Natürlich ließ ich alles was mit Sexus Lustus zutun hatte aus meinem Bericht raus und so hatte laut diesem Dörfler, mein ehemaliger Assistent, nur aus Neid gehandelt. Aber was soll’s, ohne kleine Lügen geht es halt nicht immer glatt und harmonisch ab, ich wollte mir jetzt ja keine gutgemeinten Moralpredigten anhören. Als ich endete tönte Hendrik fröhlich: „Dann willkommen im Club der Aussteiger.“. Jetzt widersprach ich ihm und verkündete dann von meinen Plänen, mich um entsprechende Positionen zu bewerben. Da gab mir mein Sohn, allerdings sehr gut gelaunt die Weisheit „Wer leben will muss aussteigen“ wieder. Aber ich blieb bei meinem Wunsch doch noch mal ein adäquates Pöstchen zu bekleiden. Da hatte ich aber jetzt so nebenbei eine hervorragende Gelegenheit, meine Probleme mit dem Erstellen meiner Bewerbungsunterlagen aufzutischen gefunden. Prompt gab es auch hier das gewünschte Ergebnis: Rosi erklärte sich bereit, mir auf die Sprünge zu helfen. Bis jetzt brauchte ich, da mir alles entgegen gebracht wurde, um nichts zu bitten. Meine Schwägerin schlug mir vor, dass wir uns des Sonntags, wenn sich Jürgen, der jetzt Vorsitzender des Fußballvereins SG Seetal ist, auf dem Sportplatz rumtreibt, bei ihr zur Bewerbungsproduktion treffen könnten. An dem ihr gewohnten PC mit tollem Scanner und Laserprinter würde sie ohnehin viel lieber arbeiten als an Kisten, an die sie sich erst wieder gewöhnen müsse. Skeptisch fragte ich: „Na, was sagt denn dein Mann und mein Bruder dazu? Hat er keine Bedenken?“. Darauf sagte Rosi freundlich und lächelnd: „Na ja Walter, wir sind alle älter geworden. Meine Sturm- und Drangjahre sind vorbei. Da brauchst du dir keine Hoffnung zu machen. Wo du jetzt dran gedacht hast, kannst du dir vollkommen aus den Kopf schlagen. Das schafft bei mir kein Mann außer Jürgen mehr. Wenn du mal ausgestiegen bist, weißt du erst zu schätzen, was du an einer beidseitig verlässlichen Partnerschaft hast, da willst du überhaupt nichts anderes mehr. Hendrik hatte eben recht als er sagte, dass derjenige, der leben will, aussteigen muss. Wer richtig lebt, weiß erst was er an seinen Partner hat.“. Wenn ich ihre Worte richtig deute wollte sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einmal wollte sie mir klipp und klar sagen, dass ich nicht mehr bei ihr landen konnte und zum Zweiten wollte sie Hendriks Bemühungen um den Ausstieg seines Vaters unterstützen. Jetzt fasste ich auch noch den Mut mein Strohwitwerproblem, sprich Thema Hauswirtschafterin, anzusprechen. Ich sagte allerdings nur, dass ich mich um die Anstellung einer Hauswirtschafterin, der ich in Hinsicht auf die Tatsache, dass ich die erste beste Chance für einen Posten wahrnehmen wollte und dann sicher nicht in Waldheim bleiben würde, keine Dauerstellung versprechen könnte, bemühen müsste. Jetzt war es Silvia, meine Schwiegertochter, die mir aus der „Patsche“ helfen konnte. Eine ehemalige, in Waldheim wohnende Schulfreundin von ihr war geschieden und hatte zwei kleine Kinder, eines war im ersten und das andere im dritten Schuljahr. Ihr geschiedener Mann zahlte keinen Unterhalt. Das wäre aber bei ihm kein böser Wille gewesen sondern der könne halt nicht. Nach dem er versucht hatte sich mit einem Computerladen selbstständig zu machen war er richtig Pleite gegangen und fand danach bis jetzt keinen Arbeitsplatz. Diese Ramona wäre recht froh, wenn sie statt Stütze was verdienen könne. Ich müsse nur zustimmen, dass sie an zwei Tagen in der Woche, wenn ihre Mutter zur Dialyse wäre, ihre Kinder von der Schule abholen und
mitbringen dürfe. Ramona Vierhoff wäre sicherlich auch mal, also nicht immer, bereit am Wochenende zu meinen Diensten zu stehen. Telefonisch konnte Silvia mit ihr schon für den nächsten Tag, also dem Sonntag, einen nachmittäglichen Vorstellungstermin in meiner Villa vereinbaren und wenn wir uns einig würden, würde sie gleich am darauffolgenden Montag anfangen. Für mich lief es an dem Tag wie „geschmiert“. Alle meine Ängste und Probleme hinsichtlich meines Daseins als Privatier wurden von meiner Familie unaufgefordert gelöst. Auch mein drittes, kleineres Problem, die Ausrichtung meines ersten Geburtstages nach meinem Absturz, löste der familiäre Zufall. Hendrik war mit seiner Frau eigentlich aus dem Grunde, dass sie den Gesellschaftsraum, den sie für Bauernhofferiengäste in Ulkerde eingerichtet hatten, am kommenden Sonntag einweihen und dazu seine Mutter und seinen Onkel einladen wollten, hier in Seetal erschienen. Das ich, Hendriks Vater, auch anwesend sein würde, konnte er vorher ja nicht ahnen. Diese neue Situation brachte ihn dann auf einen Gedanken: „Mensch Papa, du hast doch nächsten Sonntag Geburtstag. Den haben wir ja seit meiner Kindheit nicht mehr gefeiert. Ich glaube das letzte Mal kurz bevor Onkel Jürgen meine Mama auch wieder zu meiner Tante gemacht hat.“. An dieser Stelle wurde seine Ausführung durch ein kräftigen Lacher seiner Frau unterbrochen und dann fuhr er fort: „Was ich jetzt eigentlich sagen wollte: Paps, sollten wir nicht wieder alte Traditionen aufleben lassen und mal richtig reinfeiern? Wir verbinden unsere Party mit dem Reinfeiern in deinen Geburtstag. Was hältst du davon?“. Davon hielt ich natürlich viel ... und alles war geritzt. Diesem ersten familiären Zusammentreffen nach dem ich vom Managersockel gefallen war folgten dann zwei Wochen der Weichenstellung in Richtung des weiteren Lebens des nun arbeitslosen Walter Heuer. Am nächsten Tag erschien dann Ramona Vierhoff mit ihren beiden Kindern bei mir um sich für die Hauswirtschafterinnenstelle bei mir vorzustellen. Ihre Kinder, ein Mädchen und einen Jungen, hatte sie gleich mitgebracht, damit ich sie, da sie ja an zwei Tage der Woche bei mir im Hause sein würden, kennen lernen sollte. Die 28-jährige Ramona war vom Äußeren ein Typ, der bei Männer nicht gleich Wollust und Begierde auslöst aber auch nicht so, dass man bei ihr abgeneigt sein könnte. Diese Feststellung von meinem ersten Eindruck ist dahingehend wichtig, weil ich zunächst davon ausging, dass ich durchaus ohne „Abwege“ mit ihr alleine unter einem Dach „leben“ könnte. Ich sollte mich aber getäuscht haben, denn ihre Geilheit, die ich zunächst nicht berücksichtigt hatte, sollte schon sehr bald bei mir die wilde Spätfrühlingszeit, die mir dann auch noch zum Verhängnis werden sollte, einleiten. Indirekt gewarnt hatte sie mich jedoch schon bei ihrer Vorstellung durch die Darstellung ihres bisherigen Lebensweg. Sie war zusammen mit Silvia in Waldheim zum Gymnasium gegangen und wollte ursprünglich mal Chemie studieren. Daraus wurde wegen ihrer Mannstollheit, wie sie selbst sagte, nichts. Sie hatte gerade das Abitur geschafft als sie mit dem Mädchen schwanger war. Der Vater war aber nicht ihr Exmann, was übrigens auf das zweite Kind, dem Jungen, auch zutrifft. Auch während ihrer Ehezeit nahmen weder Herr noch Frau Vierhoff von häufigen Seitensprüngen Abstand. Das war genauso wenig der Grund für die Scheidung wie sein geschäftlicher Niedergang sondern der Auslöser war seine Gewalttätigkeit gegen seine Frau und die Kinder – und nur dieses ließ deren Ehe zerbrechen. Jetzt muss man die offene Ehrlichkeit dieser, ansonsten intelligenteren, Frau und ihre Art auch gleich Negatives zu bekennen als guten Charakterzug werten aber bei der Beschaffung eines Arbeitsplatzes ist das doch eher nachträglich. Eine Frau, die zwar Abitur aber keine Ausbildung hat und die sich zu einem freien wilden Leben bekennt, hätte in meiner aktiven Zeit auch keine Chance von mir bekommen. Jetzt sprachen aber eine Reihe von Pluszeichen, die ich schon einen Tag vorher von Silvia erfahren hatte, für sie. Sie ist nicht nur im Bett sondern auch bei der Arbeit sehr willig. Für sie spielte es keine Rolle wenn es Abends mal später werden sollte. Auch am Wochenende war sie bereit zu arbeiten und bat nur darum doch an ein oder zwei Wochenenden für ihre Kinder, die ansonsten bei ihrer alleinstehenden und nierenkranken Mutter gut aufgehoben wären, da sein zu dürfen. Laut der Empfehlung meiner Schwiegertochter war sie eine begnadete und kreative Köchin. Schon während ihrer Schulzeit habe sie sich Freunde und Freundinnen eingeladen um für sie ein immer phantastisches Menü zu kreieren und zu servieren. Nachträglich kann ich dieses auch voll bestätigen. Ramona war so gut, dass sie mich mit ihrer Kochkunst von jedem guten Restaurant weglocken konnte. Allerdings wäre ihre Kreativität ein Hemmnis bei einer Beschäftigung in einem Speiselokal gewesen. Wenn man zum wiederholten Mal in einem Restaurant isst, erwartet man nicht selten, das eine Speise genauso schmeckt wie das letzte Mal. Bei Ramona schmeckten aber die Speisen immer anders, immer war ein neuer Pfiff daran – jedoch ohne Ausnahme war alles vorzüglich und exzellent. Ihr weiteres Plus für mich, war etwas, was Ehemänner in kleinen Wohnungen auch mal zum Wahnsinn treiben kann. Sie hatte einen Putzfimmel. Wenn sie nicht in der Küche stand war sie mit Putzeimer, Staubtuch oder Staubsauger den letzten Schmutzpartikelchen auf der Spur. Vom Putzen ließ sie sich nur noch vom Wäschewaschen abhalten. Beim Bügeln hatte sie jedoch ein paar Probleme was aber heutzutage durch entsprechend pflegeleichter Kleidung eliminiert werden kann. Wären nicht ihre sexuellen Neigungen gewesen hätte man sie prompt zum klassischen Hausmütterchen des Jahrzehnts küren können. Auch der Umgang mit ihren gut erzogenen Kindern dürfte als absolute Empfehlung gelten. Für mich war bei der Einstellung in diesem Punkt wichtig, dass wirklich nichts dagegen sprach, wenn sich diese netten Kinder tageweise in meinem Haus aufhielten. Dem Vorstellungsgespräch schloss sich gleich eine unbezahlte Vorleistung an. Sie sichtete erst mal die Gegebenheiten im Haus und erstellte einen ziemlich langen Einkaufszettel. Nach der Erledigung ließ sie sich von mir mit Bargeld ausstatten und eröffnet mir dann, dass sie ihren Dienst mit einem Großeinkauf in einem Supermarkt auf der grünen Wiese vor den Toren von Waldheim beginnen wollte. Dazu wollte sie
dann ihren eigenen Kleinwagen einsetzen, was allerdings am nächsten Tag den Nachteil hatte, dass sie drei Mal fahren musste. Nachdem meine Haushaltsprobleme gelöst waren konnte ich mich ja intensiv auf meine Jobbeschaffungstätigkeit „stürzen“. Ich hätte jetzt statt von Job- auch von Frustbeschaffung sprechen können. Das zeigte sich schon beim telefonischen Vorchecking, was bei bestimmten Positionen vor dem Absenden umfangreicher Bewerbungsunterlagen liegen sollte. Jetzt aber nicht verallgemeinern: Ich habe bewusst von bestimmten Positionen gesprochen. In vielen Fällen, in denen in der Ausschreibung um die Zusendung von schriftlichen Unterlagen gebeten wird, könnte bei einem Anruf auch mal der Schuss nach hinten losgehen, denn sehr oft hat man bewusst auf die Angabe einer Ansprechperson und/oder Durchwahlnummer verzichtet. In solchen Fällen kann man sich oft schon Abfuhren von wackeren Sachbearbeiterinnen und –bearbeitern einhandeln obwohl man schriftlich durchaus eine Chance gehabt hätte. Nach Auswertung der FAZ vom Wochenende, diverser Internetangebote und eigenem Nochwissen aus der Aktivzeit machte ich mich ans Werk. Es gibt verschiedene Arten von Unternehmen, wo Geschäftsführer- oder Vorstandsposten ausgeschrieben werden. Da sind zunächst mal Konzerne und großen Industrieunternehmen. Da legt man bei, sogar ganzseitigen Stellenausschreibungen, in erster Linie wert auf so eine Art Werbeeffekt, damit man in gewissen Kreisen ins Gespräch kommt, und nicht darauf, dass es zu Bewerbung kommt. Diese Pöstchen werden meist in Wirtschafts- und Bankenkreisen ausgeklügelt. Mir war klar, dass sagte meine Erfahrung, dass ich da keinen Gedanken dran verschwenden brauchte. Für mich waren ausschließlich kleine und mittlere Mittelstandsunternehmen interessant. Aber auch bei denen muss man die Ausschreiber in mehre Gruppen unterteilen. In 1999 waren darunter viele neugegründete, den internetten Yuppies zuzuschreibende Unternehmen. Ich habe bereits schon mal beschrieben, was bei denen los ist. Tolle Ideen und Euphorien aber erheblicher Mangel an kaufmännischen Wissen und Realität. Die brauchten also ein wirtschaftliches „Kindermädchen“. Was sich aber bei meinen telefonischen Vorgesprächen und bei einigen späteren Bewerbungsgesprächen zeigte, war dass sie immer einen Toppkaufmann, der ihre visuellen Fantasien voll mittrug, suchten. Aber verschiedene Dinge sind halt nicht miteinander vereinbar. Das ist ja unter anderem der Grund dafür, dass sich inzwischen ehemalige Shootingstars am Neuen Markt inzwischen in Seifenblasen aufgelöst haben. Wer seinem Geld böse ist spekuliert an der Börse mit IT-Werten. Aber man kann ja auch Glück haben, wenn man rechtzeitig bei einem oberen Mondkurs wieder aussteigt – es ist halt die Kunst des Zockens. Also, für solche Leute war ich daher immer der falsche Mann, ich war immer zu sehr auf dem Boden der wirtschaftlichen Realität. Es gibt aber nicht nur diese Juniorenunternehmen sondern es gibt auch welche in den Händen von Senioren. Da handelt es sich immer um bisher gutgeführte und –laufende Unternehmen, wo es dem älteren geschäftsführenden Gesellschafter nach einer Altersruhe gelüstet. In der Regel sind solche Seniorbosse immer von reichlich Erbschleichern umlagert aber keiner von denen ist, nach Ansicht des in den Ruhestand tretenden, geeignet den Laden in seinem Sinne zu führen. In dieser Gruppe gab es das größte Interesse an meinen Bewerbung. Ich brauchte noch nicht einmal Bewerbungsunterlagen einschicken sondern wurde gleich beim telefonischen Vorgespräch zu einem Vorstellungstreffen eingeladen. Immer machte ich, wenn ich etwas in der Angelegenheit fortgeschritten war, einen Rückzieher. Natürlich war ich den bereits innerbetrieblich tätigen Erbschleichern ein Dorn im Auge und ein Arbeiten gegen deren Opposition oder sogar offenen Widerstand war vorprogrammiert. Einige dieser Betriebe hätte ich auch übernehmen können. Das Geld hatte ich dafür aber das wollte ich mir nun auch nicht mehr antun. Eine weitere Gruppe bildeten die Unternehmen bei denen die „Karre“ ein Wenig oder sogar schon ganz in den „Dreck“ gefahren war. Also solche „Schuppen“ wie ich sie während meiner Tätigkeit bei dem Multi aufkaufte und total sanierte – sofern so etwas insgesamt Geld brachte. Ich hätte also nur mal das Lager gewechselt. Den Meisten war ich jedoch als der ehemalige Trouble Shooter bekannt und die wollten nichts von mir wissen. Und dort wo ich augenscheinlich willkommen gewesen wäre, hätte man schon im Voraus die Zahl der Monate bis ich wieder auf der Straße gesessen hätte, an fünf Fingern abzählen können. Insgesamt alles nichts für mich. Schon nach 14 Tagen wusste ich, dass es ein langes und vielleicht auch ergebnisloses Mühen geben würde. Aber nichts konnte mich dazu veranlassen aufzugeben. Auch die massiven Ausstiegsratschläge meiner Familie sollten mich nicht von meiner „fixen Idee“ abbringen. Ganz im Gegenteil sie entfernten mich wieder ein Wenig von ihnen. Das begann schon bei der Hinein-Feier-Party am Vorabend meines Geburtstages in Ulkerde. Bisher war ich schon des Öfteren mal durch Ulkerde gefahren aber ich war noch nie zum Zwecke eines Aufenthaltes dort. So würde ich mich jetzt nur mit anderen Worten wiederholen, wenn ich nun schreibe, dass ich somit auch erstmalig auf dem Steinmarhof befand. Ich kam mal wieder als Letzter, Jürgen und Rosi waren bereits da. An diesem Tag lernte ich auch das Ehepaar Steinmar, die Schwiegereltern meines Sohnes kennen. Die Beiden erinnerten mich in ihrem Auftreten und ihrer Art sehr starken an unsere Eltern. Mit einem Scherz wollte mich Bauer Steinmar begrüßen: „Eu, Herr Heuer, sie gleichen aber wie ein Ei dem anderen ihrem Bruder. Da kann man verstehen, dass da ihre Schwägerin sie beide mal im Ehebett verwechselt hat.“. Das empörte aber die Bäuerin: „Männe, meinst du nicht, dass du jetzt mächtig daneben getreten hast?“. Er zuckte richtig zusammen und reichte dann gleich Rosi mit den Worten „Entschuldige Roswitha, das ist mir nur so raus gerutscht. Ich habe es nicht böse gemeint und ich
wollte dich nicht beleidigen.“. Aber Rosi sah es locker und antwortete mit leichtem Lachen: „Ernst, mach dir nichts daraus, das ist schon ganz anderen Leuten passiert. Ich kann es ja nicht leugnen, dass ich die Heuerbrüder zweimal mit einander ausgetauscht habe. Dem ersten Tausch verdankst du deinen Schwiegersohn.“. Und jetzt lachte sie richtig. Auch Jürgen befleißigte sich den Ausrutscher des Bauern Steinmar auszubügeln, in dem er mich in den Arm nahm und sagte: „Ja, unsere Eltern haben uns dazu erzogen brüderlich zu teilen. Das haben wir Jungens nur ein paar Mal falsch verstanden. Aber mittlerweile haben auch wir gelernt.“. Jetzt sah er mich an und fügte noch hinzu: „Nicht war Kleiner.“. Und nach dem ich „Du sagst es Großer“ bestätigt hatte gab es ein allgemeines Gelächter. Dadurch war nicht nur die kleine Panne des Hausherrn ausgebügelt sondern auch gleichzeitig, der in Folge in lockerer Atmosphäre verlaufende Abend eröffnet. Während des Abends gab es dann von allen, außer dem Ehepaar Steinmar, für mich den Hinweis, dass derjenige, der leben will, aussteigen muss. Den Anfang machte Jürgen, mit dem ich während des Abendessens, bei dem es eine vorzügliche ländliche Schlachtplatte gab, tischnachbarlich plauderte. Er sprach von seinem Fußballverein, dem SG Seetal. Er fand es fürchterlich, dass Fußball zunehmend zur millionenteuren Supershow verkümmere. Früher sei es das höchste für die Leute gewesen wenn sie mit Freunden in ihrem heimatlichen Verein kicken konnten. Natürlich wäre Verlieren auch damals nicht schön empfunden worden aber bei einer Niederlage wäre die Welt nicht untergegangen. Genauso wichtig wie Training und Spiel sei in den Vereinen die Geselligkeit gewesen. Etwas was es heute nicht mehr gäbe wäre die frühere Tradition, dass Gast- und Heimverein nach dem Spiel sich zur Erbsensuppe und ein paar Runden Bier zusammengesetzt hätten. Früher hätte die Betonung auf Aktiv gelegen. Heute läge das Massenheil auf Passiv. Man zahlte und ließ sich von irrsinnig überbezahlten Starkicker, die eigentlich fürs Geld recht dürftig spielten, unterhalten. Da turnen dann fanatische Fans irgendwelcher international Fußballshowfirmen, zu denen sie eigentlich keine nachvollziehbare Beziehung haben, durch die Gegend. Auslöffeln müssten so etwas die kleinen Vereine, wie sie seine SG Seetal, draußen im Land. Wenn Eltern ihre Kinder anmelden würden fragten sie gleich nach zu welchem Profihaufen, wo ihre Kinder gefördert werden könnten, man Beziehung hätte. Da ständen dann ausgeflippte F-JugendEltern am Spielfeldrand und würden emsig, aus Idealismus handelnde Übungsleiter „zur Sau“ machen weil sie noch kein Ansatz sehen, das ihr mittelmäßig begabter Nachwuchs bereits Maradona-Talente zeige. Jugendliche würden das Handtuch schmeißen weil sie bei ihren Verein noch keinen Shanghaier eines Proficlubs gesehen haben. Und in den Herrenmannschaften würden glatt Leistung verweigert, weil nicht nach dem Spiel der Sack mit den Tausendern in der Kabine stände. Er meinte, die Rechnung würden wir schon irgendwann kriegen, wenn wir in Deutschland nur noch Profivereine haben, in den Leute aus aller Herren Ländern hinter dem Ball herlaufen. Dann könnten wohl die Bundesligafirmen bei den Fernshows noch mithalten aber ansonsten wäre der deutsche Fußball nur noch unter „ferner liefen“ zu finden. Ich hatte mir diese Ausführungen angehört und machte dann letztendlich die Bemerkung „Geld verdirbt die Welt.“. Das war das Stichwort für Jürgens Rede: „Ja, Walter, sagst du das jetzt nur so dahin oder ist das deine ehrliche Meinung? Beim Fußball ist der Sport im Geld ersoffen und ergibt bald schon keinen Sinn für die Allgemeinheit mehr. Und in der Wirtschaft ist es schon lange vorbei. Was sollen die Gigafusionen nach denen anschließend immer weniger Leute Arbeit haben? Wenn immer weniger Leute mangels ausreichenden Einkommen, sei es durch Niedrigstlöhne oder Arbeitslosengeld, teilnehmen können, wird die Globalisierung mal ihre Kinder fressen müssen. Und was hast du davon, wenn du in einem solchen Wahnsinn mitfunktionierst? Vor lauter managen vergisst du ganz das Leben. Letztlich kennst du nur noch Elitelakell und keine normalen Menschen mehr. Letztlich kennst du nur immer gleich aussehende Bürotürme und Jets von Innen, die Welt ... also Berge, Wälder, Seen bei Regen und Sonnenschein kennst du nur von Postkarten, aus dem Internet oder vom Bildschirm eines nebenbei laufenden Fernsehers. Wann hast du zuletzt Tannenduft oder frisches Heu gerochen? Wann hast du das letzte Mal deine Seele baumeln lassen? Mensch, die Welt und das Leben sind so schön. Nimm dir doch Zeit dieses zu genießen, eines Tages ist es vorbei. Du hast doch jetzt schon genug gehäufelt und dabei das Leben verpasst. Steig doch aus und lebe lieber.“. Das war der erste Streich und laut Wilhelm Busch folgt der zweite so gleich. Die Zweiten, die mich zum Aussteigen bewegen wollten waren Silvia und Hendrik. Nur diese hatten einen anderen, einen religiösen Ansatzpunkt. Ich wurde von meiner Schwiegertochter zu einem Tänzchen aufgefordert. Ich empfand sie als gute schwungvolle Tänzerin. Da erzählte sie mir, dass sie und Hendrik jeden ersten Freitag im Monat ins Gemeindehaus zum CVJM-Tanzabend für Jung und Alt gehen würden. Ich stellte fest, dass das aber nicht zu dem Klischeebild, was man vom Christlichen Verein Junger Menschen habe, gehöre. Bei denen würde man in der Regel doch auf konservative Betschwestern und –brüder assoziieren. Silvia bestätigte mir, dass ich da in vielen Fällen recht hätte. Oft ständen CVJMler nicht in dieser Welt. Sie aber glaube das Gott uns diese Welt, das Leben und alles Schöne geschenkt habe, damit wir es nutzten und genießen. Statt ihn dadurch zu ehren, in dem wir das Geschenk annehmen und fröhlich Leben, würden viele entweder in Betzirkeln Verstecken und Verkriechen spielen. Andere würden alles überhaupt nicht sehen und nur Menschenwerk organisieren und dabei raffen und raffen ... wie der reiche Kornbauer. Und die breite Masse würde sich nur dahin treiben lassen und nach der Vorgabe der Werbung lauter Blödsinn ohne darüber nachzudenken machen. In einem kleinen Raum bei nur 7 Personen bleibt es natürlich nicht aus, dass die anderen auch das Gespräch des Tanzpaares mitbekommen. Deshalb konnte sich, als wir uns hinsetzten, Hendrik einhaken: „Ja Leutchen, da wird immer viel von der Auferstehung geredet. Ich glaube, dass nur das wieder auferstehen kann, was in Wirklichkeit noch lebt.
Wenn wir unsere Seele in Geld und in von Menschen gemachten Gesetzen und Ritualen ersäuft haben ist sie tot und wir können nicht mehr auferstehen. Das können nur diejenigen, die Gottes Geschenk, von denen Silvi eben sprach, angenommen und gelebt haben.“. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Paps und gerade um dich mache ich mir Sorgen. Du weigerst dich beharrlich zu leben. Du tanzt ums Goldene Kalb bis du zusammenbrichst. Denke doch bitte daran lieber Paps, dass du, wie jeder andere Mensch auch, ewig leben kannst. Und das wirfst du aus Eigenbrötelei einfach weg. Mensch Papa, ein irdisches Menschenleben ist noch nicht einmal der Hauch einer Ewigkeit. Steig doch ins Leben aus“. Letztlich war es auch noch Rosi, die mir einen Rat in die Ausstiegsrichtung gab. Ihr Ansatzpunkt lag in meiner Person. Ich war mal kurz rausgegangen um mir eine Gauloises durch die Lunge zu ziehen. Sie kam und leistete mir Gesellschaft. Nachdenklich sagte sie: „Ach Walter, du bist ein so netter Kerl und du könntest es dir doch so schön machen. Suche dir doch eine nette Witwe und dann gehst du mit ihr eueren gemeinsamen Interessen nach. Mach doch andere Menschen glücklich und freue dich darüber. Du weißt gar nicht wie schön du es haben kannst. Wach doch auf aus deinem Traum, dass du noch mal der Boss sein willst auf ... es könnte tatsächlich ein Alptraum sein. Folge doch dem Beispiel deines Bruders und steige aus. Unser Hendrik hat es doch vorhin so schön gesagt: Steig doch ins Leben aus.“. Von allen Ansprachen in die gleiche Richtung beeindruckte mich die von Rosi am Meisten, aber auch diese konnte das eigentlich Richtige nicht bewirken. Jetzt muss ich zwischendurch mal was einfügen, damit nicht der Eindruck entsteht, als sei ich der Mittelpunkt dieses Treffens in Ulkerde gewesen; das war ich erst nach Mitternacht, da war ich das Geburtstagskind. Vorher, so etwa eine Stunde nach Veranstaltungseröffnung hielt Silvia eine Rede, mit der sie in den absoluten Abendmittelpunkt geriet: „Liebe Mutti, lieber Vati, liebe Mama (Rosi), lieber Papa (erstmalig nennt mich Silvia auch so wie mich Hendrik) ... natürlich ist das was ich jetzt zu unseren Eltern sage auch für deine Ohren bestimmt lieber Jürgen, aber aus besonderen Grund wende ich mich jetzt direkt an die Erstgenannten.“. Jetzt legte sie eine Kunstpause ein und fuhr fort: „Also liebe Eltern, ihr habt doch bestimmt schon mal darüber nachgedacht, wie das ist, wenn euch ein kleines Kind mit Opa oder Oma anspricht. Falls ihr das noch nicht gemacht habt, dann könnt ihr jetzt mit dem Nachdenken anfangen. Mitte September, so zwischen dem 10. und 15. wird es soweit sein, dann ist Hendrik der Herr Papa und ich die stolze Mama.“. Das war ja nun wirklich eine Überraschung und eine Toppinformation. Rosi und Frau Steinmar reagiert irgendwie ähnlich. Sie strahlten vor Glück und weinten ein paar Tränen vor Rührung. Herr Steinmar wandte sich prompt an mich: „Jetzt sollten sich die künftigen Opas doch ein Wenig verbrüdern. Also ich bin der Ernst August, kurz gesagt Ernst. Also prost Walter.“. Einen halben Monat später, auf Jürgens Geburtstag am 1. April, der 1999 auf den Gründonnerstag fiel, gingen wir natürlich wieder auf unseren zukünftigen Familienzuwachs ein, aber ich hatte mich wieder solchen Levitenlesungen wie in Ulkerde, also in Richtung Ausstieg, zu unterziehen. Vielleicht könnte man sagen, dass in diesem Fall, wie sehr oft, weniger vielleicht viel mehr gewesen sei. Insbesondere Rosi hatte wohl, wenn ich mir das so nachträglich überlege, mit ihren Argumenten, die sie auch auf dem Geburtstag ihres Mannes ausführte, die größte Chance gehabt mich zu bekehren. Aber da es immer wieder von allen Seiten kam schaltete ich auf stur. Ich wollte mit dem Kopf durch die Wand und es den Anderen zeigen. Vielleicht war es gerade dieser, bestimmt nicht rühmenswerte Starrsinn meinerseits, der zunächst meinen Aufstieg und dann meinen Absturz auslöste und begünstigte. Auf jeden Fall stand nach Jürgens Geburtstag fest, dass ich, trotz künftiger Großvaterschaft, doch wieder ein Wenig auf Distanzkurs zur Familie gehen wollte. Zum Kapitel 22
Zum Inhaltsverzeichnis
Ramona, die gegensätzliche Frau Ab April 1999 hatte ich wirklich ein „sehr bewegtes“ Leben. Einen Job oder diesen oder jenen Kontakt zu Personen in meinem Umfeld hatte ich überhaupt nicht. Mit meiner Familie pflegte ich nur sehr dürftige Beziehungen. Ab und an ließ ich mir von meiner Exfrau und Schwägerin mal dieses und jenes zum Zwecke der Bewerbung anfertigen und mit meinem Sohn beziehungsweise mit meiner Schwiegertochter hielt ich zwei bis drei Mal im Monat einen kurzen Telefonplausch. Letzteres fand dieses oder jenes Mal auch mal mit meinen Bruder statt. Familienfeiern standen im Sommerhalbjahr nicht an. Meistens beschäftigte ich mich neben Schlafen, Essen und Hygiene mit dem Aufspüren von vermeintlich für mich adäquaten Stellenausschreibungen und dem anschließenden Nachhorchen, ob es was war. In der Regel gingen meine Schritte vor die Tür fast ausschließlich in dem zur Villa gehörenden, etwa 2.000 qm großen Garten und maximal bis auf den Bürgersteig vor dem Tor. Ab und zu am Tage lief im Background das Radio und um 22:30 Uhr sah ich mir fast regelmäßig die Tagesthemen an; was sonst noch im Fernsehen lief interessierte mich schon von jeher nicht besonders. Stimmt's, das ist doch ein bewegtes Leben. Der einzigste Mensch mit dem ich regelmäßigen Kontakt hatte war Ramona Vierhoff, meine Hauswirtschafterin und an zweiter Stelle waren Ralf Vierhoff und Susanne Becker – Ramona hieß mit Mädchenname Becker -, ihre Kinder, die zwei Mal wöchentlich im Haus waren, meine Kontaktpersonen. Natürlich hat ein so eingegrenztes Kontaktumfeld den Vorteil, dass man sich sehr genau kennen lernt – fragt sich in diesem Fall immer nur wie weit man geht. Und so lernte ich in Ramona die Frau der teilweisen krassen Gegensätze kennen. Ich habe selten einen Menschen erlebt, dessen zwei Seiten nur annähernd soweit von einander abwichen wie bei meinem „guten Geist“ im Haus. Den Gegensatz zwischen der konservativen Topphausfrau und Mutter auf der einen Seite und der mannstollen Lebefrau auf der anderen habe ich ja bereits erwähnt. Aber da sollte ich nach und nach noch eine Reihe anderer Gegensätzlichkeiten entdecken können. Ich muss jedoch Alles in Allem positiv werten, denn Ramona war kein Massentyp sondern ein Individuum, eine Persönlichkeit. So hob sie sich sehr wohltuend gegenüber heutigen Massenmenschen, die sich sehr gerne in Promis oder Werbungsvorgaben verwandeln, ab. So werden zig-tausend Leute eine billige uniformierte Kopie von Vortänzern, die meisten sogar dann auch noch gemacht sind. Von dieser Spezis wich Ramona also sehr positiv ab. Nach etwa einer Woche hatte sich unser Tagesablauf eingespielt. Sie kam des Morgens, wenn sie die Kinder auf den Weg zur Schule geschickt hatte, mit frischen Brötchen und dem Waldheimer Kreisblatt und deckte dann zunächst einmal den Frühstückstisch. An ihrem ersten vollen Arbeitstag hat sie mich, wie es in solchen Dienstverhältnissen üblich scheint, bedient. Dann habe ich sie, weil allein Frühstücken nicht gerade berauschend ist, gebeten mit mir zusammen zu frühstücken. Dabei sprach sie mit mir dann die Dinge ab, die nach ihrer Ansicht an diesem Tag zu erledigen waren, das heißt was sie kochen wollte, was dazu einzukaufen sei oder was zum Putzen beziehungsweise zum Waschen anstand. Sie erkundigte sich dabei auch nach meinen Wünschen und Vorhaben für den Tag. Das gemeinsame Frühstück erwies sich also als ein ideales Forum für ein „Dienstgespräch“. Nachdem der Frühstücktisch abgeräumt war fuhr sie zum Einkaufen und ich widmete mich der Lektüre unseres Käseblättchens. Apropos, Waldheimer Kreisblatt. Während der Zubereitung des Mittagsessens las dann auch Ramona unsere Lokalzeitung bevor die Zeitung in das Altpapier wanderte. Auch dabei gab es eine charmante Gegensätzlichkeit bei Ramona. Sie hatte von dem was an der Börse geschah fachlich keinen blassen Schimmer. Baisse, Blue Chips, Effekten, Emission, Future, Hausse, Put, Shareholder Value oder Volatilität waren für sie böhmische Dörfer. Trotzdem studierte sie immer gründlichst den Börsenteil des Kreisblattes. Sie freute sich wenn ein Wert vom Höhenrausch abstürzte oder umgekehrt wenn eine bisher unterbewerte Aktie deutlich anzog. Sie gab in der Art eines Tototippers Prognosen ab, die nicht selten sogar zutrafen. Na ja, so gehen leider auch viele Kleinanleger vor, obwohl so etwas ein reines Zocken, nichts anderes als Glücksspiel, ist. Bei den „Schwätzerchen“ in den Medien darf man sich auch nicht schlau machen, denn wenn sie solche Experten wären wie sie vorgeben, dann brauchten sie ihr Geld nicht mit Analysen und Berichten zu verdienen sondern wären an der Börse selbst schon steinreich geworden. Die propagieren nur im Sinne ihrer Herren, meistens Banken, nur das was profitabel an den Mann gebracht werden soll. Wer an der Börse erfolgreich operieren will muss sich schon selbst ein Wenig schlau machen und sich bilden. Ich fragte sie: „Warum spekulieren sie denn bei ihrem Talent nicht mal selbst an der Börse?“. Darauf bekam ich die logische Antwort, dass sie dafür kein Geld habe. Da bot ich ihr an, ein kleines Depot, somit anfänglich 20.000 Mark, anzulegen mit dem sie nach ihren Vorstellungen zocken könne. Ich sagte gleich dabei, dass es mir nichts ausmache, wenn ich das Geld verlöre. Das wollte sie dann auch nicht, weil es, wenn Geld im Spiel ist, kein Spaß mehr mache. Jetzt aber erst mal weiter mit dem Regeltagesablauf im Hause des arbeitslosen Millionärs Walter Heuer. Ramonas Kochkünste habe ich bereits im vorhergehenden Kapitel gerühmt. Die vorzüglichen Speisen waren aber nicht der einzigste Grund warum ich mich Tag für Tag auf den Mittag freute. Auch das Mittagsmahl nahmen wir gemeinsam ein. Dabei plauderten wir dann immer ganz privat. Auch dieses beherrschte sie mit Niveau und Charme, so dass es richtig Freude machte, mit ihr sprechen zu können. Bei dieser Gelegenheit hatte sie auch eine Eigenschaft, die ich bei keinem anderen Menschen noch mal so ausgeprägt vorgefunden habe. Sie konnte einem mit einer gewählten und gehobenen Sprache die größten Anzüglichkeiten, bis hin zu regelrechten „Sauereien“ erzählen. Bisher hatte ich immer nur erlebt, dass Leute, die sich in der Regel in einer gehoben Umgangssprache ausdrückten, bei solchen Gelegenheiten grundsätzlich in die Ordinärsprache, der sich Ramona nie bediente, verfielen.
Nach dem Essen wurden immer das Esszimmer und die Küche in Musterräume verwandelt. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich also meine Köchin bereits in einen Putzteufel verwandelt und eine Rückwandlung war in der Regel vor 5 Uhr nachmittags im Normalfall nicht möglich. Dann bereite sie noch das Abendessen zu, auch dieses immer noch mit einem besonderen neuen Flair, deckte den Abendtisch und machte sich dann davon. Schon beim Einstellungsgespräch hatte sie mich gebeten, dass ich ihr, wenn ich sie des Abends noch benötigte, doch bitte einen Tag vorher Bescheid geben sollte, damit sie ihrer Mutter wegen der Kinder Bescheid geben müsse. Natürlich sollten Ausnahmen nicht die Regel bestätigen, denn wenn erst an dem Tag was bekannt würde, wollte sie dann nur eben schnell bei ihrer telefonlosen Mutter vorbeifahren um dort Bescheid zu geben. Apropos Fahren, bei dieser doch an und für sich sehr vernünftigen Frau würde man doch auf einen gepflegten defensiven Fahrstil schließen. Aber nichts dergleichen, sie hatte einen rasanten aggressiven Stil , den man pauschal „gockelnden“ Jungens zwischen 18 und 25 zuschreiben würde. So musste sie auch manche Mark an Knöllchen abdrücken und einmal während der Zeit in meinem Hause musste sie einen Monat zu Fuß gehen weil sie in Hinblick auf die Geschwindigkeit eine innerstädtische Straße mit einer Rennstrecke verwechselt hat. Es gibt so ein statisches Mittel, das vor dem großen Knall zirka 150 Verkehrsverstöße liegen, die zu einem solchen besagten „Knall“ führen können. Wie es bei Statistiken halt so ist, trifft diese fast auf keinen Einzelfall zu. Die einen sind schon beim ersten oder zweiten Mal dran und bei anderen geht es sehr lange Zeit gut. Letzteres war bei Ramona auch der Fall. Im Mai dieses Jahres, also 2001, hatte sie einen schweren Unfall mit zwei Totalschäden, ihr und ihres Unfallgegners Auto, und einem Schwerverletzten, den es Gott sei dank inzwischen schon wieder gut geht. Vor ein paar Tagen hatte sie ihren Prozess und muss jetzt erst noch weitere 10 Monate auf ihren Führerschein verzichten. Ich möchte ja hoffen, dass sie daraus gelernt hat – die Chancen stehen ja bei einer so intelligenten Frau, wie sie eine ist, hierzu nicht schlecht. An zwei Tagen der Woche gab es immer eine Nuance zu den bis hier beschriebenen Tagesabläufen. Wie schon erwähnt war Ramonas Mutter, die sich als wackere Tagesmutter für ihre Enkel betätigte, schwer krank. Sie hatte nur eine Niere, die aber auch nicht im ausreichenden Maße funktionierte. Das machte zwei Mal wöchentlich eine Dialyse notwendig. An diesen Tagen holte Ramona ihre Kinder von der Schule ab und diese hielten sich dann in meiner Villa beziehungsweise auf dem zugehörigen Grundstück auf. Ich habe ja schon bereits erwähnt, dass Ralf und Susanne bestens erzogen waren; so gut, dass sie nach meinem Geschmack hätten ruhig etwas lebhafter sein können. Daher stand auch mein Angebot, dass sie die Kinder ruhig immer hätte mitbringen dürfen. Dieses wollte sie aber nicht. Die Artigkeit der Kinder ging wahrscheinlich auf Ramonas äußerlich widersprüchlich erscheinenden Erziehungsstil zurück. Offensichtlich liebte sie ihre Kinder sehr und vergötterte sie sehr. Aber bei dem Aufzeigen von Grenzen war sie jedoch streng und konsequent. Ich schätze, dass eine solche Erziehung sogar richtig ist aber das vergöttern vorne und die Strenge hinten wirkten wieder gegensätzlich. Ramona erzählte mir mal, dass sie sehr viel von ihrer Mutter habe und diese gegenüber den Kindern genauso wäre wie sie. Darauf dachte ich mir, das die Gegensätzlichkeit dieser Frau möglicher Weise darauf zurück zuführen sei wie sie erzogen worden ist. Nun, die Kinder konnten zunächst mit uns gemeinsam am Mittagstisch platz nehmen und danach ging es an die Schularbeiten. Diesbezüglich ließ Ramona nicht mit sich handeln, die mussten erst erledigt werden und wurden anschließend auch von ihr kontrolliert. Den Rest des Nachmittags verbrachten die beiden dann, wenn es nicht gerade in Strömen regnete, im Garten; der war ja groß genug. Ich nehme mal an, dass es Ralf und Susanne mächtig Spaß gemacht hatte, zumindestens sahen sie anschließend auf der Kleidung und allen bloß liegenden Hautstellen ähnlich wie Bergarbeiter im Kohleuntertagebau aus. Alles kein Problem, denn Ramona sah das gelassen und steckte die Beiden, nach dem sie mir das Abendbrot bereitet hatte, bei mir in die Badewanne und Wechselwäsche hatte sie auch mit, so dass allesamt dann immer wie geschniegelt nach Hause zogen. Da es in der Villa aus Carmens Zeiten noch Personalräume gab, hatte ich Ramona angeboten, dass sie zu mir ziehen könne. Das lehnte sie jedoch strickt ab. Dieses nicht etwa um den Leuten Tugendhaftigkeit zu demonstrieren sondern ihrer Freiheit halber. Sie hatte auch die Eigenart, wie sie mir selbst erzählte, ab und zu die Kinder bei der Oma übernachten zu lassen um sich dann „Kerls“ ins Haus zu holen. Und bei ihren flotten Hobbys wollte sie nicht gestört werden – auch nicht von einem „toleranten“ Walter Heuer. Dass ich, wenn ich mal meinen Traumjob gefunden haben und dann von dannen ziehe würde, war diesbezüglich kein Thema, denn ich hätte so viel Vertrauen in sie gehabt, dass ich sie ohne Weiteres als „Innenverwalterin“ dort hätte wohnen lassen und auch bezahlt hätte. Zur Stütze hätte sie aus meiner Sicht nicht wieder gemusst. Jetzt könnte dieser oder jener sagen: „Mensch, du schwärmst so für diese Dame. Warum holtest du sie dir nicht als Frau ins Haus?“. Na ja, es fehlten bei mir nur zwei Lebensjahre und dann wäre ich doch doppelt so alt wie sie gewesen. Ob ein Opa, der ich möglicher Weise in ihren Augen gewesen bin, aus ihrer Sicht das Richtige gewesen wäre wage ich ja zu bezweifeln. Außerdem hätte man bei uns Beiden sicher die Worte „eheliche Treue“ aus dem Sprachgebrauch streichen können. Vielleicht bei ihr sogar noch mehr wie bei mir. Und so ein Typ, die sich nach dem Motto „Ich heirate einen Millionär“ prostituiert, war Ramona auch wieder nicht. Jetzt könnte man noch anführen, dass ich Ramona ursprünglich hinsichtlich ihrer körperlichen Erscheinung als eine „normale“ Frau, die bei Männern keine besondere Begierde auslöste, bezeichnet habe. Also sie war, so wie ich es oberflächlich sah, zwar „etwas“ hübsch aber nicht die
Art von Frau, der ich nachgestiegen wäre. Mit Annis Schönheit konnte sowieso kaum eine andere Frau mithalten und mit Rosis sexy Art oder mit Carmens ursprünglichen exotischen Reiz hatte Ramona auch nichts gemein. Aber da gab es auch eine der für Ramona wesentlichen Gegensätzlichkeiten: Das „Luder“ konnte einen verführen wie ein echter Vamp. Als ich das merkte, war es dann allerdings schon zu spät. Bei dem ersten Verführungsversuch kam ich noch gut davon; ich habe es noch nicht einmal richtig gemerkt. Beim Mittagessen führte sie das Gespräch auf Aktfotografie und Erotik. Sie zog, in meinen Augen richtig begründet, eine Grenze zwischen Pornografie und Erotik. So meinte sie unter anderen: „Pornografische Darstellungen haben einen eindeutigen Zweck: Sie sind als Masturbationsvorlage bestimmt. Erotische Bilder zielen auf Ästhetik und Sinnigkeit ab. Bei Erotik handelt es sich um etwas Schönes.“ Dann erzählte sie mir, dass sie einen Freund habe, der auf dem Gebiet der erotischen Fotografie ein wahrer Meister sei. Dann fragte sie mich, ob ich die Bilder, die sie „zufällig“ in ihrem Wagen liegen habe, einmal sehen möchte. Welcher Mann sagt da nein? Nach der Mahlzeit, bevor sie an ihr „Putzteufelwerk“ ging, holte sie aus ihren Wagen eine Mappe mit großformatigen Fotos, mal Hoch- und mal Querformat, je nach dem ob sie lag oder stand. Da hört man schon raus, dass das nackte Modell auf den Bildern natürlich Ramona war. Aber es waren wirklich schöne Bilder, auf denen sie sich in allerlei, aber immer ästhetischen Posen darstellte. Da rührte sich schon was bei mir und das merkte sie auch. Darauf fragte sie mich, ob ich gerne mal zusehen möchte, wenn sie diese Posen live nachstellen würde. Und wieder konnte ich nicht nein sagen. Just in diesem Moment schellte es und zwei Mitarbeiter meines Verwalters, der nach wie vor, auch während der Zeit wo ich persönlich anwesend war, zuständig war, standen vor der Tür. Sie berichteten mir, dass ihnen bei einen anderen Objekt was dazwischen gekommen sei und fragten nach, ob sie die eigentlich für einen Tag später vorgesehene Gartenarbeit vorziehen dürften. Selbstverständlich durften sie und ich war jetzt „fast“ noch einmal davon gekommen. Das „fast“ ist berechtigt, denn posiert hat Ramona dann nicht mehr aber trotzdem ist sie mir an diesem Nachmittag noch einen gewaltigen Schritt näher gekommen. Das „fast“ ist berechtigt, da es zwar nicht zum Posieren kam, sie mir aber trotzdem ... . Sie putzte in dem Büro, in dem ich mich meistens um diese Zeit aufhielt, Staub und ich schaute ihr sinnierend zu. „Haben ihnen die Bilder gefallen, Herr Heuer?“, wollte sie wissen. „Oh ja,“, antworte ich, „da kann man richtig schwach bei werden. Ich wusste gar nicht wie viel Paprika in ihnen steckt.“. Da sie gerade in Reichweit stand und ich meine Finger nicht mehr bei mir behalten konnte strich ich ihr über den Po. Darauf schaute sie mich lächelnd an und ich erhob mich, weil ich plötzlich das Bedürfnis nach dem Austausch von Küssen hatte. Als Vorwand trug ich vor: „Frau Vierhoff, wollen wir uns nicht Duzen. Also ich bin der Walter und bekomme jetzt von dir Ramona einen Kuss.“. Den bekam ich auch; aber das war es dann auch für diesen Tag. Zwei Tage darauf tappte ich aber dann endgültig in die Falle. Sie hatte sich das ganz geschickt ausgedacht. Bis zum frühen Nachmittag war der etwas wärmere Tag entsprechend dem üblichen Standardprogramm abgelaufen. Nach dem Klarschiffmachen in Küche und Esszimmer kam Ramona zu mir und fragte, ob sie, da sie durchgeschwitzt sei, mal kurz duschen dürfe. Ein Teufel, derjenige, der sich was Übles dabei denkt und so erlaubte ich es ihr. Nach dem Duschbad kam sie aber nicht vollständig bekleidet sondern nur mit einem Badetuch schamvoll umhüllt zu mir. Sie teilte mir mit, dass der Rasierapparatanschluss im Spiegelschrank des Bades nicht funktioniere. Das habe sie gemerkt, als sie sich die Haare föhnen wollte. Ich nehme mal an, das sie den Kippschalter um den Strom auszuschalten, selbst betätigt hat. Auf jeden Fall hatte sie erreicht, dass ich erst mal mitging. Auf dem Wege zum Bad verlor sie aufgrund einer, vermutlich vorsätzlichen, Ungeschicklichkeit das Badetuch. Statt es aufzuheben drehte sie mir ihre Frontseite zu und fragte, während sie sich in einer erotischen Reizpose hinstellte: „Na wie wäre es Walter?“. Na ja, wir gingen noch in das Bad, wo ich den Strom wieder anknipste und sie im Anschluss noch kurz fönte. Während dessen begab ich mich schon mal ins Schlafzimmer um mich auf den ersten Liebesnachmittag mit Ramona vorzubereiten. Es war für mich auch seit Februar in Frankfurt das erste Mal wieder – und jetzt hatten wir Ende April. Komisch, ich glaube, wenn ich nicht von Ramona wieder angestoßen worden wäre, hätte ich noch eine lange Zeit in puritanischer Enthaltsamkeit ausgehalten. Jetzt spürte ich aber auf einmal wieder ein stärkeres Verlangen. Grabschen und kurze Schmusereien gehörten jetzt wieder zum täglichen Allerlei. Mindestens ein Mal wöchentlich, in den meisten Wochen sogar zwei Mal, gab es dann solche Schäferstunden. Wäre Ramona nicht nachts und am Wochenende außer Haus gewesen hätte man von einem eheähnlichen Verhältnis sprechen können. Ich nahm doch mal eine Gelegenheit wahr um sie zu fragen: „Was findest du eigentlich an so einem alten Knopf wie mich, ich könnte doch dein Vater sein?“. Ihre Antwort war plausibel: „Also, mein Vater bist du nicht, das steht schon mal fest. Und irgend jemand, ich glaube es war Adenauer hat mal gesagt, das Jugend keine Frage des Lebensalters sondern der geistigen Einstellung sei. Und diesbezüglich schätze ich dich sehr jugendlich ein. Da gibt es junge Männer, in meinem Alter ... meist biedere Ehemänner -, die sind im Vergleich zu dir echte Greise. Ich glaube von deiner Leistungsfähigkeit hast du offensichtlich bis heute nichts eingebüßt. Du siehst noch sehr gut aus und Spaß macht es mit dir auch.“. Sie schaute mich danach einen Moment mit einem Schlafzimmerflirtblick an und fügte hinzu: „Aber heiraten tue ich dich nicht ... Du brauchst mir also keinen Antrag zu machen.“. Ihr Appell an meine jugendliche Männlichkeit, den sie noch des Öfteren in gleicher oder ähnlicher Weise an mich richtete, spornte mich noch auf anderen Seiten an. Erst mal betraf diese Anspornen meine äußere Erscheinung. Ich begann plötzlich den Kosmetik-Firlefanz mit zumachen. Hier ein Cremchen und dort ein Wässerchen. Ich ließ mir
meine Haare färben, damit man meine grauen Strähnen nicht sieht. Hinsichtlich meines Jugendlichkeitswahn konnte ich sagen: „Hilfe, ich amerikanisiere.“, denn dort ist dieser Tick doch mehr oder weniger alltäglich – aber allen Unfug muss man ja auch nicht nachahmen. Vor Ramonas Erscheinen hielt ich diesen Kult um die Erscheinung noch für lächerlich. Ich war der Meinung, was offensichtlich sogar stimmt, dass man das wahre Alter nie verleugnen kann. Man kann zwar, insbesondere wenn man von Krankheit oder vom Schicksal hart getroffen wurde, älter aussehen wie man wirklich ist aber umgekehrt gelingt so etwas nie, da bleibt es immer durchsichtig für jedermann. Den Versuch sich auf jung zu trimmen habe ich immer als äußere Zeichen für mangelndes Selbstbewusstsein gewertet. Wenn mir früher ein bald 60jähriger als gerade auf 30 geschminkter Jungmanndarsteller daher kam, was man ja bei genauen hinsehen auch immer sofort sieht, wusste ich bei Verhandlungen, dass ich ein sehr leichtes Spiel haben würde. Jetzt machte ich diesen selbstverleugnirischen Erscheinungskult selbst mit. Die zweite Seite, wo mich Ramonas Jungschmeichelung anspornte, lag im Bereich der Jobsuche. Ich fühlte mich zu jung fürs Altenteil. Ein Aussteigen, wie es mir meine Familie kontinuierlich anriet, kam für mich „jungen, agilen“ Mann nicht in Frage. Ich wähnte mich als der Toppmann in dem sich jugendlicher Elan mit einer Menge Erfahrung paaren. Ich war also der ideale Mann für die Stellenausschreibungen wo der 25-jährige mit 30 Jahre Berufserfahrung gesucht wird. Das hört sich jetzt spaßig an und so was findet man auch nie im Wortlaut. Überlegt man sich die Aussage diverser Anforderungsprofile sind solche Stellenangebote nicht selten. Oder wie wertet man dieses: „Sie sollten in unser junges Team, 25 bis 30 Jahre, passen und über langjährige Erfahren in XYZ verfügen.“. Wo jemand, der gerade Schule und Studium hinter sich hat, die langjährigen Erfahrungen hernehmen soll bleibt das Geheimnis des Verfassers. Na ja, ich war jetzt „heiß gemacht“ und bewarb mich jetzt auf Positionen, für die ich mich noch vor ein paar Monaten für zu ausgereift gehalten hätte. Ursprünglich ging es mir doch nur darum, dass ich mich nicht zum Alteisen werfen lassen wollte. Ich wollte es „denen“ zeigen, dass ich den Zeitpunkt meines Ausstieges selber bestimme. Und jetzt? Wäre nicht der selbstauferlegte Bewerbungsdruck gewesen könnte ich diesen Sommer 1999 sogar unter „glückliche Zeit“ einordnen. Im September des Jahres wurde ich, zumindestens im Bewusstsein meines wahren Alters, wieder auf den Boden der Realität geholt. Und das Ganze begann so gar recht erfreulich. Am Samstag, dem 11. September schellte kurz vor Sieben, als ich noch im Bett lag, mein Handy. Am anderen Ende war Hendrik: „Hallo Papa, hast du dein Festnetztelefon nicht gehört oder steht es für einen hexenschussgeplagten Opi zu weit weg. Apropos Opi, deshalb rufe ich gerade an. Vor einer Stunde ist dein Enkel Christof angekommen. ... Ich bin dabei gewesen. Da ich gerade hier in Waldheim im Krankenhaus stehe wollte ich fragen ob ich mit ein paar frischen Brötchen bei dir vorbeikommen kann. ... Ach, und noch was. Mama meldet sich auch nicht. Wird wohl daran liegen, das ältere Leute länger und fester schlafen. Würdest du es bitte in der Zeit, bis ich bei dir bin, noch mal für mich versuchen.“. Das waren jetzt ja aus gegebenen Anlass reichlich Anspielungen auf mein wahres Alter. Aber in diesem Moment habe ich da aber nicht drüber nachgedacht sondern mich erst mal über Christofs Ankunft gefreut. Es ist doch klar, dass Hendrik zum Frühstück zu mir kommen sollte und andrerseits versuchte ich Rosi wach zu bimmeln. Als sich Jürgen endlich meldete, schellte zur gleichen Zeit auch schon Hendrik an der Tür. So dass ich mich jetzt erst mal kurz fassen musste: „Morgen Großer, ich musste dich leider im Auftrage deines Neffen, der gerade geschellt hat, wecken. Jetzt muss ich also erst aufmachen. Wir rufen gleich zurück, dann kann er dir selber erzählen was er will.“. Danach legte ich auf, während Hendrik schon zum zweiten Mal schellte. Als Sohnemann gerade in der Wohnung war meldete sich auch mein Telefon schon wieder. Eigentlich hätte Hendrik gleich dran gehen können, denn es dürfte wohl klar sein, wer am anderen Ende war. Aber ich ging dran und Rosi meldete sich fröhlich: „Na Walter, habe ich Recht, wenn ich glaube dass wir jetzt Großeltern sind.“ Ich konnte ihr dieses kurz bestätigen und übergab gleich an unseren Sohn. An diesem Tag war ich zunächst glücklich und habe über nichts weiteres nachgedacht. Am Nachmittag war dann Familientreffen im Krankenhaus. Silvia, die Mutter, war ja schon da und neben mir und Hendrik erschienen Jürgen und Rosi sowie die Steinmars. Heute dachte natürlich niemand daran mir einen Ausstieg zu empfehlen. Da dachte man, wie man mir später verriet, überhaupt nicht mehr dran, da man zu diesem Zeitpunkt davon ausging, ich wäre inzwischen von selbst vernünftig geworden. Silvias freundlichen Seitenhieb bei der Begrüßung nahm ich so auf, wie es gemeint war, als Spaß: „Hei Papa, warum hast du Ramona nicht mitgebracht? Ich habe so das Gefühl als könnte sie mal meine Schwiegermutter werden. Ist doch mal was anderes, wenn man mit seiner Schwiegermutter zur Schule gegangen ist.“. Das Einzige, was mir in diesem Moment auffiel war, dass sich das, was sich in der Villa abspielte, meiner Familie offensichtlich nicht ganz entgangen war, obwohl wir eigentlich doch ein Wenig Distanz zueinander hatten. Alles andere kam erst später in mir hoch. Am Abend hatte uns Hendrik nach Ulkerde eingeladen. Laut seinen Worten sollten wir dafür Sorge tragen, das Christof Pipi machen kann. Bei der Gelegenheit kam reichlich Bier und auch ein paar edle Schnäpse auf den Tisch. Mit einem Bisschen Stolz sage ich ganz gerne, dass ich im Leben recht kontrolliert mit dem Alkohol umgegangen bin. Aber das es keine Ausnahmen gegeben habe kann ich auch nicht behaupten und so war ich am Abend jenes Enkelgeburtstages reichlich blau, wie man im Volksmund sagen würde. So übernachtete ich, wie Rosi und Jürgen auch, auf den Steinmarhof, auf dem ich sogar bis zum Sonntagabend zirka halb Zehn blieb. Der Kater, den ich am Morgen beklagen konnte, verriet mir, dass eine Menge Restalkohol auf seinen Abbau wartete.
In dieser Katerstimmung bekamen dann die Worte vom Vortag eine neue tiefere Bedeutung. Da machte ich mir einen Jugendlichkeitswahn vor und war in Wirklichkeit ein Opa, im wahrsten Sinne des Wortes. Mein eigener Sohn und meine Schwiegertochter waren genau so alt wie meine Geliebte, die obendrein noch gemeinsam mit Silvia die Schulbank gedrückt hat. Wenn ich daran denke, dass nur wenige Menschen Hundert oder älter werden, habe ich über die Hälfte meines Lebens hinter mir. Wenn ich von der durchschnittlichen Lebenserwartung ausgehe, habe ich sogar schon mehr als zwei Drittel hinter mir. Im folgenden Jahr könnte ich bei einer Betriebsveräußerung hinsichtlich der Besteuerung auf „Übergabe aus Altersgründen“ hinweisen und den höchsten Freibetrag bei den „Veräußerungsgewinnsteuern“ gelten machen. Wäre ich als Berufssoldat bei des „Bundes wilden Haufen“ würde ich im nächsten Jahr pensioniert. Auch Beamte, die keine Lust mehr haben, können in dem Alter unter Hinweis auf Zipperleins mit nur geringen Pensionsabschlägen ins Altenteil gehen. Und was machte ich? Ich maskierte mich als unerfahrener Jungscher, trieb es mit einer Frau, die meine Tochter sein könnte und glaubte das die Wirtschaft noch auf so einen jungen, tatendurstigen Knaben wie mich wartete. So hat mir mein erster Kater als Großvater doch die Augen für die Wahrheit geöffnet. Im ersten Moment war es allerdings bitter. Zum Kapitel 23
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Opas lustvolle Arbeitslosenzeit Was ich bei der Niederschrift meines Lebens feststellen kann ist die Sache, dass immer wieder bestimmte Schlüsselerlebnisse zur Veränderung meines Lebens führten. Man kann sogar konkrete Daten ausmachen, an denen ich immer sagen konnte, dass es nie mehr so sein würde wie es einmal war. Dabei haben diese Schlüsselerlebnisse selten einen direkten Einfluss auf meinen Lebensweg. Immer wieder war es mein Denken was im Zuge der Erlebnisse zu einem Wandel führte. Und dabei standen mir immer mehrere Optionen offen. Vielleicht ist es meine individuelle Eigenart, dass ich mich immer für die Option, die sich langfristig für mich am ungünstigsten auswirkte, entschieden habe. Auch damals im September 1999 stellte sich mit meinem Enkel Christof ein solches, zum Umdenken anleitendes Schlüsselerlebnis ein. Die Tatsache, dass ich nun Großvater war, dürfte eigentlich für mein weiteres Leben tatsächlich bedeutungslos gewesen sein. Auch hier war es mein Denken, was mir zusetzte. Ich musste erkennen, dass ich nicht mehr der Jungscher war der Bäume ausreißen oder Berge versetzen konnte. Wenn ich logisch weiter gedacht hätte, wäre ich wohl zur Schlussfolgerung gekommen, dass dieses alles überhaupt kein Problem darstellt, denn wenn ich auch nicht mehr der Jüngste bin, gehöre ich doch ganz eindeutig mit 54 ½ Jahren immer noch nicht zum morschen Holz oder zum uraltem Eisen, noch ist nichts verfault und noch ist nichts verrostet. Wahrscheinlich waren es die Traumbilder, die ich mir selbst aufgebaut hatte, die zu der lebensändernden Torschlusspanik führten. Auf einmal hieß es bei mir: Schnell, schnell, bevor es zu spät ist. Mein neues Konzept im Oberstübchen hatte auch eine allgemeinbefindliche Wirkung. Bis dato war ich nie richtig krank gewesen, ich spürte bisher keinerlei Beschwerden. Das Schlimmste, was mich abgesehen von meinen Verletzungen damals in Folge des Autounfalls ereilt hatte, war mal so eine kleine Erkältung, die ich in der Regel mit heißen Zitronentee oder wenn weiter nichts anstand mit einem Grog bekämpfen konnte. Vorher gab es zwar mal Tage an denen ich nicht gerade auf dem Höhepunkt war aber richtig schlapp gefühlt hatte ich mich noch nie. Das änderte sich im Zuge meiner neuen Lebenserkenntnis schlagartig. Sehr oft wäre ich am Liebsten gar nicht aufgestanden weil ich mich so echt schlapp und marode fühlte. Häufig hatte ich neuerdings Schmerzen im Nacken oder oberhalb des Gesäßes, also im Bereich des Ischiasnervs. Nach dem Treppensteigen musste ich dann öfters konzentrierter Atmen um das Gefühl, keine Luft zu bekommen, zu vertreiben. Erkältungen ließen sich auf einmal nicht mehr mit Tee oder Grog „wegblasen“. Und alle die Beschwerden stellten sich praktisch über Nacht, vom 11. auf den 12. September 1999, ein. Die plötzlich bewusst gewordene Erkenntnis, dass ich keine Zwanzig mehr war, ließen auf einen Schlag alle Zipperlein auftreten. Ich habe mich mal vor Jahren, nur aus Gründen des Gespräches während einer Gesellschaft, mit einem älteren Arzt unterhalten und der philosophierte damals wohl richtiger Weise über die Ursachen der Wehwehchen unter denen ich jetzt zu leiden hatte. Ihm ging es nur um was anderes; ihm ging es um die falsche Honorierung von Ärzten. Er war damals der Meinung, dass über 80% oder vielleicht alle Krankheiten irgendwo psychosomatische Ursachen hätten. Nur „Psycho“ hörten die Leute gar nicht so gern und würden dieses Wort gleich mit „Balla balla“ assoziieren. Seiner Meinung nach geschähe dieses weil sich an der nicht fassbaren Seele und dem nicht auffindbaren Geist nicht mit Apparaten und Pharmaka rumlaborieren lasse. Rein körperliche Krankheiten sind da für heutige Menschen bequemer und zeitgemäßer. Da zwickt es irgendwo und dann ginge man zu dem Arzt der eine ganze Etage mit medizinischer Hightech zugestellt habe. Der könne dann in fünf Minuten 3 bis 10 dieser teueren Spielautomaten einsetzen um festzustellen woher das Jucken käme. Danach kann er dann ein ganzes Paket von Mittelchen verschreiben, bei denen nur die Nebenwirkung und deren oft überzogenen Kosten sicher wären. Wesentlich größere Heilerfolge versprach er sich von ausführlichen Gesprächen mit den Patienten, die die Kassen aber leider nicht so bezahlen würden, dass ein Arzt davon Leben könnte. Für meinen Gesprächspartner stellte der Geist das wichtigste Körperorgan dar. Der könne krank und auch wieder gesund machen. Da muss irgend etwas dran sein, denn ab dem Moment wo mir mein Geist etwas voreilig sagte, dass ich alt sei, hatte ich auch postwendend die beschriebenen Altersbeschwerden. Aber diese Seniorenschlappheit war nicht das Wesentliche an meiner erneuten Lebensänderung. Entscheidender war jetzt die mentale Einstellung mit der ich jetzt an Bewerbungen heran ging und die Art meiner Lebensgestaltung, die erfüllt war von der fixen Idee eines nahenden Endes. An erstere Sache, den Bewerbungen, ging ich jetzt recht phlegmatisch heran. Viele Sachen ließ ich unberücksichtigt, da ich mich zu alt für „so etwas“ fühlte. Und wenn ich mich bewarb, klang wohl überall für andere hörbar raus, dass ich selbst nicht mehr glaubte die Sache ausfüllen zu können. Wenn ich noch Chancen gehabt hätte, wären diese jetzt durch mich selbst kaputt gemacht worden. Und das bekam ich sogar irgendwie bewusst mit. Mittlerweile war mir klar, dass man mich nie mehr unter der Managergarde finden würde. Bei dem Bewusstsein hätte ich jetzt ja, wie es von meiner Familie angeraten wurde, aussteigen können. Ich blieb aber, jetzt jedoch misserfolgbewusst, bei meinem Bewerbungstick. Wenn ich davon ausgehe, dass es so oder so zu keinem anderen Ergebnis kam, dann ist doch die Art und Weise meiner Lebensgestaltung das Augenscheinliche und hier Berichtenswerteste. Die plötzliche Erkenntnis, dass man Jahr für Jahr, eigentlich sogar Tag für Tag, älter wird hatte mich in eine solche Panik versetzt, dass ich einen Handlungsvorsatz wie ein schwer Krebskranker, den der Arzt höchstens noch 6 Monate Lebenschancen eingeräumt hat, fasste. Nachträglich kann ich mir das nur in Folge, des von mir selbst aufgebauten Jugendlichkeitswahn vorstellen. Ich war halt auf einen nicht vorhandenen Berg gestürmt und als ich dieses dann selbst merkte tief abgestürzt. Nur was ich dann unter Restnutzung meiner Lebenszeit verstand, lässt mich heute den Kopf über meine damalige Dummheit schütteln. Es wäre
wohl verständlich gewesen, wenn ich jetzt aufgebrochen wäre um mir diese schöne Welt mal anzusehen. Ich war zwar im Laufe meines Lebens in vielen Orten in einer Reihe von Ländern gewesen. Land und Leute habe ich dabei aber nicht kennen gelernt. Ich kannte Flughäfen, Taxis und Limousinen meiner Geschäftspartner, Hotels sowie Banken- und Firmenräume. Von den einzelnen Städten kannte ich immer nur so viel, wie man aus Autos während des Vorbeifahrens sehen kann. Zusammengetroffen bin ich immer nur einerseits mit den gleichen Leuten und andererseits mit dem gleichen Typ von Menschen. Alles, oft schon fortgeschritten entmenschlichte Biocomputer, halt Banker und Manager, die sogar ihre Individualität unter Designeranzügen als eine Big-Business-Uniform und schmieriger Diplomatie versteckten. Aber zurück zu meinen Vorhaben. Alles was ich wollte konnte man mit zwei Substantive, die beide mit S anfangen, beschreiben: Sex und Saufen. Schon gleich in der Woche nach Christofs Geburt zog ich Ramona, ohne dass ihr dieses von Anfang an bewusst sein konnte, als Helferin in meine Lebensrestpläne ein. Ich erzählte ihr von den Abenteuer damals in Frankfurt, als wir es zu Sechst miteinander trieben. Im Gegenzug erzählte sie mir von zwei ihr bekannten Pärchen, die es des öfteren mal im Quartett machten und sie schon mal Hin und Wieder zur Teilnahme eingeladen hätten. Prompt fragte ich sie: „Was meinst du, sollte ich hier mal eine Samstagabendparty veranstalten? Du könntest ja die beiden Damen und Herren dazu einladen und dann machen wir hier auch mal Sex zu Sechst.“. Zunächst war sie nicht gerade beigeistert, aber sie ließ sich von meinen hocherotischen – oder waren es pornografische – Erzählungen inspirieren und war letztendlich auch mal heiß auf ein bisschen Gruppensex. Ramona ließ sich also überreden und lud die flotten Vier zu einen Samstagabend in die Villa ein. Zu diesem Anlass füllte ich, der ich bis jetzt stolz auf meinen kontrolliertem Umgang mit dem „Teufel Ackerhohl“ war, die Bar im Partyraum mit ausgewählten Spezialitäten für die Freunde des Vollrausches auf. Auch ein Fässchen „edlen“ Bieres fand Einzug in meine Räume. Jetzt wollte ich es wissen, jetzt sollte Rambazamba auch meine Hütte wackeln lassen. Und dann war es soweit, am ersten Oktoberwochenende konnte die Pleite, im wahrsten Sinne des Wortes, steigen. Anschließend musste ich aufrichtig und ehrlich „Arme Ramona“ sagen. Die eingeladenen Pärchen, alle Vier um die Mitte Dreißig, hielten, wie sie selbst sagten, nichts von langen Vorreden, also nichts von hormonflusssteigernden Spielchen vorm eigentlichen Fest. Schon zwischen Haustür und Partyraum beschäftigten sie sich mit dem Freilegen ihrer nackten Haut. Im Partyraum kamen sie also praktisch schon bloß allem Textils an und konnte sich in gemeinsamer Aktion gleich an die Entkleidung Ramonas machen. Für mich, dem Gastgeber, interessierte man sich wohl nur am Rande und alles konzentrierte auf meine „Hauswirtschafterin“. Nach fünf Minuten war klar, dass die beiden Gastdamen bisexuell waren. Fragt sich nur in welcher Richtung ihre Neigung ausgeprägter waren. Ich würde mal sagen, dass 80% ihres Zuspruchs dem eigenen Geschlecht galten. Und so kam es, dass Ramona zum Objekt der Begierde aller Gäste und ich zu einer Art gastgebender Zuschauer wurde. Zwischen den lustvollen Attacken griff man dann kräftig zu den geistvernebelnden Flüssigkeiten, die ich bereit gestellt hatte. Auch in dieser Beziehung war die zum Haus gehörende Dame im Hintertreffen. Ramona trank so gut wie keinen Alkohol und wurde im Laufe des Abends mehr und mehr von zunehmend berauschten Dienerinnen und Dienern der Lust umgeben. Ich konnte mir vorstellen, dass dieser Abend bei meiner „Perle“ keine Werbung für praktizierten Gruppensex war. Aber nicht dass sie anschließend gleich ihre Abkehr von dieser Art bedenkenlos ausgelebter Lust erklärte. Sie sah es real, dass dieser sie bis zum äußersten Rand strapazierende Abend, nach der sie nur noch mit großer Mühe die Beine, auf sie dann kaum stehen konnte, zusammen bekam, auf die leichtfertige Auswahl der falschen Leute zurückzuführen sei. Trotzdem wollte sie gerne mal so etwas erfahren wie ich in meiner Frankfurter Zeit. Sie wollte jetzt zwei ihrer „vernünftigen“ Freunde ansprechen und diese mit entsprechend bereiten Partnerin einladen. Diesmal traf sie eine gute Wahl. Sie „engagierte“ erst einmal eine Optikerehepaar. Also nicht dass ich jetzt der Frau den Beruf des Mannes zugeordnet hätte, sondern beide hatten den gleichen Beruf und betrieben gemeinsam ein Geschäft in ... Na ja, ist auch egal. Dann konnte sie eine junge Beamtin der Stadtverwaltung Waldheim „anlocken“. Diese wollte dann in Begleitung ihres Verlobten, einem Lehrer, erscheinen. Das erste Paar war Mitte bis Ende Dreißig und das zweite Paar ordnete sich vom Lebensalter her am Anfang des dritten Jahrzehnts ein. Und ich? Ja, ich war in dieser Runde der arbeitslose Opa. Unsere zweite Veranstaltung Ende Oktober 1999 brachte dann für Ramona und mich „fast“ den gewünschten Erfolg. Die kleine Einschränkung mussten wir eigentlich nur wegen der Optikerin machen, die beim Alkohol überkräftig zugriff. Eine halbe Stunde vor Mitternacht flippte sie in Überalbernheit aus und eine halbe Stunde nach der Tageswende ging sie nach mehrfachen „Mir-ist-schlecht“-Bekundungen zum, vom lauten Schnarchen begleiteten Schlaf über. Trotzdem wurde zum Schluss der Veranstaltung, so zwischen Vier und Fünf am Morgen, eine weitere Runde vereinbart. Der Lehrer fragte an, ob er den Kreis um junges Blut, zwei seiner Exschülerinnen im Alter von 21 und 22 Jahren, erweitern dürfe. Da dann eine der beiden jungen Damen ihren Freund mitbrachte, fand die Swingerparty Mitte November, bei der sich die trinkende Optikerin dann doch ein Wenig zusammen nahm, mit nun neun Personen statt. Aber genau nach der Neunerparty, die so richtig nach meinem damaligen Geschmack verlief, erklärte Ramona ihren Ausstieg aus den Samstagsveranstaltungen in meiner lustvollen Arbeitslosenzeit. So etwas war doch nicht, wie sie sagte, nach ihren Geschmack, sie stand doch lieber auf Zweisamkeit, allerdings bei wechselnder Partnerschaft. Mir wollte sie jedoch wie vor unserer Veranstaltungsreihe bei Bedarf zur Verfügung stehen – aber nur mit Kondom. War es jetzt wirklich „Geschmack“ oder war es Aidsangst, die ich persönlich jedoch total verdrängt hatte?
Meine Partys wurden danach jedoch zu einer regelmäßigen Angelegenheit. Zwei Mal im Monat traf man sich ohne Hemd und Höschen in meiner Villa. Der Lehrer, die Beamtin und das Optikerpaar wurden zur Standardbesetzung aber die weiteren Personen wechselten permanent. Immer wieder war jemand dabei, der andere kannte, die auch mal wollten und im Gegenzug sprang man nach dem zweiten oder dritten Mal auch wieder ab. Der Nachteil bei einem solchen Kreisziehen ist natürlich, dass solche Sachen nicht hinter den Mauern, die meine Villa umgaben, verborgen bleiben konnten. Im Tratsch und Klatsch in Waldheim und Umgebung machte „Opas lustvolle Arbeitslosenzeit“, den Titel den ich dieser Serie selbst gegeben hatte, seine Runde. Wenn ich irgendwo in der Öffentlichkeit auftrat, zum Beispiel im Kiosk, wenn ich mir meine Gauloises holte, merkte man richtig, wie hinter meinem Rücken die Köpfe zum Austausch von Informationen zu der reichen Sexbestie zusammengingen. Ramona hatte sich zum Schutze ihrer eigenen Persönlichkeit eine besondere Strategie ausgedacht: Sie beteiligte sich selbst an dem Tratsch, in dem sie die Swingerpartys bestätigte. Gleichzeitig betonte sie jedoch, dass sie nicht wüsste was da los wäre, denn sie wäre tatsächlich nur werktags in einem ordentlichen Dienstverhältnis bei mir, dem reichen Witwer, beschäftigt. Da Ramona im Großen und Ganzen eine offene und ehrliche Haut war, setzte sie mich von ihrer Strategie auch in Kenntnis. Mir blieb allerdings nichts anderes als diese zu akzeptieren, sonst wäre ich sie losgewesen, was ich beim besten Willen nicht wollte. Für mich zunächst überraschend war, dass meine Familie zwar auch von den Gerüchten Kenntnis hatte aber darüber gefliessendlich hinweg ging. Weihnachten war ich einmal bei Jürgen und Rosi und einmal bei Hendrik und Silvia eingeladen. In beiden Fällen fiel kein Wort über meine wilden Ausschweifungen. Es war so, als würden sie gar nichts wissen. Das sie aber was wussten, war schon der Tatsache zu entnehmen, dass sie meine Silvestereinladung mit offensichtlich abgesprochenen Ausreden ablehnten. Auf den Gedanken, dass diese Toleranz nur mit der Jahreszeit zusammenhing, bin ich damals erst gar nicht gekommen. Sie wollten nicht, wie ich später erfuhr, gerade zu Weihnachten mit mir brechen und darüber hinaus hegten sie die Hoffnung, dass ich, wenn ich mir die Hörner abgestoßen hätte, wohl schon wieder von alleine zur Vernunft kommen würde. Aus letzterem Grunde sah man sich die ganze Geschichte auch noch ein Wenig ohne Reaktion an. Ende Februar 2000 war dann aber Schluss mit Lustig, Hendrik bat um einen Gesprächstermin bei mir. An einem Dienstagmorgen suchte er mich auf. Im Wohnzimmer sitzend kam er dann schnell zur Sache: „Papa, ich bin jetzt im eigenen Interesse und auch im Auftrage von Mama zu dir gekommen. Du kannst dir doch sicher denken worum es geht. Schließlich pfeifen die Spatzen inzwischen von den Dächern was hier im Hause los ist. Versteh es jetzt bitte nicht falsch, es geht nicht um Moral und nicht um dich betreffende Verhaltensvorschriften. Ich glaube, in der Familie Heuer haben wir alle gelernt, den Anderen zu respektieren und so zu nehmen wie er ist. Schließlich ist unsere Familiengeschichte im Sinne der Moralapostel nicht immer so gradlinig verlaufen. Uns geht es einmal um dich ... du machst dich nämlich kaputt – und andererseits geht es darum berechtigte Interessen der Familie zu schützen. Bei Letzteren geht es uns nicht direkt darum, was die Leute denken und schwätzen. Da sollte sich lieber mal jeder an die eigene Nase fassen. Ich glaube ein jeder Mensch hat irgendwo Dreck am Stecken mit dem man ihn an den Pranger stellen kann.“. An dieser Stelle unterbrach Hendrik erst mal die Lesung der Leviten, denn Ramona war vom Einkauf zurück gekommen. Sie begrüßte Hendrik und fragte ob er einen Kaffee möchte. Nachdem er ihr dieses bestätigt hatte, verschwand sie in der Küche um während des Kochens des Kaffees die eingekauften Waren im Kühlschrank und in den Schränken verschwinden zu lassen. Hendrik nutzte dieses Gelegenheit für einen Ramona betreffenden Hinweis: „Ich weiß von Silvi, dass Frau Vierhoff nett, intelligent und fleißig aber auch kein Kind von Traurigkeit ist. Aber trotz ihrer eigenen flotten Auffassungen, kann man wohl davon ausgehen, dass ich jetzt auch in ihrem Interesse spreche.“. Jetzt unterbrach er erneut, denn Ramona kam jetzt mit dem Kaffee herein und erkundigte sich bei dieser Gelegenheit nach Silvia und dem kleinen Christof. Wodurch mir jetzt erst mal eine kleine entspannte Atempause zuteil wurde. Sie war gerade wieder draußen als Hendrik dann erneut und richtig ansetzte: „Schau mal, Papa, Onkel Jürgen ist der Vorsitzende der SG Seetal. Er ist stolz auf die immer noch große Jugendabteilung und auf die Damenmannschaft, die er gerade aufgebaut hat. Kannst du dir vorstellen, was passiert wenn man ihn mit deinen Hobbys in Verbindung bringt? Hättest du mich damals in einem Verein spielen lassen der einen Vorstand hat, der möglicher Weise aus Leuten besteht, die es mit Sitte und Moral nicht so genau nehmen? Hättest du nicht Angst gehabt, dass ich unschuldiger Knabe da hätte in etwas reingezogen werden können? Und die Damenmannschaft besteht aus jungen Mädchen und Frauen ... wie schnell kommt da der Verdacht auf Rudelbums in der Kabine auf.“. Jetzt unterbrach ich ihn doch einmal: „Was habt ihr denn damit zutun. Ihr macht doch nichts, dass bin ich doch nur.“. „Und woher wissen die Leute das?“, setzte er jetzt fort, „Natürlich können wir uns klipp und klar von dir abgrenzen in dem wir uns alle Kontakte mit dir verbitten und dieses auch öffentlich dokumentieren. Dann sind die Fronten klar. Aber wenn wir uns gegenseitig besuchen und auch öffentlich zeigen dass wir eine Familie sind, dann kann doch auch leicht an der Mutmaßung von Familienbums ... Schließlich hast du ja, wenn ich es mal ganz salopp sage, Mama erst Onkel Jürgen ausgespannt und dann wieder zurück getauscht. Das wissen einige Leute und machen sich ihre eigenen, für uns bestimmt nicht angenehme Gedanken. Wie steht denn Onkel Jürgen als Fraktionsvorsitzender der Unabhängigen Wählergemeinschaft Seetal da, wenn er sich für Jugendzentren und für dem Empfinden der Frauen gerechte Parkplätze
einsetzt? Die Parteien kontern dann doch gleich mit Zoten bezüglich Onkel Jürgens Familiengeschichte. Damit macht man dann vernünftige kommunalpolitische Zwecke zu Nichte.“ Inzwischen war meine Laune schon fast auf den Nullpunkt gerutscht und ich warf dazwischen: „Warum kommt Jürgen dann nicht selbst zu mir und warum schickt er dich vor?“. „Sorry, hat er gar nicht.“, setzte Hendrik jetzt unbeirrt fort, „Ich habe mit ihm noch gar nicht darüber gesprochen. Das habe ich bisher nur mit Mama ... und zwar kam das Gespräch auf meine Initiative zustande. Also auch sie hat mich nicht vorgeschickt. Ich bin mit Onkel Jürgen angefangen weil ich nicht nach der Devise ‚Ich und der Esel’ vorgehen wollte. Du machst auch mir und Silvi, die jetzt noch nicht einmal weiß, dass ich nun mit dir darüber spreche, vieles kaputt. Überlege mal, dass wir uns Mühe geben da einen mustergültigen Biohof aufzubauen. Dabei sind wir überhaupt keine fanatischen Ökofreaks und glauben das auch in der konventionellen Landwirtschaft gute und insbesondere auch preiswertere Produkte erzeugt werden. Unsere Idee ist aber einen Erlebnishof für Familien aufzubauen. Wir wollen Leuten, die in düsteren Großstadtschluchten hausen müssen, mal zeigen wie schön die Welt, wie schön unsere Heimat doch wirklich ist. Wir wollen den Stadtkindern eine Perspektive zeigen, wofür es sich lohnt sich zu engagieren. Und stell dir vor, dass wir schon wiederholt Anfragen von lüsternen Geitlingen nach einem Rudelbums im Stroh hatten. Wenn das so weiter geht, können wir dicht machen oder wärst du früher mit deiner Familie das Risiko eingegangen Urlaub im Bordell zu machen.“. An dieser Stelle sorgte wieder Ramona, die noch mal fragte ob wir weiteren Kaffe oder was anderes wünschten, für eine Unterbrechung. Hendrik, der schon erheblich in Rage geraten war, nutzte diese Pause um sich ein Wenig zu beruhigen. Nach dem wir jetzt unseren zweiten Kaffe bekommen hatten, führte mir Hendrik auch noch die Auswirkungen meines Handelns auf Silvias und seiner Arbeit in der evangelischen Kirchengemeinde in Ulkerde vor Augen. Dann ging er mir aber richtig „an den Kragen“, jetzt war meine Person dran: „Und denk doch an dich selber. Du hast die Hoffnung noch mal Geschäftsführer oder Vorstand zu werden noch nicht aufgegeben. Welche Chancen rechnest du dir denn aus, wenn dein flottes Leben publik wird? Mit gutem Grund trennt man doch bei Leuten aus Wirtschaft und Politik das Privatleben von deren öffentlichem Wirken ab. Kannst du dir vorstellen, was passiert wenn diese Sache, die dieser verantwortungslose Staatsanwalt mit Bill Clinton gemacht hat, Schule macht? Wenn Politik und Wirtschaft in der Regenbogenpresse stattfindet, kriegen Stammtischstrategen und der Mob, der nur auf den Funfaktor aus ist, die Oberhand. Und dann gute Nacht, liebes Deutschland. ... Du beraubst dich selbst um deine letzten Chancen und ...“. Jetzt war ich schon gehörig patzig geworden und prüttelte „Lass das mal meine Sorge sein“ dazwischen. Da war für Hendrik das Stichwort zum Finale zu kommen: „Vater (er unterließ jetzt das vertraulichere Papa), ich will dir beim besten Willen nichts. Aber ich halte dich für viel intelligenter wie diese Typen, die sich für diese 08/15Talkshows oder für den Menschenzoo „Big Brother“ zur Verfügung stellen. Die merken bei ihrem Schmalspurintellekt nicht wie sie sich im alltäglichen Leben ins Aus manövrieren. Schlimm ist nur, dass diese Deppen mit ihrem Verzicht auf ihr Grundrecht auf eine geschützte Privatsphäre auch die Leute in ihrem Umfeld mit reinziehen. Man sollte diesen Telefritzen ihr schmutziges Tun zum Schutz der Grundrechte unbeteiligter Dritter verbieten. ... Aber nun zu dir, zur eigentlich Sache. Ich bitte dich denk über diese Sache mal nach. Schlaf mal drüber. ... Solltest du allerdings bei deiner Geschichte bleiben, dann unterlass bitte jede Kontaktaufnahme mit Mama, Onkel Jürgen und uns. Dann müssen wir uns klipp und klar von dir distanzieren.“. Jetzt bekam er Tränen in die Augen und fuhr mit sanfterer Stimme fort: „Aber das wollen wir nicht ... das tut uns weh, denn wir lieben dich, Papa, lieber Paps.“. Und jetzt erstickten Tränen seine Worte und er verabschiedete sich dann weinend und ging von dannen. Damals dachte ich gleich, dass er wohl voll recht hatte und schwebte unschlüssig zwischen Einsicht und Trotzkopf. Viel war mit mir an diesem Tage nicht mehr anzufangen und deshalb gab es auch beim Mittagessen keinen großen Plausch wie er sonst üblich war. Ich versuchte mal anzusetzen um Ramona zu erklären was gelaufen war. Sie bekam auch Tränen in den Augen und unterbrach mich: „Mensch Walter, ich muss dir gestehen, dass ich mitgekriegt habe was da gelaufen ist und ich deinem Sohn voll zustimme. Was meinst du, weshalb ich mich draußen so eindeutig ... und eigentlich heuchlerisch von dir distanziere? Ich finde das du im Grunde ein sehr netter Mensch bist; ich mag dich. Was jetzt nicht gleich heißen soll, dass ich dich auch liebe ... Das ist was anderes und das tue ich nun wirklich nicht. Dieses jetzt nur damit du mich jetzt nicht verstehst. Bei mir kommt noch hinzu, dass ich mich nicht vom Sozialamt aushalten lassen möchte, und ich im Hinblick auf meine Kinder und meiner kranken Mutter so gut wie keinen anderen Job kriegen kann. Ich möchte so gerne hier bleiben, aber wenn du so weiter machst wird das aber immer schwerer.“ Ich fragte sie noch, ob sie aus diesem Grunde damals nicht mehr mitmachen wollte. Da schüttelte sie verneinend den Kopf und sagte leise: „Nein, nein, das hat damit nichts zutun. Damals war es ja auch noch was anderes. Da war es nur ein kleiner Personenkreis in dessen Privatsphäre es mit großer Wahrscheinlichkeit auch geblieben wäre ... aber inzwischen zieht es immer größere Kreise. Damals hätte ich nichts gesagt, denn ich fühle mich nicht zur Sittenwächterin berufen.“. Was an diesem Tag echt schade war, ist der Umstand, dass sich Ramona mal wieder alle Mühe gegeben hatte ein vorzügliches Essen hinzuzaubern und keiner von uns richtig Hunger verspürte und das Meiste dann im Abfall landete. Schön wäre es gewesen, wenn dieses mal wieder ein Schlüsselerlebnis gewesen wäre, welches eine Änderung in meinem Leben bewirkt hätte. Aber das war es nicht, ich machte einfach unverändert weiter. Begründen kann ich das allerdings nicht. Ich habe Hendriks Worte bis heute nicht vergessen – das konnte man eben ja auch merken – und habe
auch darüber nachgedacht; bewirkt hat es allerdings leider nichts. Das Einzigste was danach anders war, war der Draht zu meiner Familie. Der war nämlich gerissen. Sie hörten nichts von mir und ich nichts mehr von denen. Wie war ich stolz gewesen als ich Opa wurde und jetzt konnte ich mich noch nicht einmal um meinen Enkel kümmern. Man könnte sagen, dass diese schlimme Zeit wohl kaum unterboten werden könnte. Aber ich sollte noch innerhalb des letzten Jahres erfahren, dass man sogar noch ein paar Stufen tiefer rutschen kann. Zum Kapitel 24
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So nicht mein Herr Heuer und werter Herr Lehrer Noch bis Juni 2000 behielt ich den, im vorhergehenden Kapitel beschriebenen, lustvollen Lebenswandel bei und wirbelt damit immer mehr Staub auf. Im April erschienen im Waldheimer Kreisblatt dann Leserbriefe, in denen zwar keine Namen und Orte genannt wurden, in denen man aber eindeutig auf mich und mein Handeln abzielte. Ich nehme mal an, dass Redakteure der Lokalzeitung aus rechtlichen Gründen mit den Verfassern Rücksprache genommen hatten und dann diese Zuschriften ein Wenig in Richtung vorsichtiger, nur andeutungsweißer jedoch treffender Aussage modifiziert hatten. Darin ging es darum, das ein bessergestellter Mitbürger sein Haus in einen Privatpuff umgewandelt hätte und die Behörden dort tatenlos zusehen würden. Die Nachbarn, mit denen ich allerdings bisher nicht viel zutun hatte, die mir aber bisher mit mir die Tageszeit ausgetauscht hatten, zogen nun an mir vorüber als hätte ich die Pest. Auch in dem Kiosk, in dem ich mir immer meine Zigaretten holte, bediente man mich gar nicht gerne mehr. Wenn ich reinkam, wurde gleich, gleichgültig wie viel Leute vor mir dran gewesen wären, gefragt „Eine Stange Gauloises“ und diese hielt man schon zur mir herüber reichend in der Hand . Also das klang nach der Devise „Gut wenn du wieder draußen bist und beehre uns möglichst nicht wieder.“. Ehrlich gesagt, ich fühlte mich gar nicht mehr wohl in meiner Haut. Auch Ramona schien nicht mehr die größte Bereitschaft zu haben in meinen Dienst zu stehen. Sie sagte zwar nichts aber ich merkte es sehr deutlich. Die letzte Zeit hat sie bei meinen Gelüsten nach kondomgeschützten immer eine höfliche, nicht verletzende Ausrede gefunden. Sie telefonierte häufig mit ihrem Handy obwohl ich ihr die kostenlose und beliebige Festnetznutzung freigestellt hatte. Sie achtete dabei peinlich darauf dass sie mit ihrem Handy immer außerhalb meiner Hörweite stand. Gelegentlich nahm sie sich zwischendurch mal für ein bis zwei Stunden frei. Ich schätze mal, dass sie dann zum Arbeitsamt oder zu Vorstellungsgesprächen war. Auch dass das Waldheimer Kreisblatt des mittwochs, wenn die Stellenkleinanzeigen erschienen, nicht ins Altpapier wanderte sondern von ihr mitgenommen wurde, war ein eindeutiges Indiz für ihren Abseilversuch. Das wäre natürlich der härteste Schlag für mich gewesen, denn sie war der einzigste Mensch, den ich als Person noch hatte. Meine „Exfreunde“ aus der Wirtschaft kannten mich nicht mehr, meine Familie hatte sich vollkommen von mir losgesagt und Bekannte hier in Waldheim signalisierten mir stets per Körper- und Augensprache, dass ich sie nicht ansprechen dürfe. Wenn ich auch jetzt noch Ramona und ihre Kinder verliere bin ich allein, Mutterseelen allein und sehr, sehr einsam. So war es, dass ich den festen Vorsatz hatte dass die bereits „angeleierte“ Swingerparty vom 24. Juni 2000 die absolut letzte in meinem Hause sein sollte. Dieses hatte ich Ramona auch gesagt und ich merkte darauf sofort, dass sie jetzt offensichtlich bei den Bewerbungen eine etwas abwartendere Haltung eingenommen hatte. Am darauffolgenden Montagmorgen hatte ich beim Frühstück nichts besseres vor als Ramona zu erklären, dass ich den Teilnehmer der Party vom vergangenen Samstag offiziell erklärt hätte, dass diese die endgültig allerletzte gewesen sei. Von nun an sei endgültig und für immer Schluss. Ramona schaute mich traurig an und sagte: „Aber eines muss ich dir sagen. Ich werde mit dir nicht mehr ins Bett steigen und würde es gerne sehen, wenn du von vertraulichen Berührungen Abstand nehmen würdest. Wenn du dir das von deinem Entschluss versprochen hast, war es leider ein Fehlschlag.“. Ehrlich antwortete ich ihr: „Ich hätte mir zwar gerne gewünscht, dass es zwischen uns wieder hätte so sein können, wie es einmal war. Aber dieses ist für mich nicht die Hauptsache. Ich habe festgestellt, dass mir nur noch ein einziger Mensch, zu dem ich noch richtigen Kontakt habe, geblieben ist. Wenn du nicht mehr zu mir kommst, dann bin ich allein wie im Grab.“. Jetzt konnte ich nicht mehr und musste weinen und legte dazu meinen Kopf auf die verschränkten Arme auf den Tisch. Jetzt merkte ich wie sie mir über die Haare strich und warm sagte: „Ich lasse dich nicht allein ... obwohl ich das bis letzte Woche fest vor hatte und wenn du jetzt nichts gesagt hättest, hätte ich mich schon heute wieder weiter anderweitig beworben. Aber das was ich mit dem Bett gesagt habe, dabei bleibt es. Ich muss mich, insbesondere wo ich dir jetzt über die Haare streiche ... Tut dir doch hoffentlich gut – in den Punkt Berührungen leicht korrigieren: Ich meinte natürlich eindeutige sexuelle Berührungen. Gehe mir bitte nicht an den Po oder an den Busen, dann können wir schon miteinander auskommen.“. Ich versprach's und fühlte mich, als ich ihre Akzeptanz meines Versprechens verspürte, halbwegs beruhigt. Nur gut, dass ich dieses gleich morgens zur Sprache gebracht habe, denn des Nachmittags hätte sie mir wohl möglich nicht mehr geglaubt. Mein Beschluss des endgültigen Aus bekam nämlich einen Nachdruck von Außen. Des Nachmittags, so gegen halb Vier, führte Ramona einen etwa 40-jährigen kleinen, dicken Herrn mit Halbglatze und eine etwa 30-jährigen adrett gekleidete Dame mit einer mittelblonden Kurzhaarfrisur zu mir ins Büro. „Herr Heuer, die Herrschaften möchten sie gerne in einer Privatangelegenheit sprechen.“. Jetzt muss ich nur zwischendurch anmerken, dass wir jetzt nicht vom Du auf das Sie zurückgekehrt sind sondern immer wenn fremde Dritte dabei waren, hielten wir uns an die offizielle Form. Ramona fragte noch nach den Wünschen der Gäste „Möchten sie einen Kaffee, Tee oder was darf ich ihnen bringen?“ und verschwand, nachdem die Frage dankend verneint wurde, wieder an ihre Arbeit. Die Herrschaften stellten sich, während sie sich gleichzeitig auswiesen, vor. Das „Paar“ war von der Kripo; Name und Dienstgrad habe ich jedoch leider vergessen. Danach ging es zur Sache. Der Herr eröffnete das Gespräch: „Herr Heuer, bitte entschuldigen sie jetzt erst mal meine etwas harte Ausdrucksweise aber bei uns liegt etwas oder sogar einiges gegen sie vor. Unter anderem werden sie beschuldigt, einen illegalen bordellähnlichen Betrieb zu betreiben.“ Zunächst war ich ein Wenig verstört und wäre ihm
am Liebsten an den Kragen gesprungen. Ich pfiff mich aber selbst zurück – zum Glück habe ich die Selbstbeherrschung erst als Unternehmer und dann als Manager gelernt und ständig geübt – und fragte, mich dabei gelassen gebend: „Also ich gebe zu, dass die Partys, die ich in letzter Zeit gegeben habe, nicht den notwendigen Ansprüchen von Sitte und Moral entsprechen. Das habe ich inzwischen auch selbst eingesehen und habe auch schon meine einschlägigen Konsequenzen daraus gezogen. Am Samstag habe ich meinen Freunden unwiderrufbar verkündet, das eine solche Veranstaltung letztmalig in meinem Hause stattfand. Aber wie gesagt, es handelte sich um Partys und um keine gewerblichen Veranstaltungen ... das weise ich eindeutig zurück. Es wurden keine Beiträge erhoben, niemand hat etwas bezahlt und alles was verzehrt wurde habe ich alleine aus meinen Vermögen finanziert. Also eine reine Privatangelegenheit, die allerdings, wie ich bereits gestanden habe, auch nach meiner Einsicht wohl sehr unmoralisch war. Aber lockerer Lebenswandel ist doch wohl noch nicht strafbar.“. Die Erwiderung bekam ich von der Kripodame: „Entschuldigung Herr Heuer, die Gewinnabsicht ist nur ein Kriterium für gewerbliches beziehungsweise gewerbeähnliches Handeln. Sie als Mann der Wirtschaft kennen doch bestimmt den steuerrechtlichen Begriff der Liebhaberei. Der Fiskus nimmt ihnen bei einer Liebhaberei es nur übel, wenn sie den Steuerzahler mit Abschreibungstricks daran beteiligen. Daher wissen sie ja, das man mit Liebhaberei gewerbeähnliches Handeln ohne Gewinnabsicht bezeichnet, das heißt, wenn andere Kriterien für eine Gewerbetätigkeit wie werbend in der Öffentlichkeit auftreten, Regelmäßigkeit und öffentliche Zugänglichkeit zutreffen. Das für ihre Partys in zugänglichen Kreisen geworben wurde wissen sie doch hoffentlich. Das ihre sogenannten Partys regelmäßig stattfanden können sie auch nicht leugnen, es war also weder einmalig noch gelegentlich. Und öffentlich zugänglich waren diese auch ... das wissen wir.“. Die ersten Punkte konnte ich unmöglich leugnen, da hatte mich die Dame in die Enge getrieben. Letzteres bestritt ich aber jetzt erst mal energisch. Ich behauptete, das an meinen Partys nur mir bekannte Personen teilgenommen hätten. Jetzt meldete sich der Beamte erneut zu Wort: „Herr Heuer, was sagt ihnen der Name Kwiatkowski?“. Ich zuckte mit den Schultern und er fuhr fort: „Sehen sie Herr Heuer, ihre Partys ... wie sie sagen, waren zwar exklusiv aber deshalb nicht unöffentlich. Sie wissen im Einzelnen gar nicht wer daran teilgenommen hat. Lassen sie mich jetzt bitte ausreden, dann werden sie merken, dass dieses in dem uns betreffenden Fall, also weshalb wir eigentlich hier sind, sogar zu ihren Vorteil sein kann. Elvira Kwiatkowski, 16 Jahre, Maria Lammers und Stefanie Kroll, beide 17 Jahre, haben letzten Samstag an ihrer Party teilgenommen. Die Mädchen haben zu ihren Gunsten ausgesagt, dass sie sich vorher nicht gekannt haben und von einen Dritten mitgebracht worden seien. Können sie sich jetzt an die drei erinnern und daran von wem diese ... na sagen wir eingeschleust worden sind?“. Jetzt wusste ich weshalb die Kripo bei mir war und wo diese drauf hinaus wollte. Und ich wusste jetzt, dass es für mich durch die Bank besser wäre, wenn ich nicht mehr rumdruckste und nur die Wahrheit sagte. Deshalb antwortete ich: „An diese Stefanie kann ich mich nicht genau erinnern. Es wird eine von drei Steffis, die dabei waren gewesen sind, sein. Aber an die etwas altmodischen Namen Elvira und Maria und ihre Trägerin kann ich mich natürlich erinnern. Aber nach 16 oder 17 sahen die beiden bestimmt nicht aus. Die Maria zum Beispiel habe ich auf mindestens 20 geschätzt. Und mitgebracht, ... mitgebracht hat die glaube ich Herr Baumann (der Lehrer, der schon auf der zweiten Party dabei war). Den kenne ich jedoch schon länger und habe ihn, schon seines Berufes wegen vertraut.“. „Genau, sie sagen es,“, fuhr der Kripomann jetzt fort, „da muss ich jetzt sagen: So nicht Herr Heuer und werter Herr Lehrer. Bei den drei Damen handelt es sich nämlich um Herrn Baumanns Schülerinnen. Sehr böse Sache.“. Letzteres konnte er getrost sagen, das war sogar mehr als böse. Und leider - oder im Sinne des Rechts besser gesagt: Gott sei Dank - kann man sich auch aus einer solchen Sache nicht rausreden. Wer Sexpartys veranstaltet ist strafrechtlich voll verantwortlich. Man kann sich nicht damit ausreden, dass jemand die „Kinder“ mitgebracht habe und man deren wahres Alter nicht gekannt habe. Ich hätte meiner Sorgfaltspflicht durch Kontrolle nachkommen müssen. Jedenfalls sah es der Richter, der mich im Februar dieses Jahres „verdonnerte“, so. Trotzdem, ich bin glimpflich davon gekommen. Wie sage ich aus dem Grunde, dass ich keine falschen Geister wecken möchte, nicht. Ich bin ja auch nur so glatt davon gekommen weil einige Dinge für mich sprachen. Erstens war ich in meinen fast 56 Jahren nie straffällig geworden und zeigte mich darüber hinaus einsichtig und reumütig. Andererseits waren die treibenden Kräfte tatsächlich die Mädchen, die ihren Lehrer erpresst hatten, um dabei sein zu können. Sowohl Steffi wie Maria sagten aus, dass sie mir auch ein falsches Alter genannt hätten. Und letztlich hatte ich in dieser Angelegenheit Baumann vertraut und es gab eigentlich aus meiner Sicht, die der Richter diesbezüglich anerkannte, keinen Grund warum ich ihn nicht vertrauen sollte. Alles zusammen führte das zur geringst möglichen Strafe für mich. Baumann kam nicht so glimpflich davon, zumal auch in der Schule schon was passiert war. Für unseren Herr Lehrer dürfte neben der Haft der dickste Brocken wohl die Entlassung aus dem Schuldienst und der Verlust seiner Pensionsansprüche sein. Der Richter hatte dem Herrn Heuer und dem werten Herrn Lehrer also klar gemacht, dass es so wirklich nicht ging. Als das Kripopärchen an jenem Montag mein Haus verlassen hatte rief ich Ramona zu mir und erzählte ihr worum es gegangen war. Ich endete mit dem Spruch: „Ich lasse mir jetzt die Hoden weg operieren. Jetzt ist Schluss, endgültig Schluss.“. Jetzt besänftigte mich Ramona: „Mensch Walter, mach keinen Blödsinn. Im Verhältnis zu mir bis du zwar alt. Aber alles ist relativ. Wie jung bis du gegenüber der Oma Schneider von nebenan. Wer weiß wozu du deine Hoden noch brauchst. Such dir doch eine nette Frau, die zu dir passt, halt ihr die Treue und du wirst glücklich. Du bist doch im Grunde ein netter Kerl.“ Sie machte jetzt eine Pause und fuhr dann, sich sehr nachdenklich anhörend, fort: „Walter, ich
habe heute den ganzen Tag nachgedacht. Ich habe meinen Vater nicht gekannt. Meine Mutter war wohl der gleiche Typ wie ich ... deshalb hat sie mir wahrscheinlich auch nie diesbezügliche Vorwürfe gemacht. Deshalb weiß ich auch nicht, wie das ist, wenn man seinen Vater liebt. Ich kann mir vorstellen, dass eine Tochter gegenüber ihrem Vater das empfindet was ich dir gegenüber empfinde. Könntest du mir gegenüber so empfinden wie gegenüber einer Tochter? ... Willst du mein Vater sein?“. Jetzt hatte sie mich vollkommen durcheinander gebracht. Eben war ich noch bei den Folgen meiner ungezügelten körperlichen Begierden und sie kam jetzt mit sinnigen menschlichen Banden, also aus dem Sumpf zum Erhabenden. Ramona schloss aus meiner Verwirrung offensichtlich was anderes und setzte noch einmal an: „Verstehe mich jetzt nicht falsch. Ich will nicht dein Geld, ich will nicht erben. Ich meine es rein platonisch. Das Einzigste was ich möchte, dass ist das, das meine Empfindungen dir gegenüber von dir richtig verstanden werden. Öfters habe ich das Gefühl, dass ich dir um den Hals fallen möchte um mich bei dir aus zu weinen. Anders herum möchte ich dir auch ab und zu den Marsch blasen, wie das nur eine Tochter machen kann.“. Und jetzt konnte sie nicht mehr. Sie fiel mir, während sie sich auf meinen Schoss setzte, tatsächlich um den Hals und weinte. Ich umarmte sie auch und sagte jetzt mit „Ach, mein Töchterchen, ich habe dich lieb“ offensichtlich das Richtige, denn sie antworte mir „Ich dich auch“. Als sie sich ein Wenig beruhigt hatte und immer noch auf meinen Schoss saß fragte ich sie: „Diese Empfindungen, dieser Gedanke ist dir doch nicht erst heute gekommen?“. Sie schüttelte verneinend den Kopf und sagte nur „Ä äh“. Darauf hakte ich dann noch mal nach: „Wieso kommst du denn gerade heute auf diese Sache?“. Und sie gab mir dann eine von mir sehr nett empfundene Erklärung ab: „Seit etwa zwei Monaten hatte ich das Gefühl unsere Wege würden zwangsläufig, da ich bei deinem Treiben auch an meine Kinder denken musste, auseinander gerissen. Innerlich will ich aber bei dir bleiben. Heute morgen kam dann die Erlösung, du hast die Möglichkeit geschaffen, dass ich bleiben kann. Dann habe ich dir ehrlich gesagt, dass ich mit dir keinen Sex mehr haben will. Das will ich auch nicht ... ich will nicht mit meinem Vater, auch wenn ich ihn nur so empfinde, schlafen. Dann habe ich etwas von wegen körperlichen Berührungen gesagt und da bin ich ganz durcheinander gekommen. Natürlich spüre ich dich gerne, natürlich schmuse ich auch gerne mit dir. Jetzt ist es zum Beispiel wunderbar auf deinem Schoss zu sitzen. Aber ich spüre dich gerne wie einen Vater und nicht wie einen Mann. ... Und als du eben nach dem Kripobesuch vollkommen geknickt, da saß und dann noch davon anfingst du wolltest dir die Hoden abschneiden lassen, konnte ich meine Gefühle nicht mehr in Schach halten. ... Ich liebe dich, Vati.“. Als sie ausgesprochen hatte gab sie mir einen Kuss auf die Stirn und drückte mich ganz fest. Was ich wunderbar empfand und mich so aus der Trübsal holte. Ich hatte danach irgendwie das Gefühl, dass mich meine Gedanken ohne diesen Vorfall, vielleicht an diesem Tage noch in Richtung Selbstmord getrieben hätten. Meine „platonische Tochter“ hatte mir so an diesem Tag möglicher Weise das Leben gerettet. Das „Innenverhältnis“ in der Villa war jetzt, Ende Juni 2000, neu geregelt worden und mit dieser Neuregelung war Sexus Lustus förmlich aus dem Haus getrieben worden. Hier fanden jetzt keine Orgien mehr statt und das Verhältnis Hausherr zur Hauswirtschafterin mit wöchentlichen Liebeslagern war durch eine Art Vater-Tochter-Verhältnis ersetzt worden. Man konnte also von geordneten Verhältnissen im Haus sprechen, was man vom „Außenverhältnis“ noch nicht sagen konnte. Dort war es nach wie vor chaotisch und da ließ sich sogar noch etwas draufsetzen. Nach wie vor stand die unsichtbare, zur Zeit unüberwindbare Mauer zwischen mir und meiner Familie. Zu oft hatte ich diese enttäuscht, so dass ich jetzt nicht einfach hingehen konnte um den reumütigen Sünder zu spielen; denen konnte ich noch nicht den Paulus, der aus dem Saulus hervorgegangen ist, vormachen. Nach wie vor war ich in der Öffentlichkeit so eine Art (moralischer) Aussätziger, dessen Nähe man meidet. Da kam dann noch die Berichterstattung im Waldheimer Kreisblatt hinzu, die zwar nur Walter H. und Lehrer B. schrieben, aber trotzdem wussten nur Neugeborene und gerade Zugezogene nicht, um wen es sich dabei handelte. Bei dem Spießrutenlauf draußen blieb ich dann doch lieber im Haus. Selbst meine Zigaretten, die ich mir bisher trotz allem immer selbst geholt hatte, ließ ich mir jetzt von meiner „Wahltochter“ Ramona mitbringen. Damals mussten wir feststellen, wie die sogenannte Öffentlichkeit Vorurteile aufbaut und mutmaßliche Täter vorverurteilt. Auch für Ramona war es nicht leicht sich in der Öffentlichkeit zu bewegen. Sie war für den Mob die „Dienerin der Sexbestie“. Es gab sogar sich erhaben dünkende Damen, die hinter ihrem Rücken den Kopf schütteln oder ausspuckten. Diverse Herren pöbelten sie mit ordinären eindeutigen Angeboten an. Sie glaubten wohl, dass „eine Pflaume die für eine Sexbestie arbeitet eine öffentliche Rutsche“ sei. Ich habe eben nur wiedergegeben, was tatsächlich wörtlich gesagt wurde. Ich wäre natürlich ein schlechter „Wahlvater“ gewesen, wenn ich Ramona nicht angeboten hätte mein Haus zu verlassen und bis zum Zeitpunkt, wo Gras über die Sache gewachsen ist, den Kontakt mit zu mir zu meiden. Sie dachte darüber erst mal eine Nacht nach und teilte mir dann ihre Überlegung mit: „Ach Walter, das Ganze würde nichts bringen und uns Beide nur noch zusätzlich schädigen. Die Leute haben uns verurteilt und da gehen die vor erst auch nicht von ab. Ob ich im Haus bleibe oder es verlasse spielt keine Rolle, die Leute würden mich so oder so gleich mies behandeln. Nachteil wäre, dass du dann wirklich alleine wärest, was ich bei deinem derzeitigen Zustand sogar für gefährlich halte und ich hätte keine schnelle Zuflucht hier im Hause mehr.“. Bezüglich Zuflucht bat sie mich darum jetzt auch samstags und sonntags mit den Kindern kommen zu dürfen. Abends wenn die Kinder im Bett wären, wäre es ja kein Problem sich in der eigenen kleinen Wohnung aufzuhalten, aber ein ganzes Wochenende könnte man den Kindern nicht antun. Hier hätten sie ja das große Haus und den Garten. Ich sah in meiner Zustimmung nicht nur
eine Verpflichtung sondern auch darin einen persönlichen Vorteil für mich – ich würde ein Wenig Leben um mich herum haben. Meine Überlegung, dass sie sich mit einem Ortswechsel der Sache entziehen könne tat sie mit einer logischen Überlegung ab: „Ortswechsel heißt Umzug, den ich aber nicht bezahlen kann und an einem anderen Ort müsste ich tatsächlich zum Sozialamt gehen und würde daran erst mal hängen bleiben. Ich habe keinen Beruf und zwei Kinder, die ich dann nicht bei der Oma „parken“ kann.“. Jetzt unterbrach ich sie mit dem Hinweis, dass sie sich hinsichtlich Kosten und Lebensunterhalt keine Gedanken machen brauche, da ich den Schaden angerichtet hätte und diesbezüglich auch dazu stehen müsste und würde. „Ach Walter, mein Väterchen,“, wandte sie ein, „das wäre die schlechteste Lösung. Ich würde lange an deinem Tropf hängen ... und wer weiß was noch alles passiert. Und dann denke mal daran, was passiert wenn jemand, auch an einem neuen Ort, erfährt wo meine Unterhaltsquelle sprudelt. Dann werde ich als Millionärsdirne oder Erbschleicherin abgestempelt. Dann habe ich das derzeitige Theater hier nur dauerhaft an einen neuen Ort exportiert. ... Und was ich eben noch sagen wollte: Ortswechsel heißt Lebensumfeldwechsel. Alle Bekannten und Freunde lässt man zurück und muss sich neue suchen. Das wäre nicht schlimm wenn es nur mich betreffen würde, ich würde schon schnell neue Leute finden. Aber was ist mit den Kindern, für die das ja auch gilt? Und meine Mutter? Im Moment kommt die auch trotz Dialyse ganz gut alleine klar. Aber was ist, wenn es ihr irgendwann, hoffentlich nicht so schnell, mal schlechter geht und ich weiter weg bin ... Wenn ich in der Nähe bleiben würde gäbe das Ganze ja keinen Sinn. Und Mutti mitnehmen? Das heißt neue Ärzte, neuer Dialyseplatz und, und, und .... . Nein Walter, Weglaufen ist keine Lösung, da müssen wir durch. Zum Glück werden heutzutage laute Töne sehr schnell immer leiser und wenn dann was anderes passiert denkt fast keiner mehr daran. Hier bleiben und die Wunden von der Zeit heilen lassen, ist die wahre Lösung.“. Nachträglich gesehen muss ich sagen, dass sie damals recht hatte. Dann gab es noch meine fixe Idee vom neuen Toppjob, den ich bis zu diesem Zeitpunkt nicht aufgegeben hatte. Seit Februar hatte ich nur gelegentlich so nebenbei in diese Richtung etwas unternommen. Ein Hauptgrund lag im Bruch mit meiner Familie. Immer wenn ich das Gefühl hatte, dass ich ohne schriftliche Unterlagen nicht weiter käme, gab ich schon vor dem Start auf, da ich für Rosi keinen Ersatz hatte. Andererseits hatte ich mich teilweise gar nicht darum gekümmert weil ich mit meinen ungestümen Lebenswandel überbeschäftigt war. Jetzt kam noch hinzu, das zumindestens im lokalen Umkreis, der Letzte mit der Nase auf mein Handeln gestoßen worden ist. Als Spitze sitzt jetzt noch Verführung und Unzucht mit Minderjährigen obendrauf. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses in den Kreisen in denen ich mich früher bewegte, die Runde macht ist sehr groß. So leid es mir tut aber ich würde, ehrlich gesagt, niemanden als Pförtner einstellen der im Verdacht steht ein Sittenstrolch zu sein? Und so einer will sich noch um eine Toppposition bewerben? Und sollte ich mal, so wie ein blindes Huhn das Korn, was finden gibt es bestimmt einen Schreiberling der die Geschichte aus der Mottenkiste meines Lebens holt. Ich war also vor die Wand gefahren; es war vorbei. Jetzt war ich praktisch schon ausgestiegen worden und hatte es nur im Bewusstsein noch nicht nachvollzogen. Aber mit Bewerbungen beschäftigte ich mich ab diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mehr. Aber was nun? Ramona hatte nun wirklich alles was man putzen konnte mehrfach gründlich geputzt. Ich brauchte mich nicht mehr um die Organisation von Rudelbumsveranstaltung kümmern und mit Bewerbung hatte ich auch nichts zu tun. Sollte ich mich nun den ganzen Tag zusammen mit Ramona in die Villa setzen und während eines Schwätzchens Däumchen drehen? Da erwies es sich dann als günstig, dass die Kinder kurz vor der Monatsmitte in die großen Ferien gehen konnten. Wir stiegen in dieser Zeit Tag für Tag zu Viert in meinen Wagen und fuhren aus dem Kreis Waldheim davon. Wir besuchten Ferienparks, Jahrmärkte und Zoos. Besichtigten Burgen und Schlösser. Fuhren an Talsperren und Seen sowie auch bis zur Nordsee. In Waldheim waren uns die Kinder ein Schutzschild vor böserem Gerede und außerhalb des Kreises gab ich die Drei ohnehin als meine Familie, also als meine Tochter und meine Enkel, aus. Wir hatten uns darauf verständigt, dass mich Ramona dann immer mit Vati und die Kinder mit Opa anreden sollten. Das ging uns letztendlich so in Fleisch und Blut über, dass es auch zu Hause bei diesen Anreden blieb. Wäre nicht unsere üble Vorgeschichte gewesen, die uns natürlich belastete, hätte man von einer rundherum schönen Zeit sprechen können. Für Ramona war diese Zeit so ein lebensänderndes Schlüsselerlebnis, wie ich mich in meinem Fall ja schon darüber ausgelassen habe. Als wir an der Nordsee waren und dort einen Strandbummel unternahmen, hing sich Ramona, während die Kinder voraus tobten, an meinem Arm an. Inspiriert von den Oben ohne sonnenden Frauen sagte Ramona: „Du Vati, wo ich da nackte Busen sehe, fällt mir auf, dass ich jetzt schon drei Monate nichts gebraucht habe, wovon ich früher glaubte, dass ich ohne dem vor Triebhaftigkeit verrückt würde. Aber auch davor hatte ich, seit dem ich damals beim Gruppensex ausstieg, nur mit dir geschützten Verkehr. Ich glaube ich brauche meine Bettgeschichten gar nicht. Das war alles Einbildung aus meiner Teenagerzeit. Ich kann mir jetzt auf einmal vorstellen, ganz monogam zu leben. Sonderbarer Weise kann ich mich auf einmal in der Rolle einer guten Ehefrau versetzen.“. „Dann mal auf, suche dir den richtigen Mann.“, gab ich ihr lächelnd zur Erwiderung, was sie dann aber mit „Nur nicht so schnell mit den jungen Pferden, ich brauche ja nichts zu überstürzen“ ein Wenig abtat. An dieser Stelle greife ich mal ein Wenig bis jetzt, September 2001, vor: Mir ist bis heute nicht bekannt, dass Ramona es noch einmal mit Abenteuern versuchte. Ostern dieses Jahres hat sie einen sehr netten und soliden 33-jährigen kennen gelernt, mit dem sie jetzt – immer noch in getrennten Wohnungen – zusammen ist. Es hat allen Anschein als würden die Beiden in absehbarer Zeit im Hafen der Ehe enden. Angedeutet hat sie dieses vor Kurzem allemal.
Nach den großen Ferien organisierte ich dann auch das Leben in der Villa neu. Ramona und auch die Kinder kamen jetzt täglich, auch am Wochenende, zu mir. Natürlich ließ ich meine Wahltochter jetzt nicht putzen und waschen, nur damit sie beschäftigt war, sondern wir gingen eher familiären Beschäftigungen, wie Gesellschaftsspiele, gemeinsames Fernsehen, im Garten herumtollen und auch diesen oder jenen Ausflug, nach. Dadurch kam in Waldheim, wo es um die alte Sache wie erhofft fast ruhig geworden war, zu einem neuen Gerücht: Man erzählte sich, dass wir eine Familiengründung beabsichtigen. Bei diesem Gerücht stand dann bei den professionellen Tratschen immer der gewaltige Altersunterschied zwischen mir und „meiner Braut“ im Vordergrund. Da wir uns auch wieder ohne verbale Hemmungen auf die Straße trauen konnten, wo uns auch die Meisten wieder grüßten, wurden wir auch Hin und Wieder direkt auf unsere Familienplanung angesprochen. Unter anderem wurde Ramona von meiner Schwiegertochter dahingehend interviewt. Silvia fragte, als sie Ramona auf dem Parkplatz eines Baumarktes traf, wann wir zu heiraten beabsichtigten und ob dann aus diesem Anlass die gleichaltrigen Schwiegermutter und –tochter gemeinsam einen Familienversöhnungsversuch starten sollten. Zu einem Versöhnungsversuch war Ramona natürlich bereit – zu jeder Zeit sogar – aber mit der Hochzeit musste sie Silvia wahrheitsgemäß enttäuschen: Ich sei zu ihr wie ein Vater und zu den Kindern wie ein Opa, sonst wäre nichts zwischen uns. Dann hat Ramona Silvia auch verraten, dass, wenn der Richtige vorbeikäme, sie sich den in den Ehehafen holen wolle. Jetzt hatten wir den Zeitpunkt, wo wir, wenn nichts gravierendes passieren würde, einem Happy End zugesteuert wären. Aber wieder mal hieß es: „Denkste“. Wir müssen noch ein paar Kapitel auflegen. Zum Kapitel 25
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Mitbringsel aus dem Loveparadies Wie oft haben Sie schon den Ausspruch „Damit kann ich von Heute auf Morgen aufhören“ gehört? Wer tätigte den diesen Ausspruch? War es jemand der dem Alkohol, den Zigaretten, der Nascherei, dem Kokain oder sonst was absagen wollte? Waren Sie vielleicht selbst derjenige der diese Aussage tätigte? Dann kann ich ja fragen was daraus geworden ist. Von Heute auf Morgen hat es bestimmt nicht geklappt. Wenn, dann war das doch immer eine etwas härtere Angelegenheit. Bei der Aufzählung der Dinge, mit denen aufhören möchte, habe ich eine Sache, die mich ganz besonders betraf, noch nicht genannt: den Sex. Ursprünglich, an dem Montag nach meiner letzten Orgie, hatte ich die Vorstellung übergangslos eine längere Zeit ähnlich wie ein Eremit leben zu können. Aber ganz so einfach wie ich mir das erst dachte war das gar nicht. Da rührte sich doch von Zeit zu Zeit einiges; mal mehr und mal weniger. Dieses, obwohl ich schon längst gemerkt hatte, das die rein körperliche Abbefriedigung von Urempfindungen, also wenn das geistige Band der Liebe fehlt, eher zu einer Art Unzufriedenheit führt. In der heutigen Zeit, wo bei vielen Menschen der jeweils höchste Funfaktor das höchste anzustrebende Ziel zu sein scheint, ist es für Leute, die deutlich mehr als man zum Leben braucht haben, ein leichtes sich bei Bedarf Gespielinnen für jede Art und Abart anzuheuern. Natürlich können sich auch Frauen beliebig Lustboys zulegen; die brauchen allerdings noch nicht einmal ein genügend aufgefülltes Konto. Damit man mir jetzt nicht zu Hauff an den Hals springt, stelle ich klar, dass diese, zu jeder privaten Prostitution bereiten Menschen zum Glück nicht die Mehrheit bilden, auch nicht wenn einen diverse Medienprodukte diesen Eindruck suggerieren wollen. Die Mehrheit unserer Bevölkerung ist solider als sie das selbst zugibt. Mit „privaten“ Lustgewinnveranstaltungen hatte ich ja inzwischen genügend Erfahrungen gesammelt und diesbezüglich war für mich Schluss, endgültig Schluss. Das gilt bis zum heutigen Tage wo ich diese Zeilen schreibe – beziehungsweise diktiere – und auch, so glaube nicht nur ich, bis in alle Ewigkeit. Neben privaten Amüsement gibt es aber noch gesellschaftlich akzeptierte gewerbliche Unternehmungen: Bordelle. Während meiner Zeit als Orgienveranstalter empfahl man mir den Club Loveparadies in Holensiep, einem kleinen Ort etwa 80 bis 90 Kilometer von Waldheim entfernt. Dieser Swingerclub sollte ordentlich geführt und sauber sein. Der kleine Geck des Hauses war, dass die Herren kräftig zur Kasse gebeten werden und die Damen sich kostenlos prostituieren dürfen. Bei den „mitwirkenden“ Herren handelt es sich, bedingt durch den Preis, um Angestellte ab der Abteilungsleiterebene über höhere Beamte bis zu Unternehmern und Managern. Die Damen kamen auch aus unteren oder untersten Einkommensschichten. Das waren zu einem Teil biedere Hausfrauen, die mal für ein paar Stunden oder eine Nacht Urlaub vom nüchternen Ehealltag machen wollten sowie auch eine Menge Singles, die gerne von einem Millionär als Mitbringsel aus dem Loveparadies mitgenommen werden wollten. Na ja, deren Chancen standen allerdings nicht gut, denn als lüsterner Mann nimmt man sich mal ganz gerne eine Nutte oder ein Flittchen, aber bestimmt nicht zum Zwecke der Heirat. Die Damen sollten mal hören, wie man sich in gewissen Kreisen hinter verschlossenen Türen über sie unterhält. Als ich Mitte August 2000 mal einen solchen, vom Urtrieb bis heute übertragenen Drang verspürte zog ich in Erwähnung diesem Loveparadies mal einen Besuch abzustatten. Da ich nun oft genug im Leben erfahren hatte, dass ich mich mit klammheimlichen Spontanaktionen immer selbst auf die Nase gelegt hatte, zog ich es, mich sogar dabei schämend, vor zuvor mit Ramona darüber zu sprechen. Eines stand für mich fest, nämlich dass ich, wenn sie mir abgeraten hätte, dort weg geblieben wäre. Aber im Gegenteil, meine Wahltochter brachte für mich Verständnis auf. Sie fand es richtig, dass ich nicht irgendeinen chaotischen Unfug treiben und mich eines solchen Etablissement bedienen wollte. Ich führte noch meine Bedenken hinsichtlich meines Ansehens bei ihr an und sie tröstete mich: „Vati, ... das sage ich jetzt ganz bewusst, denn gegenüber einer leiblichen Tochter habe ich den Vorteil gehabt, dass ich mir meinen Vater ganz bewusst aussuchen konnte. Dabei habe ich seine Vorzüge und Schwächen, seine guten und schlechten Seiten, seine menschlichen Schwächen und Stärken, gekannt und bewusst akzeptiert. Vati, bei dir überwiegen deine Vorzüge, deine guten Seiten und deine Stärken. Und ohne deine Schwächen gäbe es die Stärken auch nicht oder man würde diese nicht erkennen können. Und welcher Mensch hat keine Schwächen? Was soll ich als ehemaliges Betthupferl denn dazu sagen?“. Damit hatte sie mir die Angelegenheit praktisch angeraten, die zu ... Stopp, jetzt darf nicht gleich zu viel verraten werden sonst macht das Lesen keinen richtigen Spaß mehr. Ramonas Zustimmung mag wahrscheinlich mit der unterschwelligen Zustimmung zum Rotlichtmilieu in der Gesellschaft zusammen hängen. Im Grunde sind Bordelle aller Art nur Unternehmungen mit denen man viel Geld machen will und auch kann. Gesellschaftliche Bedeutung haben solche Häuser kaum. Oft hört man die LieschenMüller-Meinung, dass man überall Puffs einrichten solle, da dieses besser sei als das Frauen vergewaltigt würden. Kriminologen sagen einen jedoch, dass es den Vergewaltigern primär um die Ausübung der Macht über ihr Opfer geht. Das können sie in einem Bordell aber nicht, im Gegenteil sie sind das zahlende Opfer. Dann gibt es Leute, die der Meinung sind, das „ordentliche“ Huren Ehen retten könnten, da seitensprungbedürftige Ehemänner dort zu ihrer Lust kämen ohne dass es lange anhaltende Folgen hätte. Eben, der Seitensprung ist erst durch die Eroberung, bei der es dann naturgemäß auch mal funken kann, interessant. Eine Dirne kann man kaufen, dass ist keine Eroberung; da lässt man sich befriedigen und geht wieder nach Hause. Jetzt könnte ich noch ellenlang Beispiele aufführen, wo der Volksglaube pro Puff nicht zutrifft. Es handelt sich ausschließlich um ein Geschäft wie fast jedes andere auch. Das „fast“ können wir uns dann sparen, wenn wir das „Gewerbe“ das Mäntelchen „Unsittlichkeit“ entreißen und es so aus der Halbillegalität
heraus holen. So lange das Wort „sittenwidrig“ in diesem Zusammenhang fällt, fördert es, so sehe ich das jedenfalls, krumme Geschäfte oder gar Verbrechen, da durch dieses ein eigentlich normaler Berufsstand ins Halbdunkel oder gar ins Dunkel abgedrängt wird. Die Kriminalität schätzt die Dunkelheiten; da fallen schmutzige Westen nicht so sehr auf. Aber jetzt mal weg von dem Theoretisieren zum ältesten Gewerbe und weiter zu dem Bericht, der mich und das Loveparadies in Holensiep betrifft. Es war ein Dienstag oder Mittwoch als ich mich erstmalig ins „gelobte Land“ aufmachte. Ich hielt die Tage von Montag bis Donnerstag angebrachter wie die restlichen drei Wochentage, da man außerhalb des Wochenendes weniger auf Angehörige der arbeitenden Bevölkerung, die hierfür ein Monatsgehalt angespart haben oder leichtfertig für eine vermeintliche Sause ausgeben, trifft. Dahinter steckt jetzt kein Klassenkampf sondern eine eher nüchterne Überlegung. Arbeiter, Angestellte und kleine Beamte sind in der Regel gesellschaftlicher freier als höhere Schichten. Die können schon mal in netten Runden, in der Kneipe oder auf Privatpartys, mit ihren Erlebnissen im Rotlichtmilieu renommieren und damit ihren Beitrag zur allgemeinen Unterhaltung, zur fröhlichen Stimmung leisten. Die Toppleute aus Politik und Wirtschaft unterliegen da doch einigen Zwängen, da setzt man sich doch lieber eine Tarnkappe auf und schweigt lieber darüber. Für mich wäre es ja eigentlich egal gewesen, denn mein Ruf war dahin und ich hätte ungeniert leben können – so will ich mich mal frei nach Wilhelm Busch ausdrücken. Meine Motivation war, dass nicht durch „Gequatsche“ meine Rehabilitation gegenüber meiner richtigen Familie und auch meiner Wahlfamilie gefährdet sehen wollte. Also hieß es: Freitags, samstags und sonntags nie. So brach ich dann an dem betreffenden Tag, nachdem Ramona mit den Kindern das Haus verlassen hatte, mit gespannter Neugierde in Richtung Holensiep auf. Auf der Fahrt begleiteten mich die Fantasien darüber was ich gern erleben möchte und wie, insbesondere die Frauen, gebaut sein müssten um meinen höchsten Wollustfaktor anzuregen. So kam es, dass ich seit langer Zeit zum ersten Mal wieder an meine erste Frau, an Anni, denken musste. Aus meiner Sicht war sie das Traumbild von einer Frau, mit der kein Toppmodell mithalten konnte. An zweiter Stelle dachte ich an Frauen von Typ meiner zweiten sexy Frau und jetzigen Schwägerin. Rosi hat perfekte Rundungen und Pölsterchen an den Stellen wo sie hingehören. Jetzt ist es ja so, das kein Mensch so hundertprozentig sein kann, dass sich die Traumvorstellungen vom Ideal in vollkommener Kongruenz mit der Realität decken können. So entstand dann in meinem Kopf das Bild einer Wunschsexualpartnerin, die alle Vorzüge von Anni und Rosi in sich vereinigte und dabei auch noch frei von den kleinen Dingen waren, die bei meinen Frauen nicht so geraten waren wie ich es erträumte. Nun, sexuelle Fantasien sind was normales und die dürfte ein jeder sicherlich auch schon mal gehabt haben. Der Nachteil dabei ist, dass man später gehörige Diskrepanzen zwischen Traum und Wirklichkeit feststellen muss und einen diese dann, wenn es soweit ist, zu schaffen machen. Dieses unvermeidlichen Diskrepanzen sind es, die in einem später die Unzufriedenheit aber auch die Hoffnung, dass es nächste Mal besser sein wird, hochkommen lassen. Damit erkläre ich mir, dass ich, obwohl es mir nie richtig gefallen hatte, mich anschließend mehrmals an diesen Ort begeben habe. Jetzt bin ich ein Wenig von meinen Erwartung vor dem Puffbesuch auf das Ergebnis solcher Besuche gesprungen. Dieses geschah aus dem mittelbaren Zusammenhang zwischen Vorstellung und besagtem Ergebnis und nicht um deshalb, um das, was dazwischen lag zu verschweigen. Das Loveparadies befand sich in einem ehemaligen Dorfbahnhof an einer vor Jahren stillgelegten Bahnstrecke und sah äußerlich so aus, wie die meisten Gebäude dieser Art in der Republik. In den Hochzeiten des Schienenverkehrs wurde offensichtlich immer nach dem gleichen Geschmacksmuster gebaut, was allerdings den Vorteil hatte, dass man solche Stationen in einer fremden Gegend sofort erkannte, auch wenn keine Schriftreklame auf den Zweck des Hauses hinwies. Für mich hatte es an diesem Tag den Vorteil, dass ich das Etablissement, von dem ich nur wusste, dass es sich um ein solches Gebäude an der Hauptstraße kurz vor dem Ortseingang Holensiep handelte, sofort fand. Auf dem neben dem Gebäude gelegenen Parkplatz, der ein Wenig durch Wildwuchsbüsche vor dem direkten Zublick von der Straße geschützt war, standen bei meiner Ankunft bereits einige Wagen der gehobenen Mittelklasse, von denen die meisten zu meinem Schrecken das Kennzeichen des Kreises Waldheim hatten. Da fährt man nun fast 100 Kilometer damit man nicht erkannt wird und trifft letztendlich dann doch möglicher Weise auf Bekannte. Wenn ich vorher ein Wenig meinen Denkapparat benutzt hätte wäre das logisch gewesen, denn wo wurde mir denn der Laden empfohlen? Nachdem ich geschellt hatte öffnet mir der „Geschäftsführer“, ein Mann vom Typ des kahlköpfigen Wirtshausschlägers, und verkaufte mir erst mal eine Clubabendkarte. Seinen Titel habe ich in Anführungsstriche gesetzt, weil man beim Abgleich seines Körperbaues mit seinem offensichtlichen Intellekt darauf schließen kann, dass er doch eher mit handfesten Ordnungsaufgaben als mit Aufgaben der Geschäftsführung beschäftigt sein muss. Als zweites lernte ich eine der beiden Hausdamen kennen. Beide waren so um die Fünfzig und gaben auch ehrlich zu, dass sie in jüngeren Jahren ihr Geld mit ausgebreiteten Beinen im horizontalen Gewerbe verdient haben. Die Dame führte mich in meine Kabine, in der ich mich vollständig entkleiden sollte. In dieser sollte ich dann auch vor Eintritt in das Gesehen eine mir zugeteilte, nach Samt aussehende, venezianische Augenmaske aufsetzen. Eigentlich ein Blödsinn, der in keiner Weise eine Art diskreter Anonymität herstellt, denn ich erkannte, als ich in den Gesellschaftsraum kam, sofort das Optikerehepaar und eine weitere Dame, die auch oft auf meinen Partys anzutreffen waren, sofort. Das dieses nicht einseitig war wurde mir schon dadurch bewiesen, dass mir die Optikerin so nebenbei mal zuflüsterte, dass es im Loveparadies nicht so schön wie in meinem Hause sei.
Na ja, was die Besucherrinnen anbelangte waren darunter weder Schönheitsköniginnen noch Sexbomben; alles biederer Durchschnitt. Für Herren interessiere ich mich nicht so sehr und habe da nicht so genau hingesehen. Das aber dabei stolze Besitzer von kleinen Schmierbäuchlein waren ist mir dabei trotzdem nicht entgangen. Und an dem Abend lief das ab, was man auf meinen ehemaligen Partys auch erleben konnte. Jeder trieb es praktisch mit jeder, mal zu Zweit in einer Nische, mal zu Mehrerenden und mal öffentlich im Gesellschaftsraum vor den Augen anderer. Es gab auch Kätzchen die es mit Kätzchen trieben und genau so Kater mit Kater, ersteres so gar häufiger. Mit das Einzigste wo hier peinlich genau darauf geachtet wurde war die gegenseitige Freiwilligkeit. Niemand durfte zu etwas gezwungen werden was er nicht wollte. Bei einem Besuch wurde ich mal Zeuge, wie der Geschäftsführer jemand, der eine Besucherin zu Analverkehr zwingen wollte, doch etwas brutal vor die Tür setzte. Was die, bei der Empfehlung gerühmte, Sauberkeit anbelangte muss ich sagen, dass es nicht schmutzig war aber das ansonsten Ruhm und Realität doch etwas voneinander abwichen. Alles in Allem muss ich sagen, dass sich Besuche in solchen Häusern beim besten Willen nicht lohnen. Ich habe dort bei wohlwollenster Betrachtung nicht das gefunden, was ich gesucht habe. Wie man aus der bisherigen Niederschrift meines Lebens ersehen kann, bin ich nicht der Mensch, der immer gleich die richtigen Konsequenz zieht. Wenn ich mir heute überlege, dass ich unter diesen Voraussetzungen mal anerkannter Toppmanager war, komme ich zu dem Schluss, dass einige Qualitäten, die man diesem Berufsstand andichtet, doch wohl nicht in dem Maße, wie man Glauben machen möchte, vorhanden sein müssen. Na ja, es genügt ja wenn man Fehlentscheidungen Anderen zuschreiben und diese dafür zur Verantwortung ziehen kann. Wie sonst könnte Politik und Wirtschaft mit dem überwiegenden Anteil an nur durchschnittlich intellektuell Begabten funktionieren. Denken wir doch nur mal an den Mann, den fehlfunktionierende Maschinen und republikanisch parteigehende Richter zum Präsidenten der USA gemacht haben, also an den berühmten „Dabbel-Ju“. Wem interessiert schon der wirkliche Wählerwille wenn ergebnisverfälschende Maschinen George W. Bush zum Nutzen und Frommen der Ölprinzen ins Präsidentenamt gehievt haben. Der Sache halber kann man ja zeitweilig mal die Demokratie außer Kraft setzen. Aber von der großen Politik zurück zum Loveparadies in Holensiep. Von meinem ersten Besuch gibt es auch nichts Weiteres mehr zu berichten, es sei denn ich wollte mich als Pornograf betätigen und jetzt ausführlich beschreiben was die Leute wie gemacht haben. Das ist aber schöner, wenn man sich das in seiner Fantasie selber ausmalt. Behaupt, von keinem Besuch kann ich Großes oder Bewegendes berichten. Lediglich, dass ich es bei meinem zweiten Besuch mit einer Portugiesin zutun hatte, bei der ich viel Übereinstimmung zu meiner dritten Frau Carmen, bevor sie auseinander ging, feststellen konnte. Der große Unterschied der Besucherin zu Carmen war, dass diese nicht lesbisch sondern hetero war. Das erklärt vielleicht die Tatsache, dass ich es an diesem Abend fast ausschließlich mit ihr trieb, weil ich mir von ihr das, was ich von Carmen nicht kriegen konnte, holen wollte. An diesem Abend konnte ich allerdings noch nicht wissen, dass diese Begegnung mein Leben wohl am nachhaltigsten ändern sollte. Jetzt könnte man voreilig schließen, dass ich mir später diese Dame als Mitbringsel aus dem Loveparadies geschnappt hätte. Aber Irrtum ich habe die Portugiesin nur an diesem Abend und sonst nicht getroffen. Aber die eine, zunächst unbedeutend angesehene Begegnung reichte für .... . Keine Angst, gleich verrate ich die Auflösung. Zwischen meinem ersten, zweiten und dritten Besuch lagen jeweils 14 Tage und dann verdichtete ich diese Geschichte auf wöchentlich. Als ich dann in der zweiten Oktoberwoche meinen Besuch im Loveparadies machen wollte erlebte ich eine deftige Enttäuschung. Ich war über eine Stunde gefahren und fand den alten Bahnhof vollkommen unbeleuchtet vor. Der Parkplatz war, nachdem ein anderes Fahrzeug diesen verlassen hatte, leer. Also, das war jetzt nicht ganz korrekt, den jetzt stand mein Wagen darauf. Obwohl das Ergebnis logischer Weise negativ sein musste, klingelte ich an der Tür. Aber nichts, kein Mensch meldete sich. „Die hätten auch was sagen können, dass die heute zu haben“, ärgerte ich mich und ging wieder zu meinen Wagen. Als ich vom Hof fuhr, gab es die gleiche Szene wie zu Beginn, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Ich fuhr vom Platz und ein anderes kam von der Straße herein. Ganz offensichtlich war ich nicht der Einzigste, der nicht informiert worden war. Na ja, wenn ich nicht am Dienstag der Befriedigung meiner Urtriebe nachkommen kann, dann versuche ich es halt am Mittwoch noch einmal. Also fuhr ich am nächsten Tag noch einmal zum Loveparadies. Und wieder das gleiche Ergebnis: Alles zu. Das wollte ich genau wissen, schnappte mir mein Handy und erfragte bei der Auskunft die Nummer unseres swingenden Optikerpaares. Als ich diese angewählt und mich gemeldet hatte, tönte der Angerufene gleich: „Schöne Scheiße, was? Auch schon beim Aidstest gewesen?“. Ich verstand jetzt so viel als habe er Suaheli gesprochen und bat um Aufklärung. Unser Optiker erzählte mir dass das Haus auch gewerbliche Damen beschäftigt habe. Immer wenn nicht genügend Hausfrauen lustbereit standen mussten diese einspringen. Natürlich wäre dort alles in Ordnung gewesen. Alle Damen wären gemeldet gewesen und hätten einen sogenannten Bockschein gehabt. Wegen des Scheines müssen die leichten Damen dann regelmäßig beim Gesundheitsamt antanzen. Bei der Gelegenheit habe man Letztens zwei der Professionellen HIV-positiv getestet. Die eine infizierte Dame sei eine Deutsch-Russin und das andere eine Portugiesin und unser Optiker meint er habe es bereits mit beiden getrieben. Hatte er offensichtlich auch, denn sowohl er wie seine Frau erhielten später, nach dem sie sich haben testen lassen, einen entsprechenden Schreckensbescheid. Sie hatten sich also Aids als Mitbringsel aus dem Loveparadies zugelegt. Jetzt müsste man eigentlich mit dem Kopf schütteln. Da wird seit Jahren intensive Aidsaufklärung betrieben und man weiß das Bordelle ein ideales Pflaster für die HIV-Population sind. Sogar im Eingangsbereich des Loveparadies hing
ein großes Plakat mit der Aussage „Kondome schützen“. An der Bar gab es neben Drinks auch ein umfangreiches Sortiment dieser Gummischützer. Der Geschäftsführer verteilte auch gerne Werbemuster. Erst letzte Woche erhielt ich ein Muster mit der Aufschrift „your personal safety“ und der Werbung einer Krankenkasse. Aber was machen alle Leute, mich selbst eingeschlossen? Sie kämpfen alle nach alter Haudegenart mit der blanken Waffe. Jetzt weiß ich natürlich nicht, ob die beiden Damen und das Optikerpaar die einzigsten Aidsopfer waren; wahrscheinlich ist jedoch, das es andere auch getroffen hatte. Über solche Dinge dachte ich nach als ich zunächst noch völlig unbekümmert zurück nach Waldheim fuhr. Zwischendurch fiel mir jedoch etwas ein, dass mich dann in einen Schockzustand versetzte. Diese eine betroffene Professionelle, diese Portugiesin, war das nicht die Dame mit der ich es am zweiten Abend so hatte? Wie ein Schlag vor dem Kopf wirkte der Gedanke: „Mein Gott, jetzt ist alles vorbei. Ich habe bestimmt auch Aids.“. Ich konnte nicht mehr weiterfahren und fuhr rechts ran. Ich stieg aus um mir frische Luft zu verschaffen. Da sah ich die Leuchtreklame einer Gaststätte, die ich darauf erst mal anstrebte. Außer der Wirtin waren nur noch zwei Herren, offensichtlich Stammgäste, anwesend. Irgendwie fühlte ich mich von dem Gespräch der Beiden getroffen obwohl die mich nicht kannten und daher mich auch nicht meinen konnten. Sie hatten von der Geschichte um das Loveparadies in der Zeitung gelesen. Beide waren der Meinung, dass ihnen da nichts hätte passieren können, da sie nicht das Geld für solcherlei Vergnügen hätten. So etwas könnten sich nur „Geldsäcke“ leisten, die zwar immer groß täten aber im Grunde auch nicht mehr könnten. Es wären halt alles nur Menschen und das würde sich bei denen auch in ihrem Umgang mit Wein, Weib und Gesang zeigen. Wenn ich den Mund aufgemacht hätte, hätte ich denen mit meinem eigenen Beispiel die Richtigkeit ihrer Thesen bestätigen können. Nach dem dritten Bier zahlte ich und setzte mich zur Fortsetzung der Heimfahrt in meinen Wagen. Kurz vor Waldheim traf mich mein Unglück zum zweiten Mal an diesem Tag. Ein rotes Licht an einer Kelle, die von einem Polizisten geschwenkt wurde, zwang mich zum rechts ranfahren und anzuhalten. Ich hatte nichts getan; es handelte sich nur um eine Standardmausefalle. Der Beamte schnupperte in den Wagen und konnte mit seinem offensichtlich guten Riecher noch einen Hauch von den drei Bieren, die ich zwischendurch getrunken hatte, wahrnehmen. Jetzt durfte ich erst einmal pusten, was zu seiner anschließenden Belehrung führte: „Da haben sie aber noch einmal Glück gehabt. Sie liegen knapp über 0,5 Promille. Wenn wir jetzt Anhaltspunkte für eine Fahruntüchtigkeit hätten wären sie fällig. Dann wären ihnen 6 Punkte in Flensburg, Geldstrafe und ein Führerscheinentzug, also alles das, was es früher erst bei 0,8 gab, sicher gewesen. Wie ich ihrem Kfz-Schein entnehmen kann haben sie es ja nicht mehr weit. Also begeben sie sich jetzt schnellstens nach Hause und lassen den Wagen stehen.“. Na ja, mit der Pustetüte hatte ich Glück gehabt, was ich mir in Sachen Aids leider nicht erhoffte. Zu Hause angekommen war ich so „erschossen“, dass ich mich gleich ins Bett legte. Aber geschlafen habe ich in dieser Nacht nur Wenig. Mir schossen alle Dummheiten und Fehler meines Lebens, was ich jetzt zuende gehen sah, durch den Kopf. Unter anderen dachte ich auch an Anni und an die Umstände des Tages an dem sie starb. So ist es mir bei nüchterner Überlegung auch erklärlich, dass sie mir ausgerechnet in dieser Nacht im Traum erschien. Was sich allerdings nicht so leicht beantworten lässt, ist die Frage warum ich mich an diesem Traum so detailliert erinnern kann. Normaler Weise weiß ich nur dass ich geträumt habe und bestenfalls noch irgendwelche unerklärlichen Fetzen aus der Vision. Aber den Anni-Traum kann ich sonderbarer Weise genau wiedergeben. Ich lief vollkommen nackt über Steine und Schotter. Dabei kam ich nicht so recht vorwärts und den Untergrund, auf dem ich lief, spürte ich nicht. Von Oben kam ein Komet mit einem langen Schweif wie eine Rakete auf mich zu. Als er vor mir einschlug stand da die wunderschöne Anni in einem durchsichtigen Tüllkleid, umgeben von gleißendem Licht. Mit ihrer wohligen, schüchtern wirkenden Stimme sagte sie: „Walter, jetzt läufst du auf den Vulkan, jetzt kann dich keiner mehr aufhalten. Wenn du oben ankommst wirst du in den Krater springen. Aber ich habe dir ja versprochen, dass ich dich auffangen werde und dich in die Arme der Frau legen werde, bei der du sicher sein wirst. Ich kann sie immer noch nicht erkennen, aber deine Kinder werden mir den Weg zeigen.“ Jetzt wurde ihr Kleid dichter und undurchsichtiger während das Licht immer greller wurde; es tat schon richtig in den Augen weh. Danach lag ich dann urplötzlich wieder wach in meinem Bett. Obwohl ich nicht daran gedacht habe knüpfte der Traum an Annis eigenen, den sie mir in ihrem Abschiedsbrief geschildert hatte, an. Obwohl ich nichts von Esoterik und anderem Hokuspokus halte, beschäftigte ich mich nun den Rest, der nur noch kurzen Nacht, mit der Deutung dieses Traumes. Bei diesen Überlegungen krallte ich mich insbesondere an der Sache fest, dass sie praktisch nackt nur mit sehr durchsichtigen Tüll vor mir gestanden habe und ich darauf wie ein sexuelles Neutrum reagiert hatte. Nichts rührte sich bei mir, nichts ist angeregt worden. Das war mir bei einem unbekleideten Frauenkörper noch nie passiert. Ob das damit zusammenhing, dass ich jetzt an Aids zugrunde gehen würde? Und der zweite Punkt der mir zudenken gab, war die Sache, dass Anni von meinen Kindern, also Plural, gesprochen hatte obwohl es doch als einzigsten Nachfahren der Heuerbrüder nur noch Hendrik, mein und Rosis Sohn, gab. Als am Morgen Ramona kam war ich einerseits froh, dass die Nacht herum war und andererseits etwas bestürzt, dass ich jetzt aufstehen musste, denn ich fühlte mich erschlagen und schlapp. Meinen bedauernswerter Zustand, der mit absoluter Appetitlosigkeit verbunden war, wurde natürlich von meiner Wahltochter sofort bemerkt. Da ich ihr die Wahrheit unterschlug, schloss sie auf eine schwere Grippe und schickte mich wieder ins Bett, wo sie mich tagsüber
bestens versorgte. Sie leistete mir auch viel Gesellschaft im Schlafzimmer; aber es blieb dabei dass sie meine Tochter war, mit der man nicht verkehrt. Heute hätte ich für die Verkehrsmeidung noch einen anderen, wesentlich triftigen Grund gehabt. Als mir das zwischendurch ein- und auffiel, war ich recht froh, dass ich seit langem diesbezüglich mit Ramona nichts gehabt habe. Zum Kapitel 26
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Abgang von der Lebensbühne Der Reformator Martin Luther sagte mal, dass er, wenn er wüsste das Morgen die Welt untergehen würde, heute noch einen Apfelbaum pflanzen würde. Für ihn ging es dabei um Gottvertrauen in Auslegung des Bibelspruches: „Sorget euch nicht. Seht ihr die Vögel unter dem Himmel? Sie sorgen sich nicht und unser himmlischer Vater ernährt sie doch.“. Es ist eine Eigenart des Menschen, dass er sich bestimmte einzelne Aussagen, die ihm geeignet scheinen, isoliert herauspickt um sie in seinem Sinne zu interpretieren. So ist es dann auch bei dieser Aussage aus der Bergpredigt. Diejenigen, die in den Tag hinein leben wollen nehmen den Ausspruch als Leitsatz für ihre Faulheit und die anderen, die Matadoren die die Gesellschaft antreiben und dabei absahnen wollen, sagen das man die Bibel nicht so wörtlich nehmen solle. In deren Sinne heißt es dann statt „Klopfet an und euch wird aufgetan“ auch „Asylbedürftige lasst das Anklopfen sonst werde ich euch weg jagen.“. Was aber beide Seiten wissend- oder unwissendlich übersehen haben ist, dass es zwischen „sorgen“ und „sorget“ einen erheblichen Unterschied gibt. Mit „sorgen“ könnte man das Bejammern ungelegter Eier bezeichnen und „sorget“ steht für Handeln im notwendigen Ausmaße. Die Vögel sitzen nicht auf einem Ast und lassen die Köpfe hängen, weil vielleicht Morgen keine Insekten fliegen sondern fliegen fröhlich zwitschernd durch die Lüfte und würden sie sich dabei nicht mühen Futter für sich und ihre Jungen zu fangen oder zu sammeln, würden sie verhungern. Man soll sich also nicht sorgen aber man soll sorgen – das Verständnisproblem liegt also ausschließlich nur in der deutschen Sprache: Gleiches Wort für zwei verschiedene Angelegenheiten. Genau das wollte Luther mit seinem Apfelbaumgleichnis ausdrücken. Wer sich über möglicher Weise nicht eintretende Katastrophen Gedanken macht, unterlässt das Notwendige oder macht sogar das Falsche. Das Vorhergehende habe ich jetzt ganz keck und neunmalklug geschrieben. Aber was habe ich letztes Jahr im Oktober und November gemacht? Ich habe mir fürchterliche Sorgen gemacht, da ich es für höchstwahrscheinlich hielt, dass ich mit HIV infiziert hätte. Aus diesem Grunde unterließ ich alles was vielleicht notwendig gewesen wäre. Das „vielleicht“ muss ich einfügen weil ich gar nicht über Notwendigkeiten nachgedacht habe und somit auch nicht mit Sicherheit auflisten kann, was damals zur Erledigung angestanden hätte und doch liegen blieb. Ich kann nur sagen, dass ich das Allerwichtigste in der damaligen Situation, einen HIV-Test, strickt ablehnte. Dieses geschah aus einer fürchterlichen Angst. Angst davor, dass das worüber ich mir Sorgen machte Wirklichkeit sein könnte. Eigentlich paradox, denn die Chancen, das da nichts dran war und meine Sorgen somit unbegründet waren, standen doch mindestens 1:1. Vielleicht hätte mir dieser oder jene, hier denke ich in erster Linie an Ramona, den Rat in die richtige Richtung gegeben, wenn ich über mein Leid gesprochen hätte und diese dann auch gewusst hätten was ich zu haben glaubte. Erstens hinderte mich meine panische Angst daran und zweitens kam jetzt eine höchstseltsame Erscheinung hinzu. Auf einmal schämte ich mich fürchterlich ob meines Lebenswandel und meines Handelns und verspürte den inneren Drang alles aus meinem und dem Bewusstsein der anderen Leute, die es genau wussten, zu verdrängen. Das ging sogar so weit, dass ich bei allen Themen, die nur annähernd in Richtung Sex und/oder Eros gingen sofort auf etwas Unverfängliches überleitete. Was Ramona, mit der ich nun mal am Meisten zusammen war, teilweise doch recht stutzig machte. Wie unsinnig meine damalige Denkweise und die daraus erfolgten Schlüsse damals waren erkennt man schon wenn man sich damit beschäftigt was Aids eigentlich ist. Es ist eine Immunschwächekrankheit, die man laienhaft in ihrer Auswirkung mit der Leukämie vergleichen könnte. Sie wird durch den HI-Virus über Körperflüssigkeiten (Blut, Sperma- und Scheidenflüssigkeit) übertragen. Ab der Inkubation, also ab der Ansteckung, hat man, ohne die inzwischen entwickelten Behandlungsmethoden, noch eine Lebenserwartung von 5 bis 10 Jahren. Mit den modernen Methoden sogar weit darüber hinaus. Bei meinem Alter hätte ich, falls ich mich infiziert hätte, durchaus noch die Chance gehabt das Alter, das der durchschnittlichen Lebenserwartung entspricht, zu erreichen. Damit will ich jetzt auf keinen Fall Aids in verantwortungsloser Weise verharmlosen. Die Krankheit ist sehr schlimm und für den Betroffenen tragisch. Und was ist das für ein Leben, wenn man an Immunschwäche leidet – grausam. Mir kommt es an dieser Stelle darauf an, dass mein Nichthandeln auf der einen Seite und dann das Handeln auf der anderen Seite überstürzt und lebensfeindlich war. Durch meine Panik hätte ich möglicher Weise unbewusst wichtige Hilfe ausgeschlagen. Ich verhielt mich so, als würde mein Abgang von der Lebensbühne unmittelbar bevorstehen. Wenn ich noch einmal auf das eingangs erwähnte Lutherzitat zurückkommen kann, müsste ich mein Denken so beschreiben: „Wenn ich glaube das Morgen die Welt untergeht pflanze ich keinen Apfelbaum mehr sondern gehe mit dem Strick zur Eiche und hänge mich daran auf.“. Der ursprüngliche Schock hatte mich wirklich krank gemacht. So war meine „Grippe“ nicht am Tag danach erledigt sondern ich hütete noch eine Woche das Bett. Ramona brachte mir jeden Morgen, kurz nach dem sie bei mir im Hause erschienen war, mein Frühstück ans Bett und statt Kaffee bekam ich Tee mit Zitrone. Natürlich frühstückte sie weiterhin mit mir. Sie nahm dazu mit einem Hocker an dem Servierwagen platz. Nach wie vor war dieses die Gelegenheit für das „Dienstgespräch“. Sie sprach mit mir ab, was zu erledigen, besorgen und zu kochen sei und diese Dinge nahm sie dann anschließend auch in Angriff. Damit ging der Vormittag dann drauf und das anschließende Mittagessen bekam ich separat serviert, das heißt, dass sie in der Küche und ich im Bett aß. Das hatte jedoch lediglich nur praktische Gründe. Nachdem sie dann die Küche wieder auf Vordermann gebracht hatte, kümmerte sie sich in ihrer gewohnten Art, also man könnte sagen rührend, um mich, dem Kranken, und ihre Kinder. Putzen und Waschen wurde während meiner Krankheitswoche kleingeschrieben und fand immer nur dann statt, wenn es nach Ramonas Ansicht unausweichlich war. Schon seit dem Ende der großen Ferien ging sie nicht unmittelbar nach der Abendbrotzubereitung nach Hause sondern nahm dieses erst mit mir und den Kindern gemeinsam ein. Jetzt wo ich krank war dehnte sie ihren
Aufenthalt im Hause noch ein Wenig darüber hinaus bis zirka 8 Uhr aus – dann mussten aber die Kinder ins Bett, da ließ meine Wahltochter nicht mit sich handeln. An meinem zweiten Krankheitstag kam Ramona mit einer „Schreckenskunde“ von ihren Besorgungen zurück. Die Besitzerin des Kiosk, bei dem ich mich immer mit meinen Gauloises eindeckte, plante schon seit längerem sich zum Jahresende aus Altersgründen zur Ruhe zu setzen und dann zu ihrer Tochter zu ziehen. Sie hatte bis dato eine Wohnung in dem gleichen Haus, das ihr auch gehörte, in dem sich ebenfalls auch der Kiosk befand. Sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch keinen Nachfolger gefunden und plante deshalb jetzt zum Jahresende endgültig zu schließen, den Laden in eine Wohnung umzuwandeln und beide Wohnungen, ihre jetzige und die neue, die aus dem Kiosk entstehen soll, zu vermieten. Zunächst nahm ich den Bericht nur als allgemeine Information zur Kenntnis. Aber während Ramona kochte kam mir der Gedanke, dass ich mir mit dem Kiosk gegenüber meiner Wahltochter einen sauberen Abgang von der Lebensbühne verschaffen könnte. Als sie nach dem Mittagessen, während die Kinder an ihren Hausaufgaben saßen, zu einem Plausch zu mir kam, fragte ich hinten herum: „Wäre nicht Frau Schroers Kiosk das Richtige für dich?“. „Och,“, antwortete sie, „darüber brauche ich gar nicht nachdenken. Wo sollte ich das Geld für die Kaution, erstes Warenlager und so weiter hernehmen?“. „Wenn du einen richtigen Kreditgeber hast, der dir entsprechende Mittel zu vernünftigen Konditionen gibt, ist das doch alles kein Problem.“, gab ich ihr zu bedenken. Sie hatte gleich richtig verstanden: „Bei den Kreditgeber denkst du wohl an dich selber. Da könnte man auch drüber verhandeln, aber nur wenn du auch an vernünftige Konditionen denkst. Wenn du mir aber was zukommen lassen willst was mir nicht zusteht, dann vergesse dieses ganz schnell wieder.“. Obwohl ich doch mehr oder weniger an ein Verschenken dachte beruhigte ich sie: „Pass auf, ganz einfach. Ich habe ja genug Geld. Ich bezahle alles was notwendig ist, einschließlich diverser Kosten in den ersten drei bis sechs Monaten, die du vielleicht bei der Existenzgründung nicht gleich aus dem Geschäft aufbringen kannst. Danach zahlst du mir 10 Jahre lang je 12 Prozent der Summe zurück. Das heißt, wenn ich dir jetzt 100.000 Mark gebe bekomme ich von dir ein ganzes Jahrzehnt lang Monat für Monat einen Tausender .... Quatsch, wir müssen das Ganze dann doch in Euro, den wir ab 2002 haben, umrechnen. Aber egal, du weißt was ich meine?“. Letzteres konnte sie aber nicht wissen, denn ich beabsichtigte ihr ihre Schulden bei meinem baldigen Ende zu vererben. Auf jeden Fall hatte ich sie richtig geködert und den ganzen Nachmittag und auch am folgenden Wochenende fing sie immer wieder mit diesem Thema an. Und letztlich war sie entschlossen Kioskpächterin zu werden. Am Montag der folgenden Woche ging sie dann zu Frau Schroer und erklärte ihr, dass sie Kiosk und Wohnung übernehmen wolle. Die Finanzierung wäre geregelt, denn ihr derzeitiger Arbeitgeber, also ich, hätte ihr eine großzügige und günstige Kreditzusage gegeben. Da Frau Schroer wusste, dass ich Millionär war, waren Ramonas Aussagen für sie eine frohe Kunde, so dass sie ihr schon gleich zusagte, dass sie schon zum 2. November in die Wohnung einziehen könne und sie dann täglich noch bis zum Jahresende – und vielleicht noch darüber hinaus – im Laden bleiben wollte um Ramona einzuführen und anzulernen. Bei den Verhandlungen zu den Konditionen und Verträgen legte sie aber wert darauf, dass ich dabei sein sollte. So vereinbarten Ramona und Frau Schroer für den Freitagabend einen Termin. Aus diesem Grunde sollten dann meine Wahlenkel bei ihrer richtigen Oma übernachten und ich sollte und wollte mit ihr zu Frau Schroer. Also gingen wir dann am Freitag zu unserer Verabredung und während der Begrüßung und den ersten fünf Minuten der Verhandlungen lief alles superglatt über die Bühne. Dann passierte Ramona jedoch ein Patzer. Sie hatte eine Frage an mich und redete mich versehentlich in der neuerdings gewohnten Weise mit Vati an. Frau Schroers Stutzen war unverkennbar aber dann brachte meine Wahltochter das Ganze in eleganter Weise in die richtigen Bahnen. Sie erzählte Frau Schroer: „Ach, werte Frau Schroer, dass können sie nicht wissen. Herr Heuer ist wirklich ein netter Arbeitgeber, auch wenn die Leute was anderes glauben und behaupten. Auch zu meinem beiden Kindern ist er richtig nett. Da war dann mein Ralf mal der Meinung, dass er wie ein Opa sei und ob sie, die Kinder, ihn auch so anreden dürften. Als Herr Heuer zustimmte habe ich dann aus Scherz gesagt, dass ich ihn ja dann Vati nennen müsste. Was soll ich sagen ... Er hat dann darauf und zusätzlich noch auf das Du bestanden. Und dabei ist es dann geblieben. Das hat sich dann so ausgewirkt, dass er anschließend tatsächlich zu uns wie ein Großvater und Vater war ... so empfinde ich dieses auf jeden Fall. Dahingehend habe ich ihn sogar richtig lieb. ... Und was die Leute so erzählen, ... von wegen Onkelehe oder Heirat, ist natürlich Quatsch. Die sollten sich mal überlegen, das Vati, also Herr Heuer, doppelt so alt wie ich bin ist. Was soll ich denn ... Entschuldigung Vati – mit so einem alten Knopf.“. Damit hatte Ramona Frau Schroer überzeugt und die war dahingehend sogar ganz gerührt. Dieses hatte dann enorme Vorteile bei den Verhandlungen. Die beiden Frauen verhandelten jetzt unbekümmert miteinander und ich wurde nur zwischendurch mal um eine Meinung und auch mal um einen Rat gefragt. Im Grunde wäre meine Anwesendheit sogar überflüssig gewesen. Frau Schroer gestand anschließend, dass sie mich ursprünglich wegen der Bestätigung der Finanzierungszusagen dabei haben wollte. Als sie aber gemerkt habe, dass unser gegenseitiges Verhältnis nicht gespielt sondern echt wäre, sei sie sich sicher gewesen, dass alles in Ordnung ginge. Ab dem Zeitpunkt betätige sich Frau Schroer auch als Tratschtante im positiven Sinne. Sie berichtete ihren Kunden von unserem tollen Vater-TochterVerhältnis und setzte damit ihre Nachfolgerin ins rechte Licht, was sich dann, sehr zu meiner Freude, auch in ganz Waldheim rumsprach. Damit waren wir beide vor meinem Abgang von der Lebensbühne rehabilitiert gewesen.
Eines war aber jetzt klar: Nach dem Ende des laufenden Monats würde ich ohne Hauswirtschafterin da stehen. Da traf aber Ramona die entsprechenden Regelungen. Als Erstes sollte ich mir eine Putzfrau besorgen; einmal die Woche würde wohl reichen, da ich alleine kaum Dreck verursachte und das Bisschen Entstauben könne man ja an einem Tag schaden. Ich versprach es, unternahm aber hinsichtlich meines baldigen Endes nichts in dieser Richtung. Des Morgens sollte ich zu einem Frühstück, was sie neben frischen Brötchen auch für die Laufkundschaft anbieten wollte, in den Kiosk kommen. Abends nach Geschäftsschluss sollte ich zur Hauptmahlzeit, welche vom Mittag auf den Abend verlegt wurde, zu ihr kommen. Das Frühstück sollte ich wie alle anderen Kunden bezahlen und das Abendessen sollte dadurch ausgeglichen werden, dass die Kinder des Nachmittags, wie sie es jetzt gewohnt waren, zum Spielen in mein Haus und Garten kommen durften. Alles in Allem eine vernünftige Lösung, mit der man leben konnte. Letzteres – leben beabsichtigte ich allerdings nicht mehr für eine allzu lange Zeit. Bei meiner Wahlfamilie konnte ich also, fast ohne eigenes Zutun, alles bestens regeln und bei meiner „richtigen“ Familie war es umgekehrt, da konnte ich mit und ohne eigenes Zutun überhaupt nichts in die richtigen Bahnen lenken. Selbstverständlich wollte ich auch mit Rosi, Hendrik, Jürgen und Silvia alles ins Lot bringen bevor ich von der Bühne abtrete. Daher galten meine Überlegungen auch, an wen ich mich mit welchem Vorwand wenden sollte, ohne das ich mich hinsichtlich der Krankheit, die ich zu haben glaubte, und meinen düsteren Absichten verraten müsste. Da war es wieder einmal der Kamerad Zufall, der mir mitteilte, dass ich nichts zu unternehmen brauchte, da es sowieso zu keinem Ergebnis führen könne. An einem Tag Ende Oktober trafen sich die ehemaligen Schulfreundinnen Silvia und Ramona in der Waldheimer Innenstadt. Ramona wollte hinsichtlich der Kioskübernahme ein paar Dinge bei der Stadtverwaltung erledigen und meine Schwiegertochter wollte zum Frauenarzt. Da sich im kleinen Ulkerde keiner niedergelassen hatte, musste sie deshalb zwangsläufig in die Kreisstadt. Schade dass sich die Frauen nicht anschließend getroffen haben, denn das Ergebnis hätte mich natürlich brennend interessiert. Hendrik und Silvia wünschten sich noch ein zweites Kind und Silvia hatte das Gefühl, dass die Zeugung geklappt haben könnte. Da meine Schwiegertochter fast eine Stunde zu früh in Waldheim war und die Stadtverwaltung vor meiner Wahltochter nicht davon lief, begaben sich die beiden Frauen zu einem Kännchen Kaffee in ein Café. Ramona hat dann Silvia die gleiche Großvater-Vater-Story aufgetischt, wie sie diese schon der Frau Schroer „verkauft“ hatte. Silvia hatte erst dahingehend Bedenken, weil sie gehört habe, dass Ramona wäre bei den Privatorgien dabei gewesen. Dieses wurde von meiner Wahltochter weder bestritten noch bestätigt sondern mit dem Hinweis, dass die Leute, die sich besser um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten, immer was zureden haben müssten, abgetan. Dann war aber auch meine Schwiegertochter von der edlen Wahl-Familien-Beziehung überzeugt und angetan. Sie stellte dann fest, dass dann beide Schulfreundinnen zu mir in einem ähnlichen Verhältnis ständen. Laut Ramona soll Silvia gesagt haben: „Obwohl von Papas beiden Söhnen nur noch einer lebt, hat er doch zwei Schwiegertöchter bekommen.“. Unter den Voraussetzungen müssten sie dann zusammenhalten und das, was unsere Familie trennt, gemeinsam kitten. Das wäre es gewesen, was ich mir gewünscht hätte. Aber wie so oft kam jetzt der „dicke Hammer“ gleich hinterher. Silvia bedauerte, dass es im Moment sehr schlecht darum stände, da der Bruch zwischen mir und meiner Familie nicht der einzigste Zwist im Heuerlager sei. Hendrik habe sich derzeitig schwer mit seiner Mutter in der Wolle und sie sei im Moment sehr damit beschäftigt, die Wogen zwischen Rosi und ihrem Sohn zu glätten. Um was es bei den Beiden ging weiß ich nicht, das hat man mir bis heute noch nicht berichtet. Aber gerade daraus schließe ich, dass es möglicher Weise um mich ging. Auf jeden Fall wollte Silvia Ramona sofort unterrichten, wenn das MutterSohn-Feuer gelöscht sei, um dann in einer gemeinsamen Aktion der „Schwiegertöchter“ den endgültigen Frieden in der Heuerwelt zu stiften. Am Meisten bedrückte mich Silvias Zeiteinschätzung, dass sich bis Weihnachten eventuell nichts zwischen Rosi und Hendrik bewegen könnte. Da für mich mein Abgang von der Lebensbühne beschlossene Sache war, woraus man jetzt richtiger Weise schließen kann, dass ich mich mit Selbstmordgedanken beschäftigte, wollte ich dann doch alles, was ich nicht mehr persönlich erledigen konnte, in Abschiedsbriefen „abwickeln“. Diese Briefe schrieb ich des Abends wenn ich alleine in der Villa saß. Es wurden insgesamt sechs Briefe. Einer, mit meiner Lebensbeichte an Alle, und dann separate Briefe an Rosi, Jürgen, Hendrik, Ramona und Silvia. Meine Schwiegertochter habe ich jetzt zuletzt genannt, weil mir der Brief an sie am schnellsten von der Hand ging, denn sie war offensichtlich die einzigste, die ich nicht persönlich getroffen und verletzt habe. Allen anderen hatte ich mehr oder weniger Schweres angetan. Was ich denen schrieb, war dann weitgehenst so intim, dass es grundsätzlich eine Sache zwischen dem Empfänger beziehungsweise der Empfängerin und mir war. Darin ging es unter anderem auch um Dinge, die ich selbst in diesem Buch nicht erwähnt habe. Alle Briefe wurden in der Tat seitenlang und für jeden benötigte ich einen gesonderten langen Abend. Die Handschriften kamen grundsätzlich nach der Fertigstellung in einen DIN-B-4-Umschlag mit der Aufschrift „Persönlich, nur vom Empfänger zu öffnen.“. Damit Ramona nichts auffiel prüfte ich, nach dem ich die Umschläge in dem Schrank, der als mein Heiligtum galt, eingeschlossen hatte, ob es nichts Durchgedrücktes, was man später rekonstruieren konnte, auf der Schreibtischunterlage zusehen gab. Jeden Abend begab ich mich zum Abschluss des Tages auf der Gartenterrasse unter die Zündler. Immer wenn ich mich verschrieben hatte, wanderte das Blatt nicht in den Papierkorb sondern ich flämmte
es zum Abschluss des Abends ab. Die schwarzen Reste, die das Feuer ließ, zerrieb ich in den Handflächen und zerstreute sie am Ende meines Gartens. Es mag Einem beim Lesen ganz unheimlich vorkommen, dass ich mich gezielt und über einen längeren Zeitraum ganz geplant auf meinen Selbstmord vorbereitete. Noch unheimlicher klingt dieses, das hinter den Vorbereitungen zum Suizid der eigentliche Grund ein paar Schritte zurückgetreten war. Letztlich war es mir ganz egal ob ich Aids hatte oder nicht; ich wollte mich einfach nur umbringen. Ich ging sogar an die Terminplanung und berücksichtigte dabei, dass Ramona nicht mehr im Hause sein dürfte, dass nicht jemand durch Zufall etwas von mir wolle und dann die Sache vereiteln könne. Bei meiner Terminplanung berücksichtigte ich auch, dass nicht Ramona mit den Kindern mich finden würden – so etwas Schreckliches wollte ich denen nicht antun. Daher checkte ich bei meinem Hausverwalter vor, was geschehen würde, wenn ich mal plötzlich eine Woche in Urlaub führe oder wenn ich mal ins Krankenhaus müsse und der Müll aus hygienischen Gründen entsorgt werden müsse. Die Antwort war ganz simpel. Da sie ja Zugang zum Haus hätten, würden Mitarbeiter des Unternehmens, nach dem ich Bescheid gesagt hätte, am Entsorgungstag ins Haus gehen und die Müllcontainer an den Straßenrand stellen. Ich wies dann darauf hin, dass die Müllcontainer in der zweiten, leeren Garage ständen und der einzigste Schlüssel immer am Board in der Küche hängen würde. Darauf bekam ich auch eine prompte Antwort: „Dann müssen unsere Leute eben den Schlüssel aus der Küche holen.“. Jetzt war alles perfekt. Ich wollte mich, da hier die Müllabfuhr des dienstags kommt, an einem Montagabend in der Küche umbringen, nach ich den zuvor beschriebenen Eventualfall vorgetäuscht hätte. Insbesondere an dem letzten Absatz kann man erkennen, wie logistisch ich vorging. Aber noch war es nicht so weit, ich hatte noch einiges zu erledigen. Zwischendurch, Anfang November, wurde ich noch von der vermeintlichen Richtigkeit meines Vorgehens überzeugt. Das Optikerpaar hatte einen HIV-Test durchführen lassen und das positive Ergebnis lag denen jetzt vor. Im Gegensatz zu mir waren diese, wie er mir am Telefon erzählte, noch willig recht lange zu leben. Deshalb wollten sie sich in kontinuierliche Behandlung eines Facharztes begeben und sich auch an dessen Verordnungen und Anweisungen halten. Er glaubte, dass, wo ja beide infiziert seien, sie in Zukunft ruhig noch miteinander Sex haben könnte, da ja keiner der beiden Eheleute den anderen anstecken könne. Aber ansonsten wollten sie solide wie ein Mönch oder eine Nonne leben. Das sie andere infizieren wollten sie nicht riskieren. Ich weiß nicht, ob es irgendwelche Risken beinhaltet, wenn es zwei Infizierte miteinander treiben aber ansonsten muss ich heute sagen, dass deren Ansicht im Gegensatz zu meiner absolut richtig war und ist. Zu den Dingen, die ich noch zu erledigen hatte, gehörte unter anderem einen Besuch in Köln bei der Deutschen AidsHilfe und mit denen dann einer bei einem Notar. Ich wollte mich bei der Aids-Hilfe nicht etwa ausweinen, im Gegenteil ich verschwieg denen mein vermeintliches Schicksal sogar durch Abstreiten, sondern ich schenkte denen meine Villa und die Schenkung wurde auch gleich von einem Notar beglaubigt. Die Übergabe der geschenkten Villa sollte zum 1. Juli 2001 oder, was ich nicht zu hoffen vorgab, unmittelbar nach meinem eventuellen frühzeitigeren Tode erfolgen. Als Grund gab ich an, dass ich quasi im vorzeitigen Ruhestand sei und das Haus mir zu groß geworden sei und mich deshalb kleiner setzen wolle. Da ich ansonsten noch ein großes Vermögen habe wollte ich jetzt, nachdem ich bisher viel wirtschaftlich Nützliches getan habe, dieses jetzt auch auf karikativen, menschlichem Gebiet tun. Da ich jetzt hier meine Lebensbeichte niederschreibe, ist es natürlich kein großer Vorgriff auf die Handlung, wenn ich jetzt schreibe, dass ich immer noch lebe. Warum werden wir sehr bald erfahren. Aber da auch der Juli 2001 vorbei ist, dürfte die Frage berechtigt sein, ob es auch zur Übergabe der geschenkten Villa kam. Jawohl, das Haus bin ich los und die Aidshilfe hat es inzwischen veräußert und zwar zu einem sehr guten Preis. Aber reuen tut mich dieses nicht. Nach meiner Auffassung war dieses nach der Starthilfe für Ramona erst das zweite sinnvolle Handeln in meinem Leben. Erstmalig musste ich feststellen, dass ich mehr als nur zum Geldmachen wert und da war. Vor meinem Ableben wollte ich mich doch wieder vermenschlichen. Mit dem Stichwort „vermenschlichen“ sind wir bei einer sehr persönlichen Sache, die jetzt auf einmal bei mir eintrat. Obwohl ich in meinem Leben seit meiner Jugendzeit keinen Gedanken an Gott verschwendet habe, wurde mir jetzt bewusst, dass ich tatsächlich noch an ihm glaubte. Jetzt bete ich Abend für Abend, wenn ich mich ins Bett begeben hatte. Unter anderem bete ich: „Lieber Gott, ich danke dir dafür, dass du mich niemals aus deinen schützenden Händen hast fallen lassen, obwohl ich ein fürchterlich Mensch gewesen bin. Ich habe meine Mitmenschen gequält, dich verleugnet und das Goldene Kalb angebetet. Ich weiß, dass du mir verzeihst, denn du hast es mir durch deinen Sohn Jesus Christus versprochen. Auch meinen letzten Schritt, der auch eine große Sünde sein wird, wirst du mir verzeihen, dafür ist dein eigener Sohn am Kreuz gestorben. Dafür danke ich dir. Amen.“. Nach einem solchen Gebet war mir immer ganz wohl und ich konnte danach auch immer ganz ruhig schlafen. Am 27. November 2000, einen Montag, hatte ich noch einen sehr wichtigen Termin. Ich ging zu einem Waldheimer Notar um dort erstens die Umschläge mit meinen Abschiedsbriefen zu deponieren. Er sollte diese nach meinem Tode den Empfängern persönlich übergeben. Ich wollte nicht, auch nicht in der Familie, dass diese in die falschen Hände gelangen. Dann wollte ich ein neues Testament abfassen. Zwar sollte es fast dem vorhergehenden entsprechen. Neu darin war unter anderem, dass die Villa nicht mehr zur Erbmasse gehörte, da diese verschenkt sei. Als ich dem Notar bekannt gab, wer der Beschenkte war, schaute er mich an als wolle er sagen „Armer Kerl“. Dieser Gedanke lag auf der Hand, denn auch er kannte mein einschlägiges, wildbewegtes Vorleben. Dann war da noch Ramona, der ich den Betrag,
den sie mir schuldete, vererben wollte. Da es sich nur um ein kleinen Bruchteil meines Vermögens handelte stellte dieses natürlich, auch hinsichtlich des Erbschaftsrechts, kein Problem dar. Ansonsten blieb es dabei, dass Hendrik der generelle Erbe sein sollte. Ich fasste diesen Part nur in neue, ihn in seiner Lebensauffassung bestärkende Worte. An dieser Stelle möchte ich jetzt abbrechen und den Rest vom 27. November 2000 auf das nächste Kapitel vertagen ... Also, Fortsetzung folgt sofort. Zum Kapitel 27
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Der Sprung in den Krater An dem, bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnten Montagabend, also am 27. November letzten Jahres, unternahm ich nach dem Notarbesuch erst mal einen Innenstadtbummel, da es noch ein Bisschen früh für das Abendessen bei Ramona war. Direkt beim Bummelstart hatte ich, vor dem Hauseingang zur Notariatskanzlei stehend, via Handy noch bei meinem Verwalter (der Villa) angerufen und dort mitgeteilt, dass ich noch am späteren Abend nach Frankfurt müsste und sie möchten bitte meine Müllcontainer heraussetzen, da in der letzten Woche viele Essensreste übergeblieben seien. Ich erinnerte noch einmal daran, dass sich der Garagenschlüssel an dem Board in der Küche befände. Jetzt weiß jeder, was ich vorhatte. Kann man sich denn auch vorstellen, wie es einem Menschen in einer solchen Verfassung beim Schlendern zumute ist, wenn demjenigen scheinbar gewiss ist, dass diese der letzte Spaziergang des Lebens ist? Ich kann das Gefühl, welches ich damals hatte nicht richtig beschreiben. Es war irgendwie tragisch komisch und rührselig. Das kältere niesselige Wetter, bei dem ich mich früher immer gerne in die warme Stube verkroch, störte mich an diesem Tag gar nicht. Gegen 19 Uhr ging ich dann zu Ramona, um mit ihr und den Kindern die letzte Mahlzeit meines Lebens zu mich zunehmen. Ich musste mich unheimlich zusammen reißen. Mir war fürchterlich rührselig zu Mute. Immer wenn die, an diesem Abend besonders gut gelaunten Kinder einen Scherz machten, kämpfte ich gegen Tränenausbrüche an. Natürlich blieb mein Gemütsleben meiner Wahltochter nicht verborgen und sie fragte: „Hast du was, Vati? Du gefällst mir heute gar nicht.“. Ich tat es mit „Ach, mir ist heute nicht besonders, ich glaube ich werde wieder krank“ ab. Ganz zufrieden war Ramona nicht: „Ich habe das Gefühl, dass du nicht krank bist sondern das dir irgendetwas schwer auf dem Herzen liegt.“. Aber sie bekam nicht heraus was mich wirklich bewegte. Mein Entschluss hatte sich bei mir so fest eingebrannt, dass an diesem Abend mich nichts von meinem Vorhaben abbringen konnte. Ramona war letztlich so besorgt, dass sie mich an diesem Abend in ihrer Wohnung behalten wollte. Aber ich ließ mich jetzt nicht mehr aufhalten und ging kurz nach Acht dann heim in Richtung Villa. Im eigenem Hause angekommen begab ich mich direkt in die Küche. Ich weiß jetzt nicht, ob ich beim Betreten der Küche geraucht habe und dann anschließend die Zigarette nicht richtig im Ascher ausgedrückt habe. Das würde das, was später passierte, erklären können – aber ich weiß es wirklich nicht mehr. Ich zog die Tür ins Schloss; schloss diese jedoch nicht ab – die Mülltonnenheraussteller sollten am nächsten Morgen ja reinkommen können. Was ich zu keinem Zeitpunkt bedacht hatte, war dass die Mitarbeiter des Verwalters, wenn mein Plan geklappt hätte, enorm gefährdet gewesen wären. Jetzt weiß wahrscheinlich jeder, was ich im Schilde führte. Richtig, nach dem ich noch geprüft habe ob auch das Fenster richtig verschlossen war ging ich zum Gasherd und drehte den Hahn bis auf die höchste Stufe auf. Die Flamme, die standardmäßig automatisch zündete, erstickte ich mit einem Tuch, welches ich mir jetzt zu diesem Zweck aus dem Unterschrank unterhalb der Spüle holte und anfeuchtete. Ich lauschte noch mal ob das Gas auch strömte und setzte mich an den Tisch um ein Gebet zu sprechen. Es dürften wohl maximal fünf Minuten bis zu dem Zeitpunkt, ab dem ich nichts mehr weiß, vergangen sein. Mein Bewusstsein arbeitete erst ab dem Morgen des 28. Novembers wieder, wo ich mich dann auf der Intensivstation des Waldheimer Krankenhauses wiederfand. Später erfuhr ich, was sich zwischen Verlust und dem Wiedereinsetzen des Bewusstseins getan hatte. Es hatte eine Verpuffung, bei dem auch die Fensterscheiben zerklirrten, gegeben. Dieses wurden von einem vorbeikommenden Pärchen gehört und als mögliche, von Einbrechern verursachten Geräusche interpretiert. Jetzt kann man sagen, dass es gut ist, dass heutzutage fast jeder Deutsche über 12 Jahre ein Handy in der Tasche hat. Damit konnten sie dann die örtliche Polizei herbeirufen. Die gingen erst mal durch das Tor zur Haustür und schellten an. Da im Hausflur Licht brannte und sich niemand meldete gingen sie um das Haus und sahen dann das zerbrochene Küchenfenster. Da auch in der Küche das Licht brannte bauten die beiden Beamte eine sogenannte Räuberleiter und schauten hinein. Unmittelbar nachdem sie mich da liegen sahen nutzen diese ihre Mobilfunkgeräte und forderten einen Notarztwagen an. Der Arzt stellte fest, dass ich schwere, aber zum Glück kleinflächige Verbrennungen an der linken Schulter hatte. Außerdem hatte ich Verletzungen am Kopf, insbesondere am Kinn und an der Stirn. Offensichtlich war ich durch den, vom Verpuffungsherd ausgehenden Druck nach Vorne gedrückt worden und dabei auf dem Tisch aufgeschlagen, bevor ich nach hinten auf dem Boden fiel. Alles in Allem keine lebensbedrohlichen Verletzungen, die mir dann anschließend aber doch, insbesondere wegen der Verbrennung, einen Krankenhausaufenthalt von bald drei Wochen einbrachten. So gegen 10 Uhr wurde ich, nach dem ich das Versprechen abgegeben hatte keinen Blödsinn zu machen, von der Intensivstation auf die Unfallstation verlegt. Meine Verletzungen waren nicht so schwer, dass eine Intensivbehandlung notwendig gewesen wäre. Das einzigste, was ich verspürte, waren wahnsinnige Schmerzen, insbesondere im Bereich der verbrannten Schulter. Zur Linderung wurde ich an ein Tropf gehängt. Fünf Minuten nach dem ich erstmalig auf der Normalstation versorgt worden war, bekam ich den ersten Besuch. Es war Ramona, die an diesem Morgen ihren Kiosk der Vorbesitzerin, Frau Schroer, allein anvertraut hatte. Sie hatte von ersten, in der Nachbarschaft wohnenden Kunden gehört bei mir in der Villa wäre ein Unglück passiert und ich wäre mit Blaulicht ins Krankenhaus gekommen. Da sie meine Verfassung vom Vorabend kannte konnte sie sich schon Eins und Eins zusammenreimen. Eigentlich wollte sie schon vorher zu mir aber man hat sie auf der Intensivstation nicht vorgelassen. Sie kam herein und legte gleich los: „Vati, ich habe es ja geahnt. Ich hätte dich gestern nicht gehen lassen dürfen. Willst du dich denn nicht aussprechen, was ist denn los?“. Sie setzte sich auf einen Stuhl, der nahe dem Kopfende neben dem Bett platziert war und wartete
jetzt auf meine Worte. Ich erzählte ihr vom Loveparadies und von der Aidsgeschichte. Nachdem sie mich hat ohne Unterbrechung erzählen lassen, merkte sie nur an: „Vati, so schnell geht doch das alles nicht ... und außerdem besteht doch die Möglichkeit, dass du überhaupt kein Aids hast. Du kannst doch nicht einfach davon laufen und uns allein lassen. Überleg es dir mal.“. Mehr sagte sie zu diesem Thema nicht sondern führte mit mir ein „Dienstgespräch“, wie es früher beim Frühstück üblich war. Das heißt, dass sie sich erkundigte, was ich bräuchte und was sie besorgen könne. Sie war – beziehungsweise ist immer noch – eine treue Seele. Als sich Ramona nach etwa einer Stunde wieder verabschiedete versprach sie mir des Abends nach Geschäftsschluss mit den erledigten Besorgungen noch einmal kurz vorbeizukommen. Der Grund für „kurz“ lag in der Tatsache, dass das Krankenhaus vor Zehn des Morgens und nach Acht des Abends keine Besucher im Hause wünschte. Na ja, zehn Stunden sind ja nun wirklich mehr als reichlich. Man sollte sich auch mal überlegen, das man mit übertriebenen Besuchen sowohl den besuchten Patienten wie auch insbesondere eventuelle Mitpatienten belasten kann. Letztere, die man hätte belästigen können, hatte ich als draufzahlender „Kunde“ in meinem Einzelzimmer nicht. Ich glaubte an Besuchen ohnehin nicht viel zu haben, denn wer sollte mich, außer Ramona, schon besuchen. Ich hatte mich mit meiner Art ja ohnehin von allen Menschen isoliert. Ohne Ramona und ihre Kinder war ich allein. Auf jeden Fall glaubte ich das. Aber ich sollte mich getäuscht haben. Kurz nach Zwei ging die Tür auf und ein anderer unerwarteter Besucher trat herein. Ramona hatte, wie ich allerdings erst etwa 14 Tage später erfuhr, sofort nach dem sie das Krankenhaus verlassen hatte Silvia telefonisch berichtet was los war. Dieses hatte dann ihren Mann, meinen Sohn Hendrik, der gerade auf einer Biobauerntagung war, auf seinen Handy angerufen und ihm das weitergegeben, was sie selbst gerade erfahren hatte. Hendrik ließ, was ich damals beim besten Willen nie erwartet hätte, Tagung gleich Tagung sein und kam umgehend zu mir. Hendrik kam herein, nahm meine linke Hand in seine Hände, sagte nur „Papa, ach Paps“ und küsste mich danach auf die Wange. Jetzt nahm er auf dem Stuhl, auf dem am Morgen Ramona gesessen hatte, platz und fragte: „Was ist denn los, Paps?“. Als ob ich auf das Stichwort gewartet hätte redete ich los. Ich redete und redete und merkte wie es mir gut tat. Ich schilderte meinem Sohn die Fehler, die ich im Leben gemacht habe. Und er ließ mich reden und hörte mir ganz geduldig zu. Er unterbrach mich nie und nur wenn ich eine Pause einlegte, gab es von seiner Seite einen meist aufmunternden Kommentar. So verging der ganze Nachmittag; fast vier Stunden saß mein Sohn da und hörte mir zu. Ab diesen Tag weiß ich, wie wichtig wahres Zuhören, ohne jede strategische Absicht, ist. Auf jeden Fall konnte ich dabei meine Seele enorm entlasten und auf einmal kam in mir wieder etwas auf, was bei mir vollkommen verschwunden schien: Lebensmut. Erst in der letzen Viertelstunde seines Besuches führte Hendrik etwas mehr als nur einen Zwischenkommentar aus: „Paps, du hast jetzt die ganze Zeit von den Dingen erzählt, die du glaubst falsch gemacht zu haben. Aber woher weißt du das? War es wirklich falsch oder war es zu dem Zeitpunkt und von deinem Standpunkt hergesehen richtig? Wäre es nicht möglich, dass, wenn du es anders, nach deiner jetzigen Meinung richtig gemacht hättest, möglicher Weise nicht auch falsch oder gar noch falscher gewesen? Wer, außer Gott, weiß überhaupt was richtig oder falsch ist? Erst am Ende, also immer nur im Nachhinein, kann sich zeigen wozu es gut war. Deshalb bringt es nichts immer nach Hinten zu schauen und nur an der Vergangenheit herum zu laborieren. Weiter geht es nur, wenn du allerdings nicht vergisst was war ... Warum sollte man gleiche Fehler noch einmal machen? – aber ansonsten immer nach Vorne schaust. Du kommst nur auf dem vor dir liegenden Weg weiter. Aber auf dem kannst du, wenn du immer nur nach Hinten siehst, auch fürchterlich auf den Hinterkopf fallen, denn die Stolpersteine und Fallstricke kannst du ja nicht, bevor du über sie gefallen bist, sehen. Schau doch nach vorn, setzt dir ein Ziel und geh los.“. Ich wandte darauf ein, dass im Hinblick auf meine Aidserkrankung wohl jedes Ziel einer Fatahmorgana entsprechen würde. Diskriminierung, Leiden und Tod seien doch vorgeben. Daraufhin stellte er mir eine interessante Frage: „Woher weißt du das? Wenn du kein HIV-Test machst, woher willst du dann wirklich wissen ob du überhaupt Aids kriegst? ... Jetzt hast du nämlich noch kein Aids. Woher weißt du, dass du diskriminiert wirst? Es ist doch auch möglich, dass die Leute die dir nahe sind, dich weiter achten und zu dir stehen. Ich glaube, dass ich sagen kann, dass du mein Paps bist und bleibst. Wenn du wirklich krank bist ... was du ja noch nicht einmal weißt – ist es schon möglich, dass ein Leiden nicht ausschließbar ist. Aber ist denn jedes Leiden unerträglich? Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass es Millionen von Menschen gibt die leiden und sich trotzdem freuen leben zu können? Und was den Tod anbelangt, ist es logisch, dass der uns allen gewiss ist. Aber wenn jeder, der mal sterben muss, mit einem Selbstmord flüchten würde, wäre die Menschheit bereits ausgestorben, denn wir müssen alle sterben.“. Nun gestand ich ihm ein, dass er wohl recht habe und dass ich auch wahrscheinlich keinen zweiten Selbstmordversuch unternehmen würde. Aber ich äußerte meine Ansicht, dass es ein bedeutender Unterschied für mein weiteres Leben sei, ob ich Aids habe oder nicht. „Da muss ich dir erst mal recht geben.“, begann er einen weiteren Denkeinwand, „Du könntest beispielsweise, wenn du nicht infiziert bist, dir eine nette Partnerin suchen und mit der harmonisch, wie zum Beispiel jetzt Mama und Onkel Jürgen, leben. Bist du aber infiziert, solltest du jedoch niemanden gefährden, aber du kannst noch vieles machen, was dich und andere glücklich macht. Du stehst also an einem Scheideweg wo beide Abzweige richtig sein können aber in Wirklichkeit nur einer richtig ist. Wenn du wissen willst welcher richtig ist, muss du zu erst einen HIV-Test machen lassen. Du hast ja jetzt keinen Grund mehr davor Angst zu haben. Wenn der Test
positiv ist, kommt es darauf hinaus, wo du dich inzwischen selbst unbewusst mit abgefunden hast. Ist dieser negativ, dann bist du wieder frei. Dann kannst du dir überlegen, ob du nicht doch, wie ich es dir schon ein paar Mal empfohlen habe, der dritte Aussteiger in unserer Familie sein willst. So wie es aussieht, bist du inzwischen soweit, dass dir das Aussteigen sehr leicht fällt. ... Ich glaube sogar, dass es jetzt sogar dein eigener Wunsch ist. Also ich empfehle dir als erstes einen Test. ... Denk mal darüber nach?“. Jetzt musste er sich aber verabschieden, denn in Ulkerde wartete außer Silvia und Christof auch noch eine Verabredung auf ihn. Er versprach mir jedoch am nächsten Tag eventuell mit Silvia vorbeizukommen. Am Abend kam dann noch wie versprochen Ramona vorbei um mir die Dinge, die ich mir gewünscht hatte, vorbeizubringen. Sie brachte mir aber auch Grüße von Susanne und Ralf, ihren Kindern, mit. Die Grüße enthielten dann auch eine Anweisung in die richtige Richtung. Ramona hatte den Kindern nur gesagt ich seihe schwer krank und darauf haben die dann gesagt, dass ich ganz schnell wieder gesund werden müsse, denn sie wären so froh einen Opa, wie ihn die anderen Kinder auch hätten, gefunden zu haben. Jetzt könne ich sie doch nicht so lange allein lassen. Bald wäre Weihnachten und die anderen Kinder würden zu ihren Opa gehen – und das wollten sie auch. Letztlich bemerkte Ramona noch, dass auch sie mich brauche. Einmal aus ähnlichen Gründen wie die Kinder und zum anderen wies sie daraufhin, dass sie keine Ausbildung habe und kaufmännisch unerfahren sei. Ich könne sie ja jetzt nicht im Kioskabenteuer ertrinken lassen. Ich konnte mich gar nicht entsinnen, wann ich jemals das Gefühl hatte, dass mich andere Menschen, auch ohne wirtschaftliche Interessen, brauchten – jetzt kannte ich dieses. Eigentlich stand an diesem Tage fest, dass ich jetzt tatsächlich der dritte Aussteiger sein und weiter leben würde. Am nächsten Morgen bei der Visite habe ich dann dem Stationsarzt den Grund für meinen Fluchtversuch gestanden und mich nach der Möglichkeit eines HIV-Testes erkundigt. Na ja, noch am gleichen Tag wurde mir Blut abgenommen und einem Labor zur Untersuchung geschickt. Schon eine Woche später wurde mir mitgeteilt, dass man in meinem Blut keine HI-Viren gefunden habe. Wenn ich ganz sicher gehen wollte, sollte ich drei Monate später noch einmal einen Test vornehmen lassen. Man schätzte jedoch mit großer Sicherheit, dass man dann zum gleichen Ergebnis kommen würde, denn immerhin lägen zwischen dem letzten Verkehr laut meinen Angaben bis zu diesem Zeitpunkt immerhin schon fast zwei Monate. Na ja, ich habe auch den zweiten Test im Februar 2001 durchführen lassen und weiß, dass ich wirklich kein Aids habe. Somit könnte man sagen, dass ja alles sinnlos war was ich seit dem Bekannt werden des Aidsfalles bis zum 27. November gemacht habe. Das kann ich allerdings nicht unterstreichen. Oder ist es sinnlos, dass ich Ramona mit dem Kiosk eine vernünftige Existenzbasis geschaffen habe? Und das ich von meinem großen Vermögen „etwas“ an die Aidshilfe abgegeben habe kann ich beim besten Willen nicht sinnlos ansehen. Alles in Allem lag in der ganze Sache ein großer Sinn; es gab die entscheidende Wende in meinem Leben. Ich bin jetzt tatsächlich der dritte Aussteiger und bin darüber heute froh und glücklich. Ab dem zweiten Tag meines Krankenhausaufenthaltes entwickelte sich eine kleine Tagesroutine. Jeden Morgen kam kurz nach Zehn Ramona für eine Stunde vorbei. Meist plauderte sie nur nett mit mir, so wie wir das zuvor oft beim Mittagessen gemacht hatten. Regelmäßig erkundigte sie sich danach, was sie für mich erledigen könne und ab und zu brauchte sie auch einen geschäftlichen Tipp von mir. Des Nachmittags kam Hendrik, oft auch in Begleitung Silvias, für zwei bis drei Stunden. Wenn er alleine kam erwies sich als der Meister im Zuhören. Bei ihm sprach ich mich in der ersten Zeit meines stationären Aufenthaltes frei und auch wieder gesund. Wenn Silvia dabei war hatte ich dann doch immer etwas mehr Hemmungen und da haben wir dann mehr über andere, allgemeinere Dinge geplaudert. Als sie am zweiten Tag, zum ersten Mal Hendrik bei seinem Besuch begleitete, konnte sie mir doch noch eine große Kunde überbringen: „Ja, lieber Papa, lieber Opa, deine Familie wird immer größer. Erst kam Christof, dann hat dich Ramona zu ihrem Vater und zum Opa ihrer Kinder engagiert und jetzt kann ich dir verraten, das nächste Enkelkind ist schon unterwegs. Im Juni wird es bei uns angekommen sein. Ich bin mal wieder schwanger.“. Jetzt war ich so glücklich, dass ich sie umarmen und drücken wollte. Nur der Schmerz an meiner Brandverletzung hinderte mich daran. Silvia tröstet mich: „Ach Papa, du hast mich eigentlich noch nie in deinen Armen richtig gedrückt. Aber das wünsche ich mir und deshalb holen wir das sofort nach, wenn du dich besser fühlst.“. Ein weiteres berichtenswertes Erlebnis zur Zeit meines Krankenhausaufenthaltes fällt in die Mittagsstunden des Tages, an dem ich von dem, für mich glücklichen Ergebnis des HIV-Tests erfuhr. Ich war eingeschlafen und hatte geträumt. Wie meistens kriegte ich anschließend nicht mehr zusammen was ich geträumt hatte. Ich wusste nur, dass mir Anni im Traum erschienen war und ich mich danach sehr wohl fühlte. Jetzt dachte ich noch mal über den Traum den sie mir zu ihrem Abschied geschildert hatte und den, den ich selbst geträumt hatte, nach. Jetzt glaubte ich diese Träume deuten zu können. Sie war der Engel, den mir Gott geschickt hatte; wunderschön, lieb und gut. Aber ich bin vor ihr immer davon gelaufen – mein ganzes Leben lang. Immer wollte ich Gipfel stürmen. Obwohl ich hinter dem Gipfel immer wieder herunterfiel nahm ich ohne den Verstand zu gebrauchen den nächsten in Angriff. Der letzte Gipfel war der eines glühenden Vulkans und ich stürmte über heiße Steine und Asche hinauf. In meinem Wahn merkte ich gar nicht, wie das unter meinen Füßen schmerzte. Als ich oben war sprang ich in den Krater. Meine Selbstmordabsichten und der entsprechende Versuch waren dieser Sprung in den Krater. Aber Anni, mein Schutzengel, hielt Wort und fing mich in ihren Armen, in denen ich jetzt liege, auf.
Jetzt blieb nur noch die Deutung, was das wohl sollte, dass sie mich geleitet von meinen Kindern, zu der Frau führen will, bei der ich endgültig sicher sei. Aber ich glaubte an jenem Tag, dass ich jetzt in der Lage sei, auch dieses zu deuten und damit in die Zukunft blicken zu können. Den Plural glaubte ich dahingehend zu deuten, dass neben Hendrik auch noch die beiden Frauen Silvia und Ramona gemeint waren. Wenn ich denen jetzt vertraue und mir von den raten lasse gelange ich zu der Frau, die mein eigentliches Lebensglück sein wird. Da ich ja mit höchster Wahrscheinlichkeit kein Aids habe, steht dem ja auch nichts entgegen. Seltsam, irgendwie glaubte ich jetzt daran und freute mich darauf. Was mir aber bis heute rätselhaft bleibt, ist die Tatsache, dass solcherlei Traumdeutereien in den Bereich der Esoterik fallen aber diese bei mir jedoch eine noch nicht da gewesene Religiosität auslösten. Seit diesem Tag glaube ich bewusst und fest an Gott. Ich bin davon überzeugt, dass er mich liebt und nicht von mir ablässt. Er hat mir Anni wirklich als mein Schutzengel geschickt, denn ich handelte immer wieder wie ein eigensinniger Mensch, immer wieder wandte ich mich von meinem Herrn ab, und er hat nicht losgelassen, weil er mich für etwas anderes bestimmt hat als unter einem umstürzenden goldenen Kalb begraben zu werden. Ohne meinen Schutzengel wäre ich wohl nie auf den Vulkan gekommen, denn vorher wäre ich in tiefe Sümpfe geraten. Ich hätte nicht beim Sprung in den Krater gefangen werden können sondern ich wäre im Sumpf versunken und erstickt. Ich war offensichtlich vollkommen umgekrempelt. Aus einem Saulus war offensichtlich ein Paulus geworden und zwar so einer, der von seinem eigenen Sohn nicht mehr wiedererkannt wurde. Am Nachmittag kam Hendrik alleine und das war bisher immer die Zeit für meine selbstbedauernden Beichten gewesen. An diesem Tag hatte ich ihm nichts zu beichten sondern viel zufragen. Ich wollte unter anderem von ihm wissen, ob er schon mal das Gefühl gehabt habe, dass Gott zu ihm gesprochen habe. Ich fragte ihn, ob er ein biblisches Beispiel dafür kenne, das Gott im Traum zu den Menschen spreche. Darauf erzählte er mir die Josefsgeschichte aus dem Alten Testament. Anschließend führte er mir seine Gedanken darüber aus, dass jeder Mensch jederzeit alleine und gemeinsam mit Gott sprechen könne. Man brauche da nicht mal den Mund aufmachen, denn auch in Gedanken kann man beten und der Herr antwortet immer. Man hört es nicht, man spürt es. Jetzt berichtete er mir, dass er, als er am 28. November auf der Biobauertagung war, irgendwie an mich gedacht habe und eine Pause dazu genutzt habe, für mich zu beten. Da habe sein Handy geschellt und Silvia habe ihm mitgeteilt, was passiert war. Sein erster Gedanke wäre gewesen, dass Gott ihn erhört habe und ihm postwendend gesagt habe, was er zutun habe, damit sein im Gebet geäußerter Wunsch in Erfüllung gehen könne. Wir hatten uns schon eine ganze Weile unterhalten, bis er plötzlich stutzte: „Papa, ... das merke ich jetzt auf einmal erst. Du bist ja plötzlich ein ganz anderer wie der, den ich bisher kannte. Ich weiß jetzt nicht ...“. Und dann brach er plötzlich, ohne das es einen weiteren Grund gegeben hätte, in Tränen aus. Noch weiter weinend sagte er: „Sage mal, kannst du dir vorstellen in Ulkerde zu wohnen, ganz bei uns in der Nähe. Und könntest du dir vorstellen, dass du eine dich ausfüllende Tätigkeit, die nichts mit Geldmacherei zu tun hat, nachzukommen. ... Davon habe ich mein Leben lang geträumt.“. Als ich ihm „Das kann ich mir nicht nur vorstellen, dass möchte ich sogar“ geantwortet hatte, kam von ihm nur noch „Paps, ich liebe dich“ und dann weinte er sich erst mal richtig aus. Beide spürten wir, dass sich Gott uns an diesem Tage offenbart hatte. Auch an den weiteren Tagen, die ich noch im Krankenhaus lag, war es immer noch wie bisher so, dass ich meistens sprach und er mir zuhörte. Nur war das, was ich sagte anders als das, was ich bisher gesagt hatte. Es war kein Jammer mehr, ich sprach nicht mehr mich selbst bemitleidend über Fehler sondern ich sprach mit zu ihm über meine Pläne, über das was ich machen könne. Alles war optimistisch und den Menschen zugewandt. Nur eins muss ich noch sagen: Hundertprozentig war ich meine Vergangenheit natürlich nicht los geworden; ein absolutes Wunder war diesbezüglich nicht geschehen. Aber seitdem ich dieses Buch schreibe ist sie mir immer leichter geworden, jetzt kann ich sie tragen und stehe dazu. Am darauffolgenden Sonntag hatte ich dann erstmals alle meine Kinder um mich versammelt. Erstmalig trafen Hendrik, Silvia und Ramona bei mir zusammen. Bei der Unterhaltung ergab sich dann eine Sache, dass wir glaubten die Welt sei doch kleiner als man glaube. Hendrik begann: „Du Papa, du sagtest doch, dass du dir nicht nur vorstellen könntest sondern sogar wünschtest in Ulkerde zu wohnen. Da ist jetzt eine Gelegenheit. Ein Vetter von Silvi hatte Leukämie und ist jetzt, erst 36 Jahre alt, gestorben. Er war nicht verheiratet aber hatte fünf Kinder, alle mit anderen ...“. Jetzt wurde er durch eine Frage von Ramona an Silvia unterbrochen: „Sag’ bloß Alex Hennecke wäre dein Cousin gewesen?“ Als ihr das von Silvia bestätigt wurde setzte jetzt Ramona den Bericht fort: „Ja, eine der fünf Frauen bin ich. Susanne ist Alex Tochter. Dann bist du ja Susis Großtante ... oder so. Alex hat bis jetzt keinen Pfennig Unterhalt gezahlt. Nach seinem Tod will er das wohl wieder gutmachen. Er tat testamentarisch verfügt, dass sein Haus, das er erst vor Kurzem geerbt hat, verkauft werden soll und der Erlös soll als Unterhaltspauschale für seine Kinder an uns gezahlt werden. Da hat ihn glaube ich ein Steuerberater beraten, da sollten dann keine Erbschaftssteuern gezahlt werden müssen. ... Welch ein Zufall“. „Das kann man schon sagen,“, fuhr jetzt Hendrik fort, „das Haus ist erst knapp 15 Jahre alt und gar nicht so schlecht. Gerade groß oder klein genug für unseren Paps. Und deshalb wollte ich ihn fragen, ob er es kaufen will.“. Da hakte jetzt Ramona noch einmal nach: „Wenn Vati kauft, kann ein Geldtransfer eingespart werden. Er kann meinen Anteil von meinen Schulden beim Kaufpreis abziehen.“. Das ich jetzt spontan zustimmte, hing an meinen sofortigen Gedanken an den Annitraum zusammen. Anni wollte sich ja von meinen Kindern leiten lassen und jetzt waren sie es ja alle drei, die mich in Ulkerde sehen wollten. So gab ich dann Hendrik den Auftrag schon mal für mich bei dem mit der Abwicklung beauftragten Anwalt vorzusprechen. Es geht zwar nicht alles so schnell aber wie es der Teufel will, schnappt mir dann ein anderer das Haus vor der Nase weg. Alles andere hatte nun doch dann wirklich Zeit bis ich wieder auf den Beinen war.
Noch eine Sache lag mir sehr am Herzen. Diese konnte zwar an dem Sonntag nicht geklärt aber bei mir einem etwas beruhigenden Informationsstand zugeführt werden. Seit ich im Krankenhaus lag hatte ich noch nichts von Jürgen und Rosi gehört. Ich machte mir Gedanken darüber, dass die Bande zwischen uns wohl möglich unwiderruflich zerrissen wären. Da ich wusste, dass es eine Auseinandersetzung zwischen Rosi und Hendrik gegeben hatte, wollte ich nicht in die Patsche treten und habe deshalb nicht nachgefragt. Ramona war unbekümmerter und fragte Silvia, als Hendrik mal kurz zur Toilette war: „Hat sich die Sache zwischen deinem Mann und deiner Schwiegermutter wieder geklärt?“. „Leider nicht“, beantwortete Silvia die Frage, „und im Moment kann man auch nichts machen, denn die sind 3 Wochen in Australien. Sonst hätte ich die Gelegenheit mit unserem Papa als Vorwand genutzt um die Sache zu kitten.“. Jetzt wandte sich Silvia auch an mich: „Also nimm es Mama und Jürgen nicht übel wenn sie nicht kommen, die wissen gar nicht, dass du im Krankenhaus bist.“. Mein Bruder und meine Schwägerin wussten also nicht, dass ich im Krankenhaus war aber dafür wussten es einige Leute in Waldheim. Für mich sehr schmeichelhaft war allerdings, dass alle einer kleinen 1-spaltigem Zeitungsartikel glauben schenkten, dass es aufgrund eines technischen Defektes am Anschluss des Gasherdes zu einer Verpuffung gekommen sei und ich dabei nicht lebensgefährlich verletzt worden sei. So hatte es sich den beiden herbeigerufenen Polizisten dargestellt und so hatten sie es in ihrem Bericht, den die Zeitung übernommen hatte, wiedergegeben. Na ja, eine Versicherung brauchte nicht zu zahlen – das erledigte ich selbst - und aus meiner Person waren keine Menschen zu Schaden gekommen, so dass sich auch kein Sachverständiger ansehen musste, was nun weshalb wirklich passiert war. So konnte es auch in der Öffentlichkeit beim Unfall bleiben, wodurch dann letztlich Klatsch- und Tratschschäden ausgeschlossen wurden. In der darauffolgenden Woche wurde ich dann auch aus dem Krankenhaus entlassen. Hendrik übernahm die Abholung und danach begann dann mein neues Leben als der dritte Aussteiger, von dem ich allerdings noch einiges Interessantes zu berichten weiß. Zum Kapitel 28
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Einen Bruder wird man nicht los Haben Sie schon einmal über das Wort „Ruhe“ nachgedacht? Im theoretischen Sprachgebrauch erscheint es immer recht positiv und anstrebenswert. „Ach wie, schön das ich jetzt mal ein paar Tage Ruhe habe“ oder „Der Kerl hat es gut, denn den lässt man in Ruhe“ und so weiter, und so fort. In der Praxis angewandt erweist sich das Wort „Ruhe“ aber fast immer negativ. Da habe ich mal von einem neuen Bürohochhaus gehört, in dem die darin arbeitenden Leute buchstäblich ausgeflippt sind, weil man einen so guten Schallschutz eingebaut hatte, das man wirklich von Ruhe sprechen konnte. Da musste man dann nachträglich künstliche Geräuschquellen einbauen, damit die Leute ihrer Arbeit nachgehen konnten. Gehen Sie doch einmal in unseren Großstädten durch eine Häuserschlucht, insbesondere in sogenannten älteren Arbeitervierteln. Was ist dann, wenn wirklich mal für Bruchteile von Sekunden Ruhe herrscht? Dann kommen unwillkürlich meist unbegründete Angstgefühle und Hemmungen auf. Was blüht jemanden, wenn ein sonst agiler Vorgesetzter einen plötzlich ganz ruhig anschaut? Dann dürfte mindestens ein kleines Donnerwetter fällig sein. Was hat es zu bedeuten, wenn ein Staat die Ruhe zur ersten Bürgerpflicht erklärt? Doch nur, dass man das, was von Oben kommt ohne Mucken zu „fressen“ hat; kurz: Es handelt sich dann um eine obrigkeitsstaatliche Diktatur. Wie reagieren kleine Kinder, wenn sie aufwachen und feststellen, dass im Hause Ruhe herrscht? Meistens haben sie dann Angst und brüllen los. Die Ruheunerträglichkeit kann man für sich selbst noch künstlich verschärfen. Wenn Leute ihr Leben dazu verschwenden um von Event zu Event huschen damit sie sich einen Funfaktor nach dem anderen verschaffen, geraten sie auf eine natürliche Weise bei Eintritt von Ruhe völlig aus dem Tritt; reagieren aggressiv und unbeherrscht. Dank Ruhe zerbricht fast jede zweite Ehe; umgekehrt, also wegen dauernder Streitereien, ist die Zahl viel geringer. Zum Beispiel wird der Anstoß zum Zerwürfnis oft an den Weihnachtstagen getätigt, wenn nämlich Ruhe anstelle der Alltagshektik tritt. Dann wissen viele nichts mehr mit sich anzufangen und öden sich gegenseitig, zum unkittbaren Streit steigernd, an. Wer stetig für Backgroundberieselung durch Radio und Fernsehen sorgt reagiert bei unvorbereiteter plötzlicher Ruhe so, als sei gerade ein Katastrophenfall eingetreten. Aber auch beim Informationsfluss kann eintretende Ruhe für Beunruhigung sorgen. Wenn man stetig was von einer bestimmten Seite hört, gleichgültig ob dieses negativ oder positiv ist, scheint die Welt in Ordnung zu sein. Hört man aber nichts mehr aus dieser Richtung, wenn also Ruhe eintritt, beunruhigt einen das mehr als der Empfang von sogar schlechtesten Nachrichten. So was trat in Bezug auf meine Person auch bei Rosi und Jürgen ein. Im wirtschaftlichen und sonstigen öffentlichen Leben war ich schon seit längerer Zeit kalt gestellt; da sprach niemand mehr von Walter Heuer. Ab dem Zeitpunkt, wo ich vom Veranstalten von Sexorgien in meinem Hause Abstand genommen hatte, war ich nach und nach auch nicht mehr das Gesprächsthema bei den Leuten auf der Straße. Meine Besuche im Loveparadies in Holensiep wurden nicht öffentlich ruchbar und meinen Aidsverdacht habe ich zunächst selbst in meiner Seele eingesperrt. Mein Selbstmordversuch, der sich öffentlich als banaler Unfall darstellte, war nicht die Sensation über die man lange sprach und war somit Jürgen und Rosi, auch weil sie zu dem Zeitpunkt in Australien waren, vollkommen entgangen. Da momentan zwischen den Heuers in Seetal und den in Ulkerde kalter Krieg herrschte, erfuhren sie auch das nicht, was sie sonst unwillkürlich voneinander erfahren hätten. Das machte insbesondere Jürgen, der auch noch was auf dem Herzen hatte, richtig kribbelig. Als er an einem Morgen im Dezember 2000 in einer, die SG Seetal betreffenden Angelegenheit, im Kreishaus Waldheim tätig werden musste beschloss er der Sache mit seinem Bruder mal auf den Grund zu gehen. Dabei ließ er sich von der Logik leiten, dass man von Leuten, die stangenweiße Gauloises rauchen, am ehesten etwas im, dessen heimischer Wohnung am nächstengelegenen Zigarettenladen oder Kiosk erfährt. Das heißt, wenn man nicht den direkten Weg wählen will, was heißt, wenn man nicht gleich bei dem Gesuchten anschellen will, ist ein solcher Laden, in dem sich der Betreffende möglicher Weise selbst versorgt, der beste Startpunkt für Recherchen. Also steuerte Jürgen den Kiosk, dessen Inhaberin jetzt, allerdings ohne sein Wissen, Ramona war, an. Er wollte sich unsere Ähnlichkeiten zu nutze machen und glaubte, dass er, wenn er eine Stange Gauloises kaufe, dann automatisch was von mir erfahren würde. Er setzte einfach auf die Redseligkeit der Leute. Da gab es dann für ihn die Überraschung, als ihm hinter der Ladentheke plötzlich Ramona gegenüber stand und fragte: „Guten Tag Herr Heuer, sie möchten sicherlich ein paar West?“. Das war nämlich in der letzten Zeit seine Marke. Jürgen und Ramona kannten sich ja aus der ersten Zeit als sie bei mir im Hause war. Mein verblüffter Bruder wollte nun von ihr wissen: „Nanu Frau Vierhoff, sie arbeiten jetzt hier und sind nicht mehr für meinen Bruder tätig?“. „Na ja, seit ich hier den Laden übernommen habe ... Ihr Bruder hat mir dabei sogar ganz phantastisch geholfen – arbeite ich nicht mehr für ihn sondern wir arbeiten gegenseitig für einander ... Zumindestens bis er in sein Haus in Ulkerde zieht. Er ist für mich tagsüber ein männliches Kindermädchen und dafür bekommt er des Abends von mir seine Hauptmahlzeit.“. Das war für Jürgen fast zu viel: Meine Exhauswirtschafterin ist selbstständig, ich arbeite für sie als „Leihopa“ und bekomme dafür eine Mahlzeit. Und obendrein will ich in mein Haus in Ulkerde, wo der Rest der Familie ansässig ist, ziehen. Der guten Ramona machte es wohl Spaß auf allen noch etwas draufzusetzen und erzählte ihm, was ich für ein guter und frommer Mensch geworden sei und wie gut ich mich inzwischen mit meinem Sohn verstehen würde. Die Worte Aids, Selbstmord und so weiter sind nicht gefallen. Der Knüller des Morgens kam aber noch. Rein zufällig kam ich vorbei und dachte mal reinzuschauen und wurde von Ramona prompt mit „Hallo Vati“ begrüßt. Jetzt musste sich
auch Jürgen noch die Story vom Wahlopa, so wie meine Wahltochter diese seit dem Abend, wo wir bei Frau Schroer waren, verbreitete, anhören. Jürgen stand fast wie angewurzelt da und wusste nicht was er sagen sollte. „Was ist denn mit dir passiert?“, wollte er jetzt wissen und hörte von mir: „Na ja, ihr habt mir doch immer empfohlen ich solle aussteigen. Und jetzt bin ich ausgestiegen ... ich glaube sogar konsequenter wie du selbst – und jetzt wunderst du dich. Wolltest du nicht auf einen Kaffee zu mir rüber kommen. ... Allerdings einen solchen vorzüglichen wie du ihn früher von meiner Wahltochter gewohnt warst kriege ich beim besten Willen nicht hin.“. Langsam erholte er sich und sagte freundlich: „Ja, da kann man machen was man will, einen Bruder wird man nicht los; der ist zwischendurch immer wieder da. Dann will ich mich dem nicht widersetzen und ich komme mit.“. Schon auf dem Wege zu meiner Villa berichtete er mir, dass er einiges auf den Herzen habe, was er schon längst gerne mit mir besprochen hätte aber er sich bisher aus diversen Gründen sich nicht so recht getraut habe auf mich zuzukommen. Bei mir im Wohnzimmer sitzend legte er los: „Ich habe wirklich große Sorgen mit Rosi und weiß nicht, mit wem ich darüber sprechen sollte. Mit fremden Leuten will ich nicht sprechen und wie du jetzt weißt haben Rosi und Hendrik einen solchen Zoff miteinander, dass Silvia und ich, um den Graben nicht weiter aufzureißen, uns eine Kontaktsperre verordnet haben. Ich habe eben mit Freude gehört, dass zumindestens Vater und Sohn wieder zueinander gefunden haben. Das freut mich insbesondere auch für Silvia ... Wirklich ein nettes Mädchen – , die sehr auf Familienharmonie steht. Also Walter, jetzt bitte ich dich, behalte das bitte erst mal für dich was ich dir jetzt erzähle. Sage auch nichts zu Rosi ... Es ist nämlich durchaus möglich, dass sie, insbesondere wenn sie erfährt das du ein Musterknabe geworden bist, auf dich zukommt. Sie hat nämlich immer noch ein Herz für dich.“. Er machte erst mal eine Pause für einen Schluck Kaffee und fuhr mit seinem Bericht fort. Ich erfuhr das Rosi auf beiden Augen an einer Netzhautkrankheit erkrankt sei und sie, wenn nichts geschieht, nach Schätzung der Ärzte in den nächsten 5 bis 10 Jahren erblinden würde. Es gibt jedoch eine chirurgische Möglichkeit, das Augenlicht zu retten. Allerdings ist die mit dem Risiko verbunden, das, wenn der Lasereingriff schief geht, sie sofort erblindet. Wenn diese Operation aber nicht bald ausgeführt wird steigt das Risiko aber enorm an. Also die Ärzte raten dringend dazu sehr bald zu operieren. Rosi hat fürchterliche Angst und will sich nicht operieren lassen. Dabei verschlechterte sich von Tag zu Tag ihr Gemütszustand. Schon zum Zeitpunkt als sie mit Hendrik Streit bekommen habe, wäre sie in einer miserablen Verfassung gewesen. Daher habe sich der Streit auch eskaliert, so dass man den Eindruck habe, die Positionen seien unversöhnlich auseinander. Auch er habe unter Rosis Stimmungswallungen zwischen Depression und böser Aggression zu leiden. Um sie aufzumuntern, damit er sie zur Operation bewegen zu könne, sei er mit ihr nach Australien gefahren. Aber es hat nichts gebracht, eher das Gegenteil; sie ist laut seinen Worten unausstehlicher geworden. Am Liebsten würde er weglaufen. „Mensch Kleiner,“, schloss er seine Rede, „kannst du mir helfen? Hast du einen Rat für mich?“. „Ach Jürgen,“, setzte ich zur Erwiderung an, „ich kann Rosi gut verstehen. Ich habe gerade was ähnliches überstanden. Als ein Puff, den ich vorher besucht hatte, zumachte weil Nutten HIV-positiv getestet worden sind, habe ich mir eingebildet ich hätte Aids. Ich bin ausgeflippt und wollte mir das Leben nehmen.“. Ich öffnete mein Hemd, machte die linke Schulter frei und zeigte ihm meine Brandverletzung. Jetzt fuhr ich fort: „Aber was meinst du was ich gemacht habe als ich den Hahn aufdrehte?“. Als er verneinend mit dem Kopf geschüttelt hatte fuhr ich fort: „Ich habe gebetet und auf der Stelle hat mir Gott der Herr geholfen. Das Ganze ging schief und statt im Himmel landete ich im Krankenhaus. Da stellte sich heraus, dass ich auch kein Aids hatte. Auch Hendrik war plötzlich da und als er dann Silvia mitbrachte, erfuhr ich, dass ich zum zweiten Mal Opa werde. Da ich diesen Laden hier an die AIDS-Hilfe verschenkt habe, drohte ich obdachlos zu werden. Und wie ein Wunder war da gerade ein Haus in direkter Nachbarschaft von Hendrik und Silvia zu verkaufen.“. Jetzt hatte ich ihm auf eine etwas flapsige Art und Weise erzählt, was mir inzwischen passiert war. Dieses machte ich nicht ohne Grund, denn ich hatte ein Ziel. Ich wollte ihm berichten, wie mir Hendrik im Krankenhaus zugehört hatte und wie mein Sohn dabei Zugang zu mir gewonnen hatte. Und dass er mir dann danach mit nur wenigen Worten die richtige Richtung zeigen konnte. Abschließend fragte ich Jürgen entsprechend: „Hast du denn Rosi schon mal richtig zugehört und sie reden und reden lassen?“. „Das könnte es sein“, sagte Jürgen bedächtig, „aber ich habe dazu jetzt schlechte Karten. Mir würde sie das auf einmal nicht abnehmen. Aber wie wäre es denn mit dir? Gegen dich hat sie ja eigentlich nichts ... sie hat nur deinen flotten Lebenswandel nicht gebilligt. Aber der ist ja jetzt passé. Vielleicht könntest du sogar die Sache zwischen ihr und eurem Sohn kitten. Das Einzige, was mir jetzt Kopfzerbrechen macht, ist die Frage wie ich euch ohne Beisein Dritter zusammenbringen kann ... und wo sie dann auch kein Verdacht, dass das Ganze getürkt sein könnte, schöpft.“. Seine Idee war auch aus meiner Sicht richtig, aber seine abschließende Frage konnte ich ihm auch nicht auf Anhieb beantworten. Wir überlegten Hin und Her, konstruierten diesen oder jenen Plan und verwarfen diesen anschließend wieder. Und letztlich kamen wir so dann auch vom Thema ab und über seine Fragen ging ich mehr und mehr dazu über ihm zu berichten was mir zwischenzeitig passiert war und wie sich mein Wandel vollzogen hat. Im Gegenzug berichtete er mir dann, was sich alles in seinem Hause abgespielt hatte. Er berichtete mir über seine Auseinandersetzungen mit Rosi und letztlich war nur er es noch der sprach. Und jetzt machte ich das, was Hendrik mit mir gemacht hat: ich hörte ihm zu.
Auf diese Art und Weise haben wir uns, salopp ausgedrückt, verquasselt. Ramonas Kinder waren längst im Haus und hatten ihre Hausaufgaben bereits erledigt und wir saßen immer noch zusammen. Es tat Jürgen richtig gut mit mir reden zu können. Er fasste es zwischendurch in die Worte: „Das Beste was man an einem Bruder hat ist, dass man ihn nicht los wird. Auf diese Weise ist dann auch immer jemand da, wenn man ihn braucht. Außer Rosi habe ich ja nur noch dich.“. So sind, ohne dass wir darüber nachdachten, fünf oder sechs Stunden vergangen. Und da kam uns dann Kamerad Zufall zur Hilfe. Das Telefon schellte und am anderen Ende war Rosi. Erst checkte sie ein Wenig hinten herum ab, in wie weit sie sich an mich wenden könnte. Dann kam sie aber sehr schnell zu ihrem Anliegen: „Walter, mir geht es im Moment nicht so gut. Mit Hendrik habe ich mich zerstritten und mit Jürgen zanke ich mich laufend. Heute morgen ist er nach Waldheim gefahren und bis jetzt noch nicht wieder da. ... Ich mache mir solche Sorgen. ... Ach, ich brauche jemand mit dem ich mich mal aussprechen kann und du bist der Einzigste, der mir als derjenige eingefallen ist, mit dem ich das jetzt könnte. Hättest du ein Wenig Zeit für mich?“. Da haben Jürgen und ich versucht Pläne zu schmieden, wie wir künstlich das Herbeiführen könnten, was jetzt auf natürliche Weise kam. Im Moment war ich ein Wenig in der Klemme. Ich hatte Jürgen vorher nicht gefragt, wie weit Rosis Augenkrankheit fortgeschritten sei und ob sie noch Auto fahren könne. Zwar saß mein Bruder vor mir aber ich konnte ihm nicht fragen, da seine Frau das am anderen Ende ja mitbekommen würde. Wenn ich umgekehrt nach Seetal gefahren wäre, hätte ich nicht gewusst, wie wir ohne Verdacht zu erregen, Jürgen aus dem Verkehr ziehen könnten, denn der musste ja irgendwann wieder in den heimischen vier Wänden auftauchen können. Ich half mir aus der Patsche in dem ich sagte: „Rosi, du hörst dich im Moment sehr aufgeregt an. Meinst du, du könntest hier herkommen?“. Sie antwortet mir, dass sie gleich mit dem Taxi kommen würde und von Jürgen erfuhr ich anschließend, dass ihre Sehkraft inzwischen tatsächlich schon so nachgelassen habe, dass ihr die Ärzte vom Auto fahren abgeraten hätte. Dann gab ich ihm den Rat, postwendend sein Handy zu nehmen und sie anzurufen. Er sollte ihr sagen, dass er aufgehalten worden sei und in einer Stunde wieder da sei. Er machte es und bekam die patzige Antwort, dass sie jetzt selbst außer Haus wolle und ob sie am Abend wieder da sei, wisse sie noch nicht. Nach dem er die rote Auflegtaste betätigt hatte und mir von ihrer Antwort berichtet hatte, sagte ich ihm: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Rosi ist zwar die Mutter meines Sohnes aber deine Frau. Das vergesse ich nicht und habe gelernt, dass ich das akzeptieren muss. Von dir habe ich heute gelernt, dass man einen Bruder nicht los wird, aber ich schmeiße dich jetzt trotzdem raus. Wenn ihr nämlich hier zusammentrefft, ist es mit unserem schönen Plan vorbei.“. Er sagte mir, dass ihm beides auch klar gewesen wäre wenn ich nichts gesagt, er umarmte mich herzlich und machte sich schnell davon. Er wollte auch mit seinem Wagen, der noch am Kiosk stand, schnell außer Reichweite, damit Rosi nicht den Wagen an unglücklicher Stelle, aus der man schließen kann wo er herkommt, sieht. Wenn jetzt alles so weiter gelaufen wäre, wie bisher, könnte man sagen, dass jetzt eine wundersame Bekehrungsgeschichte auf ein happy endendes Finale, welches man dann mit markanten Lehrsatz abschließen könne, hinauslaufen würde. Aber so eben und glatt läuft es im Leben leider nur in Ausnahmefällen ab. Im ersten Moment als Rosi eintraf sah es noch so aus, als würde es so laufen, wie ich es mir erträumte. Meine Schwägerin und Exfrau kam ins Haus, fiel mir um den Hals und drückte mich einmal sehr kräftig. Aber da gab es schon den ersten Knick. Ich spürte einen Schmerz auf meiner Schulter im Bereich der Brandverletzung. Worauf ich, während ich mit meinen sich verzerrenden Gesichtsmuskeln kämpfte, Rosi ein Wenig zurück stieß. Sie konnte ja nicht wissen weshalb dieses geschah und aufgrund ihrer Interpretation merkte ich in welche Richtung sich Rosi im letzten halben Jahr entwickelt hatte. Mit böser Entrüstung sagte sie: „Aha, du auch. Ich habe meine Pflicht und Schuldigkeit getan und jetzt schiebt ihr mich ab. Hat mich denn überhaupt jemals einer von euch lieb gehabt?“. Ich verzichtete zunächst einmal auf große Worte. Öffnet lieber mein Hemd um die Schulter freizulegen und erst dann sagte ich: „Sorry Rosi, ich wollte dich nicht abstoßen, aber mir tat es weh. Schau her.“. Früher hätte sie jetzt ausführlich wissen wollen was los sei, jetzt tat sie es sehr schnell ab: „Entschuldigung Walter, das habe ich nicht gewusst. ... Ja, wir haben alle unser Päckchen zu tragen.“. Als ich sie ins Wohnzimmer geführt hatte, fragte ich sie ob ich ihr einen Kaffee kochen solle oder sie ein anderes Getränk wünsche. Prompt gab es darauf auch eine mehr oder weniger patziges Reaktion: „Wieso willst du Kaffe machen? Ist dir Frau Vierhoff davongelaufen? Ist auch egal, dann mache ich halt den Kaffee.“. Stand auf und ging in die Küche. Da liefen ihr dann Ralf und Susanne, die sich gerade einen allseits als üblich bekannten kindlichen Geschwisterstreit „zugelegt“ hatten, über den Weg. Sie stürmten mit „Opa, Opa“ zu ihrem Schlichter ins Wohnzimmer. Als Rosi darauf mit dem Kaffee zurückkam, kommentierte sie dieses mit einer weiteren Attacke: „Aha, wir werden alle älter. Früher hast du deine Frauen geheiratet, jetzt adoptierst du sie.“. Bevor ich ihr alles erklären konnte kam schon der nächste Schlag ihrerseits. Auf dem Küchentisch stand noch das Geschirr von vorher und dabei der nicht entleerte Aschenbecher. Sie identifizierte die Kippen als Zigaretten der Marke West und an der Art und Weise, wie diese zum Ausmachen am Filter abgeknickt waren wusste sie auch wer der Raucher war: „Mein Mann war also vor mir hier. Na, ich kann es ihm ja nicht verbieten, ihr seid ja Brüder. Hängt ihr vielleicht schon länger hinter meinem Rücken zusammen. ... Hat vielleicht jemand von euch mal daran gedacht, dass ich auch mal gerne jemand gehabt hätte mit dem ich mich mal hätte austauschen können.“. Letztlich sorgte noch das Telefon für einen finalen Schlag. Am anderen Ende war Hendrik und wollte nur wissen, ob ich am kommenden Samstag, wenn ich mein neues Haus besichtigen wollte, schon zum Mittagessen zu ihnen kommen könnte. Das seine Mutter bei mir war und ich ungeschickter Weise im Wohnzimmer, wo sie mithören konnte, abgenommen hatte, konnte unser Sohn nicht wissen. Jetzt war Rosi auf Achtzig: „Aha, alle sitzen in einem Boot und nur mich lasst ihr draußen ersaufen. Ich bin euch wohl überdrüssig. Aber ihr habt
euch getäuscht, ich lasse mich nicht so einfach auf den Müll werfen; ihr kriegt mich so schnell nicht los.“. Jetzt wusste ich, was Jürgen mir mit Rosis neuer Art geschildert hatte. Im Moment war mit ihr wirklich nicht gut Kirschen essen. Mit den Worten „Dann weißt du ja alles und ich brauche dir nichts zu erzählen“ ging sie zum Telefon und wählte deren eigene Nummer an. Jürgen war noch nicht da und konnte somit nicht abheben. Prompt wählte sie seine Handynummer und tönte gleich, als er sich gemeldet hatte, los: „Kannst gleich zurück kommen und mich abholen.“. Ohne das er was antworten konnte legte sie auf. Sie kam anschließend jedoch wieder zurück an den Tisch und ich berichtete ihr erst mal zur Erklärung was bei mir geschehen war. Damit war ich jetzt am Ziel vorbei geschossen, denn wer selbst erzählt kann nicht zuhören. Bei meinem Report musste ich mich dann doch schwer zusammenreißen, denn ich wurde immer wieder mit schnöden Kommentaren von ihr unterbrochen. Ich dachte schon, es sei ein totaler Fehlschlag, als sich das Blatt noch einmal wendete. Rosi nahm plötzlich meinen Kopf in ihre Hände, legte ihre Stirn gegen meine und weinte. Während dessen sagte sie: „Von mir brauche ich dir ja nichts zu berichten. Du weißt ja, das man mir die Brüste amputiert hat und dass ich jetzt noch blind werde. Ein blindes Wesen, dass keine Frau mehr ist.“. Jetzt war ich doch erschrocken, denn von der Brustamputation wusste ich wirklich noch nichts. Jetzt hatte sich doch wieder ein Anlass ergeben wo ich sie sprechen lassen konnte. Jetzt schien es zu klappen. Sie berichtet mir, dass sie 1999, als ich in Frankfurt war, von einem „wilden Operierer“ die Brüste abgenommen bekommen habe. Später haben andere Ärzte dieses Geschichte für einen möglichen Kunstfehler gehalten. Die eine Brust wäre gesund gewesen und das kleinere Karzinom in der anderen hätte man ausschneiden können; eine Amputation wäre also überflüssig gewesen. Als sie wegen eines Gutachtens – sie wollten den, offensichtlich nur aus Bereicherungsgründen handelnden, Frauenbrustkiller verklagen – in der Universitätsklinik war, hat sie eine Generaluntersuchung durchführen lassen, wobei ihr Augenleiden auffiel. Weiter kam sie nicht, den inzwischen schellte Jürgen wieder an. Als ich öffnete, versuchte er es mit einem Scherz: „Da bin ich wieder. Ich habe doch recht, einen Bruder wird man einfach nicht los.“. Auch Jürgen setzte sich noch einmal und die Beiden brachen nicht gleich nach Seetal auf. Allerdings war die Sache jetzt gelaufen. Jürgen saß neben Rosi auf der Couch, nahm sie in den Arm und versuchte sie damit aufzumuntern in dem er ihr beteuerte, dass er sie nie in Stich lassen würde, da er sie liebe. Letztlich trat er dann in das letzte Fettnäpfchen für jenen Tag: „Ach Mäuschen, wir haben dich doch alle lieb. Wenn Hendrik von deiner Brust und deinen Augen wüsste, säße er jetzt auch hier. Wir wollen dir doch alle helfen. Lass uns doch alle zueinander stehen.“. Das war gut gemeint aber bewirkte bei Rosi einen gegenteiligen Trotzeffekt. Zu Jürgen sagte sie „Komm wir gehen“ und mir zugewandt: „Lass dich bloß nicht in Seetal blicken.“. Mich hat sie dann als sie aufbrachen keines Blickes mehr gewürdigt. Ich konnte nur noch kurz eine Gelegenheit nutzen und Jürgen zu flüstern: „Kopf hoch Großer, das packen wir schon. Wir halten zu ...“. Weiter kam ich nicht, denn wir lagen jetzt wieder im Zentrum von Rosis Aufmerksamkeit. Meine Ziele, dass ich Rosi, nachdem sie sich ausgesprochen hätte, sowohl zur Augenoperation wie zur Versöhnung mit unserem Sohn bewegen könnte, waren jetzt fehlgeschlagen. Auch die Bereinigung unserer familiären Beziehung war wohl, wie man das aus „Lass dich bloß nicht in Seetal blicken“ schließen kann, schon wieder gescheitert. Aber trotzdem kann was auf der Erfolgsseite verbucht werden: Wir waren jetzt beidseitig auf dem aktuellen Informationsstand. Rosi und Jürgen wussten was mit mir los war und ich umgekehrt, dass was bei denen anstand und ansteht. Hätten wir dieses Wissen vor unserem Zusammentreffen gehabt, wäre vieles anders gelaufen. Nach meiner Meinung wäre dann das Klassenziel erreichbar gewesen. Ich hatte aber was Wichtiges gelernt: Nichtwissen führt zu Missverständnissen, Fehleinschätzungen, Misstrauen und Verdächtigungen. Wenn man anderen das verschweigt, was einen belastet, läuft man Gefahr sich auf den Irrwegen des eigenen Denkens zu verlaufen. So war es bisher immer bei mir gewesen und so konnte ich es jetzt bei meinem Bruder und Rosi erleben. Heimlichtuerei kann also zu Kriegen, die keiner gewollt hat, führen. Mein Vorhaben für die Zukunft lautet ab diesen Tag, dass ich nie mehr aus meinem Herzen eine Mördergrube machen will. Ich will immer zu anderen offen sein, auch wenn das für mich unangenehm ist. Na ja, als Mensch ist das für mich der einzig richtige Weg aber als Manager wäre ich mit einer solchen Einstellung erledigt gewesen, denn wer zu Beginn einer Verhandlung mit offenen Karten spielt wird von der Gegenseite ein- und abkassiert. Sind etwa die Eigenschaften eines Menschen und eines Managers miteinander unvereinbar? Was ich aber, fast nur so nebenbei, erfahren hatte war, dass auch Hendrik nichts vom Zustand und den Leiden seiner Mutter wusste. Der Grund dürfte wohl sein, wie ich damals schätzte, dass Rosi dieses für sich behalten wollte und dieses Anliegen von Jürgen akzeptiert wurde. Das dürfte auch mit Sicherheit bei dem Streit von Mutter und Sohn eine große Rolle gespielt haben. Rosi hat sich durch diese Geschichte verändert, sie ist schwierig geworden. Der unwissende Hendrik kann das natürlich nicht nachvollziehen und so ist es denkbar, dass es ohne dem Hintergrund von Rosis Gesundheit nie zu dem Streit, bei dem es sich möglicher Weise um ganz andere Dinge gehandelt hat, gekommen wäre. Andererseits war ich davon überzeugt, dass Hendrik, wenn er weiß was los ist, den wichtigen ersten Schritt auf seine Kontrahentin machen würde. Ich glaubte jetzt zu wissen was zutun ist. Ich kannte jetzt meine Aufgabe. Mein Problem war jetzt wieder ein Geheimnis. Ich wusste nicht was wirklich zum Streit geführt hatte und mir war nicht klar, warum beide Seiten nicht darüber sprechen wollte. Ich musste, wenn ich nicht die Angelegenheit verschärfen wollte, es also durch die Hintertür versuchen.
Am folgenden Samstag nahm ich dann beim Mittagessen die Sache in den Angriff. Unbewusst haben mir „meine Kinder“ bei der Stichwortsuche geholfen. Silvia hatte sich ein schickes neues Kleid, so im Stiele wie es gerne von volkstümlichen Sängerinnen getragen wird, zugelegt. Ich bekundete, dass ich es chic finden würde. Darauf setzte Hendrik an: „Ja, aber vielleicht ist das Dekollete etwas zu freizügig. Da kann es passieren, dass bestimmte Männer nichts vom Kleid sehen weil sie sich auf die Busen konzentrieren.“. Na ja, ein Bisschen Eifersucht, also ich meine keinen krankhaften Wahn, ist immer gut für eine Partnerschaft. Aber für mich war es das Stichwort mit dem ich weiter kam und sprach darauf zu Silvia: „Ach, als Frau muss man doch auch ein Bisschen stolz auf dieses schöne weibliche Attribut sein. Da fällt mir gerade ein, dass ich da eine arme Frau kenne, die auch immer sehr stolz auf ihre Busen, die leider amputiert werden mussten, war. Zu allem Übel wurde danach noch festgestellt, dass sie wohl in den nächsten 5 Jahren erblinden wird. Schrecklich nicht wahr.“. Die Kinder waren jetzt ein Wenig ob dieses Gedanken blass geworden und Hendrik machte seiner Neugierde Luft: „Wirklich eine arme Frau. Das stelle ich mir schrecklich vor. Kenne ich die Frau vielleicht oder kannst du mir das nicht sagen?“. „Ja, du kennst sie.“, begann ich meine Erwiderung, „Ob ich dir sagen kann wer es ist weiß ich nicht genau. Ich mache es einfach. ... Es ist deine Mutter, Hendrik.“. Der ließ alles fallen, heulte los und verließ fluchtartig das Zimmer. Das war jetzt hart aber ich glaubte, dass es richtig war. Silvia, die jetzt keinen richtigen Appetit mehr hatte, wollte von mir wissen, ob Rosi jetzt oben flach sei oder ob sie sich eine Brust habe modellieren lassen. Ich musste passen, da ich sie letztmalig Oben Ohne gesehen habe als sie noch meine Frau war und das ich sie seit meiner Rückkehr aus der Wirtschaftswelt immer nur in hochgeschlossener Kleidung gesehen hatte. Darauf sagte Silvia mit nachdenklicher Stimme: „Das fällt mir jetzt auch auf. Seit sie vor zwei Jahren aus der Kur zurückkam war sie immer bis zum Hals zugeknöpft. Jetzt weiß ich auch, dass es keine Kur sondern ... Jetzt weiß ich, warum sie ab dem Zeitpunkt immer komischer wurde. Warum alles in der Welt hat sie nie was davon gesagt? Warum hat uns Jürgen nie davon berichtet?“. So drückte sich Hendrik, als er nach 10 Minuten mit frisch gewaschenen Gesicht wieder hereinkam auch aus. Er bat uns um Hilfe, damit er alles wieder in Ordnung bringen könne. Er wusste zwar noch nicht wie aber nach seiner Beschlussfassung sollte Weihnachten, was kurz bevor stand, wieder eine heile Heuerwelt herrschen.
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Versöhnung kann man nicht erzwingen Irgendwo unterliegen wir alle der Diktatur des Kalenders. Dieser bestimmt ob wir müde (Frühling), fröhlich (Karneval), traurig (Ewigkeitssonntag) oder sentimental (Weihnachten) sind. Ursprünglich hingen die Stimmungen einmal mit dem von der Natur abhängigen Jahresabläufen der überwiegend bäuerlichen Bevölkerung und andererseits mit den von der Kirche den Tagen zugeordneten Bedeutung zusammen. So bestimmte von Frühling bis Herbst, also von Saat bis Ernte, die Arbeit auf dem Hof und den Felder das Leben der Menschen. Daher erklärt sich auch, dass sich im Winter die Feierund Gedenktage zusammendrängen; im Sommer hatte man keine Zeit zum feiern. Na ja, und als sich dann die Leute nach den winterlichen Feier- und Gedenkaktivitäten wieder an die Arbeit aufs Feld machten kamen sie sich noch halt ein bisschen müde vor und in den Köpfen fraß sich dann die Frühjahrsmüdigkeit ein. Heute bastelt man jetzt an wissenschaftlichen Erklärungen für das Phänomen „Frühjahrsmüdigkeit“. Und das hat seinen Grund, denn was Biologen oder Mediziner gefunden haben, lässt sich mit allerlei Mittelchen, die die Kassen klingen lassen, bekämpfen. Dass das Ganze eine mentale Angelegenheit ist, die im Kopf beginnt, hört man gar nicht gerne, denn eine solche Erscheinung kann man mit Umdenken bekämpfen – und Denken bringt kein Geld. Ich gebe ja zu, dass das, was ich jetzt von der Frühjahrsmüdigkeit geschrieben habe meine persönliche Theorie ist, für die ich viele Indizien aber keine Beweise habe. Bei der Theorie, dass ursprüngliche religiöse Feste zu kommerziellen Massenhallodri umfunktioniert wurden, denke ich doch eine wesentlich bessere Beweislage zu haben. Jetzt habe ich bewusst nur von religiösen und nicht von christlichen Festen geschrieben. Denn die Christen haben ja ursprünglich auch heidnische Feste adaptiert und denen eine christliche Bedeutung gegeben, was aber nach meiner Ansicht der Sache auf keinem Fall schadet. So wurde beispielsweise aus den heidnischen Fruchtbarkeitsfesten im Frühling dann das christliche Osterfest. Dabei hat man dann die heidnischen Fruchtbarkeitssymbole, wie Eier, Hasen und so weiter, mit in das christliche Auferstehungsfest übernommen. Dieses ist aus meiner Sicht noch nicht einmal schlimm, denn ich glaube das wahre Christen zu Ostern nicht an Fruchtbarkeitsgöttinnen dachten, obwohl von der Göttin Ostara sogar der Name abgeleitet ist, sondern aufrichtig die frohe Botschaft von der Auferstehung des Herrn feierten. Schlimm finde ich allerdings die neuerliche Umwidmung christlicher Feste in Kulte um das Goldene Kalb, also die sogenannte Säkularisation. Da pickt man sich die ehemaligen heidnischen Bräuche heraus und entwickelt sie in Richtung Konsumrausch weiter, wobei die christliche Bedeutung sogar langsam vergessen wird. So wurde aus Himmelfahrt der Vatertag, dem ein Brückentag folgt. Ich habe schon ein paar Mal erlebt, das Zeitgenossen zum Beispiel Himmelfahrt mit Fronleichnam verwechselt haben und ich das Ganze mit dem Hinweis auf den Vatertag richtig stellen konnte. Bis jetzt habe ich Weihnachten, das chronologisch in meiner hier niedergeschrieben Biographie ansteht, mehr oder weniger ausgeklammert. Aber Weihnachten ist keine Ausnahme. Ursprünglich lagen hier auf diesen Tagen die germanischen Lichterfeste zur Wintersonnenwende und die römischen Saturnalien, zu denen man sich gegenseitig beschenkte. Die Christen legten dann auf diese Tage die Feier der Geburt des Erlösers, der Menschwerdung des dreieinigen Gottes und behielten Lichter und Geschenktraditionen aus heidnischer Zeit bei. Zu Ehren des Gottes Mammon drängt man heute die Geburt des Herrn wieder raus und kultiviert es zum Hochfest des absoluten Konsumrausches. Es gibt Branchen, die die Hälfte ihres Jahresumsatzes im Jahresendgeschäft, also in den 4 bis 6 Wochen vor Weihnachten, machen. Allerdings haben sich auch schöne heidnische Bräuche in die christlichen Feste hinüber gerettet und werden heute so sogar noch zu kommerziellen Zwecken missbraucht. So retten sich die römischen Saturnalien in ihrer Bedeutung als Friedens- und Versöhnungsfest auch hinüber in unsere pseudochristliche, vom Geld dominierte Kultur. Mit dem Hinweis auf Frieden und Versöhnung sind wir jetzt auch wieder mitten in unserer Handlung. Irgendwie hatte sich Weihnachten als Eckdatum für Versöhnung, hier jetzt insbesondere zwischen Rosi und Hendrik, und dem daraus folgenden Frieden in Harmonie in unsere Köpfe eingebrannt. Alle wollten wir die Heuergroßfamilie, bestehend aus den Brüdern Jürgen und Walter, Hendrik, Rosi, Silvia und Christof, wieder als eine Einheit an den Tisch bringen. In diese Angelegenheit steigerte sich Hendrik am Meisten hinein; was auch durchaus nachvollziehbar ist. Samstag, der 23. Dezember 2000, war der Zieltermin bis zu dem unser Sohn alles mit Rosi, seiner Mutter, wieder in den grünen Bereich gebracht haben wollte. Da wir jetzt alle vom Gesundheitszustand Rosis wussten und eindeutig in dem geordneten Mutter-Sohn-Verhältnis den Schlüssel zu einer Einflussnahme auf sie sahen, standen wir auch geschlossen hinter Hendrik. An jenem Samstag als ich in Ulkerde war habe ich noch mit Silvias Hilfe von meinem Handy eine SMS an Jürgen abgesetzt. Ich brauchte Hilfe, weil mich diese umständliche Schreiberei auf dem Westentaschengerät furchtbar nervt und ich in der Regel von der „Spielerei“ keinen Gebrauch mache. Die SMS besagte, dass Jürgen, wenn er ungestört sprechen könne, mal auf meinem Handy zurückrufen solle. Ich wollte ihm darüber aufklären, dass ich Hendrik und Silvia davon informiert habe, was mit Rosi los ist und zum anderen ging es mir um die Erklärung von scheinbaren Ungereimtheiten. Jürgen klärte mich dann im vollen Umfang über die Hintergründe auf. Er sagte mir, dass Rosi ihm gedroht habe, wenn er nur ein Wort gegenüber Dritten, auch Familienangehörigen, verliere würde sie Konsequenzen ziehen, dass für ihn das Leben anschließend nicht mehr lebenswert erscheinen könne. Sie habe das nicht nur verbal gesagt, sondern sie habe mit konkreten Dingen, die er aber für sich behalten wolle, gedroht. Mittlerweile könne er aber nicht mehr und wäre froh mit mir darüber sprechen zu können.
Die Ursache für ihre Einstellung sah Jürgen darin, dass Rosi einstmals unheimlich stolz auf ihre Sexattribute war und diese auch gerne ausspielte. Das kann ich, der ja nun auch über ein Jahrzehnt mit ihr verheiratet war, hundertprozentig bestätigen. Da ging für sie natürlich eine Welt unter als der Frauenarzt Brustkrebs diagnostizierte und eine Amputation für unausweichlich hielt. Ursprünglich war vorgesehen, dass ein plastischer Chirurg, Fachmann auf dem Gebiet der Brustmodulation, ihr ein halbes bis dreiviertel Jahr später wieder den weiblichen Outfit verpassen sollte. Bis dahin wollte Rosi, dass das Ganze vor aller Welt geheim gehalten werden sollte, damit man später ihre Busen weiterhin für ein Naturprodukt hielte. Bis jetzt ist alles nachvollziehbar, aber dann kam es zur Katastrophe. Der plastische Chirurg entpuppte sich als gewissenhafter Mediziner und hob sich so deutlich von den vielen Geschäftemachern auf seinem Gebiet ab. Der verschaffte sich mit Rosis Einwilligung alle diesbezüglichen ärztlichen Unterlagen einschließlich der Aufnahmen von der Mammografie. Und jetzt verstand der die Welt nicht mehr, er war der Meinung die ganze Amputation wäre überflüssig gewesen. Nach der vorangegangenen Kurpfuscherei hatte Rosi dann nur noch null Vertrauen in die ärztliche Kunst, hat Angst vor Operationen und würde lieber sterben als sich noch einmal einen Arzt anzuvertrauen. In Folge wäre es jetzt also weder zur Brustmodulation noch zur absolut notwendigen Augenoperation gekommen. Stattdessen drehte Rosi immer mehr durch und wurde auch zunehmendst, ohne das sie so etwas will, zur Belastung für ihre Mitmenschen. Während unseres Gespräches war Rosi auf einem Spaziergang rund um den Seetaler Weiher und Jürgen hatte von seinem Standort die jeweilige Position seiner Frau immer im Auge. Da sie gerade etwa auf der Mitte des Rundweges war, hatte er auch noch Zeit mir etwas über die Hintergründe des Mutter-Sohn-Streites sagen: „Was da gelaufen ist, wissen nur die Beiden, die waren zu der betreffenden Zeit alleine. Ich gehe mal davon aus, dass sowohl Rosi wie Hendrik einen Grund haben sich dieser Sache zu schämen, denn keiner rückt nur andeutungsweise mit dem raus, was wirklich passiert ist. Es muss sogar handfest zugegangen sein, denn anschließend habe ich eine Standvase, die ich Rosi zum Geburtstag geschenkt habe, zerbrochen in der Mülltonne vorgefunden, Hendrik blutete an der Schläfe und Rosi hatte ein blaues Auge. In meiner Gegenwart hat Rosi Hendrik hier Hausverbot erteilt. ... Ach Mensch Kleiner, wäre das schön wenn wir dieses wieder in Ordnung bringen könnten. Nur wenn wir das wieder in der Reihe haben, habe ich eine Chance wieder eine gesunde vernünftige Frau zu haben. Ich liebe sie über alles und möchte sie nicht verlieren. .. Du tust mir einen großen gefallen, wenn du Hendrik dazu bringst den ersten Schritt zu unternehmen und dass er dann auch hartnäckig dran bleibt. Er kann ja Weihnachten zum Anlass nehmen. Aber um Gottes Willen, bläue ihm ein nirgendwo, auch nicht andeutungsweise, auf Rosis Gesundheitszustand zu sprechen zu kommen ... Rosi könnte dann ausrasten, was wir danach alle bereuen ... davor habe ich Angst.“. Jetzt wo ich alles wusste, musste ich feststellen, dass ich mit meinem Bruder kongruent auf einer Wellenlänge lag. Ich knöpfte mir auch gleich meinen Sohn vor, um ihn in Jürgens und meinem Sinne zu instruieren. Er beruhigte mich aber: „Ach Paps, auch wenn du nichts gesagt hättest, wäre ich so verfahren wie ihr das wünscht. ... Ich kenne doch Mama. Wenn ihr jetzt die Angelegenheit mit dem Streit Mamas und meine Sache sein lasst, dann lasse ich anschließend die Sache mit Mamas Gesundheit die eurige sein. Aber wenn ich das mit Mama hinkriege, erwarte ich das aber dann anschließend auch von euch.“. Wie vereinbart hielt ich mich an das, was ich da mit Hendrik besprochen habe. Deshalb weiß ich nichts von den vielen Kontaktversuchen Hendriks zu Rosi zu berichten. Ich weiß nur, dass es in diesen Tagen fast wie seine Hauptaufgabe aussah. Er hatte Weihnachten, das Fest der Versöhnung, zum Anlass genommen um immer wieder mit Rosi in Kontakt zu kommen. Er rief sie an, schrieb ihr, fuhr persönlich nach Seetal um anzuschellen oder sie abzupassen aber blitzte bei ihr, teilweise in einer ihm schwer treffenden Weise, immer wieder ab. Letztendlich kam er am Dreiundzwanzigsten am späten Nachmittag zu mir, um sich bei mir im stillen Kämmerlein mal richtig auszuweinen. Aber er gab die Hoffnung nicht auf. So kam dann der Heilige Abend, der im letzten Jahr auf einen Sonntag fiel. Für mich lief dieser Tag in einer neuen, noch nie zuvor da gewesenen Art ab. Erstmalig hatte ich es Weihnachten sowohl mit der Familie meines Sohnes, also neben Hendrik und Silvia auch mit meinem Enkel Christof, wie auch mit meiner Wahlfamilie, bestehend aus Ramona, Ralf und Susanne, zutun. Natürlich wollte Ramona in der ihr gewohnten Weise mit ihrer Mutter und den Kindern feiern aber Ralf und Susanne bestanden auch auf eine Bescherung bei ihrem „Opa“. Auf diese Art und Weise wurde der Weihnachtsbeginn für sie, sehr zur Freude der Beiden, um zwei Stunden nach Vorne verlegt. Damit wie üblich die Bescherung bei ihrer Oma um Vier beginnen konnte veranstalte ich diese eben halt bei mir schon um Zwei. Kurz vor Vier trennten sich dann Ramonas und meine Wege. Sie ging mit den Kindern zu ihrer Mutter und ich fuhr nach Ulkerde. Dieses war nicht nur unser Ziel an diesem Tag sondern wir gedachten an diesen Orten die gesamte Weihnacht zu verbringen. Ich wollte also über die gesamten Tage auf dem Steinmarhof bleiben. Weshalb sollte ich auch alleine in meiner Villa versauern, wenn ich bei meiner Familie glücklich sein konnte. Wie hatte ich mir vorher gewünscht, dass auch Rosi und Jürgen dabei gewesen wären, aber eine Versöhnung kann man nicht erzwingen und so saßen Rosi und Jürgen dann leider alleine in ihrem Seetaler Heim. Ich gedachte schon, einfach bei denen vorbeizuschauen aber konnte nicht einschätzen, ob ich da bei Hendriks Vorgehen vielleicht etwas durchkreuzen würde. In Ulkerde verstrich zunächst ein, von der Hendrik-Rosi-Geschichte abgesehen, harmonischer Spätnachmittag und Frühabend. Christof bekam ja jetzt mit 1 ¼ Jahren zum ersten Mal bewusst Weihnachten mit und sorgte mit seinem Staunen und Wesen für Freude bei seinen Großeltern – neben mir waren ja auch Steinmars anwesend – und Eltern. Als
er um Acht in sein Bettchen musste machte er ein Wenig Theater. Einmal war seine Müdigkeit und einmal das KeinEnde-Finden daran Schuld. Als ihn Silvia jedoch in sein Bett gelegt hatte und ihm den Gute-Nacht-Kuss gegeben hatte schlief er auch schon. Danach saßen wir Erwachsenen dann noch bis halb Elf in einer netten Plauderrunde zusammen. Dabei haben wir uns zwei Flaschen á 0,7 Liter Wein zu Gemüte geführt. Das ist für 5 Personen ja nicht zu viel, was sich in der späteren Nacht zu meinem Vorteil auswirkte, denn ich konnte in der Nacht, in der es auch noch zu Schneefall kam, ohne Gefahr oder Gewissensbisse Auto fahren. Der einzigste, der von dieser festlichharmonischen Stimmung nicht so richtig bewegt wurde, war Hendrik, da er zwischendurch immer mit den Gedanken bei seiner Mutter war. Um 23 Uhr gab es dann für mich eine Premiere. Außer „Pflichtteilnahmen“ an Trauerfeiern hatte ich noch nie an einem evangelischen Gottesdienst teilgenommen. An jenem heiligen Abend habe ich mich von meiner Familie zu einem solchen Gottesdienst willig einladen lassen. Die Christmette letzten Weihnachten hat bei mir bewirkt, dass ich im Laufe der Zeit quasi süchtig nach solchen Veranstaltungen wurde. Irgendwie hat mich das Gemeinschaftserleben frei von übermäßigen sakramentalen Riten, die auf mich mystisch und unheimlich wirken, ergriffen. Ich empfinde seitdem Gottesdienstes irgendwie erlösend und befreiend. An diesem Abend begründete sich bei mir auch so eine Art Wunderglauben an das Gebet. In einem stillen Gebet wendete ich mich an Gott: „Ach lieber Gott, sei uns doch wieder gnädig ... auch wenn wir es nicht verdient haben. Was verdienen wir schon? Mach mich zu deinem Werkzeug, dass sich das Blatt zwischen Rosi und Hendrik wieder wenden kann. Und bitte, bitte helfe Rosi. Amen.“. Was dann unmittelbar nach Verlassen der Kirche geschah führe ich, auch heute noch, auf mein Gebet zurück. Ich schaltete gewohnheitsgemäß mein Handy ein und bekam dann, als es voll „hochgefahren“ war, die Mitteilung, das von einer Festnetznummer, die ich als „Heuer in Seetal“ identifizierte, eine Viertelstunde vorher eine Nachricht auf meine Mailbox gesprochen worden war. Die hörte ich nicht ab sondern ich rief gleich zurück. Am anderen Ende war die weinende Rosi: „Walter, lieber Walter, bitte, bitte helfe mir. ... Kannst du vielleicht noch kommen.“. Ich konnte es und wollte es auch sofort. Als ich auf den Steinmarhof ankam fuhr auch unerwarteter Weise gerade Jürgen auf. Ich nutzte noch kurz die Gelegenheit um mit ihm zu sprechen. Er hat sich den Abend über mächtig mit Rosi gestritten. Und, das man da nicht früher drauf gekommen ist, er hatte ihr endlich das Richtige gesagt. Allerdings wussten wir von der Richtigkeit unseres Gespräches allerdings bei unserem Zusammentreffen noch nichts; das wurde mir erst später klar. Er hatte ihr vorgeworfen, dass sie sich offensichtlich in der Rolle der sich selbstbemitleidende „Zicke“ gefiele und damit andere tyrannisiere. Sie wäre die Frau die er über alle Dinge liebe aber sie würde mit ihrer Spinnerei die Liebe kaputt machen. Letztendlich ist er aufgestanden, hat die Tür hinter sich zugeschlagen und ist zu mir nach Waldheim gefahren. Als er mich dort nicht antraf ist er dann kurz entschlossen nach Ulkerde gekommen. Neu an dieser Auseinandersetzung war, dass er nicht in doch offensichtlich falscher Rücksicht auf sie zurückgesteckt hat und sie stattdessen mit der Wahrheit konfontriert hat. Heute weiß ich, dass falsche Rücksichtnahme der verlogenen Diplomatie gleichgesetzt werden muss. Sie nutzen wenig und können viel schaden. Ganz ohne Taktik komme ich aber immer noch nicht über die Runden und vereinbarte mit meinem Bruder, dass er, wenn ich mich nicht vorher melde, sich in etwa anderthalb Stunden anrufen sollte und ... na warten wir es ab, denn meine intuitive Eingebung war goldrichtig. Als ich bei Rosi ankam fiel sie mir um den Hals und berichtete mir erst einmal unter Tränen, was ich schon von Jürgen wusste. Dieser Bericht schloss damit, dass Rosi mir ihre Sorge, weil Jürgen davon gelaufen sei, gestand. Jetzt beruhigte ich sie erst mal in dem ich ihr sagte, dass ich glaube unterwegs Jürgens Wagen auf der Straße nach Ulkerde gesehen zu haben. Das wir bereits miteinander gesprochen hatten wollte ich ihr aus „strategischen“ Gründen erst mal nicht offenbaren. Nun kam das, was wir uns schon vor Kurzem erhofft hatten: Sie redete und redete und ich hörte ihr zu. Ich hörte im wahrsten Sinne des Wortes zu. Es dürfte wohl unbewusst gewesen sein, dass sie mein Zuhören durch Zwischenfragen, die ich ihr kurz und korrekt beantwortete, testete. Mehr sagte ich aber nicht, denn ich hatte einen Fehler vom letzten Mal erkannt: Durch mein eigenes Reden, also durch meine Einwände, hatte ich ihrem „inneren Schweinehund“ die Chance zum hysterischen Ausrasten gegeben. Ich merkte, dass sie, wo sie „ungestört“ reden konnte, von selbst auf die Dinge kam, die sie augenscheinlich falsch gemacht hatte und noch machte. So war es auch bei mir, als mir Hendrik damals im Krankenhaus zuhörte. So gegen 2 Uhr nachts schellte das Telefon. Rosi wusste zwar genau wie ich wer am anderen Ende war, aber was jetzt kam wusste von uns beiden nur ich. Mit Jürgen hatte ich besprochen, dass er ihr zwischendurch mal das Gefühl geben sollte, dass sie nach wie vor die Frau sei, die er liebt, begehrt und auf die er eifersüchtig ist. Er gab bei seinem Anruf an, dass er gehört habe, dass ich bei ihr in Seetal sei und dann „tobte“ er mit seiner, jetzt allerdings vorgespielten Eifersucht los. Nach etwa drei Minuten Eifersuchtsgewitter sagte er ihr, dass er jetzt nach Hause kommen würde und wehe wenn er feststellen würde, dass wir was miteinander gehabt hätten. Dann würde er mich endgültig erledigen. Sie kam nicht zu Wort und ich tat so, als wüsste ich nicht um was es ging. Irgendwie hatte ich das Gefühl als würden ihre Augen leuchten. Als sie zurück in die Sitzecke kam fragte sie, zunächst zu meiner Überraschung: „Walter, willst du mit mir schlafen?“. Prompt antwortete ich mit einem etwas ermahnenden Ton: „Wäre Jürgen nicht mein Bruder und wollte ich nicht mit meiner Familie und mein Leben klar gekommen, würde ich dich jetzt umgehend flach legen aber so muss ich Nein sagen. Wenn du mich verführen willst haue ich sofort ab.“ Sie fragte noch: „Hast du meine Brust vergessen?“. Worauf ich ihr prompt „An dir ist ja eine ganze Menge mehr als nur das Bisschen Brust dran“ erwiderte. Unverkennbar vermittelte sie mir auf einmal einen glücklichen Eindruck.
Nach etwa einer halben Stunde traf dann Jürgen ein. Verabredungsgemäß erweckte Jürgen den Eindruck als wolle er mir an den Kragen gehen und Rosi ging erwartungsgemäß dazwischen. Jürgen sagte mir später, dass er Rosi schon lange nicht mehr so glücklich wie an diesem Morgen erlebt habe. Es wäre fast so gewesen als sei sie ganz wieder die Alte. Mir wurde jetzt die Wohnzimmercouch zum übernachten angeboten und dieses Angebot nahm ich, der ich nun bald zwanzig Stunden auf den Beinen war, dankend an. Nachdem Rosi mir mein Couchlager bereitet hatte verschwand das glückliche Paar in ihr Schlafzimmer und ich bin überzeugt davon, dass die Beiden nicht gleich geschlafen haben. Als ich da lag, dachte ich daran, dass das Ziel, die Versöhnung von Mutter und Sohn, noch nicht erreicht sei aber wir diesem in dieser Nacht sehr nahe gekommen seien. Ich hatte in dieser Nacht festgestellt, dass man Versöhnung nicht erzwingen aber erbeten kann. Beten erweckt die mächtige Kraft des Geistes, mit dem man Berge versetzen kann. Ich faltete noch einmal die Hände, dankte Gott und bat ihn, mir die Kraft zur Fortsetzung des Weges zugeben. Danach schlief auch ich glücklich ein. Bei mir hat sich in dieser Nacht vielleicht noch eine größere Wandlung vollzogen als bei Rosi – ich glaube, dass ich ab diesem Tag ein wahrer Christ bin. Am nächsten Morgen setzten wir uns zu Dritt zum Frühstück zusammen. Da „störte“ dann prompt mein Handy. Hendrik wollte wissen, ob und wann mit mir zurechnen sei. Da vollzog sich der nächste erhoffte Schritt. Als Rosi das Wort „Hendrik“ hörte streckte sie mir den Arm entgegen und begehrte mein Handy. Das gab ich ihr natürlich gerne und Rosi sagte mit einem warmen Flüsterton: „Frohe Weihnacht mein Junge. Kann zwischen uns wieder alles gut sein? Bitte, bitte entschuldige mich.“. Dann stand sie auf und ging mit dem Gerät am Ohr hinaus. Jürgen und ich wissen jetzt davon nur, dass Hendrik mit einer höheren Telefonrechnung zu rechnen hat, denn Mutter und Sohn „plauderten“ über eine Dreiviertelstunde. Was, wissen wir nicht und das geht uns schließlich ja auch nichts an. Als Rosi wieder reinkam hatte sie immer noch nicht aufgelegt. Sie fragte Jürgen ob sie am Nachmittag nach Ulkerde fahren sollten. Als Jürgen zustimmte gab sie das noch an Hendrik weiter. Danach bekam ich dann, ohne das sie den Auflegknopf betätigt hatte, das Handy, weil unser Sohn gerne bestätigt hätte, dass ich zum Mittagessen wieder in seinem Hause sei. Anschließend saßen wir noch etwa anderthalb Stunde zusammen bevor ich mich wieder auf dem Wege nach Ulkerde machte. Die ganze Zeit wurde wieder von Rosi zum sich Freisprechen genutzt. Diesmal hatte sie sogar zwei Zuhörer. Natürlich genügten nicht die „Sitzungen“ dieses Tages um alle Brocken von ihrer Seele zu bekommen. Es gab innerhalb der nächsten drei Wochen noch einige Gelegenheiten, an die sich neben Jürgen und mir auch noch unser Sohn als Zuhörer beteiligte. Danach war sie dann wieder fit im Familiensinne. Jetzt aber erst mal weiter mit dem Geschehen zu Weihnachten. Rosi teilte Jürgen und mir, bevor ich mich wieder nach Ulkerde auf den Weg machte, mit, dass sie mit Hendrik vereinbart habe, dass sie ab dem Nachmittag so tun wollten als wäre nie was gewesen. Wir möchten bitte mitspielen, da dieses im Sinne beider, gerade versöhnter Streithähne läge. Dazu kann ich noch anfügen, dass dieses nicht nur im Sinne der Beiden sondern aller lag. Selbst freundlich gemeinte Rückreflexionen auf solche Dinge können leicht zu einem neuen „Vulkanausbruch“ führen. Jürgen begleitete mich noch zum Wagen und nutzte die Gelegenheit mir zu sagen, dass er es jetzt noch nicht für angebracht halte mit Rosi irgendetwas in Richtung Augenleiden oder Brustmodulation zu besprechen. Er meinte sie müssen jetzt erst mal zu sich selbst finden. Ich teilte diese Ansicht und besprach dieses auch mit dem Rest der Familie. Um so überraschter waren wir am Nachmittag als sie selber davon anfing. Wie gewünscht, verhielten wir uns so, als hätten wir letztmalig vor höchstens einer Woche in dieser Runde „normal“ zusammengesessen. Zu Beginn plauderten auf der einen Seite erst wir drei Männer – Steinmars waren an diesem Nachmittag nicht dabei – und auf der anderen Seite Silvia und Rosi miteinander. Das hat sich aus der Tatsache, dass Rosi nun zum ersten Mal nach dem Bekannt werden der zweiten Schwangerschaft ihrer Schwiegertochter mit dieser darüber sprechen konnte. Nach so etwa einer halben Stunde liefen die Damen- und Herrengespräche wieder aufeinander zu und somit wurde in einer Fünferrunde weiter geplaudert. In irgendeinem harmlosen Zusammenhang, den ich inzwischen vergessen habe, fiel das Stichwort „Dekollete". Dieses griff Rosi auf und sprach offen mit der Runde über ihre amputierte Brust. Sie könne auch ohne Busen leben aber wenn sie ihre Angst überwunden habe, wolle sie sich doch eine „Silikonbrust“ zu legen. Auch eine Oma würde es gerne sehen, wenn mal ein Mann versuchte ins Dekollete zu schauen. Den anschließenden Lacher regte sie selbst an. Dann kam noch zu unserer weiteren Überraschung: „Ich sage so locker, dass ich das gerne sehen würde. Das nutzt mir aber nichts, wenn ich blind bin. Ich glaube, da muss ich zuerst was unternehmen. Ich kann es ja erst einmal mit einem Auge versuchen, dann habe ich immer noch das andere um langsam blind zu werden. ... Aber wie gesagt ich muss meine Angst überwinden. Ich sollte erst mal zum Psychologen gehen ... oder an einen Priester. Ich habe jetzt mal irgendwo gelesen Theologen seien auf dem psychologischen Gebiet erfolgreicher als die Leute, die sich zu Experten auf dem Gebiet aufgeschwungen haben.“. Das wir auf einmal so nah am Ziel waren, das hätte ich mir 24 Stunden vorher nicht träumen lassen. Aber wie schon bereits geschrieben mussten wir noch zirka drei Wochen bis zum endgültigen Durchbruch warten. Jetzt konnten wir eine Weihnachten feiern wie wir uns das gewünscht hatten. Rosi und Jürgen blieben noch bis bald 10 Uhr am Abend und kamen auch am 2. Weihnachtstag wieder für eine gleiche Zeit nach Ulkerde. Den Jahreswechsel, also den wahren Jahrtausendwechsel, feierten wir in meiner Villa. Das war gleichzeitig auch der Abschied von diesem Haus, denn es sollte dort die letzte Feier vor meinen Auszug sein. Den Hinweis auf den wahren Jahrtausendwechsel
habe ich an dieser Stelle bewusst mal aufgenommen, denn ein Jahr zuvor hat sich bewiesen das alle dummes Zeug reden und falsches behaupten können ohne das dadurch die Sache richtig wird. Erinnern Sie sich noch an den Millenniumswahn? Das erste Jahrzehnt endet mit dem Jahr 10, das erste Jahrhundert mit dem Jahr 100, das erste Jahrtausend mit Jahr 1000 und das zweite Jahrtausend mit dem Jahr 1999 – höchst komisch, nicht wahr? Da gibt es den Werbespruch: „Können sich Millionen Amerikaner irren?“. Die richtige Antwort muss lauten: „Ja, und wie! Was alle sagen ist immer populistisch aber selten richtig. Populismus und Wahrheit sind zwei ungleiche Schuhe.“.
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Mit 56 in ein neues Leben Es ist eine menschliche Eigenart, dass man sich gerne aus größeren Zusammenhängen einzelne Stellen herauspickt, diese interpretiert und dann letztendlich eine sinnentstellende Version als Weisheit herausgibt. Sehr auffällig ist dieses im Bereich der Religion festzustellen. Da picken sich Christen und Moslems aus den im Gesamtzusammenhang Frieden, Menschlichkeit und Vergebung gebietenden Texten aus der Bibel beziehungsweise aus dem Koran heraus und interpretieren dieses in Richtung Rechtfertigung für Krieg, unmenschlicher Härte und Vergeltung um. Das geht davon Todesstrafe bis heiligen Krieg. Heißt es aber nicht, dass der Herr sagt, dass die Rache seine Angelegenheit sei und wir nicht richten sollten damit wir nicht gerichtet werden. Heißt es nicht in der Bibel, dass man nicht töten solle und besagt nicht eine Sure des Korans, dass derjenige, der nur einen Menschen tötet in den Augen Allahs die ganze Menschheit tötet. Liegt es an dieser Herauspick- und Interpretiersucht dass Sekten aus ein und derselben Religion krasse gegensätzliche Meinungen über Gottes Willen vertreten? Wie kann es sein, dass die eine Sekte etwas zur Todsünde erklärt, was andere als Gebot auslegen? Nehmen wir doch nur als „harmloses“ Beispiel die Polygamie der Mormonen im Gegensatz zum Monogamiegebot anderer christlicher Religionsgemeinschaften. Ich habe jetzt nur um das, was ich eben als Herauspick- und Interpretiersucht bezeichnet habe, verdeutlichen zu können solche „großen Dinge“ angeführt. Statt Beispiele aus der Religion hätte ich auch reihenweise welche aus Politik und Wirtschaft heranziehen können. Aber auch im Kleinen, im alltäglichen menschlichen Leben, sind solche Zusammenhangzerflederungen und Fehldeutungen üblich. Rosi liefert uns im letzten Jahr ein sehr krasses Beispiel obwohl sie es im Grunde ihres Herzens eigentlich gar nicht wollte. Anfang diesen Jahres, als sie aus ihrer verständlichen psychischen Verwirrung langsam wieder zur Ruhe und Besinnung kam, sollte alles wieder ins Lot kommen, was aber für uns bedeutete, dass sich doch viele Dinge auf einmal ganz anders wie vorher darstellten. Da hatte doch Rosi sich die Aussagen des plastischen Chirurgen, die sich auf etwas ganz Bestimmtes bezogen, nämlich auf den Anschein der durch die Mammografieaufnahmen entstanden war, aufgegriffen und ihren Frauenarzt „beschuldigt“ grundlos ihre Brust amputiert zu haben. Danach hatte sie dann mit beiden nicht mehr gesprochen. Anfang Januar brachte Jürgen sie dazu, mit ihm gemeinsam ein Gespräch mit dem Frauenarzt zu führen. Und da ergab sich plötzlich eine ganze andere Situation. Aufgrund von schnell voranschreitenden Veränderungen an den Warzenhöfen hatte der Arzt einen Verdacht geschöpft und hat darauf sinnvoller Weise erst mal eine Mammografie durchgeführt. Auf diesen war relativ wenig zu sehen; nur in einem Busen sah es nach einem Karzinom aus. Um sicher zugehen nahm er Gewebeproben und im Labor stellte man viele Metastasen, die einen Eingriff zwingend notwendig erscheinen ließen, fest. Bevor er aber operierte hat er zur Sicherheit noch einen weiteren Kollegen, der zum gleichen Ergebnis kam, hinzugezogen und nochmals Gewebeproben genommen. Im Großen und Ganzen ist davon auszugehen, dass der Arzt verantwortungsvoll und richtig gehandelt hat. Da ihm nicht entgangen war, wie sehr Rosi durch diese Sache psychisch belastet worden war, hat er ihr selbst den plastischen Chirurgen empfohlen. Dieser hatte nicht alle ärztlichen Unterlagen angefordert sondern lediglich Mammografieaufnahmen und nähere Beschreibungen der Busen, soweit dieses aus den ärztlichen Unterlagen hervorgingen, angefordert um möglichst die ursprünglichen Originale nachbilden zu können. Er hatte diesbezüglich Rosi auch nach eventuellen Oben-ohne-Aufnahmen oder Aktfotos gefragt. Beim Anblick der Mammografien waren ihm dann nur die Bemerkungen, die sich ausschließlich auf den täuschenden Anschein bezogen, die Rosi so krass fehlinterpretiert hat, rausgerutscht. Unsere gute Rosi hat sich dann so in die „Kurpfuschergeschichte“ verstrickt, dass sie letztlich von der Meinung, der Frauenarzt habe nur aus reiner Gewinnsucht gleich ohne nachweisbaren Grund operiert, selbst absolut überzeugt war und wollte diesen verklagen. Deshalb bestellte sie bei einer Universitätsklinik ein Gutachten, mit dem sie ihren Frauenarzt verklagen wollte. Sie behauptete Jürgen und später uns gegenüber, dass sie von der Klinik gründlich untersucht worden sei, wobei dann auch ihr Augenleiden aufgefallen sei. Zum Ergebnis des Gutachtens äußerte sie sich immer mit „Ach, eine Krähe hackt doch der anderen kein Auge aus.“. Auch dieses stellte sich dann, als sie der Sache mit Jürgen objektiver Unterstützung nachging, auch ganz anders da. Der Gutachter von der Uni hatte zunächst alle Unterlagen geprüft und nichts, was zu beanstanden wäre, gefunden. Er hat dann Rosi eigentlich nur zu einem Gespräch bestellt und hat bei der Gelegenheit das Operationsumfeld in Augenschein genommen. Danach wollte auch er die Geschichte, nach dem er Rosi seine Feststellungen erläutert hatte, einstellen. Dem Professor fiel jedoch noch auf, dass Rosi trotz einer, nur ein halbes Jahr alten Lesebrille erhebliche Schwierigkeiten beim Lesen hatte. Daraufhin hat er sie, erst mal zu einem Kollegen von der Universitätsaugenklinik geschickt. Für den Gutachter war insbesondere auch wichtig, ob Zusammenhänge zwischen der Sehkraft und den ehemaligen Metastasen bestehen, was zwar nicht sehr wahrscheinlich aber leider auch nicht auszuschließen ist. In der Augenklinik stellte man fest, dass Rosi an einer vermutlich angeborenen Augenkrankheit, die sehr oft mit den Wechseljahren richtig zum Ausbruch kommt, leidet. Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, hängt das mit der hormonellen Versorgung des Körpers zusammen. Hier nur der einzigste vage Zusammenhang mit der Brustgeschichte, da die Entfernung der Brüste nicht ohne Auswirkung auf den Hormonhaushalt bleibt. Im Zuge dieser Krankheit sterben Nervenzellen in der Netzhaut ab und wenn alle abgestorben sind, ist man letztlich logischer Weise blind. Abgestorbene Zellen kann man natürlich nicht wiederbeleben oder ersetzen aber man hat heute Möglichkeiten durch einen Lasereingriff die Versorgung der Netzhaut auf das Normalmaß zu verbessern und somit das Absterben weiterer Zellen
zu verhindern. Das heißt, dass die ursprüngliche Seekraft nie wieder hergestellt werden kann, sondern man kann nur die derzeitige Sehkraft erhalten. Deshalb ist auch „Eile“ geboten, denn wenn jemand fast oder gar ganz blind ist, nutzt natürlich alles nichts mehr. Das Risiko war dabei überhaupt nicht so groß, wie Rosi dieses glaubte und dargestellt hat, sondern es war eher das Gegenteil der Fall: die Erfolgsaussichten waren noch sehr hoch. Aber grundsätzlich gibt es keine chirurgischen Eingriffe ohne Risiko und über das müssen Ärzte bekanntlich die Patienten vor einem möglichen Eingriff aufklären. Und genau das und nichts anderes war passiert. Aber man darf jetzt Rosi nichts Böses unterstellen. Alle beteiligten Ärzte bescheinigten ihr und Jürgen, dass solche Fehlinterpretation bei ihrem psychischen Zustand nachvollziehbar seien. Diese waren froh, das Rosi jetzt ihren Mann mit einbezog und sie damit die Möglichkeit hatten, jetzt zu ihren Gunsten über ihren Mann auf sie einzuwirken. Ohne Zustimmung der Patientin hätten diese sich nur im akuten Notfall an ihrem Mann wenden dürfe. Ihr wurde auch bescheinigt, dass sie kein Einzelfall sei sondern das so etwas Hin und Wieder vorkommt. Na ja, Rosi war jetzt einsichtig aber sie geriet in einem anderen bösen Zustand: sie schämte sich fürchterlich; einmal vor den Ärzten und einmal vor uns. Zum Glück war es Jürgen und mir bei unseren „Zuhörsitzungen“ gelungen, dass sie trotz ihrer Scham das Vertrauen zu uns behielt und wir somit daran mitwirken konnten, dass sich bei ihr kein neuer Komplex aufbaute. Da ich als endlich ausgestiegener Witwer jede Menge Zeit zur Verfügung hatte, nutzte ich jede Gelegenheit um mit Rosi zusammenzukommen. Jürgen sagte mal bei einer Gelegenheit dazu: „Wenn ich nicht genau wüsste, weshalb du es machst, würde ich dir jetzt wirklich Böses unterstellen. ... Aber noch mal zurück getauscht wird nicht.“. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich mir prächtig in dieser Rolle als Amateur-Psychotherapeut gefiel. Aber nicht das man denkt, dass ich deshalb meine Wahlfamilie aufs Abstellgleis geschoben hätte. Nein, ich war auch sehr viel mit Ramona zusammen, um sie unter anderem in kaufmännische Dinge einzuweisen. Sehr oft begleiteten mich Ralf und Susanne nach Seetal oder Ulkerde. In Seetal war es der Weiher und in Ulkerde Christof der ihre ganzen Emulsionen in Anspruch nahm. Durch die Erwähnung meiner künftigen und der meiner Kinder „Heimat“ habe ich jetzt auch verraten, dass auch Hendrik, Silvia und der kleine Christof im Bereich meiner Aufmerksamkeit lagen. Jetzt muss ich sagen, dass ich mich zu keinem Zeitpunkt meines bisherigen Lebens so ausgefüllt und glücklich gefühlt habe. Ganz neu bei mir war auch, dass man mich jeden Sonntagmorgen um 10 Uhr, obwohl ich katholisch war, in der evangelischen Dorfkirche in Ulkerde antraf. Ich hatte das Gefühl, dass ich dieses brauchte und mir dieses auch viel brächte. Alles in Allem empfand ich ringsherum ein harmonisches Leben, insbesondere Familienleben. Meine Empfindungen übertrugen sich auch auf andere und hier insbesondere auch auf Rosi. Bei ihr bewirkte es, dass sie aus Anlass ihres 56. Geburtstages am 26. Januar, die „komplette“ Familie nach Seetal einlud. Nur mit einem Satz hatte sie erwähnt, das sie, das Geburtstagskind, ihren Gästen eine Überraschung bereiten wolle. An diesem Freitagabend trafen innerhalb von fünf Minuten sowohl Hendrik mit Silvia wie auch ich mit Ramona ein. Rosi war auch der Meinung gewesen, dass meine Wahltochter mit dazu gehörte. Die Kinder, sowohl Christof wie auch Ralf und Susanne, waren bei ihren jeweiligen „anderen Omas“. Was hatte sich meine Schwägerin für eine Mühe gegeben. Das von ihr bereitete Menü konnte mit jedem First Class Restaurant mithalten. Etwa anderthalb Stunden zog sich dieses Galadinner hin. Ramona verhielt sich zunächst etwas schüchtern, denn außer Silvia und mir kannte sie ja niemand persönlich näher. Dann sorgte Rosi für eine diesbezügliche Aufmunterung. Sie erklärte, sie habe sich mit sich alleine zum Familienrat zurückgezogen und beschlossen, Ramona in diese aufzunehmen. Jetzt müssten sich alle mit ihr Duzen. Von ihr, Jürgen und Hendrik bekam sie deshalb auch ein Küsschen. Nach Silvias Geschmack nutzte ihr Hendrik dieses offensichtlich zu intensiv aus und er wurde von seiner Frau am hinteren Hosenbund wieder auf seinen Platz zurückgezogen. Na ja, was soll ich noch weiter Einzelheiten erzählen, wichtig ist doch nur zu wissen, dass es uns allen Spaß gemacht hat. Nicht nur ich, sondern auch Hendrik und Silvia, glaubten schon, dass Ramonas Familienaufnahme die angekündigte Überraschung gewesen sei. Aber nein, dass war nur eine nette Geste meiner Exfrau. Nur ihr derzeitiger Mann, also Jürgen, war vorher genauer informiert und leitete dann die eigentliche, wirklich große Überraschung mit einer nett gespielten „offiziellen Vorrede ein. Er klingelte mit dem Löffel an sein Weinglas, erhob sich und tönte mit gewichtiger Stimme: „Werte Gäste, liebe Familie Heuer und Anhang, meine Gattin ist der Meinung, dass man mit 56 in ein neues Leben starten sollte. ... Pass auf Kleiner in knapp über einem Monat, auf jeden Fall in Weniger als zwei Monaten, bis du auch soweit. - Wie dieser Start in das neue Leben aussehen soll wird sie euch jetzt selbst berichten.“. Und dann erzählte sie uns ganz locker, dass sie am kommenden Montag zu einer Augenoperation in einer privaten Augenklinik im Allgäu aufbrechen würde. Operiert würde erst mal ein Auge. Wenn sie sich davon erholt habe wolle sie von dort in etwa vier Wochen in eine Privatklinik in den Schwarzwald aufbrechen, wo man dann aus ihr zwar keine Sexbombe machen wolle, aber eine Frau, die sich Oben ohne sehen lassen könne ohne mit einem Mann verwechselt zu werden. Wenn das erste, also die Operation des einen Auges gut geklappt habe, wolle sie dann zwei oder drei Wochen später wegen des anderen Auges zurück in den Allgäu. Ein Bisschen Angst habe sie schon aber deshalb würde sie sich nicht in die Hose machen. Wenn alles glatt ginge wäre sie Ostern wieder da und dann würde sie mir Schlitzohr im Beisein Jürgens mal zeigen, was sie dann unter der Bluse zu bieten habe. Hendrik konterte aus Spaß gleich: „Und warum mir nicht?“, was Rosi dann prompt parierte: „Gleichgültig wie alt du wirst, bleibst du immer mein Kind. Und sexuelle Darbietungen sind nichts für Kinder. ... Übrigens, Silvia und Ramona habe ich die Busenshow auch nicht angeboten. Aber die haben ja selbst was zu zeigen. Im Gegensatz zu mir sogar
Originalteile ... und wie es aussieht, sogar noch ein bisschen mehr.“. Jetzt hatte Rosi natürlich alle Lacher – wobei wir alle unterstreichen können – auf ihrer Seite. Ein solches Erlebnis hatte sie auch seit längerem vermisst. Sie hatte allerdings auch etwas zu bedauern: Sie hatte festgestellt, dass sie zum Geburtstag ihrer „beiden Männer“ nicht im Lande sei und trug uns auf dieses ansonsten in der gleichen Runde zu feiern. Na ja, ganz die gleiche Runde war es dann nicht gerade, da wir einerseits „Zuwachs“ bekamen und sich Ramona langsam wieder abnabelte. Das hat keinesfalls damit zu tun, dass sich mein Verhältnis zu Ramona verändert hat sondern sie kommt immer noch gern zu mir, ihrem „Vati“. Aber das hat mit dem jungen Mann, den ich bereits ein paar Kapitel vorher erwähnt habe und mit dem sie, nach meiner Schätzung auch in absehbarer Zeit im Ehehafen landen wird, eine ganze Menge zutun. Der Grund warum ich jetzt diesbezüglich etwas vorgegriffen habe ist, dass wir meine Wahltochter eigentlich aus meiner Geschichte entlassen können, da sie jetzt mit keiner bedeutenden Angelegenheit mehr in Verbindung steht. Rosi hat uns, außer Jürgen, darum gebeten sie nicht zu besuchen, was, wie sie auch zugab, in ihren Gefühlen als „lädierte“ Frau, also mit ein Wenig Scham, begründet war. Damit fiel auch sie für meine Aktivitäten in der nächsten Zeit aus. Ich, der ich mich jetzt zum Samariter, den es nach entsprechender Aktivitäten drängte, berufen sah, musste mir jetzt jemanden suchen, der meiner Hilfe bedurfte. Wer ist in solchen Angelegenheiten besser informiert als ein Pfarrer? Als ich am darauffolgenden Sonntag dem Ulkerder Pastor Völler zum Abschied die Hand reichte, fragte ich wann er mal für mich Zeit habe. Es ging überraschend schnell. Er meinte, dass er um halb Eins von seiner Frau am Mittagstisch erwartet würde. Silvia hätte ihm mal verraten, dass dieses bei Steinmars auch immer die Zeit für die sonntägliche Tafelrunde sei. Also könnten wir uns dann doch im, direkt neben der Kirche liegenden „Schänke am Dorfplatz“ zum Frühschoppen zwei oder drei Bierchen genehmigen. Dieses überraschte mich eigentlich ein Wenig, da ich eine solche, in der Mitte der Gemeinde stehende Haltung eines Geistlichen bis jetzt noch nicht kannte. Inzwischen weiß ich, das Thomas Völler unter den jüngeren Pastören in der evangelischen Kirche keine Ausnahme ist. In der Schänke ging es erst mal in der für mich verblüffenden Art weiter. Wir setzen uns nicht etwa feierlich an einen Tisch sondern nahmen auf einem Hocker an der Theke platz. Mit „Übrigens, ich bin der Thomas“ eröffnete er das Gespräch, worauf ich nur antworten konnte „Und ich der Walter.“. Er machte mir in zwei oder drei Sätzen klar, dass ich ihm nicht viel zu erzählen brauchte, weil dieses bereits Hendrik und Silvia erledigt hatten. So kam ich dann gleich zur Sache: „Na ja, dann weißt du ja, dass ich mehr Geld als ich jemals gebrauche habe. Da ich nichts anderes zutun habe, möchte ich das Ganze irgendwie sinnvoll einsetzen. Aber nicht so einfach als Spende sondern ich möchte mich selbst einbringen, ich möchte mich engagieren.“. Thomas spielte den großen Überleger und sagte dann: „Au, verdammt schwere Frage. Ich könnte dir jetzt sagen, das du dir im Gemeindebüro eine Liste von Kontonummern, auf die du deine Spenden überweisen kannst, abholen könntest. Man prahlt zwar immer was für ein reiches Land wir sind aber Not gibt es an allen Ecken und Enden ... von der sogenannten Dritten Welt wollen mal ganz schweigen. Du kannst auch eine Liste haben, wo du dich von Mensch zu Mensch engagieren könntest. Aber die Kombination aus beiden kann ich gar nicht aus dem Stehgreif beantworten. Wenn’s um Menschen geht, ist Geld meistens Nebensache.“. Ich erklärte ihm meine egoistischen Beweggründe. Bewusst sprach ich vom Egoismus, denn ich hatte durch den Erfolg meiner Hilfebemühungen um Rosi eine richtige tolle eigene Befriedigung und Erfüllung empfunden. Es hat mir persönlich mehr gegeben als alle geschäftlichen Erfolge zuvor. Also, natürlich freut man sich über ein Geschäftserfolg. Natürlich fand ich mich als toller Hecht, dass ich so etwas hingekriegt habe. Das lasse ich mir nachträglich auch nicht nehmen, auch nicht dadurch, dass ich doch inzwischen eine Menge Zweifel an der moralischen und gesellschaftlichen Richtigkeit meines früheren Handelns habe. Ich möchte es mal mit einem Boxkampf vergleichen. Selbstverständlich kann man sich seines Sieges freuen, wenn man einen überlegen wirkenden Gegner niedergeschlagen hat. Ob man es später gut findet, dass man einem anderen Menschen wehgetan hat steht auf einem anderen Blatt und schmälert nicht den Sieg. Anders ist es, wenn man einem anderen Menschen geholfen hat. Da merkt man sofort wie etwas zurückkommt; Empfindung von Dankbarkeit bis Liebe. Da gibt es später keine Zweifel an der Richtigkeit des Handelns. Selbst wenn die Hilfe nicht zum gewünschten Ziel führt, spürt man trotzdem die Richtigkeit seines Handelns. Und das gibt einen eine ganze Menge, das hebt das Selbstwertgefühl. Dieses schilderte ich ihm, jedoch ohne jetzt konkret auf Rosi und ihre Geschichte anzusprechen. Seine Antwort fand ich dann höchst interessant: „Was meinst du Walter warum ich Pfarrer geworden bin? Auch aus egoistischen Gründen. Ich genieße innerlich die Freude darüber, dass ich anderen Menschen Trost und Hoffnung geben kann, wenn ich anderen in ihren Zweifeln und Leiden helfen kann. Dahingehend brauchen wir uns unseres Egoismus nicht zu schämen. Aber es wäre wirklich heuchlerisch, wenn ich dieses jetzt ausschließlich mit meinem Glauben und meiner Berufung als Jünger unseres Herrn begründen würde. Ich würde bestimmt nicht als brotloser Prediger durch die Lande ziehen; für mich ist es auch schon wichtig ein gutbezahlter Kirchenbeamter zu sein. So hast du auch keinen Grund, dir deine ehemaligen Geschäftserfolge vorzuwerfen. Dadurch hast du das Kapital, mit dem du, wenn du dich dazu berufen fühlst, jetzt hilfreich und segensreich wirken kannst. Selbst wenn du es jetzt nur für dich gebrauchst, bist du dadurch frei und unabhängig zum Helfen durch Anpacken. Wenn du im alltäglichen Existenzkampf stehst, nur um dich über Wasser zu halten, kannst du in keiner Weise so zur Verfügung stehen wie du das jetzt möchtest. Ich glaube, dass uns Gott nie fragen wird warum wir es getan sondern nur was wir letztendlich getan haben und wo dabei unsere Seele, die allein ihm gehört, geblieben ist.“. Ich muss sagen, das wir, Thomas und ich, uns verstanden hatten.
Da wir die anderthalb Stunden zwischen dem Ende des Gottesdienstes und dem Zeitpunkt wo wir zum Mittagstisch gerufen wurden auch noch für diverses Anderes, unter anderem Wegezeiten, nutzen mussten blieb uns netto also knapp eine Stunde für unseren Plausch. Da kann man weder weltbewegene Philosophien noch konkrete Planungen abhandeln. So hatte ich nach diesem Gespräch natürlich keinen konkreten „Auftrag“ aber Thomas Völler wusste, worum es mir ging. Er fasste es dann so zusammen: „Wenn ich dich richtig verstanden habe suchst du eine Aufgabe und keine Gelegenheit zur Abgabe einer Gewissen-Reinwasch-Gebühr und kein Ablass ... das heißt keinen Fahrschein in den Himmel. Du willst auch den Ablass nicht statt mit Kapital mit Arbeit bezahlen. Du suchst wirklich eine Aufgabe bei der du deiner Berufung nachkommen kannst. Da tut es mir leid, dass ich dir da spontan nicht mit Tipps und Hinweisen helfen kann. Aber vertraue mal auf Gott. Wenn er dich berufen hat, dann wird er dir auch deine Aufgabe zuweisen. Denke mal an die Himmelfahrtsgeschichte. Die Jünger sollten nach Jerusalem gehen und auf die Verheißung des Vaters warten. Also sie sollten nicht gleich nach menschlichen Ermessen loshandeln sondern sie sollten als Werkzeug bereitstehen. Wenn jemand glaubt Gottes Willen zu kennen und gleich loslegt, kann das fürchterlich ins Auge gehen. Denk nur an die Kreuzzüge, die Inquisition und diverse Heilige Kriege. Ich kann mir schwerlich vorstellen, dass das Gottes Wille war.“. Als ich am Nachmittag gemeinsam mit Silvia, Hendrik und Christof einen Spaziergang durch den Wald unternahm, dachte ich so über dieses und jenes nach. Nicht Konkretes, denn wenn die Sonne durch die Äste der Bäume scheint und sich auf dem weißen Schnee spiegelt, gerät man schon mal ins Träumen; da gerät schon mal die Seele ins Baumeln. Da war ich richtig erschrocken, als mich zwischendurch Silvia mal ansprach und nachfragte ob ich etwas hätte, da ich so still sei. Nun bekannte ich ihr ehrlich: „Och nee, mir geht es Spitze, ich bin nur ein Bisschen am Träumen.“. „Wovon träumst du denn?“, fragte sie freundlich weiter und bekam von mir zur Antwort: „Ach, die Mama hat auf ihrem Geburtstag gesagt, dass für sie mit 56 ein neues Leben beginnen würde. Ich bin es ja auch bald und träume davon wie mein neues Leben aussehen könnte.“. Jetzt mischte sich Hendrik besorgt ein: „Ich dachte du wärst der dritte Aussteiger in der Familie. Fang jetzt bloß nicht an wieder neue Pläne zu schmieden und wieder einzusteigen.“. Da konnte ich ihn beruhigen und erzählte von meinem Frühschoppengespräch mit Thomas Völler. Ich beendete mit dem Fazit: „Na ja, jetzt bin ich aus meinem ehemaligen chaotischen Leben ausgestiegen und warte jetzt zu Beginn meines neuen, vielleicht richtigen Lebens auf das, was mir Gott verheißt.“. Hendrik sah mich erstaunt an und sagte: „Donnerwetter, erst dachte Onkel Jürgen er sei ein Aussteiger und ich wollte es besser machen. Jetzt kommst du und zeigst mir, wer der wahre Aussteiger ist ... das ist wohl der dritte.“. Ich brauchte auf „meine“ Verheißung nicht lange zu warten. Am Mittwoch der folgenden Woche stand im Waldheimer Kreisblatt ein Bericht über ein Sanatorium für Alkoholkranke, etwas außerhalb von Ulkerde. Dieses Heim wurde von einem Verein, der von ehemaligen betuchteren Abhängigen gegründet worden war, betrieben. Laut Zeitungsbericht waren die in finanzielle Schwierigkeiten geraten und man befürchtete dass es, wenn kein Träger gefunden wird, in Kürze schließen muss. Der Grund für die drohende Insolvenz war ganz einfach nachzuvollziehen: Natürlich können solche Einrichtungen nicht profitabel geführt werden. Wollte man so etwas mit Gewinnabsicht betreiben würde man die Tätigkeit ausschließlich auf einen kleinen exklusiven Kreis von Hilfebedürftigen beschränken. Das ist aber kein Grund um wirtschaftliches Handeln generell auszuschließen, denn dann kommt mit Sicherheit, wenn die ursprünglichen Mittel aufgebraucht sind, das Aus. So war es auch in diesem Fall. Ich wollte helfen, wusste nur auf Anhieb nicht wie. Wenn ich denen nur mit Geld aus der akuten Klemme helfe, verlängere ich lediglich deren „Sterben“. In spätestens einem halben Jahr stehen die genau vor dem Punkt wo sie jetzt stehen. Wenn ich immer wieder nachschiebe wird das Ganze ein Fass ohne Boden, was rein theoretisch sogar mein Vermögen auffressen könnte. Auf jeden Fall beendete ich mein Zeitungsstudium und fuhr erst mal zu diesem Sanatorium in Ulkerde. Dort führte ich zunächst mal ein Sondierungsgespräch. Ich checkte erst mal ab, welche Vorstellungen die betreffenden Leute mit einer eventuellen Hilfe meinerseits verbinden würden. Es war genau das, was ich mir gedacht hatte: Fass ohne Boden. Also fuhr ich anschließend erst mal zu Thomas Völler. Mit ihm sprach ich dann über das Thema wie das wäre, wenn ein karikativer Träger, zum Beispiel die Diakonie, die Angelegenheit übernimmt und ich Überbrückungs- und Starthilfe leiste. Er meinte, dass dann das Sanatorium immer bürokratisch zwischen Leben und Sterben schaukeln würde. Leider ständen für die Diakonie, aber auch für die Caritas auf katholischer Seite beziehungsweise Arbeiter-Wohlfahrt auf weltlicher Seite, immer zu wenig Mittel zur Verfügung. Dann müsste immer nach Prioritäten abgewogen werden und bei der Fülle der Aufgaben kann es leicht passieren, dass dann das kleine Ulkerder Sanatorium auf der Strecke bleibt. Thomas Frau, die während des Gespräches anwesend war, löste dann den gordischen Knoten: „Wie wäre es denn mit einer Stiftung?“. Ich wusste zwar, dass das dieses die Lösung war aber habe mich bisher noch nie näher mit dem Thema „Stiftung“ beschäftigt und andererseits musste eine solche so ausgestaltet sein, dass auf dem Stiftungsvermögen etwas Dauerhaftes aufgebaut werden kann und diese dann nicht die Funktion des Sterbe-Vorgangs-Verlängerer oder Fassohne-Boden-Stopfers an meiner Stelle übernimmt. Andererseits lag es überhaupt nicht in meinem Interesse keinen Gedanken mehr an einen Vorstandsposten einer Aktiengesellschaft zu verschwenden und stattdessen einen solchen, vollkommen gleichartig, in einer Stiftung auszuüben. Es ging also nicht von Heute auf Morgen; ich musste erst noch ein Wenig Gehirnschmalz aufwenden. Da ich wegen dieser Sache gerade in Ulkerde war wollte ich mich auch nicht unerkannt am Steinmarhof vorbeischleichen. Also fuhr ich nach dem Besuch bei Völlers erst mal bei meinen Kinder vor. „Kinder“ ist gut gesagt,
denn Silvia war mit Christof allein zu Hause. Hendrik war bei einem Computerfritzen, da er eine Homepage für seinen Ferien-Biohof einrichten wollte. Erstens suchte er Unterstützung und Beratung beim Aufbau seiner Internetseite und zum anderen auch neue Hardware. Aber das nur nebenbei, wichtig ist dass sich Silvia freute erstmalig, seit dem sie verheiratet waren, ihren Schwiegervater mal ohne ihren Mann empfangen zu können. Sie bewirtete mich und wir verplauderten uns ein Wenig. Ich schaute letztendlich zur Uhr und stellte fest, dass es schon kurz vor Drei war, der Zeitpunkt wo ich mit meinem Bruder verabredet war. Kurzerhand rief ich Jürgen an, um ihm mitzuteilen, dass ich ein „paar Minuten“ später kam. Jürgen sagte mir, dass ich Glück gehabt habe, denn er sei gerade hereingekommen, er hatte einen Spaziergang zum Friedhof gemacht. Bei der Gelegenheit fiel mir dann ganz spontan der Name für meine Stiftung ein: Carmen-di-Stefano-Stiftung. Auch Carmen war Alkoholkrank und hätte meine Hilfe gebraucht. Die Hilfe habe ich ihr damals nicht gegeben aber mit dem Namen „meiner“ Stiftung wollte ich sie würdigen. Jetzt wusste ich, dass ich eine Stiftung gründen würde und einen Namen hatte ich auch schon; aber viel mehr war noch nicht vorhanden. Ich musste mich erst mal über Stiftungsrecht und den Möglichkeiten einer solchen Einrichtung informieren. Zum anderen musste ich sehen, dass das Heim nicht „mausetot“ ist bevor die Stiftung steht. Folglich brauchte ich schnellstmöglichst einen Termin bei meinem Anwalt. Auch dieses – Terminvereinbarung - erledigte ich noch schnell telefonisch vom Steinmarhof und machte mich danach flugs auf den Weg zu meinem Bruder in Seetal. Und siehe da: Am Abend dieses Tages war ich richtig stolz auf mich. So stolz wie zu jenem Zeitpunkt war ich während meiner gesamten Managerkarriere nie gewesen. Ich glaube so etwas hatte ich als Kind, als ich zum ersten Mal mit einer Eins aus der Schule kam, zum letzten Mal so erlebt. Zum Kapitel 31
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Der vollbeschäftigte Aussteiger Unser Vater, der ein sehr hemdsärmeliger Typ war, hatte so seine emotionalen Vorbehalte gegen den Beamtenstand. Die Weisungsgebundenheit, die sicherlich dann, wenn man im Auftrage aller, sprich der Bürger, jedem gegenüber in gleicher Weise ohne Ansehen der Person handeln muss, ihre Berechtigung hat, war für unseren Vater das Abwälzens des Denkens und der Verantwortung auf die Obrigkeit. Die akribische Abarbeitung der Vorgänge, bezeichnete er als berufsmäßiges Warten auf den Zeitpunkt, wo sich die anstehenden Angelegenheiten durch Zeitablauf erledigt haben. Na ja, ich persönlich sehe alles in den Bereichen wo es hoheitlich zugehen muss uneingeschränkt ein aber ich vermag nicht bei allen Bereichen, wo sich Beamtokraten betätigen, einen hoheitlichen, das Beamtentum rechtfertigen Hintergrund sehen. Diesbezüglich finde ich es also schon mal goldrichtig das man alles, was zum Beispiel mit Post und Bahn zutun hat, auf die freie Wildbahn entlassen hat. Ein Beamter, ein Romansweiler Nachbar, war meinem Vater ein besonderes Dorn im Auge. Er sagte öfters: „Wenn der nicht gerade Urlaub, Kur oder seine obligatorische Grippe hat, sitzt er im Rathaus zählt Erbsen oder hält seinen gesunden Beamtenschlaf.“. Dieser Nachbar machte auch nicht den Eindruck als sei er ein Freund von all zu vielen Bewegungen; er erschien immer gelassen und sehr behäbig. Es war also ein Typ, der den Karikaturisten, die sich Beamte auf die Schippe genommen haben, als Vorbild gedient haben muss. Das änderte sich schlagartig, als der gute Mann pensioniert wurde. Da entwickelte er Aktivitäten, die dem berühmten DDR-Helden der Arbeit, einen gewissen Hennecke, hätte vor Neid erblassen. Da baute er sein Haus um, erbaute im Garten seiner Schwester ein Gartenhaus und weitere Sachen in und um Romansweiler. Er, der ein Leben lang Gesetz und Recht bis auf den letzten Federstrich und Punkt ausgelegt hatte, störte sich dabei recht wenig um Genehmigungen und so – er powerte einfach munter darauf los. Sprach man ihm darauf an behauptete er, dass er im Berufsleben soviel mit Gesetzen zutun gehabt habe, dass er jetzt diesbezüglich seine Ruhe haben wollte. So musste ihn auch einmal ein Amtsrichter zu Ordnung rufen. Er hatte sich an einem Sonntag als unentwegter Bohrteufel in und an seinem Haus erwiesen und ein Nachbar hatte ihm wegen Störung der Sonntagsruhe angezeigt. Ab und zu unterhalte ich mich mal schmunzelnd mit Jürgen über diese Type, in dessen Folge wir dann immer die neuesten Beamtenwitze austauschen. Seine Pensionärsaktivität konnte ich jedoch anfangs dieses Jahres vollkommen nachvollziehen. Ich war ja nun vollendens aus dem Managerunwesen ausgestiegen und vom Aufgabenbereich her einem Pensionär praktisch gleichgestellt. Aber auch ich entwickelte jetzt Aktivitäten, wie man sie bei mir in den besten Tagen nicht feststellen konnte. Da war zunächst mal der Umzug von Waldheim nach Ulkerde. Von meinem alten Mobiliar wollte ich nichts an meinem neuen Domizil haben. Erstens passte alles nicht so wie es sein sollte und zweitens waren mir diese zu dunkel und mondän. Sieht alles teuer und vornehm aus, aber wenn man immer darin leben muss kommt man sich letztlich selbst wie ein Museumsstück vor. Ich wollte so etwas wie Silvia und Hendrik haben. Hell, einfach und funktionabel, so etwas was Leben ausstrahlt. Da bot es sich an, dass ich mir meine, inzwischen schon deutlich schwangere, Schwiegertochter packte und mit ihr durch die Möbelhäuser tourte. Ab und zu passierte es, dass man zunächst ihr auf den Bauch schaute und dann zu mir sagte: „Wenn ihre Gattin ...“. Ich sagte dann immer gerne: „Es freut mich ja, dass sie mich noch so jung einschätzen aber dieses hier ist meine Schwiegertochter, die mich demnächst schon zum zweiten Mal zum Opa machen will.“. Im Gegenzug zu den neuen Möbeln musste ich die alten Klamotten natürlich auch wieder loswerden. Da war mir zuerst das AWo-Möbellager in Waldheim eingefallen. Aber dem Lagerleiter kamen bei der Besichtigung der Möbel doch einige Bedenken. Er meinte: „Ja, das ist schwierig. Wenn ich die für ein paar Mark fünfzig, also in unserer üblichen Preislage, oder gar umsonst an Bedürftige, abgebe gibt es böses Blut. Nehme ich ein Bisschen mehr, was angemessen wäre, stelle ich mir das Lager zu, denn die Leutchen, die eben dieses bisschen mehr zücken können, kommen nicht zu uns.“. Das war echt ein Problem. Ich ließ mir aber was einfallen. Auch nach meinem offiziellen Auszug am 28. Februar steht die Villa ja noch 4 Monate in meiner Verfügungsgewalt. Da sollte dann die AWo an Samstagen Räumungsverkaufsveranstaltungen durchführen, dessen Erlös in deren karikative Aktivitäten fließen sollte. Die Anzeigen, die Kaufinteressenten anlocken sollte, wollte ich bezahlen. Was dann hinterher wirklich noch überbleibt sollte dann je nach Zustand entweder doch aufs Lager oder auf den Speermüll. Das mit den Möbeln ist ja nun damit erledigt. Da haben wir dann noch das, was in diesen zufinden ist: Hausrat, Kleider, Bücher, Erinnerungsstücke, und, und, ... Auch da muss ich meiner Schwiegertochter meinen großen Dank aussprechen. Sie half mir beim Sortieren nach den Kriterien: Mit nach Ulkerde, Aussondern und Aufteilen für die Basare der AWo und Kirchengemeinde sowie ab in den Müll. Es musste nicht nur sortiert sondern auch eingepackt werden. Also es gab eine ganze Menge zu ackern. Ich sollte jedoch nicht vergessen, dass auch Hendrik stark mit angepackt hat. Immer wenn ich Silvia bei ihm ausspannte musste er sich alleine um Stall, Hof und Christof kümmern. Jetzt wird wohl dieser oder jener sagen, dass ich nicht so angeben solle, auch andere Leute wären schon umgezogen und hätten, weil sie nicht so viel Geld wie ich hätten, noch ganz anders heran gemusst, zum Beispiel noch mit Tätigkeiten wie Wohnung renovieren, Möbel auf- und abbauen und so weiter. Ja nun, so war es ja auch nicht gemeint. Ich wollte ja nur darauf hinweisen, dass ich mich auch um diese Dinge gekümmert habe und nicht wie früher nur Aufträge erteilt und bezahlt habe. Eines habe ich mir damals aber geschworen: Den Wirbel um so ein Bisschen Ortswechsel machst du nicht noch mal. Wenn ich jetzt nach Ulkerde gezogen bin bleibe ich auch da.
Einen großen Teil der Tätigkeiten des vollbeschäftigten Aussteigers lag in der Lebensrettung des Sanatoriums für Alkoholiker und in den Begründungstätigkeiten der Carmen-di-Stefano-Stiftung. Einmal in der Woche setzten uns diesbezüglich auch Jürgen, Hendrik und ich zusammen. Jürgen hätte sich auch gerne stärker in diese Sache eingebracht, aber mit seiner Unabhängigen Wählergemeinschaft, bei der er Fraktionsvorsitzender war, der SG Seetal, wo er Vorsitzender war, und dem Heimat- und Verkehrsverein, wo er der stellvertretende Vorsitzende war, sowie jedes Wochenende Besuche bei Rosi war er wohl auch reichlich ausgelastet. Somit könnte man sagen, dass auch mein Bruder ein vollbeschäftigter Aussteiger war oder besser gesagt ist. Diese Dreierrunde hielt ich dahingehend für wichtig, da Hendrik sowohl mein, wie auch Jürgens Erbe sein wird. Ich wollte die Carmen-di-Stefano-Stiftung nicht als Eintagsfliege in die Welt setzen und hielt es daher für angebracht, meinen Nachfolger mit einzubeziehen und es ihn mittragen zu lassen. Auf diese Art und Weise gedachte ich auch eine Weichenstellung in eine Richtungen, die später mal wiederrufen werden muss, zu vermeiden. Wie in alten Zeiten, als ich Moneymaker noch für Ehrenmänner hielt, hatte ich Verhandlungen mit der Kreissparkasse Waldheim und einer hiesigen Niederlassung einer Geschäftsbank zu führen. Es ging darum, das Sanatorium mit einem Vergleich von den „Altlasten“ zu befreien. Aufgrund der „Verantwortung gegenüber ihren Anlegern“, von denen die Bankfiosis dabei immer gerne schwätzten, hätte man im Zuge eines Insolvenzverfahrens das Sanatorium schließen müssen, damit man alles was irgendwie zu Geld zu machen ist zu Gunsten der Banken hätte verwerten können. Die Banker, deren höchstes fachliches Ziel die Mehrung der Geldhaufen ohne Rücksicht auf die in der Gesellschaft Untenstehenden ist, sahen sofort, als sie mich, einem vermögenden Mann, im Hintergrund sahen, eine Chance das „vermietete“ Geld inklusive der Zinsen und Gebühren ohne Abstrich, praktisch aus meiner Tasche, zurück zu holen. Na ja, wenn es sich bei dem Gläubigern um kleine Handwerker, also um Peanuts aus dem Blickwinkel der Banken, gehandelt hätte, hätte ich ja noch irgendwo Einsicht geübt. Die Einkommen kleiner Handwerker liegen statisch unter denen mittlerer Beamter; dafür bringt der Handwerker sein Existenzrisiko ein und der Beamte schaukelt in der sicheren staatlich garantierten Lebenszeit-Beschäftigungs-Hängematte. Aber Sparkassen und Banken machen ja satte Gewinne, die ihnen gegönnt seien, aber trotzdem wollte ich bei der Rettung der Einrichtung diese nicht ungeschoren davon kommen lassen. Nach meiner Auffassung sollten die auch mal ein kleines soziales Engagement zeigen und sich an der Sanierung beteiligen. Von der beabsichtigen Gründung der Stiftung erzählte ich den Bankfiosis aus taktischen Gründen lieber nichts. Ich gab nur vor, dass ich die Insolvenz des Heimes abwenden wolle und ihnen mit Bürgschaften, kombiniert mit kaufmännischer Beratung, eine Weiterarbeit ermöglichen wolle. Geschäftsverhandlungen bei denen es ausschließlich um Geld geht stellen sich, wenn beide Seiten in etwa gleichwertig sind, immer als eine Art erpresserischen Pokers da. In diesem Fall hatte ich allerdings starke Karten. Wenn die Banker sich nicht mit einem, wie bei einem Zusammenbruch von Unternehmen, an dem die Banken Anteilseigner sind, üblichen Vergleich zufrieden gäben, wollte ich, so gab ich vor, aus der Sache aussteigen und bei künftigen „Geschäftsbeziehungen“ entsprechend würdigen. Ansonsten zeigte ich mich stur und eisern. Da gab es dann mehrere Verhandlungen, die sich sowohl zeitlich wie auf Bankseite auch personell immer mehr ausweiteten. Ich ließ aber aufgrund meiner in diesem Falle stärkeren Position alle Bankerargumente an mir vorüberziehen. In der letzten Verhandlung, Ende Februar, gab es dann den Durchbruch und ich ärgerte mich, dass ich da nicht früher darauf gekommen bin: Ich verkündete laut „Dann eben nicht. Betrachten sie die Sache als erledigt.“ und setzte an, meine Verabschiedungsrunde zu drehen. Prompt unterbreite mir der Chef der Kreissparkasse ein letztes Angebot – und das war genau das, was ich von vornherein gefordert hatte. Damit war das Sanatorium zunächst einmal gerettet. Aber das hätte wenig genutzt, wenn die „Leutchen“ weiter so wie bisher gewirtschaftet hätten. Das komplette Team des Hauses bestand aus einer Therapeutin und zwei Sozialarbeitern, die unheimlich stark auf dem Gebiet der Suchttherapie engagiert aber dem Geld gegenüber sogar fast beziehungslos waren. Mit denen musste ich mich jetzt austauschen. Von ihnen erfuhr ich eine ganze Menge über die Alkoholkrankheit im Besonderen und Suchtleiden im Allgemeinen. Im Gegenzug bekamen sie von mir einen intensiven Crashkurs in Sachen Haushalt und Wirtschaften. Nach meiner Idee, wollte ich später regelmäßig nach dem rechten sehen und immer mit den Finger in die richtige Richtung zeigen, aber es sollte bei mir nicht in einem Job eines Geschäftsführers oder Heimleiters ausarten. Ich blieb dabei, dass für mich nicht anderes als der dritte und konsequenteste Aussteiger im Hause Heuer zu sein mehr in Frage kam. Mein Engagement für das Anna-Katharina-Haus in Ulkerde hatte natürlich nur indirekt mit der Gründung der Carmendi-Stefano-Stiftung zu tun. Ziel der Stiftung sollte die Einrichtung und der Erhalt von Therapieplätzen sowie die Ausbildung von Therapeuten und Sozialarbeiter, also kein Sponsoring eines bestimmten Heimes, sein. Das war auch der Hauptgrund warum ich später den Vorschlag einer Namensänderung des Sanatoriums in Carmen-di-Stefano- oder Carmen-Heuer-Haus ablehnte. Ein zweiter Grund lag in dem Respekt vor der eigentlichen Heimgründerin, die mit Vornamen Anna und mit Nachnamen Katharina hieß. Diese etwas vermögende Frau war ursprünglich, wie ihr Ehemann auch, selbst abhängig. Nach einem schweren Verkehrsunfall, der von ihrem Mann unter Alkoholeinfluss verursacht wurde, verlor sie ihre Familie, das heißt das außer ihren Mann dabei auch noch ihre beiden Kinder starben, begab sie sich in eine erfolgreich durchgeführte Therapie. Sie war trocken aber starb 8 Jahre später an Krebs. Sie vererbte ihr Vermögen an einen Verein ehemaliger Alkoholabhängiger, der dann damit dieses Heim einrichtete. Durch die Aufgliederung in Vor- und Nachnamen der Gründerin eben habe ich auf meinen dritten Grund, warum mir dieser Name
so gefiel, hingewiesen. Rein zufällig war der Name Anna Katharina der vollständige Vorname meiner ersten Frau und meines Schutzengels Annis. Jetzt kann man fragen, was der wesentliche Unterschied zwischen dem Vorgehen von Frau Katharina und mir ist. Mit der Beantwortung der Frage wird auch der Unterschied zwischen dem Verein und der Stiftung deutlich. Der Verein hat das von Frau Katharina gegebene Vermögen für die Einrichtung und den Unterhalt des Heimes verbraucht. Die Stiftung sollte aber sichere Anlagen erhalten und verwalten und seine Arbeit aus den Kapitalerträgen leisten. In einem solchen Fall kann natürlich das Anlagenpaket nie groß genug sein. Deshalb betätigte ich mich auch sehr stark als Klinkenputzer um noch andere, auch Land und Kreis, als Mitstifter mit ins Boot zu kriegen. Mir gelang es dann in Folge auch sechs weitere Mitstifter zu gewinnen, aber keiner der Sechs kann der öffentlichen Hand zugeordnet werden. Da bekam ich immer Abfuhren mit dem Hinweis auf die knappe Haushaltslage. Trotzdem war „Papa Staat“ nicht außen vor, denn Stiftungen unterliegen gegenüber Vereinen und Gesellschaften strengen staatlichen Auflagen und Aufsichten. Was aber den ganzen formalen Kram anbelangte überließ ich die ganze Angelegenheit einem Spezialisten auf dem Gebiet des Stiftungsrechts in Köln. Mein Anwalt hatte mir diesen Kollegen empfohlen und vermittelt. So musste ich dann ab und zu dann auch mal zu Dr. Schmitz – Schmitz = uralter Kölner Adel – reisen. Dafür dürfte er in Zukunft auch öfters mal zu uns kommen müssen, denn wir haben ihn als Justiziar in unseren Stiftungsvorstand, dem neben Hendrik und mir natürlich auch die anderen sechs Stifter angehörten, berufen. Dieser Tage fragte mich mal jemand, der bisher Stiftungen nur aus Nachlässen entstanden kannte, ob die Carmen-di-Stefano-Stiftung auch mit so etwas zutun habe. Ich konnte ihm bestätigen, dass es sich dabei indirekt tatsächlich um eine Art Nachlass handelte. Der größte Teil von Jürgens und meinem Vermögen stammte aus dem di-Stefano-Imperium; nur ein kleiner Teil war ja auf unsere ursprünglichen Heuerunternehmen zurückzuführen. Dieser Sache habe ich dann meinen neuen Spitznamen „Zachi“ zu verdanken. Einen Abend im Februar saß ich mal mit Thomas Völler und Hendrik in einer gemütlichen Runde beisammen. Nur so nebenbei wurden da ein paar Sätze über die Stiftungsaktivitäten gewechselt. Da tönte Hendrik dann: „Was bin ich stolz, mein Paps ist der Zachäus 2001.“. Da ich als „Neuchrist“ nicht so bibelkundig bin, wusste ich nicht um die Bedeutung dieser Aussage. Deshalb erzählte mir Thomas von dem Zoll- und Steuereinnehmer Zachäus, der sich unter anderem auch mit kleinen Betrügereien ein Vermögen angeeignet hatte aber dabei gar nicht glücklich war. Eines Tages hörte er das Jesus in seine Stadt kommen sollte und er wollte diesen Meister auch sehen. Da sehr viele Leute am Straßenrand standen stieg er auf einen Baum um den Meister besser sehen zu können. Dort sah nicht nur er den Meister sondern Jesus sah auch ihn. Der Herr sprach Zachäus an und sagte, dass er bei ihm einkehren wollte. Zachäus und Jesus saßen ein längere Zeit zusammen und danach war der Zöllner wie umgewandelt. Er gab den Leuten, die er betrogen hatte, ihr Geld vierfach zurück und den Rest teilte er mit den Armen. Hendrik meinte anschließend, dass meine Managertätigkeit, wenn ich ehrlich wäre, mit der des Zöllners vergleichbar gewesen sei. Auch ich wäre dabei nie glücklich gewesen und auch bei mir wäre der Herr eingekehrt und habe lange mit mir gesprochen. Und jetzt würde ich ähnlich wie Zachäus handeln. Die von Jürgen und mir am Meisten Betrogene wäre ja Carmen gewesen und jetzt gäbe ich ihr das mehrfach zurück. Das wies ich jetzt doch zurück, denn ich wollte weder etwas gut machen noch wollte ich mir einen Fahrschein in den Himmel kaufen. Ich griff ein Wort von Thomas auf und sagte, dass ich einen Ablasshandel nicht nachvollziehen könne. Wieder berief ich mich auf meinen irdischen Egoismus. Ich wollte etwas Sinnvolles, bei dem ich selbst glücklich bin, machen und dabei noch ein Wenig Carmen, die wie alle drei meiner Frauen ein besseres Schicksal verdient hätten, würdigen. Darauf sagte Thomas: „Und woher weißt du, das Zachäus aus anderen Gründen gehandelt hat? Lass mal, Hendrik hat recht, du bist unser Zachäus 2001.“. Thomas sprach mich ab diesem Moment bei diversen Gelegenheiten mit Zachäus an. Für Hendrik blieb ich in der Anrede zwar „Papa“ oder „Paps“ aber er beteiligte sich rege an der Verbreitung der Kunde des ich Zachäus sei. Aber noch hatte ich Glück, der Spitzname machte noch keine große Runde. Das lag wohl überwiegend daran, dass ich noch nicht in der Gemeinde wohnte und so auch noch keine häufigeren Kontakte mit dortigen Leuten hatte. Und außerdem ist Zachäus noch nicht Zachi; und letzteres ist es, wie man mich heute fast ausschließlich anspricht. Es gibt gar Leute, die mich als Zachi kennen aber nicht wissen dass ich der Walter bin. Jetzt kann ich wirklich Rosi bestätigen, dass für mich mit 56 ein neues, glücklicheres Leben begann, in dem ich sogar einen neuen Namen bekam. Jetzt habe ich mal wieder ein Wenig vorgegriffen, deshalb will ich mal jetzt schnell in den Alltag des vollbeschäftigten Aussteigers, im Februar dieses Jahres darstellte, zurückkehren. Wenn ich alles das, was ich im Februar 2001 machte, in einem Satz zusammenfassen sollte würde ich sagen, dass ich mein altes Leben abwickelte und mein neues begründete. Hinsichtlich der Abwicklung kann man jetzt fragen, was denn mit Ramona, die ja in den letzten beiden Jahren praktisch ein Hauptbestandteil meines alten Lebens war, sei. Ich habe sie ja eigentlich schon im vorangegangenen Kapitel aus meiner Geschichte verabschiedet, da im Zusammenhang mit ihr nichts gravierendes mehr passierte. Ab dem heutigen Tage, 6. Oktober 2001, glaube ich, dass ich sie ganz am Schluss meiner Niederschrift noch mal erwähnen sollte. Jetzt an dieser Stelle will ich sie jedoch (vorläufig) abschließend erwähnen. Zwischen uns war nichts passiert sondern ganz normale Entwicklungen lassen sie und ihre Kinder erst mal in den Hintergrund treten. Die Kinder waren ja inzwischen auch ein wenig älter und selbstständiger geworden. Jetzt
orientierten sie sich in ihrer Freizeit mehr an ihren Schulfreundinnen beziehungsweise –freunden sowie Nachbarskindern und waren nicht mehr in meiner Villa oder bei ihrer Oma eingeigelt. Sowohl bei ihrer Oma wie bei mir waren sie nur noch gelegentlich mal. Ramona selbst ist eine intelligente und lernfreudige Frau und hat sich unter Frau Schroers und meiner Anleitung zu einer Kauffrau entwickelt, die den Eindruck erweckte, als habe sie den Beruf von der Picke auf gelernt. Ich schaute im Februar noch öfters mal bei ihr rein aber eigentlich kam sie alleine ganz gut zu recht. Somit lag alles, was sie betraf im absolut grünen Bereich. Eine Sache aus dem „ganz alten“ Leben, die durchaus ganz peinlich hätte werden können, hatte ich bis Mitte Februar dieses Jahres „beinahe“ vergessen. Als ich wegen der Stiftungsangelegenheit mal beim Notar war fragte mich der: „Herr Heuer, wie ist das mit den Schriftstücken, die sie für den Fall ihres Ablebens bei mir hinterlegt haben? Ich frage nur, da sich die Angelegenheit mit ihrer Stiftung möglicherweise auch auf ihren Nachlass auswirkt.“. Er operierte augenscheinlich sehr diplomatisch. Ich bin mir sicher, dass er damals, als ich die Schriftstücke hinterlegte, auf Selbstmordabsicht geschlossen hat. Somit dürfte er auch die Nachricht von meinem häuslichen Unfall richtig gedeutet haben. Da er den Inhalt meines Testamentes kannte, wusste er auch, dass dessen Änderung eigentlich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht so sehr unter den Nägeln brannte. Meine Villa ging an die Aids-Stiftung, der Zug war abgefahren, auch Ramona sollte, wenn ich vorher ablebe, ihre Restschuld weiterhin erlassen bekommen und Hendrik sollte nach wie vor mein Haupterbe bleiben. Und was die Stiftung anbelangte war ich mir sicher, dass Hendrik diese Angelegenheit in meinem Sinne weiterführen würde. Und beim derzeitigen Stand der Stiftungsgründung bedurfte es aus juristischer Sicht noch keiner testamentarischen Erwähnung. Nur die Abschiedsbriefe erschienen mir jetzt wirklich so, wie sie waren, durch die Reihe nicht mehr für die ursprünglichen Empfänger bestimmt. In diesem Sinne antwortete ich ihm, auf einer für ein Exmanager ‚unglaublich’ ehrlichen Art: „Eu, ... gut dass sie das ansprechen. Als ich diese Dinge bei ihnen hinterlegte glaubte ich Aids zuhaben und bald sterben zu müssen. Da habe ich mich mit ein Wenig viel Weltschmerz von den Leuten, die mir nahe stehen, verabschiedet. Heute weiß ich, dass ich mir das Aids nur eingebildet habe, ... ich bin noch nicht mal HIV infiziert. Heute sehe ich alles ganz anders. Sie haben doch sicherlich eine Aktenvernichtungsmaschine? Wenn sie nichts dagegen haben würde ich der gerne die Briefe übergeben. .. Und eine Testamentänderung hat doch sicherlich Zeit bis sieben Siegel unter der Stiftung sind – oder wie sehen sie das?“. Es ist nun so, dass die Briefe mit Sicherheit keine Katastrophe dargestellt hätten, wenn sie in die Hände der angedachten Empfänger gekommen wäre. Ich habe ja niemand angeschuldigt sondern ich habe mich für das Unrecht, was ich ihnen angetan habe, mit „großen“ Worten entschuldigt. Somit hat sich dahingehend nichts geändert. Was sich geändert hat, ist das ich jetzt weiß, dass mir ja alle längst verziehen hatten. Keiner, außer mir, beschäftigte sich mit alter Schuld. Wenn dieses die Abschiedsbriefe gelesen hätten, hätte ich alte, längst verheilte Wunden wieder aufgerissen. Obwohl ich das Gegenteil wollte hätte ich den Menschen, die mir nahe stehen, Schmerzen zugefügt. Diese Sache brachte mich später mal dazu über Entschuldigungen nachzudenken. Warum entschuldigt man sich eigentlich? Weil man zwar sein Unrecht eingesehen hat und sich jetzt vor den Opfern des Unrechts rein waschen will? Will man damit ausdrücken, dass man ja gar nicht so ist wie man scheint? Oder entschuldigt man sich, weil andere dieses von einem verlangen und man Nachteile zu erwarten hat, wenn man nicht das Wort „Entschuldigung“ gebraucht? Entschuldigt man sich um Rache und Vergeltung abzuwenden? Im Grunde erbitten wir mit einer Entschuldigung etwas wozu der andere, wenn er Christ ist, sogar verpflichtet ist. Heißt es nicht: „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unser Schuldigern.“? Was sollen die vielen Worte bei einer Entschuldigung, wenn sie in den meisten Fällen nicht einmal ehrlich gemeint sind? Wäre es nicht richtiger auf den Anderen zuzugehen und dann zu sagen: „Komm, lass uns gemeinsam gehen.“? Ich finde es richtiger Entschuldigungen zu leben statt sie formell auszusprechen. Also kurzerhand wanderten die Abschiedsbriefe in den Reißwolf des Notars. Und das Testament ... gleich hinter her. Was sollte es? Die Worte klangen für Eingeweihte ja ähnlich wie in den Briefen. Im Grunde war und ist „mein letzter Wille“ entsprechend der Festlegung des Gesetzgebers. Einzigste Ausnahme war, dass ich Ramona nach wie vor die Restschuld erlassen wollte, aber diese war durch ihren Anteil an der Erbengemeinschaft, der ich mein künftiges Häuschen abgekauft hatte, bereits so reduziert, dass es deshalb keinen großen Wirbel mehr bedurfte. Ein wichtiger Grund für das Testament war ja damals, insbesondere im Hinblick auf die verschenkte Villa, damit man wusste was überhaupt noch zu vererben war. Aber jetzt hatte ich ja eine so enge Verbindung zu meinem Erben, dass dieser das auch ohne letztwillige Verfügung wusste. Also, auch mit dem Testament ab in den Papierschnitzelhimmel. So, dass war jetzt der Bericht eines vollbeschäftigten Aussteigers auf dem Weg von Gestern auf Heute. Wie bitte, ob es Stress gewesen ist? Oh nein, ich glaube Stress ist nichts biologisch Natürliches sondern Stress findet im Kopf statt. Entweder will man sich durch Vorgabe von Stress dahingehend aufwerten, wie wichtig und unentbehrlich man ist, oder er entsteht auf Grund einer Abwehrhaltung, weil man widerwillig, ohne inneren Rückhalt an eine Sache herangegangen ist. Zu meinem Managerzeiten habe ich bei diversen Gelegenheiten Stress vorgetäuscht um bei Anderen den Eindruck zu erwecken, dass ich bis zur Erschöpfung leistungswillig war. Ich wollte damit dokumentieren, dass, wenn ich im Chefsessel sitzend denke – was öfters sogar nur träumen war -, ein wesentliches mehr an Energie aufwendete als die mit höchster Konzentration schnellschreibende Sekretärin im Vorzimmer. Also bei mir war Stress überwiegend Angeberei. Wenn man aber etwas gerne macht und auch nicht angeben will ist Stress, der sich im Übrigen auch gut als Entschuldigung für Fehler eignet, so gut wie ausgeschlossen. Stress ist Widerwille oder Angeberei, aber nichts
Natürliches. Sorry, jetzt habe ich nicht an die armen Leute gedacht, die von Oben, zum Beispiel von Vorgesetzten oder „Erziehern“, unter Druck gesetzt werden, die leiden wohl als einzigste unter echten Stress. Aber warum gibt man den Pferden denn eigentlich die Peitsche, sollten wir uns dieses nicht mal abgewöhnen? Zum Kapitel 32
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Der Prophezeiung letzter Teil Oft hört man, dass es letztendlich nur auf das Ende oder auf das Ergebnis ankäme. Aber stimmt das wirklich? Ist das nicht nur ein Vorwand, mit dem man das Vorgehen mit dem Ziel heiligt? Werfen wir nur mal ein Blick auf die große Weltgeschichte. Wenn ein sogenannter „Schurkenstaat“ – übrigens ein dummes und blödes Wort mit dem ein ganzes Staatsvolk wegen seiner sie beherrschenden Diktatur mehr oder weniger diffamiert wird – in die Knie bombardiert wird, dürfte das Ergebnis ein Staatsgebiet sein, auf dem sich lang- oder sogar mittelfristig Freiheit und Demokratie entwickeln können. Rechtfertigt das aber die, als Kolalateralschaden verharmlosten, getöteten – im biblischen Sinne müsste man sogar ‚ermordeten’ sagen – Menschen? Rechtfertigt das die durch Bombardement entstandene Massenobdachlosigkeit und Flüchtlingselend? Man rechtfertigt dieses dann immer gerne damit, dass man Schlimmeres dadurch verhütet habe. Aber man muss wirklich fragen ob es zum Erreichen dieses Ziels wirklich nur das Mittel des nihilistischen Bombens, das heißt Abwurf todbringender und zerstörender „Spielzeuge“ aus großer und sicherer Höhe, gab. Gab es wirklich keine politischen und diplomatischen Mittel um das gleiche Ziel zu erreichen? Hätte man vielleicht durch Stützung der Bevölkerung und der Opposition in dem Land, wozu neben Entwicklungshilfe insbesondere auch Gewährung von Asyl und humanitäre Hilfe gehören, nicht das gleiche Ziel erreicht. Diktaturen verlieren grundsätzlich ihre Macht auf der gleichen Weise wie sie diese gewonnen haben, sprich durch die Stützung oder Ablehnung der Masse der Bevölkerung. Diktatoren nutzen sozialen Unfrieden und Armut, dass heißt, die durch diese entstehende Unzufriedenheit, die auch zu Hass ausarten kann, um an die Macht zu kommen. Überall dort, wo der Bevölkerung klar wurde, dass ihre Grundbedürfnisse nicht von ihren Imperatoren befriedigt werden und sie von anderer Seite mehr zu erwarten haben, wackeln die Stühle der Herren bis sie umstürzen. Die friedlichen Revolutionen in Indien (Ghandi), Südafrika (Mandela) und im Ostblock (Gorbatschow) belegen das eindeutig. Aber da wo kräftig zugeschlagen wurde wie zum Beispiel im Irak, hat die durch das Bombardement verursachte Not der Bevölkerung, die inzwischen schon zirka einen Millionen Menschen das Leben gekostet hat, den Rückhalt für das Regime des Saddam Hussein gestärkt. Da nützt es wenig, wenn man dem Diktator als Verursacher die Schuld zuweist. Verhungernde interessieren sich dafür wo sie Brot herbekommen und nicht für ominöse Schuldfragen. Aber auch aus dem Bereich der Wirtschaft kann ich solche Überlegungen zum Nachdenken stellen. Da kann ich ja unter anderen mein eigenes „übles“ Beispiel nehmen. Durch mein Vorgehen mehrten sich nicht nur meine Profite und Vermögen. Ich habe großen Anteil an den viel bejubelten betriebs- und volkswirtschaftlichen Ergebnissen. Der Preis dafür war aber die Vernichtung von Arbeitsplätzen. Ich habe Leuten die Chance genommen, durch Arbeit ihr eigenes Einkommen zu erwirtschaften und sie statt dessen in die Obhut der Sozialversicherungen, insbesondere der Arbeitslosenversicherung getrieben. Ich habe somit nicht nur theoretisch sondern praktisch Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert. Aber ist das Aufgabe der Wirtschaft? Liegt der nicht der Grundgedanke, durch Regelung der Abläufe den Bestand und das Überleben der Menschheit zu sichern, zu Grunde? Soll die Wirtschaft den Menschen oder der Mensch der Wirtschaft dienen? Ist nicht die Globalisierung, das heißt die möglichst vollkommende Deregulierung der Kapital- und Warenmärkte, nur eine Konzentration der Kapitalströme auf immer weniger Länder und darin auf immer weniger Leute. Dadurch steht immer mehr Leuten immer weniger zur Verfügung. Not, Hunger und Krankheiten nehmen in einer globalisierenden Welt immer mehr zu und bieten damit den Nährboden für Hass, Rache und Bestialismus. Rechtfertigt das Ziel des, fast schon schizophrenen Reichtums Einzelner die Mittel der Globalisierung? Sind auf diese Weise nicht die Globalisierer die Steigbügelhalter für die Begründer menschenwidriger Regime? Auf diese Überlegungen komme ich an dieser Stelle weil ich in meiner Biografie an der entscheidenden Wende meines Lebenswandels und den Empfindungen meines Lebens angekommen bin. Ich will mal sagen, dass ich mich jetzt den Menschen und dem Leben zugewandt habe und dabei tatsächlich irgendwie viel glücklicher geworden bin. Aber wäre mein Leben nicht so verlaufen, wie es verlaufen ist, wäre ich wohl nie da angekommen, wo ich heute stehe. Rechtfertigt dahingehend tatsächlich das Ziel die Mittel? Ich bleibe dabei: Nein. Ich muss mir bewusst sein, dass ich die Schäden, die ich mir und Anderen zugefügt habe, nie wieder gutmachen kann. Ich kann machen was ich will, eine Absolution ist weder käuflich noch kann man sie erarbeiten. Ich muss mit meiner Schuld leben und darauf vertrauen, dass mir Gott diese verzeiht. Er hat es mir und allen Menschen aber mit dem Kreuzestod seines Sohnes versprochen. Aber jetzt spricht nichts dafür, dass ich so weiterlebe wie bisher aber erst recht nichts dagegen, dass ich mich durch die Bank ändere. Jetzt muss ich allerdings sagen, dass sich alle Änderung in meinem Leben sich nicht aus eigenen Antrieb ergaben sondern es waren immer andere Menschen, die mich umgaben, die den Anstoß zum Wandel gaben. Wenn ich mich gegenüber meinen Mitmenschen verschlossen habe gab es negative Änderungen in meinem Leben und wenn ich mich gegenüber den Anderen öffnete waren diese positiv. Als ich mich am 28. Februar dieses Jahres endgültig in Ulkerde niederließ, trat einen Tag später der Mensch, genauer gesagt die Frau, die mein Leben endgültig änderte, in dieses. Ich bin mir nicht nur aus einem heutigen Gefühl sicher sondern auch aus dem Grund, dass es mir prophezeit worden ist. Wer sich jetzt noch an das erste Kapitel meines Buches erinnert wird jetzt spontan sagen: „Ah ha, am 1. März 2001 lerntest du Beate, die dich Zachi nennt und jetzt dein Diktat entgegen nimmt, kennen und dieses ist jetzt die Frau, in deren Arme dich dein Schutzengel Anni gelegt hat und bei der du sicher bist.“. Darauf sage ich nur, dass dieses aus meiner Sicht genau richtig ist. Was jetzt in dieser Niederschrift folgt ist der Beginn des letzten Teils von Annis Prophezeiung. Jetzt sehe ich den bestimmten Traum auch nicht mehr durch die esoterische Brille sondern ich glaube
ganz persönlich, dass Gott hier mit mir gesprochen und mir etwas geboten hat. Er sagte mir in Annis und meinem Traum: „Walter, alles was du auf Erden machst kommt von dir allein. Nichts ist vorbestimmt. Ich habe dich ja mit Verstand und Willen ausgestattet. Die einzigste Vorbestimmung, die ich allen Menschen mitgegeben habe ist dass ihr, euere Seelen, mit mir ewig leben sollt. Nur du kannst deine Seele töten, du kannst sie an den Gott Mammon, dem vorbestimmt ist dass er vergehen wird, verschleudern und mit ihm im Nichts aufgehen. Alles, was du beim Gott Mammon hast, ist ein kurzes irdisches Leben in Saus und Braus, was man nicht einmal als Hauch der Ewigkeit bezeichnen kann. Aber ich liebe euch Menschen so sehr, dass ich jedem Einzeln von euch immer wieder eine Chance gebe. Du Walter bist ein hartnäckiger Fall aber aus meiner Liebe heraus, offenbare ich dir schon vorher im Traum den Punkt im Leben, den du nicht vorbeiziehen lassen darfst. Es wird deine letzte Chance sein.“. Jetzt könnte ich im Stile alter Märchen schreiben, dass nun aus dem „bösen“ Walter der „gute“ Zachi geworden sei und wenn dieser nicht gestorben sei, immer noch leben würde. Damit könnte ich dann die letzte Zeile als diktiert betrachten und die Geschichte abschließen. Aber ich betrachte dass, was mit der Prophezeiung letztem Teil begann erstens für schön, zweitens für interessant und drittens für wichtig, so dass ich noch ein „paar“ Seiten weitermachen möchte. Daher jetzt, nach der „kleinen“ Überleitung weiter im chronologischen Ablauf. Am Abend des 28. Februars, es war der diesjährige Aschermittwoch, hatte ich die Steinmars, Jürgen, Hendrik und Silvia zu einem kleinen Umtrunk aus Anlass meines Einzuges eingeladen. Groß wollten und brauchten wir ja nicht zuschlagen, da wir am letzten Samstag mit allen Drum und Dran Silvias (23.2) und Hendriks (24.2) dreißigsten Geburtstag bis in die Morgenstunden auf dem Steinmarhof gefeiert hatten. Wir hatten den Beginn meiner Einzugsparty bereits auf 18 Uhr festgelegt, da der kleine Christof ja nicht allein gelassen werden konnte und dieser spätestens um Acht in seinem Bett liegen sollte. Da Kinder in diesem Alter in „fremder“ Umgebung nur schlecht oder gar nicht einschlafen, musste zumindestens einer aus der Familie zu einem frühen Zeitpunkt heimwärts, sprich zurück auf den Steinmarhof, ziehen. Dieses übernahmen dann Oma und Opa Steinmar. Ich geleitete die Drei noch bis zur Haustür, wo ich noch kurz für ein Winkewinke an Christof stehen blieb. So sah ich dann auch noch, das Steinmars in Höhe meiner Grundstücksgrenze mit einer Dame, die ich so Mitte Vierzig schätzte, zusammentrafen und sich mit ihr unterhielten. Als ich wieder ins Zimmer zu den anderen kam, stand Silvia am Fenster und sagte: „Oh, oh, ich glaube unser Stammhalter kommt heute arg verspätet ins Bett, wenn ich mich nicht darum kümmere. Meine Eltern sind mit Frau Schlömer zusammengetroffen. Die Drei können es so gut miteinander, dass sie immer Zeit und Stunde vergessen und sich fest quasseln.“. So rein des Interesses halber erkundigte ich mich jetzt nach der Dame. Da setzte Hendrik schmunzelnd an: „Na Paps, ist das nicht eine Frau für dich? Geh doch mal hin und sage ‚Hallo Frau Nachbarin’ und lade sie ein.“. „Meinst du, das eine so junge Frau noch was von so einem alten Knacker wissen will?“, fragte ich zurück. „Du täuscht dich,“, begann er mit seiner Aufklärung, „Frau Schlömer ist glaube ich auch schon Fünfzig. Die hat sich gut gehalten und sieht ein ganzes Ende jünger aus als sie ist.“. „Und außerdem, ... zu haben ist sie auch.“, hakte jetzt Silvia ein, „Die ist schon über 5 Jahre Witwe. Tragischer Fall damals mit ihrem Mann. Der war Lehrer und ist bei einer Lebensrettung ums Leben gekommen. ... Das hat die arme Frau Schlömer damals sehr mitgenommen. Sie hat sich bis jetzt noch keinem anderen Mann zugewandt.“. Alles was ich jetzt erfahren hatte war bis auf ein minimales Detail richtig. Dieses Detail ist, das Herr Schlömer nicht erst 5 sondern bereits 8 Jahre tot ist. Auf jeden Fall war jetzt mein Interesse in so weit geweckt, dass ich Frau Schlömer am nächsten Tag zu einer Tasse Kaffee auf gute Nachbarschaft einladen wollte. Also ging ich am nächsten Morgen so gegen Zehn rüber zum Nachbarhaus und schellte bei Frau Schlömer an. Nur weil sich jetzt meine „Sekretärin“ weigert, das, was ich ihr in Form einer Beschreibung diktierte, einzutippen, muss ich jetzt eine Kurzfassung bringen. Mir öffnete eine 1,61 Meter große, gut gebaute Frau mit mittelblonden Haaren und braunen Augen die Tür. – Aber dass dieses genau meine Kragenweite war, schreibst du aber doch, Beate – Statt meine Einladung entgegen zunehmen, bat sie mich herein und bot mir umgekehrt einen Kaffee an. Ich fühlte mich in ihrer Gesellschaft sehr, sehr wohl. Nachträglich muss ich sagen, dass ich mich im ersten Augenblick in sie verliebt habe – Zwischenkommentar der Sekretärin: Ich mich in dich auch -. Aber während unseres Gespräches merkte ich immer mehr, dass ich mich nicht nur in die Frau, sondern in den Menschen, verliebt hatte. Zum ersten Mal in meinem Leben war meine erste Zuneigung einer Frau gegenüber nicht vordringlich durch sexuelle Begierde gesteuert. War es vielleicht zum ersten Mal wahre, reine Liebe? So kam es, dass wir uns fest plauderten und die verlaufene Zeit erst bemerkten, als Silvia am Telefon war und sich nach dem möglichen Verbleib ihres Schwiegervaters erkundigte. Ich war bereits eine Viertelstunde beim Mittagessen überfällig. Irgendwie tat es mir sogar leid, dass ich aufbrechen musste, denn Silvia hatte ja schließlich nicht verdient, dass ich ihre Mühe bei der Essenszubereitung, auch für mich, mit Missachtung bestrafte. Aber ich verabschiedete mich nicht ohne eine Verabredung mit Frau Schlömer zutreffen. Allerdings war diese von ihr ausgegangen. Schon am gleichen Nachmittag hatte sie mich zu einem Waldspaziergang rund um Ulkerde eingeladen. Auf dem Weg zum Steinmarhof sagte ich mir still: „Ach, ich bin Anni, meinem Schutzengel, so dankbar. Sie hat mich beim Sprung in den Krater, in Form einer Gasexplosion, aufgefangen und hat sich anschließend von meinen Kindern nach Ulkerde führen lassen. Dort hat sie mich in die Arme von Frau Schlömer gelegt, wo ich laut Prophezeiung für immer sicher sein werde.“. Da klingt schon raus, dass ich bereits nach diesem einen Vormittag diese Frau für endgültig und immer
„begehrte“. Theoretisch könnte man sagen, dass ich dann wohl am Nachmittag gleich „Nägel mit Köpfen“ gemacht hätte. Habe ich aber nicht. Wir sind schön „sittsam“ miteinander spazieren gegangen und haben uns sehr nett unterhalten. So lief das jetzt in den nächsten 14 Tagen täglich ab: Fast jeden Tag gingen wir des Nachmittags spazieren. Nur wenn ich mal einen Termin wegen der Stiftung hatte oder bei Jürgen war, fiel dieser aus. Aber das waren nur drei oder vier Gelegenheiten. Regen oder Wind machte uns dabei noch nicht mal was aus, denn nach Frau Schlömers Meinung gibt es kein schlechtes Wetter sondern nur unpassende Kleidung. Des Abends saßen wir entweder bei mir oder bei ihr zu einem Glas Wein zusammen. Wenn wir bei ihr saßen, kamen diverse Gesellschaftsspiele, die sie lange und ich überhaupt noch nicht gespielt hatte, auf den Tisch. Die ganze Zeit blieben wir beim Sie und auch bei einer körperlichen Distanz. So etwas, also dass ich nicht nur höfflich bleiben konnte sondern auch die Finger bei mir behielt, hatte es früher bei mir gegenüber Frauen, die ich eigentlich begehrte, nie gegeben. Und so seltsam wie es klingt, war ich so gar sehr glücklich dabei. Ein Bisschen näher kamen wir uns erst am Tage meines 56. Geburtstages am 14. März. Wir saßen des Abends fast in der gleichen Besetzung wie zu Rosis Geburtstages zusammen. Nur anstelle des damaligen Geburtstagskindes war jetzt Frau Schlömer dabei. Wer darüber stutzt, dass ich bis an dieser Stelle immer feierlich von Frau Schlömer geschrieben, kann jetzt des Rätsels Lösung erfahren. Diese Anrede war bis zu diesem Abend zirka 9 Uhr chronologisch richtig. Jetzt fiel doch meinen Sohn etwas auf: „Paps, weiß du was? Ich habe so ein komisches Gefühl, als müsste ich zu Frau Schlömer Mutti sagen oder um Mama nicht in Abwesenheit abzuwürdigen: Stiefmutti. Aber irgendwas liegt da noch quer, irgendwas stimmt da noch nicht so ganz. Kann es sein, dass ihr euch noch wie Pförtner und Direktor ansprecht ... oder macht ihr das nur wenn andere dabei sind.“. Jetzt hatte Hendrik zunächst einmal alle Lacher auf seiner Seite und Beate Schlömer, die mir gegenüber und neben Hendrik auf der Couch saß, sah mich darauf lächelnd an: „Eigentlich hat dein Sohn recht, Walter.“. Prompt er hob sich Hendrik und bot mir den Platz zwischen Silvia und Beate an. Jetzt konnte ich nicht mehr anders und musste feierlich und offiziell den Bruderschaftskuss und –drink mit Beate austauschen. Nun, wo ich schon einmal in der Couchmitte saß blieb ich da auch sitzen. Jetzt gebrauchte ich in Bezug auf Beate mal meinen Körper: Ich legte meinen rechten Arm um sie und sie kuschelte sich jetzt richtig darin ein. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich mich das letzte Mal so wohl gefühlt habe wie an diesem Geburtstagsabend. Wer aber jetzt glaubt, dass das Techtelmechtel im Beisein der Geburtstagsgesellschaft anschließend im Schlafzimmer eine angereicherte Fortsetzung fand, hat sich getäuscht. Beate verließ gemeinsam mit den letzten Gästen, Hendrik und Silvia, gegen Elf das Haus und wechselte hinüber in das ihrige Heim. Trotzdem hatte sich bei uns etwas geändert: Bei unseren nachmittäglichen Spaziergängen hatte ich Beate meistens im Arm und wenn das nicht der Fall war, hielten wir uns an den Händen. Dieses sowohl innerhalb wie außerhalb des Dorfes. Ab und zu tauschten wir auch Küsse aus, dieses insbesondere auch am Abend bei unseren Geplausche in Verbindung mit Gesellschaftsspielen. Mehr passierte aber wirklich nicht, so dass man unsere Zweisamkeit durchaus mit einer sittlichen, reinen Teenagerliebe wie zu Omas Zeiten vergleichen konnte. Noch sagte sie aber zu mir immer noch Walter; das Zachi, das heutzutage alle Ulkerder zu mir sagen, wurde erst eine Woche später geboren. Außer am 1. März, am Tag nach meinem Einzug, konnten wir uns werktags immer erst nachmittags zu einem Bummel treffen. Das lag daran, dass Beate des Morgens im Gemeindebüro der evangelischen Kirchengemeinde arbeitet. Was heißt hier, dass sie dort arbeit – sie schmeißt dort den Laden; das behauptet auch unser Pfarrer Thomas Völler. Am 22. März, also genau 8 Tage nach meinem Geburtstag, musste sie auch mal einen Nachmittagsdienst einlegen. Thomas war mit seiner Familie zu der Beerdigung seines Onkels und damit das Gelände um die Kirche während seiner Abwesenheit nicht verweist war, hielt Beate die Wacht am Telefon. Damit sie sich aber dabei nicht so „einsam“ fühlte, leistete ich ihr dabei Gesellschaft. Unseren Spaziergang wollten wir gleich im Anschluss, wenn Thomas wieder zurück ist, starten. Kurz nach Vier traf auch der trauernde Neffe wieder Zuhause ein. Als er mich sah legte er gleich los: „Hallo Zachäus, wenn ich gewusst hätte, dass du meinen Onkel Bernd gekannt hast ... wie ich heute von meiner Mutter erfahren habe – hätte ich dir Bescheid gegeben und wie ich dich kenne wärest du bestimmt mit zur Beerdigung gekommen, schließlich bist du ja unser Zachäus 2001.“. „Sicher, Bernd Völler, Carmens und mein Fahrer.“, schoss es mir gleich durch den Kopf. Der identische Nachname war also mehr als ein Zufall. Bevor ich aber was sagen konnte war erst mal Beate am Ball: „Das war mir dieser Tage schon aufgefallen, Thomas, das du zu Walter immer Zachäus sagst. Aber ich habe mir bis jetzt nichts dabei gedacht. Jetzt gefällt mir aber der Name Zachäus, denn da kann man den bestimmt einmaligen Kosenamen Zachi rausmachen. ... Walter, ab sofort bist du mein Zachi.“. Das gefiel dann Thomas auch sehr gut und schon war ich bei Zweien nur noch der Zachi. Thomas erlaubte sich jetzt noch einen netten Scherz: „Ja mein lieber Walter Heuer, wenn du mal einen klangvollen Künstlernamen brauchst, dann nenne dich ganz einfach Zachi Zachäus.“. Jetzt wollte Beate aber noch wissen, wie ich zu den Namen Zachäus gekommen sei. Thomas holte die Erlaubnis, die Geschichte in Kurzform erzählen zu dürfen, ein und berichtete ihr diese, allerdings in einer, meine Person sehr schmeichelnden Fassung. Darauf griff ich ein: „Warum schonst du mich Thomas. Ich war Manager, ein sogenannter Trouble Shooter und Shareholder. Ich habe Kurse hoch manipuliert und Vermögen gemehrt und habe mich nicht um die Leute, die durch mich Arbeit und vielleicht ihren Halt verloren haben, geschert. Aus Erbschleicherei heiratete ich
Carmen die Stefano, die Frau meines Bruders und habe sie anschließend schmählich allein gelassen. Das habe ich getan, das leugne ich nicht. Da brauchtest du mich nicht zu schonen Thomas.“. Beate hatte mein Geständnis so begeistert, dass sie mir spontan um den Hals fiel und mich vor den Augen des Pfarrers herzlich küsste. Noch ist aber der Höhepunkt unseres Love-Story-Beginnes noch nicht erreicht. Da sollten erst noch weitere Tage ins Land ziehen. Zunächst feierten wir am Abend des Sonntags, dem 1. April 2001, Jürgens 61. Geburtstag. Rosi hatte darauf bestanden, dass er an diesem Wochenende seinen Besuch bei ihr schon am Mittag abbreche, damit er mit uns am Abend feiern könne. Rosis Motivation auf diese Feier zu bestehen, konnten wir zwar nicht nachvollziehen, aber wir kamen ihrem Wunsch trotzdem nach und feierten wunschgemäß am Sonntagabend. Stopp, jetzt habe ich mich ein Bisschen hart über unsere Ansicht zu Rosis Motivation ausgelassen. Diese Aussage bezog sich nur speziell auf die strikte Einhaltung des Geburtstagstermins; ansonsten muss ich ihr recht geben. Sie hatte in ihrer eigenen ursprünglichen Familie, also in der Familie Schrimpf, keine Großfamilie im herkömmlichen Sinne kennen gelernt. Das heißt ein Zusammenleben von Abkömmlingen über mehrere Generationen, was früher bei der landwirtschaftlichen Bevölkerung, als es noch keine Sozialversicherungen gab beziehungsweise diese noch nicht so ausgebaut waren, unabdingbar war. Heute ist es, wie es auch in Rosis Familie war, üblich, dass die Kinder aus dem Haus und dann als Single oder Einzelpaar ihre eigenen voneinander unabhängigen Wege gehen. Durch das wilde Leben der Gebrüder Heuer, die unter anderem ihre Ehefrauen untereinander austauschten, habe es sich halt so ergeben, das wir, wenn wir jetzt harmonisch miteinander umgehen, in einer solchen Großfamilie leben könnten. Irgendwo ist es ja auch was schönes, wenn man mit anderen Menschen, die einem sehr nahe stehen, in engen Kontakt bleibt. Und darin, dass so etwas auch gepflegt und geübt werden müsse, hatte sie ja auch aus meiner Sicht hundertprozentig recht. Insbesondere Beate, die ja jetzt praktisch neu zu uns gestoßen war, konnte sich diesbezüglich über die tollen Kombinationen im Hause Heuer amüsieren. Rosi war meine erste und dritte Schwägerin sowie meine zweite Frau. Als sie erstmalig mit Jürgen verheiratet war brachte sie Jürgens ermordete Tochter Anita, die dann später nicht nur meine Nichte sondern auch meine Stieftochter war zur Welt. Aber nicht nur das, sie brachte in der Zeit auch außerehelich meinen Sohn Hendrik zur Welt, der erst ein Jahrzehnt als eheliches Kind in meinem Hause und dann als Neffe und Stiefsohn in Jürgens Haus lebte. Währendessen war ich mit Jürgens zweiter Frau Carmen verheiratet und in dieser Zeit war Jürgens Sohn und mein Neffe Salvador als Stiefsohn in meinem Haus. Jetzt kann man ja eine abendfüllende Veranstaltung daraus machen, wie alles, was es so an Verwandten gibt, unter solchen Bedingungen miteinander verkettet ist. Und diese sorgte an jenem Sonntag für reichlich Spaß bei Beate. Auf der Rückfahrt von Seetal nach Ulkerde wurde Beate doch diesbezüglich nachdenklicher. Recht sinnig fragte sie: „Du Zachi, irgendwie ist das schön, wie ihr trotz der Wirren des Lebens zu einer so schönen Familieneinheit zusammen gefunden habt. Deine Schwägerin ist, weil sie mal mit dem einen Bruder und mal mit dem anderen verheiratet war, zweifelsfrei die Schlüsselfigur dabei. Aber was ist, wenn Außenstehende, so wie ich, in diese Einheit einbrechen?“. Ebenso nachdenklich antwortete ich: „Ja, das war ja bei uns Heuers nicht immer so. Die längste Zeit des Lebens waren wir, wie es heute auch bei anderer Leute Verwandtschaftsverhältnis üblich ist, selbstständige Einheiten die ihre eigene Weg gingen. Im Grunde waren es immer tragische Ereignisse, wie der Tod unserer Eltern, der Mord an Jürgens Tochter Anita, der Asthmatod seines Sohnes Hendrik und so weiter, der uns immer wieder einmal zusammenführte ... aber später ging es dann auch immer wieder auseinander. Allerdings dadurch, dass Jürgen und ich uns immer auf die gleichen Frauen und die gleichen Geldquellen stürzten, kamen die Wege von Zeit zu Zeit immer mal wieder zusammen. So wie es jetzt ist, hat es sich ja erst im letzten halben Jahr entwickelt. Da ist erst das Bewusstsein zu unserer Zusammengehörigkeit gewachsen. Solange wir uns dieser Sache bewusst bleiben, dürfte die jetzige Großfamilie halten, gleichgültig ob jemand dazu kommt oder nicht. Das Bewusstsein ist wichtig. ... Aber gut, dass du das angeschnitten hast, denn jetzt weiß ich, worauf ich achten muss. Dahingehend muss ich Rosi unterstützen, denn das Bestehen auf die Geburtstagsfeier war diesbezüglich tatsächlich ein Schritt in die richtige Richtung.“. Jetzt unterhielten wir uns zunächst über die Bedeutung des Bewusstseins im Allgemeinen. Kurz vor Ulkerde kam ich dann aber auf Beates ursprüngliche Aussage während der Fahrt zurück: „Du Beate, du sagtest vorhin, was wäre wenn du als Außenstehende in unsere Einheit einbrechen würdest. Hast du vielleicht an eine Lebenspartnerschaft oder besser noch Ehe gedacht?“. „Also, das Wort Ehe kam in meinen Gedanken nicht vor,“, antwortete Beate, „aber mit Lebenspartnerschaft hatte das schon zu tun.“. „Bei uns Beiden sieht ja alles schon sehr nach Lebenspartnerschaft aus.“, kommentierte ich jetzt kurz. Darauf sagte dann Beate mit einer sich erotisch anhörenden Stimme: „Aber ein ganz kleines, aber wesentliches Detail gehört wohl doch noch zusätzlich dazu.“. Aufgrund des Klanges ihrer Stimme schloss ich gleich in eine Richtung, die auch ich jetzt „heiß“ wünschte. Deshalb fragte ich nun mit zitternder Stimme: „Möchtest du mit mir schlafen, Beate Mäuschen?“. Jetzt sprach sie doch sehr leise: „Ehrlich gesagt: Ja. Jetzt bin ich schon 8 Jahre ohne Mann ausgekommen und ich dachte schon vom Weltlichen ab zu sein ... und auf einmal habe ich wieder so ein starkes Begehren. Ich möchte mit dir ganzkörperlich schmusen und kuscheln, ich möchte dich in mir spüren. ... Ich liebe dich und irgendwie gehört das dazu.“. Während sie diese sagte ging es mir wie einen Youngster, der gerade eine neue „Biene“ aufgerissen hat. Am Liebsten wäre ich rechts rangefahren und hätte gleich losgelegt. Als wir in Ulkerde vor unseren Häusern standen schalteten wir in unsere erotischen Überlegungen ein Wenig die Logik ein. Jetzt war es etwas später und wir waren müde. Da wäre es möglich gewesen, dass wir von unserem ersten Mal nicht
das gehabt hätten, was wir glaubten davon haben zu müssen. Kurzerhand vertagten wir das Ganze dann auf dem Folgetag. Wir wollten sogar unseren inzwischen obligatorischen Nachmittagsspaziergang dafür ausfallen lassen. Dieser Beschluss sorgte dann noch dafür, dass sich unsere Vorfreude und Erwartungen bis in den siebten Himmel hochschraubten. Am Montagnachmittag war es dann soweit. Beate empfing mich, als ich zu ihr hinüberging, nur mit einem Bademantel bekleidet, den sie auch prompt, nach dem sich die Haustür wieder im Schloss befand, ablegte. Zum ersten Mal stand sie nackt vor mir. Im Hinblick darauf, dass ich ihr diese Biografie diktiere, will ich es jetzt mal dabei belassen, dass sich bei ihr wohlgeformt Alles an der richtigen Stelle befindet. Nur ihre Busen, auf die sie stolz ist, darf ich erwähnen. Diese sind schön rund und füllen jeweils eine Hand voll aus. Und was bei 50-jährigen Frauen gar nicht selbstverständlich ist: Sie sind richtig schön stramm, darunter kann man noch keinen Bleistift zum Halten bringen. „Jetzt reichst aber“, bekomme ich jetzt beim Diktat zu hören. Das könnte man insgesamt sagen und daher jetzt nur noch ganz kurz, dass wir uns direkt darauf ins Schlafzimmer begaben, in dem auch ich mich flugs entkleidete. Danach gab es eine schöne Zeit, die bis zum Morgen anhielt. Erst als wir gemeinsam gefrühstückt hatten, gingen wir für diesen Tag erst einmal wieder auseinander. Als ich zu Beginn der Himmelsstunden nackt in ihren Armen, dicht an ihrem ebenfalls nackten Körper, lag wusste ich, dass das der Prophezeiung endgültig letzter Teil war. Mein Schutzengel Anni hatte mich in die Arme der Frau, bei der ich für immer sicher sein werde, gelegt.
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Die Vergangenheit kann man nicht abschütteln Am Mittwoch vor Ostern kam Rosi aus Süddeutschland von ihren Operationen zurück nach Seetal. Jürgen war bereits einen Tag zuvor losgefahren, um seine Frau höchst persönlich und schnellstmöglich abzuholen. Er hatte mich gebeten, doch zusammen mit Beate zu ihrem Empfang in seine „Hütte“ zukommen. Er wollte schon von unterwegs kurz mit dem Handy durchbimmeln, wenn er sich dem Kreis Waldheim nähere. Damit sollten und wollten wir Rosi dokumentieren, dass wir sie so gerne haben, dass wir es gar nicht abwarten können, bis wir sie wieder in Empfang nehmen können. Gerne hätte mein Bruder auch Hendrik und Silvia dabei gehabt, aber die hatten noch auf dem Hof zutun und wollten erst am Abend zu uns stoßen. Gegen Vier war es dann soweit und Jürgen meldete sich von einer Raststätte. Rosi war mal eben auf der Toilette und bekam somit nicht mit, dass wir vom geschätzten Zeitpunkt ihrer Ankunft informiert wurden. Um so überraschter und erfreuter war sie, als wir etwa eine Dreiviertelstunde später, als sie ankam, bereits vor der Tür standen und auf sie warteten. Hoch erfreut kam sie erst mal auf mich zu und nahm mich erst mal in ihre Arme. Nachdem sie sich nach einem Wangenkuss von mir gelöst hatte wandte sie sich Beate zu: „Guten Tag Frau Schlömer. Ich glaube wir kennen uns noch nicht aber ich habe schon viel von ihnen gehört. Mein Mann schwärmt ja richtig von ihnen. Er meint sein Bruder habe endlich mal die richtige Wahl getroffen.“. Jetzt wurde auch Beate kurz umarmt. Währendessen hatten wir Männer bereits die Koffer an die Hand genommen und zu viert begaben wir uns jetzt ins Haus. Bereits auf seinem Geburtstag hatte Jürgen Beate in seine Küche in soweit eingewiesen, dass sie jetzt einen Kaffee zubereiten konnte. Damals war es allerdings noch nicht in Vorbereitung des heutigen Empfanges sondern Beate war der Meinung, auch mal mit dieser Tätigkeit an der Reihe zu sein. Rosi war jedoch von diesem Empfangsservice sehr gerührt, wandte aber doch ein: „Mensch Leute, ich bin gesund ... deshalb hat man mich doch nach Hause gelassen. Ihr braucht nicht umhegen und pflegen.“. Na ja, es war ja auch nur als Anerkennung und Aufmerksamkeit gegenüber einem lieben Menschen gedacht. Nachdem wir etwa eine Viertelstunde da gesessen hatten und die Frauen inzwischen das Du miteinander vereinbart hatten war Rosi wieder ganz zu Hause; sie war wieder ganz die Alte. „Ach, da fällt mir ein Walter,“, legte sie jetzt in ihrer alten munteren Art los, „ich wollte dir doch, wenn ich wieder vollständig zurück bin, mal zeigen, was ich da zu bieten habe.“. Und kaum hatte sie es gesagt, hatte sie auch schon ihren T-Shirt und ihr Hemd über den Kopf gezogen und saß jetzt oben blanko da. Dabei war ihr nun doch hinsichtlich ihrer Spontaneität nicht so ganz wohl und sie wandte sich erst mal entschuldigend an Beate: „Entschuldigung Beate, ich habe mir jetzt nichts dabei gedacht. Aber schließlich war ich mit Walter über 10 Jahre verheiratet und immerhin haben wir ja auch gemeinsam unseren Sohn Hendrik. Da kennen wir uns natürlich schon ein bisschen besser.“. Beate nahm es gelassen und diplomatisch: „Ach Roswitha, mach dir nichts raus. Auch ich bin ja ganz stolz auf meinen Busen und freue mich mal wenn ich den präsentieren darf. Deshalb lege ich mich im Urlaub auch immer Oben ohne sonnen. ... Jetzt weißt du Bescheid, Zachi.“. „Einen Unterschied gibt es doch.“, meinte Rosi jetzt, „deine sind Originale und wahrscheinlich größer als meine und diese hier sind eine Attrappe.“. „Och, von wegen größer“, sagte Beate und saß schwupp ebenfalls Oben ohne da. Jetzt konnten die beiden Experten Jürgen und Walter erst mal die Busen beider Frauen begutachten und für schön befinden. Zwar hatte Rosi dahingehend recht, dass Beates Brüste größer als die ihren waren – irgend woher muss ja auch alles kommen – aber der plastische Chirurge hatte gute Arbeit geleistet. Rosis stramme Brüste sahen aus wie gewachsen und die feinen Operationsnarben sah man nur bei sehr genauem Hinsehen. Unsere Begutachtung, während der beide Frauen mit frei gelegtem Oberkörper da saßen, dauerte bestimmt zirka 10 Minuten. Da kam Jürgen mit einer sehr nachdenklichen Aussage: „Wisst ihr noch, Rosi und Kleiner, wie mal alles anfing? War das nicht so, dass du Walter zeigen wolltest, was du bieten konntest, kleine Exhibitionistin? Hatte da nicht mal Walters Anni dann auch mitgezogen. Heute ist es mir so als würde sich Familiengeschichte wiederholen.“. Hätte Jürgen bei der Aussage nicht gelacht, hätte ich mich aufgrund meines Schuld- beziehungsweise Mitschuldbewusstsein sehr unwohl gefühlt. Aber trotzdem, bei mir kamen jetzt die Erinnerungen an die damals durch Rosis Exhibitionismus ausgelösten Reibereien, die dann nach und nach alle Steine ins Rollen brachten, wieder hoch. Nur eines muss man jetzt fairer Weise sagen, Rosis Busenshow im April dieses Jahres hatte wohl weniger seinen Grund im Exhibitionismus als in ihrem verständlichen Stolz wieder eine „richtige“ Frau zu sein. Nur Beate war sich jetzt hinsichtlich ihrer schnellen Oberkörperentblößung nicht wohl in ihrer Haut und zog sich verschämt schnell wieder an. Aber wir anderen, insbesondere Jürgen, war es jetzt gar nicht behaglich. Ich wusste und Jürgen hätte es sich vielleicht denken können, dass Beate von den Schandflecken in unserer Vergangenheit noch nicht wusste. Rosi hatte zum Glück die Situation sofort erfasst und erzählte Beate von Frau zu Frau was damals gelaufen war, und zwar, in einer Form, dass wir Brüder und auch sie selbst nicht gleich in den Boden versinken mussten. Möglicher Weise ist es ihr dabei gar nicht aufgefallen, dass sie immer noch barbusig im Wohnzimmer saß. Meine Gedanken schweiften während dieser Zeit doch ein Wenig ab. Ich glaubte, dass es an der Zeit sei, dass ich Beate die dunkelsten Flecken meiner Vergangenheit jetzt bei den Spaziergängen so nach und nach beichten müsste, denn die Vergangenheit kann man nicht abschütteln und diese holt ein immer wieder ein. Und ich halte es auch heute immer noch für besser, wenn die Leute meine wahre Version kennen bevor sie von dritter Seite die schlimmsten Räuberpistolen hören. In diesem Fall war es ja mehr ein harmloser Fleck auf meiner Lebensweste; aber es gibt leider doch ärgere und tiefschwarze auf dieser. Beate meinte soeben, als ich
diese Passage diktierte, dass ich mir deshalb hätte keine Gedanken machen müssen. Heute wüsste ich ja auch, dass sie am Leben teilgenommen habe und bei ihr, wie bei allen anderen auch, dieses oder jenes angefallen sei. Schließlich wären wir Menschen und den perfekten Menschen gäbe es bis heute noch nicht. Diese Einstellung von Beate kannte ich am darauffolgenden Karfreitag noch nicht, als ich zum zweiten Mal innerhalb einer Woche feststellen musste, dass sich die Vergangenheit nicht abschütteln lässt. Nach dem Gottesdienst war Beate zur Vorbereitung ihres Karfreitagsmenüs – eingelegte grüne Heringe, also Bratfisch, und Kartoffelsalat – schon mal nach Hause gegangen. Ich ging noch mit Hendrik zum Steinmarhof, um ihm bei der Verrichtung einer handwerklichen Tätigkeit, wo ich allerdings keinen Meister darstelle, zu helfen. Es kam Hendrik allerdings nur auf das Vorhandensein von zwei weiteren „starken“ Männerarmen an. Auf dem Hof waren inzwischen die Osterferiengäste angekommen. Mir stockte fast der Atem als ich die Dame sah: Es war die Portugiesin aus dem Loveparadies in Holensiep. Ich sah an ihrem bleich gewordenen Gesicht, dass auch sie ziemlich erschrocken war mich hier zu treffen. Als ich den Hof verlassen wollte stand sie ganz lässig wie zufällig am Tor und sprach mich an: „Hallo, wie kommen sie denn hier her?“. „Och,“, sagte ich jetzt erst mal ganz überrascht, „der junge Bauer ist mein Sohn.“. „Hier erfährt doch niemand wo wir uns her kennen?“, wollte sie jetzt wissen, „Mein Mann versteht da keinen Spaß, der macht mich sonst fertig. Ich habe mich damals mal von einer Freundin ... sie ist auch aus Portugal und hat da gearbeitet – dazu überreden lassen. Spaß gemacht hat es erst ja, aber ...“. Jetzt brach sie ab und schaute verschämt auf den Boden. „Wir haben zum Glück beide das gleiche Anliegen,“, sagte ich ihr zum Trost, „mir ist auch daran gelegen, dass niemand was von meinen Untrieben erfährt.“. Während sie dann abdrehte um zu ihrer Familie zu gehen sagte sie noch: „Meine Freundin ist ja für ihre Sache schwer gestraft worden.“. Damit wusste ich jetzt auch bestimmt, dass es sich bei meiner damaligen Swingerpartnerin nicht um die HIV-infizierte portugiesische Prostituierte sondern um ihre Freundin, selbst Ehefrau und Mutter, handelte. Weiter wollte ich jetzt auch nicht nachforschen, denn am Liebsten hätte ich diesen Abschnitt aus dem Buch meines Lebens ganz ausradiert, aber wie bereits geschrieben, kann man die Vergangenheit nicht abschütteln. Der Monat April dieses Jahres war wohl überhaupt der Monat meiner noch unbewältigten Vergangenheit. Schon in der Woche nach Ostern tauchte sie wieder ein weiteres Mal wie ein Gespenst aus dem Nebel des Vergessens auf. Ein Journalist hatte sich bei mir angemeldet und wollte mit mir über meine berufliche Vergangenheit sprechen. Erst habe ich mir nichts weiter dabei gedacht. Ich dachte dass der „Knabe“ einen abgetakelten Manager ausgegraben habe und jetzt eine Reportage nach der Devise „Was aus ihnen geworden ist“ machen wolle. In den Windungen meiner grauen Zellen hatte ich mir schon ein Konzept für meine Saulus-Paulus-Geschichte zurecht gelegt. Wenn es so gelaufen wäre, wie ich es mir ausgemalt hatte, hätten die Leser des Polit- oder Wirtschaftsmagazin - oder schreibt der für Boulevardblätter? Ich wusste es vorher noch nicht mal – bestimmt noch mal das Titelblatt geprüft, weil sie befürchten, sie hätten sich vertan und ein christliches Sonntagsblatt gekauft. Aber man sollte sich Zukünftiges nicht all zu sehr ausmalen, sonst ist man hinterher in der Regel immer enttäuscht. Der Herr von der schreibenden Zunft wollte etwas ganz anderes von mir. Herr Schlüter stellte sich, als er vor meiner Haustüre stand, als sogenannter freier Journalist, also selbstständiger Schreiberling, der für große Nachrichtenmagazine arbeitet vor. Im Wohnzimmer, mir gegenüber sitzend, erklärte er mir, dass es gar nicht um meine Person ginge sondern er hatte sich Promis aus der Politik und dem Big Business aufs Korn genommen. Ihm ging es unter anderen um Bimbes-Sammlungen, also die Einvernahme von Spendengeldern aus dunklen Quellen, kurz anonyme Parteispenden, und damit eventuell verbundene Einflussnahmen auf politische Entscheidungen. Ich sagte ihm gleich, dass er diesbezüglich wohl an den falschen Mann geraten wäre, denn als Mitwirkender in solchen Dingen wäre ich wohl eine zu kleine Leuchte gewesen und als Geldkofferbote wohl zu groß. Für Letzteres nimmt man doch wohl ausschließlich windige Personen aus der unteren Managementhierarchie. Hinsichtlich der letzten Aussage gab er mir recht aber laut seinen Recherchen versuche ich jetzt wohl hinsichtlich Ersteres mein Licht unter den Scheffel zu stellen. Er berichtete mir, dass sich „mein“ Multi Anfang der 90er-Jahre sehr stark in Richtung von Investitionen und Übernahmen im Bereich der Ex-DDR, und hier besondere im Bereich Energie, Mineralöl und Stahl sowie Chemie, engagiert habe. Ab Mitte 1993, wo ich dann in der Funktion eines der Europabosse gewesen sei, wäre bei uns auf einmal diesbezüglich Schweigen anstelle der Aktivitäten getreten und stattdessen wäre unser Unternehmen auf einmal verstärkt auf der iberischen Halbinsel und in Frankreich aufgetreten. Er mutmaßte, dass dieses nicht nach Zufall aussähe. Ich konnte ihm aber nur das Gegenteil berichteten: „Was die Aktivitäten unseres Konzerns vor meiner Zeit, also vor 1993, angeht kann ich ihnen nicht mehr als aus allgemeinen, jedermann zugänglichen Quellen zu entnehmen ist sagen. Diese habe ich mir zum Zwecke der Einarbeitung zu Gemüte geführt. Warum sich plötzlich die Investitionslust vom Osten Deutschland auf den Westen Europas verlagerte ist mir persönlich nicht bekannt. Dahingehend kann ich ihnen nur sagen, dass ich ja eigentlich ein Profiteuer dieser Interessensverlagerung war. Ich konnte dann die überwiegend spanische EuroTrans meines verstorbenen Schwiegervaters, also das Erbe meiner Frau, einbringen und dafür bekam ich dann offiziell den Posten des Trouble Shooters, der in Wirklichkeit der eines Shareholders war. Die Entscheidungen fielen danach auch weiterhin auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans. Ich durfte ab und zu bei Entscheidungen dabei sitzen, aber mitwirken ... Na ja, dafür war ein Walter Heuer wohl zu klein. In einem Punkt gebe ich ihnen recht, optisch sieht es so aus, als habe ich an der Geschichte einen größeren Anteil. Dieses würde zutreffen,
wenn ich den Posten aufgrund einer Personalentscheidung bekommen hätte. Das war es aber nicht, denn der Posten war Teil des Kaufpreises für die EuroTrans.“. Als ich dem Herrn Schlüter die Wahrheit so locker darlegte war ich doch ein Wenig erschrocken, denn die Schatten der Vergangenheit machten mir jetzt besonders klar wie klein und unbedeutend ich, der ich mich damals als großer Mann wähnte, doch in Wirklichkeit nur war. Nur ein besonders sichtbares Rädchen im Getriebe; mehr nicht. Der Journalist sagte mir, dass meine Erklärungen plausibel erschien und erweckte den Eindruck als würde er mir Glauben schenken. Dann fuhr er jedoch Geschütze auf, die mir dann doch die Sprache verschlugen. Er legte Vorgänge aus dem Jahre 1998 vor, die alle nicht astrein waren und allesamt über das Frankfurter Büro, dessen offizieller Boss ich war, gelaufen waren. Einige wenige Papiere trugen sogar meine Unterschrift. Schlüters Verdacht, dass es sich da um Versuche politischer Korruption, möglicher Weise Steuerhinterziehung und Geldwäsche handelte, drängte sich auch, je mehr ich sah, bei mir auf. Das Schlimme daran war, dass ich davon keinen blassen Schimmer hatte. Ich war vollkommen ahnungslos. Das Ganze gipfelt dann darin, dass das Büro erst aufgegeben wurde, als sich Medien und Staatsanwaltschaft begannen dafür zu interessieren. Da habe man mich ruckzuck unter dem Vorwand eines Krebsleidens aus dem Verkehr gezogen und zur Abfindung habe man mir meine Anteile überteuert abgekauft. Nach Einsicht seiner Unterlagen war mir klar, dass man mich eiskalt als Strohmann missbraucht hatte und mein damaliger Aktiendeal gar nicht der Grund sondern nur der Vorwand für meine Feuerung war. Man wollte mich wohl, bevor durch die Beweisführung meiner Unschuld deren Machenschaften auffallen, aus dem Verkehr ziehen. War der Konzern wirklich ein Multi oder ein riesiges Mafiasyndikat? Damit man mir später nicht juristisch an den Kragen springt muss ich hier wichtige Dinge zwischen bemerken. Bei der ersten Angelegenheit, also den Geschehnissen bis 1993, gibt es nur aufgrund des Zeitpunktes, der zumindestens mich betreffend reiner Zufall war, Mutmaßungen eines Zusammenhanges mit der Parteispendenaffäre und der Minol/LeunaGeschichte. Aber ich bin persönlich davon überzeugt, dass es da keine Zusammenhänge gibt. Die zweite Sache mit dem Frankfurter Büro hat erst recht nichts damit zutun. Da ging es auch nicht um innerdeutsche Angelegenheiten. Man hatte sich nur Deutschland, wo sich zu dieser Zeit das öffentliche Interesse auf den Wahlkampf konzentrierte, als Operationsfeld ausgesucht. Und mehr möchte ich nie dazu sagen. Jetzt aber weiter in der Geschichte. Als mir Herr Schlüter all die bösen Dinge aufgetischt hatte, sah ich meine Chance nur darin, dem Journalisten meine Wahrheit mit allen Drum und Dran aufzutischen. Ich berichtete ihm von meinem Flops, die aufgrund des Racheaktes mit falschen Unterlagen meines sadomasochistischen Assistenten entstanden. Das ich deshalb in das Frankfurter Büro, eigentlich ohne besondere Aufgabe, abgeschoben worden sei. Ich gestand ihm, dass ich nur gelegentliche Erklärungen abzugeben oder dieses oder jenes, aus meiner Sicht unbedeutendes, Schriftstück zu unterzeichnen hatte. Ich erzählte ihm, dass ich mich in dieser Zeit überwiegend nur damit beschäftigt habe, mein privates Kapital aus dem Konzern zu ziehen und es dafür in pflegeleichte, stockkonservative Anlagen zu stecken. Ich beteuerte Herrn Schlüter, dass ich von dem, was da wirklich lief, bis heute nichts gewusst hätte und erst durch ihn davon erfahren habe. Ich gestand ihm zusätzlich auch noch, dass wir uns in Frankfurt auch öfters die Zeit mit Gruppensex vertrieben hätten, was mich in Folge auf den Geschmack gebracht hätte. Schlüter wollte nun wissen, warum ich ihm dieses jetzt erzählte. „Ja, Herr Schlüter,“, begann ich jetzt meine Erwiderung, „mir ist bewusst geworden, dass man seine Vergangenheit nicht abschütteln kann. Jetzt muss ich davon ausgehen, dass sie auch noch die anderen aus unserer Frankfurter Crew befragen und dann höre ich plötzlich in unangenehmer Weise von dritter Seite davon. ... Dem wollte ich ein Wenig vorbeugen.“. Schlüter lachte leicht und sagte: „Herr Heuer, ich kann ihnen vergewissern, dass ich mit Boulevardjournalismus nichts zutun habe. Ich will jetzt nicht überheblich sein, wenn ich sage, dass so etwas unter meiner Würde liegt. Also dahingehend brauchen sie nichts zu befürchten. Aber was das Befragen ihres Teams anbelangt, kann ich ihnen gegenüber ja durchaus zugeben, dass ich das längst gemacht habe. Wenn ich eine ‚heiße Sache’ habe, gehe ich nicht gleich an den ‚Schwarzen Peter’ heran sondern ich versuche über die anderen Spielkarten etwas über diesen herauszubekommen. Also wenn ich mitkriege, dass in der Bundesregierung was quer gelaufen ist, gehe nicht ich gleich zum Bundeskanzler oder zu einem Minister sondern versuche erst in der Administration etwas herauszubekommen, was ich den höheren Herrschaften dann aufs Butterbrot schmieren kann. In ihrem Fall muss ich jetzt sagen, dass sie entweder ... Entschuldigung, ich will sie jetzt nicht treffen – ein besonders cleverer Spitzbube sind oder mir die Wahrheit gesagt haben. Alle bisher befragten Mitarbeiter waren, so wie es sich mir darstellt, blauäugig und ahnungslos ... Was sie im Übrigen auch bei ihnen vermuten. Also haben sie sich entweder so geschickt getarnt, dass man ihnen wohl nie was nachweisen kann oder sie waren wirklich blind. Meine persönliche Einschätzung ist, dass sie ein ganz netter Mensch sind und daher tatsächlich blind waren. ... Na ja, da habe ich mich wohl auf einem Nebengleis festgefahren.“. Darauf kommentierte ich dann: „Ja, wenn ich jetzt floskelhaft sagen würde, dass es mir leid tut ihnen nicht helfen zu können, würde ich lügen. Ich bin in diesem Fall natürlich froh, ihnen nicht helfen zu können. Ich glaube, dass sie dieses verstehen.“. Er verstand es, wechselt noch bei einer Tasse Kaffee ein paar allgemeine, nette Worte mit mir und verabschiedete sich. Bis zum heutigen Tag, 10.10.2001, habe ich von dieser Sache nichts mehr gehört, so dass die Annahme, dass Herr Schlüter das Abstellgleis mit dem Nebengleis verwechselt hat, wohl zutreffend ist.
In allen Fällen, wo mich im April dieses Jahres meine Vergangenheit eingeholt hat, bin ich mit einem blauen Auge davon gekommen. Im letzten Fall, den ich bis jetzt noch nicht geschildert habe, sogar im buchstäblichen Sinne, das heißt, dass ich anschließend ein Hämatom unter dem rechten Auge hatte. Es war Ende April, da musste ich in Sachen Stiftung einmal kurz nach Köln. „Kurz“ im wahrsten Sinne des Wortes, denn es ging nur um die Unterzeichnung von ein paar Dokumenten. Dieses nahm ich auch zum Anlass um mit Beate einen Ausflug in das Rheinland beziehungsweise Bergische zu unternehmen. Am späteren Nachmittag kamen wir dort an einem Landgasthaus vorbei, vor dessen Tür ein großes Schild stand: „Heute echter Rheinischer Sauerbraten (Pferd) mit Klößen + Rotkohl“. Da wir am Mittag nur einen kleinen Imbiss zu uns genommen hatten und Beate sich kaum noch daran erinnern konnte, wann sie zum letzten Mal wirklich so etwas Originales gegessen hatte, kehrten wir kurz entschlossen dort ein. Es war wirklich ein typisches Landgasthaus, wie man es oft in den sogenannten besseren Kreisen nicht kennt. Links neben der Eingangstür ein längerer Tresen und im Raum aufgeteilt Holztische mit mal vier und mal sechs Sitzplätzen. Da wir ja etwas essen wollten nahmen wir an einem der Tische platz und damit waren wir in dieser Zeit die einzig Sitzenden. An der Theke standen noch fünf biertrinkende Herren. In meiner Jugendzeit habe ich mich in solchen Etablissements wohl gefühlt und inzwischen bin ich auch kein so feiner Lakell mehr, dass es mir nicht gefallen würde. Und Beate gehörte nicht zu den Leuten, die jemals so wie ich abgehoben war und daher fühlte sie sich in diesem sauberen Haus auch wohl. Die Kellnerin, offensichtlich die Tochter des Wirtes, kam zu uns an den Tisch und fragte freundlich nach unserem Begehr. Nach dem unsere Bestellung bekannt war, machte der Wirt unsere Getränke fertig, zapfte noch mal Biere für die Herren an und verschwand dann nach hinten, vermutlich in die Küche. In solchen Häusern kocht in der Regel immer noch der Chef selbst. Während der ganzen Zeit schaute einer, der am Tresen stehenden Herren immer wieder über die Schulter zu uns herüber. Als die Wirtstochter uns unsere Getränke gebracht hatte, kam dieser Herr, etwa Mitte Vierzig, zu uns herüber. Mit nicht mehr ganz nüchterner Stimme fragte er mich: „Entschuldigung, sind sie vielleicht der Manager Heuer?“. Nachdem ich ihm dieses bestätigt hatte fuhr er fort: „Dann habe ich ihnen den Verlust meines Häuschens, meiner Frau und meiner Gesundheit zu verdanken.“. In diesem Falle war ich mir wirklich keiner Schuld bewusst. Daraufhin nahm er ohne zu fragen bei uns am Tisch, zunächst über Eck, platz und berichtet uns, dass er mal als junger Ingenieur bei einer Firma Hochreuther irgendwo im Bayrischen Wald gearbeitet habe. Weder Firmen- noch Ortsname sagte mir in diesem Falle jetzt etwas. Er klärte mich jedoch auf, dass ich diesen „Laden“ mal vor Jahren aufgekauft und platt saniert habe. Er hatte sich gerade ein Häuschen gebaut und war nun arbeitslos. Es wäre sehr hart für seine Familie gewesen. Nach einem halben Jahr hätte er sich flexibel gezeigt und habe eine adäquate Stellung in Norddeutschland, genau gesagt im Emsland, angenommen. Bei der Distanz habe er natürlich sein Häuschen verkaufen müssen. Nachdem der einzigste größere Arbeitgeber in der ursprünglichen Gegend von mir kaputt gemacht worden sei, wäre er natürlich nicht der einzigste Hausverkäufer dort gewesen und im Gegenzug wäre kein Käufer in Sicht gewesen. Letztendlich sei er das Haus losgewesen und habe immer noch etwa 100.000 Mark Schulden „am Hintern“ gehabt. Da wäre nichts anders übrig geblieben als das seine Frau im Emsland voll mit eingestiegen sei. Sie habe eine Stelle in der gleichen Firma wie er bekommen. Ich sei wohl sein Schicksal, denn er wäre noch kein Jahr in der Firma gewesen als ich wieder auf der Matte stand. Nicht körperlich; persönlich sei ich ihn am diesen Tage erstmalig begegnet. Er hatte sich mein Antlitz nur von Pressefotos gemerkt. Er meinte ich habe wohl alles vom goldenen Tisch im Globalisierungshimmel, fernab vom wirklichen Leben gemacht. Auf jeden Fall hat er in dem Unternehmen Stimmung gegen mich gemacht und war darauf, vor allen anderen, seinen Job los. Er meinte, dass dieses im Grunde wenig ausgemacht habe, denn zwei Monate drauf hätte ohnehin die Hälfte der Belegschaft auf der Straße gelegen und wenn es noch nicht geschehen wäre, hätte er sich sicherlich dann auch unter den „Freigesetzten“ befunden. Jetzt war er fast ein Jahr arbeitslos. Spitzfindig meinte er, dass er wohl einer von Herrn Schröders Faulenzern gewesen sei. Seine Frau habe sich in dieser Zeit einem anderen Kerl und er sich dem Alkohol zugewandt. Als er dann einen Job in Wuppertal bekommen habe, sei er bereits geschieden und immer noch Großschuldner gewesen. Er weiß nicht mehr genau, ob er in jener Zeit schon abhängig gewesen sei oder ob er nur aus Kummer gesoffen habe, aber auf jeden Fall habe er wegen seiner Sauferei auch diesen Job verloren. Nach einer weiteren halbjährlichen Arbeitslosigkeit habe er dann hier in diesem Kaff einen Job bei den Stadtwerken erhalten. Er bezeichnete sich als so eine Art versoffenen Straßenkehrer, der nur ein Bruchteil von einst verdient. Seine Schulden vom Häuschen würden wohl irgendwann mal mit ihm begraben werden. Als Beate noch zwischendurch bestätigte, dass es viele solcher Fälle in Deutschland gäbe, auch aus Ulkerde und Umgebung wären ihr solche Schicksale bekannt, die eher Standard wie Ausnahme wären, war ich innerlich sehr getroffen. Aus dieser Warte hatte ich mein Handeln noch nie gesehen. Ich hatte immer geglaubt, mit Mehrung des Wohlstandes und Erhöhung der Wertschöpfung etwas Gutes zutun. Ich ging immer davon aus, dass ich die Menschen, die ich freisetzte, durch die Sozialversicherung abgefedert seien. Dass dieses aber zu tragischen menschlichen Schicksalen, wie bei diesem armen Kerl, führt habe ich mir nie überlegt. Ich fühlte mich auf Deutsch gesagt auf einmal sehr beschissen und mickrig. Ich hätte vor mir selbst ausspucken können. Ich argumentierte früher immer mit Vernunft und der Notwendigkeit in einer sich globalisierenden Welt. Heute weiß ich, das alles nichts mit Vernunft zutun hat und hinsichtlich der Notwendigkeit der Globalisierung frage ich mich, ob diese in diesem Umfang selbst überhaupt notwendig ist.
Auf jeden Fall hörte ich mir seinen Bericht, der sehr häufig von Beate mit einem Hinweis auf vergleichbare Fälle unterbrochen wurde, mit Interesse und ehrlichem Verständnis an. Wenn sich dazu Gelegenheit bot, erklärte ich auch meine damalige Denkweise ohne sie zu beschönigen. Beim besten Willen erwartete ich kein Verständnis aber die Einsicht, dass ich kein Roboter war oder bin sondern ein Mensch mit vielen Fehlern. Ich hatte das Gefühl, dahingehend auch richtig verstanden worden zu sein. Da ich das Bedürfnis empfand, etwas für diesen Menschen zu tun, sprach ich seinen Alkoholismus an, worauf er mir sein Suchtleiden auch eingestand. Ich empfahl ihm das Anna-Katharina-Haus in Ulkerde und sagte ihm, dass er sich dort auf mich berufen könne und sicherte ihm die Übernahme eventueller Kosten zu. Bis zum heutigen Tage hat er aber meines Wissens noch keinen Gebrauch von meinem Angebot gemacht. Wer sich jetzt auf meine einleitende Aussage vom blauen Auge entsinnt wird annehmen, dass es jetzt los geht. Jawohl, nun sind wir an dem Punkt, wo ich mir dieses zugezogen habe. Allerdings anders wie man es vielleicht vermutet. Wir saßen jetzt immerhin schon über zwei Stunden in diesem Landgasthaus. Unserem „Gast“ hatte ich zwischendurch auch einen Sauerbraten und diverse Biere ausgegeben. Ich bezahlte und beschäftigte mich mit der links neben mir stehenden Wirtstochter. Neben mir verabschiedete sich unser Gast schon mal überschwänglich von Beate: „Gut dass ich sie mal kennen gelernt habe. Bis heute habe ich ihren Gatten gehasst und habe ihm die Pest an den Hals gewünscht. Jetzt weiß ich, er ist auch nur ein Mensch, ein sehr netter sogar. Er hat ja nur seine Pflicht getan und wenn ich er gewesen wäre, hätte ich es bestimmt genau wie er gemacht. Madam, es hat mich sehr, sehr gefreut.“. Just in dem Moment als ich mich von der kassierenden Kellnerin ab und ihm zuwandte, ließ auch er von Beate ab und wandte sich im Gegenzug auf seinen, aufgrund der Biere wackeligen, Beinen mir zu und bums ... da war es passiert; sein Ellebogen schlug unter meinem rechten Auge ein. Also keine böswillige, aggressive Absicht sondern ein Unfall, der aber wohl, wie ich ihm aufgrund seiner übereifrigen Entschuldigungen auch sagte, keinen falschen getroffen hatte. Auf der Heimfahrt, die wir jetzt unmittelbar nach Verlassen des Gasthauses antraten, unterhielt ich mich mit Beate darüber, wie sich die Vergangenheit immer wieder zurückmeldet. Ich sprach von meinen früheren stetigen Versuchen bei solchen Gelegenheiten, das Zurückliegende zu kaschieren und vieles zu vertuschen. Immer wieder habe ich versucht, auch mir selbst gegenüber, mich zu rechtfertigen. Je mehr ich dieses versuchte, um so mehr breiteten sich die vergangenen schwarzen Flecken in der Gegenwart aus und haben letztendlich die Zukunft beeinflusst. Heute stehe ich dazu, was einmal war und siehe da, es ist befreiend und erleichtern. Die Vergangenheit kann man nicht abschütteln aber man kann sie, wenn man dazu steht, bewältigen. Vielleicht überlegen sich die Bosse der deutschen Industrie auch so etwas mal in Hinblick auf die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter. Wenn sie zwischendurch zugunsten ihres Absatzmarktes aus den Schlagzeilen kommen wollen, sollten sie stehen bleiben und sagen: „Ja wohl, wir haben uns von den Nazis menschliche Sklaven zuweisen lassen und unser Wohlstand, den wir heute haben, verdanken wir unter anderem der brutalen Sklavenausbeutung unserer Vorgänger.“. Das ist zumindestens befreiend und erleichternd und kann sich darüber hinaus vielleicht aufgrund von wohlwollender Konsumentenakzeptanz auch in Euro und Cent auswirken. Zum Kapitel 34
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Auch ich bin nicht ganz ohne Wenn jemand behauptet „Das habe ich nie gemacht“ kann das stimmen, aber auch nicht. Es kann eine reine Schutzbehauptung darstellen, um sein Ansehen zu retten aber es kann auch ein Indiz dafür sein, dass derjenige, der die Aussage traf, noch keine Gelegenheit hatte etwas Betreffendes zu machen. Andererseits ist es ja keine Kunst etwas, zu dem man keine Veranlagung hat, nicht zu machen. Die eingangs genannte Behauptung kann man in harmlosen Fällen ruhig den überflüssigen Floskeln zuordnen. Schlimmer wird es, wenn jemand die selbstüberhebliche Aussage trifft, dass er immer tugendhaft, sittsam, ehrlich, pflichtbewusst, strebsam und so weiter sei; er sei so von seinen ehrenwerten Eltern erzogen worden und könne sich nichts anderes denken. Außer Jesus Christus gab es noch keinen solchen gottgleichen Menschen. Die Behauptungen dieses Lügner, was man in diesem Fall ohne rot zu werden sagen kann, zielt dann meist darauf ab andere zu diffamieren und herabzuwürdigen in dem er sich über den Menschen, was er aber selber ist, stellt. Unser Vater sagte öfters, dass die Leute, die sich selbst den Heiligenschein aufsetzen, meist selbst die schlimmsten sind. Allerdings dachte er dabei einen Schritt weiter, denn in der Regel sind die Scheinheiligen gleichzeitig Fanatiker für Recht und Ordnung. Nehmen wir nur mal die politischen Schreihälse deren Programm Recht und Ordnung über alles ist. Nicht selten sind die es, die auf der anderen Seite filzen, korrumpieren und sich bereichern. Da gibt es doch wohl mehrere bekannt gewordene Fälle. Aber meist ist man erst im Nachhinein schlauer und dann interessiert sich die Masse schon nicht mehr für diese Leute, zum Beispiel für knallharte Innenminister mit schmutzigen Schwarzgeldwesten. Ehemalige und bestehende Diktaturen haben alle mehr oder weniger gravierende Unterschiede, nur eines ist allen durch die Bank gemein: Recht und Ordnung steht bei ihnen den Worten nach und ihrem Volk gegenüber ganz oben an. Wobei allerdings jedes Regime unter dem, was Recht und Ordnung ist, was anderes versteht. Und vor allen Dingen haben Diktatoren die Eigenschaft immer Recht und Ordnung bei anderen einzuklagen und diese Bereiche für sich selbst so zu modifizieren, dass sie selbst alles außer Acht lassen können. Bei den schärfsten Vertretern von Sicherheit, Recht und Ordnung sind grundsätzlich Freiheit und Demokratie in Gefahr. Kann es angehen, dass zugunsten einer vagen, nicht mal ohne Restrisiko zu garantierenden Sicherheit Grundrechte, insbesondere das Recht auf den Schutz der Privatsphäre, Freizügigkeit und individuelle Entfaltung, eingeschränkt oder aufgehoben werden? Kann man der sterilen Ordnung halber, den Menschen die Räume nehmen., die das Leben lebenswert machen? Was soll das, wenn Waldwege betoniert werden damit niemand über Unebenheiten stolpern und die Stadt oder Gemeinde hinsichtlich der Wegesicherungspflicht zur Kasse bitten kann? Stolpern kann man auf glatten, hässlichen Beton zwar nicht mehr aber wenn man dann fällt, was man dann nach Ansicht der Leute, die mit Recht und Ordnung jeden Haftungsanspruch abwimmeln, selbst in Schuld sein soll, kann man sich auf dem härteren Beton ärgere Verletzungen wie auf dem weichen Waldboden zuziehen. Von dem Verlust des wohligen Duftes des warmen Waldbodens wollen wir gar nicht erst reden. Sicherheit statt Lebensqualität. Recht-und-Ordnung-Politiker zielen also ausschließlich auf das reibungslose funktionieren der Gesellschaft ab und opfern dafür gerne den Anspruch auf Lebensqualität, der nach meiner Auffassung aber ganz, ganz oben stehen müsste. Im Kreis Waldheim haben wir eine besonders unangenehme Type von den eben beschriebenen Politikern. Seine neonazistischen Ansichten, von denen er in Wirtshausrunden keinen Hehl macht, tarnt er durch Mitgliedschaft in einer großen demokratischen Partei. Na ja, es wäre recht unredlich, wenn man den Parteien die Gesinnung einzelner Leute im Bereich des Fußvolkes zum Vorwurf machen wollte. Das dieser Herr, der auch in Ulkerde wohnt, aber zu Funktionärssehren kommen konnte, stimmt mich doch bedenklich. Er ist stellvertretener Fraktionsvorsitzender seiner Partei im Kreistag und Vorsitzender der örtlichen Gliederung seiner Partei, die er eigentlich gesinnungsmäßig bekämpft. Dieser „Rechtslümmel“, wie ich ihn für mich bezeichne, fiel mir bisher durch seine reichlichen, meist unqualifizierten, Leserbriefe im Waldheimer Kreisblatt auf. Da war zum Beispiel mal der Fall, dass man so eine Art kleiner wilden Müllkippe in einem Waldstück bei Neuhaus – Ulkerde gehört zur Gemeinde Neuhaus – fand. Sofort schloss er auf einen in der Nähe dieses Waldstück liegenden Wohnblock, in dem die meisten Mieter türkischer Herkunft sind. Er behauptete, dass diese wohl noch nicht von deutscher Sauberkeit und Ordnung gehört hätten. Er forderte, man möge doch, damit sie es lernen, die türkischen Jugendlichen zu Wald- und Stadtreinigung heranziehen. Dass dieses eine rechtswidrige Vorabverurteilung und beleidigender Rassismus ist fiel ihm wohl nicht auf. Andere haben sich an Recht und Ordnung zu halten, er selber genießt wohl Narrenfreiheit. Als sich später herausstellte, das ausgerechnet ein Parteifreund von ihm, der Müllabfuhrgebühren sparen wollte, der Verursacher war verlor er über diese Sache kein Wort mehr. Einen anderen Fall gab es mal im Zusammenhang mit einem Spielplatz in Ulkerde. Da war mal eine Sitzbank total mit obszönen Sprüchen und Ähnlichem verritzt. In Ordnung ist so etwas auf keinen Fall und es ist durchaus berechtigt, dass man die „Täter“ ermittelt und ihnen das Schändliche und das Gemeinschädliche an ihrem Handeln verdeutlich. Aber das man in Leserbriefen die Bürger dazu aufruft, sich mit Zaunlatten zu bewaffnen und den Wandalen zu zeigen wo es lang geht, ist doch wohl eine Straftat – Aufruf zur Lynchjustiz und zur Körperverletzung -, die eigentlich von kommunalen Spitzenpolitikern nicht begangen werden dürfte. Vielleicht sollten diese Politiker sich auch mal fragen, ob sie nicht durch ihre jugendfeindliche Politik den Nährboden für Entgleisungen wie Grafitsschmierereien und Wandalismus gegeben haben. Jugendgerechte Einrichtung gibt es in der Gemeinde Neuhaus so gut wie gar nicht. Man gibt lieber das Geld aus für Renovierung von Ehrenmalen und Gedenktafeln, die bei demokratisch gesinnten
fortschrittlichen Bürgern schon längst auf dem Müllhaufen der Geschichte liegen müssten, da sie niemanden zum Gedenken aber vielen zur Erweckung überheblicher Schundgedanken dienen, als für Einrichtung, die der Jugend eine sinnvolle Perspektive geben könnten. Wenn es um Jugendeinrichtungen geht dann fällt, kaum das man den Mund aufgemacht hat, der Blick auf den angespannten Haushalt und der Zwang zum Sparen. Mein Vorschlag jedoch heißt: Ehrenmal einreißen und an der Stelle ein Jugendzentrum errichten; an der Zukunft arbeiten und nicht die Vergangenheit glorifizieren. In einem anderen, gleichartigen Fall schwang sich dieser rechte Möchtegernpolitiker auch zum Oberschreihals auf. Im Neuhäuser Stadtpark stand so ein kleiner Pavillon, der tagsüber gerne von älteren Spaziergängern bei plötzlichen Regen als Unterstand genutzt wurde. Des Abends, bei oder nach Anbruch der Dunkelheit wurde dieser gerne von den Jugendlichen zwischen 14 und 18 aufgesucht. Meist gingen sie dort nur dem Gequatsche und der Anbändelung zwischen den Geschlechtern nach. Wer aber Jugendliche kennt – und das müssten eigentlich alle sein, denn der Esel hat noch keinen Erwachsenen im Galopp verloren – weiß natürlich dass auch vereinzelte Fälle von Alkoholmissbrauch, Lärm- oder Unraterzeugungen vorkamen. Letzteres wurde natürlich von der Type, die ich gerade beschreibe, und anderen Spießbürgern zu einem Problem, dem man nur durch Abriss begegnen könne, hochgespielt. Letztlich gelang es unserem „rechten Vogel“ den Bürgermeister zu einer „Nacht- und Nebelaktion“ zu überreden und der Pavillon, Eigentum der steuerzahlenden Bürger, ohne Legitimation durch den Rat mit der Kreissäge niedermachen zu lassen. Mich wunderte, dass später nur die Diskussion darüber lief, dass der Pavillon kein Jugendzentrum gewesen sei aber über die Straftat des Bürgermeisters – Untreue im Amt – und dem Anschlag auf die kommunale Demokratie durch Ausschalten und Übergehen der legitimen Vertretung der Bürger niemand sprach. Ist nicht der Bürgermeister, auch wenn er direkt gewählt ist, weisungsgebunden und ist ihm gegenüber nicht der Rat ihm gegenüber weisungsgebend. Es widerspricht doch dem Wesen der Demokratie, wenn jemand, gleichgültig ob er direkt gewählt ist oder nicht, mit Einzelvollmachten ausgestattet wird. Auf jeden Fall habe ich in der Gemeindeordnung keine Rechtfertigung für diesen Akt gefunden sondern das Gegenteil. Anfang Mai dieses Jahres geriet ich mit dem Herrn in eine höchst unangenehme Auseinandersetzung, die auch, so wie es für mich erst aussah, meine Beziehung zu Beate hätte gefährden können. Hendrik und Silvia richteten auf ihrem Bauernhof, insbesondere für Kinder aus der Stadt, Kindergeburtstage aus. Mal aus nächster Nähe Kühe, Schweine, Gänse und Hühner erleben zu können sowie dann mal nach Herzenslust auf dem Hof zu toben, war immer ein ganz große Erlebnis für die kleinen Geburtstagsgesellschaften. Was heißt hier „war“; es ist immer noch so, denn meine Kinder haben diese Sache natürlich nicht eingestellt und werden es auch nicht. Da so etwas nicht ohne fröhlichen Kinderlärm abläuft, wollte unser Schmalspurpolitiker eine Einstellung erwirken und hatte sich diesbezüglich schon an das Ordnungsamt gewandt. So erschien er dann mit einem Mitarbeiter dieses Amtes auf dem Hof als gerade eine solche Kinderparty ablief. Der Herr vom Ordnungsamt hatte Hendrik und Silvia in der Nähe des Hofeinganges zur Seite gebeten, als durch Zufall Beate und ich just in diesen Moment auf den Hof wollten. So bekamen wir mit, dass der Beamte die Angelegenheit ganz sachlich behandelte. Er wies Hendrik auf seine Verpflichtung hin, unnötigen Lärm zu vermeiden und möglichst die Mittagsruhe einzuhalten. Ansonsten sah er keinen Grund zum Einschreiten, da es sich um eine ordnungsgemäße Gewerbetätig handele und aufgrund diverser Gerichtsentscheide Kinderlärm gesellschaftlich zu dulden sei. Das was der Herr vom Ordnungsamt sagte kann ich so voll unterstreichen. Das passte aber unseren Herrn Rainer Pieper, die Type, die ich zuvor beschrieben habe, nicht und er setzte mit den, ihn typischen Behauptungen wider Hendrik und seinen Kindergästen an. Ich erlaubte mir nur einen Zwischenkommentar: „Mensch Herr Pieper, sind sie denn niemals Kind, dass sich mal richtig austoben musste, gewesen. Ich bin auch nicht ganz ohne gewesen und kann das, was hier geschieht nachvollziehen und finde es super wenn die Kinder so mal vom Kinderparkplatz vor dem Fernseher wegkommen.“. Da legte aber dieser Pieper los. Er meinte das müsse ich gerade sagen, warf mir meine Orgien in der Villa und dortige Unzucht mit Minderjährigen vor. Jetzt hatten wir beide Glück, dass ich eine Managerkarriere, in der ich gelernt hatte, meine Gefühle nach außen zu unterdrücken und meinen Körper wie eine Maschine zu beherrschen, hinter mir hatte, sonst hätte es eine wüste Keilerei gegeben. Geknickt wandte sich Beate ab und ging nach Hause. Hendrik, der die Roboterdressur nicht wie ich „genossen“ hatte, hielt ich fest und verhinderte so, dass dieser, so wutgeladen wie er war, auf den Pieper losschlug. Der Beamte stand sprachlos da und wusste nicht, wie er sich jetzt verhalten sollte. Währenddessen pustete „Rotznase Pieper“ weitere Keulen gegen mich heraus. Seinen Worten bereitete dann Silvia ein Ende: „Herr Pieper, wer hat mich denn vor 13 Jahren am Rande unserer Weide am Hammerschlag vergewaltigt?“. Jetzt war Hendrik nicht mehr zu halten. Er riss sich bei mir los und schrie „Ich schlage dich tot“. Er wollte sich auf Pieper, der nun sein Heil in der Flucht suchte, stürzen. Jetzt stob Pieper, als wäre der Teufel hinter ihm her, davon. Nur dadurch, dass sich die hochschwangere Silvia ihrem Mann in den Weg gestellt hatte, wurde Hendrik daran gehindert Pieper zu verfolgen. Der Ordnungsamtsbeamte sagte noch, dass er, falls wir Zeugen brauchten, aus seiner Pflichtauffassung und staatsbürgerlichem Bewusstsein zur Verfügung stehen würde und verabschiedet sich dann sofort. Eines hat die Sache allerdings doch bewirkt: An der Pieperschen Leserbrieffront ist es seitdem verdammt ruhig geworden. Mal sehen, wie lange das anhält; irgendwann wird der Zwang seine kuriosen Gedankengänge unters Volk zu streuen wieder zum Ausbruch kommen.
Ich ging selbstverständlich nach dem Vorfall sofort zurück zu Beate, die mir mit verheulten Gesicht die Tür öffnete. Ich war schon froh, dass sie mich nicht gleich abgewiesen hat. Sie setzte sich wortlos und mit versteinertem Gesicht in ihr Wohnzimmer. Ich konnte jetzt nicht anders und beichte ihr reumütig was ich für ein „fieses Schwein“ gewesen bin. Ich erzählte ihr alles, ohne mich zu rechtfertigen und zu schonen, vom Frankfurter Bürosex bis zum Loveparadies Holensiep. Schon nach etwa 5 Minuten löste sich ihr steinernes Gesicht und sie sah zunehmendst freundlicher aus. Zwischendurch lächelte sie während meines, etwa einstündigen, „Vortrages“, aber sagte immer noch nichts. Als ich dann bei meinen, in der Aidsangst begründeten Ausstieg angelangt war und den Bericht abgeschlossen hatte fragte sie: „Bis du jetzt fertig?“. Ich erwartete jetzt, dass sie sich von mir wieder lossagen würde und nickte nur traurig mit den Kopf. Dann begann sie aber mit den Worten „Auch ich bin nicht so ganz ohne“ einen ähnlichen Bericht. Nun steht es mir nicht an, hier an dieser Stelle über Beates Schandtaten zu berichten. Auf ihren Wunsch hin sei nur erwähnt, dass es dabei um zwei Seitensprünge ging, dass sie 1976 im Ruhrgebiet in einer Peepshow Schulden, die sie leichtfertig ohne Wissen ihres Mannes gemacht hatte, abarbeitete und in den 80ern mal mit dem Mann ihrer Cousine geschlafen hat, bei der sie nicht nur die Verführerin sondern sogar die direkte Anstifterin gewesen sei. - Aber jetzt ist gut, Beate, es geht hier um meine Geschichte und nicht um deine. - Mehrfach versuchte ich ihre Ausführungen zu stoppen aber sie legte immer wieder mit den Worten „Nun lass mich doch erzählen, dass ich auch nicht so ganz ohne bin“ erneut los. Als sie dann auch nach etwa einer weiteren Stunde fertig war befragte ich sie nach ihren Beweggründen für ihr Vorgehen an diesem Tage. Da bekam ich eine sehr plausible Antwort: „Ach Zachi, ich wusste doch, dass du kein Engel warst und ich war es genauso wenig. Natürlich hatte ich schon von deinen wilden Partys gehört. Die Leute erzählen ja auch eine ganze Menge. Aber ich war echt schockiert, wie dieser Pieper das heute gebracht hat.“. An dieser Stelle unterbrach ich sie erst mal und berichtete ihr, dass dieser mal Silvia vergewaltigt habe; sie war ja, als dieses fiel bereits gegangen. Danach fuhr sie fort: „Siehst du eigentlich müsste sich jeder Mensch sagen, dass er selbst nicht ohne sei und über andere schweigen. Nicht zu unrecht sagte Jesus, dass ein jeder erst den Balken im eigenen Auge sehen sollte, bevor er sich um die Splitter in den Augen der andere kümmert. ... Aber jetzt weiter warum ich heute Mittag nach Hause gelaufen bin und mich erst mal ausgeheult habe. Der Kerl weiß auch von meinen Schandtaten ... zumindestens von der Peepshow, da ist er mal mit seinen angesäuselten Kumpanen erschienen und ich habe sein Schweigen dadurch erkauft, dass ich ihm Einen runtergeholt habe, und von der Geschichte mit meinem angeheirateten Vetter weiß er auch, es war sein Arbeitskollege und konnte den Mund nicht halten. Ich hatte auf einmal fürchterlich Angst, dass du jetzt dieses von ihm erfahren würdest, was ich dir lieber selbst erzählt hätte. Deshalb habe ich auch erst abgewartet, was du erzähltest und ob du nicht dann den Spieß in der Weise rum drehtest, dass du mir sagtest, ich könne da wohl aus diesem oder jenem Grunde nichts zu sagen. ... Was bin ich froh, dass jetzt auf beiden Seiten alles raus ist. Wir waren und sind keine Engel und dieses Bewusstsein schmiedet uns zusammen.“. Stimmt, anschließend wälzten wir keine Probleme mehr sondern schmusten und schmusten und schmusten ... . Am nächsten Tag holten Beate und ich den am Vortag geplatzten Besuch auf dem Steinmarhof nach. Ich nutzte eine Gelegenheit, als ich mit Silvia alleine war, sie zu fragen, warum sie Pieper damals nicht angezeigt hätte. Wäre dieser Sittenstrolch vorbestraft gewesen wäre der kommunalpolitischen Landschaft eine so üble Figur erspart geblieben. Sie meinte, dass ich aber da keine Garantie für hätte; sie wolle nicht wissen, wie viel Spitzenpolitiker Einträge in ihrem Vorstrafenregister hätten. Meineid, uneidliche Falschaussage, Körperverletzung oder gar Tötung unter Alkohol im Straßenverkehr, Steuerhinterziehung und so weiter wären doch Dinge, die es auch bei denen gäbe. Von einigen dieser „Ehrenmänner“ sei ja schon öffentlich die Rede gewesen. Und wenn jemand eine höhere Summe zahlt damit ein Verfahren eingestellt wird, ist das ja kein Unschuldsbeweis sondern aus logischen Gründen eher das Gegenteil. Spitzbuben gibt es in allen Bereichen quer durch alle Einkommens- und Gesellschaftsschichten. Man könne ruhig dem Wort unseres Herrn vertrauen, der sagte, dass derjenige von uns, der ohne Sünde ist, den ersten Stein werfen sollte. Sie schloss wörtlich: „Wir sind alle nur Menschen. Ich habe mal einen Artikel von einen Kriminologen gelesen, der feststellte, dass es keine besondere Veranlagung zum Verbrecher gäbe sonder jeder Mensch habe die mehr oder weniger in sich. Den Ausbruch der kriminellen Energie hat er mit dem Alkoholismus verglichen. Keiner ist da vor gefeit und keiner weiß wann und wo diese zum Ausbruch kommen.“. Jetzt hatte sie wohl ihre Überlegungen auf meine allgemeine Anmerkung ausgeführt aber meine Frage nicht beantwortet und deshalb bohrte ich nach. Als sie einen Moment zögerte hatte ich schon Angst ins Fettnäpfchen getreten zu haben und rechnet schon mit einem widerwilligen „Auch ich bin nicht ganz ohne“, wo ich dann aber gleich abbrechen wollte, denn aus welcher Veranlassung sollte mir meine Schwiegertochter was bekennen was bestenfalls für die Ohren meines Sohnes bestimmt ist. Als sie dann mit „Ja, alles hat seine zwei Seiten“ loslegte glaubte ich schon richtig vermutet zu haben. Aber dann fuhr sie fort: „Ich habe das gleich Mutti erzählt und die hat es wiederum Vati gesagt. Der ist gleich geplatzt und ist losgestürmt. Unterwegs hat er sich mit einem Knüppel bewaffnet und als er dann bei Piepers war, hat er wie wild auf ihn eingetrimmt. Die alte Sau hat drei Wochen im Krankenhaus gelegen und ich habe mir gewünscht er möge verrecken. Logisch, hatte jetzt Vati genau wie Pieper eine Straftat begannen. Ganz alttestamentlich: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Aber man kann richtiger Weise in einem Rechtsstaat seine Taten nicht mit den zuerst begangenen Verbrechen des anderen entschuldigen. So hüteten wir uns ihm wegen der Vergewaltigung anzuzeigen und er im Gegenzug sagte nicht, wer ihm so zugerichtet hatte. Ich glaube, heute sind beide Straftaten verjährt aber trotzdem wäre wohl seine Kommunalpolitikerkarriere beendet, wenn das jetzt unter solchen Umständen bekannt würde. Deshalb habe ich das gestern auch gesagt. Der wird sich jetzt hüten dich noch mal so anzumachen wie Gestern. Probleme habe ich
jetzt ein Wenig mit Hendrik, der sich den Pieper körperlich vorknöpfen will ... aber zum Glück ist das ist ein Christ, der weiß, dass der Herr sagt, dass die Rache sein sei.“. Beim anschließenden Waldspaziergang philosophierte ich mit Beate über das Thema Strafe. Es kann nicht Sinn der Strafe sein sadistische Rachegelüste zu befriedigen, auch wenn die Mehrheit es so sieht. In diesem Sinne ist Strafe mit Rache oder Vergeltung, die immer wieder neuen Hass erzeugen, gleichzusetzen. Wer Vergeltung übt, programmiert das nächste Verbrechen der anderen Seite vor, was dann letztendlich zur Eskalation führt. An dieser Stelle erlaube ich mir auch mal eine Zwischenbemerkung zu einer aktuellen Sache, über die wir damals bei unserem Spaziergang natürlich noch nicht gesprochen haben können: Jetzt nach dem Terroranschlag auf das WTC in New York habe ich die meiste Angst vor den Folgen der als Kampf gegen den Terror getarnten Vergeltungsschlägen. Fordert man dann nicht bei den Benachteiligten auf dieser Welt die Solidarisierung mit den Verbrechern herauf und kann dann der so entstandene, zwar in keiner Weise begründete, Hass nicht zu Taten führen, gegen die die Anschläge vom 11. September harmlos erscheinen. Dieser Tage habe ich in einem Buch gelesen, dass derjenige, der Böse mit Bösen vergilt einen hohen Preis bezahlen müsste. Hat sich dieses bei denen, die den „Rächern“ uneingeschränkte Solidarität zugesagt haben, noch nicht rumgesprochen? Nun aber zurück zu unserem damals tatsächlich geführten Gespräch. Schon damals waren wir der Meinung, dass es bei Rache und/oder Vergeltung immer schlimmer werden würde. Der Kreislauf lässt sich nur durch Liebe und Vergebung im neutestamentlichen Sinne durchbrechen. Aber kann man denn einfach beim Unrecht zusehen und das mit Liebe belohnen? Muss man nicht präventiv drohen und Grenzen aufzeigen? Jesus sagte: „Wenn dir einer auf die rechten Backen schlägt, halte ihm auch den linken hin“ aber was ist, wenn der Gegenüber es nicht versteht und einen totschlägt? Ist es Unrecht, wenn ich mein Leben, auch auf Kosten des anderen, verteidige? Aber gleichgültig zu welchen Schluss wir kommen, hielten wir es an der Zeit, mal darüber nachzudenken, ob wir nicht als Christen wie es uns geboten ist, auf Rache und Vergeltung verzichten und stattdessen durch höhere Gerechtigkeit das Aufkeimen von Hass verhindern, anstelle von Strafe Resozialisation setzen und den einzigsten Sinn des menschlichen Richtens im Schutz des Menschen, auch des verirrten Verbrechers, sehen würden. Sicherlich gibt es keine Patentrezepte aber das Geblöke nach immer drakonischeren Strafen bewirkt das Gegenteil: Die Welt wird immer ungerechter und unsicherer. Als wir so über die Dinge, an die wir zwar bei allen Möglichkeiten dran erinnern aber alleine nicht ändern können, „ausreichend“ sinniert hatten, wechselt Beate mal das Thema in eine sonnigere Richtung: „Du sag mal Zachi, du hast mich noch nie gefragt, wann ich Geburtstag habe. Auch danach ob ich Kinder habe, hast du noch nie gefragt. Hat dein Geheimdienst schon so gut funktioniert, dass ich dir dieses nicht zu erzählen brauche?“. Ich zuckte verlegen mit den Achseln, denn ich hatte sie in den über zwei Monaten unserer innigen Zweisamkeit in der Tat noch nie danach gefragt. Sie lachte und klärte mich dann auf: „Diese Tage hast du fast 10 Minuten dabei gesessen als ich mit Anna Lena, meiner Tochter, telefonierte. Ich dachte mir danach, dass du nicht gerade der neugierigste Mensch bist, denn du hast in keiner Weise nachgefragt. Also Anna Lena ist 24 Jahre alt und ist mit einem Informatiker, ... der heißt Peter Görel und ist 5 Jahre älter als meine Kleine - verheiratet. Peter hat einen guten Job in München und die beiden wohnen in Taufkirchen. Übernächsten Donnerstag, also am 17. habe ich Geburtstag und dann wollen die Beiden übers Wochenende kommen. Anna machte mir so eine Andeutung sie hätten mir eine Überraschung anzukündigen. Ich will mich nicht darauf versteifen, aber ich glaube, dass auch ich jetzt Omafreuden entgegen sehen kann.“. Jetzt lachte sie noch mal kräftig bevor sie fort fuhr: „Jetzt verstehe mich nicht falsch, denn auch ich will mit einer Überraschung kontern. Darf ich dich Anna Lena als ihren zukünftigen Stiefvater vorstellen?.“. Irgendwie von einem Glücksgefühl erfasst fragte ich: „Soll das ein Heiratsantrag sein?“. „Das machen konservative Frauen doch nicht,“, scherzte sie zurück, „das musst du schon machen.“. Scherzend aber trotzdem ernst gemeint, fiel ich vor ihr auf die Knie: „Beate, willst du die Frau meines Lebens werden?“. Worauf sie „ja“ jubelte mir an den Kopf fasste und diesen gegen ihren Schoß drückte, wo sie mir die Haare kraulte. Und oh wie peinlich, just in diesem Moment kam zufällig ein älterer Herr mit seinen Dackel vorbeispaziert. Beate war so aus dem Häuschen, dass sie dem Herrn zurief: „Denken sie sich, mein Zachi hat mir eben einen Heiratsantrag gemacht.“. Der kam gleich auf uns zu, zog seinem Hut und gratulierte erst mal. Dann sagte er zu seinem Hund: „Robby ist das nicht toll, dass wir gerade in einem so glücklichen Moment hier vorbeikommen. So etwas erlebt man nicht alle Tage.“. Man sah dem Herrn an, dass ihm diese unerwartete Begegnung ebenfalls glücklich machte. Es ist doch auch was schönes, so etwas überraschend miterleben zu können. Zeuge von kleinen Glücksfällen zu sein bringt doch mehr als Augenzeuge einer Weltsensation zu sein. Bei Glücksfällen wird doch die Seele angereichert. Und diese Angelegenheit, das heißt unser künftiges Eheglück, war dann auf unserem weiteren Spazierweg das Sachthema. Man beachte die Betonung auf „das“. Ich musste feststellen, dass sich Beate schon intensive Gedanken zu diesem Thema gemacht hatte. Sie dachte als Tag der Trauung an ein schönes Datum im nächsten Jahr: 02.02.02. Sie wusste bereits, dass dieser Tag ein Samstag sein würde und deshalb müssten wir uns rechtzeitig beim Amt Neuhaus erkundigen, ob an diesem Tage überhaupt getraut wird. Allerdings stellte sie klar, dass sie nur das Datum 02.02.02 chic fand aber damit keinen esoterischen Klimbim verband. Bis zu diesem Zeitpunkt will sie mit mir einen Ehevertrag ausarbeiten, da sie in keiner Weise an Erbschleicherei gedacht habe, ihr reicht dass, was sie hat und mit dem was davon übrigbleibt soll Anna Lena nach ihrem Ableben zufrieden sein und umgekehrt soll das Meinige selbstverständlich an
Hendrik gehen. Na ja, wenn ich vor ihr aus dem Leben abtrete soll sie doch noch etwas von meinem großen Haufen abbekommen; ich habe ja genug davon. Aber ansonsten dient ein solcher Ehevertrag einem dauerhaften Nachfolgerfrieden und ist deshalb ganz vernünftig. Uns geht es ja nicht darum das Mein und Dein von einander abzuschotten, ich möchte das Meinige schon mit Beate teilen. Allerdings dieses zu unseren Lebzeiten, unsere Erbfolger haben da nichts mitzutun. Damit steht jetzt fest, was uns demnächst noch bevorsteht. Ehrlich gesagt, ich freue mich drauf. Was wir letztendlich noch absprachen war, wie wir in welcher Reihenfolge unsere Familien von unserem (bevorstehenden) Glück informieren wollten. Da Beate Geburtstag hatte sollte ihre Tochter Anna Lena den Vorzug erhalten und meine Familie sollte dann am Sonntag, wenn Beates Tochter und Schwiegersohn wieder abgereist sind, dran sein. Ich sollte Hendrik und Silvia dazu zum besagten Sonntagabend einladen. Ja, dann will ich mal erzählen wie das dann ablief. Anna Lena traf mit ihrem Mann am 17. Mai so gegen 2 Uhr nachmittags ein und ich wartete derweil in meinem Haus auf meinen Einsatz. Jetzt greife ich mal ein Wenig auf das zurück, was mir mein Schatz erzählt hat beziehungsweise ich gebe ihr bei der Niederschrift ein Wenig freie Hand. Die Kinder gratulierten erst mal und dann kam auch gleich die angedeutete überraschende Mitteilung. Beate hatte richtig geraten: Sie wird tatsächlich Oma; im November soll es soweit sein. Prompt drehte sie wie vorgesehen den Überraschungsspieß um und fragte: „Anna, wenn du jetzt noch mal einen Stiefvater bekämmest, würdest du dann sagen, dass das der dann Opa deines Würmchens sei.“. „Sag bloß, du willst dich noch mal nach einem Kerl umsehen?“, sagte die es für einen Spaß haltende Tochter, „Aber Mama, die Idee ist doch gar nicht so schlecht. Du bist noch jung, siehst für dein Alter noch knackig aus ... schnapp dir ruhig einen Millionär.“. „Muss es unbedingt ein Millionär sein?“, fragte Beate scherzend zurück, was Anna Lena dann aber selbst als Scherz abtat. Beate glaubte aber ihre Tochter so gut zu kennen, dass diese zwar keine knallharte Erbschleicherin ist, aber schon ein Wenig vom Reichtum durch Nichtstun träumt. Trotzdem setzte meine Zukünftige ihren Kurs fort: „Dann will ich mal eben deinen zukünftigen Stiefpapa herüber rufen, damit du ihm sagen kannst, dass er noch mal Opa wird. Einmal ist er es schon, das zweite Mal ist es in ein paar Tagen soweit und alle guten Dinge sind drei. ... Und übrigens, Millionär ist Walter Heuer auch.“. „Was,“, sagte Anna Lena sofort erstaunt, „du hast dir den Vater von Steinmars Schwiegersohn geangelt? Ist er denn genauso nett wie sein Sohn. ... Ach, da fällt mir auf, sagtest du, der würde in den nächsten Tagen zum zweiten Mal Opa? Ist Silvia Steinmar etwa wieder schwanger?“. „Wenn du mit Silvia Steinmar die Silvia Heuer, meine zukünftige Stiefschwiegertochter meinst, hast du auffällig recht.“, antwortete ihr Beate, bevor sie bei mir anrief um mich verabredungsgemäß herüber zu bitten. Da lernte ich dann Anna Lena, die genauso nett, sowohl vom Wesen wie vom Aussehen, wie ihre Mutter ist, kennen. Und Peter, ihr Mann, ist auch ein intelligenter Typ, der das Herz offensichtlich auch am rechten Fleck hat. Die beiden passen wirklich gut zu einander. Aber nach meiner Erstvorstellung ließ ich die Familie erst mal unter sich und stieß erst am Abend zur offiziellen Geburtstagsfeier wieder hinzu. Es war ein schöner Abend und ich hatte den Eindruck, als wäre ich auch aus Anna Lenas Sicht als deren „Stiefvater“ willkommen und das nicht mal aus dem Grunde das ich ein „reicher Sack“, wie sie selbst sagte, bin. Nur wie wir meine Kinder informieren wollten, ging dann „voll in die Hose“. Zwar hatten die beiden meine Einladung angenommen und sie kamen dann auch später zur vorgesehenen Runde. Allerdings konnten sie dann nichts Neues mehr von uns erfahren. Wir hatten den wesentlichen Punkt, dass man junge Frauen nicht im Hause anbinden kann, nicht mit in unsere Rechnung einbezogen. Zwar gibt es zwischen Anna Lena und Silvia einen Altersunterschied von immerhin 6 Jahren, der aber auf einem Dorf, wo Jeder Jeden kennt, nicht sehr viel zu sagen hat. So hatten sich die beiden Frauen am Freitagmorgen im Dorf getroffen und anschließend standen sie plus Christof bei mir vor der Tür. Ganz keck eröffnete Anna Lena, die ganz stolz darauf war, dass ihre Mutter mich „eingefangen“ hatte: „Guten Morgen Stiefpapa, meine zukünftige Schwägerin wusste noch nichts von eurem Glück. Da habe ich sie gleich mit gebracht, damit du ihr das mal näher erklären kannst.“. Na ja, damit war die Sache dann gelaufen. So hat sich aus einer mehr als ärgerlichen Angelegenheit doch eine höchst erfreuliche entwickelt. Maßgeblich war wohl gegenseitiges Zuhören, Verstehen und auch Verzeihen, so wie ich das in der Nachbetrachtung sehe. Seit dem Mai dieses Jahres empfinde ich bei Beate auch richtige Geborgenheit. Ich glaube sie ist die Frau, bei der ich mich, wenn ich glaube es müsste sein, auch mal „ausweinen“ kann und umgekehrt glaube ich für sie da sein zu können, wenn sie mal jemand brauch. Man könnte sagen, dass wir für einander bestimmt seien. Jetzt gerade, bei der Entgegennahme des Diktats, bestätigte sie mir, dass sie mir gegenüber ganz genauso empfinden würde. Ich glaube, dass sind die Empfindungen die ein gutes Fundament für eine beständige Partnerschaft sind. Es kommt darauf an, dass es von Mensch zu Mensch stimmt und diese Beziehung auch Stürme jeglicher Art überstehen kann. Ich glaube, dass bei mir jetzt endgültig der Groschen gefallen ist.
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Warum haben es die Weiber immer so eilig Zu Pfingsten fand hier in Ulkerde rund um die Kirche ein kleines Gemeindefest statt. Einige aktive Mitarbeiter aus der Gemeinde, zum Beispiel vom CVJM und von der Frauenhilfe, hatten Thomas Völler und das Presphyterium davon überzeugt, dass man auch den Geburtstag der christlichen Gemeinde, und das ist Pfingsten nun mal, auch gebührlich feiern müsse. Wie es bei solchen Festen im kirchlichen Rahmen üblich ist, begann alles mit einem Familiengottesdienst und anschließend gab es dann Grillwürstchen und –steaks sowie Erbsen- und Gulaschsuppe aus dem großen Topf. Wer mit Kaffee und Kuchen schon am Mittag loslegen wollte, kam auch nicht zu kurz. Natürlich gehören Getränke wie Cola, Fanta, Mineralwasser und auch Bier mit dazu. Einer der Ulkerder Bauern ist stolzer Besitzer von zwei Shetlandponys, die er mitgebracht hatte, damit die Kleinen, aber auch der Pastor und andere Gemeindemitglieder, die mal gerne wollten, darauf reiten konnten. Der Posaunenchor sorgte nicht nur mit geistlichen sondern sogar überwiegend mit weltlichen Liedern für den musikalischen Rahmen. Und natürlich gab es zwischendurch immer einige Aktivitäten, insbesondere für die Kinder. Jeder der sich dazu zählte und nicht gerade im Kurzurlaub war, konnte auf diesem Fest, was so bis Drei oder Vier dauern sollte, angetroffen werden. Steinmars, Hendrik, Silvia und Christof waren ebenso zugegen wie Beate und ich. An diesem Tage hatte ich es insbesondere mit Ernst August Steinmar; wir redeten über Gott und die Welt – zeitweise sogar im wahrsten Sinne des Wortes. Silvia stand hinsichtlich ihres „Bäuchleins“ und der baldigen Ankunft ihrer Christina, was wir dank Ultraschall inzwischen schon wussten, im Mittelpunkt der weiblichen Dorfbevölkerung von 20 bis 50. Und Hendrik blieb als stolzer, so wohl seiender wie werdender Vater dicht an der Seite seiner Frau. Frau Steinmar und Beate machten es ihren Männer gleich und ließen eine Gesprächsrunde der anderen folgen. Und zwischendurch immer wieder ein Shakehands und Smalltalk mit Leuten die einen kannten oder kennen lernen wollten. Also, Alles in Allem eine ganz nette Sache, die ich weiter empfehlen kann und zu dessen Besuch zu animieren es sich lohnt. So zwischendurch wandten sich unsere beiden Frauen mit aufgeregter Begeisterung an uns. Frau Steinmar startete: „Hör mal, Ernst, die jungen Leute kommen doch so im Großen und Ganzen so gut wie alleine auf dem Hof zu recht ... Und du hast ja inzwischen schon 60 Lenze auf dem Buckel. Dieser Tage hat doch unsere Silvi schon mal erzählt, dass Beate und Herr Heuer heiraten wollen.“. Jetzt machte sie erst mal eine Lachpause bevor sie fort fuhr: „Kannst du dir vorstellen, dass der Mann in dem einen und die Frau im anderen Haus wohnt.“. Jetzt unterbrach sie zugunsten eines weiteren Lachers und witzelte: „Stell dir vor, die liegen in ihren Betten und Herr Heuer möchte mal. Dann nimmt er die Trompete und bläst zum Fenster hinaus. Beate stürmt dann flugs hinüber und wenn er nicht trompetet und sie mal möchte, geht sie rüber und fragt ‚Liebling hast du trompetet?’.“. Und jetzt lachten alle und anschließend fragte Ernst August: „Und was haben meine 60 Lenze mit Walters Trompetensex zutun?“. „Anneliese ist heute sehr albern.“, mischte sich jetzt Beate ein, „Wir haben eben darüber gesprochen, dass wir, das ‚junge’ Paar, nicht gleichzeitig in zwei Häusern wohnen können. Und an jedem geraden Tag bei Zachi und bei ungeraden bei mir zu leben ist eine zu aufwendige Haushaltsführung. Wir könnten ja in einem Haus zusammenziehen und in dem anderen könnt ihr wohnen ... Und wenn auf dem Hof dein starker Arm verlangt wird, dann kannst du dich wohl mal kurz auf den 5-Minuten-Fußweg machen. Euere Kinder könnten, auch im Hinblick auf Christina ihre Wohnung erweitern und was dann noch übrig ist an weitere Feriengäste vermieten. ... Na, wie wäre es?“. „Jung und Alt im gleichen Haus ist ohnehin nicht gut; das sagte schon meine Mutter immer“, fügte Frau Steinmar noch an. „Und wann soll die ganze Aktion starten?“, wollte ich jetzt wissen. Da kam dann Beate mit einem offensichtlich schon vorher ausgeklügelten Plan: „Ja weißt du, das Beste wäre natürlich sofort, denn dann ist Hendrik, wenn die Ferien beginnen schon soweit, dass er weiß was er weitere Feriengäste aufnehmen kann. Aber ob es gut ist, dass wir mitten im Umzug stecken wenn Silvia entbindet weiß ich auch nicht. ... Aber wir könnten ja schon mal anfangen und Ende des Monats ziehen dann Anneliese und Ernst um.“. Ernst August schaute mich an und fragte: „Mann, warum haben es die Weiber immer so eilig?“. „Das kann ich dir sagen,“, antwortete ich scherzend, „vor einem halben Jahr kannte ich Beate noch nicht und jetzt hat sie mich schon an der kurzen Leine.“. Jetzt wandte ich mich an Beate: „An welches Haus habt ihr denn gedacht, an meins oder deins?“ Mit „Em, ähh, ...“ signalisierte sie so dann, dass sie den Punkt noch nicht bedacht hatte. Darauf unterbreitete ich dann den Vorschlag: „Pass auf, Mäuschen, jetzt feiern wir erst noch ein Bisschen Gemeinde und heute Abend einigen wir beide uns beim Wein über das Wer, Wo und Was. Morgen kommt dann Ernst August mit seiner Frau zu uns und wir hören uns dann deren Meinung dazu an. ... Was meinst du beziehungsweise was meint ihr dazu?“. Mein Vorschlag wurde einstimmig angenommen. Eigentlich wollte ich nun meinen Plausch mit dem Schwiegervater meines Jungens fortsetzen, während die Damen die neueste Kunde unters Volk streuten. Na ja, gerade Letzteres war es dann was Familie Heuer junior an unseren Tisch brachte. Silvia wandte sich an ihrem Vater: „Vati, wir haben euch beide, also dich und Mutti sehr lieb. Wir haben euch wirklich gerne auf dem Hof; immerhin bist du ja noch immer der Bauer. Aber wenn wir euere Räume dabei haben, können wir uns ein Wenig größer setzen. Dann haben beide Kinder ein Zimmer, die den Namen auch verdienen. Wenn wir von hinten, also von der Pension her, noch einen Durchbruch machen, können wir aus eurem Schlaf- und Wohnzimmer noch jeweils ein Gästezimmer machen. Also schlecht fände ich das nicht, wenn ihr in ein Eigenheim zieht. ... Aber verjagen wollen wir euch beim besten Willen nicht. Also versteht das jetzt nicht falsch.“. Ernst August
schaute mich an und sagte: „Habe ich eben nicht berechtigter Weise gefragt warum es die Weiber immer so eilig haben? Da ist gerade etwas von meiner besseren Hälfte angedacht, da kommt meine Tochter schon mit den Umbauplänen für die Zeit nach mir.“. Jetzt wandte er sich seiner Tochter zu: „Nur eins noch ... entweder bis du oder ich schlecht informiert. Ich dachte es ging um mieten und du sprichst vom Eigenheim. Und ich weiß noch nicht einmal wie hoch die Miete ist und ob ich sie bezahlen kann.“. Jetzt musste ich mich doch einmischen, um Ernst August zusagen, dass wir uns schon einig werden; meine Halsabschneiderzeiten seien vorbei. Hendrik, der bis jetzt nichts gesagte hatte, bekundete nun, dass er schon ganz gerne für seine Schwiegereltern kaufen wolle. Da musste ich ihm aber bescheinigen, dass er jetzt wohl den Eilerekord der „Weiber“ brechen wolle. Wir müssten uns ja erst mal klar werden, welches von den beiden Häusern zur Debatte steht. Des weiteren dürfe in diesem Zusammenhang Beates Alterssicherung nicht vergessen werden. Wenn ihr Häuschen zur entsprechenden Disposition stände müsste es dahingehend überdacht werden, dass dann im Falle eines Falles sie nicht als die Betrogene dasteht. Wäre mein Haus das in Frage kommende, müssten wir uns, da Hendrik ja sowieso mein Erbe sei, auch über Modelle in Richtung Schenkung Gedanken machen. Anderseits gibt es ja dann noch die Möglichkeit, dass Beate auf Rentenbasis verkauft und von mir im Ehevertrag als Erbin meiner Unterkunft eingesetzt wird. An dieser Stelle greife ich mal aus dem Grunde, dass ich nicht mehr auf solche Kleinigkeiten zurückkommen muss, ein Wenig vor. Letzteres war dann die Lösung, vielmehr es wurde ein Dreiecksgeschäft. Beate zog bei mir ein und Steinmars in ihr Haus, das sie dann auf Rentenbasis kauften. Gezahlt hat dann Hendrik, der ebenso auf Rentenbasis den Steinmarhof kaufte, wobei im Kaufpreis des Hofes berücksichtigt wurde, was er bereits in den Hof eingebracht hatte. Im Ehevertrag setzte ich Beate als alleinige Erbin meines Eigenheims ein, was dann so auch später auf Anna Lena übergehen kann. Also eine Lösung mit der alle Beteiligten und auch das Finanzamt zufrieden sein konnten. Aber, wie gesagt, ich habe jetzt vorgegriffen. In Wirklichkeit stand die endgültige Lösung erst Mitte bis Ende Juli fest, an diesem Pfingstsonntag waren wir beim besten Willen noch nicht soweit. Mit dem Hinweis, dass wir uns erst mal über das Wie klar werden müssten, hatte ich das diesbezügliche Gespräch auf dem Gemeindefest „abgewürgt“. Ich ergänzte noch damit, dass wir wohl am falschen Ort für Geschäfte seien, denn die Kirche sei wohl mit dem Tempel zu vergleichen und wo wir jetzt säßen mit dem Tempelhof. Und Jesus habe ja die Händler daraus vertrieben. Geschäft und Glaube würden sich wohl nicht vertragen. Jetzt mischte sich Thomas Völler, der inzwischen zu uns gestoßen war, aber ein: „Wo hast du denn das her, Zachi? In der Bibel steht nirgendwo das Geschäfte gegen den Willen Gottes seien. Es kommt doch nur darauf an, wie du Geschäfte machst. Wenn du dabei andere übervorteilst, benachtteiligst oder diese gar ausnimmst und dann anschließend, wie der reiche Kornbauer alles in deiner Kammer hortest, ist das sicher nicht in Gottes Sinne. Da aber die meisten so wie der reiche Kornbauer sind, heißt es in der Bergpredigt, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen könnte, als ein Reicher in das Himmelreich. Aber das sagt ja nicht, dass du keine Geschäfte machen darfst ... das haben ja auch die alttestamentlichen Väter getan und hatten dabei noch Gottes Segen.“. „Das mit dem Reichen und dem Nadelöhr kannst du wohl auch so sehen, dass man mit fairen, ehrlichen Geschäften nicht reich werden kannst.“, ergänzte ich, „Reichtum beruht darauf, dass du der stärkere und härtere Fighter bei den Geschäften bist. Ich könnte mir vorstellen, dass wir alle auf dieser Welt alle unser gutes Auskommen und Frieden haben könnten, wenn nicht Einzelne immer mehr und gar alles haben wollten.“. Thomas meinte dann abschließend: „Ich glaube, dass du das nicht falsch siehst ... aber du bist ja auch unser Zachäus, der es wie sein biblisches Vorbild begriffen hat.“. Nach dem Abschluss des Gemeindefestes saßen Völlers, Steinmars, eine Presphyterin, die auch den Kindergottesdienst macht, und ihr Mann sowie Beate und ich noch in Pastors Garten beim Bier zusammen. Während der Plauderei sann ich darüber nach, dass mir irgendwie durch den Umzug nach Ulkerde ohne mein Zutun der Weg zurück in das Wirtschaftsleben und Managertum verbaut worden sei. Ich wäre jetzt auf Menschen getroffen, die sich für mich interessierten und im Gegenzug interessierte ich mich für sie. Früher hätte ich die Menschen nur in Winner und Looser eingeteilt; den Looser musste ich besiegen und an dem Winner musste ich mich, bis ich ihn schlagen kann, anhängen. Heute ist es mir Wurst, ob ich gewinne oder verliere, ich stehe überhaupt nicht mehr mit den Anderen im Wettbewerb sondern lebe mit ihnen gemeinsam. Dabei wäre ich so glücklich, dass man das Glück schon als unheilbare Sucht bezeichnen könne. Ich käme da wohl nicht mehr raus. Beate „himmelte“ mich während meiner Ausführungen glücklich an. Am Abend, als Beate und ich beim Wein zwecks der geplanten Haushaltszusammenführungsdiskussion und zum Schmusen zusammen saß, fragte ich sie nach der Bedeutung ihrer glücklichen Augen im Garten des Pfarrhauses. Ihre Antwort war einleuchtend und schön zugleich: „Ach Zachi, niemand weiß genau was mal kommt. Niemand hat die Garantie dafür, dass das, wofür er sich entschieden hat, von ewiger und ungestörter Dauer ist. Aber über eines bin ich mir hundertprozentig sicher: Egal was ist, du kommst, wenn du überhaupt noch mal fortgehen solltest, immer wieder wie ein Bumerang zurück. Die Begründung hast du heute Nachmittag selbst geliefert: Nur hier hast du gefunden was dich glücklich macht; hier ist dein Glück zuhause. Du hast es in deinem Leben zuvor noch nirgendwo anders gefunden, obwohl du doch, so wie es die Leute sehen, eine Superkarriere hinter dir hast. Heute Nachmittag hast du gestanden, dass du von diesem Glück süchtig geworden bist. Also werden dich, wenn du mal ausbrichst, dich deine Entzugserscheinungen wieder hierher bringen. Das kann ich nachvollziehen, denn ich empfand und empfinde das Glück ähnlich oder gar genauso wie du. Deshalb kam ich nach allen Ausbrüchen ... die ich dir ja berichtet habe, immer wieder hier an den Ort meines Glückes zurück. Wo dein Glück zuhause ist, da bist auch du Zuhause; da ist deine Heimat, gleichgültig wo du geboren und aufgewachsen bist oder wo
du den überwiegenden Teil deines Lebens verbracht hast. Da hier unser beider Ort des Glückes ist, weiß ich, das gleichgültig was passiert, wir in kürzester Zeit wieder beieinander sein werden. So war es mit mir und meinem verstorbenen Mann und so ist es mit dir und mir ... Wir werden uns nicht wieder los. Unsere Entscheidung füreinander ist endgültig ... ich werde die vierte und letzte Frau in deinem Leben sein. Uns kann nur der Tod scheiden“. Nach meiner jetzigen Auffassung spricht viel für die Richtigkeit ihrer Theorie. Pfingsten war vorüber und wir wussten was wir zutun hatten. Steinmars würden in Beates Haus einziehen, das war ganz im Sinne von Silvias Eltern. Beate zog also zu mir. Bis auf einen Schrank wollte Beate auf ihre Möbel verzichten und sich in meinem „moderneren“ Haushalt niederlassen. Steinmars wollten Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche von Beate übernehmen und ansonsten sollte das Haus ausgeräumt werden. Ein paar gute Stücke sollte das AWo-Möbellager erhalten und der Rest sollte dem Speermüll übergeben werden. Gleich am Dienstag fingen wir an. Wir räumten Kleidung, Wäsche, Hausrat und so weiter bei Beate aus, trugen es hinüber und bei mir wieder ein. Natürlich ließen wir es langsam angehen; uns trieb ja keiner. Deshalb ließen wir auch keinen Spaziergang und keine Schmusestunde ausfallen. Eher das Gegenteil, die Zahl der Schmusestunden vermehrte sich. Trotzdem; schon in der Woche nach Pfingsten hatten wir Beates komplette Habe mit der meinigen vereinigt. An den Abbau der Möbel hatte ich mich, der sich auf diesem Gebiet als Doppellinkshänder erweist, allerdings noch nicht begeben. Am Montag, dem 11. Juni, kamen die Zivis von der AWo und bauten und transportierten schon mal das ab, was für das Möbellager bestimmt war. Bei der Gelegenheit nahmen sie dann auch den Umzug des einen Schrankes von Beate zu mir vor. Mittwochs ist bei uns in Ulkerde der Termin für die Speergutabfuhr. Einen Tag vorher wollte mir Ernst August Steinmar beim Abbau und Herausstellen helfen. Schon morgens um Neun stand er vor der Tür und wir legten los. Aber unser Tatendrang wurde schon nach 20 Minuten durch ein vorhergesehenes und doch auf einmal plötzlich eingetretenes Ereignis gebremst. Frau Steinmar rief an und verlangte Beate. Bei Silvia wäre es gewaltiger wie vorgesehen losgegangen. Dr. Reuter, der Hausarzt wäre bereits da. Auch er glaubt nicht, dass man es noch rechtzeitig bis zum Krankenhaus in Waldheim schaffen könnte. Jetzt müsse halt eine Hausgeburt durchgeführt werden, die Hebamme sei bereits verständigt. Frau Steinmar fragte Beate ob sie zum Helfen nach Anweisung des Hausarztes herüberkommen könne. Als Beate uns von der Sachlage informiert hatte, brachte Ernst August erst noch mal seinen berühmten Kommentar: „Warum haben es die Weiber immer so eilig.“. Jetzt bleibt nur die Frage wen er gemeint hat: Silvia, der es nicht schnell genug gehen konnte unsere Enkeltochter zur Welt zu bringen, oder Christina, die gar nicht schnell genug in diese schöne Welt kommen konnte. Oder meint er beide? Recht hat er jetzt in jedem Fall. Natürlich hielt es uns Männer auch nicht mehr im Räumungshaus und auch wir begaben uns jetzt auf den Steinmarhof. Silvia hatte, als sie hörte auch die Opas seien im Haus, Hendrik beauftragt auch uns ins Schlafzimmer zu bitten. Dr. Reuter ermahnte uns aber, wir sollten uns ein Wenig zurückhalten, möglichst an der Wand. Das Problem bei Hausgeburten sei das die Sepsis wie im Kreißsaal nicht eingehalten werden könne. Professor Sauerbruch habe ja eindeutig dem Zusammenhang von Kindbettfieber und der Säuglingssterblichkeit mit der Sepsis nachgewiesen. Na ja, zur größeren Sicherheit verpasste uns Frau Steinmar saubere frische Anziehsachen. Ernst August bekam seine eigenen und ich die von Hendrik. Mein Sohn hat zwar in etwa meine Figur aber er ist ein Stückchen größer als ich und daher hatte ich doch ein Wenig Hochwasser. Dank des Umziehens hätten wir bald das Wichtigste verpasst, denn als wir ins Zimmer kamen war bereits Christinas Köpfchen zwischen den Schenkeln Silvias zu sehen. Dr. Reuter betätigte sich selbst als Hebamme. Währenddessen sprach er Silvia gut zu: „Weiter Mädchen, jetzt nicht nachlassen, gleich hast du es geschafft.“. Als das Würmchen gerade auf der Welt war hob er es an den Beinen an und übergab dieses so meiner Beate, damit er die Hände frei zum Nabelschnurabklemmen habe. Seine Worte zu Silvia: „Es ist ein Mädchen“ gingen in dem Gebrüll der Neuerdenbürgerin, der wohl die Rumreicherei an den Beinen reichte, unter. So blieb dann Christina der berühmte Klaps auf den kleinen Po erspart. Gleichzeitig mit Christina brüllte auch ihr Bruder vor der Tür los. Im großen Wirbel hatte man Christof, der zunächst schön auf sein Zimmer gespielt hatte, vergessen. Er hat dann gemerkt, dass alle in einem Zimmer waren und ansonsten das Haus leer war. Jetzt wollte er auch zur versammelten Mannschaft stoßen aber die Tür war für den kleinen Buttsack versperrt. Das war natürlich jetzt eine Aufgabe für die Opas. Silvia meinte: „Lasst Christof rein und zeigt ihm sein Schwesterchen“. Da wiedersprachen jetzt aber Beate und die Oma. Erst müsse klar Schiff gemacht werden. Was für uns Erwachsene ein wunderbarer Augenblick und Erleben sei, könnte für den Kleinen beim Anblick umwerfend sein. Also gingen wir so raus, dass Christof weder eine Möglichkeit zum Hineinstürmen noch zum Einsehen hatte. Anschließend machten Ernst August und ich unseren Großvater-Meisterbrief. Wir tobten mit unserem Enkel herum und lenkten ihm perfekt vom anderen Geschehen ab. Nach etwas über einer halben Stunde war es soweit, wir drei „Männer“ wurden wieder eingelassen. Silvia, die jetzt einen müden Eindruck machte, lag mit nackter Brust im Bett und auf ihren Busen lag die kleine Christina und sie sagte zu Christof: „Schau mal, das ist dein Schwesterchen.“. Unser Enkel staunte und aus seinem Mund kam nur der Laut „Puppa“. Dr. Reuter sagte dann schmunzelnd zu uns: „Das Dutzend ist voll. Das war jetzt die zwölfte Hausgeburt in Ulkerde bei der ich zuständig war. Alles fast gleichgelagerte Fälle. Immer war es schon soweit, dass die 30 Kilometer bis Waldheim offensichtlich nicht mehr schaffbar waren. Es war schon sinnvoll, dass ich mich, als ich mich entschloss Landarzt zu werden, auch in Geburtshilfe sachkundig gemacht habe.“. Er lachte und freute sich. Und der stolze Papa bedankte sich
erst mal recht herzlich bei ihm. Dann gab es an uns doch noch einen ärztlichen Rat. Er meinte wir sollten jetzt Mutter und Tochter ein Wenig Ruhe gönnen. Anschließend, nach dem Rat an Alle, nahm er sich Frau Steinmar zur Seite um sie in ihr Amt als Hilfskrankenschwester im eigenen Haus einzuweisen. Hendrik, der stolze Vater packte alles was man so am Amt benötigt zusammen und fuhr anschließend gleich nach Neuhaus um seine Tochter aktenkundig zu machen. Mich bat er vor seiner Abfahrt dann noch die andere Oma, sprich Rosi, von ihrem Glück zu informieren. Ich rief also wie mir geheißen in Seetal an. Am Telefon meldete sich Jürgen und ich legte gleich los: „Hallo Großer, ab sofort bis du Großonkel in doppelter Ausführung ... Christina ist da.“. „Sag bloß,“, antwortete er, „fällt dir beim Datum 12. Juni was auf, Kleiner?“. Im ersten Moment stutzte ich und wusste nicht, worauf er hinaus wollte. Jetzt half er mir dann doch auf die Sprünge: „Salvador wäre heute Dreiundzwanzig geworden.“. Wo er dieses jetzt sagte klang er aber einen Moment gar nicht so glücklich. Auch mir fiel jetzt der arme asthmakranke Junge ein und spontan schoss es mir durch den Kopf, dass ich doch was für asthmatische Kinder und Jugendliche tun sollte und könnte. Zuende verfolgen konnte ich diesen Gedanken jetzt nicht, denn Jürgen hatte inzwischen an Rosi übergeben und die wollte jetzt wissen: „Wo seit ihr denn jetzt; im EVK Waldheim?“. „Nee, nee,“, begann ich jetzt, „Christina hatte es zu eilig auf die Welt zukommen. Die ist gleich hier auf dem Steinmarhof ins Leben gesprungen.“. Da stand für Rosi natürlich fest, dass sie jetzt postwendend kommen sollte. Ich hatte gerade aufgelegt als mir Ernst August seinen Vorschlag unterbreitet: „Wie wäre es Walter, wenn wir uns jetzt noch schnell um Beates Sperrmüll kümmern und für den Rest des Tages einen Feiertag einschieben?“. Ich nahm den Vorschlag sofort einstimmig an. Nach knapp zwei Stunden war die „Hausräumung“ abgeschlossen. Ernst August ging dann gleich zum Hof zurück. Ich duschte erst mal und zog mir frische Sachen an bevor ich mich dann auch für den, allerdings noch langen Rest des Tages auf dem Weg auf dem Steinmarhof. Da war jetzt die ganze Großfamilie versammelt und wir machten uns dort eine schönen Tag mit Plaudereien, spielen mit Christof, diesen oder jenen Schluck Bier und immer wenn sich Christina meldet mit einem Besuch in Silvias Schlafzimmer um beim Stillen zuzuschauen und dabei mit der jungen Mutter zu plaudern. Ansonsten machte Silvia an diesem Tag es immer ihrer Tochter gleich: Sie schlief. Als Mann kann ich mich da nicht richtig rein versetzen aber ich glaube, dass so eine Geburt doch eine enorm anstrengende aber sehr glückliche Angelegenheit ist. Auf jeden Fall machte Silvia an diesem Tag einen sehr, sehr glücklichen Eindruck. Im Laufe des Nachmittags saßen Jürgen, Hendrik und ich in einer „exklusiven Dreierrunde“ und gedachten auch des 23. Geburtstag von Salvador und kamen dabei auch auf das Thema Asthma und meine diesbezügliche spontane Idee während meines morgendlichen Telefonats mit Jürgen zu sprechen. Sohnemann schmunzelte und fragte: „Ist aus dem Firmenübernehmer und –gründer jetzt der große Stiftungsgründer geworden? Kommt jetzt die Salvador-Heuer-Stiftung an die Reihe?“. Jürgen wandte jetzt ganz sachlich ein, dass so etwas auf keinen Fall zu empfehlen sei, da eines Tages Stiftungen, die auf gleiche Vermögensbasen zurückgreifen, in eine Art Wettbewerb treten könnten, was dann beiden „Sachen“ nicht gut täte. Er fragte: „Warum soll es bei Stiftungen anders als bei normalen gewerblichen Firmen sein? Denk doch nur an die beiden Heuerfirmen. Sicher haben die zunächst vom Wettbewerb profitiert. Hinter jedem Wettbewerb steckt Engagement und Einsatzwillen und so kommt man voran. Der Haken an der Geschichte war aber die gemeinsame Basis, die das Vermögen unseres Vaters darstellte. Eigentlich waren wir so siamesische Zwillinge, die wir sehr schmerzhaft auseinander gerissen haben. Das Zerschlagen unserer gemeinsamen ‚Nebenbetriebe’ und der gemeinsamen Logistik hat viel Geld und Kraft gekostet. Du hast mit deiner Reisegeschichte noch nicht so viel davon gemerkt aber heute kann ich es dir ja sagen, dass es mich auf der Speditionsseite deutlich härter getroffen hat. Wäre ich nicht auf Don Alberto getroffen, wäre ich hinsichtlich notwendiger Investitionen ganz schön ins Wackeln gekommen.“. Ich unterbrach Jürgen in dem ich ihm sagte, dass ich so etwas gar nicht angedacht hätte. Ich führte aus: „Ich dachte auch an eine ganz andere Zielausrichtung. Durch das Anna-Katharina-Haus bin ich darauf gekommen, dass es für die Suchtkrankheit Nummer Eins, dem Alkoholismus, viel zu wenig Therapieplätze gibt. Und wenn es welche gibt haben die schwer mit dem Überleben zu kämpfen. Das mag damit zusammenhängen, dass ausgerechnet die härteste und gefährlichste Droge, der Alkohol, schon seit Tausenden von Jahren gesellschaftlich akzeptiert ist und das deren bitterböse Schattenseite heruntergespielt oder gar verdrängt wird. Da ging es mir um die Schaffung und Erhaltung weiterer therapeutischer Einrichtungen. Also, ich dachte da nicht an eine Einzelhilfe sondern an eine gesellschaftliche Aufgabe, die eben halt mit einer Stiftung am Besten zu bewältigen werden kann. In diesem Fall, also im Falle der asthmakranken Kinder und Jugendliche denke ich tatsächlich an Hilfe in Einzelfällen, an die Verwendung von Spenden. Theoretisch gibt es ausreichend Plätze, wo diese Linderung und damit, wenn keine Heilung dann doch Lebensverlängerung erfahren können. Da reicht ja schon Schwarzwald- oder Ostseeluft verbunden mit therapeutischer Betreuung. Da kommen nicht nur Kliniken und Kurhäuser als Therapieplätze in Frage sondern alle Hotels, Pensionen und Privatzimmer in den entsprechenden Gegenden. Wir ... und hier insbesondere ich, hatten im Falle Salvador ausreichend Mittel um ihn regelmäßig oder gar dauerhaft in einem Klima unterzubringen, in dem er vielleicht jetzt noch ein lebenswertes Leben hätte führen können. Ich habe mich nur nicht um ihn gekümmert und alles unterlassen. Carmen steckte so tief in ihren eigenen Problemen, dass sie auch nicht den richtigen Weg sehen konnte. Na ja, dass ist meine Schuld, die ich mit meinem Gewissen und unserem Gott ausmachen muss. Aber wie viele Kinder und Jugendliche gibt es, die auch solcher Kuren bedürfen, diese aber nicht kriegen weil die Sozialversicherungen nur mehr als dürftig zahlen und deren Familie beim besten Willen die Mittel selbst nicht aufbringen können. ... Da wollte ich was tun.“.
Mit „Kombiniere Dr. Watson,“, mischte sich Hendrik jetzt ein, „du willst also Kuraufenthalte für Asthmakranke sponsern. Keine schlechte Idee. Aber vielleicht kann ich auch noch was dazu beitragen. Wie wäre es wenn wir einen Verein gründen, den auch andere Beitragszahler beitreten können und der auch Spenden sammeln kann. Da kommt ein dickerer Haufen zusammen. Also ich wäre dabei ... Und wie ist es mit dir Onkel Jürgen?“. Auch der fand es gut und stimmte zu und damit war die Idee zur Gründung des „Salvador-Heuer-Verein zur Förderung von Kuraufenthalte für asthmakranke Kinder und Jugendliche“ geboren. Allerdings schritten wir an diesem 12. Juni 2001 noch nicht zur Gründungsversammlung; heute feierten wir erst mal die Ankunft unserer Christina auf dieser Welt. Aber wir ließen die Sache nicht aus dem Auge und heute steht dieser Verein mit bereits über 100 Mitgliedern und die Anerkennung als gemeinnütziger Verein, der auch Spendensammlungen durchführen kann, liegt inzwischen auch vor. Und ich bin stolz darauf, dass ich nun schon wieder einmal etwas auf die Beine gestellt habe, was meinem Leben einen Sinn gibt.
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Die Eintrittskarte in den Himmel Bis zu dem Zeitpunkt wo wir zusammen zogen waren Beate und ich praktisch wie ein Herz und eine Seele. Es gab zwischen uns kein böses Wort, keinen Streitansatz. Als wir gerade eine Woche zusammen wohnten, gab es dann erstmalig eine „atmosphärische Störung“ in Form des Austausches von „starken netten Worten“ oder auf Deutsch gesagt: Streit. Jetzt weiß ich nicht mehr worum es in diesem Fall ging; ich weiß nur noch, dass es auf der einen Seite für jeden von uns persönlich um nichts Gravierendes ging aber wir meinungsmäßig absolut konträre Standpunkte hatten. Als die Stimmung auf dem Höhepunkt war verließ Beate wutentbrannt das Wohnzimmer und kramte erst mal etwa fünf Minuten im Schlafzimmer herum. Aber dann kam sie freundlich lächelnd ins Wohnzimmer zurück und fragte: „Du Liebling, es ist doch so schönes Wetter. Wie wäre es, wenn wir zur Eulenburg herausspazieren würden und dort auf der Bank die Seele baumeln lassen.“. Diesem Vorfall vom Juni dieses Jahres folgten in sporadischen Abständen ähnliche Vorfälle. Jetzt wird dieser oder jene sagen: „Oh je, oh je, schon wieder ein Anfang vom Ende.“. Im Gegenteil, Freunde, ich habe mir sagen lassen, dass solche Vorfälle ein Indiz für beständige Partnerschaften seien. Wenn man ständig zusammen ist und sich stets was zusagen hat sind, da eine 100-prozentige kongruente Meinung stets absolut unwahrscheinlich ist, Reibungspunkte, an den die Emotionen hochgehen, unvermeidlich. So lange man sich noch was zu sagen hat bleibt so etwas einfach nicht aus. Nur wenn man sich nichts mehr zu sagen hat und aneinander vorbei lebt, wenn also der Stoff für gemeinsame Gespräche auf maximal 10 Minuten täglich geschrumpft ist und die Themen nur noch ausschließlich rationalen Inhaltes sind, kann man sagen „Gute Nacht Marie“. Nur Partner die sich nichts mehr zu sagen haben bekommen niemals Streit und zusagen haben sich diese Zwei dann sowieso nichts mehr, weil es nur noch oberflächlich nach Partnerschaft aussieht aber beide in Wirklichkeit nur noch aneinander vorbeilebende Individuen sind. Allerdings gehört das problemlose wieder nett Aufeinanderzugehen nach der Streitentladung unbedingt dazu, denn wenn die Positionen unversöhnlich auseinander sind, geht es natürlich auch nicht mehr weiter. Nun, dieser „erste Streit“ fand Ende Juni eine Wiederholung mit umgekehrten Vorzeichen. Diesmal war ich es der wütend das Wohnzimmer verließ. Ich ging nicht ins Schlafzimmer sondern ins häusliche Büro, wo ich dann einen Papierstapel blattweise von Links nach Rechts und dann stapelweise zurücklegte. Dann war auch bei mir die Luft raus und wieder einmal war draußen schönes Wetter. Diesmal war ich es der mit den Worten „Mäuschen hast du Lust mit mir zur Eulenburg zu gehen?“ ins Wohnzimmer zurückkehrte. Diesmal sollte es aber zur Einleitung einer gewichtigen Änderung in meinem Leben führen – dieses zumindestens aus meiner ganz persönlichen Sichtweise. Aber das muss ich nun der Reihe nach erzählen. Beate hatte Lust und so waren wir schon einige Minuten später auf den Weg. Die Eulenburg ist eine Waldgemarkung oberhalb des Dorfes Ulkerde von wo man, auf einer nachmittags im Sonnenschein stehenden Bank, auf das komplette Dorf herunter schauen kann. Ein richtiges romantisches Plätzchen an dem der umliegende dichte Fichtenwald für einen wohligen Duft und herrliche Frische sorgt. Der Weg dorthin führt am Steinmarhof vorbei über den Hammerschlag hinauf zur besagten Eulenburg. Es handelte sich bei dem Weg um einen nicht ausgebauten Waldwirtschaftsweg, der aber wegen des etwas oberhalb der Eulenburg liegendem Wasserhäuschens in einem guten Zustand gehalten wird. Auf jeden Fall ist der Wegezustand absolut für Kinderwagenausfahrten geeignet. Bei der Lage und dem Zustand des Weges ist es natürlich kein außergewöhnlicher Zufall das wir auf diesem Wege Silvia und Christof bei der Ausfahrt von Christina trafen. Selbstverständlich bildeten wir jetzt ein Quintett in dem der Opa, also ich, die Funktion des Kinderwagenlenkers übernahm. Stolz neben mir trippelte Christof und allesamt hielten wir ein munteres, fröhliches Schwätzchen. Wir hatten gerade „unsere“ Bank erreicht als das Thema „Familienplanung im Hause Silvia und Hendrik Heuer“ auf der Tagesordnung stand. Silvia verkündete uns stolz, dass sie es in absehbarer Zeit noch ein drittes Mal versuchen wollten. Also, wir sollten uns schon mal in ein bis anderthalb Jahren noch einmal auf ein freudiges Ereignis einstellen. Na ja, danach sollte dann aber Schluss sein, denn Silvia war der Meinung, dass sie dann langsam über die Zweiunddreißig hinaus ginge und fragte sich diesbezüglich, ob es dann noch komplikationsfrei ginge. Das wäre dann die Frage aller Fragen. Aber eins stand für sie jetzt fest – bis es soweit ist kann es natürlich anders sein -, dass sie wieder zuhause entbinden wollte und auch wir sollten wieder dabei sein. Sie fragte: „Es hat euch doch gefallen – oder? Ich bin der Meinung das schönste und größte Wunder was es auf Erden gibt ist das Leben selbst. Ich finde es erhaben und wunderbar wenn man mit Leuten die man gerne hat, zu dem man was empfindet, den Beginn eines Lebens gemeinsam erfahren kann.“. Wenn ich es mir so überlege hat sie mehr als recht. Jetzt war es Beate, die von der mittelfristigen zur kurzfristigen Planung überleitete: „Aber bis es soweit ist, vergehen doch noch ein paar Stunden. Jetzt habt ihr doch sicher erst mal die Taufe ins Auge gefasst ... Oder wollt ihr Christina nicht taufen lassen?“. „Oh doch,“, setzte Silvia zur Erwiderung an, „und es ist gut dass du dieses jetzt ansprichst. Denn wir wollten euch beide bitten als Paten zur Verfügung zu stehen. Wir sind mit Thomas Völler der Meinung, dass das Wichtigste bei der Kindertaufe das Taufversprechen der Eltern und Paten, dass sie das Kind im christlichen Glauben erziehen wollen, ist. Das setzt voraus, dass die Paten selbst gläubige Christen sind. Als damals Christof getauft wurde, wären wir nie auf den Gedanken gekommen, dir Papa eine Patenschaft anzutragen. Und jetzt sind Hendrik und ich der Meinung, dass es keinen besseren wie dich gibt. Da haben wir gestern Abend auch mit Thomas darüber gesprochen ... der ist der gleichen Meinung wie wir.“. Ich fühlte mich sehr geehrt und hätte es gerne auch gemacht, trotzdem musste ich einwenden: „Um Pate zu werden muss man doch selber getauft sein?“. „Das bist du doch.“, kam gleichzeitig aus
dem Mund beider Frauen und Beate ergänzte: „Du bist doch als Baby christlich getauft worden. Ob das nun katholisch oder evangelisch war ist doch zweitrangig, du bist im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes getauft worden.“. „Nicht ganz“, wandte ich ein, „meine Eltern haben mich Taufen lassen. Ich selbst habe nicht, wie Thomas am Sonntag in der Predigt sagte, meine Entscheidung für den Herrn getroffen. Ihr seid konfirmiert und konnte das Taufbekenntnis selbst bestätigen ... und ich?“. Darauf hatten die beiden „Mädchen“ jetzt erst mal keine Antwort parat und deshalb führte ich aus: „Ach, es ist mir auch egal was die Lehrbuchtheologen darein legen, ich habe den Wunsch und das Bedürfnis, dass ich konvertieren möchte ... ich will zu der Gemeinde, in der ich mich eingebettet fühle, offiziell vor Gott und der Welt gehören. Und das möchte ich, in dem ich mich taufen lasse, allen dokumentieren. ... Was jetzt nur die Frage ist, dass erst ich und dann Christina dran sein könnte. ... Jetzt weiß ich natürlich nicht, ob es da bestimmte Fristen für den Austritt aus der katholischen Kirche, Eintritt und eigene Taufe sowie Patenschaft gibt. ... Aber da kommen wir im Moment nicht weiter.“. „Och,“, startete Silvia jetzt ganz locker, „bei Hendrik ging das damals ganz schnell, schneller wie das Finanzamt denken konnte. Die wollten dann noch bis Ende des Jahres von ihm katholische Kirchensteuer von ihm haben. Aber ... zumindestens in der Gemeinde galt er als evangelisch. Und Vati ‚verarschte’ ihn immer und fragte ihn laufend: ‚Bist du nun evantholisch oder kathogelisch?’.“. Die ehemaligen Scherze ihres Vaters dürften meiner Schwiegertochter immer noch gefallen; auf jeden Fall lachte sie herzlich. An diesem Punkt erlaubte ich mir den Hinweis, dass ich diese Geschichte in Kürze kompetenter Weise mit Thomas Völler absprechen wollte und wir uns hinsichtlich des herrlichen Wetters dem Seelebaumelnlassen und dem kleinen Steppke Christof zuwenden sollten. Silvia ergänzte: „Gleich meldete sich noch eine junge Dame, die auch Zuwendung benötigt. Jeden Moment muss es losgehen, dann will unser Töchterchen an meine Brust. ... Glaubt ihr, dass jetzt jemand vorbeikommen könnte?“. Auf mein „Wieso“ kam dann gleich: „Also bei der Geburt und danach konnte ihr ja alles von mir sehen. Ich habe es weder unschicklich gefunden noch habe ich mich geschämt, weil ich da die lieben Menschen, die ich um mich habe, an einen meiner glücklichsten Momenten im Leben hatte und habe teilnehmen lassen konnte ... das war ein Gemeinschaftserleben weit ab von anderen Gedanken. Ich bin mir sicher, dass keiner von euch an die Fleischeslust, wie der alte Pastor Heitmann immer sagte, gedacht hat. Aber um mich für Gaffer auf den Präsentierteller zu legen und vielleicht noch als diese berühmte Vorlage zu dienen bin ich mir doch viel zuschade, ... dafür halte ich mich zu wertvoll. Wenn ihr nicht gewesen wäret, wäre ich jetzt schon wieder zu Hause. Jetzt will ich unser kleines Mäuschen hier an die Brust nehmen und deshalb ...“. Das was sie sagte, war eigentlich klar verständlich und ich konnte es voll nachvollziehen. Darauf äußerte ich meine diesbezüglichen praktischen Erwägungen: „Nun wenn jemand aus dem Dorf kommen würde, hätten wir den bereits unten am Hammerschlag gesehen und das jemand um diese Zeit von Oben, also aus dem Fichtenwald, kommt, ist doch eher unwahrscheinlich.“. Dahingehend waren wir jetzt einer übereinstimmenden Meinung und so konnte Silvia unbesorgt die Quelle für Nahrung und Mutterliebe zugunsten ihrer Tochter freilegen. Einer „störte“ bei dieser Gelegenheit doch. Hendrik bimmelte auf ihrem Handy an. Er machte sich Sorgen, da er auch die Essenzeiten seiner Tochter kannte und seine Familie nicht auf dem Hof war. Als ich mich stellvertretend für sie meldete, war natürlich auch für ihn die Welt in Ordnung. Hendrik nutzte die Gelegenheit dass ich mich meldete, um mich zufragen, ob Silvia uns die Patenschaft angetragen habe. Ich berichtete ihm in Kurzfassung was wir besprochen hatten. Letztlich meinte er dazu: „Weißt du, es eilt ja nicht mit der Taufe unseres Herzieleins. Die Taufe ist ja keine Eintrittskarte in den Himmel ... da brauch man überhaupt kein Zugangsausweis, da kommt man allein aufgrund der Liebe unseres Gottes rein. Glückselig sind die, die geistig arm sind, ... so heißt es diesbezüglich in der Bergpredigt. So können wir unbesorgt einen Schritt nach dem anderen vornehmen. Aber am Telefon lässt sich das immer so schlecht besprechen. Kommt doch ruhig nachher hier rein. Ich gehe mal davon aus, dass ihr noch ein Wenig das schöne Wetter genießen wollt ... Aber ich bin ja hier und ein Fläschen Bier habe ich auch für meinen Paps. ... Oder sollen wir lieber einen Wein, der auch von Damen bevorzugt wird, nehmen?“. „Ein Tässchen Kaffee tut’s aber auch“, sagte ich noch bevor ich mich verabschiedete und auflegte. Na ja, so hielten wir es letztendlich auch. Etwa anderthalb Stunden später zogen wir zu Fünft in Richtung Steinmarhof, wo eine Kanne Kaffe auf uns wartete, davon. Was ich dort mit Hendrik besprach, deckt sich im Großen und Ganzen mit dem, was ich auch einen Tag später mit unserem Pastor besprach – und daher führe ich dieses jetzt erst mal hier nicht aus. Kommen wir also doch gleich auf das „seelsorgerliche“ Gespräch am nächsten Morgen. Es war ursprünglich weder von Thomas noch von mir so vorgesehen; es ergab sich auf einmal. Beate war eigentlich wie jeden Morgen zu ihrem Dienst im Gemeindebüro gegangen. Kurz nach Zehn schellte das Telefon und Beate fragte an, ob ich mal kurz rüber kommen wolle. Ursprünglich dachte ich, Beate wäre in Sachen des taufwilligen Zachis vorgeprescht und das wäre der Grund warum ich jetzt zu ihrem „Chef“, dem Pfarrer, gebeten wurde. Aber nein, er hatte ein ganz anderes Anliegen und der erfuhr erst, als ich bereits auf dem Wege ins Gemeindebüro war, aus Beates Munde davon. Beate war noch am erzählen, als ich vor Ort eintraf und deshalb fragte mich Thomas: „Was besprechen wir denn zuerst? Erst die geschäftliche Angelegenheit, weshalb ich dich hergebeten habe oder führen wir ein Taufgespräch?“. „Immer der Reihe nach.“, antwortete ich, „Offensichtlich stand dein Punkt zuerst auf der Tagesordnung und nur wenn du anschließend noch Zeit hast, können wir ja über meine Angelegenheit sprechen.“. Mit „Na gut“ ging er dann auch gleich zu seinem Geschäftsanliegen über. Da waren Umbau- und Renovierungsmaßnahmen am Kindergarten genehmigt worden. Sowohl vom Konsistorium wie von Land und Kommune sollten die Gelder dafür im Herbst fließen. Am Vorabend hatte man
sich im Presphyterium überlegt, dass man, wenn man einen Bauunternehmer mit freien Kapazitäten und einem Zwischenfinanzier hat, den Umbau vorziehen könnte und schon in den Sommerferien, mit den wenigsten Betriebsstörungen, daran gehen könnte. Einen kleinen Bauunternehmer, der das machen konnte, hatte das Presphyterium schon gleich bei der Hand und Thomas wurde beauftragt, mich darauf anzusprechen, ob ich die Rolle des Zwischenfinanziers übernehmen könne. Ich sah keine Schwierigkeiten und so ging dieser Punkt blitzartig über die Bühne. Nur über die Zinsen wurde kurz diskutiert: Ich wollte keine haben aber Thomas bestand darauf. Er wollte doch die privaten karitativen oder gemeindenützlichen Angelegenheiten der Gemeindemitglieder von den geschäftlichen Angelegenheiten der Kirche getrennt wissen. Sein Standpunkt war, dass wenn ich nicht gewesen wäre, er diesbezüglich hätte zur Sparkasse gehen müssen und die hätten bestimmt nicht auf Zinsen verzichtet. Ich wäre für ihn jetzt nur die schnellere und bequemere Lösung gewesen. Daraufhin glaubte ich ihm sagen zu müssen, dass ich die Sache auch nicht als Ablass handele verstanden hätte und auch keine Spendenquittung dafür hätte haben wollen. Damit hatte ich jetzt unbewusst und ungewollt auf mein Anliegen übergelenkt, denn Thomas erwiderte auf meine letzen Vorbehalte lachend: „Zachi, ich weiß doch, dass du dir keine Eintrittskarte in den Himmel kaufen wolltest.“. Jetzt musste ich ihm, ebenfalls lachend, berichten, dass mein Sohnemann am Tage zuvor das gleiche Bild von der Eintrittskarte in den Himmel gebraucht habe. Darauf stellte Thomas klar, dass das nicht von ungefähr käme, denn davon hätten die Beiden gesprochen als Hendrik damals mit dem gleichen Anliegen, wie ich jetzt, zu ihm gekommen sei. Er meinte, dass er gerne im Zusammenhang mit den Sakramenten, Taufe und Abendmahl, entweder vom „Freifahrtschein in den Himmel“ oder von der „Eintrittskarte in diesen“ spreche und davor warne, die Sakramente als solche zu verstehen. Wenn ein unschuldiges aber ungetauftes Kind an einem plötzlichen Kindstod sterben würde, gälte für diesem Kind Gottes Verheißung genauso wie für das getaufte. Andererseits glaubte Thomas, dass sich ein Mensch der irgendwann mal getauft worden sei aber in Gottes Ferne lebe sich der Verheißung nicht sicher sein könne sondern eher das Gegenteil. Es kommt seiner Ansicht nicht in erster Linie darauf an, ob man getauft ist sondern wie man dazu stehe, wie sehr man Gott liebe, wie sehr man bereit ist sein Geschenk anzunehmen. Etwas verdutzt sagte ich ihm, dass das ein Säugling ja gar nicht begreife und ich mich dann irgendwo frage, warum man Kinder überhaupt taufe. Da gab er mir doch eine plausible Erklärung: „Auch ich gebe der Erwachsenentaufe, die ich gerne richtiger Weise auch Gläubigentaufe nenne, den Vorzug. Daher liegt mir auch die Konfirmation auch sehr am Herzen, wo die Jugendlichen dann sagen und bekunden können ‚Ja Herr, ich bin getauft und nehme jetzt diese Gabe bewusst und mit Freuden an’. Das ist ja der Sinn der Konfirmation. Dadurch wird aber die Kindertaufe nicht gleich automatisch unsinnig. Was spricht dagegen, wenn wir in Form der Taufe den Segen Gottes für dieses Kind erbitten? Und für mich persönlich ist zusätzlich das Taufversprechen der Eltern und Paten mit der wichtigste Teil der Kindertaufe. Ich frage die Eltern und Paten ob sie das Kind im Glauben an den dreieinigen Gott erziehen wollen und bitte sie, mir das mit den Worten ‚Ja, mit Gottes Hilfe’ zu bestätigen. Im Vorgespräch weise ich immer daraufhin, dass dieses wie ein Eid vor Gott und der Gemeinde ist und man müsse sein Gewissen fragen, ob man einen Meineid vor Gott verantworten könne.“. Damit waren wir eigentlich schon Mitten im Taufgespräch, in dem es im Anschluss noch über die Gebote ging. Auch hier bekam ich eine neue Sichtweise. Er sagte mir, dass auch eine andere Übersetzung aus dem Hebräischen möglich sei. Man könne das Wort „du sollst“ auch durch „dann wirst du“ ersetzen. Dann ergibt es den Sinn: „Wenn du Gott über alle Dinge liebst, keine anderen Götter hast, seinen Namen nicht missbrauchst und den Feiertag achtest, dann wirst du deine Eltern lieben und ehren, dann wirst du nicht töten, dann wirst du nicht ehebrechen, nicht stehlen und lügen, dann wirst du nicht die Habe deines Nächsten begehren. Du wirst nur aufgefordert Gottes Geschenk, sprich seine Liebe und das Leben, anzunehmen, dann ergibt sich alles andere von selbst, dann bist du frei. Gottes Gebote sprechen dich frei.“. Wenn ich jetzt noch mal betrachte, was ich bis jetzt in diesem Kapitel diktiert habe, ließt sich das wie eine Predigt. Aber unwichtig ist dieses Kapitel beim besten Willen nicht. Gerade auf diesen Seiten ist nachzulesen, welcher Wandel sich in mir vollzogen hat. Und wenn jemand den Eindruck hat, dass ich damit aufrufen wolle mir zu folgen, dann hat er auf keinen Fall unrecht. Mit der Niederschrift meiner Biografie ein Wenig zu missionieren, ist meine hundertprozentige Absicht. Trotzdem spricht jetzt nichts dagegen, wieder zum irdischen Geschehen zurückzukehren. Zum Abschluss unseres Gespräches ging es um die Verfahrensweise meines „Überganges von der einen zur anderen Seite“. Thomas meinte, dass es diesbezüglich zwei Dinge gäbe: Einmal der Wechsel des Kirchensteuerzahlers Walter Heuer von der römisch-katholischen Kirche zur evangelischen Landeskirche und zum anderen der Eintritt des Zachäus 2001 in die Gemeinde. Ersteres wäre ein weltlicher formaler Akt, den ich sogar am Amtsgericht beurkunden lasse müsse. Der wäre an Fristen gebunden und käme erst mit dem Jahreswechsel zum Tragen. Das hätte aber nichts damit zu tun, dass er mich nicht taufen würde, wenn ich das wollte, und wenn ich das Abendmahl haben wollte bekäme ich es von ihm ohnehin sowieso, gleichgültig ob und auf welcher Steuerzahlerliste ich oder andere stehen würden. Ich wäre ja jemand der anklopfe und den er nach den Worten unseres Herrn nicht wegschicken dürfe. Da dürften sich die Schrifttheologen in den Landeskirchen ruhig die Köpfe drüber heiß reden, er würde nach seinem Glauben entscheiden. Und der würde ihm sagen, dass er niemanden, der hilfe-, ratsuchend oder bittend zu ihm käme abweisen dürfe. Jetzt waren wir soweit; es fehlt nur noch ein Termin. Thomas blätterte in dem schlauen Büchlein, das wusste was er so vorhatte und kam auf den 15. Juli 2001. Mir war der Tag zunächst unsympathisch, da dieses auch der Tag gewesen wäre, an dem Carmen ihren 50. Geburtstag gefeiert hätte. Aber es ging nicht anders, denn die vorhergehenden
Gottesdienste waren „verplant“ und danach wäre auch Thomas erst mal mit seiner Familie drei Wochen in Urlaub gewesen. Nicht nur das, auch Beate und ich hatten etwas in der Richtung angedacht, denn mein Schatz hatte eine logische Gleichung aufgestellt: Was dem Pastor recht ist, kann der Gemeindesekretärin billig sein. Bei dieser Gelegenheit könnte dieser oder jener stutzig werden und sagen: „Was denn, du bist ein reicher Mann und lässt deine Partnerin arbeiten? Damals bei deiner Anni hast du das aber anders gesehen.“. Wenn wir damals ansprechen, muss ich das leider bestätigen. Aber es war ja auch ein großer Fehler, aus dem sich dann der Rest meiner „schiefen Lebensbahn“ entwickelte. Heute nehme ich Menschen, gleichgültig ob Mann oder Frau, wichtiger; sogar als das Wichtigste. Für mich kommt es nicht in Frage, dass ich meiner Beate hinsichtlich ihrer Entscheidung der Arbeit nachzukommen, in der sie eine Erfüllung sieht, in der sie sich nach ihrer eigenen Meinung entfalten kann, irgendetwas im Wege stelle. Sie hat so entscheiden und das ist für mich uneingeschränkt verbindlich. Na ja, der 15. Juli zog herauf und ich sah die ganze Sache gelassen an. An diesem Sonntag machte ich mich, auch mit einem bisschen innerer Unruhe, zusammen mit Beate und unseren Nachbarn, den Steinmars, eine Viertelstunde eher auf dem Weg zum Gottesdienst. An gewöhnlichen Sonntagen sitzen wir immer eher in der Kirchenmitte, also weder vorne auf den Konfirmandenplätzen noch hinten auf den Büßerbänken. Heute musste ich, der Täufling, aber ganz vorne auf der ersten Bank platz nehmen. Etwa 5 Minuten später wusste ich, dass hinter meinem Rücken mächtig gekurbelt worden sein muss, denn rechts nehmen Beate und mir nahm das letzte katholische Paar der Familie, mein Bruder und Rosi, die Sitze ein. An meiner linken Seite saßen Hendrik, Silvia und Ernst August Steinmar. Oma Steinmar war draußen geblieben um sich um die beiden Enkelkinder, die ohnehin von dem Geschehen nichts mitbekommen hätten, spazieren gehender Weise zu kümmern. Aber noch ein Paar war da: Anna Lena und Peter Görel, Beates Kinder. Die waren schon einen Tag vorhergekommen und hatten auf dem Steinmarhof übernachtet, damit ich nichts davon mitbekam. Dann hörte ich hinter unserem Rücken eine Gruppe von Leuten hereinkommen: Es war die fast vollständige derzeitige Bewohnerschaft des Anna-Katharina-Hauses. Als ich mich nach diesen umschaute erblickte ich dann noch Ramona mit ihrem Freund, den ich an diesem Tage allerdings zu ersten Mal sah, sowie Ralf und Susanne, Ramonas Kinder. Hat da doch jemand die komplette Schar der Leute, die mir sehr nahe stehen oder standen zusammengetrommelt. Meine Gedanken waren jetzt in diesem Moment: Hoffentlich hat der oder diejenige auch daran gedacht, dass ich, der nichts wusste und ahnte, so auch nichts hinsichtlich eines Empfanges vorbereiten konnte. Zur Übeltäterschaft bekannten sich später drei Damen mit Namen Beate, Silvia und Rosi und für das Management einer anschließenden „Tauffeier“ konnten sie einen einzelnen Herrn namens Hendrik gewinnen. Noch vor dem Orgelvorspiel „verklickerte“ mir Hendrik mit Flüsterton: „Anschließend lade die Leute vom AnnaKatharina-Haus in den Gemeindesaal ein. Da wartetet ein Festimbiss auf sie. Gehe erst mit und halte eine kleine Tischrede, denn die glauben das käme von dir. Und dann kommst du auf den Hof, wo du die komplette Familie triffst. Da gibt’s auch „Ackerhohl“ und deshalb habe ich es getrennt gemacht. ... Das verstehen aber die Anna-KatharinaLeute.“. Mehr konnte er nicht sagen und ich konnte auch nichts zurückfragen, denn das Orgelspiel hatte inzwischen angesetzt. Na ja, aufgrund meiner Aufregung habe ich an diesem Sonntag nicht viel vom Gottesdienst mitgekriegt. Ich weiß nur, dass es in der Predigt, wie naheliegend, um Zachäus ging. Nach dem Gottesdienst lud ich wie aufgetragen die Leute aus dem Sanatorium in den Gemeindesaal ein. Schon als ich dort reinkam sah ich, dass Hendrik für ein reichliches Kaltes Büfett und diverse Fruchtsäfte Sorge getragen hatte. Jeder zweite von ihnen sagte, dass er heute das Mittagessen im Heim stehen lassen würde. Die besser als ich informierten Mitarbeiter trösten sie aber, dass man, weil ja festgestanden habe, das alle mitwollten auch der Köchin freigegeben habe. Mir sagten sie im Anschluss, dass tatsächlich alle ohne Ausnahme meiner Einladung zum Taufgottesdienst gefolgt seien; auch Andersgläubige und Atheisten. Das hätten alle gerne getan, denn wenn es mich nicht gäbe, wäre das Heim nicht mehr und somit wären sie jetzt ohne mich alle „beschissener“ dran. Durch den Gottesdienstbesuch wollten sie es mir danken. Von dem Imbiss hatte man extra nichts gesagt. Irgendwie rührte es mich, denn wieder einmal merkte ich, dass, wenn man den Menschen etwas gibt, es immer überreichlich zurück bekommt. Und das, was dann am Menschlichen zurückschwappt macht einen glücklicher als das Vermögen des reichsten Mannes der Welt. Ich hielt mich etwa eine Stunde bei der Gesellschaft im Gemeindesaal, zu der sich auch die Familie Völler gesellte, auf und dann ging ich hinüber zum Steinmarhof. Die Pastorenfamilie wollte nachkommen, wenn die Anna-KatharinaGesellschaft abgezogen sei. Sie wollten aber mit den Heimbewohnern essen und deshalb sollte mit dem Taufschmaus nicht auf sie gewartet werden. Auf dem Hof schnappte ich mir zuerst mal meinen Sohn: „Mensch Junge, was bekommst du denn von mir?“. Für heute tat er es mit einem Scherz ab: „Ach, wir wollen doch am Sabbat keine Geschäfte machen und außerdem möchte ich jetzt nicht erschlagen werden, denn billig war es nicht. Also machen wir es Morgen, damit ich noch lebend mitfeiern kann.“. Jetzt kam aber doch noch der Moment, wo bei mir Rührungstränen flossen. Fast alle, die nicht in Ulkerde wohnten, hatten irgendwie umdisponiert um mir die Ehre zu erweisen. Jürgen, der erste Vorsitzende des SG Seetal, wäre eigentlich übers Wochenende auf einer Saisonabschlussfahrt seiner ersten Mannschaft, die einen Aufstieg geschafft hatte, gewesen. An seiner Stelle war jetzt sein Stellvertreter mitgefahren und so konnte er zu meinen Ehren kommen. Anna Lena und Peter Görel waren eigentlich auf dem Weg in den Urlaub, den sie in Dänemark verbringen wollten. Zwar war ein Zwischenstopp am Freitagabend in Ulkerde eingeplant, aber als Anna Lena von ihrer Mutter, allerdings ein paar Tage vorher, erfuhr das ihr zukünftiger Stiefpapa getauft werde, unterbrachen sie die Reise für ein paar Tage.
Erst am folgenden Montag setzten sie ihre Reise fort. Ramona und ihr Freund hatten einen Busausflug nach Amsterdam gebucht und diesen storniert, um bei mir dabei zu sein. Ja, so etwas sind glückliche Momente, die das Leben anreichern. Frau Steinmar, so wie ich sie bis heute nannte, war zusammen mit Silvia und Beate in der Küche mit der tischfertigen Aufbereitung des angelieferten Menüs beschäftigt. Als ich die Küche betrat um mich schlau zu machen was mein Sohn in meinem Namen organisiert hatte war ich einen Augenblick mit der Schwiegermutter meines Sohnemannes allein im Raum. Sie nutzte den Augenblick um auch noch etwas loszuwerden: „Zachi ist dir eigentlich aufgefallen, dass wir die beiden Einzigsten in der ganzen Verwandtschaft sind die sich Siezen? Also ich bin Anneliese, wie du weißt. Eigentlich wollte ich es bei einem Menschen, der sich nicht um die Hochzeit seines Sohnes kümmert und stattdessen ein Lotterleben führt, dabei belassen. Aber dieser Mensch war nur dein Abbild, der wahre Mensch ist erst jetzt zum Vorschein gekommen ... Und du bist ein wunderbarer Mensch.“. Danach bekam ich einen Kuss auf die Wange. Wie sie es gesagt hatte bewegte es mich doch sehr. In Etwa die gleiche Zielrichtung hatte das, was mir Rosi im Laufe des Nachmittags sagte: „Ab sofort bist du bei mir auch Zachi. Du bist nämlich nicht mehr der Walter mit dem ich mal verheiratet war. Jetzt bist du Zachi, mit dem ich einen Sohn habe ... und darauf bin ich stolz. Wie konnte es nur angehen, dass du Jahrzehnte lang den wahren Menschen hinter einer bösen Maske verstecktest? Den wahren Menschen, derjenige der du wirklich bist, sieht man erst jetzt. Und das deine jetzige Erscheinung die wirklich wahre ist, sieht man an der Wesenverwandtschaft mit unserem Sohn. Hendrik ist ganz anders wie ich und kann auch nicht mit dem Walter Heuer, mit dem ich mal verheiratet war, verglichen werden. Aber mit dir Zachi ist er absolut wesensgleich ... ihr seid wunderbare Menschen. Da habe ich dieser Tage auch mit Jürgen drüber gesprochen und der sieht das genauso wie ich. Zusätzlich meinte er, dass, wenn er sich richtig entsinne, du, als du noch ein Kind warst, eher der heutigen Art entsprochen hättest und das du so auf euere Mutter kommen würdest. Wie kann nur ein Supermensch seine wahre Identität so lange verstecken?“. Ich nahm sie in den Arm und musste schon wieder ein paar Tränen kullern lassen. Offensichtlich hatte Jürgen mit seinen Erinnerungen an meine Kindheit recht, denn ich hatte immer schon nah am Wasser gebaut. Heute würde man sagen, dass ich schon immer ein Softi gewesen sei. Wenn man mit Himmel, das ewige Leben, die Gemeinschaft mit Gott versteht, dann gibt es in der Tat keine Eintrittskarte in dieses Reich. Sollte man jedoch ein Hoch an irdischen Empfinden darunter verstehen, dann war meine Taufe ausnahmsweise doch eine Eintrittskarte in den Himmel. Eigentlich wird in der heutigen Zeit einer Taufe bei Weitem keine allzu großes Bedeutung, so wie bei meiner Taufe zugemessen und gerade aus diesem Grunde wird mit dieser, für mich außergewöhnliche Tag, an dem ich eigentlich „nur“ ein Zeichen setzen wollte, wohl immer als einer der glücklichsten meines Lebens in Erinnerung bleiben. Mit den aus dem Karneval bekannten Mainzer Hofsängern hätte ich am 15. Juli uneingeschränkt „So ein Tag, so wunderschön wie Heute“ singen können. Zum Kapitel 37
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Wenn ein alte Bekannte nicht wieder erkennen Wozu brauchen Rentner, Pensionäre, Arbeitslose oder reiche Aussteiger eigentlich Urlaub? Wo sie ja doch keine Arbeit haben können die doch sowieso jeden Tag Urlaub machen. Oder liege ich da falsch? Das kommt natürlich darauf an was man unter dem Begriff „Urlaub“ versteht. Versteht man darunter eine Arbeitsunterbrechung während der dem Betroffenen die überwiegende Zeit zur freien Verfügung steht, könnte man sagen, dass ich mit meiner anfänglichen provokatorischen Behauptung recht gehabt habe. Versteht man darunter aber einfach mal raus aus dem alltäglichen Trott, mal was anderes sehen und erleben, dann kann es auch für Berufsurlauber und Tagediebe so etwas geben was man bei der, einer regelmäßigen Beschäftigung nachgehenden Bevölkerungsschicht Urlaub nennt. Das Andere sehen, das Andere erleben führt zur Regeneration, bewirkt eine Erholung. Daraus kann man schließen, dass bei einem Berufsurlauber drei Wochen richtig Arbeiten zur Erholung führt und umgekehrt der gleiche Effekt bei einem Schwerstarbeiter durch drei Wochen Nichtstun erreicht wird. Das ist sogar richtig. Da habe ich kürzlich mal eine nette Geschichte gelesen wie ein reicher Mann, der den ganzen Tag in der Hängematte lag und sich bedienen ließ, für eine kurze Zeit mit einem Holzfäller tauschte und anschließend waren beide gesünder und glücklicher. Was macht man aber wenn ein reicher Aussteiger, der zur Gattung der Nichtstuer zählt, und eine Gemeindesekretärin, die täglich ihrer Pflicht nachkommt, gemeinsam Urlaub machen wollen. Man merkt schon worauf ich jetzt hinaus will: Auf Beates und meinen Urlaub. Wir fanden jedoch eine Lösung, die wir für uns fast ideal hielten. Erstens wollten wir einen deutlich spürbaren Ortswechsel vollziehen, das heißt, raus aus den Mittelgebirge und ran an die See. Zum anderen wollten wir den Spieß rumdrehen. Beate, die neben ihrer Arbeit im Gemeindebüro noch unseren kompletten Haushalt schmiss, sollte sich mal ganz dem Müßiggang hingeben und ich wollte sie verwöhnen und umsorgen. Diese Überlegung schließt eines von vornherein aus: Die Unterkunft in einem Hotel, da der übliche Service meine Absichten zu einem Lippenbekenntnis machen würde. Wir mussten stattdessen in einen Ferienbungalow ziehen. Das ist noch nicht alles, denn wir mussten, um nicht all die guten Absichten wieder wegzurationalisieren, auch einen Bogen um Restaurants machen. Das Umsorgen muss sich selbstverständlich auch auf das Kochen beziehen. Dahingehend tat sich aber bei mir im Vorfeld ein Riesenproblem auf: Ich konnte nicht kochen.. Beate glaubte aber darin eine Lösung zu sehen, dass sie unter Anweisungen keine Arbeit sondern Müßiggang verstehen wollte. Geplant und ausgeführt. Vom 21. Juli, dem Samstag nach meiner Taufe, bis einschließlich 5. August fuhren wir in ein Ferienhäuschen an der Kieler Bucht. Ich nahm mein Vorhaben sehr ernst. Der Tag begann immer damit, dass ich als erster aus dem Bett huschte und nach dem Duschen das Frühstück zubereitete, was ich anschließend Beate ans Bett brachte. Nach dem Frühstück stand Beate auf und stellte sich unter die Dusche, wo ich sie, natürlich auch ein Wenig nicht nur für mich lustbringender Weise, von Kopf bis Fuß mit Duschgel abwusch. Während Beate sich die Haare machte zog ich mich an und sie machte das Gleiche während ich das Frühstück abräumte. Dann ließ ich mir von Beate meinen täglichen Einkaufszettel zusammenstellen und trollte, so bald mein Supermarktkurszettel fertig war, zu einem, etwa 1 Kilometer entfernten, Diskontmarkt und holte alles was wir in den nächsten 24 Stunden brauchten ein. Während der Einkaufszeit legte ich vor der Hütte unter dem Vordach die Betten aus und machte diese bei meiner Rückkehr. Jetzt war für uns erst mal der Zeitpunkt für einen kleinen Morgenspaziergang angesagt, dem dann mein Kochunterricht folgte. Ganz so wie gedacht - mit nur Anweisungen - ging es allerdings nicht. Beate musste doch hier und da zugreifen und mir so manches zeigen. Aber mit der Zeit wurde aus einem echten Küchentrottel schon ein ganz brauchbarer Küchenhelfer – allerdings auch nicht mehr. Na ja, es ist noch kein Koch vom Himmel gefallen. Dafür ließ ich mir das alleinige Tischdecken und Servieren nicht nehmen. Abweichend zum Alltag in Ulkerde führten wir während des Mittagsessens nicht überwiegend nützliche Gespräche sondern albernd dabei kräftig rum. Auch nach dem Essen hielt sich Beate nicht an die Vereinbarung, dass nur ich der dienende Hausmann sei, sondern packte beim Tischabräumen, Spülen und bei der anschließenden Stubenreinigen kräftig, aus meiner Sicht fast zu kräftig, mit an. Danach kamen dann unsere großen Spaziergangs- und Ausflugsaktivitäten an die Reihe. Mal ging es am Strand entlang, mal in die Dörfer und mal ins Hinterland. Es konnte auch sein, dass wir uns erst das Auto schnappten und zum Beispiel nach Heiligenhafen, Timmendorfer Strand oder Fehmarn fuhren. Zwischen Sieben und Acht waren wir wieder zurück in unserem Domizil und dann gab es mal ein von mir zubereitetes Abendbrot im Ferienhaus und mal besuchten wir einen der beiden nahegelegenen einfachen Gasthäuser mit Speisemöglichkeit. Wenn wir im Gasthaus waren blieben wir immer zu ein paar Bierchen dort und im Ferienhaus kam immer ein Fläschen ganz normalen Tischweins, also nichts edles, auf den Tisch. Zum Tagesabschluss gab es immer ein gemeinsame Duschen, dem der „Sprung in die Falle“ folgte. Zum Rest vor dem Schlafen sage ich hier nur „Ole, oh lala“. Wenn mich jemand, der mich aus der Zeit von vor meiner Verwandlung zum Zachi Zachäus kannte, bei diesen Tagesabläufen beobachtete, musste demjenigen doch einiges sehr seltsam vorgekommen sein. Dieser Leser oder jene Leserin mag jetzt den Eindruck haben, dass ich soeben das Wörtchen „hätte“ vergessen habe, also das „wenn mich jemand beobachtet hätte“ wohl treffender formuliert sei. Aber nein, ich wurde doch tatsächlich von ehemaligen Bekannten beobachtet. Schon am zweiten Tag schaute mir jemand, der mir sofort bekannt vor kam aber den ich nicht näher beachtete, auf dem Wege zum Supermarkt nach und als ich bepackt wieder rauskam, war er immer noch da und schaute mir interessiert zu. Jetzt erkannte ich ihn richtig. Es war Herr Wolters, der zu meiner Leipziger Zeit dort als Assistent des Managements beschäftigt war. Obwohl er aus meiner damaligen Managersicht hervorragende Arbeit
leistete mochte ich ihn wegen seiner gekünzelten Gestik und Ausdrucksweise nicht leiden. So was gibt es, dass man, selbst einen bornierten Affen darstellend, einen anderen wegen eben denselben, allerdings etwas übertriebenen, Eigenschaften nicht leiden kann. An unserem dritten Ferientag trieb ihm wohl die schadenfrohe Neugierde dazu, mich auf dem Wege zum Supermarkt abzupassen. Auch jetzt sagte er noch nichts und wartete erst einmal ab, bis ich das Haus wieder verließ. Auf der Straße sprach er mich dann an: „Ach Herr Heuer, ich hätte sie beinahe gar nicht wieder erkannt. Wie geht es denn? Ich habe gehört sie hätten viel Pech gehabt.“. Wo will der Heuchler denn von dem Pech, was ich in dem Sinne, wie er es offensichtlich meinte, gar nicht gehabt habe, gehört haben? Aus meinem Hausmannsfleiß schloss der wohl, ich sei verarmt. Ich dachte mir: „Warte Männekien, dir binde ich jetzt einen auf“ und legte etwas überschwänglich los: „Ach Wolters, sind sie immer noch im zweiten Leipziger Glied? Ich habe sie gestern gleich erkannt und dachte mir, es wäre ihnen unangenehm wenn ich sie anspreche. Was ihre Frage angeht, kann ich ihnen sagen, dass es mir prächtig geht. Das heißt, ich könnte einen kleinen Tick haben. Ich bin immer noch so reich wie früher. Im Betriebsklatsch werden sie ja sicher erfahren haben, dass ich mir mein damaliges Pöstchen gekauft habe und dass man mich, als ich mein Geld wieder aus dem Laden rausholte, los sein wollte. Erst wollte ich mich rächen ... aber das wäre zu teuer gewesen. Und jetzt mache ich eigentlich nur das, was mir Spaß macht ... und wenn es dummes Zeug ist. Und wie geht es ihnen und wie kommen sie hier her?“. Da wir ja Beide in keinem besser eingestuften Badeort waren und es hier noch nicht einmal ein Hotel gab, glaubte ich ihn im Gegenzug getroffen zu haben. Aber jetzt hatte ich falsch spekuliert, denn ihm gehörte eine kleine Villa, das beste Haus am Ort, dass er sich als „Sommersitz“ zugelegt hatte und im Fischereihafen lag seine Yacht. Bei einer Aktiengesellschaft mit Sitz in München war er Vorstandsvorsitzender. Die erste Runde ging also klar an Wolters und ich war schon krampfhaft am überlegen, ob ich ihm noch ohne zu prahlen etwas schlagfertig entgegensetzen konnte. Da kam mir doch prompt der Zufall zur Hilfe und entgegen. Ich hatte, als ich zum Einkaufen loszog, mein Handy vergessen. Wie es so ist kam jetzt ein dringender Anruf, und zwar von dem Anwalt unserer Carmen-di-Stefano-Stiftung. Zwar war die Sache, um die es ging, nicht weltbewegend aber er benötigte meine Auskunft für einen Termin, der ihm in der nächsten Stunde bevorstand. Beate hatte den Anruf entgegengenommen und kam mir nun zur Abkürzung der Wartezeit auf den Rückruf mit dem Handy entgegen. Sie kam auf uns zu und sagte locker, bereits aus ein paar Meter Entfernung: „Zachi, dein Justiziar kommt mal wieder nicht ohne dich aus und genau dann vergisst du dein Handy.“. Ich machte die beiden miteinander bekannt und ging erst mal zwecks Anruf ein Stück zur Seite. Währendessen scherzte Beate: „Ja, ja, der arme Zachi. Da will er das Geld was sein Geld verdient sinnvoll ausgeben und dann lässt man ihn noch nicht einmal im wohlverdienten Urlaub in Ruhe.“. Augenscheinlich hatte Beate durchschaut, wes Geistes Kind ihr Gegenüber war. Unser neugierige Wolters hinterfragte nun, wo ich denn das von meinem Kapital verdiente ausgeben wolle. „Och,“, sagte Beate, „Zachi hat mit einen kleinen Teil seines Vermögens zur Gründung der Carmen-di-Stefano-Stiftung, mit der er Therapieplätze für Alkoholiker schaffen und unterhalten will, gegründet. Dann finanziert er Kuren für asthmakranke Kinder und dazu kommen hier noch mal eine Kleinigkeit und da noch mal eine Kleinigkeit. Seine Villa in Waldheim hat er der Aids-Hilfe geschenkt und so weiter und so fort. Mein Zachi ist wirklich ein wunderbarer Mensch.“. Beate hatte das Ganze nur auf Grund ihres Stolzes auf mich „rausgepustet“ und den Rest hatte ich, inzwischen zur Gruppe zurückgestoßen, mitgekriegt. „Na Klasse,“, dachte ich mir, „diese Runde hast du voll gewonnen. Jetzt kannst du zum Knock out ansetzen. Den Niederschlag besorgte dann auch Beate sogleich, in dem sie ihm von unserer „Urlaubsvereinbarung“ erzählte. Sie schloss mit den Worten: „Ist zwar ein Bisschen verrückt aber ich finde es trotzdem nett.“. Da konnte ich dann auch noch meinen Teil dran hängen: „Ach, man muss ja ab und zu mal was Neues erleben. Zum ersten Mal in meinem Leben wohne ich in einem Ferienhaus und mime einen als Selbstversorger. ... Mäuschen, was hältst du davon, wir könnten es jetzt ja auch mal im Zelt oder auf einem kleinen Segelbötchen versuchen.“. Das reichte, entweder hielt er sich jetzt für total vereimert oder es erschien ihm so unwahrscheinlich, dass wir es nicht erfunden haben konnten. Ich bin davon überzeugt, dass der gleich aus seiner Villa in seiner Firma angerufen hat damit die über eine Auskunftei ermitteln lassen was mit der Type Walter Heuer los ist. Na ja, dann wird er sich wundern und sich mir gegenüber weiterhin als kleine Leuchte fühlen. Auf jeden Fall kommentierte er noch, bevor er sich verabschiedete: „Meine Güte Herr Heuer, sie haben sich aber verändert, man erkennt sie ja gar nicht wieder. Früher waren sie Geschäftsmann und heute sind sie Lebemann.“. Na ja, ich habe Wolters danach nicht mehr getroffen, was mich allerdings nicht böse stimmte. Ein Gespenst aus der Vergangenheit kommt selten allein und so trafen wir am ersten Donnerstag in Heiligenhafen eine weitere „Type“, allerdings nettere, aus meiner Managervergangenheit. Diesmal gab der erste Augenblick allerdings keinen Anlass zur neugierigen Schadensfreude, denn wir trafen uns auf einem Parkplatz in der Nähe der Anlegestelle des Fährschiffes, das die sogenannte Vogelfluglinie befährt – und auf einen Kleinwagen bin ich derzeitig noch nicht umgestiegen. Also sah ich gegenüber Schlüter-Cochem, im Gegensatz zu Wolters ersten Eindruck, nach wie vor noch etwas betucht aus. Dieser Schlüter-Cochem war ein Bankfiosi, der zu meiner Zeit der Beauftragte seinem „Syndikat“, sorry seiner Bank, für die Geldtransfers bei meinen Tätigkeiten als sogenannter Trouble Shooter war. Inzwischen war er beim dem gleichen Bankhaus, bei dem er damals schon war, der Chef einer größeren Niederlassung geworden und freute sich auf das Ende des kommenden Jahres, wo er in den verdienten Ruhestand treten würde. Schlüter-Cochem war auch besser informiert und hatte auch schon von meinen Gründungsinitiativen hinsichtlich der Carmen-di-StefanoStiftung gehört. Banker sind eben halt bei solchen Angelegenheiten immer auf höchstem Informationsstand. Deshalb
wollte er dann auch von mir wissen, ob ich wirklich der Walter Heuer sei, von dem er diesbezüglich in letzter Zeit gehört habe, denn ich sei gegenüber früher nicht wiederzuerkennen. Bis jetzt hatten wir nur auf dem Parkplatz gestanden und unser Small Talk gehalten. Zwischendurch schauten wir mal zu dem auslaufenden Fährschiff, was von unserem Standpunkt so aussah als würde das Schiff über Land fahren. Bei dieser Gelegenheit fragte Schlüter-Cochem: „Wollten sie nach Dänemark übersetzen?“. „Nein, nein.“, vergewisserte ich ihm, „Wir machen nur ein paar Tage Urlaub und wollten hier mal einen kleinen Spaziergang machen.“. Darauf berichtete er uns von dem Grund seines Daseins. Sein Enkel wäre Asthmatiker und würde sowohl die ganzen Sommerwie die Herbstferien auf Fehmarn verbringen weil die dortige Luft ihm Erleichterung verschafft und ihm hinsichtlich seines Gesamtzustandes gut täte. Er wäre jetzt nur kurz zu Besuch da und seine Tochter wäre mit dem Jungen in Heiligenhafen beim Arzt. Es läge zwar nichts Besonderes an, aber es würde ja in einem solchen Fall nicht schaden wenn man den Kranken auf alle Fälle mal vorstelle. Er habe seine Beiden hierher gefahren und warte nun auf deren Rückkunft. Das war für mich natürlich eine tolle Gelegenheit auf den Salvador-Heuer-Verein anzusprechen. Ich war sogar erfolgreich und konnte ihn als Mitglied mit einem stattlichen Jahresbeitrag gewinnen. „Donnerwetter, Herr Heuer,“, führte er anschließend aus, „wenn ich sie heute nicht getroffen hätte, würde ich solche Wesensänderungen wie bei ihnen in den Bereich der Fabel oder der religiösen Wundergeschichten abtun. Ihre Denkweise hat sich ins Gegenteil verkehrt. Bisher kannte ich sie nur als eiskalten, immer nur rational rechnenden Geschäftsmann. Jetzt lerne ich sie als Muster für Sozialwesen kennen. Dabei haben sie sich auch äußerlich verändert. Ich habe sie nie locker und entspannt, so wie jetzt, gekannt und dabei haben sie jetzt im Gegensatz zu früher einen freundlichen Gesichtsausdruck. Dagegen konnten man seinerzeit in ihrem, wie eine Maske wirkenden Gesichts, keine Gefühlsregung erkennen.“. Ich lächelte verlegen und erstmalig trat Beate ins Gespräche ein: „Entschuldigung Herr Schulte-Cochem, sie sagte eben, dass sie eine solche Wesensänderung wie bei meinem Zachi ansonsten in den Bereich der religiösen Wundergeschichten abtun würden. Das können sie auch ruhig. Zachi ist ein frommer Mann geworden, am vorletzten Sonntag ist er getauft worden und alle Leute bei uns nennen ihn Zachäus oder kurz und liebevoll Zachi nach einer Figur aus dem Neuen Testament.“. Jetzt war Schulte-Cochem einfach baff und wusste erst nichts drauf zu sagen. Später gestand er, das seine kurzfristige Wortlosigkeit darauf beruhte, dass er nicht ins Fettnäpfchen treten wollte, da zwischen einem aktiven Manager und einem „richtigen“ Christen ein Unterschied wie Tag und Nacht sei und ihm ein solcher Mensch noch nicht begegnet wäre. Er selbst wolle aber in dem Lager bleiben wo er wäre und könne den irrationalen religiösen Geschichten nicht folgen. Wer jetzt glaubt, ich hätte den Versuch ihn zu missionieren gestartet, der hat sich arg getäuscht. Das würde überhaupt nichts bringen. Man kann weder mit dem Schwert noch mit Demagogie und Rhetorik missionieren sondern nur dadurch, dass man sein Licht nicht unter dem Scheffel stellt. Wenn ich mit dem Schwert missioniere, werden die Leute aus Angst äußerlich was darstellen, was sie innerlich gar nicht sind. Es kommt aber nicht auf die einmal verfallende Hülle sondern auf den beständigen Kern an. Mache ich es mit Demagogie oder Rhetorik kommt es auf das Gleiche wie bei einer Wahlpropaganda heraus. Erst sind die Gehirnwindungen der Zuhörer blockiert durch die suggestive Wirkung der Worte aber je mehr Zeit vergeht wird auf biochemischen Wege in deren Oberstübchen aufgeräumt und dann ist alles weg. Wahlkämpfer können ja noch Glück haben, dass der Wahltag vor der Erledigung der Aufräumarbeiten fällt aber für Glauben und Überzeugung ist dieser Zeitraum zu kurz. Missionieren kann man nur mit Liebe und Taten in dieser. Mein glücklicher Gesichtsausdruck und meine Ausgeglichenheit, die er früher bei mir nicht kannte, sowie die ganz offensichtlich sich glücklich und wohl fühlende Frau an meiner Seite dürfte ihn in Zukunft öfters mal in Erinnerung kommen. Wenn der Herr will wird er dann suchen und fragen; dann bleiben auch die richtigen Wort bei ihm hängen. Allerdings bringt es auch nichts, wenn man wie eine ständig in weiß gekleidete Sektenführerin mit aufgesetztem Dauerlächeln durch die Gegend zieht, da die Leute letztlich die Lächelmaske des religiösen Fanatikers schneller durchschauen als das kalte, maschinenhafte Pokerface des Moneymakers. Aber ich kam mit meinem Gesprächspartner auch auf die Dinge, die eher meinem früheren als meinem jetzigen Leben zuzuordnen sind, zu sprechen: Geld und Vermögen. Er sprach die teilweise recht massiven Kursverluste an der Börse, insbesondere von einst hoch gejubelten und jetzt zu den Pennystocks verkümmerten Werte am neuen Markt, in den letzten anderthalb Jahren an. Ich vertrat die Meinung, dass dieses in Folge eines, mit der T-Aktie aufgekommenen irrationalen Aktienrausches absolut vorhersehbar gewesen wäre. Kein Mensch fragte in jener Zeit (am 17.11.96 wurde die T-Aktie eingeführt) nach realen Marktentwicklungen in Abhängigkeit von Kaufkraft und Beschäftigungsgrad. Entwicklungen von Produktivität und Wertschöpfung waren für viele Börsenyuppies unbekannte Größen. Nach der Devise „Hauptsache die Kurses steigen“ hinterfragte niemand welche Dividenden (Gewinnausschüttungen) zu erwarten seien. Mancher bürostuhlquälender Sachbearbeiter wollte anstelle seines mühsam erarbeitenden Angestelltensalers lieber einen Millionenregen von der Börse sehen. Zum Höhepunkt des Börsenrausches standen in jeder Dorfkneipe die Hyperexperten, die einen noch nicht einmal einfachste Begriffe aus dem Brokerjargon übersetzen konnten. In den Medien peitschten Geldpharisäer den Leuten die Tricks ein, wie sie unheimlich reich werden können. Niemand fragte, warum die sich die Arbeit machten mit ihren Kommentaren und Analysen ihre Brötchen zu verdienen statt mit ihren Weisheiten am Bankschalter duselig reich zu werden. Das führte zu Mondkursen die logischer Weise irgendwann mal
wieder zur Bereinigung auf ein Normalmaß geführt werden müssten – und nichts anderes seien die derzeitig bejammerten Kurseinbrüche. Jetzt wollte er doch was wissen: „Sie sehen das alles so gelassen, Herr Heuer. Durch die Kursverluste sind doch auch sie ärmer geworden?“. „Es kommt darauf an wie man dieses sieht.“, antwortete ich ihm, „als ich in meine Laufbahn einstieg war ich nicht einmal Millionär und heute bin ich Multimillionär. Vom Ausgangspunkt hergesehen bin ich immer reicher und nie ärmer geworden. Außerdem bin ich an einem Tag X vom Vermögensbeschaffer auf einen Bezieher von Einkommen aus seinem Vermögen umgestiegen. Als fauler Mensch bin ich dann ... bekommen sie jetzt aus ihrer fachlichen Sicht kein Schrecken – auf ‚pflegeleichte’, meist sichere Anlagen umgestiegen. Vielleicht kriegen sie jetzt einen Schock, wenn ich ihnen sage, das fast 30% meines Vermögens in langfristigen festverzinslichen Anlagen steckt. Mich interessieren heute Kursverläufe so gut wie gar nicht mehr aber dafür Zinsen, Dividenden und andere Gewinnausschüttungen um so mehr. Das wirft im Jahr immer noch mehr ab, als ein guter Angestellter in mehr als 10 Jahre verdienen kann. Für mich hat es den Vorteil, dass ich mich kaum darum kümmern muss, ich brauche mir keine Sorgen zu machen und dafür kann ich mich ganz gelassen und sorgenfrei meinen ganz privaten Interessen widmen.“. Man sah es Schlüter-Cochem richtig an, dass meine Ansichten zwar seinen Theorien widersprachen aber ihn trotzdem mächtig imponierten. Inzwischen waren seine Tochter, eine attraktiv rausgeputzte aber bei näheren Hinsehen einfache Dame, und sein arg blasswirkender Enkel erschienen. Wir wurden uns noch gegenseitig vorgestellt, wechselten noch ein paar allgemeine Worte und danach gingen beide „Gruppen“ ihren ursprünglich vorgesehenen Wegen nach. Beate wollte anschließend etwas von mir wissen: „Ich habe jetzt diesen Walters ... oder Wolters und diesem Schlüter-Cochem kennen gelernt. Das sind ja Leute aus deinem früheren Umfeld. Dich habe ich ja erst kennen gelernt, als du schon der Zachäus, mein Zachi, warst. Wem von den Beiden hättest du denn früher eher entsprochen?“. Ich überlegte kurz und sagte: „Wolters ist von neidischer Eifersucht getrieben. Der würde am Liebsten Bill Gates von seinem Thron schmeißen. Schlüter-Cochem setzt sehr oft menschliche Vernunft anstelle algorithmischer Logik. Beides sind aber menschliche Eigenarten mit der man sich einer gewissen Karriereschallmauer nähern kann – aber auch nicht mehr. Mit Beiden hatte ich nichts gemein, ich war im Geschäft ein lebender Computer und nur im stillen Kämmerlein ab und zu mal Mensch. Nur so kommst du bis zu dem Zeitpunkt, wo du durch freiwilliges Runterfahren oder durch Abschalten veranlasst durch deine ‚Gegner’ oder Tod eliminiert wirst zu immer mehr. Bei mir trafen teils zum Glück freiwilliges Runterfahren und gegnerische Abschalten irgendwie zusammen. Ich bin mit Beiden nicht zu vergleichen; ich war unmenschlicher.“. Beate sah mich lächelnd an und sagte freundlich: „Kein Wunder, dass dich deine alten Bekannten nicht wieder erkennen konnten. Als sie dich kannten warst du eine auf biochemischer Basis funktionierende Maschine und jetzt ist der wunderbare Mensch, der du in Wahrheit bist, aus einer Scheinwelt ins Leben getreten. Da ist man dann schwer zu erkennen.“. Leute die gerne mit den teils unnützen Sprichworten operieren kennen das meistgebrauchte Schlagwort aus dieser Gattung: Alle guten Dinge sind drei. Na ja, während unseres Ostseeurlaubes bewahrheitete sich dieses allerdings mal wieder. Schließlich gibt es dafür auch eine nicht kleine Wahrscheinlichkeit. Am Mittwoch unserer zweiten Woche hatten wir beschlossen, in einem der beiden Gasthäuser zum abendlichen Lunch einzukehren. Zuvor muss ich noch berichten, dass Beate im Mai dieses Jahres dafür Sorge getragen hatte, dass ich mich mit legerer Freizeitkleidung eindeckte. Also ich besaß jetzt auch Jeans und bunte Hemden, auf denen eine Krawatte nur beißen würde und je ein Exemplar zog ich an diesem Abend an. Jetzt gingen wir in dieses einfache Gasthaus setzten uns an einen der Tische, die nicht durch eine Tischdecke bedeckt war – das gab es in der „Kneipe“ gar nicht. Ich bestellte mir ein „ordinäres“ Bier und Beate ein Krefelder. Eine Speisekarte brauchte man uns nicht zu bringen, denn wir bestellten das, mit Kreide auf einer Schiefertafel ausgewiesene Tagesmenü: Eine Bratkartoffelpfanne mit Speck und Spiegelei. Während wir auf das Essen warteten scherzten wir beide munter vor uns hin. Da trat eine, etwa 40-jährige Dame, die zwar auch zuvor in der Gaststätte war aber von mir nicht beachtet worden war, unter anderem weil sie uns mit dem Rücken zugewandt saß, an unseren Tisch und fragte schüchtern: „Entschuldigung sind sie Herr ...“. Weiter kam sie nicht, denn ich begrüßte sie: „Ach, guten Tag Frau Lorenz, schön sie mal wiederzusehen. Wie geht es ihnen denn ... nehmen sie doch bitte Platz.“. Damit war die Frage einer unserer ehemaligen Sekretärinnen aus meiner Leipziger Zeit beantwortet: Ich war Herr Heuer, den sie bisher nur in steifer Banker- und Manageruniform mit Pinkelmanieren kannte. Ich saß jetzt als normaler, vernünftiger, Urlaub machende Mensch vor ihr. Das war für sie so unglaublich, dass sie, wie sie selbst sagte, direkt einen Zwang nach einer Rückfrage verspürte. Sie setzte sich nur kurz an dem Tisch, weil an ihrem ursprünglichen Platz noch ihr Mann mit einem befreundeten Ehepaar zusammen saß. Diesen kurzen Moment, den sie bei uns verbrachte, nutzte sie doch zur Befriedigung ihrer Neugierde durch die Hintertür: „Wie ist es ihnen denn ergangen nachdem sie uns verlassen haben, Herr Heuer?“. Wie sie fragte merkte man gleich heraus, dass diese Frage gleich darauf hinaus lief ob ich vielleicht verarmt sei. Im Gegensatz zu dem Herrn Wolters sah ich bei ihr keine Veranlassung mit ihrer Wissbegierde zu spielen und antwortete direkt: „Erst gar nicht so gut. Mir ist privat einiges schief gelaufen aber davon habe ich mich bestens erholt. Am 2.2.02 werde ich diese phantastische Frau neben mir heiraten. Inzwischen bin ich schon zwei Mal Opa geworden und mein Stiefenkelkind ist unterwegs. Und sie wollen sicherlich wissen, wie es mit meinem Vermögen aussieht ... ob ich verarmt bin? Nein, dass bin ich nicht. Ich bin noch fast so reich wie damals. Das was ich weniger habe, habe ich nur deshalb weniger, weil ich es für gute Zwecke verschenkt habe. Aber keine Angst, so viel, dass ich nicht mehr reich wäre, ist es auch nicht.“.
„Entschuldigung Herr Heuer so war das nicht gemeint“, versuchte sich Frau Lorenz jetzt rauszureden. „Warum denn nicht?“, fragte ich jetzt zurück, „Es ist doch ganz natürlich, dass man, wenn plötzlich jemand den man als Bilderbuchmanager kannte plötzlich als ganz normaler Mensch vor einen auftaucht, als Erstes daran denkt, der könne verarmt sein. Damit muss ich halt leben. Trotzdem mache ich, der entdeckt hat wie schön das Leben sein kann, jetzt keinen Rückwärtsschritt. Ich genieße jetzt mein Leben.“. Sie hatte einen vollkommen erstaunten Gesichtsausdruck und sagte: „Na ja, ich habe immer noch fast den gleichen Job wie damals. Was sich geändert hat war nur betriebsorganisatorisch bedingt ... ich bin weder rauf noch runter gerutscht. Aber ich bekomme jetzt ein Problem. Wie ich mich kenne, kann ich nicht bei mir behalten, dass ich sie getroffen habe ... und wie ich sie getroffen habe. Und dann erklären mich alle für verrückt, denn das der Herr Heuer ein ganz normaler Mensch ist, glaubt mir kein Mensch. „. Nachdem sie ein Wenig gelacht hatte fügte sie noch an: „Entschuldigung Herr Heuer, das meinte ich eben nicht böse. Ich habe es sogar als Kompliment gemeint. Ehrlich gesagt, konnte ich sie früher nicht leiden und jetzt finde ich, dass sie doch ein ganz netter Kerl sind.“. Als sie dieses gesagt und ich mich bedankt hatte, errötete sie doch ein Wenig, was man auch so deuten kann, dass sie, obwohl es ihr peinlich war, ihre wahren Gefühle nicht bei sich behalten konnte. Mein Ego war aber dadurch schon wieder ein Stück gewachsen. Soweit die Begegnungen, die zugleich die herausstechenden Ereignisse eines wirklich tollen Urlaubes, den zumindestens ich so ganz anders wie alle vorherigen Urlaube beging, waren. Während der Rückfahrt fragte Beate mal, welche Überschrift ich dem Urlaub geben könne. Ich hob erst darauf ab, dass ich sie nichts tuender Weise verwöhnen wollte. Aber irgendwie gelang mir die Formulierung nicht. Da meinte sie, ich soll es doch mal hinsichtlich des Zusammentreffens mit den ehemaligen Mitarbeitern beziehungsweise Geschäftspartners versuchen. Spontan sprudelte aus mir „Wenn ein alte Bekannte nicht wieder erkennen“ heraus. Sie lachte und antwortete: „Dann liegt das daran, dass aus dem Geldmacher Walter Heuer mein lieber Zachi Zachäus geworden ist.“. Ich fand das, wie sie es sagte, so nett, dass ich sie, wenn ich nicht gerade mit mehr als 160 Stundenkilometer über die Autobahn gejagt wäre, sie umarmt und geküsst hätte. Zum Kapitel 38
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Ganz ohne Ärger geht es nicht Die letzten Kapitel lesen sich so schön happy und romantisch. Jetzt könnte dieser oder jene sagen: „Junge, gaukelst du uns da eine schöne heile Welt, die es heute nicht mehr gibt, vor?“. Sorry, einmal kann man das „die es heute nicht mehr gibt“ ersatzlos streichen, denn sowohl die Frage ob es jemals eine heile Welt gegeben hat wie die Frage ob es heute tatsächlich keine heile Welt mehr gibt sind berechtigt. Der Grund dafür ist ganz einfach erklärt: Ein Paradies auf Erden hat es noch nie gegeben und heute ist nicht alles so schlecht, dass man wahrhaft von unheiler Welt sprechen könnte; Glück und Unglück, Freude und Trauer sowie Erfolg und Pannen hat es immer zu allen Zeiten parallel nebeneinander gegeben. Es gab wohl Zeiten wo mal die eine Seite und mal die andere überwog; dieses sowohl im persönlichen wie im allgemeinen Lebensbereich der Menschen. Auch können das Empfinden des persönlichen und des allgemeinen Geschicks mächtig auseinander klaffen. Ich habe mir erzählen lassen, dass Leute mitten in Kriegswirren ihre große persönliche Glückszeit erlebt haben und umgekehrt hatten einige Leute als die ganze Nation jubelte, zum Beispiel als am 9. November 1989 die Mauer fiel, die unglücklichste Zeit ihres Lebens. Glück und Unglück sind unzertrennliche Geschwister. Ohne zeitweiligen Nackenschlag weiß man nicht was Glück ist und kann es nicht empfinden. Es kommt immer ganz auf den jeweiligen Standpunkt und unsere persönliche Bewertung bei der Beurteilung der Gesamtlage an. Haben wir eine überwiegende positive Einstellung, dann messen wir einem Unglück oder einer Panne weniger Bedeutung zu und entschuldigen diese damit, dass andere auch mal auf die Nase fallen und es vielen anderen schlechter als einem selbst geht. Die Leute mit einer negativen Einstellung fragen oft fälschlicher Weise „Warum immer ich“ und behaupten wider besseres Wissen, dass nur sie immer der Verlierer seien. Die Überbewertung der einen oder anderen Seite birgt natürlich große Gefahren in sich. Wer glaubt das geliebteste Kind des Glücks zu sein, neigt zu Überschwänglichkeit, Leichtsinn und falscher Risikoeinschätzung. Wer dagegen glaubt der geborene Pechvogel zu sein, geht an alle Sachen mit mangelnden Selbstvertrauen, ohne Erfolgsabsicht und mit Gleichgültigkeit sowie vielleicht mit Hass auf alle anderen heran. Beides kann gravierende Folgen haben. Richtig ist wohl nur eine positive Grundeinstellung mit der gehörigen Portion Realismus gegenüber den negativen Dingen des Lebens. Nach meiner jetzigen Auffassung sollte man sich stets und ständig um das Bewusstsein, welches ich so eben als richtig bezeichnet habe, bemühen. Diesen Ausflug in die Philosophie mache ich an dieser Stelle nicht grundlos. All die Dinge, die zwischen meinem Selbstmordversuch und unserem Ostseeurlaub geschahen, bestärkten bei mir den Eindruck nun endgültig auf der Insel der Glückseligen gelandet zu sein. Ich glaube, dass die Überschwänglichkeit am deutlichsten bei der Einstellung gegenüber meinem Vermögen deutlich wurde. Sie haben doch sicherlich auch hier und da den Eindruck gehabt, dass aus mancher Passage die Aussage „Ich habe ja genug davon“ herausklang. Diesen Eindruck hatten Jürgen und Hendrik auch und sie warnten mich deshalb des Öfteren davor, dass eine solche Einstellung schnell zur Aufschmelzung des Vermögens führen kann und dann ist auf einmal nichts mehr da. Schließlich bin ich nicht der Staat wo leichtfertiger Höhenflug durch den Griff in die Tasche der Bürger ausgeglichen werden kann. Na ja, selbst das geht nur bis zu einem bestimmten Punkt, nämlich bis zu dem, wo der Bürger auch nichts mehr in der Tasche hat – dann sitzen wir alle im Dreck. Aber zurück zu den Ermahnungen meines Sohnes und meines Bruders. Sie waren der Ansicht, dass ein aufgelöstes Vermögen niemanden nützt, man könnte damit keinen Schaden anrichten aber auch nichts Gutes tun. Am Abend des 8. August dieses Jahres prallten meine Überschwänglichkeit und Hendriks kritische Distanz sehr deutlich aufeinander und dieses hat dann zum Glück bei mir doch zu einem Überdenken geführt. Ausgelöst wurde das Ganze durch einen Unfall, den ich am frühen Nachmittag des Tages hatte. Am Vormittag hatte ich Anneliese Steinmar und zwei ihrer Freundinnen zu einem Treffen der Frauenhilfe, eine Vereinigung von meist älteren Damen in evangelischen Gemeinden, in Seetal gefahren. Ernst August, der zu diesem Zeitpunkt Hendrik bei der Feldarbeit unterstützte, wollte die Damen dort am frühen Abend wieder abholen. Wo ich schon mal in Seetal war nutzte ich die Gelegenheit gleich zu einem Besuch bei Jürgen und Rosi, die mich aus diesem Anlass auch zum Mittagessen eingeladen hatten. Dann wollte ich doch wieder zurück nach Ulkerde, zu meiner Beate mit der ich auch an diesem Tage meinen obligatorischen Nachmittagsspaziergang machen wollte. Von Seetal führt eine Kreisstraße auf direktem Wege nach Ulkerde. Etwa ein Kilometer vor dem Ortseingang wird die Kreisstraße von der Landstraße, die eben in diesem Ein-Kilometer-Abstand an unserem Dorf vorbeiführt, gekreuzt. Diese Kreuzung ist ein Unfallschwerpunkt, denn es gibt immer wieder Leute, die die Vorfahrt der Fahrzeuge auf der bevorrechtigten Landstraße missachten. Allerdings ist die Vorfahrt eindeutig durch die Beschilderung geregelt; auf der Kreisstraße befinden sich Stoppschilder, sogar mit Vorwarnung einige Meter vor der Kreuzung. An diesem Tag preschte ich auch recht forsch an die Kreuzung heran und bremste deshalb auch etwas kräftiger vor dem Haltegebot ab. Zum Glück, denn auf der Landstraße fuhr eine Radfahrerin, die ich glatt auf den Kühler genommen hätte, wenn ich durchgeprescht wäre und ihr so die Vorfahrt genommen hätte. Dann gab es aber einen riesigen Knall und ich wurde halb auf die Landstraße geschoben. Ein junger Mann mit einem gestylten und getunten Opel, so mit Spoilern, die kleinste Unebenheiten auf dem Weg hätten fürchten müssen, war mir fast ungebremst in den Kofferraum gefahren. Der Auffahrknall wurde nur durch die letzten Töne vom Technogedröhne aus den mehr als überdimensionierten Lautsprechern in seinem Wagen überschallt. Die Radfahrerin bekam als es krachte einen solchen Schrecken dass sie sehr unglücklich hinfiel. Ich stieg aus und begab mich erst mal zu der auf der Straße liegenden jungen Frau um mich um sie zu kümmern. Da stand auch schon das zuvor aufgefahrene „Greenhorn“ neben uns und
brüllte mich an: „Opa, meinst du nicht das du mal deine Fleppe abliefern solltest. Du kriegst ja gar nichts mehr mit.“. Jetzt hatte ich drei Dinge zu tun: Erstens musste ich mich um die Verletzte kümmern, zweitens der dreisten „Rotznase“ die Meinung zu sagen und drittens mit meinem Handy über 112 Rettungswagen und Polizei verständigen. Ich entschied mich für Letzteres zuerst und dann sollte erst mal die junge Frau auf der Straße dran sein. Dazu kam ich aber dann nicht, weil der junge Mann ausrastete und mich erst einmal niederstreckte und dann noch mit seinen Springerstiefeln – ansonsten war es allerdings kein Nazityp - auf mich eintreten wollte. Ich wehrte das dadurch ab, in dem ich seinen Fuß abfing und ihn zu Fall brachte. Dabei schlug er sehr unglücklich mit dem Hinterkopf auf. So hatten wir inzwischen zwei „Verletzte“. Die junge Frau hatte eine Platzwunde am Knie und Schürfwunden an beiden Händen sowie, wie ich allerdings erst später erfuhr, ein große Hämatom am Po. Ihrem Fahrrad war nichts passiert; es war ja eigentlich „nur umgefallen“. Der junge Mann hatte ein Loch im Hinterkopf und wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Eine Blutprobe, die anschließend auf Veranlassung der Polizei im Krankenhaus bei ihm entnommen wurde, brachten obendrein satte 1,2 Promille. Sein Auto, was allerdings vorher schon keinen hohen Wert mehr hatte – es sah nur aus jugendlicher Sichtweise heiß oder cool, je nach Anwendung der Jugendsprache, aus – und jetzt war es gar nichts mehr wert: Wirtschaftlicher Totalschaden. Letzteres traf, wie anschließend in der Werkstatt festgestellt wurde, auch auf meinen Wagen zu. Es war doch ein sehr mächtiger Aufprall gewesen. Allerdings verspürte ich bei mir persönlich außer einer Mordswut nichts. Erst später merkte ich den wackelnden Zahn, den ich mir, als ich niedergestreckt wurde, zugezogen habe. Diese Sache machte mir später einiges mehr zu schaffen, was der junge Mann allerdings nicht zu vertreten hatte. Zwei weitere Zähne waren schlecht und befanden sich nur noch in meinem Mund weil ich Angst vor dem Zahnarzt hatte und auch immer noch habe. Die kamen bei der Gelegenheit mit raus, was ich dann als eine Art Höllenfahrt empfunden habe. Ein weitere „böse Unfallfolge“ erfuhr ich dann am späten Nachmittag. Die Polizei informierte mich, dass die junge Dame, die mit ihrem Fahrrad gestürzt war, nach kurzer stationär Behandlung das Krankenhaus verlassen konnte – was mich natürlich freute. Der junge Wilde musste allerdings wegen des Gehirnerschütterungsverdachtes im Krankenhaus bleiben. Ich gestehe, dass diese Kunde meine unchristlichen Rachegelüste ein Wenig befriedigten. Den dicksten Brocken servierte mir der anrufende Beamte als Drittes: Der Jungscher hatte sich bei einer Versicherungsvertretung eine Doppelkarte besorgt und seinen inzwischen 17 Jahre alten Wagen zugelassen und anschließend mit unnützen Klimbim aufgemopft. Für den Ausgleich der Prämienrechnung hatte er dann jedoch kein Geld mehr, was sich die Versicherung allerdings nicht gefallen ließ; die hatte bereits vor drei Wochen einen Stilllegungsantrag beim zuständigen Straßenverkehrsamt gestellt. Aber die Behörde war bis jetzt weder an das „Bürschen“ noch an seinen Schrottbomber herangekommen. Hätte man das Fahrzeug vorher zu Gesicht bekommen wäre dann schon die Zulassung auch bei ausgeglichenem Versicherungskonto erloschen, denn die angebauten Teile waren größtenteils nicht zulassungsfähig und außerdem waren diese Arbeiten sehr dillethantisch ausgeführt. Au weia, das bedeutet mächtig Ärger. Aber ganz ohne Ärger geht es leider im Leben nicht. Am frühen Abend kam Hendrik für ein Stündchen bei uns vorbei. Eigentlich wollte er zu unseren Nachbarn, den Steinmars, aber Anneliese und Ernst August waren noch nicht aus Seetal zurück. Jetzt kann sich jeder denken, dass wir bei dieser Gelegenheit natürlich von den Ereignissen des Tages sprachen. Mein Sohnemann fragte mich, ob ich schon einen Anwalt eingeschaltet hätte, worauf ich ihm locker bekannte: „Ach, was soll’s, die strafrechtliche Seite ist klar und kommt ja automatisch über die Staatsanwaltschaft ins Laufen. Und zivilrechtlich, was soll ich da machen? Der Junge war nicht versichert. Da kann ich mir jetzt erst mal auf meine Kosten einen vollstreckbaren Titel verschaffen und dann den Knaben bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag den Gerichtsvollzieher auf den Hals jagen. Das habe ich doch bei meinem Geld nicht nötig.“. „Überleg mal was du da sagst.“, setzte jetzt Hendrik die ‚Unterhaltung’ fort, „Dein Wagen ist zwar schon ein Bisschen älter aber runde fünfzig Mille ist er aber immerhin noch wert. Natürlich brauchst du dir bei deinem Vermögen keinen Strick nehmen, wenn du sie letztendlich nicht eintreibst. Aber 50.000 Mark sind 50.000 Mark. Wenn du das immer so machst, dass du dein Geld kampflos davon schwimmen lässt kommt eines Tages der Punkt, wo du eine Million einnimmst und zwei ausgibst. Dann musst du ans Eingemachte gehen und das wird dann auch immer weniger. Und letztlich stehst du da und hast nichts mehr, mit dem du Gutes tun kannst – was ja offensichtlich momentan dein Hauptanliegen ist.“. Jetzt hakte ich erst mal nach: „Heißt es nicht in der Bergpredigt dass man keine Schätze auf Erden sammeln soll und das eher ein Kamel durch ein Nadelöhr geht wie ein Reicher in den Himmel?“. „Da versteifst du dich offensichtlich auf das konkrete Wort und vernachlässigst dabei den Inhalt.“, erwiderte er jetzt, „Es geht doch darum, dass du nicht zwei Herren dienen kannst. Entweder dienst du Gott oder dem Geld. Wenn du Letzterem immer dienst, wenn du also ein Priester des Goldenen Kalb wirst, bist du verloren. Der Herr interessiert sich für dein Herz, für deinen Geist und nicht für dein Geld. Ich halte es schon fast für Gotteslästerung, wenn du dem Herrn ein Interesse für so etwas menschliches, ausschließlich irdisches wie dem schnöden Mammon unterstellst. Das war ja der große Denkfehler der Ablasshändler. Beim Geld kommt es nur darauf an, dass du nicht mit deiner Seele an diesem irdischen Schnörkel klebst. In der Bergpredigt heißt es unter anderem aber auch, dass du keine Perlen unter die Säue werfen sollst. Wenn du dein Geld, mit dem du viel Gutes und Sinnvolles für alle machen könntest gedankenlos mal hier und mal da verplemperst machst du das aber.“. „Schon gut,“, unterbrach ich ihn an dieser Stelle, „Ich habe eben, als ich das sagte, noch nicht einmal an einem religiösen Hintergrund gedacht, sondern habe die Bergpredigt nur als Schutzbehauptung vorgeschoben.“. „Um so
schlimmer.“, warf Hendrik jetzt dazwischen, „Dann muss ich dich aber jetzt mal an das zweite Gebot erinnern, welches unter anderem sagt, dass du den Namen deines Herrn nicht unnütz führen sollst, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen der seinen Namen missbraucht.“. „Das erzähl mal der Partei, die mit dem Namen des Herrn, insbesondere in den 50er- und 60ern-Jahren, auf Wählerstimmenfang ging.“, erlaubte ich mir noch diesem Themenkomplex ironisch anzuhängen. Aber dann leitete ich doch wieder auf die irdischen, weltlichen Dinge zurück. Ich führte dann aus, dass diese jungen Typen, die diese Art Blechkarossen lieben und fahren, wohl nicht gerade der Intelligenzelite zuzurechnen sind. Dieses dürften auch die Leutchen sein, die der Stütze vor der Arbeit den Vorzug geben. Und wenn sie Arbeit haben, dürfte diese in der Regel doch (aus meiner Sicht) besoldungsmäßig im Almosenbereich angesiedelt sein. Da dürfte doch jeder Eintreibungsversuch im Sande verlaufen. Da ist doch der Ausgleich von Anwalts-, Gerichts- und Gerichtsvollzieherkosten praktisch so eine Art gutes Geld hinter dem schlechten herzuschicken und warum sollte ich mir deshalb Arbeit und Ärger machen. Da erlaubte sich Hendrik mir den Rat zu geben, den ich letztlich doch für richtig fand und auch letztlich beherzigte: „Ja, ganz ohne Ärger geht es nicht aber Arbeit brauchst du dir damit doch nicht zu machen. Mach es doch wie die Bankfiosis: Gebe einem Anwalt den Auftrag dir den Titel zu beschaffen und den lässt du dann an einen Inkassogeier ‚verticken’. Die Talerchen, die der Schuldnergreif bezahlt, hast du dann schon mal zurück und wenn der Taugenichts, zu der Gattung zählt dein Freund ja laut deiner Beschreibung offensichtlich, doch wider Erwarten mal zu einem anständigen Einkommen kommt, kriegst du dann vielleicht auch die Hälfte vom Rest. ... Also, auch wenn du inzwischen Christ geworden bist, gibt es keinen Grund die kaufmännische Vernunft über Bord zu werfen. Sei ein guter Verwalter im Weinberg deines Herrn.“. Komisch, in der Zeit nach dem 8. August kam immer, wenn ich nahe dem Gedanken, dass ich genug Geld habe, war die Erinnerung an Hendriks Wort zurück – und ganz so leichtfertig wie in der letzten Zeit war ich dann offensichtlich doch nicht mehr. Na ja, auch der jeweilige Lebensstil muss eingeübt werden; leider ist man heute nicht Saulus und morgen schon Paulus. Oft erlebt man nach einem größeren Ärger, dass sich anschließende Lappalien auch zum Ärger hochschaukeln. So war es auch an jenem Abend. Als Hendrik schon längst wieder von dannen war, überlegte ich mir mit Beate die Anschaffung eines neuen Wagens. Sie war der Meinung, dass ich mir nicht wieder einen Luxusschlitten zulegen sollte sondern einen ganz normalen Mittelkassewagen. Sie begründete es damit, dass ich es nicht nötig hätte zu renommieren sondern dass sie sich viel wohler fühlen würde wenn nicht gleich jeder hinter uns hergaffen würde. Außerdem wären die Kofferräume in den Jedermannautos größer als in den Protzschlitten, so dass man damit auch mal was anderes wie Angeber transportieren könnte. Letztlich meinte sie, dass sie intuitiv bei Mittelklassenwagen ein besseres Gefühl für die Dimensionen habe und sich damit auch mal zu fahren traue. Eigentlich hatte sie ja recht und es gab eigentlich keinen Grund sich zu streiten. Aber an dem Abend dachte ich anders und warf ihr vor, sie wolle mir nur den Sparfimmel meines Sohnes aufzwingen. Dann gab ein Wort das andere und wir hatten dann tatsächlich einen handfesten Streit, an dessen Ende sie wortlos ins Schlafzimmer rannte. Diesmal war sie nach den üblichen fünf Minuten nicht wieder da, da sie jetzt mal annahm, dass der Übergang zur Normalität heute von mir ausging und ich nach der entsprechenden Zeit, vielleicht sogar mit Schmuseabsichten, hinter ihr her ins Bett käme. Diesmal war ich aber besonders prüttelig und legte mich, fast vollständig bekleidete, unter eine Wolldecke auf die Couch und schlief alsbald ein. Meine Beste war im Gegenzug am Morgen sauer auf meine Übernachtungsweise und machte sich, nachdem sie ausnahmsweise allein gefrühstückt hatte, ohne sich um mich zu kümmern auf den Weg ins Gemeindebüro. Das reute mich doch jetzt richtig. Außerdem hatte sie ja mit dem Mittelklassewagen recht, denn warum soll ich immer und überall auffallen; ich bin doch heilfroh wenn ich nicht auf dem Präsentierteller sitze. Wenn man von den Leuten nicht begafft wird, kann man doch viel freier leben. Also machte auch mich auf den Weg ins Gemeindebüro um mich bei Beate zu entschuldigen. Das wurde dann zur innigen gegenseitigen Entschuldigung. Ich war eben durch die Tür ins Büro eingetreten, da sprang Beate von ihrem PC-Platz auf und fiel mir um den Hals. Immer durch Beküssen unterbrochen wiederholten wir beide ein paar Mal unsere Bitte um Entschuldigung. Dabei wurden wir dann prompt in Flagranti erwischt. Thomas war eingetreten und erlaubte sich „Na, na, wenn das unsere konservativen Gemeindemitglieder mitbekommen behaupten die doch prompt wir wollten aus unseren Gemeindeeinrichtungen ein Haus der Freude, kurz Freudenhaus, machen“ zu scherzen. Die konservativen Gemeindemitglieder, insbesondere im Presphyterium, waren der Grund seines Herkommens. Bevor ich davon berichte, sage ich nur schnell, dass ich jetzt wild entschlossen zum Mittelklassenwagenkauf war und dieses dann in der Woche darauf auch in die Tat umgesetzt habe. Allerdings musste ich, als unser Pastor wieder gegangen war, darüber eine halbe Stunde mit Beate diskutieren, denn sie wollte mir nun wirklich nichts aufzwingen, was ich selbst nicht wollte – aber ich wollte ja. Nun aber zu der Geschichte mit Thomas Völler. Da hat sich eine Presphyterin, die immer den Eindruck erweckt als sei sie katholischer als der Papst, doch beim Superintendenten über meine Taufe beschwert, da ich noch amtlich auf der anderen Steuerzahlerliste stände. Thomas hatte mit ihr schon mal Theater, weil er bei dem Abendmahl aus Anlass der Konfirmation einen aus der Kirche ausgetretenen Vater nicht ausgeschlossen hatte. Thomas kommentierte: „Das ist irgendwo eine falsche Natter. Über deine Taufe haben wir groß und breit vorher im Presphyterium gesprochen und da hat sie kein Wort dazu gesagt. Natürlich hätte mich das Gremium an deiner Taufe hindern können, da es sich ja um die Oberhäupter einer evangelischen Gemeinde handelt, die mich sogar, so wie sie mich eingestellt haben theoretisch auch entlassen könnten. Aber von keiner Seite, auch nicht von ihr, kam ein Widerspruch. Jetzt wo die Sache gelaufen ist, rast
sie erst mal zum Superintendenten und macht Stimmung gegen mich. ... Siehst du Zachäus, auch in Kirchenkreisen geht es nicht ohne Ärger ab.“. Etwas eingeschüchtert sagte ich ihm: „Entschuldigung Thomas, dass du Ärger bekommst wollte ich beim besten Willen nicht.“. An jenem Donnerstag hatte ich es offensichtlich mit den Entschuldigungen, aber dieses wies unser Pastor aber zurück: „Quatsch, ich habe dir schon damals gesagt, dass ich es mit meiner theologischen Auffassung vertreten kann, dass ich dich, als du als Gläubiger zu mir kamst und getauft werden wolltest, auch getauft habe. Unser Superintendent ist auch ein fortschrittlicher Mann und sieht das fast genauso wie ich. Von daher droht uns nichts. Aber wenn unsere Kämpferin für die Reinheit der Sakramente eine Etage höher, sprich zur Landeskirche, geht, ist es durchaus möglich, dass sie dort auf einen Schrifttheologen, sprich Gesetzesinterpretierter, trifft, der dann für Wirbel sorgt. Du weißt ja, dass es überall Leute gibt denen Law and Order sogar wichtiger wie der Glaube ist. Ich habe mich für Elf mit dem Superintendenten in Waldheim verabredet, wo wir mal kurz darüber sprechen wollen, wie wir uns im Falle eines Falles verhalten. ... Deshalb bin ich eigentlich gekommen. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich für den Rest des Vormittags weg bin. Du kannst aber trotzdem pünktlich Schluss machen Beate – Ilona (seine Frau) ist ja da.“. Er sprach es und verschwand. Beate tröstete mich: „Mach dir keine Gedanken, Zachi, dass ist Alltag. Auch in der Kirche sind keine Majonetten Gottes sondern Menschen tätig. So was kommt schon ab und an mal vor. Du wirst jetzt nicht wieder enttauft und das Thomas unser Pastor bleibt, steht außer Frage.“. So getröstet konnte ich ja mit meiner Liebsten zum Format unseres Autos übergehen. Nachdem wir uns über unsere künftige Limousine geeinigt hatten, sprach ich auch noch einen weiteren Vorabendpunkt an: „Du Mäuschen, man gibt zwar nicht gerne zu, dass andere klügere Einstellungen als man selber hat ... insbesondere nicht dann, wenn es sich bei den anderen um jüngere und dann noch obendrein um den eigenen Nachwuchs handelt. Aber Hendrik hatte gestern hundertprozentig recht, dass ich jetzt nicht leichtsinniger Weise alle kaufmännischen Grundsätze vergessen sollte. Dann bin ich wie der Bauer, der vom Verkauf seines Kornes lebt und dann seinen Acker stückchenweiße verkauft oder verschenkt. Eines Tages ist dann sein Acker so klein, dass er nicht mehr ausreichend Korn für sein eigenes Brot anbauen kann. Auf Ulkerder Deutsch übersetzt heißt das, dass ich nichts mehr einfach aus Bequemlichkeit in den Wind schreibe, bei Ausgaben prüfe ob es günstigere Alternativen gibt und letztlich auch abchecke ob es überhaupt sinnvoll ist, für etwas Bestimmtes Geld aufzuwenden.“. Jetzt unterbrach mich Beate: „Ach mein Zachi., du bist ein wundervoller Philosoph ... aber auf was willst du denn jetzt konkret hinaus?“. Das konnte ich ihr beschreiben: „Nun der konkrete Anlass ist jetzt, dass ich Hendriks Rat aufgreife. Gleich, wenn ich wieder Zuhause bin, rufe ich meinen Anwalt in Waldheim an. Da ist schon der erste Punkt meiner Beherzigungen. Bis gestern hätte ich gleich zum teuren Handy gegriffen, jetzt gehe ich nach Hause und nutze das günstigere Festnetz. Den Anwalt rufe ich an weil ich ihm, wie Hendrik mir geraten hat, mit dem Crash von gestern beauftragen will. Ich verzichte also nicht, nur weil es Arbeit macht und Ärger bringt. ... Siehst du, unser ganze Theater gestern Abend war überflüssig. Ich glaube, dass ich vielleicht nur auf Grund des Ärgers mit dem Unfall prüttelig war und habe mich deshalb daneben benommen. Ihr hatte ja recht ... deshalb entschuldige mich bitte nochmals.“. „Ach Zachi, du bist einfach ein lieber Kerl,“, unterbrach mich Beate, „hör doch jetzt mit deiner Entschuldigungsorgie auf. Einer kann nicht alleine mit sich streiten, dazu gehören immer Zwei. Mögen auch die ‚Schuldanteile’ unterschiedlich verteilt sein aber keiner von Beiden ist frei von aller Schuld. Deshalb jetzt Schwamm drüber, unser Streit ist der Schnee vom gestrigen Ärgertag. .. Und deinen Rechtsverdreher kannst du auch von hier aus anrufen. Dann wird es noch billiger, dann zahlt mein Brötchengeber.“. Prompt hatten wir die nächste Diskussion. Es ging um das private Telefonieren über Dienstanschlüsse. Rein rechtlich ist damit nämlich der Tatbestand des Diebstahls erfüllt. Meine Zukünftige berief sich dann darauf, dass ihr Vorgesetzter, also Thomas, ihr dieses jedoch ausdrücklich erlaubt habe und der Umfang, inwieweit man dieses in Anspruch nimmt, regelt sich im gegenseitigen Vertrauen. Na, da musste ich ihr sagen, dass ich so was früher strickt untersagt hätte. Aus Gleichbehandlungsgründen hätte es auch keine Ausnahmen gegeben. „Und wie war das mit deinen Privatgesprächen?“, fragte Beate provozierend. Auf mein „Äh, öh, ...“ sagte sie dann: „Siehst du, du warst ein typischer Manager. Alles gilt für die Leute, die dir deine Gewinne erarbeiten sollen aber nicht für dich selber. Da gibt es doch die Schreihälse die Lohnzurückhaltung fordern aber wenn du im Gegenzug die gleiche Zurückhaltung bei den Unternehmergewinnen forderst, erzählen sie dir was von Investitionsanreizen und werfen dir vor ein klassenkämpferischer Umverteiler zu sein. ... Aber lass mal, hier ist es wie in den meisten kleinen Handwerksläden. Wenn der Meister im Kleinladen mal ein kurzes Gespräch führen will, läuft er nicht gleich in die Wohnung. Und was er sich rausnimmt gewährt er auch seinen Gehilfen. So ist es hier auch. Thomas greift auch ab und zu hier mal zum Hörer und geht deshalb nicht gleich in die Pfarrwohnung ... und weil er es macht, hat er es mir auch erlaubt. Also dann mach mal“. Und dabei reichte sie mir den Hörer rüber und fügte noch an, dass sie dafür einen Grund habe. Na ja, dann machte ich halt das und bekam noch einen Termin für den gleichen Tag um 16 Uhr in der Anwaltskanzlei. Als ich aufgelegt hatte lächelte Beate und sagte: „Das du einen Termin kriegen würdest war doch von vornherein klar. Und da ich lange nicht mehr in Waldheim war, würde ich ganz gerne mit. Und jetzt kommt etwas hinzu: Du hast im Moment kein Auto und daher habe ich einen Vorschlag: Ich bin auch lange nicht mehr mit dem Bus gefahren. Dann könnten wir mit dem Bus hinfahren und anschließend, je nachdem wie spät es ist mit Bus oder Taxi wieder zurück. Dann können wir dort ein Wenig Bummeln und uns auch ein Bierchen erlauben.“. „Ein Taxi von dort nach hier kostet
aber über 50 Mark.“, wandte ich ein, „Das würde aber den Grundsätzen, die ihr mir gestern nahe gelegt habt, widersprechen.“. Sie lachte und hatte die Antwort gleich parat: „Siehst du, es ist gut, dass wir dieses ansprechen. Das man von einem Extrem ins andere fallen soll, hat Hendrik bestimmt nicht gemeint. Du sollst jetzt nicht vom Lager des wohltätigen Verschwenders in die Rolle des geizigen Asketen fallen ... Ein Bisschen besser leben darfst du allemal.“. Sie hatte ja so recht. Und Bus fahren brauchten wir auch nicht. Ernst August Steinmar hatte an diesem Nachmittag auch was in Waldheim zu erledigen und hat uns mitgenommen. So, jetzt muss ich noch was erklären. Dieses Kapitel erscheint im Gesamtablauf der Niederschrift meines Lebenslauf ziemlich das unwichtigste zu sein. Ursprünglich als ich am 13. August mit dem Diktat begann gedachte ich die Handlung mit meiner Taufe oder vielleicht noch mit unserem Urlaub an der holsteinischen Ostseeküste abzuschließen. Als ich jedoch die bis jetzt letzten Kapitel diktierte merkte ich mehr und mehr, dass ich eine zunehmendst heile Welt beschrieb und darin mich als den Krösus, der es ja hat und nur ausgeben muss, darstellte. Insgesamt hätten dann, wenn es so gewesen wäre, meine optimistischen Zukunftsaussichten auf wackeligen Beinen gestanden. Dank des Leichtsinns aufgrund eines Realitätsverlust wäre der Punkt, wo ich wieder kräftig auf die Nase gefallen wäre, vorprogrammiert gewesen. War ich nicht damals während meiner Ehe mit Anni auf das gleiche Glatteis der Glückseligkeit geraten. Das Gleiche gilt auch für die Zeit in meiner zweiten Ehe ab dem Zeitpunkt, als ich mich mit Rosi zusammengerauft hatte. Ich bin nicht wegen Unglücke auf die Nase gefallen sondern immer aufgrund glückseligen Leichtsinns. Nur wer mit beiden Beinen auf der Erde steht, wer sich bewusst bleibt das auch Ärger unmittelbarer und unabdingbarer Bestandteil des Lebens ist, kann es auch meistern. Aber auch die Hinweise auf die Denkweise hinsichtlich meines Vermögens hielt ich noch für wichtig. Hinsichtlich der Masse hatte ich die Tendenz leichtsinnig zu werden und den Denkapparat abzuschalten. Das hätte so gut gehen können aber auch ins Auge. In beide Richtung gibt es bei Gedankenlosigkeit eine nicht kleine Wahrscheinlichkeit. Das käme doch auf das Gleiche wie bei einem Glücksspiel heraus. Bis jetzt war noch alles, was ich gemacht hatte, durchsichtig und vernünftig – so sehe ich das jedenfalls auch heute noch – aber schon wie ich mit meinen Schadenersatzansprüchen vom 8. August umgehen wollte, ist ein Hinweis darauf, wo der Zug hingefahren wäre, wenn ich weiterhin auf das Nachdenken verzichtet hätte. So, jetzt kann man sagen, das ja alles im grünen Bereich sei und das Buch mit einem Happy End beendet werden könnte. Eigentlich ja, aber seit dem 13. August bis heute, dem 19. Oktober, ist ja auch noch was passiert. Dabei sind ein paar Dinge, die doch ganz interessant sind und eigentlich meine bisherige Biografie ganz gut abrunden. Daher erlaube ich mir doch noch ein paar Mal „Beate, Zachi bittet zum Diktat“ zu sagen. Schließlich macht mir das ganze irgendwo Spaß. – Und hier meldet sich zwischendurch mal Beate Schlömer, die Sekretärin: Mir auch! Zum Kapitel 39
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Paps, es ist schon wieder passiert Das ich in meinem neuen Leben einen recht geordneten Tagesablauf aufgenommen habe, war eigentlich schon in den Kapiteln zuvor zu lesen. Auch unser obligatorischer Nachmittagsspaziergang wurde bereits erwähnt. Aber nur im Ausnahmefall, zum Beispiel als ich Beate einen Heiratsantrag machte, war es angebracht davon zu berichtet, worüber dabei gesprochen wurde und was sich dabei so ereignet hat. Nun ereignet hat sich jedoch auch sonst sehr viel aber nichts womit man einzelne Kapitel oder Bücher füllen könnte. Wir schlenderten mal Arm in Arm und mal frei nebeneinander durch die herrliche Natur, die ich in meinem bisherigen Leben gar nicht so wahr genommen habe. Obwohl man fortwährend Vögel zwitschern hört, immer wieder mal der Wind mit den Blättern spielt oder die Pfoten oder Hufe von aufgescheuchten Wildtieren ein leises „bum, bum, bum“ auf den Waldboden verursachen empfindet man eine fantastische heilsame Ruhe. Daran ändern auch, allerdings weit weg klingende Zivilisationsgeräusche aus Ulkerde oder von der nahen Landstraße her nichts. An den Steinwüsten und Asphaltschluchten in den Städten ändert sich in der Regel immer lange Zeit nichts. Sie sehen Tag für Tag immer gleich aus, da sie zur Veränderung menschliches Eingreifen oder den Zahn der Zeit benötigen. Die Natur dagegen wechselt fortwährend durch Blühen und Aufgehen, durch Wachsen und Zerfallen sowie durch Einfluss von Sonne, Wind, Regen und Tageslicht ihr Aussehen. In den Städten ist es entweder grau und trüb oder hell und heiß. Demgegenüber bietet die Natur Tausende von Zwischentönen. Wie arm sind doch die Leute, die nur wenig aus den Häuserhaufen der Städte herauskommen. So kann ich schon verstehen, dass die Gefangenen der Städte von einem Spaßfaktor zum anderen hecheln. Stadtleben ist aus meiner Sicht ohne menschliches Klimbim öd und fad. So sind schon Spaziergänge, die man alleine für sich unternimmt, abwechselungsreich und erfüllend. Dieses wird dann noch durch die Begleitung eines netten Menschen, mit dem man sich verbunden fühlt, um einige Grade aufgewertet. Das empfinde ich, wenn ich in Begleitung von Beate bin, auch wenn wir ausnahmsweise mal ein Weilchen wortlos nebeneinander spazieren. Aber diese wortarmen Gelegenheiten kommen bei uns sehr, sehr selten vor. In der Regel gilt, dass mindestens einer oder eine von uns Beiden spricht. In der ersten Zeit unseres Beisammenseins war es jedoch überwiegend Beate die erzählte. Immer wieder sprach sie von den glücklichen Stunden die sie mit ihrem Mann verbracht hatte. Nachträglich erstaunt mich richtig, dass Anna Lena, ihre Tochter, in der ersten Zeit in ihren Erzählungen überhaupt nicht vorkam. Auch sie hat heute keine Erklärung für diese Unterlassung, denn ich weiß, dass Beate ihre Tochter doch sehr lieb hat. Sie berichtete jedoch davon, dass sie im ersten Jahr nach dem Tode ihres Mannes mindestens einmal am Tag auf den Friedhof war. Erst allmählich ist die Anzahl der Friedhofsbesuche zurückgegangen. Sie berichtete mir von der Leere, die sie im Haus nach seinem Tode empfand, wie sie sich oft fast hilflos ohne die Hilfe ihres Mannes gefühlt habe. Ich dachte mir, dass das die ganz große Liebe gewesen sein muss. Mindestens zwanzig bis dreißig Mal hat sie mir die Geschichte erzählt wie ihr Mann den Tod fand. Er hatte, gemeinsam mit einer Kollegin eine Hauptschulklasse auf ihrer Abschlussfahrt nach Süddeutschland begleitet. Einen Abend hat sich eine Gruppe von drei Mädchen und vier Jungen von der Klasse „abgeseilt“ um in einem, der Jugendherberge nahe gelegenen Wildbach nackt zu baden. Auf solche „Flitzen“ kommen pubertierende Jugendliche schon mal, insbesondere wenn ihnen bestimmte Medien ihnen dieses indirekt als „cool“ suggerieren. Sofort, nach dem er festgestellt hatte, dass sich die Jugendlichen von ihrer Klasse entfernt hatten, machte er sich auf die Suche nach diesen. Wenn ich zurückrechne müssen die jungen Leute damals im gleichen Alter wie seine Tochter Anna Lena gewesen sein. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn er wurde durch lautes Hilfegeschrei an den Wildbach gerufen. Ein Mädchen hatte sich im Gestrüpp verfangen und die anderen kamen auf Grund der Strömung nicht an ihre Klassenkameradin heran. Kurzentschlossen sprang Herr Schlömer ins Wasser und hat das Mädchen befreit und durch die Strömung geleitet. Das Mädchen war bereits durch als er ausrutschte und einige Meter aufgrund der Strömung abgetrieben wurde. Er muss irgendwie hart mit den Kopf aufgeschlagen sein und ist offensichtlich im bewusstlosen Zustand ertrunken. Die hinzugerufene Feuerwehr konnte ihn nur noch tot bergen. Schlimm ist auch wie Beate vom Tode ihres Mannes erfahren hatte. Die Kinder hatten ganz aufgeregt zuhause bei ihren Eltern angerufen. Ausgerechnet der Vater des geretteten Mädchens rief bei Beate, die ansonsten noch nicht benachrichtigt worden war, an und erklärte, dass der „liberale Schlot“ Glück gehabt habe, dass er ersoffen sei sonst hätte er ihn wegen Verletzung der Aufsichtspflicht hinter Schloss und Riegel gebracht, wo er nach Ansicht des Anrufers ohnehin hingehört hätte. Man kann sich sicherlich darein versetzen, dass der Vater bei dem Anruf der Freundin seiner Tochter erst mal einen Schock bekam, aber trotz allem, wie er sich gegenüber Beate verhalten hat ist wohl nicht nachvollziehbar und darf eigentlich auch kein Verständnis und Entschuldigung finden. Als sie mir die ersten Male diese Geschichte erzählte brach sie regelmäßig in Schluchzen und Tränen aus und ich musste sie fest in meine Arme nehmen. Dabei merkte ich immer wie sie am ganzen Körper zitterte. Aber mit der Zeit wurden ihre berichteten Erinnerungen an ihren Mann immer geringer. Schon damals als ich ihr den Heiratsantrag machte konnte sie schon alles wesentlich leichter tragen und danach stand ihr Mann und sein tragischer Tod immer weniger auf ihrer Gesprächsliste. Seit unserem Urlaub hat sie so gut wie gar nicht mehr über ihn gesprochen. Aber es war im Gegenzug nicht so, dass ich immer nur der Zuhörer war. Immer wieder standen bei mir Anni und Dietmar aber auch Carmen, Anita und Salvador in sentimentaler Weise bei mir auf der Tagesordnung. Schwermütig sprach ich über das, was ich Jürgen und Rosi angetan habe. Aber Beate war eigentlich der erste Mensch
mit dem ich in dieser Weise darüber sprach. Bei unserem Sonntagsspaziergang, am 12. August, kam Beate erstmalig wieder auf ihren Mann zu sprechen. Diesmal aber nicht schwermütig und trauernd sondern locker und leicht, sogar richtig scherzend. Wir waren an einer Stelle im Wald angekommen, der sie an einem Zwischenfall aus der Zeit als sie noch verlobt waren erinnerte. Dort war ihrem Mann aufgrund eines menschlichen Rührens ein Missgeschick, was ihn in die Büsche zu flüchten zwang, passiert. Beate musste damals ins Dorf sputeten um ihn unverfängliche Bekleidung zu verschaffen, mit der er sich wieder hinter dem Busch wegtrauen konnte. Bei dieser Erzählung lachte sie einige Male herzhaft. Da wagte ich sie darauf anzusprechen, dass ich den Eindruck habe, sie habe erst jetzt langsam von ihrem Mann losgelassen. Ich sagte ihr, dass sie mir nun endlich wieder frei vorkäme. Sie meinte jetzt recht locker, dass ich nicht der Erste sei dem dieses auffiele, dass hätten ihr auch schon andere, unter anderem auch Ernst August und Anneliese Steinmar, gesagt. „Und willst du wissen woran das liegt?“, fragte sie und gab auch gleich die Antwort: „Ich hatte bei dir Gelegenheit mir die dunklen Schatten von meiner Seele zu erzählen. Je mehr ich dir erzählte umso weniger tat es mir noch weh. Jetzt ist alles was schmerzte aus meinem Herz raus; jetzt kann ich damit leben. Deshalb bin ich jetzt frei für dich, jetzt bist du mein Leben“. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Ich glaube, das auch du eine ganze Menge Lasten mit dir rum schleppst. Aber du erzählst zu Wenig. Willst du dich nicht auch frei reden?“. Während des weiteren Gespräches kam Beate dann auf die Idee, ich könnte ihr ja die Geschichte meines Lebens diktieren und sie könne diese ja direkt in unseren PC eintippen. Dadurch würde ich mich dann selbst zwingen chronologisch vorzugehen und würde dann ihr gegenüber, so wie sie es mir gegenüber getan hat, mir alles von der Seele erzählen. Dann seien wir beide frei – frei für einander. Gleich am nächsten Tag fingen wir an und damit schließt sich der Kreis zum ersten Kapitel. Aber die Zeit hat nicht still gestanden und wenn ich jetzt noch ein Weilchen fortfahre, beginnt an dieser Stelle dann der Bericht über das, was zu Beginn meiner Niederschrift noch nicht feststehen konnte, weil es noch nicht geschehen war. Aber Eines nehme ich schon mal vorweg: Beate hatte Recht, auch bei mir sind durch die Niederschrift alle Brocken von meiner Seele gerollt worden. Auch ich bin heute frei und unbeschwert – eigentlich so frei wie noch nie in meinem Leben. Irgendwie hat dieses auch etwas mit dem Zuhören, wovon ich nach meinem Selbstmordversuch und im Zusammenhang mit Rosis Problem berichtete, zu schaffen. Was ich mit besten Gewissen allen die Probleme haben raten kann ist, dass sie sich diese herausreden sollen. Und allen, die anderen Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme helfen wollen, gebe ich den Tipp: Hört zu, macht nichts anderes ... hört nur zu. Durch die Niederschrift meines Lebenslaufes änderte sich unser Tagesablauf in einigen Nuancen. Bis zum obligatorischen Nachmittagsbummel blieb alles beim Alten. Danach machte uns Beate ein paar Schnittchen, schmiss die Kaffeemaschine an und unmittelbar danach fuhr sie den PC hoch und wartete auf das, was ich ihr diktierte. Jetzt haben wir allerdings nicht stur „durchgeackert“. Oft sah ich, hinter ihr stehend, ihren nackten Nacken und bekam dabei die berühmten warmen Gefühle. Meist ließ ich dann meine Hände von den Schultern auf ihre Busen gleiten, was dann natürlich auch Beate von der Niederschrift ablenkte. Na ja, jetzt möchte ich solche Sachen nicht in aller Ausführlichkeit abhandeln aber doch bekennen, dass wir auch häufiger zum Schmusen unterbrachen. Nicht selten kamen wir bei der Niederschrift auch in den Abend. Dann fielen unsere Gesellschaftsspielrunden aus. Aber verbissen sind wir nie vorgegangen. Wir haben häufig für dieses oder jenes unterbrochen – auch hin und wieder mal für ein gemeinsames Duschbad. Also, in Arbeit ist es nie ausgeartet; es war immer unterhaltend und hat Spaß gemacht. Ab dem dritten Tag unserer Niederschrift bekamen wir auch des Öfteren mal eine nette Ablenkung. Bei dem angenehmen warmen Wetter hatten wir immer die Terrassentür, die zum Garten führt, aufstehen. Auf einmal hörten wir die Stimme des kleinen Knirps Christof „Opa, haha, ha“. Da hatte doch mein Enkel, der zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester bei Anneliese Steinmar einen Besuch machte, eine Lücke im Gartenzaun zwischen den beiden Grundstücken entdeckt, durch die er, trotz seiner noch unbeholfenen wackeligen Beine, kriechen konnte. So stattete er uns, sicherlich zu unserem Vergnügen, einen Besuch ab. Diesem ersten Mal folgten später noch ein paar andere Besuche. Beim ersten Mal allerdings zum Schrecken seiner Mutter und Oma, die sein Verschwinden zunächst gar nicht bemerkt hatten. Aus Silvias und Annelieses Mund erklang somit auch als bald der Ruf „Christof“ im Duett. „Kein Problem,“, rief Beate gleich zurück, „der stattet uns gerade einen Besuch ab.“. In ihrer ersten Aufregung waren Mutter und Tochter gleich zum Gartenzaun gestürmt und wir gingen den beiden mit dem Knirps an der Hand entgegen. In ihrer Aufregung hatten die beiden Damen vergessen, in welchem Aufzug sie sich befanden: Sie hatten zuvor zum Sonnen barbusig auf Steinmars Terrasse im Liegestuhl gelegen. Just in dem Moment als sie mich sah, muss Anneliese wieder bewusst geworden sein, in welchem freien Zustand sie sich befand und legte sofort die Hände auf ihre Brüste. Aber dabei muss sie sich halt etwas komisch vorgekommen sein, denn sie grinste mich verlegen an und nahm ihre Hände wieder von ihren Pfunden. Von Pfunden kann man getrost sprechen, denn Anneliese hatte doch recht große Busen. Ich glaube, dass es sich um die größten, die ich live gesehen habe, handelte. Wo Licht ist, gibt es natürlich auch immer Schatten. Von Form und Halt lassen sich Annelieses Brüste in keiner Weise mit Beates kleinen, wohlgeformten und strammstehenden vergleichen – bei Anneliese gab es mehr als nur eine Tendenz zum Hängen. Jetzt habe ich genau beschrieben wo meine Gedanken – und auch meine Blicke – waren. Mit einem Knuff in die Seite holte mich Beate zurück in die Wirklichkeit und sagte leise zu mir: „Ich möchte
wissen, wovon du jetzt träumst. Aber sag es mal lieber nicht, es könnte peinlich sein.“. Obwohl sie leise und nur für mich bestimmt sprach, hatten es wohl alle verstanden, was man aus ihrem, allerdings unterschiedlich motiviert klingendem Lachen entnehmen konnte. Danach hilf sich Anneliese mit einen Seitenhieb auf Beate selbst aus der Verlegenheit: „Na ja, es muss eine Jede mal zeigen was man hat; schließlich ist man mit 53 noch nicht vom Weltlichen ab. Allerdings kann man im dem Alter wohl nicht mehr in einer Peepshow auftreten, das habe ich wohl zur rechten Zeit verpasst.“. In diesem Moment zuckte Beate ein Wenig zusammen und fragte: „Weiß du etwa ...“. Und dann brach sie ab, weil ihr bewusst war, dass sie sich eventuell selbst verraten könne. Aber es war schon zu spät und die Antwort kam von Silvia: „Ach Beate, ich weiß jetzt nicht ob Papa den ehemaligen Dorfklatsch kennt, deshalb behalte ich den Scherz, den ich gerade auf das machen wollte, was ihr gerade angedeutet habt, lieber für mich. ... Er könnte es falsch verstehen – aber es hat nichts mit dir tun Paps.“. „Aber mit mir“, sagte Beate jetzt ruhig, „aber kein Problem, dein Schwiegervater weiß dass ich vor über 20 Jahren mal in einer Peepshow gearbeitet habe. Aber woher wisst ihr das denn?“. Irgendwie hatte ich jetzt das Gefühl, dass Nachbarschaftsstreit in der Luft läge und sah mich gezwungen einzugreifen: „Nun lasst mal, wir sind ja alle keine Engel. Früher sogar noch weniger wie heute. Anneliese ich verstehe dich schon, dass es dir jetzt peinlich war, nach dem du dir Sorgen um unseren Kleinen gemacht hast, jetzt plötzlich Oben ohne vor mir zustehen. Aber was ist eigentlich normaler als ein nackter Mensch. Schlimm ist nur, was wir mit unseren schmutzigen Gedanken daraus machen. In der Sauna, wie sie Hendrik ja auch auf eurem Hof einrichten will, oder an den Stränden hält man so was für gesellschaftsfähig ... und du brauchst dich deswegen nun beim besten Willen nicht zu schämen.“. Jetzt lenkte Anneliese ein: „Du hast recht Zachi, unter dem doppelten Schrecken ... erst war Christof weg und dann warst du da, habe ich gesponnen. Entschuldigung Beate es tut mir leid, dass ich dich angegriffen habe. ... Das war dumm von mir. Das, was ich jetzt gemacht habe, habe ich ja noch nicht einmal damals, als Pieper hier das heimlich geschossene Bild im Dorf rumzeigte, gemacht. Mein Ernst hat dafür gesorgt, dass das dann ein Ende hatte. Er hat dem Schlot mit einer Strafanzeige gedroht und von ihm Negativ und alle Abzüge verlangt und zerrissen. Warum er das allerdings getan hat führte bei uns zum Ehestreit ... Er war nämlich in dich verliebt; irgendwo glaube ich das er es immer noch ist. Also ein Bisschen Eifersucht spielte eben bei mir auch eine Rolle.“. Zum Zeichen der Versöhnung umarmten sich Beate und Anneliese über den Zaun. Währenddessen reichte ich dann meinen Enkel hinüber in die Arme seiner Mutter. Bei der Gelegenheit sah ich dann, dass die beiden Damen nicht nur Oben ohne sondern ganz ohne waren. Aber ich behielt es erst mal für mich. Als wir anschließend wieder an unseren PC zurückgehrt waren, fragte mich Beate, ob ich, als ich Christof rübergereicht habe, mal nach unten geschaut hätte. „Ja, die Beiden halten heute überhaupt nichts von Textil,“, antwortete ich, „aber ich hätte gar nichts dagegen wenn du dich den Beiden anschließen würdest.“. Irgendwie fühlte sich Beate angeregt und ließ erst mal Diktataufnahme zum Diktat gehörend sein und entkleidet sich mit verführerischen Gehabe. Sie war gerade in Evas Kostüm als Silvias Stimme von Gartenzaun herüber klang: „Paps, es ist schon wieder passiert, der Kurze ist gleich wieder bei Euch.“ Ich begab mich auf die Terrasse und sah Silvia, die sich jetzt einen T-Shirt übergezogen hatte. Ob auch unterhalb des Bauchnabels alles im sittsamen Bereich war konnte ich jetzt von meinem Standort nicht feststellen. „Lass den Jungen doch, wenn er unbedingt zu seinen Opa will.“, rief ich ihr zu und bekam „Okay, dann komme ich gleich, wenn Hendrik kommt, zu euch rüber“ zur Antwort. Während ich noch auf der unserigen Terrasse auf unseren Kurzen wartete ging Silvia zurück zur Nachbarterrasse. Als ich, zusammen mit Christof, wieder ins Wohnzimmer kam war Beate bereits schon wieder in ihrer Sommerkleidung „eingepackt“ und sagte lächelnd: „Heute musst du mit Andeutung leben, mehr ist dir halt nicht vergönnt.“. Danach fuhr sie erst mal den PC runter, denn jetzt sollte unsere Aufmerksamkeit nicht meinem Leben sondern meinem kleinen Enkel gelten. Am Abend sprachen wir noch einmal über den Vorfall des Nachmittags. Beate war der Meinung, dass wohl Silvia in dieser Situation zunächst die Unbefangenste von den Damen gewesen wären. Sie selbst wäre eifersüchtig darauf gewesen, wie ich mit den Augen Annelieses Fraulichkeit abgetastet habe und umgekehrt wäre bei Anneliese, wie sie selbst zugegeben habe, in Bezug auf ihren Mann auf sie Eifersucht hochgekocht. „Warum sollte sie,“, fragte ich, „Ernst August war doch weit weg?“. „Ja, heute Nachmittag war er außer Reichweite,“, erklärte sie jetzt, „aber der Gedanke, dass ich Gleiches mit Gleichem vergelten könnte, ist doch wohl naheliegend. Und das Ernst August ein Auge auf mich geworfen hat, habe ich selbst schon vor ein paar Jahren gemerkt. Der lässt auch keinen Augenblick aus, um einen ‚tieferen Einblick’ bei mir zu kriegen. Aber gerade deshalb zeige ich ihm nichts ... Ist doch ganz spannend für mich ihn ein Bisschen zu foltern. Diesbezüglich kann Anneliese ganz beruhigt sein.“. Ich glaubte da auch noch eine Weisheit darauf setzen zu können: „Ja, was verdeckt und nicht gleich zugänglich ist macht neugierig und heiß. Von einer aufregend gekleideten Durchschnittsfrau geht für einen Mann mehr Gefahr aus als von einer nackten Sexbombe. Wenn es nichts mehr zu entdecken gibt, kann man auch ruhig Zuhause bleiben.“. Hinsichtlich Silvia meinte Beate, dass die genau wie ich, wohl die Schärfe aus der Situation ziehen wollte und nicht wusste wie sie sich ausdrücken sollte. Aus meiner Sicht war dieses jetzt die logische Erklärung für den Vorfall am Nachmittag. Aber Beate bedrückte doch weiterhin etwas. Bisher war sie der Meinung, dass nur Pieper was von ihren ehemaligen Peepshow-Aktivitäten gewusst habe und seit dem Nachmittag muss sie davon ausgehen, dass es das ganze Dorf gewusst hat. Nicht nur das, dank des heimlich geschossenen Fotos dürften sie alle im Dorf im „Rohzustand“ gekannt haben. Das war ihr nachträglich doch äußerst peinlich. Aber dass sie nun daran nichts mehr ändern könne und dass sie dieses in ihrem Verhalten jetzt nicht mehr beeinträchtigen sollte, war ihr nun zum Glück auch klar. Eines gab
ihr doch noch zu denken: Wieso haben die Leute, die doch ansonsten so redselig sind, ihr nichts anmerken lassen? Ich glaubte dafür eine Erklärung zu haben: „Bei diversen Angelegenheiten habe ich auch geglaubt, dass niemand was mitbekommen hat und in Wirklichkeit wusste es die halbe Welt. Ich glaube, dass ich, wenn ich richtig hingesehen hätte, schon gemerkt hätte welche Wellen ich geschlagen habe. Das muss wohl mit dem gleichen Phänomen wie bei Verbrechern, die glauben ihre Taten blieben unentdeckt, zusammenhängen. Ich glaube, dass die Chancen für Heimlichkeiten Eins zu Zehn stehen. Man muss immer damit rechnen das man ertappt wird. Die Chance ertappt zu werden ist ungleich höher als umgekehrt. Mit anderen Worten Unrecht lohnt sich nicht; wobei ich jetzt allerdings nicht gleich Beates Exhibitionieren generell dem Unrecht zuschlagen möchte.“. An diesem Abend sprachen wir auch noch über das andere Ereignis des Tages, was mich ebenso, wenn nicht sogar noch mehr, anrührte. Aber da muss ich wohl erst mal erzählen was dieses war. So kurz vor Sechs kamen Hendrik und Silvia nebst Christina zu uns um ihren Stammhalter abzuholen. Meine Schwiegertochter war auf Nummer Sicher gegangen und hatte ihrem Mann von den Ereignis am nachbarschaftlichen Zaun berichtet. Hendrik nahm das zum Anlass um mir gleich zu sagen: „Du alter Schwerenöter hast auch immer Glück und bekommst sogar die Herrlichkeiten, ... oder besser gesagt Fraulichkeiten, am Gartenzaun präsentiert. ... Und ich? Aber warte mal ab, so bald unsere Sauna fertig ist lade ich euch alle zur Premiere ein und tanke auch Augen und Seele auf.“. Silvia wandte jetzt ein: „Ich mach ja alles mit, nur nicht mit einem dicken Bauch ... Also beeile dich mit deiner Heimwerkerschaft.“. Lässig scherzte ich: „Na ja, mein Sohn wird ja kein Jahr für so ein Bisschen Sauna brauchen.“. „Was heißt hier ein Jahr?“, meldete sich Silvia jetzt lachend, „Paps es ist schon wieder passiert.“. In diesem Moment war ich so überrascht, dass ich noch, verwirrt klingend, „Was?“ fragte. Hendrik lachte laut auf und sagte: „Na, der Befruchtungsakt. Dein Enkelkind Nummer Drei ist bereits unterwegs. ... Und wieder einmal erfährst du es vor Mama.“. Jürgen und Rosi waren gerade auf einen Trip in Kanada, was mir auch telefonisch ein Wenig weit weg lag und deshalb rief ich auch nicht gleich dort an. Aber irgendwo juckte mich dann schon der Wunsch Rosi etwas von unserer sich stets erweiternde Enkelschaft zu berichten. Bei dieser Gelegenheit erzählte dann Beate dass sie zu Anna Lena gerne auch noch ein oder zwei weitere Kinder gehabt hätte. Aber die Geburt ihrer Tochter wäre nicht ganz ohne Komplikationen abgelaufen und die Ärzte hätten ihr geraten auf weitere Kinder zu verzichten. Ich wollte ihr ein Kompliment machen und sagte: „Schade, dass es nicht mehr klappt. Mit dir mein Engelchen hätte ich auch gerne ein Kind gehabt.“. „Dann würdest du der Familiengeschichte noch eine weitere Variante aufsetzen.“, lachte Hendrik, „dann könnten die Nichten und Neffen ihren Onkel vom Kindergarten abholen und mein jugendlicher Bruder könnte meine Altenpflege übernehmen.“. Na ja, darüber mussten wir dann alle lachen. Ich brachte dann aber einen allseits akzeptierten „Kompromissvorschlag“, dass ich es mit Anna Lena so halten wollte, wie Jürgen es mit Hendrik, den er fast wie einen eigenen Sohn ansieht, halte. Praktisch könnte Hendrik von seinen zwei Vätern sprechen, auch wenn er den einen Onkel Jürgen nennt. „Ach Zachi, du bist doch ein Goldschatz.“, hauchte Beate anschließend zum Abschluss dieser angenehmen Runde. Die Ereignisse des Donnerstag sorgten dann dafür bei, dass wir am Freitag nicht zu unseren Nachmittagsspaziergang kamen. Anneliese hatte ein schlechtes Gewissen wegen des Vortages und kam etwa eine dreiviertel Stunde nachdem Beate vom Gemeindebüro nach Hause gekommen war zu uns. Wir waren gerade mit dem Mittagessen fertig und Beate räumte gerade das restliche Geschirr in die Spülmaschine als sie anschellte. Sie wollte Beate ganz gerne unter vier Augen sprechen und gab mir den Tipp, das Ernst August nach Neuhaus in das Autohaus Beermann fahren wollte. Ich hätte doch davon gesprochen, dass ich mich dort nach einem neuen fahrbaren Untersatz umsehen wollte – und jetzt könne ich mit ihrem Ernst mitfahren. Meinen Einwand, das Beate eventuell dabei sein wolle, tat die so bedachte mit den Worten ab: „Ach Zachi, du weißt doch, dass ich erstens von Autos keine Ahnung habe. Zweitens haben wir uns doch generell auf eine bestimmte Art geeinigt und letztlich gefällt mir alles was dir gefällt. Also, dann mach du mal mit Ernst August eine Herrenpartie und wir machen hier ein Damenkränzchen.“. Das Ganze kam zwar überraschend aber im Grunde nicht ungelegen. Also ließ ich die Damen allein und fuhr mit in das Autohaus. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich von Heute auf Morgen ein neues Auto. Bisher hatte ich immer meine bestimmten Wünsche und bestellte mir, einige Wochen bis sogar Monate in Kauf nehmend, einen „maßgeschneiderten Wagen aus dem „Katalog“. Im Falle eines Falles nahm ich entsprechende Leihwagen des Lieferanten übergangsweise in Anspruch. Diesmal war ich gleich auf Anhieb in einem Wagen im Ausstellungsraum bei Beermann „verliebt“. Dieses hatte jedoch nichts mit meinen neuen Lebensstil zutun sondern das „Wägelchen“ gefiel mir ganz einfach. Und als Beate und ich uns den Wagen am Montagnachmittag, nachdem das Autohaus die Anmeldung besorgt hatte, in Neuhaus abholten, freute sich auch mein Schatz über meine gute Wahl – der Wagen war auch nach ihrem Geschmack. Dieses, etwas unwichtige Detail nur so zwischendurch. Ich meine, dass man, das was zwischen den Frauen gelaufen ist, wahrscheinlich als spannender betrachtet. Nun, davon weiß ich auch nur so viel, wie mir Beate davon berichtet hatte. Anneliese hatte im Grunde unsere Eifersuchtstheorie vom Vorabend bestätigt und nur noch einen weiteren Aspekt mit hinein gebracht. Anneliese war wegen ihrer „Hängetitten“, wie sie selbst sagte, und ihrer Fettpolster an den falschen Stellen auch eifersüchtig auf Beates Figur. Sie beabsichtigte tatsächlich Beate mit ihrer Peepshow-Vergangenheit „in die Pfanne zu hauen“. Wo sie es jetzt schon seit Jahrzehnten so gut miteinander konnten, reute Anneliese ihr Vorgehen vom Vortage doch sehr und bat Beate unter Tränen um Entschuldigung. Beate konnte sie jedoch damit trösten, dass sie ihr sagte, dass ich mich dahingeäußert hätte, das an Anneliese im Gegensatz zu ihr was dran sei und sie mir auch sehr
gefalle. Sie könne jedoch beruhigt sein, weiter wie sich ihr Ernst August an sie (Beate) herantraue würde ich bei ihr mit Sicherheit jetzt auch nicht mehr gehen. Wie ich noch vor einem Jahr gewesen sei, wisse sie selbst nur aus Erzählung aber da sei laut dieser es bestimmt möglich gewesen, dass ich mich an Anneliese herangemacht hätte. Letzteres war überhaupt der Grund, warum ich von der Unterredung, die mir Beate nur ungern wiedergab, erfuhr. Sie war der Meinung wir müssten aus einem Munde sprechen. Ich hatte Beate zwar nichts gesagt, sie hatte alles frei erfunden, aber ich konnte sie in der Tendenz bestätigen. Ansonsten erfuhr ich von Beate nur, dass Anneliese jetzt endlich auch mal ihrer schon seit damals bestehende erotische Neugierde hinsichtlich Peepshow durch Befragen freien Lauf lassen konnte. Dazu meinte Beate lächelnd: „Na, bei Anneliese ist aber auch noch nichts abgestorben ... die ist auch noch ganz gut drauf.“. Aber auch Annelieses drittes Omaglück war Bestandteil des Plausches unter den Frauen. Anneliese hatte Beate erzählt, dass Silvia früher immer gesagt habe, dass sie fünf Kinder haben wolle. Ernst August habe das übertrieben gefunden, aber geglaubt, dass sich dieses im Erwachsenenalter schon legen würde. Na ja, Silvia ist halt was besonderes und schwimmt nicht im allgemeinen Massentrend mit, denn die Regel ist heute doch eher umgekehrt: Da machen sich Väter Sorgen um den, meist im materiellen Egoismus geborenen Wunsch nach Kinderlosigkeit ihrer Töchter. Ich habe dieser Tage mal von einen Wissenschaftler gelesen, dass dieses überhaupt kein neuzeitlicher Trend ist. Er begründet es damit, dass der Fortpflanzungstrieb bei allen männlichen Säugetieren vorhanden ist und die weiblichen dagegen mehr vom Libido (Lustempfinden) zum Sexualverhalten getrieben würden. Durch das Triebverhalten der männlichen Lebewesen würde die Art erhalten und durch das der weiblichen diese nicht behindert aber dadurch würde eine unverhältnismäßige Massenpopulation verhindert. Durch heutige Empfängnisverhütungsmittel, insbesondere der Pille, würde weibliches Triebverhalten dominierend, wodurch, insbesondere in den weiterentwickelten Staaten, ein Bevölkerungsrückgang vorprogrammiert sei. Also, sei die demografische Entwicklung nicht vom Intellekt der Menschen sondern von biochemischen Vorgängen gesteuert. Wenn ich es mir so überlege, könnte da was dran sein. Bei unser Silvia scheint aber diese Theorie nicht zutreffen; sie scheint eher auf männliches Fortpflanzungsverhalten programmiert zu sein. Da sie sich, insbesondere aufgrund ihrer Ausbildung zur Diplom-Landwirtin, mit dem ersten Kind über 28 Jahre Zeit ließ, glaubten die Steinmars der Wunsch nach dem Kinderquintett sei inzwischen erloschen. Jetzt, nach dem bereits das dritte Kind unterwegs ist, befürchten unsere Nachbar nun, dass ihre Tochter ihre Wünsche im Hauruckverfahren verwirklichen könne. Aber immerhin sei sie nun inzwischen auch schon Dreißig. Von ihrem Schwiegersohn, also von meinem Hendrik, können sie wenig Unterstützung erwarten, denn der findet die Kinderwünsche seiner Frau ganz toll. Ich sprach gegenüber Beate auf Silvias Äußerung an der Eulenburg hinsichtlich des dritten und letzten Kindes an. Beate meinte aber, dass sich dieses nach einen Selbsttrost hinsichtlich ihres Alters angehört habe, was aber im Umkehrschluss auch heißen kann, dass, wenn es möglich ist, wir noch zwei weitere Male „Paps, es ist schon wieder passiert“ zu hören bekommen. Na ja, mir ist es so oder so recht; ich mische mich nicht ein. Zum Kapitel 40
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Wenn Aussteiger aussteigen Wer aus den letzten Kapiteln schließt das ich jetzt perfekt sei und es an mir nichts mehr zu ändern gäbe unterliegt dem Irrtum des Augenscheins, aber wer glaubt schon das andere perfekt seien – allerdings gibt es nicht selten Typen die dieses, allerdings nur in selbstverkennender Borniertheit, von sich glauben. So etwas kann man dann dem Größenwahn des Betreffenden zuschreiben und so was führt in der Regel irgendwann mal zu einem gewaltigen Absturz des „Erkrankten“. Wer sich selbst auf einen zu hohen historischen Sockel stellt läuft Gefahr als hässliches Verkehrshindernis umgestürzt und entsorgt zu werden. Also bei mir gibt es noch sehr viele Dinge, mal größer und mal kleiner, die es an mir zu verändern gibt. Und ist mal eine „Macke“ ausgetrieben, stellen sich gleich neue ein beziehungsweise werden weitere, bisher ungesichtete, deutlich sichtbar. Nun, Ende August dieses Jahres war mein Bruder mit den größeren Veränderungen an der Reihe aber die hatten dann gleich mehr oder weniger erhebliche Auswirkungen auch auf mich. Aber jetzt wie üblich alles schön der Reihe nach. Das ich inzwischen zu den regelmäßigen Gottesdienstbesuchern zähle habe ich ja bereits berichtet. So war es auch am 26. August. Allerdings zogen Beate und ich nicht anschließend gleich heimwärts. Wir hatten uns mit ein paar Bekannten in die „Schänke am Dorfplatz“ zurückgezogen und uns dort so ein Wenig verquasselt. Warum auch nicht, denn Kommunikation von Mensch zu Mensch ist ein wichtiger und wertvoller Bestandteil des Lebens. So war es schon Zwanzig vor Zwei als wir wieder in den eigenen vier Wänden gesichtet wurden. Und prompt schellte das Telefon. Am anderen Ende war Rosi: „Mann oh Mann, wo ward ihr denn? Hier (in Kanada) ist es zwar erst kurz vor Sieben aber schon seit Sechs versuche ich dich zu erreichen.“. „Bist du aus dem Bett gefallen?“, fragte ich dazwischen. „Kann man so sagen.“, setzte Rosi jetzt fort, „Jürgen ist gar nicht gut dran. Der liegt schon die ganze Zeit nur im Bett. Aber es ist nichts ernstes ... also ihr braucht jetzt nicht in Angst und Sorge verfallen. Trotzdem, ... es bringt ja nichts und wir wollen bereits kommenden Mittwoch zurückkommen und wir wollten dich fragen, ob du uns vom Flughafen abholen könntest. So wie Jürgen sich jetzt fühlt, hat er keinen Bock auf eine Taxifahrt.“. Das ging natürlich, ich hatte ja sonst nichts vor und ein neues Auto habe ich ja auch. Rosi wollte mir am Dienstag noch die genauen Ankunftsdaten durchgeben, sagte dann noch einmal wir sollten uns keine Sorgen machen und verabschiedete sich mit „Dann wünsche ich euch noch einen schönen Sonntag.“. „Keine Sorgen machen“ sagt sich so leicht dahin, aber insbesondere als ich mein Handy, was ich vor dem Gottesdienst abgeschaltet und bis jetzt vergessen hatte, wieder in Betrieb nahm und feststellte, das Rosi zwischenzeitig insgesamt viermal versucht hat mich auf dem Handy zu erreichen, stellten sich doch so einige sorgenvolle Gedanken ein. So ganz ohne Grund ruft man ja nicht in den frühen Morgenstunden aus der Ferne in der Heimat an. Außerdem würden sie jetzt fast zwei Wochen früher wie ursprünglich geplant zurück kommen. Ich war immer Drauf und Dran doch wieder zurückzurufen. Beate versuchte mich zu beruhigen: „Also, dass es sich bei Jürgen nicht um einen kleinen Schnupfen handelt, erklärt sich schon aus der aufgeregten Art und Weise wie Roswitha anrief. Aber wenn dein Bruder bereits beim Totengräber auf der Schüppe stände hätte sie sich auch ganz anders, viel aufgeregter, artikuliert. Sagen wir mal die Lage ist ernst aber noch lange nicht hoffnungslos. Wenn du jetzt zurückrufst bringst du sie vielleicht vollkommen aus den Tritt und dann kommt alles vielleicht noch verwirrter rüber. Damit tust du weder dir noch Roswitha einen Gefallen. Mache doch das einzig Richtige: Wenn du willst dann spreche ein Gebet aber auf alle Fälle warte ab.“. Na ja, ich hatte mir schon einiges an Sorgen gemacht bis Rosi am Dienstagnachmittag anrief, um mir die Daten für ihre Rückankunft durchzugeben. Jetzt musste ich aber doch fragen: „Du hast zwar gesagt, dass wir uns keine Sorgen machen sollten, aber ich habe es doch nicht verhindern können, dass sich immer wieder welche bei mir angemeldet haben. ... Was ist denn eigentlich los?“. „Ach Walter, habe doch ein bisschen Vertrauen.“, tönte es freundlich vom anderen Ende, „Das ihr euch keine Sorgen machen braucht, kannst du mir ruhig glauben. Jürgen hat, wahrscheinlich durch den langen Flug, ein paar Kreislaufprobleme gekriegt. Und wir hatten hier eine Rundreise gebucht und da ging es dann jeden Tag zu einem anderen Ort und da konnte er sich gar nicht richtig erholen. Natürlich hat er auch einen Arzt konsultiert. Der empfahl ihm in erster Linie Ruhe und Erholung. Wir sollten die Rundreise abbrechen und an einem Ort richtig Ruhe tanken. Da meinte dann Jürgen am Samstag, dass er das am Besten zuhause in Seetal könne. Da hat er wohl recht und da haben wir uns hier gleich um die Buchung eines Rückflugs gekümmert. Als alles klar war hat bei Euch schon die Uhr auf nach Zehn gezeigt und da wollte ich nicht mehr anrufen. Aber in der Nacht hat Jürgen furchtbar schlecht geschlafen und aus Angst habe ich bereits des Morgens um Fünf einen Arzt bestellt. Der war dann der Meinung das jetzt ein labiler Kreislauf und ein Wenig Aufregung zusammenkamen aber nichts weiteres Besorgniserregendes vorliege. Jürgen bekam ein Beruhigungsmittel und hat auch dann ganz gut geschlafen. Am Nachmittag ging es ihm schon viel besser. Nur an diesem Morgen war ich, das kannst du sicher verstehen, dann ein Wenig aufgekratzt und dann habe ich mir ‚die Zeit damit vertrieben’ bei dir anzurufen. Ich wollte auch weiter keine Pferde scheu machen und woanders anrufen ... Ach gut, dass ich davon spreche, du hast doch niemanden was gesagt.“. „Nee, keine Sorge,“, sagte ich jetzt, „seit Sonntag hatten wir noch kein interfamiliäres Meeting. Aber gleich, wenn die Kinder im Bett sind wollten Hendrik und die werdende Mama mal für ein Stündchen rüberkommen. Dann sage ich nur ihr hättet ‚Heimweh’ und kämt schon Morgen zurück, ansonsten lasse ich es bei der Information ... mehr weiß ich ja auch nicht.“. Rosi kommentierte daraufhin: „Dein Vorschlag hinsichtlich der Infos geht in Ordnung. Aber was heißt werdende Mutter? Das kann doch nicht sein, dass Silvia schon wieder schwanger ist.“. „Woher hast du die Weisheit,
dass das nicht sein kann ... Es ist so, wir beide werden jetzt schon zum dritten Mal Großeltern.“, verklickert ich ihr lachend. „Ich dachte noch vor nicht allzu langer Zeit, ich sei noch ein junges Mädchen,“, kam jetzt von ihr, „und jetzt beweißt mir unsere Schwiegertochter immer mehr, dass ich bereits ein echtes Ömachen bin.“. Danach verabschiedeten wir uns und ich war schon im Begriff aufzulegen, als ich noch mal Rosi „Stopp“ rufen hörte. Sie hatte noch eine Bitte: „Ach Zachi, Jürgen hat das Rauchen aufgegeben oder besser gesagt im eigenen Interesse aufgeben müssen. Könntest du vielleicht am Flughafen erst einmal kräftig durchlüften und macht es dir was aus, während der Rückfahrt nicht zu rauchen?“. Jetzt konnte ich ihr sagen, dass ich einen neuen Wagen hätte und bis jetzt nur auf Kurzstrecken in nicht rauchender Weise damit gefahren sei. Ich versprach ihr dann, nicht im Wagen zu rauchen, bevor ich sie in Seetal rausgelassen hätte. Ich könne ja zwischendurch mal für eine Zigarettenlänge anhalten. Nachdem Gespräch war ich hinsichtlich der Sorgen um meinen Bruder etwas beruhigt, denn ich wollte doch Rosis Worten Glauben schenken. So wie ich meine Exfrau und Schwägerin kenne wäre die, wenn es schlimmer gewesen wäre, doch spürbarer aufgelöster gewesen. Der letzte, beinahe zuvor vergessene Gesprächsteil machte mir allerdings zu schaffen – und dabei ging es mir in erster Linie um mich selbst. 20 bis 30 Gauloises am Tag, in Stresssituationen sogar mehr, kann man nun wirklich nicht gerade mit Augenzwinkern als gesundheitsförderlich bezeichnen. Und wenn ich mal ein paar Treppenstufen mehr oder im Gelände einen steileren Weg hinauf gehen muss arbeitet meine Pumpe auch schon mit höchster Taktfrequenz und ich muss um eine ausreichende Luftzufuhr kämpfen. Jetzt habe ich die Chance mit meinen Bruder in einem Aussteigerwettbewerb zu treten. Wer hält durch, wer schafft es. Solcherlei Wettbewerbe mit Jürgen haben mich doch in jüngeren Jahren auf anderen Gebieten in Höchstform auflaufen lassen. Die passionierte Nichtraucherin Beate würde mich sicherlich im Kampf gegen meine Nikotinsucht unterstützen. Sollte ich die Gelegenheit nutzen und jetzt auch aufhören? So saß ich fast eine Stunde in diese Richtung grübelnder Weise auf der Couch. Immer wieder hatte ich die blaue Packung mit den Gedanken „Nur noch eine letzte Zigarette“ in der Hand, schaute sie an und steckte sie wieder weg. In dieser Zeit war ich auch nicht gerade gesprächig, so das Beate mehrfach nachfragte ob ich etwas habe, was ich aber grundsätzlich nur verneinte. Ich dachte über Aussteigerstrategien nach und holte mir in Erinnerung, dass nach allem was ich diesbezüglich gehört oder gelesen habe, diese nicht viel bringen. Die Devise muss also „Ganz oder gar nicht“ lauten. Dann kam der Moment, den Beate buchstäblich mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mund verfolgte. Ich fuhr plötzlich von meinem Sitz hoch, zog die angefangene Zigarettenschachtel aus der Tasche und zerknüllte diese, samt Inhalt, mit ausgestreckten Arm in der Luft. Schnurstracks ging ich zum Schrank in dem die angefangene Stange deponiert war und verließ den Raum um alles der Mülltonne zu übergeben. Als ich wieder reinkam tönte ich forsch zu Beate: „Schluss aus, ich rauche nicht mehr, ich steige bei den Rauchern aus.“. Beate sah mich nur an und konnte vor Staunen und Wundern jetzt nichts sagen. Erst nach etwa fünf Minuten rang sie sich zu den Worten „Ein Aussteiger steigt aus. Dann wünsche ich dir, dass du auch stark bleibst und viel Glück.“ durch. Damit hatte sie gar nicht so unrecht. Ich habe zwar bis zum heutigen Tage, 23. Oktober 2001, durchgehalten und seitdem keine einzige Zigarette mehr geraucht, aber es war und ist immer noch schwer. Insbesondere wenn ich den Qualm von anderen Rauchern rieche zittern mir die Hände und verspüre einen starken Drang mir doch einen Glimmstängel zu besorgen und anzuzünden. Jetzt verstehe ich auch, warum gerade ehemalige Raucher am fanatischsten gegen Raucher vorgehen. Rauchen ist eine echte Sucht, mit Alkohol, Kokain oder anderem zu vergleichen. Schon ein leichter Duft oder ab und zu der Anblick eines genüsslichen Rauchers lässt eine wilde Begierde in einen aufkommen. Auch unter richtigen Entzugserscheinungen hatte ich zu leiden. Teilweise zitterten mir recht arg die Hände und ich hatte äußerst Schwierigkeiten mich zu konzentrieren. Dieses scheine ich aber nun langsam überwunden zu haben; immer seltener nehme ich solche Erscheinungen wahr. Was mir viel geholfen hat und immer noch hilft, ist dieser wettbewerbsmäßige Gedanke, dass das was Jürgen schafft auch mir gelingt und zum anderen der bewundernde Zuspruch anderer, insbesondere der von Beate. Was auch immer mehr aufkommt und mithilft ist der Eigenstolz. Ich bin richtig stolz auf mich, der doch bald vier Jahrzehnte starke Zigaretten in höheren Dosen geraucht hat, so viel Kerl zu sein und das ich von einen auf den anderen Moment dem Teufel Nikotin „Auf Nimmerwiedersehen“ sagen konnte. Im Moment erfüllt mich hinsichtlich meiner Entziehung auch noch eine politische Genugtuung. Unter dem Vorwand des Antiterrors versuchen die Leute, die zwar „Einigkeit und Recht und Freiheit“ als Nationalhymne singen, aber das Wort „Freiheit“ durch „Sicherheit“ ersetzen möchten, den Überwachungsstaat zu etablieren. Dann ist es in unserem Staat zwar nicht mehr so lebenswert aber dafür aber vermeintlich sicher. Das Wort „vermeintlich“ ist angebracht, denn vieles spricht gegen die Annahme, dass die Maßnahmen die erträumten Erfolge erbringen können. Mögleicherweise kann man etwas, was schon mal so gewesen ist, vereiteln aber das Verbrechen erweist sich durch die komplette Menschheitsgeschichte als überaus anpassungsfähig. Es wird immer wieder neue Formen, mit denen man nicht gerechnet hat und daher auch eventuelle Anzeichen nicht beachtet werden können. Will man dann die Sicherheitsmaßnahmen so eskalieren lassen, dass es kein Freiraum für die Menschen mehr gibt? Das grundgesetzliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit, in dem die persönlichen, individuellen Belange der Menschen über denen des Staates, der nach unserem Grundgesetz nur dienende, den Menschen untergeordnete Funktion hat, soll durch Obrigkeitsstaatlichkeit ersetzt werden. So sehe ich jedenfalls die Bemühungen der in Law and Order übereifernden Politikusse. Eine hundertprozentige Sicherheit kann es nie geben, es bleibt immer ein Restrisiko und dem soll freiheitlicher Lebensraum, insbesondere die private Sphäre von uns allen, geopfert werden? Für ein ganz kleinwenig
Mehr an Sicherheit sollen viele wichtige Freiheitsrechte geopfert werden – ist das noch verhältnismäßig? Da das Ganze aber auch dem Staat eine Menge Geld kostet ist die Regierung auf die Idee gekommen, sich dieses über die Tabaksteuer finanzieren zu lassen. So ganz nebenbei können dann auch noch ein paar dicke Sümmchen für Kriegsführung in Afghanistan, dessen Begründung – Terrorismus hin und Terrorismus her – mir nicht so recht einleuchtet, umgeleitet werden. Also lautet die Devise „Sicherheit statt Freiheit und deshalb rauchen für Sicherheit und Krieg“. Aber ohne mich meine Herren Schröder, Schily und Eichel; ich habe mir erlaubt auszusteigen. Am Abend, als dann Silvia und Hendrik, zu uns kamen, wurde ihnen als Erstes von Beate berichtet das Aussteiger aussteigen wollen, das heißt, dass die Heuerbrüder nicht mehr zur Kippe greifen wollten und erst dann erfuhren die Beiden das Jürgen und Rosi bereits am nächsten Tag heimkehren wollten. Unser Suchtausstieg hatte wohl in Beates Gedanken die allerhöchste Priorität. Beate erzählte voller Stolz von Rosis Anruf, wobei sie zunächst den Grund ihres Anrufes zunächst gar nicht offenbarte sondern berichtete zunächst dass Jürgen das Rauchen aufgehört habe und das ich anschließend „spontan“ dem Beispiel folgen wollte. Erst dann kam Beate, insbesondere auf Grund meines Zwischeneinwandes, auf den eigentlich grund des Anrufes zu sprechen, wobei es bei den mit Rosi vereinbarten Auskünften blieb. „Donnerwetter,“, staunte Hendrik zum Ende des ersten Teils von Beates Bericht, „dass hätte ich Euch beiden gar nicht zugetraut. Wie ich euch so kenne, wie ihr euch aneinander hoch spult, werdet ihr es unter diesen Voraussetzungen auch schaffen. Der Große, wie ihr euch selbst ja immer mit Großer und Kleiner tituliert, wird es nicht zulassen, dass der Kleine was schafft was er selber nicht schafft und der Kleine will dem Großen zeigen, dass er besser als der Große ist. Wenn ich so bedenke, was ihr selbst erzählt habt war das bisher immer euer Verhängnis und jetzt wird es bestimmt zu eurem Glücksfall.“. Ich nutzte dann auch noch die Gelegenheit um bei den Beiden noch etwas zu hinterfragen: „Als Rosi anrief, habe ich ihr natürlich ... das müsst ihr schon meinem väterlichen beziehungsweise großväterlichen Stolz verzeihen – erzählt, dass sie nun zum dritten Mal Großmutterfreuden entgegen sehen kann. Da sagte sie doch prompt, das ihr, wenn ihr so weiter machen würdet, es bestimmt noch auf fünf bis sieben Kinder bringen könntet.“. „Sieben werden es wohl nicht werden,“, wendete Silvia jetzt ein, „wenn es nicht mehr geht bin ich auch mit dreien mehr als zufrieden. Aber mal sehen, vielleicht machen wir aber tatsächlich die Fünf voll. Einzigste Problem ist natürlich, dass ich auch nicht mehr die Jüngste bin. Aber wenn es klappt, ... warum nicht?“. Also hatte Anneliese neulich recht gehabt, als sie meinte, dass ihre Tochter ihren Jugendtraum von fünf Kindern nicht aufgegeben hatte. Und wie ich an der Zustimmung meines Sohnes bemerkte dürfte der diesbezüglich mit von der Partie sein. Am nächsten Tag waren wir überpünktlich am Flughafen und die Maschine aus Toronto sollte laut Anzeigentafel „nur“ 10 Minuten Verspätung haben. Entzugserscheinungsbedingt konnte ich aber nirgendwo ruhig sitzen bleiben und wandelte mit Beate in der Empfangshalle auf und ab. Irgendwie, so schien mir, geht beim Umherwandeln anstelle des sitzenden Anstarrens der Anzeigetafel die Zeit viel schneller um. Zwischendurch fasste ich immer wieder in die Jacketttasche, in der ich noch am Vortag die Schachtel mit den Zigaretten nebst Feuerzeug vorfand, und erst in diesem Moment trat dann diese Handlung aus dem Unterbewusstsein wieder in das Bewusstsein. Ganz automatisch taste ich in solchen Augenblicken mit den Augen und Gedanken die Halle nach Kioske oder Zigarettenautomaten ab und kam mir dann etwas verwirrt vor. Nur gut, dass ich in diesem Momenten nicht zigarettenschnorrender Weise auf Beate zurückgreifen konnte – die Glückliche hat noch nie geraucht. Auch gut dass ich mir nicht, wie ich es tags zuvor angedacht hatte, eine „Notpackung“ für alle Fälle eingesteckt hatte, denn bei der nur einen Zigarette wäre es bestimmt nicht geblieben. Auf jeden Fall sprach ich einige Male das Machtwort „Nein, ich will nicht“ zu mir selbst. Bei dieser Gelegenheit habe ich nicht viel mit Beate gesprochen, trotzdem versuchte sie immer wieder mich mit unverfänglichen Themen abzulenken. Ihr war es nicht verborgen geblieben dass ich mich auf einem Entzugstrip befand und gab sich alle Mühe mir in dieser Situation unterstützend zur Seite zustehen. Das dürfte nicht immer leicht gewesen sein, denn teilweise reagiert ich doch recht unwirsch und zerknirscht. Dieses war nicht nur an diesem Tag so sondern zog sich dann noch über einen Zeitraum von zirka zwei bis drei Wochen hin. Da war zeitweise weder was von dem Zachi, zu dem ich mich entwickelt habe, noch von der roboterhaften Überlegenheit des Managers, der ich mal war, zu spüren. Eigentlich bringen Überlegungen in die Richtung, dass man, wenn man noch einmal auf die Welt kommen würde, alles anders machen würde nicht viel, denn erstens kommen wir nicht noch einmal auf die Welt und zweitens würden neue Ausgangslagen und –situationen auch nur zu anderen Widrigkeiten führen. Nur im Falle des Rauchens kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass ich in diese Sucht nicht wieder einsteigen würde, denn der Ausstieg ist verdammt hart. Allerdings bringen diesbezügliche Hinweise mit dem erhobenen Zeigefinger im Grunde überhaupt nichts. Wie sonst könnte es in Großbritannien eine Zigarette mit dem Markenamen Death (Tod) geben und das in einer schwarzen Packung mit aufgedrucktem Totenkopf. Das ist doch wohl mehr als ausreichende Warnung im Sinne der Produkthaftung – die Zigarette verkauft sich, wie ich gehört habe, jedoch recht gut. Und was bewirken die aufgedruckten Hinweise der EG-Gesundheitsminister auf der Schachtel? Ich habe diese oft gelesen und diese zwar richtig gefunden aber trotzdem unbekümmert weiter geraucht. Na ja, während ich mit solchen und anderen Überlegungen gegen meine Entzugserscheinungen ankämpfte merkte ich zunächst gar nicht als Rosi und Jürgen von der Zollabfertigung her in die Ankunftshalle traten. Beate war allerdings aufmerksam geblieben und sagte erst zu mir „Da sind sie“ und rief dann: „Hallo Roswitha, hallo Jürgen!“. Als wir dann
den beiden gegenüber standen sahen wir zwei Leute, die nicht den Eindruck von frischerholten Urlaubern machten. Jürgen ging und stand etwas gebückt. Seine Frisur befand sich nicht in der, bei ihm üblichen Ordnung und auf seiner Stirn sah man Schweißperlen rinnen. Bei der Ankunft hatte er eine sehr rote Gesichtstönung, die später im Wagen auf arg blass wechselte. Und Rosi sah man ihre Sorgen und Ängste sowohl in den Augen wie an dem Gesichtsausdruck aber auch ein Wenig an der Körperhaltung an. Sie hatte am Tag zuvor doch Jürgens Zustand im großen Maße heruntergespielt; mein Eindruck aufgrund der Anrufe vom Sonntag schienen doch zutreffender zu sein. Natürlich verkniffen wir uns jetzt die obligatorische, meistens nichtssagende Floskel „Wie geht’s?“, die mir hier wie Hohn erschienen wären, und nahmen die beiden Ankömmlinge stattdessen erst mal ohne Worte kräftig in die Arme. Rosi und Jürgen nahmen im Wagen auf der Rückbank platz. Mein Bruder legte sich in die Arme seiner Frau und sprach so gut wie kaum ein Wort. Jetzt klärte uns Rosi darüber auf, was wirklich geschehen war. Jürgen hatte bei der Ankunft in Toronto, noch auf dem Flughafen einen Herzinfarkt erlitten und bis letzten Freitag dort in einer Klinik gelegen. Nach seiner Entlassung wollte er gleich nach Hause aber Rosi zog es vor sich diesbezüglich erst von den Ärzten beraten zu lassen. Schließlich konnte sie sich mit Jürgen dahingehend einigen, dass sie sich zunächst einmal ein paar Tage Ruhe nahmen und den Rückflug erst zu diesem Mittwoch buchten. Mit ihren Seetaler Hausarzt hat sie bereits eine längere telefonische Rücksprache gehalten und der hatte inzwischen veranlasst, das Jürgen direkt vom Flughafen ins Waldheimer Krankenhaus eingeliefert wurde. Der Arzt beabsichtigte ein Krankentransportfahrzeug zum Flughafen zu schicken, was aber auf totale Ablehnung bei Jürgen traf. Am Samstagabend konnte sich dann Rosi sich mit Jürgen darüber einigen, dass ich die Abholung übernehmen sollte. Das uns Rosi nicht richtig und ausführlich informierte war Jürgens ausdrücklicher Wunsch. Er glaubte Hendrik und mich so einschätzen zu können, dass wir mit Sicherheit alles stehen und liegengelassen hätten und in Toronto aufgetaucht wären. Nachdem wir ein Weilchen schweigend gefahren waren sinnierte Rosi: „Ich versteh das nicht. Das Einzigste was man bei Jürgen als Risikofaktor hätte ansehen können war sein Rauchen. Aber das hat er in letzter Zeit ja gegenüber früher schon erheblich reduziert. Ansonsten machte er doch alles was man unter gesundem Leben versteht. Er organisierte doch nicht nur Sport sondern bewegte sich stets auch selbst aktiv ... und wenn es nur ein Spaziergang um den Seetaler Weiher war. So war er auch Tag für Tag mindestens eine Stunde an der frischen Luft. Von Fast Food hat er nie was gehalten. In seiner aktiven Zeit war es ihm nicht standesgemäß und danach konnte ihn diese Art der Menschenabfütterung nicht begeistern. Immer hat er Vollkost mit nicht allzu viel Fleisch gegessen. Alkohol hat er nur bei bestimmten Gelegenheiten getrunken und dann immer nur ganz kontrolliert. ... Ich verstehe es nicht. Die Ärzte in Toronto haben doch auch gesagt, dass bei solchen Sachen nie ein Faktor alleine sondern immer mehre zusammen eine Rolle spielten. Das Rauchen alleine kann es doch nicht gewesen sein. ... Ich verstehe es nicht.“. Danach schwieg Rosi wieder einen Moment. Als wir dann an einem Rastplatz vorbeigefahren waren glaubte Rosi mir was sagen zu müssen: „Walter, wir wollen dich aber nicht unter Druck setzen. Wenn du mal eine Viertelstunde zum Rauchen aussteigen willst, dann kannst du das ruhig machen. Jürgen geht es im Moment ganz gut ... Der schläft jetzt sogar ganz ruhig.“. Die Antwort kam aber nicht von mir sondern von Beate: „Nach eurem gestrigen Telefongespräch wollte Zachi auch nicht mehr rauchen und hat seine letzten Zigaretten weggeworfen. Ganz wohl ist ihm jetzt natürlich nicht dabei, aber ich wünsche ihm trotzdem das er den Ausstieg schafft.“. Erstmalig mit erfreuter Stimme sagte jetzt Rosi: „Das finde ich wunderbar. Unser Zachi ist wirklich ein Schatz. Wenn er aufhört ist das ein Ansporn für Jürgen und für den ist das die Chance alt zu werden ... Und ich möchte doch mit meinen Schatz sehr alt werden.“. So war ich ganz unbewusst im Begriff was Gutes zutun – und das half wiederum mir. So fuhren wir dann in einem Rutsch zügig bis zum Waldheimer Krankenhaus durch. Jürgen wurde in der Tat dort erwartet und gleich untersucht. Etwa eine Stunde saßen wir im Nichtraucher-Besucher-Zimmer. Währenddessen erfuhr dann auch Rosi wie wir zu unserem neueren, deutlich kleineren Wagen gekommen waren und auch über Silvias bevorstehendes drittes Mutterglück wurde gesprochen. Bei der Gelegenheit gab ich gegenüber Rosi auch eine Omaglückwarnung, in dem Sinne das unser Sohn und unsere Schwiegertochter von einer fünffachen Kinderschar träumten, aus. Sie nahm es genauso gelassen wie ich. Auch sie war der Meinung, dass die beiden dieses alleine entscheiden müssten. Zum Glück brauchten ja Silvia und Hendrik diesbezüglich keine wirtschaftlichen Überlegungen anstellen. Bei dieser Gelegenheit fragte Rosi Beate ob sie wisse wie ihre Tochter Anna Lena denn darüber denken würde. Nun, diese habe immer die Ansicht vertreten, dass Kinder nicht unbedingt sein müssten aber wenn, dann sollten es zwei werden. Der Hintergrund hätten in ihren eigenen Erfahrungen als Einzelkind gelegen. Anna Lena war der Meinung, dass Alleinsein – hier nur im Sinne von Geschwistern – nicht immer so schön sei. Ab und zu wäre es ganz gut wenn man, auch mal gegen die Eltern, eine Leidensgenossin oder –genossen hätte. Aber mehr als zwei Kinder wolle sie auf keinen Fall haben. Rosi meinte, dass sowohl Silvias wie auch Anna Lenas Wünsche nachvollziehbar seien. Dann fügte sie noch an: „Na ja, ich hatte zwei Kinder, je eines von den beiden Männern, die ich im Leben geliebt habe und auch immer noch liebe ... Tut mir leid Beate, aber ich meine tatsächlich beide. Aber trotzdem keine Angst, gerade weil ich Walter immer noch liebe mache ich nichts, denn er hat es verdient glücklich zu werden und das kann er nur bei dir.“. Beate nahm sie in den Arm und sagte: „Ist schon in Ordnung Roswitha, ich kann dich gut verstehen. ... Und im Grunde müsste ich dir Danke sagen.“.
Weiter konnte diese Konversation nicht geführt werden, da der Arzt in Begleitung einer Schwester eintrat. Der Arzt sagte wir brauchten uns keine Sorgen zu machen. Jürgen sei zwar jetzt ein Wenig vom Rückflug angeschlagen aber ansonsten ginge es ihm den Umständen entsprechend ganz gut. In ein oder zwei Tagen sei der wohl wieder richtig auf den Beinen aber sie wollten ihn doch noch für zirka eine Woche im Krankenhaus behalten. Da sich dieses mit Rosis laienhaften Beobachtung und insbesondere ihren Wünsche deckte war sie richtig erleichtert, so dass wir uns ab diesem Moment zumindestens um sie keine Sorgen machen brauchten. Rosi ging noch eine halbe Stunde zu ihrem Schatz und danach fuhren wir sie dann nach Hause. Dort konnten wir sie dann auch unbesorgt verlassen, sie war, so unsere Überzeugung, durch und durch wieder die Alte. Eine Woche später war dann Jürgen tatsächlich wieder zu Hause. Er hatte von seinem Gesundheitszustand einen guten Eindruck und nach unserer Meinung täuschte er sich nicht. Trotzdem nahm er dann doch noch einige Änderungen in seinem Leben vor. Erstens wollte er, in Übereinstimmung mit Rosi, keine Reise mit langen Wegen mehr vornehmen. Was im Umkehrschluss nicht heißen sollte, dass er jetzt am Ort kleben bleiben wollte. Er meinte Deutschland und Umgebung seien auch sehr schön und reisenswert. Im Gegenteil, er dachte so gar noch öfters als bisher auf Tour zu gehen; im Nichtstun wollte er nicht versauern. Dieses Nichtstun muss auch dahin gesehen werden, dass er sich langsam von seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten verabschieden wollte. Er war gerade wieder zu Hause als er schriftlich seinen Rücktritt vom Fraktionsvorsitz seiner Unabhängigen Wählergemeinschaft erklärte. Allerdings will er seinen Sitz im Rat bis zur nächsten Kommunalwahl beibehalten; jedoch nur als „einfaches“ Fraktionsmitglied. Allerdings will er den Vorsitz bei der Sportgemeinschaft Seetal radikaler aufgeben. Mit seinen Vorstandskollegen hat er abgesprochen, dass er noch bis zur nächsten ordentlichen Hauptversammlung nur auf dem Papier der erste Vorsitzende bleibt, dann will er für keinen Vorstandsposten mehr kandidieren. Er sagte mir, dass er diesen Schritt nicht nur aus gesundheitlichen Gründen unternimmt. Bei ihm habe beim Fußballsport immer die Gemeinschaft und Geselligkeit oben angestanden. Dabei seien Leistung und Sieg für ihn zwar nicht unwichtig aber im Grunde doch deutlich nachrangig gewesen. Die Zeiten wären nun wohl vorbei. Nur ungern würden sich heutige Spieler nach dem Training oder nach dem Spiel mal zu einem Bierchen zusammensetzen – gespielt und weg. Vereinstreue gäbe es heute auch nicht mehr, mit Scheinchen müsste man sich Söldner zusammenkaufen und von den klassischen Vereinen, wie er sie geliebt hat, wäre nur noch der Name geblieben. Er hielt es für Schizophrenie das bei seiner ersten Mannschaft nur maximal zwei echte Seetaler aufliefen., den Rest hätte man im ganzen Kreis Waldheim angeheuert. Das war nicht Jürgens Welt, da stieg er nun doch gerne aus. Letztlich war dann noch seine Geschäftsführertätigkeit im Heimat- und Verkehrsverein Seetal, die er aus zwei nachvollziehbaren Gründen beibehalten wollte. Erstens war er der Meinung, dass man trotz allem immer etwas um die Hand haben sollte und nicht rosten dürfe. Zum Anderen machte Rosi die praktische Geschäftsführerarbeit und dieses so gar gerne. So würde er bestenfalls dort zu Gunsten seiner Frau zurücktreten. Ja Leute, wenn Aussteiger aussteigen sieht das in etwa so aus wie ich dieses in diesem Kapitel beschrieben habe. In unserem Fall hatte sich auch ein Wenig Geschichte wiederholt. Damals ging es um Big Business und heute ums Rauchen. Erst fiel Jürgen auf die Nase und zog mit einem Ausstieg daraus die Konsequenz – und ich, der Kleine, folgte ihm aus anderen Erwägungen mit einem gewissen Zeitabstand – aber in beiden Fällen war es offensichtlich noch nicht zu spät. Ich weiß nicht, irgendwie bin ich doch ein Wenig stolz auf mich, was ich zu den Zeiten als ich den „große Manager“ mimte nie war. Vielleicht liegt wahres Glück tatsächlich nur in den kleinen Dingen, die in der Regel weder Materielles bringen noch fordern. Zum Kapitel 41
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Der Pate und seine Leute Das nächste Ereignis in der Heuerfamiliengeschichte in chronologischer Folge war der zweite Geburtstag unsere kleinen Christofs am 11. September 2001. Richtig der Tag als massenmordende Terroristen mit besetzten Passiermaschinen in die Türme des World Trade Centers und in ein Gebäude des Pentagons flogen. Die Terroristen, die sich von teuflischen fanatischen Rattenfänger haben einreden lassen, sie handelten im Namen Allas, machten dieses mit tausendprozentiger Sicherheit nicht im Sinne des Korans. Der Islam ist grundsätzlich eine friedfertige Religion. Im Koran heißt es, dass derjenige der nur einen Menschen tötet die ganze Menschheit tötet. Daher finde ich dieses Schlagwort „Islamisten“, das laufend von den Medienschwätzern und Politmatadoren gebraucht wird, so schrecklich. Wegen ein paar tausend Psychopaten werden Millionen rechtschaffender, friedliebender Muslims mit diesem Unwort in die Nähe der Verbrecher gebracht. Und bei der, zumindestens in dieser Richtung ungebildeten Menschen fällt dieses Hasswort, so er scheint es mir, auf einen fruchtbaren Boden. Na ja, die Vergeltung, die man wortverdrehender Weise Verteidigung nennt, ist ja auch nicht im Sinne des Neuen Testaments. „Die Rache ist mein.“, spricht der Herr, „Richtet nicht, auf das ihr nicht gerichtet werdet.“ . Weder die Terroristen noch die Verteidiger der zivilisierten Welt handeln im Sinne Gottes; dahingehend stehen beide Seiten diesbezüglich auf der gleichen Stufe. Von den Erwachsenen der Familien Heuer und Steinmar feierte ausschließlich Silvia zusammen mit den Kindern des Ulkerders Kindergartens den Geburtstag ihres Sohnes. Wenn für die Kinder aus der Stadt auf dem Steinmarhof Geburtstagspartys gefeiert werden, kann man dieses doch den „Stammhalter“ der Bauernfamilie nicht verwehren. Wir Erwachsenen unterließen das Feiern aber nicht wegen der Ereignisse in den Vereinigten Staaten sondern weil wir uns schon lange vorher für den darauffolgenden Sonntag zu einem Familienfest verabredet hatten, da sollte nämlich der jüngste Spross unserer Familien, die kleine Christina, getauft werden. Anneliese Steinmar und ich sollten die Paten für unser Enkelkind sein. Der Grund ist ganz einfach: Rosi und Ernst August sind Christof Paten. Beate, die ursprünglich mal von Hendrik und Silvia angesprochen worden war, wollte nicht und hat selbst die Anregung zu Annelieses Patenschaft gegeben. Bei dieser Gelegenheit wollten wir auch gleich 2 Jahre Eltern-, Onkel- und Großelternschaft mitfeiern. Wegen der Ereignisse in den USA hätten wir die Feiern, Entsetzen hin und Mitgefühl her, nicht abgesagt. Die meisten die jetzt den Stab über uns gebrochen hätten sind ja ohnehin nur Heuchler, die einem populistischen Trend folgen. Besonders schlimm kann man die ansehen, die sofort von einem Medienfitzen zum andern pilgerten um denen in einem Wortschwall unter anderem mitzuteilen, wie sprachlos sie momentan seien. Wer „sprachlose Schwätzer“ bisher noch nicht kannte, kennt sie aber seit jenem 11. September. Na ja, das Leben geht weiter. So wie es in der Vergangenheit immer wieder Menschen gab, die bestialisches Untaten begingen, wird es auch in Zukunft welche geben. Und immer wieder wird es auch Leute geben, die dann in unchristlicher oder unislamischer Weise „Rache, Vergeltung, Tod den Tätern“ schreien. Die Erkenntnis, dass man nur mit Liebe Hass besiegen kann, ist mindestens 2000 Jahre alt, mindestens seit der Bergpredigt unseres Herrn Jesus Christus sollten dieses die Menschen, insbesondere die, die sich Christen nennen, wissen. Und dieses wurde bisher auch in vielen Beispielen bewiesen aber rumgesprochen hat sich dieses bei der Masse wohl noch nicht. Es sind halt, wie es im Neuen Testament heißt, viele berufen aber nur wenige auserwählt. Eigentlich wollten Beate und ich am 11. September das Kapitel „Ein Imperium wird zum Töchterchen“ schreiben aber wie ich diesem selbst schon schrieb, wurde wegen der aktuellen Ereignisse, die natürlich auch unsere Gedanken in Anspruch nahmen, daraus nichts und auf den nächsten Abend verschoben. Auch ganz selbstverständlich ist, dass Silvia, als sie erfuhr was los war, einige Gewissenskonflikte bekam ob sie den Kindergeburtstag abbrechen sollte oder nicht. Aber wenn sie abgebrochen hätte, wie wäre das von den Kindern verstanden worden? Ganz geschweige denn, wenn sie sich zuhause zu den Erwachsenen, die an diesem Tag auch aus verständlichen Gründen vor dem Fernseher hockten, gesellt hätten und die, so mein Eindruck, in einer Endlosschleife laufenden, erschütternden und makaberen Bilder gesehen hätten? So was können Kinder nicht verstehen und verarbeiten. Ängste und Alpträume, auch im späteren Leben sind damit dann doch vorprogrammiert. Soll denn aus einer Medien- und Konsumgesellschaft auch noch eine der psychisch Kranken werden? Dann finden aber gefährliche Rattenfänger der Marken Hitler und Bin Laden, ein wohl unerschöpflich breites Rekrutierungsfeld. Hunger, Leid und Angst sind die Väter und Mütter des Hasses und Menschen die hassen, standen und stehen auf den Rekrutierungslisten von Inquisitionssöldner, SS, Gestapo, Stasi, christliche Mordmilizen im Libanon, IRA, Al Kaida und anderen Mordgesellschaften. Wer heute hasst ist nur zu leicht bereit morgen zu morden. Deshalb sollten wir uns in aller erster Linie Gedanken um mehr Gerechtigkeit auf der Welt machen. Liegt das Heil der Welt wirklich in Globalisierung und Working pur? Darüber nachzudenken bringt mit Sicherheit für künftige Generation mehr als alle tausend Vorschläge mit denen man unter dem Siegel der Inneren Sicherheit unsere freiheitliche demokratische Ordnung in einen sicheren demokratistischen Polizeistaat verwandeln will. Aber sorry, wie aus dem Munde von Wichtigtuern aus Medien und Politik zu hören war, ist ja so eine Kritik, wie ich sie jetzt vortrage, nach den Terroranschlägen in Amerika so eine Art Verrat an der, ums Goldene Kalb tanzenden ganzen zivilisierten Welt. Nun aber Schluss mit der Politisierei; jetzt wenden wir uns wieder dem Geschehen um die Heuers zu. Und da stand, wie ich bereits erwähnte, am Sonntag, den 16. September 2001, die Taufe unserer Christina an. Schon um Neun des Morgens hatten wir uns allesamt auf den Steinmarhof versammelt. Zunächst stand unser „Großer“, also mein Bruder Jürgen, im Mittelpunkt der Gesellschaft. Den Grund kann man sich denken: Er war zwar bereits wieder fest auf den
Beinen aber man sah ihm seine gerade überstandene Krankheit noch recht deutlich an. Und daran nahmen wir selbstverständlich Anteil, vielleicht sogar ein Bisschen mehr als an dem traurigen Schicksal der Terroropfer von New York. Ein Bruder, Schwager oder Onkel liegt einem nun doch näher als Feuerwehrleute in New York – und dieses habe ich jetzt nicht einmal böse gemeint. Natürlich wurde im Zusammenhang mit meinem Bruder natürlich auch mein Raucherausstieg erwähnt und gewürdigt; aber ein großes Thema war es an diesem Taufsonntag allerdings nicht mehr. Auch Silvias dritte Schwangerschaft fand noch Beachtung, aber ebenfalls nur kurz. Doch diesen Augenblick nutzte meine Schwiegertochter jedoch um ihre Mutter total zu schocken: „Ich habe das Gefühl, dass es diesmal Drillinge oder Vierlinge werden.“. „Oh Gott,“, kam fast schockiert schreiend aus Anneliese heraus, „du wirst doch wohl nicht ...“ und an dieser Stelle wurde sie von unserem Gelächter unterbrochen. Bei der Feier am Nachmittag sagte sie, dass sie irgendetwas mit Familienfußballmannschaft auf den Lippen gehabt habe. Aber so ganz wohl ist es Anneliese auch heute noch nicht, denn schon öfters hat ihre Tochter ernstgemeintes scherzhaft rüber gebracht. Na ja, Silvia ist es selbst in Schuld wenn sie jetzt ihrer Mutter ständig bekunden muss, dass alles im grünen Bereich sei. Das heißt, dass in ihr „nur“ ein weiteres Solokind am Werden ist. Na, dieses nur am Rande. Wichtig für unsere Geschichte ist, dass wir alle versammelt waren und wir so zirka Zwanzig vor Zehn so in einer Art Prozession vom Steinmarhof zur Kirche zogen. Als stolzer Patenonkel hatte ich an diesem Tag die Führerschaft über Christinas Kinderwagen übernommen und der ganze Rest der Familie folgte uns fröhlich plauderten. Als wir von der Straße auf den Weg zur Kirche einbogen rief mir Thomas Völler, der etwa auf der Mitte des Wege zwischen Straße und Kirche, also dort wo der Eingang zur Sakristei ist, stand, entgegen: „Ach, da kommt der Pate mit seinen Leuten.“ Prompt gab es ein Zwischenfall der mich doch irgendwo reichlich wurmte. Ein mir bisher unbekannter Herr kam mit seiner Frau die Straße entlang. Als er Thomas Worte vernahm sagte er so laut, dass ich es hören konnte, zu seiner Frau: „Der Pate, das kann man wohl sagen. Was der feine Herr um sich zu bereichern alles an Arbeitsplätzen und Existenz vernichtet hat.“. Gerne hätte ich diesen Knaben jetzt zur Rede gestellt, zog es aber vor, so zutun als habe ich nichts gehört – was in diesem Augenblick vermutlich sogar das Beste war. Dieser Zwischenfall ließ mich aber so schnell nicht los. Während des gesamten Gottesdienstes kam ich davon nicht ab und immer wieder schweiften meine Gedanken zwischendurch zu diesem Vorfall zurück. Eigentlich hatte er ja recht, das habe ich ja wirklich getan und kam mir dabei noch rechtschaffend vor. Im Grunde konnte ich mich damals, genauso wie andere Manager und Politiker, überhaupt nicht in die Lage der Leute, die wir – oder sagen wir ungeschönt ich – freisetzten, hineindenken. Damals ging ich davon aus, dass die Leute doch durch das soziale Netz, was ich damals sogar als viel zu großzügig gesponnen ansah, abgefedert seien. Das man mit Nettoeinkünften zwischen zwei- und viertausend Mark keine großen Sprünge machen kann und somit auch nichts auf die hohe Kante legen kann war mir damals, insbesondere da diese Beträge etwa meinen einstmaligen persönlichen Wochenausgaben entsprachen, allerdings klar aber das die Leute entsprechend ihres Einkommens auch ihren Lebensstandard eingerichtet hatten und dann Verschiedene hinsichtlich eventueller Ratenzahlungen bei dem gegenüber dem Lohn oder Gehalt doch deutlich gekürzten Arbeitslosengeld ins Strudeln kamen, hatte ich erst bei den Spaziergangsgesprächen mit Beate bewusst wahrgenommen. Sie konnte mir doch von einigen tragischen Fällen, die sie als Lehrersfrau und Gemeindesekretärin mitbekommen hatte, berichten. Heute glaubte ich reichlich Gründe für die Passage „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern“ im Vater unser zu haben. Jedoch kann man nicht sagen, ich hätte während des Gottesdienstes eine durchgehend „trübe“ Stimmung gehabt. So „nebenbei“ war ich furchtbar stolz, ... stolz darauf der „würdige“ Pate für mein Enkelkind Christina zu sein. Ansonsten fühlte ich mich sehr wohl, ... wohl im Kreise einer „Großfamilie“, die trotz jahrzehntelanger Widrigkeit doch wieder in einen Toppzustand, wie er heute leider sehr selten zu finden ist, war. Des weiteren war ich auch sehr glücklich, ... glücklich darüber dass ich hier in der Gemeinde mit offenen Armen empfangen und so gut integriert worden bin. Und immer wieder empfand ich Dankbarkeit: Einmal war ich recht dankbar, dass es mir trotzt widriger Umstände gelungen ist aus einer humanoiden Existenz ins menschliche Leben umzusteigen. Und als Weiteres war ich dankbar darüber, dass Rosi und Jürgen ihre Krankheiten überstanden hatten und dass ich zu Beate gefunden habe. Und insbesondere, und das ist ja der Anlass des Tages, bin ich dankbar für meine Enkel Christof und Christiane. Also hatte ich überwiegend schöne und glückliche Gedanken, aber die schwarzen Schuldgedanken, die ich im vorhergehenden Absatz beschrieben habe, waren während des Gottesdienstes in der beschriebenen Form immer wieder dazwischen. Aber bereits bei der Mittagstafel waren diese dann schon soweit weg, dass ihr Erscheinen schon nicht mehr erwähnenswert erscheint. Und am Rest des Tages? Na ja, da haben wir gefeiert und dabei waren wir doch alle sehr fröhlich. Die übereinstimmende Meinung aller Festteilnehmer lautet: Es war ein schöner Tag. Am darauffolgenden Abend hatte ich dann eine erneute Begegnung mit dem Herrn, der mich, als er was von den Paten und seinen Leuten hörte, mit einem Boss der Mafia gleichsetzte. Irgendwie hatten Beate und ich an diesem Montag Abend keinen besonderen Drive um an diesem Buch „zu arbeiten“. Na ja, und seit jeher war ich kein großer Freund von Fernsehdauerglotzen und Beate liegt zum Glück auf der gleichen Wellenlänge. Eigentlich hätten uns wieder einmal, so wie es vor der Niederschrift meines Lebens war, den Gesellschaftsspielen zu wenden können, aber Beate hatte doch das Gefühl wir müssten uns mal wieder unter das „gewöhnliche Volk“ im Dorf mischen. Kurz, sie schlug einen Besuch in der „Schänke am Dorfplatz“ vor. Gesagt getan und sofort nach der Tagesschau machten wir uns auf dem Weg. Ich habe es bis jetzt noch nicht groß erwähnt aber einen Besuch in unserer Dorfkneipe nahmen wir doch schon mal von Zeit zur
Zeit vor, so etwa ein Mal in vierzehn Tagen. Man kann also sagen, dass ich so rein äußerlich alle „Macken eines feinen Pinkels“ abgelegt hatte. In der „Schänke am Dorfplatz“ hatten Beate und ich praktisch sogar ein Stammplätzchen. Links am Tresenende war so eine gemütliche Rundbank. Dort saß man vom Sitz her wie an einem Stammtisch aber man war am Tresen, wo sich in den hiesigen Gasstätten das Leben abspielt. Dort hatten wir also unsere Plätzchen eingenommen und unsere Getränke, ich ein Pils und Beate ein Krefelder, vor uns stehend während wir uns mit den anderen Thekengästen unterhielten. Mittlerweile duze ich mich so gut mit fast allen Leuten hier im Dorf und werde daher auch von allen Zachi genannt. Ich habe mich also in meine Jugendzeit, als ich noch ein echtes Landei war, zurückgeneriert. Wir waren etwa eine gute Viertelstunde in der Gaststätte, als diese von dem Ehepaar, was mir Vortage „unangenehm“ aufgefallen war, betreten wurde. Sie wollten dort, wie sich alsbald herausstellte, zu Abend essen. Ich nehme an, der gute Herr ist offensichtlich von seinem Glauben abgefallen, als er mich, aus seiner Sicht so unstandesgemäß, als Otto Normalbürger, der es offensichtlich mit allen Leuten an der Theke gut konnte, dort erblickte. Er schloss es augenscheinlich auch nicht aus sich getäuscht zu haben, denn nach etwa einer weiteren Stunde, die Herrschaften hatten ihr Abendmenü gerade auf, als er zu mir trat: „Entschuldigen sie bitte, sind sie Herr Heuer, Herr Walter Heuer?“. Als ich ihm dieses bestätigte und nach dem Grund seiner Frage erkundigte fuhr er fort: „Ach, ich wollte mich für gestern Morgen entschuldigen. ... Ich nehme an dass sie die Missfallensäußerung, die ich zu meiner Frau gesagt habe, verstanden haben. Ich habe es nicht so gemeint, bitte entschuldigen sie.“. Den Worten nach schien ja alles okay zu sein aber ich glaubte in seinen Augen so etwas zu sehn, woraus man auf Hass schließen könne. Das machte mich nun wieder neugierig und deshalb fragte ich ihn: „Sie kennen mich ganz offensichtlich aber ich glaube das Vergnügen ist einseitig ... oder irre ich mich?“. „Ach entschuldigen sie bitte, meine Name ist Keune.“, beantwortete er mir meine Frage, „Sie irren sich nicht, sie können mich auch nicht kennen. Ich kenne sie ja auch nur aus der Zeitung und aus dem Fernsehen. ... Aber obwohl wir uns nicht kennen haben sie mich mal, ich meine es jetzt nicht böse, um meine Existenz gebracht. Bei uns im Ort spricht man immer, wenn man sie meint, von dem Paten ... abgeleitet von den gleichnamigen Film mit Mario Adorf. Deshalb kam ich gestern auf meine abfällige Bemerkung für die ich mich entschuldigen möchte.“. Insgesamt hatte er mich neugierig gemacht und ich lud ihn ein, dass wir uns zusammen mit unseren Begleiterinnen an einen Tisch setzen sollten. Erst wollte er nicht so recht und ich musste ihn schon ein Wenig überreden, was mir dann aber doch gelang. Dort erfuhr ich dann die Story, wie ich in den Augen der Leute zum Paten wurde. Er kam aus Hammerke, einen kleinen Ort in Norddeutschland. In diesem Ort befand sich das einzigste „Industrieunternehmen“ in der ganzen, ansonsten überwiegend landwirtschaftlichen Gegend. Dieses Unternehmen beschäftigte einstmals über 1.000, meist ungelernte Arbeitnehmer. Keune selbst betrieb in Hammerke eine Gaststätte, die zu den Zeiten, wo die Firma lief, gut florierte. So mancher Mitarbeiter des Unternehmens kam nach der Schicht auf drei oder mehr Bier zu ihm rein. Laut seinen Worten ist das Unternehmen gut gelaufen, was aber auch auf Täuschung durch Augenschein beruhen kann, denn die Anzahl der abgearbeiteten Aufträge kann im Widerspruch zum wirtschaftlichen Erfolg sein. Veralterte Produktionsmethoden und die damit verbundenen Kosten auf der einen Seite und der am Markt erzielbare Preise auf der anderen Seite können in einem solchen Missverhältnis stehen, das kaum oder gar nichts auf der Gewinnseite überbleibt oder, was noch viel schlimmer ist, zu stetig wachsenden Verlusten führt. Ich weiß nicht ob dieses hier der Fall war, denn ich konnte mich an diesen, von mir sicher seinerzeit als Peanuts betrachteten Einzelfall nicht erinnern. Allerdings war meine Überlegung, nach dem was mir Keune erzählte, nicht auszuschließen. Auf jeden Fall war, bis zu dem Zeitpunkt, wo ich auf der Bildfläche erschien, in Hammerke scheinbar eine heile Welt. In Keunes Kneipe spalteten sich zu jener Zeit die Ansichten der Leute über ihre Zukunft. Die Einen hatten ihre Informationen aus wirtschaftsnahen Publikationen und sahen in mir den Trouble Shooter, wovon sie sich eine blühende Zukunft für ihr Unternehmen versprachen. Die Anderen, die gewerkschaftliche Informationen bevorzugten, sprachen vom bösen Kaputtsanierer oder vom Paten einer Globalisierungsmafia. Recht hatten rein oberflächlich ja beide Seiten von ihrer jeweiligen subjektiven Betrachtungsweise aber für die betroffenen Leute in Hammerke war allerdings die zweite Betrachtungsweise letztendlich maßgeblich: Ich war für sie der Kaputtsanierer. Ein halbes Jahr nach dem mein Multi den „Laden“ unter meiner Federführung übernommen hatte gingen dort die Lichter aus. Nur die Markennamen gibt es heute noch für die Artikel, die heute von einer Fabrik in Portugal, die zu einem Münchener Unternehmen gehört, produziert werden. Die auswärtigen Arbeitnehmer kamen dann nicht mehr nach Hammerke und im Ort musste man den Topf deutlich tiefer hängen. Jetzt erfuhr ich, eigentlich erstmalig im Leben, mal etwas von den „Folgeschäden“ von Betriebsstillegungen. In Hammerke gab es drei landwirtschaftliche Nebenerwerbsbetriebe, deren Besitzer ihr Einkommen in erster Linie durch ihre Tätigkeit in dem Unternehmen erwirtschaften. Die konnten in Folge ihre Betriebe, die schon seit drei bis fünf Generationen in deren Familienbesitz waren, nicht mehr halten und mussten aufgeben. Alle drei Familien verließen ihren Heimatort um sich an einen anderen Ort, nur des „Überlebens Willen“, niederzulassen. Es klang etwas böswillig, als Keune von „durch Arbeitslosigkeit aus der Heimat getriebenen Menschen“ sprach, was sich nach seiner Ansicht aber besser als im umgekehrten Fall „unflexible Faulenzer in der sozialen Hängematte“ anhört. In beiden Fällen seien nämlich die gleichen Menschen gemeint, es käme nur auf den jeweiligen Standpunkt desjenigen, der die Aussage trifft, an. Ein Geschäft, so ein Zwischending zwischen Tante-Emma-Laden und kleiner Supermarkt, musste wegen ausbleibender Kunden und arg verringertes Einkaufsgeld der Restkunden schließen. Zu meiner „Gewissensberuhigung“ konnte mir Keune jedoch berichten, dass der Ladeninhaber zu der Zeit bereits 62 Jahre alt war und sich vorher um eine
ausreichende Altersvorsorge gekümmert hatte; er konnte in den Ruhestand treten. Einige Mitarbeiter der Firma hatten sich ein Eigenheim errichtet und mussten jetzt, weil es in der Gegend für sie keine Arbeitsplätze gab, einen Ortswechsel vornehmen. Ihre Häuschen konnten sie nur nach langwierigen Verkaufsbemühungen mit großem Verlust veräußern. In einem Fall kam es sogar zu einer Zwangsversteigerung. Bevor Keune auf sein privates „Malheur“ zu sprechen kam berichtet er mir über die Auswirkungen der Werksschließung auf die Kommune Hammerke. Solange wie es das Unternehmen dort gab konnte die Gemeinde mit einem stets einigermaßen ausgeglichenen Haushalt einiges in Sachen Infrastruktur für die Bürger verwirklichen. Heute hängt die Gemeinde am Tropf der Schlüsselzuweisungen und ist gnadenlos verschuldet. Alle Bemühungen neue Gewerbeansiedlung zu bekommen schlugen bisher fehl. Es ist ja auch, so wie Keune zugibt, für moderne Betriebe kein attraktiver Standort. Das kleine Hallenbad, was die Hammerker Bürger liebevoll „Pfützchen“ nannten, musste nicht nur geschlossen sondern sogar abgerissen werden, weil die Gemeinde den Unterhalt und erst recht nicht die notwendigen Renovierungskosten aufbringen konnte. Der Sportplatz befindet sich in einen fürchterlichen Zustand und der Spielbetrieb ist nur noch möglich weil die Mitglieder des örtlichen Fußballvereins zumindestens das Spielfeld und die Kabinen in einem gerade gebrauchsfertigen Zustand halten. Von ehemals drei Kinderspielplätzen gibt es nur noch einen und der mit veralterten Spielgerät. Insgesamt gab es auch einen kräftigen Einwohnerschwund in Hammerke. In Folge dessen gibt es natürlich auch weniger Schüler im Ort. Hammerke hatte früher eine Grund- und eine Hauptschule. Letztere wurde im letzten Jahr wegen zu geringer Schülerzahl geschlossen und die Schüler müssen jetzt in den Nachbarort, mit dem Hammerke einen Zweckverband gegründet hatte. Nun kam Keune auf sein privates Schicksal zu sprechen. Seine Gaststätte lief so schlecht, dass er mit den Einnahmen nicht einmal die laufenden Kosten abdecken konnte. Für Wareneinkäufe und Einkommen blieb natürlich nichts; dafür musste er seine Rücklagen aufbrauchen. Von der Sozialhilfe hatte er, so wie ihm die „Rathaushengste“ gesagt haben, nichts zu erwarten, da er Vermögen habe und dieses erst für seinen Lebensunterhalt einsetzen müsse, denn das Haus in dem sich die Gaststätte befand war sein Eigentum. Bei den Banken konnte er sich nichts „pumpen“, da er nach deren Ansicht nicht kreditwürdig war. Letztlich ist es ihm mit Hilfe eines besser gestellten Verwandten gelungen sein Haus in eine kleine 5-Zimmer-Ferienpension umzubauen und davon lebt das Ehepaar Keune bis heute mehr schlecht als recht. Der damals gerade 18-jährige Sohn der Keunes hat damals das Saufen angefangen. Ein Zusammenhang mit dem Dorfniedergang kann man objektiv natürlich nicht nachweisen, wird aber von Keune behauptet und ich kann es natürlich nicht ausschließen. Er hat jetzt, seit etwa einen halben Jahr, einen Therapieplatz im Anna-Katharina-Haus und das war jetzt auch der Grund ihrer Anwesenheit in Ulkerde. Das Ehepaar Keune hatte seit damals keinen Tag Urlaub mehr gehabt und hatten sich jetzt erstmals wieder eine Woche zwecks Besuch ihres Sohnes „gegönnt“. Ein Kuriosum hierbei war noch, wie sich an diesem Abend herausstellte, dass sie sich ursprünglich auf dem Steinmarhof ein Zimmer nehmen wollten aber Silvia hatte hinsichtlich der Taufe für diese Woche keine Gäste angenommen. Als er alles dieses berichtet hatte sagte ich überlegender Weise: „Ich sollte eigentlich mal nach Hammerke fahren und mal sehen ob ich in irgendeiner Weise etwas unternehmen kann.“. Darauf kam spontan von meinem Gesprächspartner: „Ach bleiben sie besser da weg. Ich erzähle auch nicht dass ich sie wo getroffen habe. Die Leute hassen sie abgrundtief. Für die sind sie der Pate, der mit seinen Leuten ihren Lebensraum zerstört hat. Dieser Hass könnte die Leute zu etwas Fürchterlichen verleiten. Bis heute hätte ich gesagt, dass es um sie nicht schade gewesen wäre aber das da einige Leute wegen sie zu Verbrechern geworden wären, dass wären sie nicht wert. Für mein eigenes seelisches Gleichgewicht ist es aber ganz gut sie kennen gelernt zu haben. Schon im Heim, wo unserem Sohn geholfen wird, habe ich gehört, dass es dieses ohne sie nicht mehr gäbe. Insgesamt hat man sie dort als wohltätigen und guten Menschen geschildert. Gestern sah ich sie mit ihrer Familie zur Kirche gehen und hatte den Eindruck, dass sie das beliebte Familienoberhaupt sind. Heute Abend konnte ich feststellen, dass sie ein ganz normaler und sogar ehrlich gesagt netter Mensch sind, der hier in seiner Heimat offensichtlich sehr gut angesehen ist. Es gibt wahrscheinlich doch einen Unterschied zwischen dem Manager und dem Menschen gleichen Namens ... und den Menschen könnte ich mir tatsächlich als meinen Freund vorstellen. Und diesem Menschen rate ich doch von Hammerke wegzubleiben, es wäre schade um ihn.“. Jetzt musste ich ihm doch noch ein ehrliches Statement abgeben: „Herr Keune, sie haben recht, dass es einen Unterschied zwischen den Menschen und dem Manager gibt. Oder besser gesagt gab, denn der Manager bin ich nicht mehr und heute bereue ich es sogar, dass ich es einmal war. Jetzt sitzt ausschließlich vor ihnen der Mensch, der ich vielleicht immer war, den ich aber selbst zu Gunsten einer Karriere selbst verleugnet und versteckt habe. Ich bin als Mensch geboren und nicht als Manager, der war gemacht. Teils war ich es selbst und mal war es meine Umgebung die mich dazu machte. Mein Vater hatte eine Spedition und ein Busunternehmen. Da bin ich reingewachsen und in Folge habe ich mich nur in Unternehmer- und Wirtschaftskreisen bewegt. Ich habe immer nur gelernt was für das Unternehmen und die sogenannte Gesamtwirtschaft gut war. Ganz echt war ich der Überzeugung das wachsende Unternehmensgewinne und steigende Kurse für Alle gut seien. Wenn dann sogenannte ‚notwendige Einschnitte’ auf dem Programm standen war ich immer der Meinung, dass Betroffene durch unser soziales Netz, was ich sogar einstmals für zu engmaschig hielt, aufgefangen würden. Alle Personen in meiner Umgebung, andere Manager, Banker, Politiker und Wirtschaftswissenschaftler, bestätigten mich dahingehend, dass meine Annahmen und mein Handeln richtig seien. Die andere Seite, die sie mir unter anderem heute geschildert haben, kannte ich zu meiner aktiven Zeit gar nicht. Die habe ich auch erst, nach dem ich persönlich mächtig einen auf die Nase bekommen habe, kennen gelernt. Heute weiß
ich, dass ich immer noch nichts gegen Wohlstand habe, auch habe ich nach wie vor nichts dagegen das einige reicher als andere sind und letztlich befürworte ich weiterhin den Wettbewerb. Ich bin also kein Kommunist geworden und halte die marxistische Diktatur des Proletariats für Falschheit in Vollendung. Aber die modernen Wirtschaftstheorien von den liberalen, deregulierten Märkten, also das was wir unter Globalisierung verstehen, halte ich vielleicht für noch falscher wie die marxistische Lehre. Die sieht nämlich Wirtschaft nur einseitig, die glaubt das alles was der Wirtschaft ... und hier die eingeschränkte Sicht nur auf die Kapitalseite – dient, Allen dienen würden. Aber die sorgt für die Konzentration der Kapitalströme auf einige Wenige – und da es, wenn man nicht sinnlos inflationieren will, es der Masse entziehen und auf einem Haufen stapeln muss. Das ist ungerecht und schafft auf der Welt Hunger, Not und Hass. Deshalb wird es immer wieder Menschen vom Typ Osama Bin Laden geben und die werden immer mehr willige, vom Hass fehlgeleitete Anhänger finden. Was dann aber letztlich zum totalen Crash führen muss. Wir brauchen unbedingt auch wieder die Einsicht, dass auch die andere Seite, bis hin zu den Bedürftigen, zur Wirtschaft gehören. Wir müssen wieder kapieren, dass die Wirtschaft nur ein Instrument ist, die unser Zusammen- und Überleben organisieren soll. Der Mensch darf nicht zu Gunsten einer nur kapitalorientierten Wirtschaft versklavt werden sondern sie muss tatsächlich allen dienen. Solange es noch Hunger auf der Welt gibt dürfte es keine Milliardäre geben, denn diese sind Anzeichen für die Schieflage des Turmes zu Babel, der zwangsläufig irgendwann einstürzen muss. Das weiß ich heute ... aber das musste ich leider auch erst lernen.“. Keune brachte es nach meiner ‚Ansprache’ auf den Punkt: „Ja Herr Heuer, ich verstehe sie ganz gut. Sie haben geglaubt richtig und rechtschaffend gehandelt zu haben. Die Kehrseite haben sie früher nicht gekannt. Woher auch, wenn im Fernsehen und im Blätterwald immer von den Vorzügen und der Richtigkeit unseres Systems gesprochen wird und Andersdenkende entweder totgeschwiegen oder diffamiert werden. Wenn fast alle Politiker unser System so gut reden, dass man dafür in den Krieg ziehen kann, wenn der Andersdeckende verdächtigt wird mit Terroristen und Verbrecher zu paktieren ist es schwer und oft sogar unmöglich die Kehrseite zu verstehen, wenn man sie nicht miterlebt hat. Dann ist es, wenn man sich nicht mit bestimmten Einzelfällen befasst hat, leicht, Andere als Faulenzer und soziale Trittbrettfahrer zu beschimpfen. Ich bin ja kein frommer Mensch, ich bin jahrelang nicht in der Kirche gewesen aber wenn ich es wäre, würde ich jeden Sonntag in der Kirche um die Einsicht bei den Bossen und Politikern beten.“. Er machte eine kurze Pause um ein Schluck Bier zu sich zunehmen und fuhr fort: „Was sie, den ich heute erst kennen gelernt habe, persönlich anbelangt muss ich sagen, dass sie zumindestens heute, ein ganz anderer Mensch wie in den Köpfen der Mensch bei uns im Ort sind. Ich würde sogar sagen, dass sie ein lieber netter Mann sind, dessen größter Vorzug seine Einsicht in sein früheres Fehlverhalten ist.“. Das lockte Beate aus der Reserve: „Das ist er auch ... mein Zachi ist ein wunderbarer Mann. Und dieses mag sie erstaunen, er ist sogar ein frommer Christ ist. Seinen Spitznamen Zachi hat er von einem Mann aus der Bibel namens Zachäus. Der ist ähnlich wie mein Zachi reich geworden und nachdem ihm Jesus begegnet war wurde er ein guter Mensch. Und alle hier im Dorf glauben das mein Mann genau so ist ... deshalb nennen wir ihn auch alle Zachi.“. Das beeindruckte das Ehepaar Keune doch sehr und in Folge wurde sogar noch auf allgemeine Themen übergeleitet, zum Beispiel wie schön Ulkerde sei und wir konnten vom Bioferienhof Steinmar berichten. So saßen wir dann in noch recht gemütlicher Runde bis fast halb Eins zusammen. Im Nachhinein muss ich sagen, dass es für mich nicht nur ein interessanter sondern ein sogar sehr wichtiger Abend war. So deutlich wie heute waren mir die Auswirkungen meines Handelns in meinem früheren Leben, was mich selbst noch nicht einmal glücklich gemacht hatte, noch nie vor Augen geführt worden. Dadurch erhielt ich die Bestätigung, dass die Wandlung, die sich seit dem letzten November an mir vollzogen hat, richtig und zu meinem Glück war. Seit jenem Montag ist mir noch viel stärker bewusst, dass ich auf keinen Fall mehr zurück will, selbst dann nicht, wenn ich aus irgendeinen Grund ansonsten total verarmen müsste. Der Pate der Globalisierungsmafia will ich nie mehr sein.
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Gleicher Tag, gleiches Amt und anderer Ort Dieses Kapitel wird bestimmt das allerletzte sein. Wirklich? Wer kann das schon sagen wenn man aus dem Leben eines Menschen, der noch nicht gestorben ist, schreibt. Das Leben allgemein geht immer weiter und damit auch das des Einzelnen, natürlich nur bis zu dem Zeitpunkt wo dessen Lebensuhr abgelaufen ist. Und solange das Leben weiter geht gibt es immer wieder neue Erlebnisse und neue Eindrücke. Stets und ständig führt das Neue zu Veränderungen. Seien es nun Veränderungen im Denken oder im Verhalten oder in der Einstellung oder in den Umständen oder gar alles in Allem. Wie, was oder wer man war wird sich erst herausstellen können wenn Erde zu Erde, Asche zu Asche geworden ist. So lange wir auf Erden wandeln gibt es immer wieder Anlässe für ein neues Kapitel. So kann ein Buch wie dieses zu einer zunächst unendlichen Geschichte werden welche dann letztendlich doch eine unvollendete sein wird. Die Vollendung solcher Werke ist dann nur möglich, wenn jemand einen Nachruf auf den Autobiografen schreibt und es dem Buch anhängt. Genau auf so eine vorläufig unvollendete Geschichte läuft diese meine Niederschrift hinaus wenn ich nicht einen Schlussstrich ziehe – gleichgültig wie viel Spaß die Diktiererei macht. Um aber diesen Schlussstrich ziehen zu können muss man sich zunächst darüber klar sein was man eigentlich will beziehungsweise wollte. Nun, was ich ursprünglich wollte war es meiner Beate mein Leben zu offenbaren und mir damit die belastenden Schatten der Vergangenheit von der Seele zu diktieren. Ich wollte mich also frei schreiben für ein neues Leben, das ich an der Seite von Beate führen möchte bis mich der Herr von dieser Erde abberuft. Dieser Zweck wäre mit dem 32. Kapitel, welches ich den Titel „Der Prophezeiung letzter Teil“ gegeben habe, erreicht gewesen, denn ab diesem Punkt weiß Beate, die der ursprüngliche und eigentliche Adressat der Geschichte war, ja alles aus eigenem Selbsterleben. Zwischendurch kam dann Beates Überlegung, dass sich alles das, was ich einmal war und wie ich mich verhielt, sich aus momentan Situationen aber immer aus der gleichen Grundeinstellung entwickelt habe. Daraus könnte ein Dritter, der dieses Buch vielleicht mal zum Lesen bekommt, dann eventuell schließen, das es sich zwischen November 2000 und März 2001 wieder um eine solche einmalige Situation, die zunächst nur augenscheinlich aber nicht beständig meine Grundeinstellung änderte, handelte. Aus den folgenden Erlebnissen, insbesondere bis hin zu meiner Taufe und dem folgenden Urlaub ginge aber hervor, dass sich dieses Mal auch meine Grundeinstellung geändert und in Folge gefestigt habe. Genau hingesehen muss ich sagen, dass sie recht hatte und ich setzte mir daraufhin ein neues Ziel. Dieses war allerdings dann nicht genau definiert. Irgendwo zwischen Urlaub und der Jetztzeit sollte das Ende sein. Nach dem 17. September stand dann für mich fest, dass das vorhergehende Kapitel der richtige Abschluss sei. Dabei spielten die Ereignisse vom 11. September, zu denen ich glaubte auch noch was sagen zu müssen, nur eine untergeordnete Rolle. Deshalb hätte ich kein neues Kapitel aufgelegt, denn in diesem Buch geht es um mein Leben und in dem spielen die schrecklichen Ereignisse direkt keine Rolle – zumindestens jetzt noch nicht. Wesentlich wichtiger erschien mir die Begegnung mit Keune, durch die mir deutlich, wie noch nie, wurde welche Wirkung meine Entscheidungen und Handlungen auf das Leben der Betroffenen, die ich nicht einmal kannte und wahrnahm, hatte. Ich glaubte rechtschaffend und mit wirtschaftlicher Vernunft zu handeln. Ich war ja auch stets von der Wirtschaftspresse als der Toppmann, der eine Nase für das jeweils Richtige hat, gerühmt worden. Die Betroffenen wähnte ich nicht nur in sozialer Sicherheit sondern ich schloss mich den Experten, die von einer Überversorgung sprachen, an. Keune führte mir doch drastisch die andere Seite vor Augen und diese, so glaube ich, gehört unbedingt mit in die Beschreibung meines Lebens, so wie nach meiner Ansicht der sogenannte Armutsbericht im Bundestag mit in die Beschreibung der gesamtwirtschaftlichen Lage der Bundesregierung gehört. Wenn ein Staat reich ist und es in diesem noch sichtbare Armut gibt ist er unsozial und eine Politik, die diesen Zustand als Status Quo festschreiben will, ist eine schlechte Politik. Unsere Abgeordneten sind nicht von und für die Wirtschaft sondern für das Volk gewählt. Nicht der Wohlstandsstaat sondern der Sozialstatt muss oberste Maxime für die Politik sein. Daher weiß ich zur Zeit auch nicht, wenn ich, wenn Sonntag eine Wahl wäre, wählen würde, denn ich sehe keine Alternative zur schlechten Politik – außer noch schlechtere. Denn durch die Bank handelt es sich um neoliberale Globalisierer, die das nicht mehr finanzierbare soziale Netz für reformbedürftig, das heißt bis auf das absolut unterste Maß reduzierbar, halten. Sie machen ihre Politik für die Wirtschaft und den Standort und nicht, wie es ihre Aufgabe wäre, für die Menschen und ihrem Lebensraum. Merken unsere Politiker nicht, dass sie sich mit ihrer Politik zu den Hampelmännern der Wirtschaft machen. Letztendlich muss man fragen wer uns regiert: Politiker oder die Manager der Autoindustrie und der Banken? „Aber da kann doch was nicht stimmen,“, fragt jetzt diese oder jener, „mit Keune sollte das Buch ein Abschluss finden und da ist schon wieder ein weiteres Kapitel – oder was lese ich da gerade?“ Richtig, es gab noch zwei Ereignisse, eines davon erst am letzten Wochenende – es ist im Moment noch nicht einmal abgeschlossen – die die ganze Geschichte irgendwie in ein netten Weise abrunden. Die will ich dann doch noch als so eine Art Happy End anfügen. Und zum guten Schluss wollte Beate auch noch was dazu sagen – sorry, es muss schreiben heißen. Das will ich dann meiner fleißigen „Sekretärin“ nicht verweigern, aber danach ist dann endgültig Schluss. Also dann mal munter ran an die letzten paar Seiten. Was ich jetzt schreibe, habe ich früher schon einmal angekündigt. Vielleicht errät jetzt dieser oder jene schon um was es geht. Nein? Dann will ich es jetzt im Klartext verraten: Sie erinnern sich doch, dass ich meine Wahltochter Ramona bereits in dem Kapitel aus Anlass von Rosis Geburtstag aus meiner Geschichte entlassen habe. Prompt habe ich sie ein Kapitel später, welches wir am 6. Oktober dieses Jahres schrieben, wieder ins Rennen gebracht.
Da glaubte ich schon, dass ich diesbezüglich am Ende meiner Niederschrift noch ein diesbezügliches Kapitel anhängen müsste. Nun ist es soweit. Am Dienstag, dem 2. Oktober, einen Tag vor dem Deutschland-Jubelfest, sorry, vor dem Tag der Einheit, bekam ich schon kurz nach Neun – Beate war wegen ihres Dienstes im Gemeindebüro gerade mal eine Viertelstunde aus dem Haus – einen Anruf. Seitdem ich nicht mehr hyperaktiv am Wirtschaftsleben teilnehme ist so etwas von der „frühen„ Zeit her schon eine bemerkenswerte Ausnahme. Am anderen Ende war Ramona: „Hallo. Guten Morgen Vati. ... Das bist du doch wohl noch – oder?“. „Aber sicher mein Mädchen,“, antwortete ich lachend, „du bist nach wie vor mein liebes Wahltöchterchen und wirst es auch immer bleiben.“. „Das ist gut so,“, fuhr sie dann fort, „denn was ich von dir will hängt unmittelbar, zumindestens der private Teil, damit zusammen. Neben dieser privaten Geschichte habe ich auch noch ein geschäftliches Anliegen, bei dem es mir dann doch ganz recht wäre, wenn wir das Eine nicht mit dem Anderen vermengen würden.“. „Na, dann schieß los, Mädchen.“, wollte ich sie ermuntern. Da kam dann doch eine Ablehnung und ein anderer Wunsch: „Nee, nee, immer langsam mit den jungen Pferden. Die Sache ist zu umfangreich, dass wir die so am Telefon abhandeln könnten. Ich möchte dich gerne mit Martin besuchen. Es ginge Morgen, Freitagabend oder Sonntag. Natürlich auch zu einem späteren Termin ... aber ich habe einen fürchterlichen Druck dir etwas mitzuteilen.“. Da Beate und ich am 3. Oktober mit Jürgen und Rosi in Seetal verabredet waren, einigten wir uns auf den Freitagabend. Das war der Fünfte und deshalb wusste ich, als ich einen Tag später an diesem „Werk“ weiter diktierte, das Ramona noch einmal in meiner Geschichte auftauchen würde. Zur Verabredung erschien sie mir ihrem Martin, den Namen kannte ich erst seit unserem Telefonat, überpünktlich. Halb Acht hatten wir ausgemacht und schon Fünf nach Sieben stand Martins Auto am Straßenrand auf der unserem Haus gegenüberliegenden Straßenseite. Ich hatte sie zufällig vorfahren sehen. Zu diesem Zeitpunkt kannte ich Martins Wagen noch nicht aber ich hatte Ramona auf dem Beifahrersitz erkannt. Darauf tönte ich gleich durch unsere Wohnung: „Beate Maus, unsere Gäste sind schon im Lande“ und bekam zur Antwort: „Ich bin zwar mit dem Imbiss noch nicht ganz fertig aber ansonsten ist ja alles okay. Dann machst du also gleich auf.“. Gut und schön, fünf Minuten später meldete sich Beate noch einmal aus der Küche: „Ja, wo bleiben die denn? Die sind doch wohl nicht beim Aussteigen eingeschlafen?“. Da es auch mir komisch vorkam, dass es bis jetzt noch nicht geklingelt hatte, fühlte ich mich veranlasst noch mal zum Fenster hinaus zu schauen. Da saßen die Beiden doch tatsächlich im Wagen. An beider Blickrichtung konnte man deutlich erkennen, dass sie gemeinsam die Uhr am Armaturenbrett im Auge hatten. Offensichtlich hatten sie die Fahrzeit falsch eingeschätzt und es war ihnen nun peinlich viel zu früh auf der Matte zu stehen. Wer schon mal auf die Uhr schauender Weise auf etwas gewartet hat, weiß wie schwer das ist – die Zeit will dann nur in minimaler Schneckengeschwindigkeit vergehen. Es ist doch klar, dass ich die beiden jungen Leute von ihrer Marter erlösen musste. Deshalb ging ich aus dem Haus und hinüber zu ihnen. Die Uhr hatte die Beiden wohl so hypnotisiert, dass sie mich noch nicht einmal wahr nahmen. Als ich die Tür auf der Beifahrerseite öffnet fuhr Ramona erst richtig erschrocken zusammen. Dann lachte sie mich aber an, sprang aus dem Wagen, umarmte mich und küsste mich auf jede Wange je einmal. Als sie so vor mir stand musste ich gleich eine positive Veränderung an ihr feststellen. Als sie damals bei mir als Hausmädchen anfing beurteilte ich sie weder als schön noch sexy aber auch nicht als hässlich; halt Durchschnitt ohne Lob und Tadel. Jetzt empfand ich sie doch recht schön und auf jeden Fall sexy. Da musste ich doch ein Kompliment loswerden: „Ramona Mädchen, entweder lässt mein Erinnerungsvermögen nach oder du bist schöner geworden. „Das macht die Liebe“, gab sie mir zur Antwort. Zunächst nur scherzhaft gemeint sagte ich: „Entweder wirst du Mutter oder du willst heiraten.“. „Warum nicht beides“, verriet sie mir dann keck, „Wenn Silvi mit Dreißig noch mal Mama werden kann, kann ich das auch und diesmal soll das Kind auch einen Vater, der mit seiner Mutter verheiratet ist, haben. ... Das ist übrigens der Hauptgrund warum wir gekommen sind. Diesbezüglich wollen wir nämlich was von dir.“. „Aber kommt erst mal rein“, unterbrach ich sie jetzt. Drinnen, im Wohnzimmer platzierten wir die Beiden auf der Couch, ich saß ihnen im Sessel gegenüber und Beate wurde der Sessel am rechten Tischende reserviert. Ich hätte aber besser mit meiner besseren Hälfte getauscht, denn von meinem Sitz aus fiel mein Blick doch des Öfteren mal auffällig auf Ramonas etwas tiefergeschnittenes Dekollete. Aus meiner Warte nicht tragisch, denn für mich war es nur ein schöner Anblick den ich mir nicht entgehen ließ. Schlimm daran war das Auffällige. So blieb es natürlich Beate nicht verborgen und die wusste ja aus meinen Diktaten, dass vor dem Vater-Tochter-Verhältnis doch noch etwas anderes war. So musste ich Beate doch, nach dem das „Brautpaar“ gegangen war, beteuern das ich nicht in alte Zeiten zurück verfalle. Aber ganz ehrlich, ich empfinde heute gegenüber Ramona nichts anderes als wäre es meine leibliche Tochter. Da empfinde ich sogar gegenüber Rosi noch mehr in die Verdachtsrichtung aber auch da bin ich mir sicher, dass in dieser Angelegenheit nichts „Böses“ mehr passieren wird. Eigentlich hatte sich Ramona, so wie sie sagte, sich vorgenommen erst die geschäftliche Angelegenheit „abzuwickeln“ aber durch die Begrüßung am Auto und durch meine erste Frage im Wohnzimmer „Was braucht ihr, einen Taufpaten oder einen Trauzeugen. Ich stehe dir selbstverständlich für beides zur Verfügung“ war zwangsläufig das Private vorgezogen worden. Meine Frage bekam ich dann auch gleich, sogar mit einer Ergänzung, beantwortet: „Am Liebsten würde ich dich ja gleich für beides anheuern. Aber die Sache mit der Taufe müssen wir vorerst mal Hinten anstellen. Du weißt ja, dass ich katholisch bin und Martin ist evangelisch. Das ist allerdings heute kein Problem mehr, das kriegt man
schon irgendwie im Griff. Mein Problem heißt Mutti. Meine Mutter ist zwar nicht fanatisch religiös aber nach der Devise ‚Wenn schon, dann schon’ wird sie bei solchen Angelegenheit stockkonservativ, dann kommt sie mit den heiligen Sakramenten Taufe, Ehe und so weiter. Auf deiner Taufe haben wir ja gelernt, dass es keinen Freifahrtschein in den Himmel gibt, also kann man so was unbesorgt auf etwas oder ganz später vertagen. Warum sollte ich deshalb Mutti aufregen. Aber das andere trifft voll zu. Wir wollen dich beziehungsweise euch alle beide zu Trauzeugen engagieren.“. Vollmundig sagte ich gleich zu und musste dann feststellen, dass auch solche Sachen einen Pferdefuß haben können. Dieses erfuhr ich, als ich den Termin abfragte. Richtig fröhlich sagte nun Ramona: „Eu, wir haben uns ein ganz schönes Datum ausgesucht.“ – Mir schwante schon schreckliches – „Wir wollen am 2.02.02 heiraten.“. „Wir auch!“, platzte jetzt spontan aus Beate heraus. In diesem Moment schien eine allgemeine Begeisterung vor dem Ausbruch zu stehen. Martin flachste schon: „Dann können wir ja gegeneinander oder füreinander zeugen ... wir brauchen nur die Plätze zu tauschen.“. Da wurde ich doch ein Bisschen skeptisch: „Im Prinzip ginge das, da es sich um den gleichen Tag und das gleiche Amt, sprich Standesamt, handelt aber es handelt sich leider nicht um den gleichen Ort. Die Einen in Waldheim und die Anderen in Neuhaus.“. Beate kommentiert gleich mit einem „Oh weia, ja“ und Ramona glaubte nach kurzer Überlegung eine Lösung parat zu haben: „Das lässt sich doch über den Termin regeln ... ein Paar müsste einen frühen Termin und eines einen späteren Termin haben und in einer halben Stunde kommt man doch von Waldheim nach Neuhaus.“. Heute schien ich wohl doch die Rolle des Skeptikers übernommen zu haben: „Ja, zwei Dinge eröffnen aber die Möglichkeit, das da was schief geht: Die eine heißt Winter. Gerade am 2. Februar besteht eine Wahrscheinlichkeit, dass aufgrund des Straßenzustandes aus einer halben Stunde zwei werden. Das zweite Risiko liegt bei dir Ramona. Wenn du jetzt weißt, dass du schwanger bist, dann bist du, so schätze ich mal, momentan schon im dritten oder vierten Monat. Das heißt du wirst dann im achten oder neunten Monat sein. In einem solchen Fall dürfte die Nähe zum EVK (Evangelisches Krankenhaus) Waldheim nicht zu verachten sein.“. Alle drei, Beate, Ramona und Martin kamen gleichzeitig auf den Gedanken, das es kein Gesetz gäbe, was den Wohnsitz als ausschließlichen Ort für eine Trauung vorschreibe und wir könnten uns ja für einen von beiden Orten entscheiden. Beate schlug dann gleich Waldheim vor und die beiden jungen Leute dürften diesen Ort wohl ganz oben auf ihrer Wunschliste gehabt haben. Nur mir war das nicht ganz so sympathisch: „Na ja, es sieht so aus als wäre dieses die Lösung. Aber sorry Leute, mir ist die ganze Sache ein Wenig unsympathisch. Ich bin bereits drei Mal in Waldheim getraut worden. Zwei Mal endete das mit einer Scheidung und einmal mit dem Tod meiner Frau. Ist nicht gerade ein gutes Omen.“. Jetzt holte Beate tief Luft und sagte mir erst mal die Meinung: „Zachi, ich dachte du wärest ein Christ. Was du jetzt gesagt hast, spricht aber nicht für Gottvertrauen. Wie kannst du Orte, Personen, Daten oder Sachen als Schicksals vorbestimmend ausmachen? Das ist doch wie der Hokuspokus mit der Astrologie und dem Aberglauben. Ein Christ glaubt und vertraut nur Gott. Gerade weil wir dem esoterischen Klimbim die kalte Christenschulter zeigen wollen, sollten wir uns in Waldheim trauen lassen.“. Mit diesen Worten hatte sie mich doch ein Wenig beschämt und ich schaute zunächst mal wortlos auf den Tisch. Ich muss sagen, dass mich auch Ramona sehr gut kannte und die ließ jetzt erst mal das Thema ruhen und wechselt erst mal zu einer Aufmunterung, so wie es sich aus ihrer Sicht darstellte, über: „Übrigens, ich habe heute Silvi beim Frauenarzt getroffen. Die war da zum Ultraschall. Ich muss sagen, die geht aber mächtig ran, die wird dann auf einen Schlag ihre Kinderzahl verdoppeln ... Zwei auf einen Schlag.“. Beate lachte und sagte: „Jetzt möchte ich gerne nebenan bei Anneliese Mäuschen spielen. Hendrik und Silvia sind ja heute Abend da.“. Sie wurde von Ramona mit der Information unterbrochen, dass Silvia wüsste das sie und Martin an diesem Abend bei uns seien und zwischendurch mal rein schauen wollte, worauf Beate dann vorschlug uns dann doch zunächst einmal über unsere Trauerei einig zu werden. Dann könnten wir Silvia auch mit Neuigkeiten überraschen. Inzwischen hatte ich es mir überlegt und war nun der Ansicht, das Beate mehr als recht habe und somit befürwortete ich jetzt auch den Ort Waldheim für unsere „Doppelhochzeit“. Jetzt brauche ich nicht die ganze diesbezügliche Diskussion aufzuzeichnen und kann gleich das Ergebnis verraten. Wir wollten in Waldheim nacheinander heiraten und von der einen auf die andere Trauung nur die Plätze des Brautpaares mit den der Trauzeugen tauschen. Das heißt, dass wir uns auch Ramona und Martin zu Trauzeugen erkoren haben. Nach den Trauungen wollten wir dann erst mal in einem Restaurant in Waldheim gemeinsam mit beiden Hochzeitsgesellschaften feiern. Aus Anlass des Tages wollte ich mal von der im August wieder beschlossenen kaufmännischen Vernunft abgehen und die Finanzierung des Festessens übernehmen. Martin bestand aber darauf, sich die Getränkekosten bis zum Auszug der Heuergesellschaft mit mir zu teilen. Daraus ergibt sich schon, das wir die Feiernden zu einem bestimmten Zeitpunkt aufteilen wollten. Beate hatte nämlich schon vorher den Wunsch geäußert von Thomas kirchlich getraut zu werden. Jetzt beabsichtigten wir mit unserem Pastor den Traugottesdienst am Nachmittag, so um Vier oder Fünf, zu vereinbaren. Aus diesem Anlass sollte dann alles was zu Heuer oder Schlömer gehört von Waldheim nach Ulkerde wechseln. Martins und Ramonas Truppe sollte dann in dem ursprünglichen Restaurant bleiben und unter sich feiern, während unsere „Bagage“ dann den Rest des Tages und der Nacht im Gesellschaftsraum der „Schänke am Dorfplatz“ weiterfeiern sollte. Ich schlug vor, dass sich unsere Leute am frühen Morgen in Ulkerde versammeln sollten und ich wollte einen Busunternehmer mit dem Transport unserer Lieben von Ort zu Ort und zurück beauftragen. Wir fanden allesamt diese Ideen super und ich habe alles in der darauffolgenden Woche organisatorisch unter Dach und Fach gebracht; das Fest kann also so wie geplant steigen. Jetzt müssen wir nur
hoffen, dass nichts, zum Beispiel keine Entbindung, dazwischen kommt. Was daraus letztlich geworden ist, kann ich an dieser Stelle natürlich nicht berichten, denn das Jahr Zwei des dritten Millenniums christlicher Zeitrechnung liegt ja noch in der Zukunft. Nur eines scheint mir bewusst: An unserem Hochzeitstag muss ich mit Euro zahlen, von unserer „lieben D-Mark“ dürfen wir uns ja diesen Silvester verabschieden. Aber damit habe ich keine Probleme; mich persönlich lässt die Euro-Einführung etwas mehr als kalt. Ich bin jetzt nicht von ungefähr plötzlich gedanklich auf den Euro gesprungen. Wir haben tatsächlich das Thema kurz gestreift. Martin berichtete nämlich er sei bei der Stadtverwaltung Waldheim gewesen und habe sich dort erst mal nach freien Terminen für eine Trauung am 2.2.02 erkundigt und hat sich dabei auch gleich nach den Gebühren gefragt. Hinsichtlich des Termins konnte man seine Neugierde befriedigen: Für diesen Tag lag in Waldheim noch kein Trauwunsch vor. Das stellte ich eine Woche später auch selber fest und so konnte ich mir die Termine 10 und 10:30 Uhr aussuchen. Unsere kirchliche Trauung soll dann am Nachmittag um 17:00 Uhr stattfinden, was Beate bereits mit unserem Pastor Thomas Völler ausgehandelt hat. Bei den Gebühren erhielt Martin dann konkrete Auskünfte zu den derzeitigen D-Mark-Gebühren aber nur zur Orientierung, denn der Rat der Stadt Waldheim wollte erst in der, in der Folgewoche stattfindenden, Sitzung die ab 1. Januar geltenden Euro-Gebühren festsetzen. Dabei wird nicht einfach umgerechnet, weil das krumme Beträge ergeben würde, sondern es sollte auf volle Euro beziehungsweise 50 Cents geglättet werden. Wie ich unsere Beamtokraten und Politikusse kenne wird es dabei immer nach oben gehen, da in den öffentlichen Säckel fast immer Ebbe herrscht. Na ja, Beamte sind schon seit jeher sehr schlechte Kaufleute und unsere Politikerschar rekrutiert sich zum überwiegenden Teil aus diesem Berufsstand – da kann ja nichts anderes bei rauskommen. So waren wir gerade beim Thema Euro als es schellte und ich erst mal unserer Silvia die Tür öffnen musste. Hendrik war jetzt bei seinen Schwiegereltern geblieben, wo auch Silvia anschließend wieder hin zurückkehren wollte. An der Tür sagte sie mir „Ich wollte euch nur von etwas in Kenntnis setzen, womit euch Mutti Morgen wohl den ganzen Tag nerven wird.“. Mit diesen Worten ging sie ins Wohnzimmer und begrüßte die dort anwesenden mit Handschlag. Als sie vor Beate, die absichtlich sitzen blieb, stand, strich ihr diese über den Bauch und sagte: „Na ihr Drei, wie geht es euch denn?“. Silvia lachte und scherzte zu Ramona „Quasselstrippe“ und wandte sich dann Beate zu: „Drei sind es leider nicht, dann wäre ja der Plan erfüllt ... aber Zwei. Da werdet ihr Morgennacht von träumen, denn Mutti wird euch bestimmt damit den ganzen Tag belästigen. Ich weiß gar nicht was die hat.“. Beate stellt erst mal klar, das bei den Dreien auch die Mutter, sprich Silvia, einbezogen gewesen wäre und sagte dann scherzend: „Aber was deine Mutter anbelangt muss du mal nach der Ursache forschen. Vielleicht war da mal eine nette junge Frau, die sie mit so einer Art Schockmeldung auf so eine Möglichkeit vorbereitet hat.“. „Dann ist meine Mission ja schon fast von Beginn an beendet“, sagte Silvia nun während sie sich zu Ramona und Martin auf die Couch setzte. „Dann kann ich ja gleich mal fragen ob ihr mit euerer Angelegenheit ins Trockene gekommen seit.“. „Aber ja“, ergriff Beate so gleich das Wort und berichtete von den Doppelhochzeitsplänen. „Das finde ich toll,“, tönte Silvia, „da will ich nur hoffen, dass meine Beiden ... wahrscheinlich Mädchen – keine Frühchen werden und ich dann nicht mit feiern kann. Frühgeburten sind ja bei Zwillingen nicht gerade außergewöhnlich. Aber gut das du es sagst, dann kann ich jetzt hundertprozentig festlegen, dass ihr im Falle eines Falles nicht von euren Plänen abrücken dürft ... das ist mit Sicherheit auch ganz im Sinne von Hendrik, ich werde es ihm gleich sagen. ... Aber das hatte ich mit meiner Frage gar nicht gemeint.“. Sie wandte sich Ramona zu und fuhr weiter fort: „Mich interessiert doch was aus der Kioskgeschichte geworden ist. Das wolltest du doch, wie du heute Morgen sagtest, zu erst mit unserem wunderbaren Schwieger- beziehungsweise Wahlpapa absprechen.“. Letzteres, von wegen ‚wunderbaren’, ließ mich in meinem Stolz erst mal ein Stück wachsen, aber dann wollte ich doch wissen, was eigentlich diesbezüglich anlag. Jetzt berichtete mir Ramona, dass Frau Schroer, die Besitzerin des Hauses in dem sie wohnte und ihren Kiosk hatte, wahrscheinlich Geld brauche. Auf jeden Fall wollte sie das Haus verkaufen und der einzigste Interessent sei Eichel, ein Waldheimer Immobilienspekulant, der soviel ich weiß nicht mit unserem Finanzminister verwandt ist. Man kann sich an fünf Fingern abzählen, dass im Eichelfall bei dem Kiosk bald die Lichter ausgehen. Ramona wollte jetzt von mir wissen, ob ich ihr, wenn sie sich nach einem anderen Objekt umsieht, ein zweites Mal mit ähnlichen Konditionen wie damals als sie Kioskbetreiberin wurde helfen könnte. Sie kam zu mir, weil die Banken sie wohl als Habenichts betrachten würden und diesbezüglich wohl nicht sehr erfreut wären, wenn sie angesprochen würden. Silvia ergänzte noch: „Und die Konditionen mit den du überleben kannst, wie sie dir Paps mit Sicherheit einräumt, kriegst du bei keiner Bank einen müden Euro.“. Ganz spontan hatte ich eine andere Idee: „Wenn ich es mir so recht überlege, sind Immobilien keine schlechte Anlage. Gerade jetzt in den Zeiten wo die Amerikaner ihr Vietnamabenteuer in Afghanistan wiederholen wollen und unsere Politmatadore pausenlos gackern, dass sie mitmischen wollen. Na ja, wenn sich die amerikanische Rüstungsindustrie noch dämlicher, wie sie schon sind, verdient muss auch für MBB und andere deutsche Mordmaschinenproduzenten was abfallen. ... Aber zurück zum Kiosk. Also ich könnte mir vorstellen Frau Schroers Haus zu kaufen und die bestehenden Miet- und Pachtverträge so zu übernehmen wie sie sind. ... Wie findet ihr das denn?“. „Ach Vati,“, kam nachdenklich klingend von Ramona, „ich habe mich dich wohl zum Vati ausgesucht und du hast mich auch als Tochter genommen
aber eine Adoption haben wir doch von vornherein ausgeschlossen. In dieser geschäftlichen Angelegenheit bist du Herr Heuer und ich Frau Vierhoff. Und dabei sollten wir es beim Geschäft auch belassen.“. „Sorry,“, setzte ich jetzt wieder an, „ich habe es so gedacht wie ich es gesagt habe. Ich will mir die Immobilie als Anlage zulegen. Und selbst wenn wir uns nicht kennen würden hielt ich diese Anlage für nicht uninteressant und fairer wie Eichel wäre ich sowieso gewesen. Da ich Mieten und Pacht noch von damals kenne, weiß ich auch, dass das kaufmännisch voll in Ordnung geht. Ich unterscheide mich diesbezüglich von Eichel nur darin, dass ich mir keine weitere goldene Nase mehr verdienen möchte. Ich werde jetzt so oder so mit Frau Schroer verhandeln und ich frage dich jetzt nur, ob du meine Mieterin und Kioskpächterin bleiben willst.“. Und wie sie wollte; ihr Gesicht begann richtig zu strahlen. Sie war sich zu diesem Zeitpunkt sogar sicher, dass ich den Zuschlag erhalten würde, da ich mit Sicherheit auch für Frau Schroer der bessere und fairere Käufer sei. Da hat sie sogar recht. Inzwischen bin ich in den Verhandlungen mit Frau Schroer und sogar soweit, dass der Notariatstermin, an dem Alles unter Dach und Fach kommt, bereits feststeht. Alles in Allem zahle ich etwas mehr als Eichel wollte an Frau Schroer aber nach Ansicht des Wertgutachters habe ich dabei immer noch ein gutes Geschäft gemacht. Zur großen Freude aller war der geschäftliche Teil jenes Besuchsabends vom 5. Oktober ruckzuck über die Bühne gegangen und wir konnten nun zum gemütlichen Abschnitt des Abends übergehen. Meine „doppelschwangere“ Schwiegertochter blieb auch noch für gut eine halbe Stunde in unserem Kreis bevor sie wieder hinüber zu den Steinmars wechselte. Als sie uns verließ begleite sie Beate noch bis zur Tür, weil sie auf Silvias Wunsch noch etwas von Frau zu Frau mit ihr absprechen wollte. Martin nutzte diese Gelegenheit zu einem Toilettenbesuch, was Ramona die Gelegenheit gab mir was zugestehen: „Du Vati, ich habe Martin erzählt, dass zwischen uns beiden mal was anderes war. Ich hielt es für richtig und hoffe das du darüber nicht böse bist.“. „Ach Mädchen,“, antworte ich, „auch ich hielt es für richtig es Beate zu sagen. Es ist doch besser, der Partner weiß was gewesen ist als dass er durch irgendeinen dummen Zufall davon erfährt und es dann in den falschen Hals bekommt.“. Damit war diese Gelegenheit auch abgeklärt und kam auch nicht mehr während des Besuches auf Trapez. Ich habe ja schon bereits erwähnt, dass Beate wegen meiner Blicke auf beziehungsweise in Ramonas Dekollete allerdings dieses Thema nach Beendigung des Besuches anschnitt. Da konnte ich Beate dann auch berichten, dass Martin ebenfalls gut informiert sei; was dann auch die Meinige ganz gut fand. Diese Gelegenheit nutzte dann Beate zu einer vertraulichen Rücksprache in der Angelegenheit, die Silvia zuvor mit ihr von Frau zu Frau besprochen hatte. Anneliese hatte Silvia unter vier Augen gesagt, dass sie viele Kinder auch schön fände aber man müsse dabei bedenken, dass sich durch „Vielgebärerei“ die Figur verschieben könnte, was Männer zum „Abhauen“ veranlassen könne. Verschärft hatte sie dieses dadurch, dass sie ihre Tochter auf mein Vorleben und das Hendrik mein Sohn sei hinwies. Jetzt gab mir Beate Silvias Frage weiter: „Glaubst du, dass Hendrik sie in einem solchen Fall verlassen könnte?“. Meine Antwort lautete: „So wie ich das sehe, hat Hendrik viel von seiner Oma, also meiner Mutter, mitbekommen. Die hat Vater ja auch nicht wegen eines Holzbeines und eines Glasauges verlassen. Da hat sie wohl nie dran gedacht sondern ganz im Gegenteil, meine Eltern haben mich dann noch in die Welt gesetzt. Zu einer Liebe zwischen den Menschen gehört viel mehr als nur die Äußerlichkeit. Ich glaube nicht, dass Hendrik Silvia jemals in Stich lässt.“. „So ähnlich habe ich mich auch geäußert.“, teilte mir Beate jetzt mit und fuhr nach einer kleinen Pause mit einem Vorschlag fort: „Wir lassen jetzt alles so stehen. Wir können ja Morgen früh aufräumen. Jetzt gehen wir gleich ins Bett und können noch ein Bisschen ... oder willst du nicht?“. Ich wollte - und damit fand jener Freitagabend noch einen schönen Abschluss. Zum Kapitel 43
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Wenn uns Michaela nach München lockt „Auf zum letzten Streich“, habe ich soeben zu Beate gesagt. Die hat nun wieder unseren PC hochgefahren, ihr Textverarbeitungsprogramm aufgerufen und wartet wieder einmal auf mein Diktat. Jetzt könnte ich es mir einfach machen und sagen: „Jetzt schreib mal, was wir in der Zeit vom 26. Oktober, einem Freitag, bis zum letzten Sonntag, den 4. November, alles erlebt haben. Irgendwie betrifft es dich doch irgendwo mehr als mich.“. Sie könnte es, aber wir waren uns darüber einig, dass dieses tatsächlich ein Stilbruch wäre, denn vom ersten Kapitel bis jetzt ist der rote Faden in dieser Lektüre mein Leben von meiner Geburt bis zur Jetztzeit – und durchgehend beschrieb ich dieses aus meiner persönlichen subjektiven Betrachtungsweise. Immer wieder brachte ich, natürlich nicht unwesentlich beeinträchtigt durch meine heutige Einstellung, zum Ausdruck was ich mir im Einzelnen dabei gedacht habe. Jetzt, in diesem letzten Kapitel meiner Autobiografie steht Anna Lena Görel, Beates Tochter, im Mittelpunkt der Geschichte. Es geht also um die junge Frau, der ich bis letzte Woche erst drei Mal persönlich begegnet bin und die ich jetzt erst richtig kennen lernen sollte. Rein zwangsläufig muss ich die Ereignisse aus einem anderen Blickwinkel als ihre Mutter, ... aber um meinen Blickwinkel geht es in dieser Niederschrift, berichten. „Da trägt jetzt wieder jemand Eulen nach Athen.“, wird jetzt dieser oder jene sagen. Das muss ich ganz pauschal erst einmal bestätigen aber dann gleich zu meiner Entschuldigung sagen, dass ich dieses nicht ohne Grund mache. Als damals Ramona bei mir als Hausmädchen anfing schilderte ich die Widersprüchlichkeiten ihrer ganzen Art. Auch Anna Lena besteht aus solchen Widersprüchen, aber nur in einer ganz anderen Art. Sie ist durch die Bank eine ganz moderne Frau aber sie schlägt immer wieder eine Brücke zu ihren doch eher konservativen Wertvorstellungen. Immer wieder putzt sie, sehr zum Verdruss von Beate, eine scheinbare Kontrastellung zu ihrer Mutter heraus, ist aber, wenn man ihrer wirklichen Einstellung auf den Grund geht, ein fast deckungsgleiches Ebenbild dieser. Dieses führte in der letzten Woche öfters mal zu Spannungen, die von Beate mit „So ist die immer gewesen. Nie konnte sie mich in Ruhe lassen und dabei habe ich ihr doch alles zukommen lassen was ich konnte. Aber zufrieden war sie nie. Sie wollte immer alles haben ... und oft nur weil es die anderen hatten.“ kommentiert wurden. Ich aus meiner, in diesem Fall objektiven, Betrachtungsweise betrachte diese Mutter-Tochter-Reibereien aber ehr als irgendwie doch liebenswürdig. Und wenn ich das Geschehene mit dem vergleiche was mir Beate von sich erzählt hat, muss ich schon sagen: „Na ja Schatz, Töchter kommen halt nicht auf anderer Leute Mütter.“. Als ich dieses gerade diktierte, fiel mir ein, allerdings von einem Lächeln untermalter, „böser Blick“ zu. Aber jetzt will ich doch alles der Reihe nach erzählen. Beginnen wir mit dem Anruf, der Beate am Freitagabend, es war der 26. Oktober, erreichte. Am anderen Ende war ihr Schwiegersohn Peter, der ihr hocherfreut und überglücklich berichtete, dass Michaela angekommen sei und das Mutter und Tochter putzmunter und wohlauf seien. Es wäre richtig schnell gegangen und er war stolz dabei gewesen zu sein. Jetzt war es passiert, auch Beate ist jetzt Oma. Anschließend sprach ich sie dann ein paar Mal scherzend mit „Na, Oma Beate“ oder „Hallo Ömachen“ an, was ihr, die sich, bestimmt zutreffender Weise, aber noch jung fühlt, gar nicht so gut gefiel, denn die Scherzchen waren sehr wohl als eine kleine Assoziation auf das Lebensalter gedacht. Nur etwa eine halbe Stunde nach dem besagten Anruf schlug aber Beate selbst in diese Kerbe: „Wir haben doch dieser Tage davon gesprochen, dass wir, wenn es soweit sei, mal für eine Woche nach München reisen wollten. Und ich habe jetzt prompt vergessen etwas entsprechendes mit Peter abzusprechen. ... Ja, ja, ich glaube es ist doch etwas an dem Ömachen dran, denn Professor Alzheimer lässt offensichtlich auch schon grüßen.“. „Ja, mein Schatz,“, scherzte ich zurück, „als junge Maid hättest du in dem Fall, wenn uns Michaela nach München gelockt hätte, nicht vergessen die notwendigen Verabredungen zu treffen. Was man nicht im Kopf hat muss man eben auf dem Telefon haben. Ich an deiner Stelle würde gleich mal zurückrufen.“. Der Rückruf erübrigte sich, denn ich hatte noch nicht ausgesprochen als das Telefon noch einmal schellte und Peter am Apparat war und Beate mitteilte, dass er vor dem Geburtshaus stehe und vom Handy anriefe. Er wäre gleich nach seinem Anruf noch mal zu seiner Gattin gerast und die wolle nun wissen, wann ihre Mutter und ihr Stiefpapa kämen. Aus seiner und Anna Lenas Sicht ginge das schon am nächsten Tag, denn da wäre die junge Mutter schon spätestens nachmittags um Fünf wieder zuhause und in der ersten Woche könne man ja auch jede mögliche „fachkundige“ Hilfe gebrauchen. Die frischgebackene Großmutter stutzte zunächst einmal über das Wort „Geburtshaus“ und assoziierte auf einen Bericht, den sie kürzlich in einem Magazin über so eine Schickimicki-Einrichtung, ausgerechnet in München, gelesen hatte. Im dem besagten Bericht war von so einem Haus, in dem die Frauen in einer modernen Umgebung, natürlich im Beisein eines Arztes, einer Hebamme und selbstverständlich der Väter, entbinden. Das ist zwar teuer, da die Krankenkassen zwar den Arzt und die Hebamme aber sonst nichts bezahlen, aber ansonsten nichts weltbewegendes. Was Beate aber in diesem Augenblick hoch spulte war, dass in dem Bericht davon die Rede war, dass die Geburten im Internet übertragen wurden. „Da kann ja jeder Gaffer, der sich so etwas aus lüsternen Gründen ansieht, an deinem Intimbereich aufgeilen“, sagte sie später zu mir. Als ihr Peter auf ihre Frage nach dem Geburtshaus berichtete, dass sie aufgrund des Berichtes, den Anna Lena auch gelesen hatte, auf genau das Haus gekommen seien und jeder Surfer im Netz die Geburt habe sehen können, fiel Beate fast von ihrem mütterlichen Glauben ab. Nachdem Beate mir gegenüber kräftig eine moralisch-ethische Litanei abgespult hatte, erfuhr ich dann, dass wir uns trotz allem doch am nächsten Tag nach München, oder besser gesagt Taufkirchen, auf dem Weg machen würden. So wie es sich bei Beate an jenem Abend anhörte fuhren wir sogar deshalb, denn sie hielt es für ihre Pflicht ihre „abgesumpfte“ Tochter wieder ans saubere Ufer zu holen.
Die Geschichte mit der Geburt im Web bewegte Beate doch noch ein Weilchen, so dass ich sie irgendwie wieder auf ein Trapez bringen musste. Dabei erlaubte ich mir dann einen kleine Fehlschuss: „Mann Mädchen, hau doch nicht so auf den Putz. Jeder macht mal Dummheiten. Über meine Dummheiten haben wir gerade ein ganzes Buch geschrieben. Auch du müsstest mal ganz schön schweigen ... oder habe ich mich da in Sachen Peepshow etwa verhört.?“. Letztere Aussage führte dann zu einem kleinen Gewitter, welches dann aber wie üblich verlief: Beate schoss wütend aus dem Zimmer und kam nach etwa fünf Minuten freundlich zurück: „Ach Zachi, ich bin ganz durchgedreht ...., schließlich bin ich heute zum ersten Mal im Leben Oma geworden.“. Na ja, letzteres war es dann auch was im weiteren Abendverlauf für Frieden sorgte. Die Freude über die Großmutterschaft beherrschte sie doch sehr und da ich mich mitfreuen konnte herrschte für zirka 24 Stunden eine wirklich glückliche Atmosphäre. Dieses auch auf der Fahrt, bei der Ankunft und während der ersten Stunde des Aufenthaltes in der Wohnung von Anna Lena und Peter Görel. Dann gab es aber ein Vorfall, der Beate erstens wieder einmal vom Hocker riss und zweitens bei ihr das Thema Internetgeburt wieder auf die Tagesordnung brachte. Die strittige Diskussion, die sich daraus zwischen Mutter und Tochter entwickelte, zeigt sehr deutlich Anna Lenas Spagat zwischen hypermodern und erzkonservativ, wie ich diesen eingangs erwähnte. Die erste Stunde unseres Taufkirchener Aufenthaltes verlief eben halt wie es so üblich ist, das heißt: Begrüßung, Einweisung ins Gästezimmer und eine Begrüßungskaffeerunde mit einem kleinen Small Talk. Natürlich gehörten als allererstes mehr als ein Blick auf die schlafende, erst einen Tag alte Michaela und eine Führung durch die auf modernste Art eingerichtete Wohnung auch dazu. Als wir dann danach gerade mal fünf bis zehn Minuten beim Kaffee zusammensaßen meldete sich prompt das jüngste Mitglied der Familie um zu bekunden, dass von den beiden Rhythmen Schlafen und Essen jetzt letzteres angesagt sei. Anna Lena wollte ihre Tochter stillen und bat mich, dieses mit einem Camcorder für spätere Zeiten festzuhalten, wo gegen, aus meiner und anfänglich auch aus Beates Sicht, zunächst nichts zu sagen ist. Beates Rückfrage, warum ich und nicht Peter die Aufnahmen machen sollte, löste dann aber das erste Hallodri während unserer Besuchswoche aus. Anna Lena erklärte das nämlich damit, dass sich alle Drei, sie, Michaela und Peter, dabei nackt auf das Bett legen wollten. Anna Lena vertrat gemeinsam mit ihrem Peter die Meinung, das der Hautkontakt sehr wichtig für die spätere Entwicklung des Kindes wäre und sie dieses, nach ihrer Ansicht, nicht nur auf die Mutter-Kind-Beziehung zuträfe sondern auch der Vater mit einbezogen werden müsse. Beate entsetzte sich: „Was du da sagst finde ich zunächst mal im Prinzip richtig. ... Aber warum braucht ihr dafür Zuschauer, warum soll das mit der Kamera, vielleicht für Hinz und Kunz, festgehalten werden. Bei der Geburt exhibitionierst du dich im Internet und jetzt machst du zu Hause weiter. ... Ich glaube, dass ich in der Erziehung versagt habe; der Anstand ist bei dir wohl auf der Strecke geblieben.“. Jetzt ging es zünftig für etwa fünf Minuten zwischen Mutter und Tochter hin und her, bis Peter dazwischen warf: „Wenn ihr so weiter macht muss die arme kleine Michaela verhungern, denn aus meiner Brust kommt leider nichts raus.“. Beate gab daraufhin vorerst im Interesse ihrer Enkeltochter nach aber erweckte jedoch den Eindruck dass ihr alles doch sehr missfiel. Mir wurde die Kamera in die Hand gedrückt und das junge Paar entkleidete sich dann total. Was wir dann allerdings zusehen bekamen wirkte auf mich zwar erotisch aber keinesfalls pornografisch anstößig – mit der kleinen Michaela sah die gesamte Angelegenheit so gar richtig süß aus. Ich filmte die komplette Szene bis hin zum Bäuerchen, welches Michaela in den Armen ihres inzwischen aufgestanden aber immer noch nackten Papas von sich gab. Nachdem dieser dann seine Tochter an die ebenfalls noch nackte Anna Lena übergeben hatte, damit sie gewickelt werden konnte, übernahm er den Rest der Aufnahmen bis die kleine dann wieder in ihrem Bettchen lag. Erst jetzt zog sich das Ehepaar Görel wieder gesellschafts- beziehungsweise ausgehfähig an. Da ich ja die Kamera geführt hatte konnte ich auch nicht beobachten was Beate inzwischen machte. Sie hätte sich ja, wo es ihr doch nicht in den Kram passte, zum Beispiel ins Gästezimmer entziehen können, was sie jedoch nicht tat. Sie schaute im Gegenteil bei der Angelegenheit interessiert zu. Und wie das geschah, fand dann in den Augen der Tochter keine Gnade und führte zum nächsten Streit. Meine Stieftochter in Spe „pfiff“ ihre Mutter an: „Mutti, du bist ein altes scheinheiliges Schwein. Da regst du dich über die natürlichste Sache der Welt auf als sei sie ein Verbrechen und dann bist du diejenige die die Gelegenheit ausnutzt. Du hast bestimmt 90 Prozent der Zeit damit verbracht Peter auf den Schwanz zu schauen. An was hast du da gedacht? Nicht derjenige der nackt ist, ist der Schlimme sondern diejenige die sich Schlimmes dabei denkt. Es war nicht die Sünde das Adam und Eva im Paradies nackt waren. Da gab es noch keine Sünde, die gab es erst, als sie sich nach dem Essen des Apfels Gedanken darüber gemacht haben und dann das, was sie dachten, verstecken mussten. Nicht sich so geben wie Gott ein geschaffen hat ist Sünde sondern sich lustvoll an dem, was man mit dem Andern machen könnte aufzugeilen ... also die egoistische Lustgier.“. Beate klotzte jetzt recht aufgebracht sowohl die Internet-Geburt wie die, vom zukünftigen Stiefvater gefilmte, Still-Orgie auf. Die männlichen Anwesenden vergessend – ich hätte ja möglicher Weise von der Sache nichts wissen können – trumpfte Anna Lena auf: „Das musst du gerade sagen. Wer hat sich denn in Peepshows präsentiert? Warst du das oder ich? Du hast doch als Wichsvorlage vor Männern rum posiert. So was würde ich nie machen, für so etwas wäre ich mir viel zu schade ... ich bin ein Mensch und habe einen Wert. Ich lasse mich nicht zu einem Lustobjekt herunter degradieren.“. Beate war auf einmal sehr ruhig und mit Tränen in den Augen sagte sie: „Das war jetzt ganz gemein. Ich weiß ja, dass ich Fehler ... schwere Fehler, gemacht habe und dazu stehe ich auch. Ich glaube da ist es legitim, wenn ich eine Wiederholung solcher Sachen bei meiner Tochter verhindern will. Das brauchst du mir dann so nicht vorwerfen. Überleg mal, was du jetzt angerichtet hättest wenn Zachi nichts davon gewusst hätte ... Und was ist mit Peter, für was hält der denn jetzt seine Schwiegermutter?“. Jetzt erweckte Anna Lena
den gleichen Eindruck wie Beate zuvor und tönte kleinlaut: „Entschuldigung Mutti, das ganze ist mir jetzt in der Wut so rausgerutscht; da habe ich vorher gar nicht darüber nachgedacht. ... Mann, wo ich doch so ein Glück gehabt habe, dass du Zachi gefunden hast und wünsche ihn mir so sehnlichst zum Stiefpapa ... auch wenn ich schon erwachsen, verheiratet und selbst Mutter bin. Ich wollte bestimmt nichts kaputt machen. ... Hoffentlich, habe ich das jetzt nicht. Bitte, bitte, lieber Papa vergesse es“. Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Und über das, was jetzt Peter gedacht hat, brauchst du dir allerdings keine Gedanken zu machen. Du weißt doch das Viktor Schreiner (ein junger Mann aus Ulkerde) hinter mir her und auf Peter eifersüchtig war. Der hat Peter was davon erzählt ... Du hast doch wohl mitbekommen, dass das ganze Dorf davon wusste. Da habe ich Peterle erzählt wie es richtig war und der hat dich, wie du ja siehst, trotzdem gerne und achtet dich. ... Oder hast du was anderes gespürt?“. Anschließend herrschte eine bedrückende Stille in den Raum bis Peter dann die Initiative ergriff: „Mutti, ich glaube es beruht jetzt alles auf Missverständnissen und wir sollten die jetzt einfach mal dadurch ausräumen, dass wir euch jetzt unsere wahren Gründe, sowohl für die Entscheidung für das Geburtshaus wie auch zu der Sache von eben, berichten.“. Da hakte dann sofort Anna Lena ein und berichtete uns, was sie sich dabei gedacht hatten. Für das Geburtshaus hatten sie sich entschieden, weil dieses schon bereits während der gesamten Schwangerschaft die werdenden Eltern, auch die Väter betreuten. Dazu gehörten unter anderem: Schwangerschaftsschwimmen, ein Training um eine schnelle und schmerzfreie beziehungsweise –arme Entbindung zu erreichen, Kurse über Säuglingspflege für werdende Mütter und Väter sowie eine wöchentlich intensive Sprechstunde des Gynäkologen, der das Geburtshaus leitet und betreibt, sowie auch laufende Ansprachemöglichkeit der vom Haus angestellten Hebamme. Die Entbindungen finden in dem Haus in ansprechender Atmosphäre und nicht in so einem oft unpersönlich wirkenden Kreißsaal statt, aber trotzdem bei vollkommender Beachtung der Sepsis. Während der Entbindung läuft auf Wunsch entspannende Musik in gedämpfter Lautstärke. Auch die Musikrichtung, von Klassik bis Kuschelrock, darfst du auswählen. Anna Lena bekundete das es wirklich toll gewesen sei. Von diesem Erlebnis her würde ihr jedes Jahr Kind sogar recht sein. Aber Beate brauche keine Angst zu haben, denn sie wisse sehr wohl, dass es bei Kindern nicht mit der Entbindung getan sei. Beide hätten sich überlegt, dass Michaela noch ein Brüderchen oder Schwesterchen habe solle und dann wäre Schluss. So etwas, wie hier das Geburtshaus, kostet natürlich einiges. Anna Lena fand es recht schade, dass sich das, weil die Krankenkassen nur die ärztliche Standardleistung und die Aufwendungen für die Hebamme übernehmen, nicht jeder leisten kann. Um die Kosten ein Wenig zu reduzieren und um Werbung für seine Einrichtung zu machen, überträgt der betreibende Arzt, sofern das Einverständnis der Eltern vorliegt, die Kurse, bei denen alle immer im bekleideten Zustand sind, und die Entbindungen im Internet. Insgesamt gewährt der Betreiber bei einer Internetzustimmung einen Rabatt von 1000 Euro, das sind ja fast 2000 Mark. Alles wäre aber, wie sie sich vorher überzeugen konnten, mit einer sehr sauberen Kameraführung in sogar jugendfreier Fassung ins Internet gestellt worden. Mag sein, dass vom Angebot her Lüstlinge angelockt werden, aber diese dürften dann sicherlich vom tatsächlich dargeboten enttäuscht werden. Anna Lena und Peter hatten einen etwa halbstündigen Videozusammenschnitt von den Angeboten vor der Entbindung sowie die komplette Geburt in dieser Art von dem Haus erhalten. Wir könnten uns jetzt selbst davon überzeugen, dass das alles anständig abgelaufen sei. Und damit wurde dann der anschließende Videoabend auf die Tagesordnung gesetzt. Nachdem wir gesehen hatten was wirklich abgelaufen war, waren Beate und ich einer Meinung, nämlich das alles in Ordnung und auch aus ethischer Sicht sauber war. Als wir später im Bett lagen gestand mir Beate unter vier Augen, dass sie sich hinsichtlich ihrer ungerechtfertigten Verdächtigungen und Anschuldigungen schäme. Aber nicht nur deshalb hatte sie einen Grund sich zu schämen sondern gegenüber ihrem Schwiegersohn wurmte sie sein Wissen über ihre Peepshowzeit und dass sie sich, mehr oder weniger vom Unterbewusstsein gesteuert, während der Aufnahme des Stillens für seinen Penis interessiert habe. Sie gab mir gegenüber auch zu, dass sie „das große Ding“ doch irgendwo erotisch angetörnt habe. Die Aufnahmen vom paradiesischem Stillen waren vor Beginn der Geburtshaus-Videovorführung der Grund für eine Nachfrage seitens Beate: „Aber was sollten denn die Videoaufnahmen die Zachi gemacht hat?.“ Auch das erklärte Anna Lena plausibel: „Wo wir jetzt dieses Video von der Schwangerschaft und der Geburt haben wollten wir die Sache, ... nur für uns, das bekommt kein Dritter zusehen, weiterführen. Da gehört natürlich das Stillen nach modernsten Erkenntnissen auch zu. Unser Problem war, dass wir die Aufnahmen nicht selbst machen konnten ... Wenn Peterle an der Kamera gewesen wäre, hätte er nicht dabei sein können. Jetzt hatten wir das Problem wer die Aufnahmen hätte machen können. Da sahen wir euch, die wir beide als unsere Eltern ansehen ... auch Zachi haben wir schon ins Herz geschlossen und ich sage ab sofort nur noch Vati zu ihm – als einzigste Möglichkeit. Natürlich war uns nicht so wohl dabei wie du vielleicht denkst ... Das ging bei uns mehr oder weniger nach der Devise: Augen zu und durch.“. „Vielleicht war das ganz gut so.“, setzte jetzt Peter nach, „Dadurch konnte ich wirklich auch nicht an was anderes denken als an das was gerade wirklich passierte und auch ein Wenig an die doch durch euere Anwesenheit bedingten etwas unangenehmeren Begleiterscheinungen. Da waren alle Gedanken an Sex weit weg gescheucht ... Und das war gut so.“. Im Bett sagte mir Beate dann, dass Peter ganz augenscheinlich die Wahrheit gesagt habe, denn ihr war aufgefallen, dass nichts in Richtung Phallus passiert sei. Auf jeden Fall war jetzt die komplette Angelegenheit, auch für Beate, friedlich aufgeklärt. Jetzt habe ich in meinem Leben zwei Geburten live miterlebt, einmal Christinas Geburt, sogar durch persönliche Anwesenheit, und einmal die von Michaela auf Video. Ich habe sowohl meine Schwieger- wie meine Stieftochter beim
Stillen erlebt. Das ist mir bei meinen eigenen Kindern Dietmar und Hendrik nicht passiert. Natürlich hätte ich beim Stillen dabei sein können; wenn ich gewollt hätte. Anni und Rosi hätten sich bestimmt darüber gefreut wenn ich Anteil genommen hätte. Aber ich wollte nicht – ich hatte immer etwas anderes zu tun. Und wenn ich Anni oder Rosi bei den Vorbereitung zum Stillen und im Vorrübergehen dabei beobachte hatte ich tatsächlich dabei in der Regel doch nur sexuelle Lustgedanken, das eigentliche großartige Geschehen habe ich nicht wahrgenommen. Jetzt hatte ich das Gefühl sehr viel in meinem Leben, an dem ich scheinbar vollkommen vorbei gelebt habe, verpasst zu haben. Das Schönste, was junge Väter erleben können, war mir entgangen. Aber nicht nur dieses. Mein Gedanken gingen weiter. Wie schön wäre es gewesen, die Kinder aufwachsen zu sehen. Sie als Jugendliche, die sich vom Elternhaus abnabeln wollen, zu erleben. Vater-Sohn- beziehungsweise Mutter-Tochter-Konflikte mögen zwar im Augenblick, wo sie ausgetragen werden, stressig sein aber wenn man sie nicht bei seinen Kindern erlebt hat, dürften sie als Verlust empfunden werden; zumindestens ich empfinde jetzt diesen Verlustschmerz. Auf Letzteres komme ich, weil ich während unseres Aufenthaltes in Taufkirchen, diese Auseinandersetzungen zwischen Beate und Anna Lena, sogar vier Mal, miterleben konnte. In keinem Fall ging es um Dinge, die die Beiden direkt und unmittelbar belangt hätte sondern zwei Mal ging es um Politik, je ein Mal um Sozial- und Innenpolitik, einmal um Religion und als viertes um Fernsehprogramme. Kurz könnte man sagen, es handelt sich um allgemeine Themen, also um Gott und die Welt. Drei Mal schlugen die Wogen während des Mittagsessen und einmal während des Abendessens hoch. Immer waren die Abläufe gleich. Ich hatte immer das Gefühl, dass Mutter und Tochter sich sehr gut kannten und hundertprozentig wussten, wo bei dem anderen die Reizthemen und –worte lagen. In allen vier Fällen war es Anna Lena die aus einer normalen friedfertigen Unterhaltung die Reizpunkte zielstrebig ansteuerte. Innerhalb von ein paar Sekunden saßen sich die Beiden kämpferisch gegenüber und Peter wie auch ich waren dann abgemeldet; wir kamen nicht mehr zu Wort. Es dauerte nicht lange bis sich Mutter und Tochter anschrieen und dann nahte auch schon das Ende des Disputes. Eine von beiden Frauen sprang auf, griff ihren Teller sowie ihr Besteck und verließ mit diesen Utensilien den Raum. Während unseres Aufenthalts war es ausgewogen: Sowohl Beate wie auch Anna Lena waren es je zwei Mal, die den Raum verließen. Aber nach zwei oder drei Minuten waren sie mit lächelnden Gesicht wieder da und schnitten, als wäre vorher nichts gewesen, unverfängliche Themen an. Dieses ist allerdings eine liebenswerte Eigenart, die leider nicht allen Menschen zu eigen ist, die ich aber von Beate kannte und auch schon in diesem Buch erwähnt habe. Was aber paradox erscheint ist, dass die beiden Frauen überhaupt keine entgegengesetzte Meinung hatte. Nach diesen Vorfällen suchten sie dann immer sowohl Peters wie meine Gesprächszuneigung um in Vieraugengespräch uns ihre Standpunkte darzulegen. Aber es tut mir leid, ich konnte keine wesentliche Unterschiede zwischen der Mutter- und Tochtermeinung entdecken. Offensichtlich hat Anna Lena deckungsgleich das Weltbild ihrer Mutter übernommen. Ganz eindeutig schien der Antrieb der Tochter darin zu liegen, dass sie beweisen wollte, dass sie kein Ableger der Mutter sondern eine eigenständige Persönlichkeit ist. So etwas kannte ich schon, sowohl aus persönlichen Jugenderleben wie häufigen allgemeinen Schilderungen, als sogenannten Vater-Sohn-Konflikt, der besser Alt-JungKonflikt genannt würde, denn Frauen können es ja, wie in unserem Beispiel zu sehen ist, auch ganz gut. Wenn ich in meinen Erinnerungen krame, stelle ich wie eben schon angeschnitten fest, dass sich solche Dinge auch zwischen mir und meinen Vater abgespielt haben. Auch da gab es mit dem Eintritt meines Erwachsenseins keine Altersbeschränkung. Solche Sträußchen habe ich mit meinem Vater bis zuletzt ausgefochten und bei uns Zuhause war nicht nur ich das, denn Jürgen konnte dieses auch ganz gut. Nur bei meinen Jungens habe ich das nicht miterlebt. Ich war ja nicht da; ich stand ja nicht dem Leben sondern der Wirtschaft zur Verfügung. Und als ich später bei Hendrik da war, war es zu spät. Er hatte diese natürlichen Menschwerdungsprozesse mit seiner Mutter, mit Rosi, „abgewickelt“. Als ich dann doch „heimkehrte“ war alles geschehen, Hendrik war ohne mich gereift und brauchte mich diesbezüglich nicht mehr. Und zu meinem tiefen Bedauern muss ich sagen, dass mir all dieses heute sehr leid tut aber es nun nicht mehr zu ändern ist. Eben erwähnte ich das offensichtlich deckungsgleiche Weltbild von Mutter und Tochter und fing mir dabei einen bösen Blick meiner Sekretärin, die ja identisch mit der Person der Mutter ist, ein. Sicher denkt Beate jetzt nicht an das Gleiche wie ich. Ihre Gedanken werden wohl bei der Vorliebe ihrer Tochter für das Moderne und Neue liegen. Anna Lena ist begeistert beim Thema Internet, wozu für sie erst bei einem Schächtelchen ab 800 Megaherz und mindestens 17-ZollBildschirm der Übergang von einem Steinzeitinstrument zu einem gerade gebrauchsfähigen PC liegt. Unser Kistchen mit seinen 133 Megaherz und 12-Zoll-Monitor, auf dem dieses Buch entsteht, entlockt Anna Lena nur ein mitleidiges Lächeln. Felsenfest ist meine zukünftige Stieftochter davon überzeugt, das der Punkt wo alle Medien- und Kommunikationsdienste auf so etwas wie einem Computer zusammenlaufen, nicht mehr in allzu weiter Ferne liegt. Aber auch bei Kleidung, Haushaltsgeräte, Einrichtungsgegenständen, Autos und, und, und ... überall das gleiche Bild. Beates Tochter ist ein Fan der Zukunft. Wer jetzt sagt, man könne keinen Unterschied zu allen anderen jungen Leuten entdecken, den möchte ich jedoch nachtragend ergänzend sagen, dass sich Anna Lena von der allgemeinen Konsumentenmasse jedoch dadurch unterscheidet, dass sie, wenn es ernst wird, doch mit kritischer und ökonomischer Vernunft an die Sache herangeht. Sie hinterfragt Eigenschaften und glaubt oft den Verkäufern erst, wenn sie ihr Fakten zeigen oder nachweisen können. Auch das erste Beste landet nicht in ihrem „Einkaufskorb“ sondern sie prüft stets und ständig ob es noch preiswertere Alternativen gibt; einen Markenfimmel hat sie nicht. Bei den Prüfungen kann dann sogar rauskommen, dass sie letztendlich zu dem Schluss kommt, dass sie etwas bestimmtes momentan gar nicht brauch. Natürlich konnte ich das nicht bei einer Woche Aufenthalt feststellen; diese weis ich alles von Peter aber ich bekam es auch entsprechend von Beate bestätigt.
Also das habe ich nicht mit Weltbild gemeint. Da ging es mir um die Ansichten über Gott und die Welt, über die Anschauung von Werte und Moral. In dieser Hinsicht würden ihr die im Trend liegendend Leute bestätigen, dass sie von Anno Tobak sei. Sie hat festgefügte christliche Wertvorstellungen und ihr Lebenstraum ist der von einer liebenden Frau und Mutter. Das sie gegenüber anderen Menschen Mitgefühl und Verständnis aufbringt hält sie nicht nur für ihre Christenpflicht sondern für selbstverständlich. Das sie ihrem Peter treu bis in den Tod bleiben will und vielleicht sogar noch, nach dem Vorbild ihrer Mutter, ein ganzes Ende darüber hinaus stellt für sie Gesetz und Vorsatz dar. Einen Seitensprung hält sie für eine unverzeihliche Sünde. Kurz sie ist fromm und hat unerschütterliche konservative Wertvorstellungen. Zwischendurch mal ein Wort zu meiner Sekretärin, was sie an dieser Stelle aber auch gleich niederschreiben kann: „Sorry Beate, deshalb ist dir deine Tochter so gleich, nicht nur ähnlich, und deshalb habe ich euch alle beide so lieb. Was Anna Lena anbelangt muss ich zwar einschränkend sagen, dass ich sie lediglich nur eine ‚kurze’ Woche lang richtig erleben konnte ... aber das sie dein Ebenbild ist, kann keine von euch Beiden verleugnen.“. Beate hat soeben mit „Danke, gleichfalls“ geantwortet und spielte darauf an, wie sehr Hendrik mein Ebenbild sei und so wie ich selbst bin, führe ich das auf das Ebenbild zu meiner Mutter zurück. Ich glaube in Hendrik ein Beispiel dafür zu haben, dass sich Mentalität und Ansätze zum Charakter doch erblich übertragen können. Denn auf erzieherischen Wege kann sich dieses bei uns nicht übertragen haben, denn Zeit seines Lebens bis zu dem Zeitpunkt, wo ich der dritte Aussteiger wurde, stellte ich etwas da, was ich aus meiner heutigen Sicht gar nicht war. Unter Wertvorstellungen verstand ich ganz was anderes wie Beate, Anna Lena, Hendrik und auch Silvia. Die Werte die ich ausschließlich kannte, konnte man in D-Mark, Dollar oder einem anderen Tauschhilfsmittel beziffern. Übergeordnete Werte gab es für mich nicht, meine waren irdisch, vergänglich und nicht für die Ewigkeit tauglich. Aber sehr konservativ war ich doch. Einmal äußerlich, was sich zum Beispiel in den teueren aber sterilen Designeranzügen und dem Krawattentick ausdrückten. Irgendwie sah ich früher immer gemacht und nie natürlich aus. Und meine Ansichten von Wirtschaft stammten, obwohl es heute gängig ist, aus dem 18. Jahrhundert. Gegenüber dem Liberalismus ist ja der Sozialismus hochmodern, denn letzterer entstand aufgrund der schweren Folgen ersterer Ideologie etwa 100 Jahre später. Wenn ich die Herren Schröder, Hombach und Blair mit ihrer sogenannten Neuen Mitte richtig verstehe, ist es modern ins 18. Jahrhundert zurück zu fallen und alle, die ihnen nicht dabei folgen wollen, sind Traditionalisten. So, jetzt bin ich wirklich am Ende meiner Lebensbeichte. Nach Abschluss dieses Absatzes diktiere ich keine Zeile mehr. Aber letztlich muss ich feststellen, dass es gut war, dass ich diesen Bericht über die Erlebnisse, die dann folgte als uns Michaela nach München gelockt hatte, ans Ende gestellt habe. Meine Beobachtungen und Beurteilungen in Hinsicht auf meine künftige Stieftochter verführten mich auch zu kurzen resümierenden Rückblicken auf mein eigenes Leben und so etwas gehört eigentlich ans Ende einer solcher Niederschriften. Na, dann bin ich nur gespannt, was Beate dieser Sache noch anhängen möchte. Es war ja ihr Wunsch, dieser Niederschrift noch etwas unzensiert anzuhängen. Ich verabschiede mich jetzt nur noch kurz von den eventuellen Leserinnen und Lesern, die mir bis hier gefolgt sind und empfehle diesen noch die letzten Zeilen, die jetzt von der „Sekretärin“ eigenverantwortlich und ohne Diktat verfasst werden. Ich sage jetzt: „Tschüss“ und tröste denjenigen beziehungsweise diejenige, der es nicht gefallen hat damit, dass es von mir kein zweites Werk dieser Art geben kann, denn wie alle anderen auch, habe ich nur dieses eine Leben – jetzt und auch in der Ewigkeit. Wenn ich mein irdisches Leben noch einmal leben dürfte, würde ich bestimmt nicht mehr soviel davon versäumen; aber vorbei ist vorbei. Mir bleibt nur noch im hoffentlich noch sehr langen künftigen Leben es richtig anzunehmen und zu genießen. Zum Kapitel 44
Zum Inhaltsverzeichnis
Und zu guter Letzt noch ein Kapitel von Beate Hallo Leutchen, Ihr habt jetzt schon eine ganze Menge von dem, was ich getippt habe, gelesen aber dabei war nichts, was in den Windungen meines Gehirns erzeugt wurde. Nichts war mein Stiel – alles war mein Zachi, so wie er leibt und lebt. Dieses muss zunächst mal als ganz normal betrachtet werden oder habt ihr schon mal ein Buch gelesen wo der Autor zwischendurch mal eine „künstlerische Pause“ eingelegt und an seiner Stelle die Sekretärin mal ein paar eigene Geistesblitzes eingeschoben hat? Würde sich auch gar nicht so gut lesen lassen, denn irgendwo haben wir alle einen anderen Stil, eine andere Formulierungsart und andere Ausdrucksweisen. Selbst wenn Einzelne sehr lange, über Jahrzehnte eng miteinander leben wird man immer schon nach ein paar Zeilen merken wer was geschrieben hat. Wenn man schon der Tippse freie Hand für eigene geistige Ergüsse geben will, dann geht das nur ganz vorne im Vorwort und ganz hinten im Epilog. Aber Hand aufs Herz: Wer hat denn so etwas schon mal gesehen? Logo, die Tastaturquälerin, die zu so etwas eine Kompetenz hat, schreibt in der Regel nicht nach Diktat sondern nach eignem Ermessen und auf der anderen Seite schreiben, so wie ich vermute, fast alle Autoren ihre Bücher selbst. Und so unterscheiden sich mein Schatz und ich mich von der breiten Masse oder gar von allen anderen. Bei uns ist ohnehin alles anders als bei allen anderen. Die meisten Autoren schreiben für eine breite Leserschaft – und dabei denken die Meisten auch an das, was ihnen an Honorar zufließt. Aber nichts für ungut, von Lust und Liebe kann ja auch niemand leben. Das war bei Zachi ja vollkommen anders. Seine Zielgruppe bestand doch anfangs aus sagenhaften zwei Personen und davon war er eine selbst. Für ihn hieß die Devise „Ich rede mich frei, ich räume mal ein Wenig in den Hinterstübchen meines bisherigen Lebens auf.“. Jetzt lässt sich „Freireden“ nicht mit „Freischreiben“ gleichsetzen, denn Sinn einer Freiredung ist der frische Wind, der auf Grund des Durchzuges vom Mund des Redners zum Ohr des Zuhörers entsteht. Da bot sich die Form des Diktates ja förmlich an. Zumal auf diese Art und Weise ja auch die andere Hälfte der Zielgruppe, sprich ich, der Zachi sein Leben beichten wollte, ganz direkt erreicht wurde. Oder sehe ich da was falsch? Das ursprüngliche Ziel wäre, aus meiner bescheidenen Draufsicht, so bei Kapitel 30 oder 31 erreicht gewesen. Was danach passierte dürfte im Innenleben meines Zachis keinen, zumindestens jetzt noch keinen, Aufräumungsbedarf haben und was seine Lebensbeichte mir gegenüber anbelangt gibt es erst recht keinen Handlungsbedarf, da ich ja dabei gewesen bin. Na, wir haben aus diversen Gründen noch weiter gemacht – bis zum heutigen Tag. Einmal weil es uns letztlich richtig Spaß machte. Auch in der Richtung wie es bis jetzt nur wir beide wissen. Er hat ja noch nicht erwähnt, dass ich bei bestimmten Texten heißgelaufen bin und dann erst mal was anderes wie diktierte Texte gebrauchte. Diverse Angelegenheit haben wir zwei auch immer ein Wenig scherzhaft ausgesponnen und dabei dann einiges zum Lachen gehabt. Ab und zu hat er mir und ich ihm auch was erzählt, was man nun wirklich, auch rein privat für sich selbst, nicht niederschreiben sollte. Natürlich meine ich jetzt nichts Ernstes, denn hier geht es ja um die Freude, die wir bei der Niederschrift gehabt haben. Nur ein einziges Mal hatten wir bei dieser Geschichte mal zwischendurch ein kleinen Zoff miteinander, was aber mit dem Inhalt des Buches nichts zutun hatte sondern nur mit der Art und Weise des Diktierens. Zachi war mit dem Kopf ganz wo anders und ließ sich häufig von mir den letzten Absatz wiederholen und dieser taugte dann in seinen Augen nichts und musste wiederholt werden. Bei so was platz mir dann schon mal der Kragen, insbesondere wo wir es ja gar nicht nötig hatten. Es war doch egal ob wir Heute, Morgen oder Übermorgen an die Sache herangehen. Aber dafür sind wir doch recht flott voran gekommen. Seht ihr Leute, wenn sich welche lieb haben färben sie aufeinander ab. Früher wenn ich was schrieb, ging ich immer Schrittchen für Schrittchen vor. Es ergab sich also keine Notwendigkeit auf die Sache zurückzukommen. Jetzt habe ich es auch fertig gebracht, meinen Aufsatz mit einem Umweg anzureichern und kann jetzt im Stile eines Walter Heuers sagen: „Jetzt erst mal in chronologischer Folge weiter“. Nur das ich jetzt nicht in einer Chronologie sondern in der „Vorrede zur Nachrede“ bin. Also eben erzählte ich, dass wir aus Spaß an der Freude weitergeschrieben haben. Dann kam unser „Tick“, nichts unvollendetes zu machen und beschlossen daher, dem Lebenslauf des Managers Walter Heuer auch noch das Jahr des Zachi Zachäus anzuhängen. Na ja, ob nun meine Omawerdung und mein blamables Auftreten bei meinen Kindern das richtige Ende ist oder ob wir mindestens noch bis zum 2.02.02 weitermachen sollten ist ja eigentlich nur eine Frage, was es an Erzählenswerten bis zum Februar nächsten Jahres noch passiert. Aber alles was ich bisher angeführt habe rechtfertigt keinen Tippsenanhang. Aber jetzt, jetzt kommt es. Zwischendurch habe ich ab und an meinem Zachi mal zudenken gegeben, dass seine Lebensgeschichte andere ein Wenig zu dem anregen könnte, was heutzutage offensichtlich zu Wenig geschieht: Zum Nachdenken. Also ich bin der Meinung, Zachi sollte seine Lebensgeschichte veröffentlichen. Ganz abgeneigt ist er nicht, aber er möchte, nach Abschluss des Werkes das Ganze noch mal dahingehend querlesen, in wie weit sich die Handlung modifizieren lässt, dass man nicht trotz Änderung der Namen von Personen und Orten auf wahres Geschehen zurückschließen kann. Schließlich haben ja nicht nur wir sondern auch die anderen in der Geschichte vorkommenden Leute ein Recht darauf, dass nicht unsere Privatsphäre sensationslüsternen Wölfen zum Fraß vorgeworfen wird. Es sieht jedoch danach aus, als würde sich dieses „Buch“ doch nur zu unseren Bit- und Byteschätzen auf unserem PC einordnen. Aber wie geschrieben, die Entscheidung erfolgt nach Zachis Querlese – Ausgang offen. Und in diesem Fall ergibt mein Nachwort dann einen Sinn, vielleicht sogar in umgeschrieben Form ganz vorne; eventuell als Vorwort. Ganz einfach geht es mir um die Beschreibung des Zachi Zachäus alias Walter Heuer, der uns hier sein Lebenslauf und sein Innenleben ausgeschüttet hat. Also, wie sieht
er aus und wie wirkt er auf andere, zum Beispiel auf mich. Dieses wollte ich jetzt unbedingt dabei niedergeschrieben wissen. Dann beginne ich gleich mal mit einem Geständnis: Ich war in Zachi schon verliebt als ich noch gar nicht wusste, das es ihn gibt. Als nämlich Hendrik, damals als Silvia Steinmars Freund, erstmalig hier im Dorfe auftauchte hatte ich noch nichts von der Familie Heuer gehört. Als ich Hendrik erstmalig sah, war ich begeistert von diesem Mannsbild. Ein richtig fescher Kerl. Er ist etwas über 1,80 Meter groß – etwas größer als Zachi und der ist 1,78 -, hat blaue Augen in einem offenen, hellen Gesicht, dunkelblonde Haare und eine zur Größe ideal passende Figur. „Beate“, dachte ich mir damals, „schade, dass du nicht zwanzig Jahre jünger bist, dann würdest du der „kleinen Steinmar“ den Kerl wegfischen.“. Ich gebe ja ehrlich zu, dass solche Gedanken nicht rechtens aber auch nicht unnatürlich sind. Das Aussehen spielt bei einer entflammenden Liebe zwar immer die erste Geige, ist aber langfristig nicht der Sauerstoff, der die Liebesflamme zum Dauerbrennen benötigt. Klaro, erst muss man ja mal aufeinander aufmerksam werden und das geschieht, in dem uns das, uns ansprechende Besondere an dem anderen ins Auge sticht. Man achte darauf, dass ich von dem Besonderen geschrieben habe. Meine Anna Lena war mal vor ein paar Jahren so ein Fan von so einer Popsängerin und wollte sich gerne mittels Friseur, Make up und Kleidung in diese verwandeln. Da habe ich sie gefragt, ob sie glaube, das sich ein Kerl, den bereits 10 Marias entgegen gekommen seien noch nach der elften umdrehen würde. Und vielleicht würde sie dann genau von dem übersehen, der sie und sie ihm gerne gehabt hätte. Als individuelle, natürliche Charaktere würde sie aber auch noch anderen auffallen, da hätte sie dann gleich mehrere Chancen. Also kurz, mein zukünftiger Stiefsohn ist mit keinem Star, außer annähernd seinem Vater oder auch seinem Onkel, vergleichbar; ein natürliches Individuum, und zwar so eins, auf das ich abfliege. Ich schrieb aber vorhin, dass das Aussehen wohl der Anzünder einer Liebe ist aber dieses nicht begründet. Begründet wird diese von der Art und Weise wie sich ein Mensch gibt und wie er auftritt. Und Hendriks Auftreten riss mich förmlich aus dem Lot. Zunächst, wenn ihm seine Gegenüber etwas fremd sind, bleibt er etwas schüchtern wirkend ein paar Schritte zurück und innerhalb kürzester Zeit taut er auf, wird locker um- und zugänglich. Wenn man mit ihm spricht wirkt sein Gesicht entweder freundlich und zugetan oder emotional mitgehend engagiert. Nie hat man den Eindruck, als würde er desinteressiert sein und nur diplomatisch Freundlichkeit vortäuschen. Wenn er einen mal einen kurzen Moment nicht zu folgen scheint, wird einen sofort an seinen Erwiderungen oder Äußerungen deutlich, dass es sich nicht um Abwesenheit sondern um die Mitarbeit seines Denkapparates handelt. Jetzt war ich so und so schon von dem Jungen mitgerissen und da musste noch der finale Stoß gegenüber meinem Liebesempfinden bei seinem ersten Besuch im Gemeindebüro ausgeführt werden. Er kam herein, während ich vor dem Gemeinde-PC saß. Er trat auf mich zu und reichte mir die Hand zum Gruße. Ganz in Liebesgefühle aufgelöst blieb ich sitzen und bot Silvias Bräutigam keinen Platz an. Da kam etwas, was ich noch nicht erlebt hatte. In einem Ton, der sich nach Entschuldigung anhörte, sagte er: „Bitte Frau Schlömer ich möchte nicht unhöflich sein, aber darf ich mich setzen. Wenn ich stehe und auf sie runterschaue habe ich das Gefühl, sie herabzuwürdigen ... und so etwas hat niemand verdient.“. Das hatte mir den Rest gegeben, jetzt war ich über beide Ohren verliebt in einen 20 Jahre jüngeren Mann – und dann noch in dem Mann einer Anderen. Dieses Liebe war natürlich irrational und ich kämpfte mit meinem Kopf und mit meinen Gebeten dagegen an. Aber schämen tue ich mich deshalb nicht. Vielleicht war es nicht nur die Liebe zu meinem verstorbenen Mann sondern auch die zu Hendrik, die mich in mein Witwendasein einigeln ließen – und seit Februar dieses Jahres weiß ich wozu es gut war. Ich schaute, hinter der Gardine stehend aus dem Schlafzimmerfenster und sah wie mein neuer Nachbar einzog. Da stand auf einmal mein „Geliebter“ passgenau für mich. Das Alter passte offensichtlich zu mir und ich hatte bereits gehört, dass Hendriks Vater, der neue Nachbar, auch Witwer war. Allerdings hatte ich auch die Gerüchte von seinem wilden Vorjahresleben gehört, die ich aber mit meinem Peepshow-Erinnerungen relativierte. Ich konnte es kaum glauben, der Vater war und ist wie der Sohn – und in dem war ich verliebt. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich von einer Bestimmung überzeugt. Sonst habe ich es nämlich, Bibel hin und Bibel her, nicht so mit Bestimmungen und Verheißungen. Ich gehe immer davon aus, dass das Böse eine Voraussetzung dafür ist, das man das Gute wahrnehmen kann. Wenn Gott das Gute vorausbestimmt hat, kann das nur von uns gemerkt werden, wenn das, dann ebenfalls von ihm vorausbestimmte Böse, eingetreten ist. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Gott einen Adolf Hitler vorausbestimmt hat, damit es Leute wie Oskar Schindler, Dietrich Bonhoeffer oder Graf von Galen geben konnte. Mit Verlaub, ich glaube nicht, dass sich der Herr seine Schöpfung wie eine einwandfrei funktionierende Modelleisenbahn zugelegt hat – die Welt ist doch kein Computerprogramm. Aber andererseits muss doch was an der Vorbestimmung sein, denn woher wusste ich als ich meinen Zachi das erste Mal sah, dass er für mich bestimmt sei und andererseits, wie ist das mit seiner Prophezeiung aus dem Traum seiner ersten Frau. Ach lassen wir es, wir sind ohnehin viel zu klein um Gottes Willen und Absichten zu ergründen. Das ganze Wissen der Menschheit ist doch nur ein minimaler Bruchteil seines Geistes. So wie ich es gerade geschrieben habe, ließt sich das nun, als sei Hendrik jetzt das kongruente Abbild seines Vaters. Aber dem ist nun wirklich nicht so. Es gibt genau so viel verschiedene Typen und Charaktere wie es Menschen gibt und gab. Zig Milliarden Mal was anderes; das Wunder der Schöpfung. Selbst bei eineiigen Zwillingen gibt es diverse Unterschiede. Mit mir ging ein Zwillingspärchen, Brigitte und Helga, zur Volksschule und selbst heute weiß ich, wenn ich eine von Beiden treffe genau ob es sich um Britta oder Hella handelt obwohl Leute, die die Beiden nur flüchtig
kennen, diese nicht aus einander halten können. Bei Vater und Sohn Heuer sind die Unterschiede natürlich bei Weitem gravierender. Wobei der Altersunterschied zwischen den Beiden noch nicht einmal die Hauptsache ist. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Hendrik mal eines Tages genau wie sein Vater in den dunkelblonden Haaren graue Strähnen hat. Genauso wie ich mir die Fältchen, die bei Zachi aus den Augenhöhlen kommen, bei Hendrik vorstellen kann. Ich bin sogar davon überzeugt, dass man Hendrik, wenn er mal 56 ist, genau so wie seinen Vater auf höchstens 50 schätzen wird. Und die Art, wie ich diese zwei Absätze zuvor im Falle Hendrik beschrieb, finde ich auch bei meinem Zachi. Das waren die Dinge, die es ja ermöglichten, dass ich mich in jemanden, den ich noch nicht kannte, verliebte. Ein für alle deutlicher Unterschied zwischen Vater und Sohn, ist die Beherrschtheit des Vaters und das Gegenteil beim Sohn. Im Falle eines Falles wirkt Zachi wie ein Roboter, nicht kalt und nicht warm, alles tot, alles Materie; zielgerichtet vorprogrammiert und keine Körpersprache. Dagegen fährt Hendrik bei ähnlichen Situation aus der Haut, sein Körper verkrampft sich ein Wenig und man hat das Gefühl das es gleich knallt. Aber ich habe das Gefühl, als würde der Putz, das Gemachte, langsam von meinem Zachi abbröckeln. Ab und zu sieht es so aus, als würde der „Alte“ jeden Moment in der gleichen Weise wie sein Sohn aus der Haut fahren aber dann fängt er sich jedoch wieder und wirkt so wie die Bioroboter aus Politik und Wirtschaft, wie man sie Tag für Tag in der Tagesschau belächeln kann. Ich habe auf jeden Fall die Hoffnung nicht aufgegeben, dass diesbezüglich auch noch aus dem Manager ein Mensch wird. Beherrschte und unbeherrschte Menschen kann man verstehen und man kann mit ihnen umgehen und verhandeln aber verhaltensgestylte Manager sind vorprogrammiert und marschieren wie Lemminge aus ihrer Sicht vorwärts – und wenn es in den durch Liberalisierung und Globalisierung absehbaren Weltwirtschaftcrash geht. Dieses ist also kein natürlicher Unterschied bei den Beiden, denn auf Zachis Seite ist es eine gemachte, künstliche Angelegenheit, die sich jetzt, wo er sie nicht mehr brauch, mit großer Wahrscheinlichkeit ablegen wird. Aber da sind die Dinge, die Vater und Sohn wie Tag und Nacht unterscheiden. Sehr deutlich, auch in dieser Niederschrift klar geworden, ist deren absolut in entgegengesetzte Ausrichtung hinsichtlich Liebe, Sex und Partnerschaft. Während ich mir, auch jetzt noch, jederzeit bei Zachi einen Seitensprung vorstellen kann, ist Hendrik ein Mustertyp von treuen Ehegatten. Allerdings kann man bei ihm sagen, dass sich Gleiches gerne mit Gleichem vereint – Silvia ist diesbezüglich genauso wie ihr Mann. Was den Meinigen anbelangt bin ich schon der Meinung das ich ein Wenig aufpassen muss. Ich glaube jedoch, das, nach dem er ja mächtig auf die Nase gefallen ist, zumindestens nichts katastrophales, was dann unwiderrufbar ist, passiert und anderseits hat er jetzt eine Heimat gefunden. Da Zachi so jetzt auch weiß wo er hingehört, wird er auch immer wieder kommen. Aber in Sicherheit wiegen will ich mich nicht; aufpassen muss ich schon. Ein anderer großer Unterschied bei den Beiden ist die praktische Veranlagung. Zachi kann wohl die korrekte Anleitung zum Umschmeißen eines Wassereimer liefern aber wenn er umfallen soll, muss er sich dazu seinen Sohn holen. Ich habe also den doppellinkshändigen Kopfarbeiter an meiner Seite. Den Kopf setzt Hendrik zwar auch immer ein aber im Gegensatz zu seinen Vater ist er hemdsärmelig. Er verschwendet nicht seine Zeit mit Anweisungen sondern erledigt gleich das, was er sich gedacht hat. Ich glaube, da kommt der Junge doch mehr auf seine Mutter. Auch Roswitha erweckt bei mir eher den Eindruck der intelligenten Praktikerin. Nach dem ich jetzt die Unterschiede zwischen Vater und Sohn aufgedeckt habe, möchte ich doch noch mit einer Gemeinsamkeit zwischen den beiden Männern abschließen. Beide sind sie liebenswerte Softis, sie zeigen gegenüber anderen Menschen und Kreaturen Mitgefühl. Hinsichtlich dieser Eigenschaft muss man sich eigentlich wundern, wie Zachi Manager sein konnte. Die beiden Mannsbilder haben auch sehr dicht am Wasser gebaut und man sieht doch bei denen öfters mal so etwas von feuchten Augen bis kullernden Tränen. Ich kann mir gar nicht vorstellen wie Zachi diese Eigenschaft, die ihm angeboren ist, im Managersessel verbergen oder unterdrücken konnte. An dieser Stelle kann ich ja auch mal einen Ausflug in die Erotik unternehmen. Den Softi Walter Heuer kann man auch im Bett spüren. Ich hebe ob seiner Zärtlichkeit immer in den siebten Himmel ab. Wie wohl ist es, wenn er meinen Körper bestreicht und abküsst, wenn er meine Brustwarzen umzüngelt, wenn er mir im Po kitzelt oder sanft die Beine vom Schritt bis an die Zehen massiert. Wenn wir zusammen sind habe ich in der Regel mehr als einmal einen Orgasmus obwohl er ihn in den meisten Fällen gar nicht einführt. Es scheint mir so, als seien bei ihm die höchstens Glücksgefühle nicht durch eigene körperliche Befriedigung sondern durch das „der Anderen geben“ zu erreichen. Oh, das ist wunderbar. Nun habe ich ja noch nie mit Hendrik im Bett gelegen und dürfte wohl auch nie das „Glück“ mal haben, aber ich habe, wenn ich ihn mit Silvia beobachte, den Eindruck, das er diesbezüglich genau wie sein Vater ist. Immer hat man den Eindruck, dass der Junge sehr zärtlich zu seiner Frau ist. Das ist nicht nur mir aufgefallen, da habe ich mich dieser Tage auch mit Ilona Völler, die das ganz süß fand, darüber unterhalten. Allerdings habe ich mich gegenüber der Pastorenfrau mit den Übertragungen aus eigenen Betterlebens zurück gehalten – vielmehr davon haben wir gar nicht gesprochen, obwohl Pastöre doch auch nur Menschen sind. Und mit dem Ausdruck „auch nur Menschen“ bin ich jetzt bei dem letzten Punkt, den ich jetzt gerne ansprechen wollte. Mein ganz großes Glück ist es, in Zachi einen Menschen aus Fleisch und Blut zu haben. Jemand der Freude und Trauer empfinden kann, der Vorzüge und Fehler hat und jubeln und knittern kann. Er ist kein Apparat, kein Objekt und schon gar nicht ein Halbgott. Er ist jemand der mal genießt und mal leidet. Er schwebt nie über den Anderen sondern steht mitten unter ihnen, tut viel Gutes und baut genauso viel Mist. Ein Mensch, ein richtiger Mensch. Und was mir schier
unverständlich ist, wie dieser Mensch das alles ablegen konnte und eine so lange Zeit den Leuten den entmenschlichten Toppmanager vorgaukeln konnte. Jürgen hat mir mal erzählt, dass Zachi früher genauso wie heute, ein Typ wie Hendrik gewesen sei. Er wäre bei den Mitarbeitern der Firma Heuer und bei Kunden sehr beliebt gewesen. Später als Toppmanager hätten ihn die Mitarbeiter der Unternehmen gefürchtet und sogar gehasst. Für die Kunden wäre er dann der Apparatschick gewesen, der den „Laden“ leitet, wo sie ein bestimmtes Produkt haben wollten – mit dem hatten sie eigentlich gar nichts zutun, den kannten sie sowieso nur aus der Zeitung, denn die Firmen waren für sie anonym. Im väterlichen Betrieb war er für die Mitarbeiter das Vorbild für Motivation und in seinen gemanagten Bereichen war er der Veranlasser von Lustlosigkeit und Resignation. Das paradoxe wäre, dass er wenn er beim Heuerunternehmen geblieben wäre heute noch einen Laden mit gutem Betriebsklima und vielen Stammkunden gehabt hätte, aber bei Weitem wäre er dann nicht so reich und so bekannt geworden. Der Heuer-Laden wäre immer eine kleine aber feine Quetsche geblieben. Sein Reichtum beruhe nicht auf Leistung und Unternehmertum sondern auf eiskalter Kapitalmanipulation und –spekulation. Und ganz traurig hing Jürgen dann an, dass er aber seinem Bruder nichts vorwerfen könne, da er ja genauso gewesen sei. Heute sind sich die beiden ausgestiegenen Brüder einig, dass sie sich besser gestanden hätten wenn sie bei ihrer Spedition und bei ihrem Busunternehmen geblieben wären. Sie hätten dann gemerkt, dass sie von Menschen umgeben gewesen wären und hätten nicht abgehoben. Und nur als Mensch unter Mensch kann man leben und glücklich sein. Wem nützt es, wenn imaginäre Aktienkurse auf dem Mond rum turnen und die Besitzer der Papiere zur Sicherheit sich hinter hohen Mauern selbst einschließen müssen. Was sind das doch für arme „Würstchen“, die in gepanzerten Limousinen über die Autobahn geschaukelt werden und nicht mal bei herrlichem Sonnenschein am Waldesrand die Seele baumeln lassen können. Wie arm ist doch derjenige, der sich jede Form von körperlicher Sexualität kaufen kann aber nirgendwo die knisternd spannenden Bande einer echten Liebe erlebt haben. Was sind das doch für bedauernswerte Leute, deren Wert nur durch das, was sich auf ihrem Konto befindet, zu dokumentieren ist, die aber hinsichtlich menschlicher Werte von der Allgemeinheit als Nullwertig angesehen werden. Sicherlich, man bewundert diejenigen, die es geschafft haben, auch wenn das was sie haben ohne eigene Leistung nur ererbt haben aber meistens entpuppt sich diese Bewunderung, wenn man der Sache auf den Grund geht, als missgönnender Neid. Wer dem Sozialhilfeempfänger seine mehr als dürftige Stütze nicht gönnt, dem gönnt man im Gegenzug seine Millionen auch nicht. Nun, mein Zachi war bevor er den realen Boden des menschlichen Lebens verließ ein richtiger Mensch und hatte das Glück, als solcher auch aus dem Scheinhimmel der Globalisierer zurückkommen. Sicher, er ist auch heute noch Multimillionär und wird es, wenn es keinen wirtschaftlichen Supergau gibt, auch bleiben. Er unterscheidet sich von den prominenten Humanoiden dadurch, dass es ihn nicht auf weiteren Zuwachs und Sicherung des Standortes ankommt sondern ihm kommt es auf den Erhalt und wenn möglich auch noch der Steigerung der Lebensqualität für sich und die Menschen um ihn herum an. „Menschlich leben statt humanoid existieren“ lautet jetzt seine Devise und ich weiß, dass ich mit diesem Zachi Zachäus alias Walter Heuer bis an dem Tag, wo einer von uns beiden seinen Platz auf dieser Erde räumen muss, glücklich sein werde. Also, das war es, dass wollte ich noch anhängen. Und da dieses geschehen ist, mache ich jetzt die letzten Tastenanschläge an dem Roman „Der dritte Aussteiger“. Das war’s, und tschüss. *** ENDE ***