Durch seine Romane ICH, DER LETZTE MENSCH und DIE UNHEIMLICHE GESCHICHTE DES MR. C ist Richard Matheson den deutschen S...
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Durch seine Romane ICH, DER LETZTE MENSCH und DIE UNHEIMLICHE GESCHICHTE DES MR. C ist Richard Matheson den deutschen Science-Fiction-Lesern längst kein Unbekannter mehr. Mit DER DRITTE PLANET – im Original: THIRD FROM THE SUN – legt der Autor nun eine Sammlung seiner besten utopischphantastischen Stories vor. Diese Kollektion enthält: die Geschichte vom Ungeheuer, dem eine Frau das Leben schenkte die Geschichte der Flucht zum dritten Planeten die Geschichte vom Drei-Monde-Irrenhaus die Geschichte vom einsamen Venus-Mädchen die Geschichte vom unanständigen Zeitreisenden die Geschichte vom Krieg der Hexen und andere unheimliche Stories
In der TERRA-Sonderreihe erschienen bisher: Hans Kneifel Der Traum der Maschine (Band 100) E. F. Russell Die große Explosion (Band 101) John Brunner Die Wächter der Sternstation (Band 102) Poul Anderson Die Zeit und die Sterne (Band 103) A. E. van Vogt 200 Millionen Jahre später (Band 104) Andre Norton Das große Abenteuer des Mutanten (Band 105)
Terra Sonderreihe 106
DER DRITTE PLANET von RICHARD MATHESON
Deutsche Erstveröffentlichung
MOEWIG-VERLAG MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe THIRD FROM THE SUN Aus dem Amerikanischen übertragen von Wulf H. Bergner und W. Kortwich
Copyright © 1954 by Richard Matheson Printed in Germany 1965 Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg
Inhaltsverzeichnis Das Ungeheuer (BORN OF MAN AND WOMAN) .................................... Der dritte Planet (THIRD FROM THE SUN) .............................................. Durch Kanäle (THROUGH CHANNELS) ............................................... Das Drei-Monde-Irrenhaus (LOVER WHEN YOU'RE NEAR ME) .............................. Einsames Venus-Mädchen (SRL AD) ....................................................................... Das wahnsinnige Haus (MAD HOUSE) .............................................................. Das Verschwinden (DISAPPEARING ACT) .................................................. Der Abergläubische (THE WEDDING) ........................................................... Der Unanständige (F ...) ............................................................................. Liebes Tagebuch (DEAR DIARY) .............................................................. Krieg der Hexen (WITCH WAR) ............................................................... Mamas Zimmer (DRESS OF WITHE SILK) ..............................................
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Das Ungeheuer Heute, als es hell war, hat Mutter mich »Ungeheuer« genannt. »Du Ungeheuer!« hat sie gesagt. Ich sah den Ärger in ihren Augen und möchte wissen, was ein Ungeheuer ist. Heute ist Wasser vom Himmel gefallen, überallhin. Ich habe es gesehen. Die Erde hinter dem Haus konnte ich von dem kleinen Fenster aus beobachten. Sie hat das Wasser aufgesaugt wie durstige Lippen. Sie trank zuviel, wurde ganz dunkelbraun und lief über, weil ihr schlecht wurde. Ich fand es nicht schön. Mutter ist eine schöne Frau; das weiß ich. In dem kleinen Raum mit den kalten Wänden, in dem mein Bett steht, habe ich Papiere versteckt, die ich hinter dem Heizkessel gefunden habe. Darüber steht FILMSTARS, und die Gesichter darin sind wie die von Vater und Mutter. Vater sagt, sie sind hübsch. Und auch Mutter ist hübsch – hat er gesagt. Mutter so hübsch, und ich ...?! »Sieh dich an!« sagte Vater und machte kein freundliches Gesicht dabei. »Du bist Gottes Strafe für unser Spiel mit den Atomen.« Ich berührte seinen Arm und sagte: »Es ist schon gut, Vater.« Er schüttelte sich und trat so weit von mir weg, daß ich ihn nicht mehr erreichen konnte. Heute hat Mutter mich ein bißchen von der Kette gelassen, so daß ich aus dem kleinen Fenster gucken konnte. Dabei habe ich das Wasser vom Himmel fallen sehen. * 8
Heute war der Himmel golden. Als ich hinaufblickte, taten mir die Augen weh. Nachher sah der Keller ganz rot aus. Ich glaube, heute war Kirche. Sie sind oben weggegangen, in die große Maschine gestiegen und verschwunden. Hinten saß die kleine Mutter. Sie ist viel kleiner als ich. Aus dem kleinen Fenster kann ich alles sehen, was ich sehen möchte. Als es heute dunkel wurde, hatte ich mein Essen und ein paar Käfer gegessen. Oben hörte ich lachen und wollte gern wissen, weshalb sie lachten. Ich machte die Kette von der Wand los, wickelte sie um mich herum und ging schnell zur Treppe. Die Stufen knarren, wenn ich darauf trete. Meine Beine wollen unter mir wegrutschen, weil ich sonst nicht auf Treppen gehe. Meine Füße stoßen an die hölzernen Stufen. Ich ging nach oben und öffnete eine Tür. Dahinter war alles weiß, weiß wie die Juwelen, die manchmal von oben kommen. Ich trat durch die Tür, stand ruhig und hörte das Lachen jetzt lauter. Ich ging dem Geräusch nach und sah plötzlich Menschen, mehr Menschen, als ich gedacht hatte. Ich glaubte, ich müßte mit ihnen lachen. Mutter kam herein und stieß die Tür zu. Sie traf mich und tat mir weh. Ich fiel rücklings auf den Fußboden, und die Kette klirrte laut. Ich weinte. Mutter legte sich eine Hand auf den Mund. Ihre Augen wurden groß. Sie sah mich an. Ich hörte Vater rufen: »Ist etwas gefallen?« Mutter sagte: »Ein eisernes Brett. Komm – hilf mir es aufheben.« Er kam und sagte: »Ist das denn so schwer, daß du dazu Hilfe brauchst?« Er schien größer zu werden, und seine Augen funkelten wütend. Er schlug mich, und ein paar 9
Blutstropfen fielen von meinem Arm auf den Fußboden. Es sah nicht hübsch aus. Sie machten häßliche grüne Flecke auf dem hellen Holz. Vater befahl mir, wieder in den Keller zu gehen, und ich mußte gehorchen. Jetzt tat das Licht meinen Augen weh. Es ist anders als das im Keller. Vater band meine Arme und Beine zusammen und legte mich auf das Bett. Oben hörte ich wieder lachen, während ich ruhig lag und eine schwarze Spinne beobachtete, die sich auf mein Bett herabließ. Ich dachte an das, was Vater gesagt hatte. »O Gott! Und erst acht Jahre!« * Heute machte Vater die Kette wieder fest, ehe es hell wurde. Ich muß versuchen, sie wieder herauszuziehen. Er sagte, es wäre ungezogen von mir gewesen, nach oben zu kommen, und ich sollte es nie wieder tun, oder er würde mich entsetzlich schlagen. Ich weiß, wie weh das tut. Ich hatte Schmerzen, legte meinen Kopf an die kalte Wand und versuchte zu schlafen, mußte aber an das weiße Zimmer oben denken. Dann bekam ich die Kette von der Wand los und blickte aus dem Fenster, weil ich draußen leises Lachen hörte. Ich sah lauter kleine Menschen wie meine Mutter und meinen Vater. Sie waren hübsch. Sie sprangen auf der Erde umher und machten dabei Geräusche, die sich nett anhörten. Ihre Beine bewegten sich schnell. Sie waren ganz wie Mutter und Vater. Mutter sagt, alle richtigen Menschen sehen so aus. Einer der kleinen Väter sah mich und zeigte auf das 10
Fenster. Ich ließ mich los und rutschte an der Wand hinunter – in die Dunkelheit, kauerte mich zusammen, damit sie mich nicht sehen konnten. Ich hörte sie vor dem Fenster sprechen und hörte andere, die herbeieilten. Oben fiel eine Tür ins Schloß, und meine Mutter rief etwas. Dann hörte ich schwere Schritte und lief schnell zu meinem Bett, machte die Kette an der Wand fest und legte mich hin. Mutter kam herunter. »Bist du am Fenster gewesen?« fragte sie ärgerlich. »Bleib vom Fenster weg! Du hast sicher die Kette wieder losgemacht!« Sie nahm den Stock und schlug mich. Ich habe nicht geweint – das kann ich nicht. Aber das Blut lief über mein Bett. Sie sah es und drehte sich um. »Oh, mein Gott! Mein Gott!« sagte sie. »Warum hast du mir das angetan!« Ich hörte den Stock auf den Steinboden fallen. Sie rannte nach oben, und ich verschlief den ganzen Tag. * Heute hat es wieder geregnet. Ich hörte, wie Mutter langsam die Treppe herunterkam, und versteckte mich in dem Verschlag für die Kohlen. Sie hatte ein kleines, lebendes Tier bei sich. Es lief auf den Armen und hatte spitze Ohren. Sie sprach zu ihm. Es wäre alles gut gewesen, wenn das kleine Ding mich nicht gerochen hätte. Es rannte zu dem Kohlenverschlag und sah mich. Seine Haare sträubten sich. Es knurrte wütend. Ich zischte, aber es sprang mich an. Ich wollte ihm nicht weh tun, bekam aber Angst, weil es noch schlimmer biß als eine Ratte. Es schmerzte sehr, und die kleine Mutter schrie. Ich packte das Tier mit aller Kraft. Es machte dabei 11
Geräusche, die ich noch nie gehört hatte. Ich drückte es, so stark ich konnte. Dann lag es als roter Klumpen still auf den Kohlen. Ich versteckte mich, als Mutter jetzt rief, weil ich Angst vor dem Stock hatte. Nach einer Weile ging sie, und ich kroch mit dem Ding über die Kohlen, verbarg es unter meinem Kissen und legte mich darauf. Die Kette machte ich wieder in der Wand fest. * Heute ist wieder ein anderer Tag. Vater hat mich ganz eng gefesselt. Ich hatte Schmerzen, weil er mich schlug. Diesmal riß ich ihm den Stock aus der Hand und schrie. Er bekam ein ganz weißes Gesicht, rannte aus meiner Kammer und schlug die Tür zu. Ich fühle mich nicht sehr wohl. Den ganzen Tag ist es kalt hier drin. Die Kette kommt langsam wieder aus der Wand. Und ich habe eine große Wut auf Vater und Mutter. Ich will es ihnen zeigen! Ich werde tun, was ich schon einmal getan habe. Ich will laut schreien und lachen und an den Wänden hinauflaufen. Zuletzt will ich mit dem Kopf nach unten an den Füßen hängen und lachen und überallhin grünes Blut tropfen lassen, bis es ihnen leid tut, daß sie nicht netter zu mir waren. Wenn sie versuchen, mich wieder zu schlagen, werde ich sie auch schlagen. Das will ich.
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Der dritte Planet Fünf Minuten vor der Zeit, auf die der Wecker eingestellt war, schlug er die Augen auf. Mühelos und plötzlich wurde er hellwach, streckte die linke Hand aus und drückte im Dunkeln auf den Sperrknopf. Der Knopf leuchtete noch eine Sekunde lang und erlosch dann. Seine Frau neben ihm legte eine Hand auf seinen Arm. »Hast du geschlafen?« fragte er. »Nein. Du?« »Ein bißchen«, sagte er. »Nicht viel.« Ein paar Sekunden lang schwieg sie. Er hörte, wie ihre Kehle sich schluckend zusammenzog. Sie zitterte, und er wußte, was sie sagen würde. »Fliegen wir wirklich?« Er drehte sich zur Seite und holte tief Luft, ehe er antwortete. »Ja«, sagte er und fühlte, wie ihre Hand auf seinem Arm fester zufaßte. »Wieviel Uhr ist es?« fragte sie. »Gegen fünf.« »Dann fangen wir am besten gleich an, uns fertigzumachen.« »Ja.« Trotzdem bewegte sich noch keiner von beiden. »Bist du wirklich ganz sicher, daß wir in das Schiff kommen, ohne daß sich einer darum kümmert?« fragte sie. »Sie denken, es ist einfach noch ein Probeflug. Keiner wird auf die Idee kommen, das nachzuprüfen.« Sie antwortete nicht, sondern rückte nur ein wenig dichter zu ihm. Er fühlte, daß sie kalt war. 13
»Ich habe Angst!« sagte sie. Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Das brauchst du nicht«, sagte er. »Es ist alles sicher.« »Wegen der Kinder mache ich mir Sorgen.« »Es ist alles sicher«, wiederholte er. Sie zog seine Hand an ihre Lippen und küßte sie zärtlich. »In Ordnung!« sagte sie. Beide setzten sich im Dunkeln auf. Er hörte, daß sie aufstand und ihr Nachthemd auf den Fußboden gleiten ließ. Sie hob es nicht auf, sondern stand still und schauderte in der kühlen Morgenluft. »Bist du ganz sicher, daß wir nichts weiter mitnehmen müssen?« fragte sie. »Nein, nichts. Ich habe alles, was wir brauchen, schon im Schiff. Außerdem ...« »Was?« »Wir können nichts mehr an den Wachen vorbeibringen«, sagte er. »Sie sollen denken, daß du und die Kinder nur mitkommen, um mich starten zu sehen.« Sie fing an, sich anzuziehen. Er warf die Decke zurück und stand auch auf, ging auf dem kalten Fußboden zum Kleiderschrank hinüber und zog sich an. »Ich werde die Kinder wecken«, sagte sie. Er brummte, während er sich ein Unterhemd über den Kopf zog. An der Tür blieb sie stehen. »Bist du ganz sicher ...«, fing sie an. »Was?« »Werden die Wachen es nicht sonderbar finden, daß unsere Nachbarn auch mitkommen, um den Start zu sehen?« Er ließ sich auf die Bettkante sinken und machte die Schnallen seiner Stiefel zu. 14
»Darauf müssen wir es ankommen lassen«, sagte er. »Wir brauchen sie.« Sie seufzte. »Es kommt mir so kalt, so berechnend vor.« Er richtete sich auf und sah in der offenen Tür ihre Silhouette. »Was bleibt uns anderes übrig?« fragte er eindringlich. »Wir können später nicht unsere eigenen Kinder miteinander verheiraten.« »Nein«, sagte sie. »Es ist nur ...« »Nur was?« »Nichts, Liebling. Sei mir nicht böse!« Sie schloß die Tür, und ihre Schritte verklangen in der Diele. Die Tür zum Kinderzimmer ging auf. Er hörte ihre beiden Stimmen. Ein freudloses Lächeln kräuselte seine Lippen. Sie werden glauben, sie hätten einen freien Tag, dachte er. Er zog seine Schuhe höher. Wenigstens wissen die Kinder nicht, was geschehen wird, dachte er. Sie glauben, sie sollten ihn nur zum Flugplatz begleiten, dann zurückkommen und ihren Schulkameraden alles vom Start erzählen. Sie wußten nicht, daß sie nie wieder zurückkehren würden. Er stand auf und trat an den Toilettentisch, schaltete das Licht über dem Spiegel ein. Es war komisch, daß ein so nach nichts aussehender Mann etwas Derartiges geplant hatte! Kalt. Berechnend. Ihre Worte fielen ihm wieder ein. Nun – es gab keinen anderen Ausweg. In ein paar Jahren, wahrscheinlich noch eher, würde der ganze Planet mit einem blendenden Blitz explodieren. Ihre Flucht war der einzige Weg, sich davor zu bewahren. Fliehen und mit wenigen Menschen auf einem neuen Planeten von vorn 15
anfangen. Er starrte auf sein Spiegelbild. »Es gibt keinen anderen Weg!« wiederholte er. Er blickte sich im Schlafzimmer um und sagte diesem Teil seines Lebens in Gedanken Lebewohl! Als er die Lampe ausschaltete, kam es ihm vor, wie wenn er ein Licht in seinem Gehirn ausschaltete. Leise schloß er die Tür hinter sich und strich mit der Hand über die so oft benutzte Klinke. Sein Sohn und seine Tochter kamen ihm, geheimnisvoll miteinander flüsternd, entgegen. Er schüttelte leicht amüsiert den Kopf. Seine Frau wartete, und sie gingen zusammen nach unten. Er hielt ihre Hand. »Ich habe keine Angst mehr, Liebling«, sagte sie. »Es wird schon alles gut gehen.« »Sicher!« sagte er. »Ganz bestimmt!« Sie traten alle ins Eßzimmer, und er setzte sich mit den Kindern an den Tisch. Seine Frau schenkte ihnen Saft ein und holte dann das Essen. »Hilf deiner Mutter, Puppe«, sagte er zu seiner Tochter. Sie stand auf. »Ziemlich früh, Pop, wie?« sagte sein Sohn. »Ziemlich früh, hahaha!« »Sei vernünftig!« warnte er ihn. »Denke an das, was ich euch erklärt habe! Wenn du auch nur ein Wort davon zu irgend jemandem sagst, muß ich euch zurücklassen!« Ein Teller zersprang klirrend auf dem Fußboden. Er warf einen Blick auf seine Frau. Sie starrte ihn mit zitternden Lippen an. Sie wandte ihr Gesicht ab, bückte sich, griff unsicher nach den Scherben, hob ein paar auf. Dann ließ sie sie 16
wieder fallen, stand auf und schob alle Scherben mit dem Schuh an die Wand. »Als ob das jetzt noch eine Rolle spielt«, sagte sie nervös. »Es ist ja ganz gleich, ob das Haus sauber ist oder nicht.« Die Kinder beobachteten sie erstaunt. »Was hast du denn?« fragte die Tochter. »Nichts, Liebling, nichts. Ich bin nur ein bißchen nervös«, sagte sie. »Setz dich und trink deinen Saft. Wir müssen schnell essen. Die Nachbarn werden gleich hier sein.« »Pop, weshalb kommen dann die Nachbarn mit uns?« fragte sein Sohn. »Sie wollten gern«, sagte er vage. »Nun vergiß es und sprich nicht so viel.« Es war ruhig im Zimmer. Seine Frau brachte das Essen und stellte es auf den Tisch. Nur ihre Schritte störten die Stille. Die Kinder sahen abwechselnd sich selbst und ihren Vater an. Er hielt seinen Blick auf den Teller gerichtet. Das Essen schmeckte nach nichts, und er fühlte sein Herz dumpf gegen seine Rippen schlagen. Der letzte Tag. Es ist der letzte Tag! »Iß lieber tüchtig«, sagte er zu seiner Frau. Sie setzte sich und fing an zu essen. Als sie den Löffel hob, summte es an der Haustür. Der Löffel glitt ihr aus den Fingern und fiel klappernd auf den Fußboden. Er streckte schnell seinen Arm aus und legte eine Hand auf ihre. »Alles in Ordnung, Liebling«, sagte er. »Alles in Ordnung.« Er wandte sich zu den Kindern um. »Geht und macht die Tür auf«, befahl er. »Beide?« fragte seine Tochter. »Beide.« 17
»Aber ...« »Tut, was ich sage!« Sie glitten von ihren Stühlen, gingen aus dem Zimmer und blickten dabei erstaunt zu ihren Eltern zurück. Als sie nicht mehr zu sehen waren, wandte er sich wieder seiner Frau zu. Ihr Gesicht war blaß und verkrampft; ihre Lippen hatte sie fest zusammengepreßt. »Bitte, Liebling«, sagte er. »Bitte! Du weißt, daß ich euch nicht mitnehmen würde, wenn ich auch nur den geringsten Zweifel an unserer Sicherheit hätte! Du weißt, wie oft ich dieses Schiff schon geflogen habe! Und ich weiß genau, wohin wir fliegen. Glaube mir: es ist sicher!« Sie drückte seine Hand gegen ihre Wange, schloß die Augen. Große Tränen drängten sich unter den geschlossenen Lidern hervor und liefen über ihr Gesicht. »Es ist keine Angst«, sagte sie mühsam. »Aber ... der Abschied für immer ... Unser ganzes Leben haben wir hier verbracht. Es ist nicht wie ein Umzug. Wir können nie wieder hierherkommen. Nie.« »Hör zu, Liebling!« Seine Stimme klang aufgeregt. »Du weißt es ebensogut wie ich. In wenigen Jahren, vielleicht früher schon, gibt es wieder einen entsetzlichen Krieg. Auf dieser Welt wird nichts Lebendes übrigbleiben. Wir müssen fliehen. Für unsere Kinder, für uns selbst ...« Er schwieg und versuchte, sich seine Worte ganz klarzumachen. »Für die Zukunft des Lebens selbst«, sagte er dann unentschlossen. Es tat ihm leid, als er es gesagt hatte. Früh am Morgen, bei prosaischem Essen, klangen solche Redensarten selbst dann falsch, wenn sie richtig waren. »Die Hauptsache ist, daß du keine Angst hast«, schloß er. »Es passiert uns bestimmt nichts.« 18
Sie drückte seine Hand. »Ich weiß«, sagte sie ruhig. »Ich weiß es.« Sie hörten Schritte. Er nahm ein Papiertaschentuch und gab es ihr. Sie betupfte hastig ihr Gesicht damit. Die Tür ging auf. Die Nachbarn und ihre Kinder kamen herein. Die Kinder waren aufgeregt. »Guten Morgen!« sagte der Nachbar. Die Nachbarin ging zu seiner Frau. Beide traten zum Fenster und sprachen leise miteinander. Die Kinder standen umher, bewegten sich unruhig und sahen einander nervös an. »Haben Sie schon gegessen?« fragte er den Nachbarn. »Ja. Halten Sie es nicht für richtig, sofort aufzubrechen?« »Ich denke«, sagte er. Sie ließen alles auf dem Tisch stehen. Seine Frau ging nach oben und holte Kleidungsstücke. Auf der Veranda blieben er und seine Frau noch einen Augenblick stehen, während die anderen schon zum Wagen gingen. »Ob wir die Tür zuschließen?« fragte er. Sie lächelte hilflos und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Spielt es eine Rolle?« sagte sie dann achselzuckend und wandte sich ab. Er schloß die Tür zu und ging ihr nach. Als er sie einholte, wandte sie sich zu ihm. »Es ist ein hübsches Haus«, murmelte sie. »Denke nicht mehr daran«, sagte er. Sie wandten dem Haus ihre Rücken zu und stiegen in den Wagen. »Haben Sie zugeschlossen?« fragte der Nachbar. »Ja.« 19
Der Nachbar lächelte verkrampft. »Wir auch«, sagte er. »Ich wollte es eigentlich unverschlossen lassen, bekam es dann aber doch nicht fertig und bin noch einmal zurückgegangen.« Sie fuhren durch stille Straßen. Der Rand des Himmels fing an, sich rot zu färben. Die Frau des Nachbarn saß mit den vier Kindern hinten, seine Frau und der Nachbar vorn bei ihm. »Es wird ein schöner Tag«, sagte der Nachbar. »Ich glaube auch«, versetzte er. »Haben Sie Ihren Kindern die Wahrheit erzählt?« fragte der Nachbar leise. »Natürlich nicht!« »Ich auch nicht«, sagte der Nachbar bekräftigend. »Ich habe nur so gefragt.« »Oh.« Eine Zeitlang fuhren sie schweigend weiter, bis der Nachbar fragte: »Haben Sie manchmal das Gefühl gehabt, daß wir ... ausrücken?« Er straffte sich. »Nein!« sagte er und preßte die Lippen zusammen. »Nein.« »Am besten spricht man, glaube ich, überhaupt nicht davon«, sagte der Nachbar hastig. »Das ist wirklich am besten«, bestätigte er. Kurz vor dem Wachthaus am Tor wandte er sich nach hinten. »Denkt daran!« sagte er. »Keiner von euch spricht auch nur ein Wort!« Der Posten war schläfrig und kümmerte sich kaum um sie, als er den Testpiloten für das neue Raumschiff erkannt hatte. Das genügte. Die Familie war mitgekommen, um den Start mit anzusehen, erklärte er dem Posten. Dagegen war 20
nichts einzuwenden. Der Posten ließ sie weiter zur Plattform des Schiffes fahren. Der Wagen hielt unter den riesigen Pfeilern. Sie stiegen alle aus und starrten nach oben. Hoch über ihnen, die spitze Nase zum Himmel gerichtet, fing das graue Metallschiff an, die ersten Sonnenstrahlen zu reflektieren. »Dann wollen wir!« sagte er. »Schnell!« Während sie auf den Fahrstuhl des Schiffes zuliefen, blieb er einen Augenblick lang stehen und sah zurück. Das Wachthaus wirkte verlassen. Er blickte sich um und versuchte, alles seinem Gedächtnis einzuprägen. Heimlich bückte er sich, nahm etwas Erde auf und steckte sie in die Tasche. »Leb wohl!« flüsterte er. Er rannte zum Fahrstuhl. Die Fahrstuhltür schloß sich. In dem nach oben steigenden kleinen Raum war nichts zu hören als das Summen des Motors und ab und zu verlegenes Hüsteln der Kinder. Er musterte sie. So jung einfach mitgenommen zu werden, dachte er, ohne daß sie etwas davon wußten oder dazu sagen konnten. Er schloß die Augen. Seine Frau hatte ihren Arm unter seinen geschoben. Er sah sie an, und als ihre Blicke sich begegneten, lächelte sie. »Alles in Ordnung«, flüsterte sie. Der Fahrstuhl hielt mit kurzem Zittern. Die Tür glitt zur Seite, und sie traten hinaus. Hier oben war es heller. Er drängte sie die eingezäunte Plattform entlang. Durch die schmale Tür kletterten sie alle ins Schiff. Er zögerte kurz, ehe er ihnen folgte. Plötzlich empfand er den zwingenden Wunsch, etwas für diesen Augenblick 21
Passendes zu sagen. Aber es fiel ihm nichts ein. Er schwang sich ins Innere des Schiffes und knurrte vor sich hin, während er die Tür zuzog und mit dem großen Rad festschraubte. »Das haben wir geschafft«, sagte er. »Und nun kommt mit.« Ihre Schritte echoten auf den metallenen Decks und Leitern, als sie nach oben zur Zentrale gingen. Die Kinder liefen zu den Fenstern und sahen hinaus. Sie keuchten vor Erstaunen, als sie sahen, wie hoch sie waren. Ihre Mütter standen hinter ihnen und blickten ängstlich zur Erde hinab. Er trat zu ihnen. »So hoch!« sagte seine Tochter. Er tätschelte zärtlich ihren Kopf. »So hoch«, wiederholte er. Dann drehte er sich unvermittelt um und ging hinüber zu den Instrumenten, blieb zögernd stehen. Er hörte, daß jemand hinter ihn trat. »Sollten wir es den Kindern nicht jetzt doch erklären?« fragte seine Frau. »Müßten sie nicht wissen, daß sie die Erde zum letztenmal sehen?« »Erkläre es ihnen«, sagte er. Er wartete darauf, daß er sie weggehen hörte, vernahm jedoch nichts. Als er sich umdrehte, stand sie noch da und küßte ihn auf die Wange. Dann ging sie zu den Kindern hinüber und erzählte es ihnen. Er legte einen Hebel um. Tief im Innern des Schiffes flammte dadurch ein Funke auf und entzündete den Treibstoff. Aus den Behältern ergossen sich Gasströme. Die Schotten fingen an zu vibrieren. Er hörte seine Tochter aufschreien und versuchte, keine 22
Notiz davon zu nehmen. Unsicher streckte er eine Hand nach einem Schalter aus, blickte dann plötzlich nach hinten. Sie alle starrten ihn an. Er legte seine Hand auf den Schalter und drehte ihn um. Das Schiff zitterte eine kurze Sekunde lang – dann fühlten sie, wie es sich hob. Es glitt nach oben in die Luft, schneller und schneller. Sie hörten den Wind laut vorbeiströmen. Er beobachtete, wie die Kinder sich weder den Fenstern zuwandten und hinausblickten. »Leb wohl!« sagten sie. »Leb wohl!« Er ließ sich müde in einen der Sessel vor dem Instrumentenbrett fallen. Aus den Augenwinkeln sah er, daß sein Nachbar sich in den danebenstehenden Sessel setzte. »Sie sind sich völlig sicher darüber, wohin wir fliegen?« fragte der Nachbar. »Es steht auf der Karte da.« Der Nachbar betrachtete mit erhobenen Augenbrauen die Karte. »Also wirklich in ein anderes Sonnensystem«, sagte er. »Ja. Und der Planet hat eine Atmosphäre, die der unseres Heimatgestirns genau gleich ist. Es ist völlig sicher.« »Und unsere Familien sind sicher!« meinte der Nachbar. Er nickte einmal und blickte zu den Frauen und Kindern hinüber. Sie blickten noch aus den Fenstern. »Was meinten Sie?« fragte er dann. »Ich habe gefragt«, wiederholte der Nachbar, »welcher von diesen Planeten es ist.« Er lehnte sich hinüber und zeigte auf die Karte. »Der kleine dort«, sagte er. »Dicht bei jenem Mond.« »Dieser? Der dritte von der Sonne?« 23
»Richtig«, sagte er. »Dieser. Der dritte von der Sonne. Wir werden ihn Erde nennen – wie unsere alte Heimat.«
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Durch Kanäle Klick. Swisch, Swisch, Swisch. Alles in Ordnung, Sergeant? Alles in Ordnung. Okay. Dieses Protokoll wird am fünfzehnten Januar neunzehnhundertachtundsechzig im dreiundzwanzigsten Polizeirevier aufgenommen ... Swisch. ... im Beisein von Detektiv James Taylor und – uh – Sergeant Louis Ferazzio. Swisch, Swisch. Der Name, bitte. Wie? Wie heißt du, mein Sohn? Wie ich heiße? Los, mein Junge! Wir wollen dir doch nur helfen. Swisch. L-leo. Familienname? Ich wwweiß nicht ... Leo. Dein Vatersname, Junge. Vo ... Vo ... Ruhig, Junge! Rege dich nicht auf. V-Vogel. Leo Vogel also? J ... Ja. Adresse? Avenue J, Nummer zweiunddreißig. Alter? 25
Ich bin ... beinahe ... wo ist meine Mama? Swisch, Swisch. Stellen Sie es mal eine Minute lang ab, Sergeant. Gut. Klick. * Klick. Swisch. Na, mein Junge – wieder in Ordnung? J ... Ja. Aber wo ...? Wie alt bist du? F – fünfzehn. Und wo warst du gestern abend von sechs Uhr an, bis du nach Hause gegangen bist? Ich war ... im ... im Kino. Mama hat mir ... hat mir das Geld dazu gegeben. Weshalb bist du nicht zu Hause geblieben und hast mit deinen Eltern ferngesehen? Weil ... Weil ... Ja? Die Le-Lenottis waren zu uns gekommen und wollten mit ihnen fernsehen. Kamen sie oft? N-nein. Es war das erstemal. So. Und deshalb hat deine Mutter dich ins Kino geschickt? J-ja. Sergeant, geben Sie dem Kind etwas Kaffee. Und versuchen Sie, eine Wolldecke für ihn aufzutreiben. Sofort, Chef. 26
Nun, Junge – um wieviel Uhr bist du aus dem Kino gekommen? Um wieviel Uhr? Das weiß ich nicht. Aber ungefähr gegen halb zehn, nicht wahr? Das kann sein. Ich weiß es nicht. Alles, was ich noch weiß ... Ja? Nichts. Gut. Du hast den Film nur einmal gesehen, nicht wahr? Swisch. Wie? Du hast ihn nur einmal gesehen. Du bist nicht in der nächsten Vorführung geblieben, wie? Nein. Nein. Ich habe ihn nur einmal gesehen. Okay. Dann kommen wir auf ... Swisch. ... ungefähr halb zehn, daß du aus dem Kino gekommen bist. Bist du sofort nach Hause gegangen? Ja ... ich meine, nein. Wo bist du noch gewesen? Ich habe im Drugstore eine Coca-Cola getrunken. Aha. Und dann bist du nach Hause gegangen. Jjjj – Swisch. Ja. Dann bin ich nach Hause gegangen. Das Haus war dunkel? Ja. Aber sie lassen nie Licht brennen, wenn sie fernsehen. Ach so. Du bist ins Haus gegangen? J-j-ja. Nimm einen Schluck Kaffee, mein Junge, bevor er kalt wird. Und beruhige dich. Okay? 27
Ja. Schön. Nun ... oh, das ist gut. Legen Sie ihm die Decke um die Schultern, Sergeant. Ist es so besser? Mmmmmm. Okay. Dann wollen wir weitermachen. Und glaube mir, mein Junge: es ist für uns nicht leichter als für dich. Wir haben es auch gesehen. Ich will Mama haben! Ich brauche sie. Bitte, kann ich ... Oh, was habe ich ... gut, behalten Sie den Apparat aus, Sergeant. Du hast kein Taschentuch, nicht wahr? Hier, nimm das. Haben Sie ausgeschaltet, Sergeant? Sofort. Swisch – klick. * Klick. Als du hineingingst – ist dir da etwas als sonderbar aufgefallen? Was? Gestern abend hast du uns erzählt, du hättest etwas gerochen. Ja. Es ... es ... es war ein komischer Geruch. Einer, den du kennst? Wie? Roch es nach irgend etwas, was du früher schon gerochen hast? Nein. Es roch auch nicht stark. Jedenfalls nicht in der Diele. Schön. Du bist also ins Wohnzimmer gegangen? Nein. Nein. Ich ging ... Ma. Kann ich ... Swisch, Swisch. 28
Hör auf damit, mein Junge. Wir wissen, was du hinter dir hast. Aber wir versuchen, dir zu helfen. Swisch, Swisch, Swisch. Du bist also nicht ins Wohnzimmer gegangen. Hast du nicht gedacht, du müßtest sie auf den Geruch aufmerksam machen? Ich hörte, daß das Ding noch lief, und ... Das Ding? Der Fernsehapparat. Und? Und Ma kann es nicht leiden, wenn ich mitten in einen Film hineinplatze. Deshalb bin ich nach oben in mein Zimmer gegangen, um sie nicht ... Sie wissen schon. Sie nicht zu stören. Ja. Okay. Wie lange bist du oben geblieben? Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Stunde. Und? Von unten war nichts zu hören. Überhaupt nichts? Nein. Überhaupt nichts. Bist du da nicht argwöhnisch geworden? Ja. Ich dachte, sie müßten doch mal lachen oder laut sprechen oder ... Völlig ruhig. Ja. Völlig ruhig. Bist du dann nach unten gegangen? Etwas später. Ich wollte zu Bett gehen und ihnen ... ... gute Nacht sagen? Ja. Swisch. Du bist nach unten gegangen und hast die Tür zum 29
Wohnzimmer aufgemacht? Ja, ich ... ja. Was hast du gesehen? Ich ... ich ... oh, ich kann nicht ... ich will meine Mama haben. Lassen Sie mich zufrieden. Ich brauche sie! Junge! Halten Sie ihn fest, Sergeant. Beruhige dich! Swisch, swisch. Es tut mir leid, Kind. Hat es weh getan? Aber ich mußte dich beruhigen. Ich weiß, wie dir zumute ist, Leo. Wir haben es auch gesehen und sind ebenso traurig wie du. Swisch. Nur ein paar Fragen noch, und dann bringen wir dich zu deinen Tanten. Zuerst: War der Fernsehapparat noch eingeschaltet? Ja. Und du hast wieder etwas gerochen? Ja. Wie in der Diele. Nur schlimmer. Viel schlimmer. Der Geruch? Der Geruch. Wie etwas Verfaultes. Wie ein ganzer Berg von ... ich weiß es nicht. Abfall. Müll. Berge davon. Und niemand hat gesprochen? Nein. Niemand. Nur der Fernsehapparat. Was wurde vorgeführt? Ich hab es Ihnen schon gesagt. Ich weiß, ich weiß. Sage es noch einmal. Für das Protokoll. Es waren ... wie ich gesagt habe ... nur diese Buchstaben. Große, dicke Buchstaben. Und welche? F ... ch ... F-U-T-T-E-R. F-U-T-T-E-R? Ja. Große, gebogene Buchstaben. 30
Hast du sie vorher schon gesehen? Ja. Ich habe es Ihnen ja gesagt. Sie sind schon lange in unserem Apparat erschienen. Nicht immer, aber oft genug. Und deine Eltern haben sich nie darüber gewundert? Nein. Sie glaubten, es gehörte zu einer Werbung, sagten sie. So etwas kennen Sie ja auch. Aber was du sonst gesehen hast? Ich weiß es nicht. Mama dachte, es wäre für Kinder. Was hast du noch gesehen? Swisch, swisch, swisch. Mäuler sozusagen. Große, breite, ganz weit offen. Sie gehörten nicht zu Menschen. Swisch. Wie sahen sie aus? Ich meine – kannst du dir nicht denken, wozu sie gehörten? Nein. Das heißt ... vielleicht zu Käfern ... vielleicht auch zu Würmern. Zu ganz großen. Sie waren fast nur Maul. Weit aufgerissen. Gut. Swisch. Du hast gesagt, die Buchstaben flammten auf, erloschen wieder ... dann sahst du die Mäuler und dann abermals die Buchstaben. Ja. Ungefähr so. Und jeden Abend? Ja. Zur selben Zeit? Nein. Zu verschiedenen Zeiten. Zwischen den Programmen? Nein. Mal so, mal so. War es immer derselbe Sendekanal? Nein. Lauter verschiedene. Ganz gleich, welchen Sender 31
wir hatten ... wir sahen sie immer wieder. Und ... Ich will hier weg! Kann ich nicht ... Mama! Wo ist sie? Ich brauche sie. Swisch. Klick. * Nur ein paar Fragen noch, Leo, und du hast es hinter dir. Du hast erklärt, deine Eltern hätten den Apparat niemals prüfen lassen. Nein. Sie dachten, es wäre ... Schon gut. Swisch. Du bist also ins Wohnzimmer gegangen. Dann hast du etwas von Ausrutschen gesagt. Ja. Auf diesem Zeug. Was für Zeug? Ich weiß es nicht. Schmieriges Zeug. Wie warmes Fett. Es stank furchtbar. Und dann hast du ... Swisch. Ich habe sie gefunden. Mama und Papa und die Lenottis. Sie waren ... Oooooh! Ich will nicht ... Und was war mit dem Apparat, Leo? Was soll damit gewesen sein? Über das Bild im Apparat hast du etwas gesagt. Ich ... ja ... ich ... Es waren die Buchstaben, nicht wahr, Leo? Ja, ja! Diese Buchstaben! Die dicken, krummen Buchstaben waren auf dem Bild. Ich habe sie gesehen. Und 32
... und ... Was? Die Buchstaben verschwanden ganz. Und ... und ... Was, Leo? Die anderen Buchstaben ... und sie bildeten das Wort ... SATT ... Swisch, swisch, swisch. Und die Bildröhre wurde schwarz ... All right, Leo. Der Sergeant wird dich nach Hau ... zu deinen Tanten bringen. Ich habe das Licht eingeschaltet. All right, Leo. Ich habe das Licht eingeschaltet. Mama! MAMA! Klick.
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Das Drei-Monde-Irrenhaus Das silbrig glänzende Stahlschiff flog durch die Schleier zerrissener Wolken in der Atmosphäre von Station Vier. Bremsraketen brüllten rotglühend wie ein Wirbelsturm gegen die Schwerkraft an. Die Luft wurde dicker, das glitzernde Schiff langsamer, bis es wie ein am Fallschirm hängender Behälter auf den festen Boden zuglitt. Das Sonnenlicht besprenkelte seine Flächen mit spiegelndem Licht; einen Augenblick lang schienen die blauen Wasser des Ozeans es verschlingen zu wollen. Dann beschrieb es einen weiten Bogen und hielt auf das rötlichgrüne Land zu. In der winzigen Kabine lagen drei Männer festgeschnallt und warteten auf den Aufprall bei der Landung. Ihre Augen waren geschlossen, ihre Hände blutlos. Dicke Muskelstränge spannten sich gegen den Zug der Schwerkraft. Das Schiff zitterte, als es sich mit einem Ruck auf die Erde setzte. Einen Augenblick später stand es still – nachdem es mit Erfolg eine Strecke von fast zweitausend Milliarden von Kilometern durch luftleere Nacht geflogen war. Vierhundert Meter entfernt lagen das Lagerhaus, das Dorf und das Wohnhaus. »Kritische Lage«, hieß es im offiziellen Bericht, der geheim sein sollte. Aber David Lindell kannte ihn, und alle anderen Wentner-Männer ebenso. Station Vier, das »DreiMonde-Irrenhaus« – ein von allen besprochenes Gerücht, das wahrscheinlich mit einigen Vorbehalten aufzunehmen war. 34
Aber irgend etwas steckte bestimmt dahinter. Auf allen anderen Stationen tat jeder zwei Jahre lang Dienst, ehe er abgelöst wurde – auf Station Vier nur sechs Monate. Das hatte etwas zu bedeuten, pflegten sie im Besprechungsraum auf der Erde zu sagen. Wentners WeltraumHandelsgesellschaft nahm keine überflüssigen Rücksichten. »Aber ich finde, es hat keinen Zweck, sich schon vorher Kopfschmerzen darüber zu machen«, sagte er. Er sagte es zu Martin, dem Kopiloten des Schiffes, als sie beide mühsam Lindells Gepäck über die breite Wiese zu den entfernten Gebäuden schleppten. »Das ist das beste«, versetzte Martin. »Mach dir nicht unnütz Kopfschmerzen.« »Das sage ich immer«, meinte Lindell. Nach einer Weile kamen sie an dem riesigen Lagerhaus vorbei. Die Schiebetüren standen halb offen, und Lindell sah den leeren Zementfußboden und das durch die Dachfenster fallende Sonnenlicht. Martin erklärte ihm, daß ein Frachtschiff vor ein paar Wochen alle Ladung abtransportiert habe. Lindell grunzte und verschob sein Gepäck, das ihn drückte. »Wo sind die Arbeiter?« fragte er. Martin wies mit dem Kopf auf das etwa dreihundert Meter entferntliegende Dorf. Aus den niedrigen, drei Seiten eines Rechtecks bildenden Häusern war kein Laut zu hören. Die Fenster blitzten im Sonnenlicht. »Ich glaube, sie schlafen«, mutmaßte Martin. »Wenn sie nichts zu tun haben, schlafen sie viel. Sie werden sie morgen sehen, wenn das Verladen anfängt.« »Haben sie ihre Familie bei sich?« fragte Lindell. »Nein.« 35
»Ich dachte, das gehört zur Politik der Gesellschaft.« »Nicht hier. Die Gnees pflegen kein großes Familienleben. Zu wenig Männer und alle ziemlich dumm.« »Großartig«, sagte Lindell. »Wunderbar!« Er zuckte mit den Achseln. »Nun – weshalb soll ich mir den Kopf darüber zerbrechen?!« Während sie die Treppe zur Veranda hinaufstiegen, fragte er Martin, wo Corrigan wäre. »Er ist mit dem Frachtschiff nach Hause geflogen«, sagte Martin. »Manchmal teilen sie es so ein. Wenn die Güter verladen sind, ist bis zum nächstenmal nichts hier zu tun.« »Oh«, sagte Lindell. »Wohin führt diese Tür?« Er stieß sie auf und blickte in einen großen Raum, der Wohnzimmer und Bibliothek zugleich war. »Richtig komfortabel!« sagte er. »Noch komfortabler«, sagte Martin, der Lindell über die Schulter blickte. »Da drüben stehen noch ein Filmprojektor und ein Tonbandgerät.« »Toll!« sagte Lindell. »Da kann ich mich mit mir selbst unterhalten.« Er verzog das Gesicht. »Wollen wir die Koffer hier absetzen? Sie reißen mir die Arme vom Leibe.« Sie gingen durch die Diele, und Lindell blickte im Vorbeigehen in die kleine Küche. Sie war bis zur halben Wandhöhe mit Fliesen belegt, sauber und ordentlich. »Kann diese Gnee-Frau kochen?« fragte er. »Nach allem, was ich gehört habe, werden Sie wie ein König essen«, sagte Martin. »Das freut mich. Sagen Sie mal, wissen Sie, weshalb der Laden hier ›Drei-Monde-Irrenhaus‹ genannt wird?« »Wer nennt ihn so?« 36
»Die Jungen auf der Erde.« »Die sind selbst verrückt. Es wird Ihnen hier gefallen.« »Aber weshalb dauert hier jede Schicht nur sechs Monate?« »Hier ist Ihr Schlafzimmer«, sagte Martin. * Als sie eintraten, stand sie mit dem Rücken zur Tür und machte das Bett. Ehe sie sich umdrehte, strich sie noch einmal über die Kissen. Lindells Hände zuckten. Aber ich habe schon Häßlicheres gesehen, munterte er sich auf. Sie trug einen schweren Morgenrock, der wie ein abgestumpfter Kegel vom Hals bis zum Fußboden fiel. Alles, was er von ihr sehen konnte, war ihr Kopf. Es war ein plattgedrückter Kopf, rosafarben und haarlos. Wie der gefleckte Bauch einer tragenden Hündin, dachte Lindell. An Stelle von Ohren hatte sie auf jeder Seite des flachen, kinnlosen Gesichts ein Loch. Ihre Nase war ein kurzer Stumpf mit nur einem Nasenloch. Ihre Lippen waren dick wie die von Affen und umrahmten einen nur kleinen, kreisrunden Mund. Sie kam ruhig durch das Zimmer auf ihn zu und legte eine feuchte, schwammige Hand in seine. »Hei!« sagte er. »Sie kann nichts hören«, sagte Martin. »Sie ist Telepathin.« »Richtig – das hatte ich vergessen.« Hallo, dachte er, und Hallo kam der Willkommensgruß zurück. Es ist schön, daß Sie hier sind. »Danke!« sagte er. Sie scheint ein vernünftiges Kind zu 37
sein, dachte er, komisch, aber gemütlich. Eine Frage drang in sein Gehirn. »Ja, sicher«, sagte er. Ja, fügte er in seinen Gedanken hinzu. »Was war das?« fragte Martin. »Sie hat gefragt, ob sie auspacken soll.« Lindell ließ sich auf das Bett fallen. »Ahhh!« sagte er. »Das ist schön!« Er drückte prüfend auf die Matratze. »Sagen Sie mal – woher wissen Sie eigentlich genau, daß sie eine ›sie‹ ist?« fragte er, als er mit Martin durch die Diele ging, während die Gnee-Frau auspackte. »Der Morgenrock oder Hausmantel. Männer tragen so etwas nicht.« »Das ist alles?« Martin grinste. »Noch ein paar andere Sachen, die für Sie aber absolut ohne Interesse sind.« Sie gingen ins Wohnzimmer und Lindell versuchte, ob er in den Sesseln bequem saß. Er lehnte sich zurück und strich mit den Händen zufrieden über die Armlehnen. »Kritisch oder nicht«, sagte er. »In bezug auf Komfort übertrifft diese Station alle anderen.« Er mußte plötzlich über ihre Augen nachdenken. Sie waren riesengroß und nahmen ein volles Drittel des Gesichts in Anspruch. Wie dicke gläserne Untertassen mit dunklen Ringen von Tassen, die Pupillen darstellten. Und sie waren sehr feucht. Er zuckte mit den Achseln und schob die Gedanken daran beiseite. Für mich ist es unwichtig, dachte er. »Was meinten Sie?« fragte er. Martin hatte etwas gesagt. »Ich sagte, seien Sie vorsichtig.« Martin hielt eine Gaspistole hoch. »Sie ist geladen!« warnte er. 38
»Wer braucht sie?« »Sie nicht. Sie gehört nur zur normalen Ausstattung.« Martin legte sie in das Schubfach und schob das Schubfach zurück. »Wo alle Ihre Bücher sind, wissen Sie«, sagte er. »Das Büro ist so eingerichtet wie auf allen anderen Stationen.« Lindell nickte. Martin blickte auf seine Uhr. »Also – ich muß mich auf die Socken machen! Lassen Sie mich schnell mal überlegen«, fuhr er fort, während beide zur Tür gingen, »ob ich Ihnen sonst noch irgend etwas erklären muß. Sie wissen doch schon, daß die Menschen hier von niemandem verletzt werden dürfen.« »Wer soll denn auf die Idee kommen, sie zu verletzen?« Beinahe hätten sie sie umgerannt, als sie aus der Tür traten. Sie sprang schnell einen Schritt zurück und starrte sie ängstlich an. »Keine Aufregung, Kindchen«, beruhigte Lindell. »Was ist denn los?« Essen? Der Gedanke schmeichelte sich direkt in sein Gehirn ein. Er verzog die Lippen und nickte. »Sie haben mir das Wort aus dem Kopf genommen.« Er sah sie an und dachte konzentriert: Ich komme zurück, wenn ich den Kopiloten zum Schiff gebracht habe. Bereite etwas Gutes vor. Sie nickte und stürzte in die Küche. »Wohin rennt sie so eilig?« fragte Martin, als sie zur Treppe gingen, und Lindell erklärte es ihm. »Das nenne ich Luxus-Bedienung«, sagte er leise lachend beim Hinuntergehen. »Diese Telepathie ist in Ordnung. Auf den anderen Stationen mußte ich entweder erst die Hälfte der Sprache lernen, um mir ein Schinkenbrot 39
zu bestellen, oder den Eingeborenen Englisch beibringen, wenn ich nicht verhungern wollte. Jedenfalls mußte ich für mein Essen richtiggehend schwitzen.« Er blickte zufrieden umher. »Es ist heiß.« Ihre schweren Stiefel zertraten das harte, hohe, blaue Gras, während sie auf das aufrechtstehende Schiff zugingen. Martin streckte seine Hand aus. »Nehmen Sie es leicht, Lindell. In sechs Monaten sehen wir uns wieder.« »Darauf können Sie sich verlassen. Geben Sie dem alten Wentner für mich einen Tritt in den Hosenboden.« »Das werde ich.« Er sah, wie der Kopilot kleiner zu werden schien, während er die Metalltreppe zur Luke hinaufstieg. Ein winziger Martin schritt ins Schiff und warf die Tür hinter sich zu. Lindell winkte dem kleinen Gesicht am Fenster zu, drehte sich dann um und rannte davon, um den Explosionen der Raketen zu entgehen. Er stand auf einem Hügel unter dem dichten, scharlachroten Blattwerk eines Baumes. Im Bauch des Schiffes hörte er eine Art Husten, gleich darauf Explosionen. Er beobachtete, daß das Schiff einen Augenblick lang sozusagen auf seinem Auspuff aus brüllenden Flammen stand, ehe es in den grünblauen Himmel hineinflog und versengte Pflanzen hinter sich zurückließ. Einen Augenblick später war es verschwunden. Langsam ging er zum Haus zurück, musterte anerkennend die Vielzahl bläulicher Blumen und Pflanzen auf der Wiese um ihn herum, über denen Insekten ihr Spiel trieben. Er zog sein Jackett aus und trug es beim Weitergehen in einer Hand. Seinem mageren Rücken tat die Sonne gut. »Jungs!« rief er in die wohlriechende Luft. »Ihr seid alle 40
verrückt.« * Die große brennende Sonne war fast untergegangen und färbte den Himmel blutrot. Bald würden die drei Monde aufgehen, von denen es hieß, sie trieben jeden Mann zum Wahnsinn, der Wert auf seinen Schatten legte. Lindell saß am Wohnzimmerfenster und blickte auf die Landschaft hinaus. Die Natur hatte sich in dieser entlegenen Ecke der Milchstraße selbst übertroffen. Er seufzte, reckte sich und dachte ans Abendbrot. Drink? Er unterbrach ein Gähnen und fuhr auf. Seine Finger preßte er dabei so fest zusammen, daß die Knöchel knackten. Sie stand neben ihm und hielt ihm ein Tablett mit einem Glas darauf hin. Er griff danach, als sein Herz sich nach dem ersten Schreck zu beruhigen anfing. »Ich würde anklopfen oder mich sonstwie bemerkbar machen«, schlug er vor. Die riesigen Augen waren jetzt zu Ellipsen verzogen. Sie starrte ihn an. »Schon gut«, sagte er nach einem Schluck von der warmen, scharfen Flüssigkeit. Er leckte sich die Lippen und nahm noch einen großen Schluck. »Verflucht gut!« sagte er. »Vielen Dank, Liebling.« Er blinzelte. Liebling? Von allen unwahrscheinlichen Namen im Universum ... Er sah sie an und mußte ein Lachen unterdrücken. Sie hatte sich nicht bewegt. Ihr Gesicht verzog sich zu etwas, das er für ein Lächeln hielt, aber ihr Mund war nicht zum Lächeln geschaffen. 41
»Wann essen wir?« fragte er und fühlte sich unter dem feststehenden Blick der riesigen, wäßrigen Augen unbehaglich. Sie drehte sich um und hastete zur Tür. Dort wandte sie sich zu ihm zurück. Alles schon fertig, empfing sein Gehirn die unhörbare Botschaft. Er grinste, trank das Glas aus und folgte ihr, als sie eilig die Diele entlang schlurfte. * Mit einem befriedigten Seufzer schob er den Teller zurück und lehnte sich im Sessel bequem nach hinten. »Das nenne ich gut!« sagte er. Wie einen bisher verborgenen Quell fühlte er ihre Freude in seinem Gehirn aufwallen. Liebling dankt dir. Sie hat sich den Namen tatsächlich schnell zu eigen gemacht, dachte er. Sie sah ihn mit noch größer aufgerissenen Augen an. Versuchte sie wieder zu lächeln, überlegte er. Ihm kam ihr Gesichtsausdruck wie alle anderen vor – wie die Grimassen eines Idioten. Ein bißchen nervös tat er einen Teelöffel Zucker in seinen Kaffee und rührte um. Dabei empfand er plötzlich abermals Unbehagen, und sie drehte sich mit einem Ruck um. So ist es besser, dachte er, und fühlte sich wieder wohl. »He, sage mal, Liebling«, fing er an. Hast du einen Mann? Die Gedanken, die er als Antwort empfing, waren wirr und unverständlich. Einen Ehemann? wiederholte er. Oh, ja. Im Arbeiterdorf? 42
Die haben keine Frauen, versetzte sie, und ihm war, als ob aus dieser Antwort Hochmut sprach. Er zuckte mit den Achseln und trank einen Schluck Kaffee. Stimmt, sagte er zu sich selbst, ein befriedigter Arbeiter würde die anderen zum Wahnsinn treiben. Im Bett saß er noch eine Weile und schrieb in sein Tagebuch. Zwischen den abgenutzten Deckeln standen die spärlichen Bemerkungen, die er über ein halbes Dutzend verschiedener Planeten gemacht hatte. Dies war ein siebenter. Meine Glückszahl, schrieb er mit blauer Tinte. Alles war still; nichts regte sich. Schlief sie? Seine Feder rutschte aus und machte drei dicke Kleckse. Er blickte auf und sah sie abermals mit dem Tablett. »Ja«, sagte er. Ja, vielen Dank, Liebling, aber kannst du dich nicht bemerkbar machen, wenn du ... Er schwieg, weil er sah, daß es hoffnungslos war. »Werde ich danach besser schlafen?« fragte er. Oh, ja, war die Antwort. Er nahm einen Schluck und blickte dabei auf die Seite mit den Klecksen. Es ist kein Verlust unschätzbarer Literatur, dachte er, riß die Seite heraus und zerknüllte sie. »Das schmeckt gut«, sagte er und wies mit dem Kopf auf das Glas. Er hob die Hand mit dem zerknüllten Papier. Wirf es weg, ja? Wegwerfen? fragte sie. »Richtig«, sagte er. »Und jetzt verschwinde. Was, zum Teufel, hast du im Schlafzimmer eines Mannes zu suchen?« Sie rannte hinaus, und er grinste, als sie die Tür leise hinter sich schloß. Er trank den Rest aus dem Glas, stellte es auf den Nachttisch und schaltete die Lampe aus. Mit einem Seufzer 43
ließ er sich auf das weiche Kissen zurückfallen. Was für ein Geschöpf, dachte er schläfrig. Gute Nacht. Er stützte sich auf einen Ellbogen und blinzelte in die Dunkelheit. Gute Nacht. »Oh«, sagte er, »dir auch gute Nacht.« Er fiel wieder zurück und gähnte mit weit aufgerissenem Munde. Er träumte, und aus diesem Traum wachte er wie schweißgebadet auf. * Nach dem Frühstück ging er mit ihren Abschiedsgrüßen im Gehirn zum Lagerhaus. Von weitem schon sah er die Gnee-Männer, die eine Linie bildeten und auf ihren Köpfen Bündel trugen. Sie marschierten ins Lagerhaus, legten ihre Last auf dem Betonboden ab, wo der Gnee-Vorarbeiter stand und ein Brett mit einem Notizblock in der Hand hielt. Als sie Lindell sahen, verbeugten alle Männer sich tief und nahmen ein unterwürfiges Aussehen an. Er stellte fest, daß ihre Köpfe platter als Lieblings waren, daß sie dunkler waren und kleinere Augen hatten. Ihr Körper war breit und mit dicken Muskeln bepackt. Dumm sehen sie aus, dachte er. Als er zu dem kontrollierenden Vorarbeiter kam, schickte er ihm einen Gedanken zu, der unbeantwortet blieb. Entweder waren sie nicht telepathisch, oder sie wollten es nicht zeigen. »Prüfen Sie alles nach?« fragte der Mann mit krächzender Stimme. »Okay«, sagte Lindell. Er stieß leicht an das Brett. 44
»Bringen Sie das nachher ins Büro, wenn der erste Schub drinnen ist.« »Was, haah?« sagte der Mann. Mensch, du bist eine Nummer, dachte Lindell. »Bringe das hier«, sagte er und schlug auf den Notizblock, »ins Büro!« Er zeigte abermals. »Zu mir bringen – zu mir. Wenn alle Waren hier sind.« Das schmutzige Gesicht des Mannes nahm einen aufgeregten Ausdruck an, und er nickte heftig. Lindell klopfte ihn auf die Schulter. Guter Junge, dachte er, ging ins Büro und knirschte dabei mit den Zähnen. Er schloß die Plexiglastür von innen und sah sich um. Es war dasselbe Büro, das er von allen anderen Weltraumstationen in Erinnerung hatte. Bis auf das Feldbett, das in einer Ecke stand. Jetzt fehlt nur noch, daß ich nachts hier draußen schlafen soll, dachte er. Er trat näher und erkannte auf dem flachen, schmutzigen Kissen den Abdruck eines Kopfes und fand ein hellbraunes Haar. Was, zum Teufel, soll das bedeuten, fragte er sich. Unter dem Feldbett lag ein Gürtel ohne Schnalle. In der Wand darüber waren tiefe Kratzer, als ob ein Verrückter oder Fiebernder versucht hätte, sich einen Weg nach draußen zu bahnen. Er starrte darauf hin. In diesem Laden spukt es, schloß er mit unsicherem Kopf schütteln. Dann wandte er sich achselzuckend ab, Unsinn, sich überflüssige Gedanken zu machen, dachte er. Ich muß eben sechs Monate hierbleiben, und in dieser Zeit soll mich keiner kaputtkriegen! Schnell setzte er sich an den Schreibtisch und zog das schwere Tagebuch der Station vor sich, klappte den Deckel auf und fing von Anfang an zu lesen. Die ersten Eintragungen waren trocken und nüchtern. 45
Zuerst hatte Jefferson Winters unterschrieben. Am Ende von sechs Monaten und zweiundfünfzig, engbeschriebenen Seiten stand auf der dreiundfünfzigsten reichverschnörkelt die Botschaft: Station Vier Lebewohl für immer und ewig! Jeff schien keinerlei Schwierigkeiten gehabt zu haben, sich dem Leben hier anzupassen. Lindell lehnte sich in dem knarrenden Schreibtischsessel zurück und zog das schwere Buch mit gelangweiltem Seufzer auf seinen Schoß. Zwei Monate nach Jeffs Ablösung wurden die Eintragungen unklarer und gingen durcheinander. Worte waren verwischt, hastig gekritzelt, unleserlich gemacht und neu geschrieben. Einige Irrtümer schienen viel später von einer anderen Ablösung korrigiert worden zu sein. So ging es weiter durch etwa vierhundert Seiten, eine traurige Reihe von Fehlern und gelegentlichen Verbesserungen. Lindell blätterte sie deprimiert und ohne jedes Interesse am Inhalt durch. Dann kam er zu Eintragungen, die ein gewisser Bill Corrigan unterzeichnet hatte. Lindell streckte sich gähnend, lehnte das Buch an die Schreibtischkante und las mit größerer Aufmerksamkeit. Sie waren dieselben wie alle vorhergehenden – ausgenommen die allerersten. Vernünftige Anfänge, dann allmählich größer werdendes Durcheinander, das zuletzt fast unlesbar wurde. Er fand ein paar himmelschreiend falsche Additionen, die er sorgfältig korrigierte. Corrigans Aufzeichnungen – stellte er fest – brachen plötzlich mitten in einem Wort ab, und für die letzten anderthalb Monate seines Aufenthalts hinterließ er nur leere Seiten. Er blätterte suchend im Buch herum und schüttelte schließlich langsam den Kopf. Ich muß zugeben, 46
dachte er, daß ich es nicht begreife. Während er nachher in der Dämmerung im Wohnzimmer saß und später beim Essen, bekam er das Gefühl, daß Lieblings Gedanken sozusagen ein selbständiges Leben führten und wie mikroskopisch kleine Insekten in den Windungen seines Gehirns umherkrabbelten. Manchmal bewegten sie sich kaum; zu anderen Zeiten rannten sie aufgeregt umher. Noch schlimmer war – wie er später beim Lesen im Bett feststellte – daß ihre Gedanken auch dann in ihm rumorten, wenn sie nicht im selben Zimmer wie er war. Es war verwirrend genug, sich von endlosen Gedanken durchströmt zu fühlen, während sie sich in seiner Nähe aufhielt; diese Telepathie war ein bißchen zuviel für seinen Geschmack. Na, na, nun laß das mal! versuchte er gutmütig, ihr Vernunft beizubringen, und das einzige, was er dadurch erreichte, war, daß ihre riesigen Augen ihn verständnislos anstarrten. »Ach, Unsinn«, murmelte er und warf sein Buch auf den Nachttisch. Vielleicht ist es dagegen am besten, jetzt zu schlafen. Wahrscheinlich haben diese telepathischen Mätzchen die anderen Männer weich gemacht. Aber mich nicht, gelobte er sich. Ich werde mir einfach keine Kopfschmerzen darum machen. Er schaltete die Lampe aus und legte sich zum Schlafen zurecht. »Schlafen«, murmelte er, nur noch halb bei Bewußtsein. Es war kein Schlaf, weil die Hälfte an seiner Tiefe fehlte. Ein dunkler Nebel trübte sein Bewußtsein, zeigte ihm Bilder, schob sie ineinander, vergrößerte oder verkleinerte sie, ließ neue hervorquellen. Liebling. Liebling. Das Echo eines Schreis in einem 47
langen, schwarzen Korridor. Der Morgenrock flatterte. Deutlich sah er ihre blassen Gesichtszüge. Nein, sagte er, bleib weg! Er schrie auf. Nein! Nein! NEIN! Mit weit offenen Augen sprang er aus dem Bett, starrte verwirrt im Schlafzimmer herum. Er suchte in der Dunkelheit nach dem Schalter und machte Licht. Hastig steckte er sich eine Zigarette zwischen die Lippen, lehnte sich an das Kopfende des Bettes und blies dicke Rauchwolken von sich. Er hob seine Hand und sah, daß sie zitterte. Er murmelte Worte ohne Sinn und Verstand vor sich hin. Dann zuckten seine Nasenflügel, und seine Lippen zogen sich voller Abscheu von den Zähnen zurück. Hier liegt doch irgend etwas Faulendes, zum Teufel, dachte er. Es war ein schwerer, süßlicher Geruch, der von Sekunde zu Sekunde schlimmer wurde. Er schlug seine Decken zurück. Am Fußende des Bettes fand er sie: bleifarbene Blumen, die zu einem großen Strauß arrangiert waren. Er sah sie sich einen Augenblick lang an, beugte sich dann vor, um sie auszunehmen und wegzuwerfen. Unwillkürlich sprang er zurück, als sich ein Dorn in seinen rechten Daumen bohrte. Er drückte dicke Blutstropfen heraus und saugte sie von der Wunde, während er zugleich gegen die Übelkeit kämpfte, die der Geruch verursachte. * Es ist sehr nett von dir, schickte er ihr als Gedankenbotschaft zu, aber nun bitte keine Blumen mehr. Sie starrte ihn an, und er wußte, daß sie ihn nicht begriff. »Verstehst du nicht?« fragte er. 48
Ihre Zuneigung lief wie Sirup über alle Schichten seines Gehirns. Er rührte nervös seinen Kaffee um, und die Gedanken-Übertragung wurde ruhiger, als ob sie beschlossen hätte, ihn nicht zu kränken. In der ganzen Küche herrschte Stille bis auf das Klirren der Bestecks auf den Tellern und das leise Knistern ihres Morgenrocks. Er goß seinen Kaffee hinunter und stand auf, um zu gehen. Zu Mittag werde ich unten essen ... Ich weiß. Ihr Gedanke legte sich beherrschend über seinen. Er grinste vor sich hin, als er durch die Diele ging. Ihre telepathische Botschaft war ihm fast wie mütterliches Schelten vorgekommen. Während er dann über die Wiese ging, erinnerte er sich an seinen Traum, und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Den ganzen Vormittag über mußte er immer wieder ärgerlich darüber nachdenken, daß die Gnee-Männer so entsetzlich dumm waren. Wenn sie ein Bündel fallen ließen, wurde es zum Problem für sie, ob und wie sie es wieder aufheben sollten. Wie stupide Kühe, dachte er und beobachtete durch das offene Fenster, wie sie mit stumpfen Augen und nach vorn gebeugten dicken Schultern ihres Weges zogen. Jetzt wußte er genau, daß sie nicht telepathisch waren. Mehrere Male hatte er versucht, ihnen auf gedanklichem Wege Befehl zu geben. Er hatte nie eine Reaktion festgestellt. Sie gehorchten nur möglichst kurzen Befehlen in Worten von höchstens zwei Silben und befolgten sie wie Schwachsinnige. In der Mitte des Vormittags blickte er von den Aufzeichnungen hoch, die Corrigan hinterlassen hatte, und merkte erschrocken, daß ihre Gedanken ihn sogar über die 49
Entfernung vom Wohnhaus bis zum Lagerhaus erreichten. Aber jetzt waren es Gedanken, die er nicht in Worte übersetzen konnte. Es waren Empfindungen, gestaltlos, doch stets gegenwärtig. Es kam ihm vor, als ob sie Versuche machte, Erkundigungsstrahlen ausschickte und probierte, ob sie ihn alle erreichten. In der ersten Zeit amüsierte er sich darüber, lachte leise vor sich hin und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Dann jedoch trafen diese Sendungen in quälend regelmäßigen Zeitabständen ein, und er rutschte nervös in seinem Sessel hin und her. Schließlich setzte er sich jedesmal mehrere Sekunden, ehe sie eintrafen, starr aufrecht und wartete. Am späten Vormittag wies er sie bewußt zurück, warf seinen Füllhalter auf den Schreibtisch und befahl ihr ärgerlich, ihn zufriedenzulassen, wenn er arbeitete. Ihre Gedanken brachen dann wie zerknirscht ab. Und kamen bald darauf zurück, stahlen sich unangreifbar in sein Gehirn. Seine Nerven fingen an, ein bißchen nachzugeben. Er verließ das Büro, lief im Lagerhaus ziellos umher, riß einzelne Bündel auf und prüfte den Inhalt. Die Gedanken folgten ihm auch hier. »Alles gut?« sagte der Vorarbeiter jedesmal, wenn Lindell an ihm vorbeikam, und machte ihn damit noch ärgerlicher. Einmal richtete er sich plötzlich hinter einem Bündel auf und sagte laut: »Geh weg hier!« Der Vormann sprang vor Schreck einen halben Meter hoch in die Luft, ließ seinen Bleistift und das Brett mit den Notizzetteln fallen und starrte Lindell furchtsam an. Lindell tat, als ob er nichts davon sähe. Später, als er wieder im Büro war, saß er nachdenklich 50
da, das offene Stationsbuch vor sich. Kein Wunder, daß die Gnee-Männer sich nicht mit Telepathie abgaben, dachte er. Sie wußten, was gut für sie war. Dann blickte er durch das Fenster auf die dahintrottende Linie von Männern. Er dachte an das, was Martin von den Frauen gesagt hatte. Eine Bezeichnung dafür schoß ihm durch den Kopf – Matriarchat! Das würde erklären, weshalb die anderen Männer durchgedreht hatten. Denn wenn die Frauen einmal die Macht besaßen, konnte es bei der ihnen innewohnenden Herrschsucht dazu gekommen sein, daß sie keinen Unterschied mehr zwischen ihren eigenen und den Männern von der Erde machten. Ärgerlich wand er sich bei der Idee, mit den Trotteln hier auf eine Stufe gestellt zu werden. Unvermittelt stand er auf. Ich habe keinen Appetit, dachte er, nicht ein bißchen. Aber ich werde jetzt zum Haus zurückgehen, ihr befehlen, mein Mittagessen zu machen, und gleichzeitig erklären, daß ich keinen Appetit habe. Sie soll sich daran gewöhnen, von mir beherrscht zu werden. Keine glotzäugige Gnee-Frau soll mich kleinkriegen – zum Donnerwetter noch mal! Dann blinzelte er und drehte sich schnell um, weil er erkannte, daß er auf die wilden Kratzer in der Wand starrte. Und auf den schnallenlosen Gürtel, der immer noch unter dem Feldbett lag. * Wieder der Traum. Er riß wie mit scharfen Krallen an seinem Gehirn. 51
Schweiß bedeckte ihn. Stöhnend warf er sich im Bett hin und her, war plötzlich wach und starrte in die Dunkelheit. Er glaubte, am Fußende des Bettes etwas zu sehen, schloß die Augen, schüttelte den Kopf und blickte abermals dorthin. Das Zimmer war leer. Er fühlte, wie Gedanken, die sein Gehirn überschwemmt hatten, sich wie das Meer bei Ebbe zurückzogen. Er ballte wütend die Fäuste. Sie ist bei mir gewesen, während ich schlief, dachte er. Verflucht noch mal! Sie ist hiergewesen! Er stieß die Decken beiseite und kroch nervös zum Fußende des Bettes. Sehen konnte er sie nicht, aber der widerliche Geruch stieg in Wellen vom Fußboden empor in seine Nasenlöcher. Würgend ließ er sich aufs Bett zurückfallen. Sein Magen zog sich zusammen. Weshalb? murmelte er immer wieder undeutlich. Gerechter Himmel – weshalb? * Ärgerlich warf er die Blumen aus dem Zimmer. Dabei fielen ihre bittenden Gedanken über ihn her wie Regentropfen. * »Ich habe nein gesagt, nicht wahr?« brüllte er sie an. Dann setzte er sich an den Tisch und nahm sich zusammen, so gut er konnte. Ich habe noch eine lange Zeit hier vor mir, sagte er sich, und die kann ich nur mit Ruhe überstehen. Also immer mit der Ruhe! 52
Jetzt glaubte er zu wissen, weshalb jeder Stationsleiter hier nur sechs Monate blieb. Das war mehr als genug! Aber er würde nicht nachgeben, befahl er sich selbst. Da sie nie weich werden würde, mußte er selber auch hart bleiben. Sie ist zu dumm, um weich werden zu können, dachte er mit Absicht und hoffte, sie würde es verstehen. Sie ließ ihre Schultern hängen, als ob sie niedergeschlagen wäre. Während des Frühstücks ging sie wie ein eingeschüchterter Geist um ihn herum, hielt ihr Gesicht von ihm abgewandt und ihre Gedanken von ihm fern. Fast hätte sie ihm leid getan. Wahrscheinlich hatte sie nicht einmal schuld, dachte, sondern folgte nur einem angeborenen Drang aller Gnee-Frauen, Männer zu beherrschen. Dann erkannte er, daß ihre Gedanken wieder in sein Gehirn drangen – sanfte und rührselige Gedanken. Er versuchte, sie sich fernzuhalten, sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen, als sie sich in seine Apathie drängten. Den ganzen Tag über arbeitete er schwer, bezahlte die Löhne für die Gnee-Männer in Gewürzen und Getreide an den Vorarbeiter, der sie dann an seine Leute verteilte. Er fragte sich, ob von diesen Löhnen Frauen etwas bekommen mochten. »Ich nehme meine Stimme auf Tonband auf«, diktierte er später an diesem Abend. Ich will mich selbst sprechen hören, damit ich meine Stimme nicht vergesse. Eine traurige Sache! Also: Ich bin hier auf Station Vier, erlebe eine herrliche Zeit und wünschte, ihr wäret an meiner Stelle hier. Das heißt, ganz so schlimm ist es nicht – verstehen Sie mich nicht falsch. Aber ich glaube, ich weiß jetzt, was Corrigan und die anderen armen Teufel vor ihm kaputt gemacht hat. Es 53
war Liebling und ihr menschenfresserischer Verstand. Aber das sage ich auch: bei mir wird sie es nicht schaffen! Darauf können Sie wetten! Liebling wird mich nicht ... Nein! Ich habe dich nicht gerufen! Verschwinde aus meinem Kopf willst du?! Allein! Sorgfältig verschloß er die Tür seines Zimmers, als er zu Bett ging. Im Schlaf stöhnte er, weil derselbe Alpdruck ihn heimsuchte, seine Glieder zucken und ihn sich im Bett hin und her werfen ließ. Gegen Morgen wurde er mühsam richtig munter, stolperte zur Tür und untersuchte sie. Mit ungeschickten Fingern prüfte er das Schloß. Schließlich begriff sein immer noch benommener Verstand, daß die Tür richtig wie am Abend zuvor verschlossen war; er taumelte im Zickzack zu seinem Bett zurück, ließ sich hineinfallen und sank in einen betäubungsähnlichen Schlaf. Als er morgens aufwachte, lagen am Fußende des Bettes wieder Blumen von üppigem Purpurrot, die nach Verwesung rochen, und die Tür war fest verschlossen. * Er konnte sie nicht danach fragen, weil er die Küche in Eile und voller Ekel verlassen mußte, als sie ihn Liebster nannte. Keine Blumen mehr! Ich verspreche es dir! folgten ihm ihre Gedanken. Er schloß sich im Wohnzimmer ein, setzte sich an den Schreibtisch und fühlte sich krank. Nimm dich zusammen! befahl er sich selbst, ballte die Hände und biß die Zähne zusammen. Essen? 54
Sie stand vor der Tür – das wußte er. Er schloß die Augen. Geh weg und laß mich zufrieden, befahlen seine Gedanken ihr. Es tut mir sehr leid, Liebster, sagte sie. »Hör auf, mich Liebster zu nennen!« brüllte er und schlug mit der Faust auf die Schreibtischplatte. Als er sich im Sessel drehte, blieb seine Gürtelschnalle am Schreibtisch-Schubfach hängen und zog es halb heraus. Plötzlich starrte er auf die glänzende Gaspistole. Unwillkürlich griff er danach und berührte den glatten Lauf. Er schob das Schubfach mit einer krampfhaften Bewegung wieder hinein. Nicht das! schwor er sich. Plötzlich fühlte er sich allein und frei und sah sich um. Er stand auf und blickte aus dem Fenster. Draußen sah er sie mit einem Korb am Arm irgendwohin gehen. Sie wird Gemüse besorgen, dachte er. Aber weshalb war sie so plötzlich gegangen? Natürlich. Die Pistole. Sie mußte seine gewalttätigen Gedanken empfangen haben. Er seufzte und beruhigte sich ein bißchen, da sein Gehirn nun frei von fremden Gedanken war. Ich habe noch genug Trümpfe in der Hand, dachte er. Er beschloß, in ihr Zimmer zu gehen und zu versuchen, das drehbare Wandbrett zu finden, das es ihr möglich machte, mit den Blumen heimlich in sein Zimmer zu kommen. Er lief durch die Diele und stieß die Tür zu ihrem spärlich möblierten, kleinen Zimmer auf. Sofort drang ihm der Geruch eines stinkenden Haufens von purpurfarbenen Blumen in einer Zimmerecke in die Nase. Er hielt sich eine Hand über Mund und Nase, während er angewidert auf die Blumen starrte. 55
Was sollten sie nur bedeuten, fragte er sich. Wollte sie damit seine Zuneigung gewinnen? Seine Kehle zog sich zusammen. Oder war es noch mehr? Er schnitt eine Grimasse bei diesem Gedanken und mußte an den ersten Abend hier denken, als er sie Liebling nannte. Wie war er nur daraufgekommen, ausgerechnet diesen Namen zu wählen. Auf der Couch fand er einen Haufen von allerhand Kleinigkeiten, Knöpfe, zerrissene Schnürsenkel, das Stück zerknüllten Papiers, das sie auf sein Geheiß hatte wegwerfen sollen. Und eine Gürtelschnalle, in die die Initialen W. C. eingeprägt waren. Bewegliche Wandbretter gab es nicht. Er saß in der Küche und starrte in eine unberührte Tasse voll Kaffee. Es gab keinen Weg außer der Tür, in sein Zimmer zu gelangen. W. C. – William Corrigan. Die Zeit verging, und plötzlich erkannte er, daß sie wieder im Haus war. Er hatte kein Geräusch gehört; es war wie die Rückkehr eines Geistes. Jedenfalls wußte er es. Eine Wolke von Gefühlen zog vor ihr her und schien den Raum zu durchsuchen wie ein aufgeregter junger Hund. Gedanken wirbelten umher. Bist du gesund? Bist du nicht mehr wütend? Liebling ist zurück – alles hastig auf ihn eindringend. Sie kam so schnell in den Raum gefegt, daß er zusammenzuckte und die Kaffeetasse umwarf. Die heiße Flüssigkeit spritzte ihm über Hose und Hemd, als er aufsprang und dabei auch den Stuhl umkippte. Sie setzte den Korb ab, nahm ein Handtuch und rupfte die Kaffeeflecken trocken. Noch nie war sie ihm körperlich so nahe gekommen. Abgesehen von dem Händeschütteln bei seiner Ankunft hatte sie ihn nie berührt. 56
Sie verbreitete ein Aroma, das ihm das Atemholen schwermachte. Und während der ganzen Zeit streichelten ihre Gedanken zärtlich sein Gehirn, wie ihre Hände seinen Körper zu streicheln schienen. Ja ... Ja ... ich bin ja bei dir. David, Liebster. Fast entsetzt starrte er auf ihre schwammige, rosafarbene Haut, ihre riesigen Augen, ihren winzigen Mund. Im Büro machte er an diesem Vormittag im Tagebuch drei grobe Fehler, riß die Seite heraus und schleuderte sie zusammengeknüllt mit einem Wutschrei durch den Raum. * Geh ihr aus dem Weg! Es hat keinen Sinn, ihr Vorwürfe zu machen. Wenn er sein Gehirn völlig entspannte, würden ihre Gedanken vielleicht hindurchfließen, ohne Halt zu finden. Womöglich nahmen sie einen Teil seines Willens mit sich, aber darauf mußte er es ankommen lassen. Und wenn er schwer arbeitete und seinen Kopf mit langweiligen Zahlenreihen vollstopfte, wurde sie dadurch entfernt gehalten, und seine Hände brauchten nicht mehr so aufgeregt zu zittern. Vielleicht könnte ich im Büro schlafen, überlegte er. Dann fand er Corrigans Notiz. Es war ein Zettel, der im Stations-Tagebuch lag, und den er bisher übersehen hatte. Er fand ihn jetzt nur, weil er Seite für Seite umblätterte und jedesmal die Daten mit lauter Stimme nannte, um sein Gehirn zu beschäftigen. Gott helfe mir! stand in schwarzen, wirr durcheinanderlaufenden Buchstaben auf dem Zettel. Liebling kommt durch die Wände! 57
Lindell starrte auf den Zettel. Ich habe es selbst gesehen, bestätigten die Worte. Ich schnappe über! Immerzu ziehen und zerren diese gemeinen Gedanken an mir. Und nun kann ich mich nicht einmal vor ihrem Körper in Sicherheit bringen. Ich habe hier draußen geschlafen, und irgendwie hat sie es geschafft, auch hier hereinzukommen. Und ich ... Lindell las es noch einmal, und seine Angst wurde größer. Durch die Wände! Die Worte marterten ihn. War das möglich? Corrigan hatte sie schon »Liebling« genannt. Von Anfang an war es den Worten nach dasselbe Verhältnis gewesen. »Liebling«, murmelte er, und plötzlich stürzten ihre Gedanken wie ein vom Himmel herabstoßender Aasgeier auf ihn ein. Er schlug mit den Armen um sich und schrie laut: »Laß mich zufrieden!« Und als ihre Gedanken sich diesmal wirklich zurückzogen, hatte er das Gefühl, es geschah weniger aus Schüchternheit als mit der Geduld, die ein Mensch sich leisten kann, der sich seiner Kraft bewußt ist. Er sank in seinen Sessel zurück, plötzlich von dem Kampf gegen Unsichtbares erschöpft. Während er den Zettel in seiner rechten Hand zerknüllte, mußte er an die Kratzer in der Wand hinter ihm denken. Und in seiner Phantasie sah er Corrigan sich auf dem Feldbett hin und her werfen und mit einem Entsetzensschrei hochfahren, als sie vor ihm stand. Aber dann wurde das Bild plötzlich dunkel. Wie war es weitergegangen? Mit zitternder Hand rieb er sich übers Gesicht. Schnappe nicht über! sagte er zu sich selbst. Aber es war mehr eine ängstliche Bitte als ein Befehl. Wellen wüster 58
Vorahnungen überfluteten ihn. Sie kommt durch die Wände. * An diesem Abend schüttete er das Getränk, das sie ihm gebracht hatte, in den Ausguß im Badezimmer. Er verschloß die Tür, drückte sich im dunklen Zimmer in eine Ecke, sah sich angstvoll wartend um. Dabei keuchte er krampfhaft. Der Thermostat senkte die Temperatur. Die Fußbodenbretter wurden eisig kalt, und seine Zähne fingen an zu klappern. Ich gehe nicht ins Bett, nahm er sich vor. Er wußte nicht, weshalb ihm das Bett jetzt Furcht einflößte. Er zwang sich wenigstens, zu glauben, daß er es nicht wüßte, während er es doch wußte und nur nicht zugeben wollte. Auch sich selbst nicht – keine Sekunde lang. Aber nach Stunden sinnlosen Wartens mußte er sich recken, weil ihm die Glieder steif geworden waren, und taumelte doch ins Bett. Er kroch unter die Decken und versuchte zitternd, wach zu bleiben. Wenn ich schlafe, kommt sie, dachte er, ich darf nicht einschlafen. Als er morgens aufwachte, lagen wieder Blumen auf dem Fußboden. Und das war nur ein Tag unter einer Menge anderer aus einer Reihe von Monaten. * Man kann sich an Schrecken gewöhnen, dachte er. Wenn er nicht plötzlich eintritt, sondern zur Selbstverständlichkeit geworden ist, zu einer zusammenhängenden Kette betäubender Ereignisse, wird er weniger beißend und 59
scharf. Wenn lauter Schrecken wie Skalpelle die empfindlichen Nervenknoten verletzen, verlieren sie zuletzt jedes Gefühl. Aber wenn es kein Schrecken mehr war, dann war es etwas Schlimmeres. Er kämpfte mit verzweifelter Willenskraft, brüllte sie an, und sein zerquälter Geist wurde durch ihre Kapitulationen gemartert, die in Wirklichkeit Siege waren. Jedesmal kam sie zurück, wenn er sie weggejagt hatte. Wie eine verscheuchte Katze, die schmeichlerisch an ihrem Herrn entlang streicht und ihn mit zärtlichen Gedanken erfüllt. Mit Liebesgedanken – es hatte keinen Zweck, daß er es nicht zugab. Und eine Gegenströmung ließ neue Schrecken erwarten, die das schon wankende Gebäude seiner Willenskraft zum Einsturz bringen würden. Es fehlte nur noch ein neuer Stoß. Die gestaltlose Drohung hing über ihm. Er wartete auf den Schlag, der kommen mußte, stemmte sich dagegen an, war jede Sekunde darauf vorbereitet, besonders nachts. Warten, warten. Und manchmal, wenn er dachte, er wüßte, worauf er wartete, ließ dieses Eingeständnis ihn schaudern, die Wände zerkratzen, Sachen zerschlagen und schließlich davonrennen, bis die Dunkelheit ihn verschlang. * Wenn er sie nur vergessen könnte, dachte er. Ja – wenn man sie für eine Weile vergessen könnte, nur für eine Weile, würde alles besser sein. Das murmelte er vor sich hin, während er damit 60
beschäftigt war, im Vorzimmer den Filmprojektor aufzustellen. Sie bat von der Küche her: Kann ich zusehen? »Nein!« Alle seine Antworten, gesprochen oder gedacht, waren jetzt wie die scharfen Zurückweisungen eines zänkischen alten Mannes. Wenn nur erst die sechs Monate vorüber wären; das war das Problem. Die Monate gingen nicht schnell genug zu Ende. Die Zeit war wie sie – man konnte weder vernünftig mit ihr reden noch sie einschüchtern. In einem Wandregal lagen viele Filmrollen. Er griff nach irgendeiner und wußte nicht, was sie zeigte. Sein Verstand war schon so abgestumpft, daß er gar nicht merkte, ob er einer Suggestion folgte oder nicht. Er legte die Rolle in den Projektor und schaltete das Licht aus. Als der zitternde, milchige Lichtstrahl erschien und Bilder auf die Leinwand warf, ließ er sich mit müdem Seufzen in einen Sessel fallen. Ein magerer Mann mit dunklem Bart trat auf, mit gekreuzten Armen und weißen Zähnen. Er trat näher an den Apparat heran. Ein Sonnenstrahl machte das Bild eine Sekunde lang verschwommen. Die Leinwand wurde schwarz. Ein Titel leuchtete auf: Ein Bild von mir. Wieder der Mann mit hohen Backenknochen und hellen Augen. Stumm lachend stand er auf dem Film. Er wies zur Seite, und die Kamera schwenkte herum. Lindell richtete sich mit einem Ruck auf. Es war die Station. Offenbar war es Herbst. Als die schwenkende Kamera ein paar Bäume erfaßte, sah Lindell, daß sie von Haufen welker Blätter umgeben waren. 61
Abermals wurde die Leinwand schwarz, und ein anderer Titel erschien darauf. Jeff im Büro. Der Mann blickte in die Kamera und lächelte idiotisch dabei. Sein makellos geschnittener Bart stach scharf von der weißen Haut ab. Abblenden – Aufblenden. Der Mann tanzte in dem leeren Lagerhaus umher, die Hände in der Luft, und sein schwarzes Haar wehte hinterher. Ein neuer Titel erschien auf dem Schirm, und Lindell stockte der Atem. Titel: Liebling. Dort war ihr Gesicht. In Schwarzweiß wirkte es besonders abstoßend. Sie stand an seinem Schlafzimmerfenster, ihr Gesicht eine Maske des Entzückens. Jetzt wußte er, daß es Entzücken bedeutete. Früher einmal hätte er gesagt, sie sähe wie eine Geisteskranke aus mit dem verzerrten kleinen Mund und den grotesken, starrenden Augen. Sie drehte sich, und ihr Morgenrock wirbelte herum. Er sah ihre dicken Fesseln, und sein Magen krümmte sich. Sie näherte sich der Kamera; hauchdünne Lider glitten über ihre Augen. Seine Hände begannen heftig zu zittern. Es war sein Traum, und er bereitete ihm Übelkeit. Bis in alle Einzelheiten war es sein Traum. Aber es war kein richtiger, seinem Gehirn entsprungener Traum gewesen. Ein schluchzender Laut entrang sich seiner Kehle. Sie fing an, ihren Morgenrock auszuziehen. Ja, so war es! schrie es in seinem panisch entsetzten Gehirn. Mit unsicherer Hand suchte er nach dem Schalter des Projektors. Nein. 62
Ein kaltes Kommando aus der Dunkelheit. Sieh mich an, befahl sie weiter. Er saß wie vor Schrecken erstarrt und sah, wie der Morgenrock vom Hals über die runden Schultern glitt. Sie wand sich sinnlich. Der Morgenrock fiel raschelnd auf den Fußboden. Er schrie auf. Er schlug mit einem Arm in den Projektor, der auf den Fußboden krachte und erlosch. Sofort war es stockdunkel im Raum. Er suchte nach der Tür, fand sie, stürzte in die Diele. Aber im Halbdunkel stand sie dort, und ihr Morgenrock hing nur noch auf einer Schulter. Er blieb stehen. »Verschwinde hier!« brüllte er. Nein. Er machte eine krampfhafte Bewegung auf sie zu und streckte die Hände nach ihr aus. Der Anblick ihrer rosafarbenen feuchten Haut ließ ihn zurückweichen. Ja? drängte ihr Gehirn. Ihm war, als ob er es von einer sich langsam hebenden Stimme gesprochen hörte. »Paß auf!« rief er und griff nach der Tür zu seinem Zimmer. »Du mußt gehen, verstehst du? Geh zu deinem Mann!« In äußerstem Schrecken prallte er zurück. Ich bin gerade jetzt bei ihm, war ihre Antwort. Der Gedanke lähmte ihn. Er starrte mit weit offenem Munde und heftig schlagendem Herzen und sah, wie der Morgenrock weiter über die Schultern und Arme rutschte. Dann fuhr er mit einem Schrei herum, sprang in sein Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich. Seine Finger zitterten, als er am Schloß herumfummelte. Er wimmerte vor Angst und Übelkeit und wußte, daß alles, was er tat, zwecklos war, weil er sie gegen ihren Willen doch nicht ausschließen konnte. 63
Ihm war, als ob Affen in seinem Gehirn schnatterten. Sie lagen in einem Kreis auf dem Rücken und traten mit den Füßen gegen seine Schädeldecke. Stöhnend wälzte er sich auf die Seite. Ich werde wahnsinnig, dachte er. Wie Corrigan, wie alle außer dem ersten, der damit anfing, sie Liebling zu nennen. Plötzlich richtete er sich entsetzt keuchend auf und starrte zum Fußende des Bettes. Sie kommt durch die Wände! – schrie es in seinem Gehirn. Zu sehen war nichts. Seine Finger krallten sich in die Betten. Schweiß tropfte ihm von den Augenbrauen und lief die Nase entlang. Er legte sich hin. Fuhr wieder auf! Er wimmerte wie ein verängstigtes Kind. Eine schwarze Wolke fiel über ihn. Sie. Sie. Er stöhnte. »Nein!« Er jammerte. Schlafen! Schlafen! Das ist die Zeit! Er wußte es, wußte es genau ... Nein! Er versuchte sich aufzurichten, doch gelang es ihm nicht. Schlafen. Schwarze Nacht zog über ihn dahin. Schlafen. Er fiel auf das Kopfkissen zurück, stützte sich schwach auf einen Ellenbogen. »Nein.« Seine Lungen waren wie vertrocknet. »Nein.« Er kämpfte. Es war zuviel. Er stieß einen gurgelnden Schrei aus. Sie schob seinen Willen wie etwas Nebensächliches beiseite. Jetzt hatte sie alle ihre Kraft eingesetzt, und er war schlaff und erledigt. Mit glasigen Augen fiel er auf das Kissen zurück, stöhnte schwach, und seine Augen schlossen sich – gingen auf – schlossen sich – gingen auf – schlossen sich – gingen auf ... Abermals der Traum. Wahnsinn – kein Traum. Als er wach wurde, lagen keine Blumen im Zimmer. Die Zeit des Werbens war vorüber. Mit leerem Blick starrte er 64
auf den Eindruck, den ein anderer Körper neben seinem im Bett gemacht hatte. Er war noch warm und feucht. * Er lachte laut. Er schrieb Flüche in sein Tagebuch, in großen, schwarzen Buchstaben, und hielt den Bleistift dabei wie ein Messer. Er schrieb sie auch in das Stationsbuch und zerriß Belegzettel, wenn sie nicht die richtige Farbe hatten. Seine Eintragungen waren wirre Linien, die wie Weinranken hin und her schwankten. Manchmal war es ihm gleichgültig, meist merkte er es gar nicht. Er lief in dem vollen Lagerhaus hinter verschlossenen Türen umher, mit roten Augen und vor sich hinmurmelnd. Er kletterte auf die Stapel von Bündeln und starrte durch das Oberlicht in den leeren Himmel. Er wusch sich nicht mehr und verlor fünfzehn Pfund an Gewicht. Sein Gesicht wurde schwarz von Bartstoppeln, die fast schon einen richtigen Bart bildeten. Sie wollte es so haben. Sie wollte nicht, daß er sich wusch oder rasierte. Sie nannte ihn Jeff. Du kannst nichts dagegen tun, sagte er sich. Wie du auch kämpfst – sobald du müde wirst, kommt sie und nimmt deine Seele. Und deshalb flüsterte er im Lagerhaus, so daß niemand ihn hören konnte: »Etwas bleibt mir noch übrig.« Deshalb schlich er spät nachts ins Wohnzimmer und steckte die Gaspistole in die Tasche. »Tu nie den Gnees etwas zuleide!« Nun – das war falsch. Hier hieß es: töten oder getötet werden. Deshalb nehme ich die Pistole mit ins Bett. Deshalb streichele ich sie, während ich zur Decke 65
hinauf starre. Ja, so ist es! Das ist der Felsen, auf den ich mich stützen will. Und er entwickelte Pläne und wälzte sie in seinem Gehirn. Tage. Tage. Tage. Er flüsterte: »Bring sie um!« Er nickte und lächelte vor sich hin und tätschelte das kühle Metall. »Du bist mein Freund«, sagte er, »mein einziger Freund. Sie muß sterben – das wissen wir beide.« Er machte eine Menge neuer Pläne, und alle kamen auf dasselbe hinaus. In seiner Phantasie tötete er sie eine Million Male – in geheimen Kammern seines Gehirns, die er entdeckt und geöffnet hatte; in denen er sich verkriechen und ungestört bleiben konnte, während er seine Pläne schmiedete. Tiere! Er lief umher und betrachtete das Dorf der Arbeiter. Tiere! Ich denke nicht daran, so zu werden wie ihr. Ich denke nicht daran, ich denke nicht daran, ich denke nicht daran ... Er taumelte aus seinem Schreibtischsessel hoch, mit weit geöffneten Augen. Speichel rann ihm von den Lippen. Die Pistole hielt er fest in seiner rechten Hand. Er riß die Bürotür auf und stolperte durch die Gassen zwischen den Warenstapeln. Die Pistole hielt er schußbereit. Er warf den Riegel zurück und riß eine der schweren Schiebetüren auf. Er stürzte ins Sonnenlicht hinaus und fing an zu rennen. Er kam sich wie von Irrwischen verfolgt vor und rannte schneller. Er fiel hin, weil seine Beine schwach waren. Die Pistole flog davon. Er kroch ihr nach und wischte den Schmutz ab. Jetzt werden wir sehen! versprach er den Affen in seinem Kopf. Verwirrt stand er auf und hinkte auf das Haus zu. 66
Er hörte ein Brausen in der Luft; Lichtstrahlen zuckten über seine Wangen und Augen. Er blickte nach oben, blinzelte und sah das Frachtschiff. Sechs Monate. Er ließ die Pistole fallen, setzte sich daneben und zupfte stumpfsinnig an dem blauen Gras. Benommen starrte er auf das Schiff, das langsam sank und schließlich aufsetzte. Die Luke öffnete sich, und Männer kletterten heraus. »Ihr seid zu spät gekommen«, sagte er. Seine Stimme war zuerst fast normal, bis sie in Kichern und Schluchzen überging. Mit den Fäusten schlug er in der Luft umher. »Du bist bald wieder in Ordnung«, erklärten sie ihm auf dem Rückweg zur Erde und spritzten immer wieder Beruhigungsmittel, damit er vergaß, was er durchgemacht hatte. Aber er vergaß es nie ...
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Einsames Venus-Mädchen Einsames Venus-Mädchen, hübsch, umgänglich, liebevoll und heiter, sucht gleich veranlagten Erdenmann. Bitte schreiben an: Loolie, Greener Abode, Venus. Den 5. Juli 1971 Liebe Loolie! Ich weiß nicht, worauf ich mich hier einlasse, aber ich bin so müde, daß es mir egal ist. Haben Sie jemals eine ganze Nacht lang astrophysikalische Berechnungen gemacht? Nun – ich habe es eben hinter mir und bin völlig durcheinander. Deshalb nehme ich Ihre Anzeige ernst. Und es kommt, zum Teufel, ja auch nicht darauf an, ob ich mich zur Entspannung noch eine halbe Stunde mit einer Tasse Kaffee hinsetze und meine Schreibmaschine bearbeite, ehe ich ins Bett kippe. Es ist mir auch egal, ob Sie auf der Venus oder dem Pluto oder in einer kleinen Grashütte in Kehalick Kahooey, Hawaii, wohnen. Ich hoffe nur, daß Sie nicht mit irgend etwas handeln. Was steckt nun wirklich dahinter, altes Mädchen? Was sollen die Redensarten bedeuten? Ich werde es prüfen lassen. Was heißt hübsch? Soweit es mich betrifft, ist die Antwort: Nein. Aber, heiter bin ich auch. Als ich gestern mitten in der Nacht, wach wurde, war ich heiter von oben bis unten. Am 68
heitersten, wenn Willy, mein Zimmerkamerad, und ich ein paar Krüge von diesem Gebräu geschlürft haben, das aus Gerste gemacht wird. Gibt es Bier auf der Venus? Venus, Venus. So heißt jetzt ein Musical hier unten. Venus war die Göttin der Liebe, glaube ich. Sehen Sie wie Doris Day aus? Ich glaube nicht. Wenn Sie zufällig so aussehen wie Ava Gardner, schicken Sie das nächste Raketenschiff bei mir vorbei, und ich packe sofort meine Lumpen. Wer ich bin? Der abstoßende junge Bengel, der so frech schreibt? Der Name ist Todd Baker. Ich studiere hier in Fort Indiana Astronomie. Das College ist von einem reichen, alten Kerl gestiftet worden, der nicht mehr ganz normal war. Ich hab' ordentlich einen Schreck gekriegt, als ich dachte, wie weit Sie von hier entfernt wären, wenn Sie wirklich auf der Venus wohnten. Wenn Sie tatsächlich in jener nebelhaften Geisterwelt zu Hause wären, würden Sie nie und nimmer aus meinem verrückten Durcheinander schlau werden. Nur der Ordnung wegen – zur Übung – will ich mal annehmen, daß Sie mir nichts vorgemacht haben. Dann beträgt Ihre mittlere Entfernung von der Sonne 67,2 Millionen Meilen – Verzeihung! Diese ewigen Zahlen und Rechnereien können einen verrückt machen, aber dazu bringt einen das Studium allmählich. Dann ist es schon besser, einsam auf der Venus zu leben! Ich bin seit drei Jahren hier am Fort-College und habe mich in dieser Zeit auf eine unbedeutende Laufbahn vorbereitet, indem ich die hellen Punkte in der 69
Weltenraum-Dunkelheit studierte, die irgend jemand dort angebracht hat. Hätte ich nicht ebensogut zum Beispiel Klempner werden können? Nein – ich muß die Temperatur der Sterne messen und ihnen eine Diagnose stellen – hmmm, der Patient wird alt. Er hat höchstens noch fünfundneunzig Milliarden Jahre zu leben. Okay. Kein ablenkendes Gerede, kein wildes Geplapper. Dies ist also die Erde. Sie hat einen Durchmesser von siebentausendneunhundert Meilen. Fragen Sie mich nicht nach dem Grund – er ist ein Geheimnis. Ich bin ein Erdenmann von sechsundzwanzig. Das heißt, ich habe einen Prozeß physischen und geistigen Wachstums von 26 mal 365 Tagen hinter mir. Die Erde braucht nämlich 365 Tage, um sich um die Sonne zu drehen. Ein Tag ist die Umdrehung besagten SonnenHandballs um seine eigne Achse. Auf der Erde, auf diesem Kontinent, liegt ein Land, das die Vereinigten Staaten von Amerika heißt. Darin liegt Indiana. In Indiana liegt Fort. In Fort liegt das FortCollege. Im College bin ich. In mir gibt es Idiotie genug, die mich dazu bringt, an ein Mädchen zu schreiben, die sagt, sie wäre von der Venus. Nun erzählen Sie mir etwas von der Venus. Wir wissen zu wenig davon. Nennen Sie mir ein paar Zahlen und schicken Sie mir ein paar Muster von Steinen, Pflanzen, Erde und so weiter. Wie steht es damit? Jetzt sind Sie verlegen, wie? Auch wenn Sie nur ein Spaßvogel von Mutter Erde sind, schreiben Sie mir eine Zeile, wenn Ihnen danach zumute ist. Und jetzt in die Klappe. Angenehme Ruhe für uns alle. 70
Ich werde glänzend schlafen. Letzteres muß ich zurücknehmen – Willy schnarcht diese Nacht. Grüße von diesem sich drehenden munteren Ort! Todd Baker 1729 »J« Street, Fort, Indiana * Oh, lieber Toddbaker! Es war so nett, von Ihnen zu hören. Ich bin Ihnen unendlich dankbar. Ich wünschte nur, ich hätte ein neueres Wörterbuch, wissen Sie? Ich habe Ihre Nachricht bekommen – und ziemlich schnell. So glücklich bin ich darüber, daß Sie an Loolie geschrieben haben! Sie sind der einzige, der mir geschrieben hat, und ich wäre unglücklich gewesen, wenn ich überhaupt keine Antwort erhalten hätte. Die Anzeige hat mir sehr viel Arbeit gemacht, aber sie war gut, nicht wahr? Eine Menge aus Ihrem Brief habe ich nicht verstanden. Daran ist das alte Wörterbuch schuld. Was ist ein Handball? Oder Kehalick Kahooey, Hawaii? Ein Planet? Ich lebe wirklich auf der Venus, aber ich liebe die Erde und am meisten ihren Toddbaker. Jedoch hatte ich nicht die Absicht, dort bei Ihnen zu bleiben nach ... warten Sie, ich muß erst nach dem Wort suchen ... der Heirat. Nein, ich möchte, daß Sie zu mir auf meinen Planeten kommen. Aber das kann man auch später entscheiden. Ich will Ihnen nicht jetzt schon Kopfschmerzen machen. Ich kann viele Kinder bekommen. Immer zehn auf 71
einmal. Sie werden stolz sein. Und hübsch bin ich wirklich. Wir werden so glücklich sein! Ich bin keine Göttin der Liebe, aber ich liebe Sie! Ich freue mich darüber, daß Sie einen Zimmerkameraden besitzen. Natürlich kann er nicht hier auf der ... bei uns bleiben. Wenn Willy aber ein anderes einsames VenusMädchen haben möchte, kann ich ihm dazu verhelfen. Ich kenne viele. Alle sind hübsch – wie ich. Ja. O Lieber, ich sehe, daß Sie heiter sind. Wie reizend werden wir zusammen leben! Wie lieb! Viele Babys. Hundert. Mein ... ich habe es vergessen. Fort kenne ich nicht. Ich habe einfach eine Nadel irgendwohin gestoßen und dort die Anzeige aufgeben lassen. Ich bin die erste, die das versucht hat. Wenn es gut ausgeht – und es ist ja gut ausgegangen – will ich es den anderen erzählen. Ich habe zweihundertsieben Schwestern. Alle nett und hübsch. Sie werden Ihnen gefallen. Ich lege eine Extraseite mit Notizen bei, mit denen Sie hoffentlich etwas anfangen können. In einer Schachtel schicke ich außerdem einige Muster von Steinen, Erde und so weiter mit. Ich bin L –. Das bedeutet – glaube ich – nach Ihrer Rechnung 8,5. Ich bin also sehr jung, hoffe jedoch, daß Sie nichts dagegen haben, so ein ... so ein Kind zu heiraten. Ich kann schon Babys zur Welt bringen. Mindestens zweihundert. Und nun will ich diese Nachricht von Ihrer Loolie schließen. Ich will bald kommen und Sie holen. Sie werden es hier bestimmt schöner finden als auf Ihrer eisigkalten Erde, auf der es so an Wärme und Luft mangelt. Hier ist es das ganze Jahr über warm. Unser Jahr hat 224,7 Tage. Nun, lieber Toddbaker, leben Sie für diesmal wohl! Ich 72
komme bald. Wie glücklich werden wir sein. Ja. Ich schicke Ihnen viele Liebe und einen Kuß. LOOLIE * An die Anzeigen-Abteilung der Saturday Review, 25 West 45th Street, New York 19, New York. Sehr geehrte Herren! Ich möchte mich nach einer Anzeige erkundigen, die in Ihrer Ausgabe vom 3. Juli unter der Überschrift EINSAMES VENUS-MÄDCHEN erschienen ist. Ich habe an diese Person geschrieben, die behauptet, auf dem Planeten Venus zu wohnen. Natürlich habe ich das zuerst für einen Witz gehalten. Zwei Tage nach Absendung meines Briefes habe ich Antwort erhalten. Mit dem Brief zusammen kam eine Seite mit Statistiken und eine Schachtel mit Mineralien und Mustern von Pflanzen, die nach Angabe dieses sogenannten VENUSMÄDCHENS von ihrem Planeten stammen. Ein Professor aus meinem College untersucht diese Proben gerade und prüft die Statistiken. Zu einer Entscheidung ist er noch nicht gekommen. Ich aber bin im Grunde genommen jetzt schon sicher, daß diese Mineralien und Pflanzen auf der Erde unbekannt sind. Sie stammen tatsächlich von einem anderen Planeten. Davon bin ich ziemlich fest überzeugt. Ich möchte gern wissen, wie diese Person – oder was sie sonst ist – es fertigbekommen hat, Verbindungen zu Ihnen anzuknüpfen und solch eine Anzeige in Ihrer Zeitschrift 73
unterzubringen. Nach Ihren Richtlinien müßten Sie diese Anzeige eigentlich als wenig schicklich empfinden. Dieses VENUS-MÄDCHEN Loolie spricht davon, mich zu heiraten, hier herunterzukommen und mich zu holen. Antworten Sie bitte umgehend. Es ist äußerst dringend. Mit vielem Dank im voraus bin ich Ihr sehr ergebener Todd Baker. * Den 10. Juli 1971 Sehr geehrter Mr. Baker! Wir bestätigen den Empfang Ihres Briefes vom 10. der uns indessen völlig unverständlich ist. In unserer Ausgabe vom 3. Juli hat keine derartige Anzeige gestanden. Unserer Meinung nach sind Sie das Opfer eines Streiches. Inzwischen haben wir uns mit unserem Vertreter in Fort in Verbindung gesetzt, der die Angelegenheit untersuchen wird. Falls wir Ihnen sonstwie von Nutzen sein könnten, verfügen Sie bitte über uns. Ihr ergebenster J. Linton Freedhoffer für den Herausgeber. Mr. Todd Baker, 1729 »J« Street, Fort, Indiana. *
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Professor Red: Ich habe hereingesehen, weil ich mit Ihnen sprechen wollte, doch Sie waren nicht hier. Gibt es etwas Neues? Ich bin sehr in Sorge. Wenn Sie feststellen, daß diese Muster so echt sind, wie ich glaube, bin ich erledigt. Mich schaudert jedesmal vor Angst, wenn ich daran denke, über welche phantastischen Kräfte diese Loolie verfügen muß. Wie sie diese Anzeige in der Saturday Review placiert hat, werde ich mir nie erklären können. Ich hoffe immer noch, daß nur ein Witz dahintersteckt. Wenn nicht ... Geben Sie mir bitte Nachricht, sobald Sie zu einem Resultat gelangt sind. Todd Baker. * Toddy, mein Freund! Professor Red hat angerufen. Sagt, er hätte herausgefunden, daß die Muster – was sie auch sein mögen – völlig echt sind. Sie kommen wirklich von irgendwoher außerhalb der Erde. Wen will er auf den Arm nehmen? Jedenfalls sagt der alte Junge, du sollst heute abend zu einem großen Palaver in seine Wohnung kommen. Spielst du jetzt Professors Liebling? Eine Schande! Ab zum Abendbrot. Dein Zimmergenosse, der ewige Student Willy. P.S. Ein Brief für dich ist gekommen. * 75
Den 11. Juli 1971 O lieber Toddbaker! Denke nur, welches Glück ich gehabt habe! Ich kann nun schon morgen kommen. O Glück! Packe deine Lumpen, Liebster. Ich habe ein Spezialschiff nur für mich bekommen und hole dich jetzt. Ich freue mich so! Bitte – mach schnell. Mit aller Liebe! LOOLIE * LOOLIE! Nein! Das kannst du nicht! Ich bin ein Erdenmann. Ich möchte einer bleiben! Komme nicht. Ich gehe nirgendwohin mit dir! Bitte! Komm nicht! T. Baker P.S. Ich habe ein Gewehr! Paß auf! * Aus der Fort Daily Tribune vom 13. Juli 1971: FLIEGENDE KUGEL ÜBER DEM COLLEGE CAMPUS GESICHTET Mehr als dreißig Studenten und Bürger von Fort erklären, gestern abend eine fliegende Kugel gesehen zu haben. Den Berichten zufolge schwebte die Kugel 76
mindestens zehn Minuten lang über dem College Campus. Dann flog sie nach den Randgebieten der Stadt, wo sie verschwand. * Liebes Tagebuch! So – jetzt bin ich zurück. Ich kann es nicht begreifen. Ich bin betrogen worden. Es kommt einem so komisch vor. Ich hatte mir die Mühe gemacht, eine Anzeige in dieser Erdenzeitung aufzugeben. Und dann hat dieser Toddbaker sich die Mühe gemacht, an mich zu schreiben. Und ich dachte, ich hätte einen Ehemann gefunden. Er schien so interessiert und so nett zu sein. Aber, du lieber Himmel! Als ich ihm erklärte, daß wir miteinander verbunden werden sollten, protestierte er, als ob dies etwas Furchtbares wäre. Was soll das heißen? Ich dachte, er wäre einfach schüchtern, wie alle diese erschöpften Männer hier. Deshalb stieg ich in das Schiff, das ich mir nur mit großer Mühe hatte besorgen können, und war in ungefähr sieben Eks unten. Ich blieb dort etwas weniger als ein halbes Ek und schwebte während dieser Zeit über einem grünen Platz mit riesigen Gebäuden. Mit Hilfe des Proto-Suchers machte ich die Wellen von Toddbaker ausfindig und flog nach dieser »J« Street. Ich landete hinter dem Haus, in dem er wohnt. Ich stieg aus und ging zu seiner Wohnung. Wo er war stellte ich mit meinem tragbaren Proto fest. Die Wellen kamen aus einem quadratischen Loch hoch oben in der Mauer. 77
Ich schaltete meinen Luftgürtel ein, schwebte nach oben und zwängte mich mit Mühe und Not durch das enge Loch. Da war er. So ein Schreck! Er hielt etwas Langes, Glänzendes in der Hand und zeigte damit auf mich. Aber dann ließ er es auf den Fußboden fallen und sagte irgend etwas. Ich weiß nicht, wie diese Erdenmenschen sich untereinander verständigen. Ihre Sprache ist ein eigenartiges Gurgeln tief drinnen. Er starrte mich an, und das Loch für seine Stimme wurde groß. Dann zog es sich auseinander, und er zeigte seine Zähne. Dann rollten die Seh-Organe im oberen Teil des Kopfes zurück und verschwanden. Ich glaube, meine Luftwolke, die ich gerade abließ, war daran schuld. Er streckte seine Arme nach mir aus und tat einen Schritt vorwärts. Aber dann fiel er mit einem quiekenden Geräusch auf den Fußboden. Er sagte: MAMA. Ich ging hinüber und untersuchte ihn. Du meine Güte! Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit uns. Ganz bleich und zerbrechlich war er. Es ist zweifelhaft, ob diesem ganzen Geschlecht ein langes Leben beschieden ist. Nicht mit dieser körperlichen Verfassung. So klein! Also ließ ich ihn da liegen. Armes Ding! Und ich war so glücklich. Nun bin ich wieder einsam und allein. Ich will einen Mann haben. Und was nun? Ich weiß es nicht. *
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den 20. Juli 1971 Sehr geehrte Mrs. Baker! Ich glaube, Sie würden besser herkommen und Todd nach Hause holen. Er befindet sich in einem traurigen Zustand. Er schwänzt alle seine Vorlesungen und ißt nichts. Er sitzt nur im Zimmer umher und starrt vor sich hin. Die ganze Woche lang hat er nicht länger als ein paar Stunden geschlafen, und wenn er einschläft, spricht er dauernd vor sich hin und ruft nach »Louie«. Wir kennen hier keine Louie. Das Beiliegende habe ich heute nachmittag im Briefkasten gefunden. Jedenfalls holen Sie Todd am besten. In Eile Willy Haskell. (Anlage) Sehr geehrter Herr! Wir bedauern sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir Ihre Anzeige nicht in unserem Blatt aufnehmen können. Wir reichen sie Ihnen deshalb als Anlage zurück. (Anlage) LOOLIE! Es tut mir so leid! Ich wußte nicht, daß du so groß und so schön bist. Bitte, bitte – komm zurück! Ich warte auf dich. In Liebe, Todd. * Einsames Venus-Mädchen, hübsch, umgänglich, liebevoll und heiter, sucht gleich veranlagten Marsmann. LOOLIE, GREENER ABODE, VENUS 79
Das wahnsinnige Haus Er setzt sich an seinen Schreibtisch, nimmt einen langen, gelben Bleistift und fängt an, auf einem Zettel zu schreiben. Die Spitze bricht ab. Seine Mundwinkel ziehen sich nach unten. In der harten Maske seines Gesichts werden die Pupillen klein. Ruhig, den Mund zu einem häßlichen, lippenlosen Schlitz zusammengepreßt, greift er nach dem Bleistiftanspitzer. Er kehrt die Abfälle in den Papierkorb und wirft den Anspitzer ins Schubfach. Noch einmal fängt er an zu schreiben. Dabei bricht die Spitze abermals ab und rollt über das Papier. Plötzlich wird sein Gesicht bleifarben. Wilde Wut verkrampft die Muskeln seines Körpers. Er brüllt den Bleistift an, verflucht ihn. Er bricht ihn in zwei Hälften, wirft sie in den Papierkorb und ruft triumphierend hinterher: »So – wie gefällt es dir da?« Angespannt sitzt er auf dem Sessel, die Augen weit aufgerissen, mit zitternden Lippen. Er schüttelt sich vor rasender Wut. Der Bleistift liegt zerbrochen im Papierkorb. Er war aus Holz, Graphit, Metall und Gummi – alles leblose Dinge, die sich nicht um die Wut kümmern, die sie verursacht haben. Und doch ... Er steht am Fenster und blickt auf die Straße hinaus. Seine Verkrampftheit löst sich. Er hört nicht das Rascheln im Papierkorb, das gleich darauf verstummt. Bald ist sein Körper wieder normal. Er setzt sich hin und nimmt diesmal einen Füllhalter. 80
* Er setzt sich vor seine Schreibmaschine. Er legt einen Bogen Papier ein und fängt an zu tippen. Seine Finger sind groß. Er trifft zwei Tasten auf einmal. Die beiden Typenhebel werden zusammengequetscht, stehen in der Luft, schweben über dem schwarzen Farbband. Ärgerlich faßt er zu und drückt sie zurück. Sie trennen sich und fallen in ihre Ruhestellung zurück. Er fängt abermals an zu tippen. Er trifft eine falsche Taste. Der Anfang eines Fluchs bleibt unbeendet. Er nimmt den runden Radiergummi und radiert den unerwünschten Buchstaben aus. Er läßt den Radiergummi fallen und fängt von neuem an zu schreiben. Das Papier hat sich beim Radieren auf der Walze etwas weiter gedreht, so daß der Abstand zwischen den beiden Zeilen nicht derselbe ist. Er ballt eine Hand zur Faust, übersieht den Fehler dann aber. Die Maschine bleibt stehen. Seine Schultern zucken. Laut fluchend schlägt er mit der Faust auf einen Hebel. Der Wagen macht einen Sprung; die Glocke klingelt. Er schiebt den Wagen nach rechts, und er kracht an die Arretierung. Er tippt schneller. Drei Typenhebel klemmen zusammen. Er beißt die Zähne zusammen und winselt in hilfloser Wut. Er schlägt auf die Typenhebel, aber sie wollen sich nicht trennen. Er zerrt sie mit zitternden Fingern auseinander, und sie fallen zurück. Er sieht, daß er sich die Finger dabei schmutzig gemacht hat, und flucht laut. Ihm ist, als ob er sich an der dummen Maschine rächen müßte. Jetzt schlägt er brutal auf die Tasten; seine Finger 81
arbeiten wie die steifen Klauen eines Krans. Abermals ein Irrtum – er radiert wild. Er tippt noch schneller. Vier Typen kleben zusammen. Er schreit auf. Er schlägt mit der Faust auf die Maschine, packt das Papier und reißt es in Fetzen heraus. Er knüllt die Fetzen in der Faust zusammen und wirft den Papierball durch das Zimmer. Er rückt den Wagen in die Mitte und setzt den Deckel auf die Maschine. Er springt auf und blickt nach unten. »Du Dummkopf!« ruft er mit bitterer, empörter Stimme. »Du alberner, idiotischer, eselhafter Dummkopf!« Er spricht weiter und treibt sich selbst zur Raserei. »Du taugst nichts! Du taugst nicht ein verdammtes bißchen! Ich werde dich in Stücke schlagen, schmelzen, umbringen! Du dumme, schwachsinnige, lausige, verdammte Maschine!« Er bebt und zittert, während er so schreit. Und irgendwo in einem versteckten Winkel seines Gehirns denkt er, ob er wohl im Begriff sei, sich mit seinem Zorn selbst umzubringen. Er wendet sich ab und geht davon. Er ist zu aufgeregt, um zu bemerken, daß der Deckel von der Maschine abrutscht, hört auch nicht das metallische Surren, bei dem man denken könnte, die Typen rasseln in ihren Lagern. * Er rasiert sich. Das Messer will nicht schneiden. Oder es ist zu scharf und schneidet zuviel. Beide Male kommt ein unterdrückter Fluch über seine 82
Lippen. Er wirft das Rasiermesser auf den Fußboden und stößt es mit dem Fuß an die Wand. Er putzt sich die Zähne, zieht den feinen Seidenfaden zwischen den einzelnen Zähnen hindurch. Der Faden zerreißt, und ein winziges Teilchen bleibt in der Lücke zwischen zwei Zähnen stecken. Er versucht es mit einem anderen Faden, der jedoch auch zerreißt. Er schreit. Er schreit den Mann im Spiegel an und wirft den Faden mit einem Ruck weg. Der Faden fällt an die Wand, bleibt dort hängen und pendelt hin und her. Er hat noch einen Faden aus dem Behälter gerissen, will es noch einmal in Ruhe versuchen, und unterdrückt seine Wut. Wenn der Faden vernünftig ist, wird er sich zwischen die Zähne schieben lassen und das steckengebliebene Stück herausholen. Es gelingt, und der Mann ist besänftigt. Die Wut läßt nach. Aber noch ist der Ärger da, wenn auch im verborgenen. Energie geht nie verloren – ein grundlegendes Gesetz. * Er ißt. Seine Frau legt ein Steak vor ihn. Er greift zu Messer und Gabel und fängt an zu schneiden. Das Fleisch ist zäh, die Klinge stumpf. In seinen Wangen flammen rote Flecke auf. Seine Augen ziehen sich zusammen. Er drückt, doch es gelingt der Klinge nicht, ganz durch das Fleisch zu dringen. Er reißt die Augen auf. Unterdrückte Wut schüttelt ihn. Er sägt im Fleisch herum, als ob er ihm eine letzte Gelegenheit geben wollte nachzugeben. 83
Das Fleisch gibt nicht nach. Er heult. »Verflucht noch mal!« Seine Zähne pressen sich zusammen. Das Messer fliegt quer durch das Zimmer. Die Frau kommt, und von der Aufregung ziehen sich Furchen über ihre Stirn. Ihr Mann ist außer sich. Er verbreitet eine Wolke des Zorns um sich, die über den Möbeln zu hängen und von den Wänden zu tröpfeln scheint. So geht es Tage und Nächte hindurch. Ein Meer wilden, unkontrollierten Hasses flutet durch alle Räume des Hauses und füllt jede leere Stelle mit pulsierendem Leben. * Er lag auf dem Rücken und starrte zur Decke hinauf, die von Flecken übersät war. Der letzte Tag, sagte er sich. Seit er wach geworden war, hatte er an diese Worte immer wieder denken müssen. Im Badezimmer hörte er das Wasser laufen. Dann wurde das Medizinschränkchen geöffnet und wieder geschlossen. Er hörte das Geräusch, das ihre Slipper auf dem Fliesenfußboden machten. Sally, dachte er, verlaß mich nicht! »Ich will ruhiger werden, wenn du bleibst«, versprach er flüsternd. Aber er wußte, daß er nicht ruhiger werden konnte. Es war zu schwer. Leichter war, in Wut zu geraten, zu schreien, toben und schimpfen. Er legte sich auf die Seite und starrte in die Diele hinaus zur Badezimmertür. Unter der Tür sah er den Lichtstreifen. Sally ist jetzt darin, dachte er. Sally, meine Frau, die ich 84
vor vielen Jahren, als ich jung und voller Hoffnungen war, geheiratet habe. Plötzlich schloß er die Augen und ballte die Hände zu Fäusten. Sie überkam ihn wieder, die Übelkeit, die ihn jedesmal gewalttätig machte. Die Übelkeit aus Verzweiflung, aus enttäuschtem Ehrgeiz. Sie verdarb alles und machte es bitter. Sie nahm ihm den Appetit, raubte ihm den Schlaf und zerstörte die Liebe. »Vielleicht – wenn wir Kinder hätten«, murmelte er und wußte, ehe er es ausgesprochen hatte, daß es auch keine Lösung war. Kinder. Wie glücklich sie sein würden, wenn sie beobachteten, wie ihr elender Vater von Tag zu Tag tiefer sank. Er wiederholte mit zusammengebissenen Zähnen die Worte, die er so oft schlaflose Nächte hindurch vor sich hin gemurmelt hatte: »Ich bin vierzig Jahre alt. Ich lehre Englisch am FortCollege. Ich habe einmal gehofft, Schriftsteller zu werden. Ich dachte, in dieser Stellung würde ich gut schreiben können. Einen Teil des Tages würde ich Unterricht geben und in der übrigen Zeit schreiben. Ich lernte Sally in der Schule kennen und heiratete sie. Ich dachte, alles würde gut werden. Ich glaubte, der Erfolg wäre unvermeidlich. Vor achtzehn Jahren.« Achtzehn Jahre. Wie, dachte er, hast du nur das Dahingehen von fast zwei Jahrzehnten gemerkt? Die Zeit schien ihm ein gestaltloser Ballen vergeblicher Mühe zu sein, von in Qual verbrachten Nächten. Immer war der Groll gewachsen. Während der Tage, an denen er sah, daß Sally von seinem kleinen Gehalt 85
Lebensmittel und Kleidung kaufte und Miete bezahlte. Wenn er sie dabei beobachtete, daß sie neue Vorhänge oder neue Sesselbezüge kaufte, weil ihm dadurch der Augenblick wieder ferner gerückt worden war, da er seine Zeit einzig und allein dem Schreiben widmen konnte. Jeden Cent, den sie ausgab, fühlte er wie einen Schlag gegen sein Streben. Er zwang sich dazu, so zu denken. Er zwang sich dazu, zu glauben, daß er nur Zeit brauchte, um etwas Gutes schreiben zu können. Einmal jedoch hatte ein wütender Student ihn angeschrien: »Sie sind nur ein drittklassiges Talent, das sich hinter einem Schreibtisch versteckt!« Er erinnerte sich dessen gut. O Himmel! Wie er sich jenes Augenblicks erinnerte. Sich der kalten Übelkeit erinnerte, die ihn erschütterte, als ihm die Bedeutung dieser Worte klarwurde. Wie seine Stimme gezittert hatte. Er hatte den Studenten zum Schluß des Semesters durchfallen lassen, obwohl er gute Zeugnisse hatte. Es hatte eine große Aufregung deshalb gegeben. Der Vater des Studenten war ins College gekommen, und alle waren zu Dr. Ramsay, dem Leiter der englischen Abteilung, gegangen. Auch dessen erinnerte er sich – die Szene konnte alle anderen Erinnerungen auslöschen. Er selbst saß an einer Seite des Konferenztisches, dem erzürnten Vater und seinem Sohn gegenüber. Dr. Ramsay streichelte seinen Bart, bis er dachte, er würde ihm etwas an den Kopf werfen. »Nun, wir wollen sehen, ob wir das nicht in Ordnung bringen können«, hatte Dr. Ramsay gesagt. Sie hatten das Zeugnisbuch durchgesehen und festgestellt, daß der Student im Recht war. Dr. Ramsay 86
hatte ihn sehr überrascht angesehen. »Ich sehe nicht recht, weshalb ...«, sagte er, ließ seine Sirup-Stimme verstummen, musterte ihn eindringlich prüfend und wartete auf eine Erklärung. Und die Erklärung war hoffnungslos, ein wirres, sinnloses Durcheinander. Er hatte von unverzeihlichem Benehmen und moralischem Versagen gesprochen, ohne wirkliche Beweise dafür anführen zu können. Und Dr. Ramsay erklärte ihm in sehr deutlichen Ausdrücken – während sein dicker Hals dunkelrot anlief –, daß die Moral im Fort-College nicht zu den Fächern gehörte, die er zu zensieren hätte. Da war noch mehr, doch er hatte es vergessen. Er hatte große Anstrengungen gemacht, es zu vergessen. Aber das konnte er nicht vergessen, daß es Jahre dauern würde, bis er es zu einer Professur brachte. Ramsay würde ihm alle möglichen Hindernisse in den Weg legen. Und sein Gehalt würde weiter so unzulänglich bleiben, Rechnungen würden sich häufen, und er würde nie zum Schreiben kommen. Er kehrte in die Gegenwart zurück und stellte fest, daß er die Bettwäsche krampfhaft gepackt hielt. Voller Haß starrte er auf die Badezimmertür. Los! – dachte er wie zu seiner eignen Rechtfertigung – fahre zu deiner wundervollen Mutter. Sieh zu, ob ich mir etwas daraus mache. Weshalb eine Trennung auf Probe? Laß es doch gleich für immer sein. Gib mir Frieden! Vielleicht kann ich dann etwas schreiben. Vielleicht kann ich dann etwas schreiben! Die Phrase machte ihn krank. Sie hatte keinerlei Bedeutung mehr. Wie ein Wort, das so oft wiederholt wird, bis es abgedroschenes Geschwätz geworden ist, keinen Sinn mehr hat, sich so albern anhört wie eine Werbefilm87
Phrase. Der Held sagt in dramatischem Tonfall: »Nun, beim Himmel, kann ich vielleicht etwas schreiben!« Sinnlos. Und doch überlegte er einen Augenblick lang, ob es wahr wäre. War er imstande, sie zu vergessen, wenn sie jetzt wegging, und wirklich etwas zu schaffen? Seine Stellung aufgeben? Irgendwohin gehen, sich in ein billiges möbliertes Zimmer verkriechen und schreiben? Du hast nur noch 123.89 Dollar auf der Bank, erinnerte sein Verstand ihn. Er machte sich selbst vor, daß nur diese Tatsache ihn davon abhielt. Aber weit hinten in seinem Bewußtsein überlegte er, ob er überhaupt irgendwo schreiben könnte. Oft stieg diese Frage in ihm auf, wenn er am wenigsten damit gerechnet hätte. Du hast jeden Vormittag vier Stunden für dich – diese Feststellung stand oft wie ein Gespenst vor ihm. Du hast Zeit, viele tausend Worte zu schreiben. Weshalb tust du es nicht? Und die Antwort ging jedesmal in einem wilden Durcheinander von Weils und Warums und endlosen Gründen unter, an die er sich klammerte wie ein Ertrinkender an einen Strohhalm. * Die Badezimmertür öffnete sich, und sie kam in ihrem guten roten Kleid heraus. Anscheinend ohne jeden Grund fiel ihm jetzt plötzlich ein, daß sie seit mehr als drei Jahren dieselben Kleider trug und in der ganzen Zeit nicht ein neues bekommen hatte. Diese Erkenntnis ärgerte ihn noch mehr. Er schloß die Augen und hoffte, daß sie ihn nicht ansähe. Ich hasse sie, 88
dachte er. Ich hasse sie, weil sie mein Leben zerstört hat. Er hörte das Rascheln ihres Rockes, als sie sich an den Toilettentisch setzte und ein Schubfach herauszog. Er hielt die Augen weiter geschlossen und lauschte auf das leichte Geräusch der Jalousien, die vom Winde bewegt wurden. Er konnte den Duft ihres Parfüms riechen, der jetzt kaum merkbar durch den Raum zog. Er versuchte sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn das Haus den ganzen Tag leerstand. Wie er vom College nach Hause kommen und Sally nicht finden würde. Es kam ihm unmöglich vor, und das gerade reizte ihn auch. Sie hat mich ganz und gar in ihre Gewalt bekommen. Sie hat mich so bearbeitet, daß ich völlig abhängig von ihr bin, selbst in den unwichtigsten Dingen, und unter der Täuschung leide, ich könnte nie ohne sie fertig werden. Er drehte sich plötzlich auf dem Bett um und sah sie an. »So – du gehst also wirklich«, sagte er mit kalter Stimme. Sie wandte sich zu ihm um. Es lag keine Spur von Ärger in ihrem Gesicht. Sie sah nur erschöpft aus. »Ja«, sagte sie. »Ich gehe.« Eine Erlösung, wenn sie weg ist! Die Worte drängten sich ihm auf die Lippen, aber er unterdrückte sie. »Ich nehme an, du hast deine Gründe dazu«, sagte er. Ihre Schultern zogen sich einen Augenblick lang zusammen – eine Bewegung, die ihm vorkam, als ob sie belustigt wäre. »Ich habe nicht die Absicht, mit dir zu streiten«, sagte er. »Dein Leben gehört dir.« »Danke«, murmelte sie. Sie wartet darauf, daß ich mich entschuldige, dachte er. Daß er ihr erklärte, er haßte sie gar nicht – wie er gesagt 89
hatte. Daß er nicht sie, sondern seine verdorbenen und zerbrochenen Hoffnungen geschlagen hätte. »Und wie lange soll diese Trennung auf Probe dauern?« fragte er mit mürrischer Stimme. »Ich weiß es nicht, Chris«, sagte sie ruhig. »Es hängt von dir ab.« »Von mir!« sagte er. »Immer hängt alles von mir ab, nicht wahr?« »Oh, bitte, Lieb ... Chris. Ich will mich nicht mehr zanken. Ich bin zu kaputt dazu.« »Es ist leichter, seine Sachen zu packen und davonzulaufen.« Sie drehte sich um und sah ihn an. Ihre Augen wirkten sehr dunkel und unglücklich. »Davonlaufen?« sagte sie. »Nach achtzehn Jahren wirfst du mir das vor?! Achtzehn Jahre lang habe ich mit angesehen, wie du dich selbst kaputt machst. Und mich dazu! Sieh nicht so überrascht aus! Du mußt doch wissen, daß du mich auch halb zum Wahnsinn getrieben hast!« Sie wandte sich ab, und er sah ihre Schultern zucken. Sie wischte sich Tränen von den Augen. »Es ist nicht, weil du mich geschlagen hast«, sagte sie. »Du hast gestern abend, als ich sagte, ich wolle gehen, immerzu davon gesprochen.« Sie holte tief Luft. »Wenn es bedeutet, du wärest wütend auf mich? Wenn es das wäre, würde ich mich jeden Tag schlagen lassen. Aber ich bin nichts für dich. Überflüssig.« »Oh, hör auf ...« »Nein«, fiel sie ihm ins Wort. »Deshalb gehe ich. Weil ich es nicht ertragen kann, mit anzusehen, wie du mich jeden Tag mehr für irgend etwas hassest, woran ich unschuldig bin.« 90
»Ich nehme an ...« »Oh, sage kein Wort mehr«, sagte sie, stand auf und lief eilig aus dem Zimmer. Er hörte sie ins Wohnzimmer gehen und starrte zum Toilettentisch hinüber. Sage kein Wort mehr? fragte er sie in Gedanken, wie wenn sie noch da wäre. Nun – es gibt noch viel zu sagen, eine ganze Menge. Du scheinst nicht einzusehen, was ich verloren habe. Du scheinst nicht zu begreifen. Ich hatte Hoffnungen – gerechter Himmel, was für Hoffnungen hatte ich! Ich wollte eine Prosa schreiben, daß die Menschen vor Erstaunen den Atem angehalten hätten. Ich wollte ihnen Dinge erzählen, die sie unbedingt erfahren mußten. Und wollte sie in so unterhaltender Art erzählen, daß sie die Wahrheit gar nicht spürten, die ihnen nahegebracht wurde. Ich wollte unsterbliche Werke schaffen. Wenn ich jetzt sterbe, werde ich einfach tot sein. Ich sitze in dieser deprimierenden Kleinstadt gefangen, bin in einem College begraben, in dem die Leute Staub anstarren und gar nicht wissen, daß über ihren Köpfen Sterne leuchten. Und was kann ich tun ...? Seine Gedanken brachen ab. Elend blickte er auf ihre Parfümfläschchen, auf die Puderbüchse, die das alte Lied Always klimperte, wenn der Deckel hochgehoben wurde. Ich will an dich denken. Immer. Mit einem Herzen, das dir treu ist. Immer. Kindische, komische Worte, dachte er. Aber seine Kehle zog sich zusammen, und ihn schauderte. »Sally«, sagte er. So leise, daß er es selbst kaum hören konnte.
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* Nach einer Weile stand er auf und zog sich an. Während er seine Hose anzog, rutschte der Teppich unter ihm weg, und er mußte sich am Toilettentisch festhalten. Er starrte nach unten, und sein Herz schlug in der rasenden Wut, die er innerhalb von Sekunden aufbringen konnte. »Verfluchtes Ding!« murmelte er. Er vergaß Sally. Er vergaß alles. Er wollte nur mit dem Teppich ins reine kommen. Heftig stieß er ihn mit dem Fuß unters Bett. Sein Ärger ließ nach und verging. Er schüttelte den Kopf. Ich bin krank, dachte er und kam auf die Idee, zu ihr zu gehen und ihr zu erzählen, daß er krank sei. Sein Mund zog sich zusammen, als er ins Badezimmer ging. Ich bin nicht krank, dachte er. Jedenfalls nicht körperlich. Mein Verstand ist krank, und sie macht es nur noch schlimmer. Das Badezimmer war, weil sie es vor kurzem benutzt hatte, noch feuchtwarm. Er öffnete das Fenster und riß sich dabei einen Splitter ein. Mit unterdrückter Stimme verfluchte er das Fenster. Dann sah er auf. Weshalb so leise? fragte er. Dann hört sie mich ja nicht. »Verflucht!« brüllte er laut das Fenster an. Dabei fummelte er an seinem Finger herum, bis er den Splitter herausbekommen hatte. Er riß die Tür des Badezimmerschränkchens mit einem Ruck auf, weil sie klemmte. Sie schlug heftig gegen sein Handgelenk. Er fuhr herum, packte das Gelenk mit der anderen Hand und legte keuchend den Kopf zurück. Dabei wimmerte er. Mit schmerzverzogenen Augen stand er da und starrte 92
zur Decke. Er sah den Riß, der in einer verrückten Mäander-Linie über die Decke lief. Dann schloß er die Augen. Er fühlte irgend etwas. Es war wie eine Drohung. Er wunderte sich darüber, löste das Rätsel dann selbst. Natürlich bin ich es selbst, antwortete er sich. Es ist die moralische Schwäche meines Unterbewußtseins. Es straft mich, indem es mir erklärt: du verdienst dafür Strafe, daß du deine arme Frau zu ihrer Mutter zurücktreibst. Du bist kein Mann. Du bist ein ... »Hör auf!« sagte er zu sich. Er wusch sich Hände und Gesicht und fuhr prüfend mit den Fingern über das Kinn. Er mußte sich rasieren. Vorsichtig öffnete er die Tür des Schränkchens wieder und nahm sein Rasiermesser heraus. Er hielt es hoch und musterte es. Die Klinge rutschte aus dem Schalengriff, und er schauerte zusammen, als er sie im Licht blitzen sah. Er starrte angewidert und fasziniert zugleich auf den glänzenden Stahl. Nach einer Weile berührte er die Schneide. So scharf, dachte er. Beim kleinsten Druck würde sie ins Fleisch dringen. Eigentlich ein schreckliches Ding. Wenn meine Hand es getan hat ... Er klappte das Messer hastig zu. Es war seine Hand. Sie mußte es gewesen sein. Das Messer konnte sich nicht von selbst bewegen und aufklappen. Nur seine krankhafte Phantasie spiegelte ihm das vor. Aber er rasierte sich nicht. Er legte das Messer ins Schränkchen mit dem ungewissen Gefühl zurück, so dem Schicksal aus dem Wege zu gehen. »Ist mir ganz egal, ob es üblich ist, sich jeden Tag zu 93
rasieren«, murmelte er vor sich hin. »Ich will es nicht darauf ankommen lassen, daß meine Hand ausrutscht. Lieber besorge ich mir einen Rasierapparat. Ein Messer ist nichts für mich – ich bin zu nervös.« Plötzlich, durch diese Worte hervorgerufen, erinnerte er sich einer Szene aus der Zeit vor achtzehn Jahren. Er hatte eine Verabredung mit Sally und erinnerte sich, daß er ihr erklärt hatte, er sei extrem ruhig. »Nichts regt mich auf«, hatte er gesagt. Und das traf zu – damals. Er hatte ihr auch erzählt, daß er Kaffee nicht mochte, weil eine einzige Tasse ihn die ganze Nacht wach hielt. Daß er nicht rauchte, weil er weder den Geschmack noch den Duft leiden konnte. »Mir liegt daran, gesund zu bleiben«, hatte er auch gesagt und erinnerte sich noch deutlich an jedes Wort. »Und nun?« murmelte er seinem mageren, zermürbt aussehenden Spiegelbild zu. Nun trank er mehrere Liter Kaffee täglich. Nun rauchte er endlose Ketten von Zigaretten, bis seine Kehle sich geschwollen und wie roh anfühlte und er nicht mehr schreiben konnte, weil der Bleistift in seiner Hand zu sehr zitterte. Doch alle diese Reizmittel halfen ihm beim Schreiben nicht ein bißchen. Das Papier in seiner Schreibmaschine blieb leer. Worte, die er suchte, fielen ihm nicht ein; Handlungen zerrannen ihm zwischen den Fingern. Charaktere entzogen sich ihm und spotteten seiner hinter dem Schleier ihres Nie-geschaffen-Werdens. Und die Zeit ging dahin, flog schneller und schneller vorbei. Sie, die er jetzt so hoch schätzte, daß ihr Verlust ihm Übelkeit verursachte. Beim Zähneputzen versuchte er, sich zu erinnern, wann 94
sein unbeherrschtes Temperament zuerst angefangen hatte, die Oberhand über ihn zu gewinnen. Aber es fiel ihm nicht ein. Irgendwann, in Nebeln, die er nicht durchdringen konnte, hat es begonnen. Mit einem mürrischen Wort, einem ärgerlichen Zusammenziehen der Muskeln. Mit einem Blick unwiderruflicher Feindseligkeit. Und von da an hatte es wie eine schwellende Amöbe seinen perversen Lauf genommen, bis es die gegenwärtige Höhe in ihm erreichte. Ein verkrampfter, verbitterter Mann war er geworden, der seinen einzigen Trost im Hassen fand. Er spie weißen Schaum aus und spülte sich den Mund. Als er das Glas hinstellte, zerbrach es, und ein Splitter bohrte sich in seine Hand. »Verflucht noch mal!« brüllte er. Er fuhr auf dem Absatz herum und ballte die Hand zur Faust. Sie sprang sofort wieder auf, als der Splitter sich dabei in die Handfläche drückte. Mit Tränen auf den Wangen stand er und atmete schwer. Er mußte daran denken, daß Sally ihn hören und noch einmal erleben konnte, wie seine Nerven bei jeder Kleinigkeit durchgingen. Hör auf damit! befahl er sich selbst. Du kannst nie wieder etwas schaffen, wenn du dich von diesem alles zerstörenden Temperament nicht frei machst. Er schloß die Augen. Einen Augenblick lang überlegte er, weshalb ihm in letzter Zeit alles nur Denkbare zustieß. Als ob eine rachsüchtige Macht sich im Hause niedergelassen hätte und tote Dinge mit wildem Leben erfüllte, das ihn bedrohte. Aber auch dieser Gedanke war nur einer von vielen in der zerstörerischen Menge anderer Gedanken, die ihn quälten, so daß er ihn schnell vergaß. 95
Er zog den Glassplitter aus der Hand. Dann band er eine dunkle Krawatte um. Er ging ins Eßzimmer und sah nach seiner Uhr. Es war schon zehn Uhr dreißig. Mehr als die Hälfte des Vormittags war vorüber. Mehr als die Hälfte der Zeit, in der er hätte sitzen und eine Prosa schreiben können, bei der die Leute den Atem angehalten hätten. Das geschah jetzt viel öfter, als er sich selbst hätte zugestehen mögen. Lange schlafen und alles mögliche tun, um den schrecklichen Augenblick hinauszuschieben, da er sich an seine Schreibmaschine setzen und versuchen mußte, der wachsenden Wüste seines Verstandes eine Art Ernte zu entreißen. Es wurde jedesmal schwerer. Und er wurde jedesmal ärgerlicher und haßte alles um sich herum heftiger. Und hatte bis vor kurzem nie bemerkt, bis jetzt, da es zu spät war, daß Sally allmählich verzweifelte und seinen Haß ebensowenig länger ertragen konnte wie sein Temperament. Sie saß am Küchentisch und trank schwarzen Kaffee. Auch sie trank mehr Kaffee als früher. Er verdarb auch ihre Nerven. Und sie rauchte jetzt auch, obwohl sie bis vor einem Jahr nie geraucht hatte. Es schmeckte ihr nicht, und sie hatte keine Freude daran. Sie zog den Rauch tief in die Lungen und atmete ihn dann schnell wieder aus. Und ihre Hände zitterten fast so schlimm wie seine. Er setzte sich auf den Platz ihr gegenüber und goß sich eine Tasse Kaffee ein. Sie stand auf. »Was ist los? Kannst du meinen Anblick nicht mehr ertragen?« Sie setzte sich wieder und nahm einen tiefen Zug aus 96
ihrer Zigarette. Dann drückte sie den Stummel auf der Untertasse aus. Er fühlte sich schlecht. Er wünschte plötzlich aus dem Haus zu gehen, das ihm jetzt fremd und feindlich vorkam. Er hatte das Gefühl, daß sie alle Ansprüche darauf aufgegeben, daß sie sich praktisch schon daraus zurückgezogen hatte. Die Berührung ihrer Finger und die liebevolle Zärtlichkeit, die sie früher jedem Raum gewidmet, gab es nicht mehr. Sie verließ es, und deshalb war es nicht mehr ihr Heim. Er ließ sich an die Rückenlehne sinken, schob seine Kaffeetasse zurück und starrte auf das gelbe Wachstuch der Tischdecke. Es kam ihm vor, als ob er und Sally in der Zeit fast stehengeblieben wären, als ob jede Sekunde sich zu einer Ewigkeit hinzog. Die Uhr tickte langsamer, und das Haus hatte sich auch verändert. »Welchen Zug willst du nehmen?« fragte er und wußte schon vorher, daß es nur einen Vormittagszug gab. »11 Uhr 47«, sagte sie. Als sie es ausgesprochen hatte, war ihm zumute, als ob sein Magen mit Gewalt gegen das Rückgrat gedrückt würde. Er keuchte – so wirklich war der körperliche Schmerz. Sie sah ihn an. »Den Mund verbrannt«, erklärte er hastig, und sie stand auf und stellte ihr Geschirr in den Ausguß. Weshalb habe ich das gesagt? dachte er. Weshalb konnte ich nicht sagen, mit welchem Schrecken mich der Gedanke erfüllte, daß sie mich verließ, und daß ich darum gekeucht hätte? Weshalb sagte ich dauernd Sachen, die ich gar nicht sagen will? Ich bin nicht schlecht, aber jedesmal, wenn ich spreche, erhöhe ich die Mauern von Haß und Bitterkeit um mich herum, bis ich nicht mehr daraus entkommen kann. 97
Aus Worten habe ich mein Leichenhemd gewebt und werde mich selbst darin begraben. Er musterte ihren Rücken, und ein trauriges Lächeln kräuselte seine Lippen. Ich kann über Worte nachdenken, wenn meine Frau im Begriff steht, mich zu verlassen. Es ist sehr traurig. Sally war aus der Küche gegangen, und seine Stimmung wurde wieder mürrisch wie sonst. Es ist wie ein Spiel, das wir spielen. Folge dem Führer. Man geht in ein Zimmer, den Kopf hoch, die im Recht befindliche Gemahlin, der beleidigte Teil. Von mir wird erwartet, daß ich mit hängenden Schultern hinterhergehe, reumütig zerknirscht, und von Entschuldigungen überfließe. Er wurde wieder seiner selbst bewußt, saß verkrampft am Tisch, und die Wut ließ seinen Körper zittern. Bewußt versuchte er, sich zu entspannen und preßte seine linke Hand auf die Augen. Er versuchte, sein Elend in Schweigen und Dunkelheit zu verlieren. Es gelang ihm nicht. Und dann verbrannte er sich an seiner Zigarette und fuhr hoch. Er ließ die Zigarette fallen, bückte sich nach ihr und wollte sie in den Mülleimer werfen, traf jedoch daneben. Zum Teufel damit, dachte er. Er stand auf und legte Tasse und Untertasse in den Ausguß. Dabei zerbrach die Untertasse und schnitt ihn in den Daumen. Er ließ es bluten und kümmerte sich nicht darum. * Sie war im Extrazimmer und packte. Das Extrazimmer. Das Wort quälte ihn jetzt. Wann hatten sie aufgehört, es das »Kinderzimmer« zu nennen? 98
Wann hatte es angefangen, sie innerlich kaputtzumachen, weil sie so voller liebe war und unbedingt Kinder haben wollte. Wann hatte er angefangen, ihr für diesen Verlust nichts Besseres zu bieten als ein vulkanisches Temperament und Tag und Nacht die Anfälle überreizter Nerven? Er stand in der Tür und beobachtete sie. Eigentlich wollte er an seine Schreibmaschine gehen, sich hinsetzen und eine Menge Bogen voller Worte schreiben. Er wollte sich seiner kommenden Freiheit freuen. An all das Geld denken, das er verdienen konnte. Daran, daß er nun alles das schreiben konnte, was er immer schon hatte schreiben wollen. Er stand in der Tür, und ihm war übel. Ist das alles möglich? fragte sein Verstand ungläubig. Möglich, daß sie ihn verließ? Sie und er waren doch Mann und Frau! Sie hatten in diesem Haus länger als achtzehn Jahre gelebt und sich geliebt. Und nun verließ sie es. Packte Kleidungsstücke und Toilettengegenstände in ihren alten schwarzen Koffer und fuhr davon. Damit konnte er innerlich nicht fertig werden. Er konnte es nicht begreifen. Es paßte nicht in das gewohnte Leben, in dem Sally hier war und sauber machte und kochte und versuchte, ihnen ein glückliches, warmes Heim zu schaffen. Er schauerte zusammen, wandte sich mit einem Ruck um und ging ins Schlafzimmer zurück. Er ließ sich auf sein Bett fallen und starrte die leise summende elektrische Uhr an, die auf ihrem Nachttisch stand. Nach elf, sah er. In weniger als einer Stunde muß ich eine Gruppe idiotischer Neulinge unterrichten. Und auf dem Schreibtisch im Wohnzimmer liegt ein ganzer Berg 99
von Aufsätzen, die ich durcharbeiten muß. Obwohl mein Magen sich über die darin steckende geringe Intelligenz und die Phraseologie von Halbwüchsigen umdreht. Und all dieser Schund, diese Meilen häßlicher Prosa hatten sich in seinem Kopf zu einem unlöslichen Gespinst verwoben. Und von dort lief es in sein eigenes Schreiben mit hinein, verdarb es, bis er überlegte, ob er den Gedanken, weiterzuleben, noch ertragen könne. Ich habe das Schlimmste verdauen müssen – ist es da ein Wunder, daß ich es stückweise wieder von mir gebe?! Sein Temperament fing wieder an aufzuwallen, ein zuerst schwach brennendes Feuer, das durch seine Gedanken angefacht wurde. Ich habe heute vormittag nicht ein bißchen geschrieben. Wie jeden Vormittag nach jedem anderen Vormittag, der vergangen ist. Ich tue weniger und weniger. Ich schreibe nichts oder höchstens wertloses Zeug. Mit zwanzig Jahren konnte ich besser schreiben als heute. Nie wieder werde ich etwas Gutes schreiben! Er sprang auf die Füße, und sein Kopf fuhr herum auf der Suche nach etwas, das er zerbrechen oder zerschlagen könnte, etwas, das er hassen könnte. Es kam ihm vor, als ob das Zimmer dunkler wurde. Sein linkes Bein stieß gegen eine Bettecke. Er keuchte vor Wut. Er weinte. Tränen des Hasses, der Reue und des Erbarmens mit sich selbst. Ich bin verloren, dachte er. Es gibt keine Hilfe mehr dagegen. * Er wurde sehr ruhig. Von eisiger Ruhe erfüllt. Sein Gefühl hatte sich vorübergehend erschöpft. Er zog sein Jackett an, 100
setzte seinen Hut auf und nahm die Aktentasche vom Toilettentisch. Vor der Tür des Extrazimmers, in dem sie sich immer noch an ihrem Koffer zu schaffen machte, blieb er stehen. Sie will also etwas zu tun haben, dachte er, damit sie mich nicht anzusehen braucht. »Amüsiere dich gut bei deiner Mutter«, sagte er gelassen. Sie blickte auf, sah seinen Gesichtsausdruck, wandte sich ab und legte eine Hand vor die Augen. Plötzlich spürte er den Drang, zu ihr zu gehen und sie um Verzeihung zu bitten. Alles wieder in Ordnung zu bringen. Dann dachte er wieder an die Jahre des Nichtschreibens. Er drehte sich um und ging durch das Wohnzimmer. Der kleine Teppich rutschte und lieferte ihm den Grund für seine Wut, den er brauchte. Er stieß ihn heftig beiseite, so daß er an die Wand flog und dort in einem zerdrückten Haufen liegenblieb. Er schlug die Tür hinter sich zu. Nun hatte sie sich wahrscheinlich wie in einem melodramatischen Werbefilm auf ihr Bett geworfen und verströmte Märtyrertränen, grub ihre Fingernägel ins Kopfkissen, stöhnte seinen Namen und wünschte, sie wäre tot. Seine Schuhe klapperten eilig auf dem Bürgersteig. Gott helfe mir! dachte er. Gott helfe uns Elenden allen, die etwas schöpfen möchten und finden, daß wir unsere Herzen verlieren, weil wir nicht genug Zeit daran wenden können. Es war ein schöner Tag. Seine Augen sahen es – sein Verstand wollte es nicht zugeben. Die Bäume hatten schon dichtes Grün angesetzt, und die Luft war warm und frisch. Frühlingswind wehte sanft durch die Straßen. Er fühlte ihn 101
über sich hinwegwehen, als er an seinem Block entlang ging und die Hauptstraße an der Bushaltestelle kreuzte. Er stand an der Ecke und blickte zu seinem Haus zurück. Sie ist dort drin, mußte er beharrlich denken. Dort, in dem Haus, in dem wir länger als achtzehn Jahre gewohnt haben. Sie packt oder weint oder macht sonst etwas. Und bald wird sie die Taxi-Gesellschaft anrufen. Ein Taxi wird kommen. Der Fahrer wird hupen. Sally wird ihren leichten Sommermantel anziehen und mit dem Koffer auf die Veranda hinausgehen. Sie wird die Tür zum letztenmal hinter sich schließen. »Nein ...« Er konnte das Wort nicht zurückhalten, während er zum Haus starrte. Sein Kopf tat weh. Er sah alles schwanken. Ich bin krank, dachte er. »Ich bin krank!« Das rief er laut, doch war niemand in der Nähe, der es hätte hören können. Er starrte immer noch auf das Haus. Sie verläßt mich für immer. Gut also! Ich werde schreiben, schreiben, schreiben. Er ließ die Worte ein solches Gewicht bekommen, daß sie alles andere verdrängten. Er konnte seinen Weg immer noch wählen – nach allem. Er widmete sein Leben seiner Arbeit oder seiner Frau, Kindern und einem Heim. Verbinden konnte man das nicht, nicht heutzutage. In dieser ungesunden Welt kam Gott hinter dem Einkommen und Güte nach Wohlstand. Er blickte zur Seite, als der grüngestreifte Bus über den entfernten Hügel kam und sich näherte. Er steckte die Aktentasche unter den Arm und suchte in seiner Rocktasche nach einem Fahrschein. In der Tasche war ein Loch, das Sally hatte zunähen wollen. Jetzt würde sie nicht 102
mehr dazu kommen, aber was spielte es schon für eine Rolle. Lieber habe ich meine Seele in Ordnung als die Sachen, die ich trage. Worte, Worte, dachte er, als der Bus neben ihm hielt. Sie gehen mir jetzt durch den Kopf, weil sie mich verläßt. Ist das ein Beweis dafür, daß sie meine Gedanken zu sehr in Anspruch nimmt? Er gab seinen Fahrschein ab und ging schwankend durch den fahrenden Bus nach vorn. Als er an einem Professor vorbeikam, den er kannte, nickte er abwesend. Er ließ sich vorn auf einen Rücksitz fallen und starrte auf den schmierigen, mit Gummi belegten Fußboden. Das ist ein herrliches Leben! tobte er innerlich. Ich bin so glücklich darüber und über meine großen, wundervollen Leistungen. Er öffnete die Aktentasche einen Augenblick lang und warf einen Blick auf den dicken Lehrplan, den er mit Hilfe von Dr. Ramsay entworfen hatte. Erste Woche: 1. Jedermann. Diskussion darüber. Lesen von Auswahlstücken aus Klassisches Lesebuch für College-Anfänger. 2. Beowulf. Lesen. Diskussion darüber. Abfragen nach Zitaten. Er schob die Papiere in die Mappe zurück. Sie machen mich verrückt, dachte er. Ich hasse das Zeug. Die Klassiker sind mir so widerlich geworden, daß mir bei ihrer bloßen Erwähnung schlecht wird. Chaucer, die Elizabethanischen Dichter, Dryden, Pope, Shakespeare. Wie kann man einen 103
Mann schlimmer kränken, als daß man ihn zwingt, diese Namen zu hassen, weil er sie mit Dummköpfen teilen muß. Weil er gezwungen ist, ihre Werke zu zerfleddern, um sie Idioten schmackhaft zu machen. * Er stieg aus dem Bus und ging die lang abfallende Neunte Straße hinunter. Beim Gehen kam er sich wie ein Schiff vor, dessen Ankertau gerissen ist, und das nun von einer Vielzahl von Strömungen hin und her geworfen wird. Er fühlte sich von der Stadt, dem Land, der Welt getrennt. Wenn mir jemand erklärte, ich wäre ein Geist, dachte er, würde ich ihm Glauben schenken. Was tut sie augenblicklich? Er mußte darüber nachdenken, während er an den Gebäuden vorbeikam. Was denkt sie, wenn sie mich hier stehen und die Stadt Fort als nebelhafte Kulisse an mir vorüberziehen sieht. Was hält sie in den Händen? Welchen Ausdruck hat ihr Gesicht? Sie ist allein im Haus, in unserem Haus. Das unser Heim hätte sein können und nun nur noch eine hohle Schale ist mit Möbeln aus Metall und Holz. Nichts als tote Gegenstände. Ganz gleich, was John Morton sagte. Er mit seinen Apparaten, Reagenzgläsern und Mikroskopen. Trotz seines gelehrten Geredes, trotz seiner Rechenschieberzahlen – es war alles Idiotie. Dieselbe Idiotie, die diesen Esel Charles Fort veranlaßt hatte, die Welt mit seinen verworrenen Phantasien zu belasten. Die Idiotie, die den Dummkopf von Millionär dazu gebracht 104
hatte, dieses College zu stiften und auf dem unfruchtbaren Boden dieses riesige Gebäude errichten zu lassen und einen Haufen aufgeregter Wissenschaftler hineinzusetzen, die dauernd nach irgendeinem Elixier suchten. Nein, nichts ist auf dieser Welt in Ordnung, dachte er, während er unter dem Torbogen hindurch auf den weiten, grünen Campus schritt. Er blickte zu dem riesigen Gebäude der Naturwissenschaften hinüber, dessen Granitmauern in der Sonne des späten Vormittags blitzten. Jetzt wird sie gerade wegen des Taxis anrufen. Er sah nach seiner Uhr. Nein. Sie mußte schon im Taxi sitzen. Durch die stillen Straßen ins Geschäftsviertel fahren. An den roten Segelsteinhäusern vorbei, die Studenten und Tölpel ausspien. Durch die Stadt, die ein Mischmasch aus Bildung und Bauerntum war. Jetzt bog das Taxi nach links in die Zehnte Straße ein. Jetzt fuhr es den Hügel hinauf, glitt auf der anderen Seite hinunter zum Bahnhof. Jetzt ... »Chris!« Sein Kopf fuhr herum, und sein Körper beugte sich überrascht zur Seite. Er sah den Eingang zum Gebäude der Geisteswissenschaften mit seinen riesigen Türen vor sich. Dr. Morton trat heraus und auf ihn zu. Vor achtzehn Jahren haben wir gemeinsam die Schule beendet, dachte er. Aber ich hatte nur wenig Interesse für die reine Wissenschaft. Ich zog es vor, meine Zeit mit der Kultur der Jahrhunderte zu verschwenden. Deshalb bin ich immer noch nur ein einfacher Lehrer, während er Doktor und Leiter seiner Abteilung ist. All dies schoß ihm rasend schnell durch den Kopf, als Dr. Morton lächelnd näher kam. Er klopfte Chris auf die 105
Schulter. »Hallo!« sagte er. »Wie geht's?« »Wie immer.« Dr. Mortons Lächeln verging. »Was ist denn los, Chris?« fragte er. Ich werde dir nichts von Sally erzählen, dachte Chris. Von mir wirst du nichts darüber erfahren. »Das Übliche«, sagte er. »Immer noch auf gespanntem Fuß mit Ramsay?« Chris zuckte mit den Achseln. Morton blickte zu der großen Uhr am Gebäude der Geisteswissenschaften hinüber. »Sage mal«, meinte er, »weshalb stehen wir hier. Deine Vorlesung fängt erst in einer halben Stunde an, nicht wahr?« Chris antwortete nicht. Er will mich zu einem Kaffee einladen, dachte er. Und dann will er mir mit seinen albernen Theorien zusetzen, mich als Prügelknaben mißbrauchen. »Laß uns eine Tasse Kaffee trinken«, sagte Morton und nahm Chris' Arm. Schweigend gingen sie eine Weile. »Wie geht es Sally?« fragte Morton dann. »Gut«, versetzte er gelassen. »Fein. Oh, nebenbei – wahrscheinlich komme ich morgen oder übermorgen mal bei euch vorbei und hole mir das Buch, das ich letzten Donnerstag vergessen habe.« »Schön.« »Was hast du vorhin über Ramsay gesagt?« »Nichts.« Morton überging das. »Hast du über das nachgedacht, was ich dir erklärt habe?« fragte er. »Wenn du damit das Märchen über mein Haus meinst – 106
nein. Ich habe nicht mehr darüber nachgedacht, als es verdient, und das ist – nichts!« Sie bogen um die Ecke des Hauses und gingen zur Neunten Straße. »Das ist eine unentschuldbare Haltung, Chris«, sagte Morton. »Du hast kein Recht zu zweifeln, so lange du gar nichts weißt.« Chris hatte Lust, seinen Arm wegzureißen, sich umzudrehen und Morton stehenzulassen. Die ewigen Worte hingen ihm zum Halse hinaus. Er wollte allein sein. Ihm war beinahe danach zumute, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen, um alles hinter sich zu haben. Ja, das könnte ich, dachte er. Wenn jemand mir jetzt eine Pistole gäbe, würde ich es sofort tun. Sie gingen die Steinstufen zum Bürgersteig hinauf und hinüber zum Campus-Café. Morton öffnete die Tür, schob Chris hindurch. Chris ging nach hinten und glitt in eine der hölzernen Nischen. Morton brachte zwei Tassen Kaffee und setzte sich ihm gegenüber. »Nun höre mal zu«, sagte er und rührte in seiner Tasse. »Ich bin dein bester Freund, halte mich wenigstens dafür. Und ich will verdammt sein, wenn ich tatenlos mit ansehe, wie du dich selbst umbringst.« Chris schluckte und versuchte, die Gedanken zu unterdrücken, die ihm kamen, als ob Morton sie sehen könnte. »Vergiß es«, sagte er. »Mir ist es gleichgültig, was für Beweise du angeblich hast. Ich glaube an nicht einen davon.« »Was muß man nur anstellen, um dich zu überzeugen?« sagte Morton. »Mußt du erst dein Leben dadurch 107
verlieren?« »Ach was!« sagte Chris mürrisch. »Ich glaube es nicht – daran liegt es. Vergiß es und sprich nicht mehr davon.« »Hör mal, Chris, ich kann dir zeigen ...« »Du kannst mir gar nichts zeigen!« unterbrach Chris ihn grob. Morton blieb geduldig. »Es ist ein anerkanntes Phänomen«, sagte er. Chris sah ihn verärgert an und schüttelte den Kopf. »Was für Träume ihr weißbekittelten kleinen Jungen in euren geweihten Klöstern von Laboratorien ausbrütet! Nach einer Weile kannst du dich dazu bringen, alles zu glauben. So lange, wie du davon überzeugt bist, einen Maßstab dafür gefunden zu haben.« »Willst du mich nicht zu Ende anhören, Chris? Wie oft hast du dich über eingerissene Splitter beklagt, über Schranktüren, die plötzlich von selbst aufspringen, über rutschende Teppiche? Wie oft?« »Um Himmels willen – fang nicht wieder damit an! Ich stehe auf und gehe. Ich bin nicht in der Stimmung, deine Vorlesungen mit anzuhören. Spare sie dir für die armen Idioten, die Collegegelder dafür zahlen.« Morton sah ihn kopfschüttelnd an. »Ich wünschte, ich könnte dich überzeugen«, sagte er. »Vergiß es.« »Es vergessen?« Morton rutschte unruhig hin und her. »Siehst du nicht ein, daß du durch dein Temperament in Gefahr bist?« »Ich sage dir, John ...« »Was glaubst du, wohin dieses Temperament dich führt? Glaubst du, es verschwindet eines Tages von selbst? Nein – das tut es nicht! Es zieht in deine Zimmer, in deine Möbel 108
und in die Luft um dich herum. Es steckt auch Sally an. Es verdirbt alles und macht es krank – dich eingeschlossen. Es verbindet die tote Materie mit dem Belebten. Psychobolie. Sieh mich nicht so mürrisch an wie ein Kind, das das Wort Spinat nicht hören kann! Setz dich, um Himmels willen! Du bist ein erwachsener Mensch – benimm dich auch so!« Chris steckte sich eine Zigarette an. Er verschloß seine Ohren gegen Mortons Worte, so daß er sie nur noch als unverständliches Summen hörte. Er blickte nach der Wanduhr. Dreiviertelzwölf. Wenn der Zug pünktlich war, mußte sie in zwei Minuten abfahren, und die Häuser der Stadt Fort würden an ihr vorbeiziehen. »Ich habe es dir hundertmal erklärt«, sagte Morton jetzt. »Kein Mensch weiß, woraus Materie besteht. Atome, Elektronen, reine Energie – alles Worte! Wer weiß, wo das enden soll? Wir raten, wir theoretisieren, wir suchen nach Maßstäben. Aber wir wissen nichts. Das bezog sich auf die Materie. Nun denke an das menschliche Gehirn und seine immer noch unbekannten Möglichkeiten. Es ist ein völlig unerforschtes Gebiet, Chris, und wird es noch lange bleiben. Und immer wird es unbekannte Mächte geben, die uns beeinflussen und vielleicht auch die Materie beeinflussen. Wir können sie nur nicht feststellen oder messen. Und ich sage dir, du vergiftest dein Haus. Dein Temperament hat sich dem Gebäude und jedem Gegenstand, den du berührst, mitgeteilt. Alles ist von dir und deinen Wutanfällen beeinflußt worden. Und ich glaube auch, daß du nur durch Sallys Gegenwart, die als ablenkender Faktor wirkt, bisher davor bewahrt geblieben bist ...« Chris hörte die letzten paar Sätze. 109
»Oh, hör mit diesem Geschwätz auf!« fuhr er ihn ärgerlich an. Morton seufzte, fuhr mit einem Finger über den Rand seiner Untertasse und schüttelte traurig den Kopf. »Gut«, sagte er. »Alles, was ich tun kann, ist hoffen, daß nichts passiert. Mir wird klar, daß du unter keinen Umständen auf mich hören willst.« »Meine Glückwünsche zu der einzigen Feststellung, in der ich mit dir übereinstimme«, sagte Chris. Er sah nach seiner Uhr. »Und wenn du mich jetzt entschuldigen willst, werde ich gehen und einem Haufen von Kretins zuhören, die über Sätze stolpern, die zu begreifen sie sowieso nicht in der Lage sind.« Sie standen auf. »Ich übernehme das«, sagte Morton, doch Chris legte ein Geldstück für seinen Kaffee auf die Theke und ging hinaus. Morton folgte ihm und steckte dabei das Wechselgeld in die Tasche. Auf der Straße tätschelte er Chris' Schulter. »Versuche, dich nicht aufzuregen«, sagte er. »Wie wäre es, wenn du mit Sally heute abend zu uns kämest? Wir könnten ein paar Runden Bridge spielen.« »Das ist unmöglich«, sagte Chris. * Die Studenten lasen eine Auswahl aus King Lear. Ihre Köpfe waren über die Bücher gebeugt. Er starrte sie an, ohne sie zu sehen. Ich muß verzichten lernen, sagte er zu sich selbst. Ich muß sie vergessen – das ist alles. Sie ist fort. Ich werde diese Tatsache nicht beweinen. Ich werde nicht gegen jede 110
Möglichkeit hoffen, daß sie zurückkommt. Ich will sie gar nicht zurückhaben. Ich komme viel besser ohne sie aus. Frei und unbehindert! Seine Gedanken verließen ihn. Er kam sich ausgehöhlt und hilflos vor. Als ob er nie im Leben wieder ein Wort würde schreiben können. Er riß sich mit Gewalt zusammen. Nein! schrie es in ihm. Ich bin stark. Das Gefühl, nichts zu können, ist nur vorübergehend. In kurzer Zeit werde ich lernen, mir mein Leben ohne sie einzurichten. Und dann werde ich arbeiten. Solche Arbeit, wie ich sie bisher nur erträumt habe. Habe ich seit meiner Heirat nicht achtzehn Jahre gelebt? Haben diese Jahre mich nicht bis zum Überlaufen mit Einsichten und Tönen, Ideen, Eindrücken und Auffassungen erfüllt? Er zitterte vor Erregung. Irgend jemand wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. Er zog die Augen zusammen und musterte das Mädchen vor ihm kalt. »Nun?« sagte er. »Können Sie uns sagen, Professor Neal, wann wir die letzten schriftlichen Arbeiten zurückbekommen?« fragte sie. Er starrte sie an. In seiner rechten Wange zuckte ein Nerv. Am liebsten hätte er ihr jede Schmähung ins Gesicht geworfen, die ihm einfiel. Seine Hände ballten sich. »Sie bekommen sie zurück, wenn ich damit fertig bin«, versetzte er knapp. »Ja, aber ...« »Sie haben gehört, was ich sagte!« Seine Stimme hob sich zum Ende des Satzes. Das Mädchen setzte sich. Als er seinen Kopf sinken ließ, bemerkte er, daß sie den Jungen neben sich ansah und die 111
Achseln dabei zuckte, einen Ausdruck von Widerwillen im Gesicht. »Miss ...« Er blätterte im Vorlesungsbuch und fand ihren Namen. »Miss Forbes!« Sie blickte auf. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen, nur die roten Lippen stachen scharf gegen die weiße Haut ab. »Verlassen Sie den Saal!« befahl er scharf. Sie sah verwirrt aus. »Weshalb?« fragte sie mit dünner Stimme. »Vielleicht haben Sie mich nicht verstanden«, sagte er, und sein Zorn wuchs. »Ich habe gesagt, Sie sollten den Saal verlassen!« »Aber ...« »Hören Sie nicht?« brüllte er. Hastig raffte sie ihre Bücher zusammen. Ihre Hände zitterten, ihr Gesicht brannte vor Verlegenheit. Sie hielt die Blicke auf den Fußboden gerichtet, und ihre Kehle zuckte krampfhaft, als sie den Gang entlang und aus der Tür ging. Die Tür schloß sich hinter ihr. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und fühlte sich entsetzlich übel. Nun, dachte er, werden sie zur Verteidigung eines hohlköpfigen Mädchens alle gegen mich sein. Und Dr. Ramsay würde mehr Brennstoff für sein kleines, sorgsam unterhaltenes Feuer haben. Und sie hatten recht! Er konnte es beim besten Willen nicht bestreiten. Er wußte es genau. In einem weit entlegenen Abteil seines Gehirns, bis zu dem seine Leidenschaftlichkeit nicht reichte, wußte er, daß er ein Narr war. Ich habe kein Recht, andere zu lehren, dachte er. Ich 112
kann nicht einmal mich selbst zu einem menschlichen Wesen erziehen. Er hätte es am liebsten laut hinausgeschrieen, geweint und sich aus einem der offenen Fenster gestürzt. »Das Flüstern hört sofort auf!« befahl er wütend. Der Raum wurde ruhig. Er saß gespannt und wartete auf ein Anzeichen von Aufruhr. Ich bin euer Lehrer, sagte er sich. Ihr habt mir zu gehorchen. Der Gedanke verging wieder. Was waren Studenten oder Studentinnen, die nach der Rückgabe ihrer Arbeiten fragten? Er sah nach seiner Uhr. In wenigen Minuten würde der Zug in Centralia einlaufen. Sie würde in den Schnellzug der Hauptlinie nach Indianapolis umsteigen. Dann nach Detroit und zu ihrer Mutter. Fort. Fort. Er versuchte, sich das Wort bildhaft vorzustellen, aber der Gedanke an das Haus ohne sie überstieg seine Möglichkeiten. Weil es nicht allein das Haus ohne sie war, sondern noch irgend etwas anderes. Er begann, über das nachzudenken, was John gesagt hatte. War es möglich? Er war in einer Stimmung, in der er auch das Unglaubliche hinnahm. Es war unglaublich, daß sie ihn verlassen hatte. Weshalb sollten dann die anderen Unglaublichkeiten, die ihm zustießen, nicht auch möglich sein? Gut also, dachte er ärgerlich. Das Haus hat Leben, das ich ihm mit meinen Wutergüssen eingeflößt habe. Ich hoffe, daß, wenn ich nach Hause komme und durch die Tür gehe, das Dach zusammenfällt. Daß die Wände sich biegen und ich zerquetscht werde. Das wünsche ich mir. Wenn mir nur irgend etwas zu Hilfe käme! Allein bekomme ich es 113
nicht fertig. Ein Revolver müßte von selbst auf mich schießen und mich töten. Oder Gas ausströmen. Oder ein Rasiermesser müßte mir die Kehle durchschneiden, ohne daß ich es halte. Die Tür ging auf, und er blickte hoch. Dr. Ramsay stand mit entrüstetem Gesicht auf der Schwelle. Hinter ihm sah Chris das Mädchen stehen, dem die Tränen über die Wangen liefen. »Einen Augenblick, Neal!« sagte Ramsay scharf und trat auf den Korridor zurück. Chris saß hinter seinem Schreibtisch und starrte auf die Tür. Plötzlich fühlte er sich müde, völlig erschöpft. Er blickte über die Studenten hin. Ein paar von ihnen versuchten, ein Lächeln zu unterdrücken. »Für morgen bereiten Sie sich darauf vor, daß wir King Lear zu Ende lesen«, sagte er. Einige von ihnen stöhnten. Ramsay erschien mit rotem Gesicht wieder in der Tür. »Kommen Sie, Neal?« fragte er laut. Chris spürte, daß er sich vor Ärger straffte, als er durch den Raum und in den Korridor hinausging. Das Mädchen schlug ihre Augen nieder. Sie stand neben Dr. Ramsay. »Was habe ich hier gehört, Neal?« fragte Ramsay. So ist es richtig, dachte Chris. Nenne mich nicht Professor. Ich werde nie einer werden, weil du dafür sorgst, du Bastard. »Ich verstehe nicht«, sagte er so kühl wie möglich. »Miss Forbes hier behauptet, Sie hätten sie ohne jeden Grund aus der Vorlesung geschickt.« »Dann lügt Miss Forbes sehr dumm«, sagte er. Laß mich diesen Ärger in mir verschließen, dachte er. Laß ihn nicht losbrechen! 114
Das Mädchen atmete hastig und zog ihr Taschentuch hervor. Ramsay drehte sich zu ihr um und tätschelte ihre Schulter. »Gehen Sie in mein Arbeitszimmer, Kind, und warten Sie dort auf mich.« Langsam ging sie davon. Politiker! hätte Neal rufen mögen. Wie leicht ist es für dich, bei ihnen populär zu werden! Du brauchst nicht mit ihren Dummheiten fertig zu werden. Miss Forbes verschwand um die Ecke, und Ramsay blickte wieder Chris an. »Es wäre gut für Sie, wenn Sie eine einleuchtende Erklärung vorbringen könnten«, sagte er. »Ihr Betragen wird mir allmählich ein bißchen zu viel.« Chris sprach nicht. Weshalb stehe ich eigentlich hier, überlegte er. Weshalb, um alles in der Welt, stehe ich in diesem halbdunklen Korridor und lasse mir von diesem aufgeblasenen Dummkopf Vorwürfe machen? »Ich warte, Neal!« Chris straffte sich. »Ich habe Ihnen erklärt, daß sie lügt«, sagte er ruhig. »Ich glaube das Gegenteil!« sagte Ramsay, und seine Stimme zitterte. Ein Schauer überlief Chris. Sein Kopf bog sich vor, und er sprach langsam durch zusammengebissene Zähne. »Sie können – verdammt noch mal – glauben, was Ihnen Spaß macht!« Ramsays Mund verzerrte sich. »Ich glaube, es wird Zeit, daß Sie vor dem Schulausschuß erscheinen«, murmelte er. »Fein!« sagte Chris laut. Ramsay machte eine Bewegung, um die Klassentür zu schließen, aber Chris gab 115
ihr einen Fußtritt, daß sie krachend gegen die Wand prallte. Ein Mädchen keuchte. »Was ist los?« rief Chris. »Wollen Sie nicht, daß die Studenten es hören, wenn ich Ihnen die Wahrheit sage? Sollen sie nicht einmal ahnen, daß Sie ein Dummkopf, ein Schwätzer und ein Esel sind?« Ramsay hob zitternde Fäuste vor seine Brust. Seine Lippen bebten heftig. »Das genügt, Neal!« schrie er. Chris streckte eine Hand aus und schob den schweren Mann zur Seite, während er knurrte: »Ach was! Gehen Sie mir aus dem Wege!« Er ging davon. Der Korridor blieb hinter ihm zurück. Er hörte die Glocke läuten. Es kam ihm vor, als ob sie in einem anderen Dasein läutete. Das ganze Gebäude pulsierte von Leben. Aus den Zimmern und Sälen strömten Studenten. »Neal!« rief Dr. Ramsay. Er ging weiter. Himmel, laß mich nur erst hier hinaus sein, dachte er, ich ersticke hier. Mein Hut, meine Aktenmappe. Laß sie. Nur erst hinaus! Verwirrt stieg er zwischen sich stoßenden und Witze machenden Studenten die Treppe hinunter. Sie brodelten um ihn herum, ohne daß er sie wahrnahm. * Gleichgültig vor sich hin starrend ging er durch die große Erdgeschoß-Halle, durch die Tür und über die Freitreppe zum Bürgersteig. Er beachtete die Studenten nicht, die sein zerzaustes blondes Haar und seinen zerknitterten Anzug musterten. Er ging weiter. Ich habe es getan! dachte er 116
streitsüchtig. Ich habe Schluß gemacht. Ich bin frei. Ich bin krank. Den ganzen Weg durch die Hauptstraße und weiter bis zur Bushaltestelle fachte er seine Wut immer von neuem an. Wieder und wieder stellte er sich die wenigen Augenblicke mit Ramsay im Korridor vor. Er hielt sich Ramsays schwerfälliges Gesicht vor Augen und wiederholte seine Worte. Er blieb verkrampft und wütend. Ich bin froh darüber, sagte er sich gezwungen. Alles ist jetzt gelöst. Sally hat mich verlassen – gut. Meine Stellung habe ich hinter mir – gut. Jetzt kann ich tun, wozu ich Lust habe. Eine starke und zugleich ärgerliche Freude durchfuhr ihn. Er stand allein, fremd in der Welt und freute sich darüber. An seiner Haltestelle stieg er aus dem Bus, ging entschlossen auf sein Haus zu und versuchte, den Schmerz zu unterdrücken, den er beim Näherkommen spürte. Es ist nur ein einfaches, leeres Haus, dachte er. Nichts weiter. Trotz aller kindischen Theorien – es war wirklich nichts als ein Haus. Dann, als er hineinkam, sah er sie auf der Couch sitzen. Er schwankte, als ob jemand ihn über den Kopf geschlagen hätte, stand dann wie betäubt und starrte sie an. Sie hielt die Hände gefaltet und sah ihm entgegen. Er schluckte. »Nun ...«, sagte er. »Ich ... also ...« »Was also?« sagte er schnell und laut, um zu verbergen, daß seine Stimme zitterte. Sie stand auf. »Chris, bitte. Willst du mich nicht bitten, bei dir zu bleiben?« Sie sah ihn wie ein kleines, bittendes Mädchen an. 117
Ihr Blick ärgerte ihn. Alle seine Träume von diesem Tage waren zerstört; er sah, wie seine Absichten und Ideen zertreten wurden. »Dich bitten zu bleiben?« schrie er sie an. »Um nichts werde ich dich bitten.« »Chris! Nicht!« Sie gibt nach, rief es in ihm. Sie wird schwach. Jetzt schicke sie weg! Treibe sie aus diesen Mauern! »Chris!« schluchzte sie. »Bitte, sei nett!« »Nett?!« Er erstickte fast an dem Wort. »Bist du etwa nett gewesen? Hast du mich nicht zum Wahnsinn, zur Verzweiflung getrieben? Und ich komme nicht darüber hinweg. Verstehst du das? Nie! Nie! Begreifst du es nicht? Niemals werde ich schreiben. Ich kann nicht mehr schreiben! Das hast du mir verdorben! Du hast es getötet! Begreife doch! Getötet hast du es!« Sie ging rückwärts ins Wohnzimmer. Er folgte ihr, schüttelte seine Hände hin und her, fühlte, daß sie ihn zu diesem Bekenntnis getrieben hatte, und haßte sie deshalb um so mehr. »Chris!« murmelte sie angstvoll. Jetzt schien seine Wut jede Zelle seines Körpers zu erfüllen, bis er nur noch eine Fleisch gewordene Anklage war. »Ich brauche dich nicht!« brüllte er. »Du hast recht – ich brauche dich nicht mehr. Verschwinde hier!« Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund sah aus wie eine offene Wunde. Plötzlich rannte sie mit tränenglänzenden Augen an ihm vorbei und floh durch die Haustür. Er trat ans Fenster und beobachtete, wie sie den 118
Häuserblock hinunterlief. Ihr dunkelbraunes Haar flog hinter ihr her. * Plötzlich wurde ihm schwindlig. Er sank auf die Couch und schloß die Augen, grub seine Fingernägel in die Handflächen. Himmel, ist mir übel! Er zuckte zusammen und blickte sich stumpfsinnig um. Was war das? Dieses Gefühl, daß er in der Couch versank, durch die Fußbodenbretter, sich mit den Molekülen des Hauses vereinte. Er wimmerte leise, während er sich umblickte. Sein Kopf schmerzte, und er preßte eine Hand auf die Stirn. »Was?« murmelte er. »Was?« Er stand auf und durchsuchte mit den Blicken das Zimmer. Er taumelte und fiel auf die Couch zurück. Wieder starrte er um sich, ohne etwas zu sehen. Alles war unangreifbar und bestand vielleicht nur in seiner Phantasie. Die Möbel standen wie immer. Das Sonnenlicht fiel durch die Fenster, durch die weitmaschigen Vorhänge, und zeichnete goldene Muster auf den eingelegten Holzfußboden. Die Wände waren noch cremefarben wie sonst, die Zimmerdecke auch wie immer, und doch war alles dunkler ... Woher? Er stieß sich hoch und ging verwirrt durch das Zimmer. Sally vergaß er. Er war im Wohnzimmer, berührte den Tisch, starrte auf die dunkle Eiche. Er ging in die Küche, stand neben dem Ausguß und blickte aus dem Fenster. Weit hinten sah er sie unsicher gehen. Sie mußte auf den 119
Bus gewartet haben, konnte nun nicht länger warten und lief weiter, fort von ihm. »Ich will ihr nachgehen«, murmelte er. Nein, dachte er. Nein, ich gehe nicht hinter ihr her wie ein ... Er vergaß den Vergleich und starrte in den Ausguß. Er kam sich wie betrunken vor; alles sah er nur undeutlich, wie verwischt. Sie hatte das Frühstücksgeschirr noch abgewaschen und die zerbrochene Untertasse weggeworfen. Er blickte auf den Schnitt in seinem Daumen, der eingetrocknet war. Er hatte ihn vergessen. Plötzlich sah er sich um, weil ihm war, als ob sich jemand hinter ihn geschlichen hätte. Er starrte auf die Wand. Irgend etwas hob sich – das fühlte er. Aber es mußte Einbildung sein. Einbildung! Er schlug mit der Faust auf den Ausguß. Ich will schreiben. Schreiben. Schreiben. Setz dich hin und bringe es alles in Worte, dieses Gefühl von Qual und Schrecken und Einsamkeit. Schreib' es dir aus der Seele. »Ja!« rief er. Er rannte aus der Küche und versuchte, keine Notiz von der instinktiven Furcht zu nehmen, die ihn beherrschte. Er ließ auch die Drohung unbeachtet, von der die Luft erfüllt war. Ein Teppich rutschte. Er stieß ihn beiseite, setzte sich. Die Luft summte. Er riß den Deckel von der Schreibmaschine, saß nervös davor und starrte auf die Tasten. Der Augenblick vor dem Angriff! Er lag in der Luft. Aber es ist mein Angriff, dachte er triumphierend, mein Angriff gegen Dummheit und Furcht. 120
Er spannte einen Bogen in die Maschine und versuchte, seine brodelnden Gedanken zu ordnen. Das Wort »Schreibe!« erfüllte sein ganzes Sein. Schreibe! Jetzt! »Jetzt!« rief er. Er fühlte, wie der Schreibtisch ihn gegen die Schienbeine stieß. Ein flammender Schmerz durchfuhr ihn. In automatischer Wut versetzte er dem Schreibtisch Fußtritte. Mehr Schmerzen! Er trat wieder. Der Schreibtisch schlug zurück. Er schrie auf. Er hatte gesehen, daß er sich bewegte. * Er versuchte, zurückzurücken. Seine Wut war im Augenblick vergangen. Die Tasten bewegten sich unter seinen Händen, und seine Blicke folgten ihnen. Er hätte nicht sagen können, ob er die Tasten, oder ob sie sich selbst bewegten. Er zog hysterisch, um seine Finger wegzunehmen, doch gelang es ihm nicht. Die Tasten bewegten sich jetzt schneller, als seine Blicke ihnen folgen konnten. Es war ein richtiger Wirbel, den sie aufführten. Er fühlte, daß sie ihm die Haut von den Fingern rissen. Blut begann hervorzusickern. Er schrie auf und zog und bekam es fertig, seine Finger wegzuziehen. Als er sich im Sessel zurückfallen ließ, blieb seine Gürtelschnalle am Schreibtischschubfach hängen und riß es heraus. Es stieß ihn in den Leib, und er schrie wieder auf. Er griff nach dem Schubfach und wollte es wieder hineinschieben. Dabei sah er die gelben Bleistifte darin liegen. Seine Hand rutschte aus und fuhr in das Schubfach. 121
Einer der Bleistifte stach ihn. Er hielt die Spitzen immer sehr scharf. Es war wie der Biß einer Schlange. Er riß seine Hand mit schmerzhaftem Keuchen zurück, aber die Spitze war tief unter einen Nagel gedrungen und saß jetzt in rohem, empfindlichen Fleisch. Er schrie vor Wut und Schmerz und riß mit der anderen Hand an dem Bleistift, der auch herauskam, sich jedoch nun in seine Handfläche bohrte. Er konnte den Bleistift nicht loswerden, so sehr er daran zerrte. Der Bleistift zog schwarze, zackige Linien über seine Haut und riß sie dabei auf. Schließlich konnte er ihn durch das Zimmer schleudern. Er flog an die Wand, schien noch einen Sprung zu machen und lag dann still. Er verlor sein Gleichgewicht, und der Sessel fiel krachend nach hinten. Er selbst stieß mit dem Kopf gegen den Boden. Seine ausgestreckten Hände packten das Fensterbrett. Winzige Splitter bohrten sich wie unsichtbare Nadeln in seine Haut. Er heulte in tödlicher Furcht. Er stieß mit den Füßen. Die College-Hefte auf dem Schreibtisch ergossen sich über ihn wie die schlagenden Flügel wütender Vögel. Der Sessel richtete sich durch die Spannung seiner Federn von selbst wieder auf, und die schweren Räder rollten über seine rohen, blutigen Hände. Mit einem Schrei zog er sie zurück. Er hob ein Bein und gab dem Sessel einen Tritt, durch den er krachend gegen die Kaminverkleidung flog. Die Räder drehten sich und schnurrten wie ein Schwarm wütender Insekten. Er sprang auf, verlor abermals sein Gleichgewicht, stürzte und schlug schwer gegen das Fensterbrett. Der Vorhang fiel auf ihn wie eine Pythonschlange. Die Stangen 122
brachen und schlugen ihm auf den Kopf. Er drehte sich auf dem Fußboden. Warmes Blut lief ihm über die Stirn. Die Vorhänge legten sich wie Schlangen um ihn. Er schrie wieder und riß wild daran. Seine Augen strahlten Entsetzen aus. Er warf die Vorhänge beiseite, sprang auf und kämpfte schwankend um sein Gleichgewicht. Die Hände schmerzten höllisch. Er wollte sie verbinden und ging ins Badezimmer. Bei seinen ersten Schritten rutschte der Teppich unter ihm, derselbe, den er vorhin beiseitegestoßen hatte. Er fühlte, daß er stürzte, und versuchte, mit ausgestreckten Händen den Sturz zu mildern. Ein wilder Schmerz ließ seinen Körper wieder hochschnellen. Ein Finger brach. In die anderen Finger bohrten sich Splitter, und in einem Fußgelenk spürte er einen brennenden Schmerz. Er versuchte sich aufzurichten, aber der Fußboden war glatt wie Eis. Jetzt schwieg er vor Anstrengung, und sein Herz hämmerte in der Brust. Wieder versuchte er, aufzustehen, fiel jedoch abermals zurück und stöhnte vor Schmerz. Das Bücherregal neigte sich auf ihn zu. Er schrie auf und streckte einen Arm aus, um es zu stützen, doch es fiel krachend auf ihn. Das oberste Brett traf mit der Spitze seinen Kopf. Schwarze Wogen zogen über ihn hinweg; sein Kopf schmerzte irrsinnig. Bücher hatten ihn überschüttet. Er rollte sich stöhnend auf eine Seite und versuchte, unter allem hervorzukriechen. Mit schwachen Händen schob er die Bücher beiseite. Dabei gingen sie auf, und die Kanten der Seiten zerschnitten seine Finger wie Rasierklingen. Der Schmerz klärte seinen Kopf. Er setzte sich auf und 123
schleuderte die Bücher durchs Zimmer. Das Regal stieß er mit den Füßen an die Wand. Er stand auf, und das Zimmer drehte sich vor seinen Augen. Er stolperte gegen die Wand und versuchte sich festzuhalten. Die Wand drehte sich unter seinen Händen – so kam es ihm vor. Er konnte sich nicht festhalten, glitt auf die Knie und stieß sich von neuem nach oben. »Mich verbinden«, murmelte er heiser. Diese Absicht nahm ihn ganz und gar in Anspruch. Er schwankte durch das Wohnzimmer ins Badezimmer. Er blieb stehen. Nein! Geh aus dem Haus! Er wußte, daß es nicht sein Wille war, der ihm das eingab. Er wollte sich umdrehen, rutschte aber auf den Fliesen aus und stieß mit dem Ellbogen gegen eine Kante der Badewanne. Ein bohrender Schmerz fuhr ihm durch den Oberarm. Der Arm wurde gefühllos. Er ließ sich lang auf den Fußboden fallen und krümmte sich vor Schmerzen. Er setzte sich auf. Das Atmen machte ihm Mühe. Schließlich stieß er sich hoch, griff zu und machte die Tür des Badezimmerschränkchens auf. Sie flog gegen seine Wange und riß ihm eine Wunde. Sein Kopf fuhr zurück. Der Riß in der Decke sah plötzlich wie ein Lächeln in einem leeren, weißen, idiotischen Gesicht aus. Er senkte den Kopf und wimmerte vor Angst. Er wollte zurückgehen, griff jedoch erst nach Jod und Mull. Seine Hand kam mit dem Rasiermesser wieder zum Vorschein. Es bewegte sich in seiner Hand wie ein frisch gefangener Fisch. Er griff mit der anderen Hand hinein und faßte den Zahnreinigungsfaden, der sich wie ein endloser weißer Wurm aus seinem Behälter ziehen ließ. Er wickelte 124
sich ihm um Kehle und Schultern und erstickte ihn fast. Die lange, glänzende Klinge glitt aus der Scheide. Er konnte seine Hand nicht stillhalten. Sie zog das Rasiermesser schwer über seine Brust. Es zerschnitt das Hemd und grub eine tiefe Wunde in seine Brust. Blut sprang hinaus. Er versuchte, das Rasiermesser wegzuwerfen. Es blieb an seiner Hand wie festgeklebt. Es zerfleischte ihn, Arme, Hände, Beine und Körper. Dann geriet es an seine Kehle. Ein Schrei äußersten Entsetzens brach von seinen Lippen. Er rannte aus dem Badezimmer und schwankte wild ins Wohnzimmer. »Sally!« schrie er. »Sally, Sally, Sally ...« Die Rasierklinge drückte auf seine Kehle. Das Zimmer wurde dunkel. Sein Leben verströmte in die Dunkelheit. * Am nächsten Tag kam Dr. Morton. Er holte die Polizei, und später schrieb der Coroner in seinem Untersuchungsbericht: Starb an Wunden, die er sich selbst zugefügt hat.
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Das Verschwinden Mit den hier veröffentlichten Notizen war ein Schulheft vollgekritzelt, das vor vierzehn Tagen in einem Café in Brooklyn gefunden wurde. Daneben stand eine zur Hälfte ausgetrunkene Tasse Kaffee. Die Bedienung gab an, daß seit über zwei Stunden kein Gast mehr an dem Tisch gesessen habe, bevor das Heft ihre Aufmerksamkeit erregte. SAMSTAGMORGEN, sehr früh: Ich sollte das alles gar nicht niederschreiben. Was ist, wenn Mary es zufällig entdeckt? Was dann? Bestimmt das Ende, fünf Jahre vergeudet. Aber ich muß es aufschreiben. Ich habe schon zu lange geschrieben. Ich finde keinen Frieden, wenn ich es nicht zu Papier bringen kann. Nur dann erscheint alles vielleicht logisch und einfach. Aber es ist so schwer, die Dinge zu vereinfachen – und so leicht, sie zu komplizieren. Ich denke an die vergangenen Monate zurück. Womit hat es angefangen? Selbstverständlich mit einem Streit. Wir müssen uns im Lauf unserer Ehe schon Tausende von Malen gestritten haben. Und immer aus dem gleichen Anlaß, das ist so schrecklich daran. Geld. »Es handelt sich nicht darum, ob ich Vertrauen zu deinen schriftstellerischen Fähigkeiten habe«, sagte Mary bei solchen Gelegenheiten. »Es handelt sich um Rechnungen – bezahlen wir sie jetzt endlich oder nicht?« »Rechnungen? Wofür denn?« antwortete ich. »Für wirklich wichtige Dinge? Nein. Für lauter unsinnige 126
Anschaffungen!« »Unsinnige Anschaffungen!« Und dann ging es los. Mein Gott, wie unmöglich ist doch ein Leben ohne Geld. Nie kommt man darüber hinweg, weil man immer daran denkt. Wie kann ich in Ruhe schreiben, wenn ich nur einen klaren Gedanken fassen kann – Geld, Geld, Geld? Der Fernsehapparat, der Kühlschrank, die Waschmaschine – alles noch nicht bezahlt. Und das Bett, das sie sich wünscht ... Aber trotzdem mache ich alles nur noch schlimmer, weil ich mich wie ein Vollidiot benehme. Warum mußte ich auch damals wütend die Tür unseres Appartements hinter mir zuknallen und fortgehen? Zugegeben, wir hatten uns gestritten, aber es war doch nicht unser erster Krach. Gekränkte Eitelkeit, das war der wirkliche Grund. Obwohl ich bereits seit sieben – sieben! – Jahren Romane schreibe, habe ich erst dreihundertsechzehn Dollar damit verdient. Und ich arbeite noch immer abends als miserabel bezahlte Aushilfsschreibkraft. Und Mary muß in demselben Büro weiterarbeiten. Gott weiß, daß sie allen Anlaß hat, an meiner Begabung zu zweifeln. Sie hat völlig recht, wenn sie darauf besteht, daß ich die Stellung annehme, die Jim mir bei seinem Magazin angeboten hat. Alles hängt von mir ab. Ich müßte nur zugeben, daß ich weniger Talent habe, als ich dachte, und den richtigen Entschluß fassen, damit alles wieder gut wird. Keine Nachtarbeit mehr. Mary könnte zu Hause bleiben, was nur recht und billig wäre. Außerdem wünscht sie es sich schon lange. Der richtige Entschluß – das genügt bereits. Ich habe also den falschen gefaßt ... Als ob ich etwas dafür könnte! Ich bin mit Mike ausgegangen. Als wir schon einen 127
sitzen hatten, trafen wir Jean und Sally. Seit Wochen wollen wir nicht wahrhaben, daß wir uns wie Trottel aufführen, obwohl wir es genau wissen. Wir genießen die neue Erfahrung. Spielen die Rolle von zwei Eseln bis zur Vollendung. Und gestern abend gingen wir beide – zwei verheiratete Männer – mit den Mädchen in ihr gemeinsames Appartement und ... Kann ich es nicht sagen? Bin ich zu ängstlich, zu schwach? Narr! Ehebrecher. Wie konnte es nur so weit kommen? Ich liebe Mary. Ich liebe sie wirklich. Und trotzdem – obwohl ich sie liebe – habe ich es getan. Dabei wird alles nur noch dadurch komplizierter, daß ich es schön fand. Jean ist liebenswürdig und verständnisvoll, leidenschaftlich, eine Art Symbol für glücklichere Jugendzeiten. Es war wunderschön. Ich mußte lügen, wenn ich behaupten wollte, daß es nicht schön gewesen sei. Aber wie kann das Schlechte schön sein? Wie kann Grausamkeit begeisternd sein? Alles ist verdreht, die alten Maßstäbe haben ihren Sinn verloren. SAMSTAGNACHMITTAG: Sie hat mir verziehen, Gott sei Dank. Ich werde Jean nie wiedersehen. Alles ist wieder in Ordnung. Heute morgen setzte ich mich auf Marys Bettrand und weckte sie vorsichtig. Sie schrak auf und starrte den Wecker an. Sie hatte geweint. »Wo bist du gewesen?« fragte sie mit der leisen Stimme, die sie immer hat, wenn sie sich vor etwas fürchtet. »Bei Mike«, log ich. »Wir haben die ganze Nacht 128
hindurch getrunken und miteinander geredet. Lauter dummes Zeug.« Sie starrte mich noch immer an. Dann nahm sie langsam meine Hand und preßte sie gegen ihre Wange. »Es tut mir alles so leid«, sagte sie mit Tränen in den Augen. Ich mußte meinen Kopf an ihre Schulter legen, damit sie mein Gesicht nicht sehen konnte. »Oh, Mary«, sagte ich. »Mir tut es auch leid.« Ich werde es ihr nie sagen. Sie bedeutet mir zuviel. Ich darf sie nicht verlieren. SAMSTAGABEND: Heute nachmittag sind wir in Mandels Möbelgeschäft gegangen und haben ein neues Bett gekauft. »Wir können uns aber kein neues leisten, Liebling«, protestierte Mary. »Laß das meine Sorge sein«, beruhigte ich sie. »Du weißt selbst, wie unbequem das andere ist. Ich will, daß mein Schatz weich schläft.« Sie küßte mich impulsiv. Dann ließ sie sich begeistert auf die Matratze fallen und wippte wie ein Kind darauf herum. »Oh, sieh doch, wie weich!« rief sie dabei aus. Alles ist wieder in Ordnung. Alles – bis auf die unbezahlten Rechnungen und Mahnungen, die heute im Briefkasten lagen. Alles – bis auf meine letzte Kurzgeschichte, für die ich keinen richtigen Anfang finde. Alles – bis auf meinen Roman, den bisher fünf Verlage abgelehnt haben. Burney & Sohn muß ihn annehmen. Sie haben ihn lange genug behalten. Ich rechne fest damit. Meine Schreiberei ist doch nicht sinnlos. Alles wird 129
klappen. Aber trotzdem fühle ich mich wie eine bis zum äußersten gespannte Feder. Nur gut, daß Mary nichts davon weiß. SONNTAGABEND: Mehr Sorgen. Ein neuer Krach. Ich könnte nicht einmal den Grund dafür angeben. Sie schmollt. Ich bin wütend. Ich kann nicht schreiben, wenn ich mich ärgere. Sie weiß es genau. Am liebsten möchte ich Jean anrufen. Sie interessierte sich wenigstens für meine Arbeit. Warum werfe ich den Krempel nicht einfach hin? Ich könnte mich besaufen, von einer Brücke herunterspringen – irgend etwas. Kein Wunder, daß Babies glücklich sind. Für sie ist das Leben einfach. Ein wenig Hunger, ein wenig Kälte, manchmal Angst vor der Dunkelheit. Sonst nichts. Warum muß man überhaupt erwachsen werden? Das Leben wird viel zu kompliziert. Mary hat mich gerade zum Abendessen gerufen. Ich habe keinen Appetit. Ich will auch nicht zu Hause herumsitzen. Vielleicht rufe ich Jean später doch noch an. Nur um Guten Tag zu sagen. MONTAGMORGEN: Der Teufel soll die Verleger holen! Zuerst behalten sie mein Buch über ein Vierteljahr lang. Aber das ist noch nicht schlimm genug, o nein! Sie müssen unbedingt Kaffee über das Manuskript schütten und mir dann einen gedruckten Wisch beilegen, auf dem steht, daß der Verlag »bedauert« ... Ich möchte sie in die Luft sprengen! Ob die Kerle eigentlich wissen, was sie mir damit angetan haben? 130
Mary sah den Zettel. »Was nun?« fragte sie angewidert. Ich versuchte mich zu beherrschen. »Glaubst du immer noch an dein schriftstellerisches Talent?« fragte sie. Ich konnte mich nicht länger beherrschen. »Oh, du meinst also, daß diese Halunken zu einem Urteil über meinen Roman berufen sind, was?« schrie ich los. »Sie haben sozusagen das Urteil in letzter Instanz bestätigt, wie?« »Du schreibst seit sieben Jahren«, warf sie ein. »Bisher ohne Erfolg.« »Und ich werde noch sieben schreiben«, sagte ich. »Hundert, tausend Jahre lang, wenn es sein muß!« »Willst du nicht endlich den Job annehmen, den Jim dir angeboten hat?« »Nein, ich denke nicht daran.« »Du hast gesagt, daß du es tun würdest, wenn der Roman diesmal wieder zurückkommt.« »Ich habe einen Job«, antwortete ich, »und du hast einen Job – so ist es und wird es auch bleiben.« »Aber ich werde mich nicht damit abfinden«, fuhr sie auf. Vielleicht läuft sie fort. Wen kümmert das schon! Ich habe ohnehin alles gründlich satt. Rechnungen, Rechnungen. Tagelang an der Schreibmaschine. Mißerfolge, Mißerfolge, Mißerfolge! Und das Leben geht weiter seinen Gang, spielt mit den Menschen, wie ein Kind mit Bauklötzen, die man achtlos durcheinanderwirft, wenn man keine Lust zum Spielen mehr hat. »Du! Der du unser Schicksal lenkst, der du das Universum in Bewegung hältst. Ob mir jemand Gehör schenkt? Mache die Welt und das Leben einfacher! Ich 131
glaube an nichts, aber ich würde alles geben! Wenn ich nur ...« Oh, was soll das? Mir ist alles so gleichgültig geworden. Heute abend rufe ich Jean an. MONTAGNACHMITTAG: Ich bin eben unten gewesen, um Jean wegen Samstagabend anzurufen. Mary ist an dem Abend bei ihrer Schwester eingeladen. Sie hat mich nicht gefragt, ob ich mitkomme, deshalb werde ich bestimmt nichts davon erwähnen. Ich habe Jean gestern abend angerufen, aber die Telefonistin im Stanley Club sagte, daß sie ausgegangen sei. Ich überlegte mir, daß ich sie heute im Büro erreichen könnte. Deshalb ging ich in den nächsten Drugstore, um ihre Nummer im Telefonbuch nachzuschlagen. Eigentlich hätte ich sie auswendig wissen müssen. Ich habe sie schon oft genug angerufen. Aber irgendwie habe ich sie mir nie zu merken versucht. Wozu denn auch, schließlich gibt es überall Telefonbücher. Sie arbeitet für ein Magazin, das Design Handbook oder Designer's Handbook oder so ähnlich heißt. Seltsam, daß ich mich daran auch nicht mehr erinnere. Wahrscheinlich habe ich mich nie sehr damit befaßt. Ich erinnere mich aber noch an die Redaktion, weil ich Jean dort vor einigen Wochen zum Lunch abgeholt habe. Damals habe ich Mary gesagt, daß ich in der Bibliothek sei. Ich weiß bestimmt, daß die Telefonnummer der Magazinredaktion in der rechten oberen Ecke auf einer der rechten Seiten des Telefonbuchs stand. Ich habe sie schon 132
Dutzende von Malen nachgeschlagen, und immer stand sie dort. Nur heute nicht. Ich fand das Wort Design und verschiedene Firmen, deren Namen damit anfingen. Aber sie alle standen auf der linken Seite links unten – also genau entgegengesetzt. Und ich las keinen einzigen Namen, der mir bekannt vorgekommen wäre. Sonst überfliege ich die Einträge nur, bis ich das Magazin gefunden habe. Dann sehe ich die Nummer nach. Aber heute war es anders. Ich suchte und suchte und blätterte in dem Buch herum, ohne etwas zu finden, was wie Design Handbook ausgesehen hätte. Schließlich gab ich mich mit der Nummer des Design Magazine zufrieden, obwohl ich ahnte, daß das nicht stimmen konnte. Ich ... ich muß später weiterschreiben. Mary hat mich eben zum Essen gerufen. Zum Mittagessen, zum Abendessen? Jedenfalls zu dem einzigen warmen Essen, nachdem wir beide abends arbeiten. SPÄTER: Das Essen war ausgezeichnet. Mary ist eine erstklassige Köchin. Wenn wir nur nicht immer Krach miteinander hätten. Ob Jean kochen kann? Jedenfalls hat mich das Essen etwas beruhigt. Ich hatte es auch nötig. Ich war wegen des Anrufs ziemlich nervös. Ich wählte die Nummer. Eine Frauenstimme meldete sich. »Design Magazine«, sagte sie. »Ich möchte mit Miss Lane sprechen, bitte«, erklärte ich ihr. »Mit wem?« 133
»Miss Lane.« »Einen Augenblick«, antwortete sie. Und ich wußte, daß ich die falsche Nummer erwischt hatte. Sonst war ich immer sofort verbunden worden. »Wie war bitte der Name?« fragte sie. »Miss Lane. Wenn Sie sie nicht kennen, muß ich die falsche Nummer gewählt haben.« »Vielleicht meinen Sie Mr. Payne?« »Nein, nein. Sonst bin ich immer sofort verbunden worden. Ich muß falsch gewählt haben. Entschuldigen Sie.« Ich hängte auf. Ich war völlig durcheinander. Ich hatte die Nummer schon so oft nachgeschlagen, daß ich sie hätte kennen müssen. Und jetzt kann ich sie nicht finden. Selbstverständlich gab ich nicht gleich auf. Ich überlegte mir, daß das Telefonbuch in dem Drugstore veraltet sein müsse. Deshalb ging ich ein paar Straßen weiter zu dem nächsten. Dort lag dasselbe Buch aus. Nun, dann muß ich sie eben heute abend vom Büro aus anrufen. Aber ich wollte sie möglichst bald erreichen, damit sie sich nicht mit jemand anderem für Samstag verabredet. Eben ist mir etwas eingefallen. Die Telefonistin. Ihre Stimme. Es war die gleiche, die sich sonst meldete, wenn ich bei Design Handbook anrief. Aber ... Ach, ich bilde mir alles nur ein. MONTAGABEND: Ich rief im Stanley Club an, während Mary unten war und Kaffee für uns alle holte. Ich gebrauchte den gleichen Satz, den ich bereits 134
Dutzende von Malen gesagt hatte. »Ich möchte bitte mit Miss Laue sprechen.« »Sofort, Sir«, antwortete die Telefonistin. Dann herrschte ein langes Schweigen. Ich wurde allmählich ungeduldig. Schließlich meldete die Stimme sich wieder. »Wie war der Name, bitte?« fragte sie. »Miss Lane, Miss Lane«, sagte ich. »Ich habe sie schon oft angerufen.« »Ich werde noch einmal auf der Liste nachsehen«, versprach sie. Ich wartete noch etwas länger. Dann hörte ich ihre Stimme wieder. »Tut mir leid, Sir. Aber unter diesem Namen ist hier niemand aufgeführt.« »Aber ich habe sie doch schon oft dort angerufen.« »Wissen Sie bestimmt, daß Sie die richtige Nummer haben?« »Ja, ja, ganz sicher. Dort ist doch der Stanley Club, oder?« »Richtig.« »Dort wollte ich auch anrufen.« »Ich weiß nicht recht, was ich Ihnen sagen soll«, meinte sie zweifelnd. »Ich kann nur wiederholen, daß hier ganz bestimmt niemand wohnt, der so heißt.« »Aber ich habe doch erst gestern abend angerufen! Sie sagten mir, daß Miss Lane ausgegangen sei.« »Tut mir leid, aber daran kann ich mich nicht erinnern.« »Bestimmt nicht? Ganz sicher nicht?« »Wenn Sie es unbedingt möchten, kann ich die Liste noch einmal durchsehen. Aber ich weiß, daß dieser Name nicht darauf steht.« 135
»Könnte sie nicht vor kurzem ausgezogen sein?« »Seit mindestens einem Jahr ist bei uns kein Appartement mehr frei geworden. Sie wissen doch, wie knapp Wohnungen in New York sind.« »Ja, ich weiß«, sagte ich und legte auf. Ich ging an meinen Schreibtisch zurück. Mary hatte längst Kaffee geholt. Sie sagte mir, daß meiner bereits kalt sei. Ich erzählte ihr, daß ich Jim wegen des Jobs angerufen hätte. Das war eine ungeschickte Lüge. Jetzt wird sie wieder davon anfangen. Ich trank meinen Kaffee und schrieb einige Zeit. Aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich dachte angestrengt nach. Sie muß irgendwo sein, überlegte ich. Ich weiß, daß ich mir nicht alles eingebildet haben kann. Ich weiß, daß ich mir nicht eingebildet haben kann, ich müßte alles vor Mary geheimhalten. Und ich weiß, daß Mike die gleichen Schwierigkeiten wegen Sally ... Sally! Sally wohnte ebenfalls im Stanley Club. Ich sagte Mary, daß ich Kopfschmerzen hätte und mir ein paar Aspirin holen wollte. Sie meinte, daß sie in der Toilette eine Röhre voll liegen gesehen habe. Ich erklärte ihr, daß ich von dieser Art Tabletten immer Sodbrennen bekäme. Daß mir nur so lächerliche Ausreden einfallen! Ich rannte zu dem nächsten Drugstore. Natürlich wollte ich nicht noch einmal vom Büro aus telefonieren. Die gleiche Telefonistin meldete sich. »Könnte ich mit Miss Sally Norton sprechen?« fragte ich. »Einen Augenblick, bitte«, antwortete sie, und ich mußte mich gegen die Wand der Telefonzelle lehnen. Sonst wußte sie die Namen aller Mitglieder sofort und stellte die 136
Verbindung ohne zu fragen her. Und Sally und Jean wohnten seit mindestens zwei Jahren dort. »Tut mir leid, Sir«, sagte sie. »Hier wohnt keine Miss Norton.« »Mein Gott ...«, stöhnte ich. »Ist etwas nicht in Ordnung?« erkundigte sie sich. »Weder Jean Lane noch Sally Norton wohnen dort?« »Sind Sie der Herr, der vorher schon einmal angerufen hat?« »Ja.« »Hören Sie zu, wenn Sie sich einen schlechten Spaß erlauben wollen ...« »Ein Spaß! Gestern abend habe ich angerufen. Sie sagten mir, daß Miss Lane ausgegangen sei, und fragten, ob Sie etwas ausrichten könnten. Ich lehnte dankend ab. Dann rufe ich heute noch einmal an – und Sie behaupten, daß bei Ihnen keine Miss Lane wohnt.« »Tut mir leid, Sir. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Ich hatte gestern abend Dienst, aber ich erinnere mich nicht an Ihren Anruf. Wenn Sie wünschen, kann ich Sie mit dem Manager verbinden.« »Nein, danke schön«, sagte ich und hängte auf. Dann wählte ich Mikes Nummer. Aber er war nicht zu Hause. Seine Frau Gladys nahm den Anruf entgegen und sagte mir, daß Mike zum Kegeln gegangen sei. Ich war reichlich nervös, sonst hätte ich nicht so dumm gefragt. »Mit seinen Freunden?« fragte ich sie. Sie schien ein bißchen eingeschnappt. »Na, ich hoffe es wenigstens«, antwortete sie. Ich beginne Angst zu haben.
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DIENSTAGABEND: Ich habe Mike heute abend wieder angerufen. Ich habe mich nach Sally erkundigt. »Wer?« »Sally.« »Welche Sally?« fragte er. »Du weißt genau, welche Sally ich meine, du alter Heuchler!« »Was soll das alles? Willst du dir einen Witz mit mir machen?« meinte er. »Vielleicht«, sagte ich. »Warum redest du nicht endlich vernünftig?« »Am besten fangen wir noch einmal von vorn an«, schlug er vor. »Wer, zum Teufel, ist diese komische Sally?« »Kennst du keine Sally Norton?« »Nein. Wer ist das überhaupt?« »Warst du nie zusammen mit ihr, Jean Lane und mir aus?« »Jean Lane! Wovon sprichst du eigentlich?« »Du kennst also auch keine Jean Lane?« »Nein, bestimmt nicht! Du treibst es allmählich zu weit. Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst, aber sehr witzig ist es jedenfalls nicht. Als verheiratete Männer ...« »Hör zu!« schrie ich in den Apparat. »Wo warst du am Samstagabend vor drei Wochen?« Er schwieg einen Augenblick. »War das nicht der Abend, an dem wir zusammen bei mir saßen, während Mary und Gladys sich die Modenschau im ...« »Allein bei dir? Waren wir allein? Niemand außer uns?« »Wer denn?« 138
»Keine Mädchen? Sally? Jean?« »Oh, jetzt fängst du schon wieder damit an«, stöhnte er. »Menschenskind, was ist denn nur mit dir los? Kann ich dir irgendwie helfen?« Ich mußte mich an dem Telefon festhalten. »Nein«, sagte ich mit schwacher Stimme. »Nein.« »Was fehlt dir denn? Du bist ganz aufgeregt!« Ich hängte wortlos auf. Ich bin völlig durcheinander. Ich habe das Gefühl, als sei ich am Verhungern – und nirgends auf der ganzen weiten Welt gibt es Brot, das mich davor bewahren könnte. Was soll ich nur tun? MITTWOCHNACHMITTAG: Es gab nur ein Mittel, um zuverlässig herauszubekommen, ob Sally und Jean wirklich verschwunden waren. Ich hatte Jean durch einen Freund aus meiner Collegezeit kennengelernt. Sie stammt aus Chicago, wo auch mein Freund wohnt. Von ihm habe ich ihre Adresse in New York – den Stanley Club. Selbstverständlich wußte Dave nicht, daß ich verheiratet bin. Ich besuchte also Jean und ging mit ihr aus, und mein Freund Mike ging mit ihrer Freundin Sally aus. So war es, das weiß ich bestimmt. Deshalb schrieb ich heute einen Brief an Dave. Ich berichtete ihm alles. Ich bat ihn, er solle sich bei ihren Eltern erkundigen und mir dann mitteilen, ob alles ein Witz oder nur ein Zufall gewesen war. Dann nahm ich mein Adreßbuch aus der Schublade. Daves Name steht nicht mehr darin. Werde ich allmählich verrückt? Ich weiß genau, daß 139
seine Adresse darin stand. Ich erinnere mich sogar noch an den Abend vor Jahren, als ich sie groß und deutlich eintrug, weil ich die Verbindung zu ihm nicht abreißen lassen wollte, nachdem wir das College hinter uns hatten. Ich erinnere mich sogar noch an den Tintenfleck, den ich machte, weil mein Füllfederhalter undicht war. Die Seite ist leer. Ich erinnere mich an seinen Namen, sein Aussehen, seine Redeweise, unsere gemeinsamen Erlebnisse, die Vorlesungen, die wir beide besuchten. Ich hatte sogar noch einen Brief von ihm, den er mir während der Osterferien geschrieben hatte. Ich erinnere mich, daß Mike damals bei mir war. Unsere Eltern lebten nämlich in New York, deshalb konnten wir nicht wie die anderen nach Hause fahren, weil die Ferien zu kurz waren. Aber Dave war nach Chicago gefahren und schickte uns von dort aus einen verrückten Brief. Sogar per Eilboten. Ich weiß noch, wie wir lachten, als wir sahen, daß Dave den Umschlag mit Kerzenwachs versiegelt hatte. Der Brief ist aus der Schublade verschwunden, in der ich ihn aufbewahrt hatte. Und ich hatte zwei Photographien, die Dave nach bestandenem Abschlußexamen zeigten. Beide hatte ich in mein Album eingeklebt. Sie sind noch darin ... Aber er ist nicht darauf zu sehen. Die Bilder zeigen nur einige Bäume und im Hintergrund einen Teil des Hörsaalgebäudes. Ich fürchte mich vor weiteren Nachforschungen. Ich könnte an das College schreiben oder dort anrufen, um zu erfahren, ob Dave jemals dort gewesen ist. Aber ich habe vor dem Versuch Angst.
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DONNERSTAGNACHMITTAG: Heute bin ich nach Hempstead hinausgefahren, um Jim aufzusuchen. Ich ging in sein Büro. Er schien überrascht, als ich hereinkam. Er wollte wissen, aus welchem Grund ich so weit gefahren Trauungszeremonie die Kirchentüren geschlossen hielt. »Du willst doch nicht etwa den Job annehmen, den ich dir angeboten habe?« meinte er lächelnd. Ich schüttelte den Kopf. »Jim, kannst du dich daran erinnern, daß ich dir gegenüber jemals ein Mädchen namens Jean erwähnt habe, das in New York wohnt?« fragte ich. »Jean? Nein, ich glaube nicht.« »Was soll das, Jim? Ich weiß, daß ich dir von ihr erzählt habe. Weißt du noch, wie wir beide zusammen mit Mike gepokert haben? Damals habe ich sie erwähnt.« »Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, Bob«, antwortete er. »Was ist denn mit ihr?« »Ich finde sie einfach nicht wieder. Und ich finde auch das andere Mädchen nicht, mit dem Mike ausgegangen ist. Und Mike streitet ab, jemals etwas mit Jean oder ihrer Freundin zu tun gehabt zu haben.« Jim sah mich verständnislos an, deshalb wiederholte ich meine Geschichte. »Was soll ich davon halten?« fragte er. »Zwei alte Ehemänner treiben sich nachts mit irgendwelchen Mädchen herum, die ...« »Langsam, nicht so voreilig«, unterbrach ich ihn. »Alles halb so schlimm. Ich habe ihre Bekanntschaft durch einen Freund aus meiner Collegezeit gemacht. Du brauchst nicht auf komische Ideen zu kommen.« »Gut, ausgezeichnet, lassen wir das. Aber was habe ich damit zu tun?« 141
»Ich finde sie nicht wieder. Sie sind spurlos verschwunden. Ich kann nicht einmal beweisen, daß sie je existiert haben.« Er zuckte mit den Schultern. »Und?« Dann fragte er, ob Mary davon wisse. Ich überging seine Frage. »Habe ich Jean nie in einem Brief erwähnt?« erkundigte ich mich. »Kann ich nicht sagen. Ich hebe Briefe nie auf.« Ich ging bald darauf. Er wurde zu neugierig. Ich weiß, was daraus geworden wäre. Er sagt es seiner Frau, seine Frau erzählt es Mary weiter – ein Riesenkrach. Als ich heute nachmittag zur Arbeit fuhr, hatte ich plötzlich das fürchterliche Gefühl, ich sei sehr vergänglich. Als ich mich setzte, schien ich auf Luft zu sitzen. Wie ein körperloses Wesen, dachte ich. Wahrscheinlich schnappe ich bald über. Weil ich absichtlich einen alten Mann anrempelte, um festzustellen, ob er mich sehen oder fühlen würde. Er drehte sich wütend um und nannte mich einen rücksichtslosen Trottel. Ich war ihm dankbar dafür. DONNERSTAGABEND: Heute abend rief ich Mike vom Büro aus an, um ihn zu fragen, ob er sich noch an Dave erinnerte, mit dem wir auf dem College gewesen waren. Das Telefon klingelte, dann ertönte das Besetztzeichen. Das Fräulein vom Amt schaltete sich ein. »Welche Nummer haben Sie gewählt, Sir«, fragte sie. Auf meiner Stirn brach der kalte Schweiß aus. Ich nannte die Nummer. Sie sagte mir, daß es diese Nummer nicht gebe. Der Hörer fiel mir aus der Hand und knallte auf den 142
Boden. Mary stand von ihrem Schreibtisch auf und sah zu mir herüber. Die Telefonistin sagte: »Hallo, hallo, hallo ...« Ich legte den Hörer so schnell wie möglich auf die Gabel. »Was war denn los?« erkundigte Mary sich, als ich an meinen Schreibtisch zurückkam. »Der Hörer ist mir aus der Hand gefallen«, antwortete ich. Ich saß und schrieb und zitterte vor Kälte. Ich fürchte mich davor, Mary von Mike und seiner Frau Gladys zu erzählen. Ich furchte mich davor, daß sie sagen wird, sie habe noch nie etwas von diesen beiden gehört. FREITAG: Heute habe ich die Sache mit dem Design Handbook überprüft. Von der Telefonauskunft war nur zu erfahren, daß es ein Magazin dieses Namens in New York nicht gebe. Aber ich fuhr trotzdem in die Stadt. Mary war deswegen böse. Aber ich mußte mich selbst überzeugen. Ich ging zu dem Gebäude. Ich las die Firmenschilder neben dem Aufzug. Obwohl ich ahnte, daß ich die Redaktion des Magazins hier nicht finden würde, war es doch ein Schock, als ich sah, daß ich damit recht hatte. Mir war schwindlig, als ich mit dem Aufzug nach oben fuhr. Ich hatte das Gefühl, als entfernte ich mich immer weiter von der Wirklichkeit. Ich stieg im dritten Stock an genau der gleichen Stelle aus, an der ich damals auf Jean gewartet hatte. Dort befand sich das Büro einer Textilgroßhandlung. »War hier nicht früher einmal die Redaktion eines Magazins?« fragte ich die Empfangsdame. »Nein, Sir, ich kann mich an keine erinnern«, antwortete 143
sie. »Ich bin allerdings erst seit drei Jahren hier.« Ich fuhr nach Hause. Ich sagte Mary, daß mir nicht gut sei, und daß ich heute nicht arbeiten könne. Sie hatte nichts dagegen und meinte, daß sie in diesem Fall auch nicht gehen wolle. Ich ging in das Schlafzimmer hinüber, weil ich allein sein wollte. Ich stand an der Stelle, wo das neue Bett aufgestellt werden soll, wenn es nächste Woche geliefert wird. Mary kam herein. Sie lehnte sich gegen die Tür. »Bob, was ist mit dir?« fragte sie. »Willst du es mir nicht einfach sagen?« »Nichts«, gab ich zurück. »Bitte, sei doch nicht so eigensinnig und verschlossen«, sagte sie. »Ich weiß, daß du dir Sorgen machst.« Ich wollte auf sie zugehen. Dann wandte ich mich plötzlich ab. »Ich ... ich muß einen Brief schreiben«, erklärte ich ihr. »An wen?« Ich fuhr auf. »Das geht dich nichts an«, meinte ich wütend. Dann sagte ich ihr, daß ich an Jim schreiben wollte. Sie strich sich die Haare aus der Stirn. »Ich wünschte, ich könnte dir glauben«, flüsterte sie. »Was soll das wieder heißen?« fragte ich. Sie warf mir einen langen Blick zu, bevor sie sich umdrehte, um hinauszugehen. »Richte Jim einen schönen Gruß von mir aus«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte. Mir lief unwillkürlich ein kalter Schauer über den Rücken, als sie den Namen so seltsam betonte. Ich setzte mich an den Tisch und schrieb den Brief an Jim. Ich überlegte mir, daß er mir vielleicht helfen konnte. 144
Mein Lage war zu verzweifelt, als daß ich sie noch hätte geheimhalten dürfen. Ich berichtete ihm, daß Mike verschwunden war. Ich fragte ihn, ob er sich an Mike erinnere. Eigenartig. Mein Hand zitterte kaum. Vielleicht ist das immer so, wenn man schon fast hinüber ist. SAMSTAG: Mary mußte heute morgen einen dringenden Geschäftsbrief aufnehmen. Sie fuhr schon früh in die Stadt. Nach dem Frühstück holte ich das Bankbuch aus der Stahlkassette im Kleiderschrank. Ich wollte zur Bank gehen und dort das Geld für das Bett abheben. In der Schalterhalle füllte ich eine Empfangsquittung über siebenundneunzig Dollar aus. Dann stellte ich mich an und gab dem Kassierer das Buch und die Quittung. Er schlug es auf und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Soll das ein Witz sein?« erkundigte er sich. »Was wollen Sie damit sagen?« Er schob mir das Buch zu. »Der nächste, bitte«, sagte er. Ich muß wohl lauter als gewöhnlich gesprochen haben. »He, machen Sie keinen Unsinn!« Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete ich, wie einer der Angestellten von seinem Schreibtisch hinter den Schaltern aufsprang und herankam. Eine Dame hinter mir sagte: »Würden Sie mich bitte an den Schalter lassen?« Der andere stand unterdessen neben mir. »Sind Sie mit uns nicht zufrieden, Sir? Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte er. »Der Kassierer will mir nichts auszahlen«, berichtete ich. Er bat mich um das Buch, und ich gab es ihm. Er öffnete 145
es. Dann sah er überrascht auf. Er sprach sehr ruhig. »Das Buch enthält keinerlei Eintragungen.« Ich griff danach und blätterte die Seiten aufgeregt durch. Es enthielt wirklich keine. »Mein Gott ...«, stöhnte ich. »Vielleicht können wir Ihr Guthaben an Hand der Nummer des Buchs feststellen«, schlug der Mann vor. »Wollen Sie nicht einen Augenblick mit an meinen Schreibtisch kommen?« Aber das Buch trug keine Nummer. Das sah ich ganz deutlich. Und ich spürte, daß mir die Tränen in die Augen stiegen. »Nein«, sagte ich. »Nein.« Ich ging an ihm vorbei auf den Ausgang zu. »Einen Augenblick, Sir«, rief er hinter mir her. Ich rannte hinaus und rannte bis nach Hause. Ich wartete im Wohnzimmer auf Marys Rückkehr. Ich warte noch jetzt. Ich blättere das Bankbuch durch. Und starre auf die Linie, über der unsere Unterschriften standen. Auf die Seiten, die unsere Einzahlungen enthielten. Fünfzig Dollar von ihren Eltern zum ersten Hochzeitstag. Zweihundertdreißig Dollar aus einer Versicherungsrückzahlung. Zwanzig Dollar hier, zehn Dollar dort. Keine Eintragung. Alles und alle verschwinden. Jean. Sally. Mike. Namen gehen in Rauch auf, und die Menschen mit ihnen. Jetzt das hier. Was kommt als nächstes? SPÄTER: Ich weiß es. Mary ist nicht nach Hause gekommen. 146
Ich habe im Büro angerufen. Sam antwortete, und ich fragte ihn, ob Mary dort sei. Er sagte, daß ich mich in der Nummer geirrt haben müsse, denn hier arbeite keine Mary. Ich nannte meinen Namen. Dann fragte ich ihn, ob ich dort arbeite. »Laß den Unsinn«, protestierte er. »Montag sehen wir uns wieder.« Ich rief alle Verwandten an – meine Kusine, meine Schwester, ihren Vetter, ihre Schwester, ihre Eltern. Keine Antwort. Das Telefon klingelt nicht einmal. Keine der Nummern scheint es überhaupt zu geben. Dann sind sie also alle verschwunden. SONNTAG: Ich weiß nicht, was ich tun soll. Den ganzen Tag über habe ich am Fenster des Wohnzimmers gesessen und auf die Straße hinausgestarrt. Ich wollte sehen, ob dort zufällig jemand vorbeigeht, den ich kenne. Ohne Erfolg. Alles nur Fremde. Ich bringe nicht genügend Mut auf, um das Haus zu verlassen. Schließlich ist mir sonst nichts mehr geblieben. Die Möbel und unsere Kleidungsstücke. Meine Garderobe, meine ich. Ihr Schrank ist leer. Ich habe heute morgen nach dem Aufstehen hineingesehen, und sämtliche Kleider waren verschwunden. Es ist wie ein Zauberkunststück, in dem alles verschwindet ... Ich lachte nur. Ich muß ziemlich ... Ich rief das Möbelgeschäft an. Es ist auch an Sonntagnachmittagen geöffnet. Der Mann am Telefon sagte, daß kein Bett auf meinen Namen bestellt worden sei. Ob ich nicht kommen und mich selbst überzeugen möchte? Ich legte auf und starrte weiter aus dem Fenster. 147
Ich überlegte, ob ich nicht meine Tante in Detroit anrufen sollte. Aber ich kann mich nicht mehr an die Nummer erinnern. Und sie steht auch nicht mehr in meinem Adreßbuch. Alle Seiten sind jetzt leer. Nur mein Name auf dem Umschlag ist übriggeblieben. Er ist in Gold geprägt. Mein Name. Nur mein Name. Was soll ich sagen? Was kann ich tun? Alles ist so einfach. Mir bleibt nichts zu tun. Ich habe das Fotoalbum vor mir. Fast alle Bilder haben sich verändert. Die Leute darauf sind einfach nicht mehr da. Mary ist verschwunden, und alle unsere Freunde und Bekannten mit ihr. Seltsam. Auf dem Hochzeitsfoto sitze ich ganz allein vor einer langen Tafel, die prächtig gedeckt ist. Mein linker Arm hängt in der Luft, als umarmte ich gerade die Braut. Und auf beiden Seiten der Tafel schweben Gläser in der Luft. Sie trinken mir zu. MONTAGMORGEN: Ich habe eben den Brief zurückbekommen, den ich an Jim geschrieben habe. EMPFÄNGER UNBEKANNT steht auf den Umschlag gestempelt. Ich wollte mit dem Briefträger sprechen, habe ihn aber nicht mehr angetroffen. Er war bereits gegangen, als ich die Tür erreichte. Vorher war ich bei unserem Lebensmittelhändler. Er erkannte mich. Aber als ich ihn nach Mary fragte, lachte er nur und sagte, daß ich alter Junggeselle bestimmt nie heiraten werde. Jetzt habe ich nur noch eine Chance. Damit ist allerdings 148
ein gewisses Risiko verbunden, aber das muß ich in Kauf nehmen. Ich werde das Haus verlassen und in die Stadt zur Geschäftsstelle der Veteran's Administration fahren. Ich möchte herausbekommen, ob meine Personalakten dort aufbewahrt werden. Falls meine Vermutung zutrifft, habe ich wenigstens einen Nachweis über meine Ausbildung, meine Heirat mit Mary und über die Menschen, mit denen ich im Laufe meines Lebens zu tun hatte. Ich nehme dieses Heft mit. Ich darf es unter keinen Umständen verlieren. Verlöre ich es, dann hätte ich nichts mehr auf der Welt, das mich daran erinnert, daß ich nicht verrückt bin. MONTAGABEND: Das Haus ist verschwunden. Ich sitze in dem Drugstore, nein, in dem Café an der Ecke. Als ich von meiner Fahrt zu der V. A. zurückkam, fand ich nur noch ein unbebautes Grundstück vor. Ich fragte einige Kinder, die dort spielten, ob sie mich je gesehen hätten. Sie schüttelten verwundert den Kopf. Ich fragte sie, was mit dem Haus geschehen sei. Sie antworteten, daß sie auf diesem Grundstück gespielt hätten, seit sie laufen konnten. Die Geschäftsstelle der Veteran's Administration hatte keinerlei schriftliche Aufzeichnungen über mich. Nicht ein Wort. Das bedeutet, daß ich jetzt nicht einmal mehr ein vollwertiger Mensch bin. Ich habe nur, was ich bin – mein Körper und die Kleidungsstücke. Sämtliche Ausweispapiere sind aus meiner Brieftasche verschwunden. 149
Auch meine Uhr ist fort. Einfach so. Von meinem Handgelenk weg. Sie war auf der Rückseite graviert. Ich erinnere mich noch an die Inschrift. Für meinen lieben Bob von seiner Mary. Ich trinke eine Tasse Kaffee!
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Der Abergläubische Er versuchte ihr zu erklären, daß die Hochzeit keinesfalls an einem Donnerstag stattfinden dürfe, denn an diesem Tag habe der Teufel seine eigene Mutter geheiratet. Sie waren auf einer Cocktailparty eingeladen, deshalb verstand sie ihn nicht gleich, denn die anderen Gäste lärmten fröhlich, und sie selbst hatte schon einen Schwips. »Was hast du eben gesagt, Liebling?« fragte sie und lehnte sich zu ihm hinüber. Ernsthaft wie immer wiederholte er seine Erklärung. Sie richtete sich auf und lächelte. »Wirklich, du bist ein Spaßvogel«, stellte sie fest und nahm einen großen Schluck Manhattan. Später, als er sie im Wagen nach Hause brachte, lenkte sie das Gespräch auf ihren Hochzeitstag. Er bestand darauf, daß sie ihn verlegen müßten; jeder Tag außer Donnerstag sei recht. »Ich verstehe dich nicht, Liebling«, sagte sie und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Nur nicht am Donnerstag, jeder andere Tag ist recht«, wiederholte er. Sie starrte ihn überrascht an. »Schön, Liebling«, meinte sie dann, »Spaß muß sein, aber ...« »Glaubst du wirklich, daß ich mir nur einen Spaß machen will?« unterbrach er sie. Sie lächelte nicht mehr. »Liebling, bist du verrückt geworden?« »Nein«, antwortete er. »Aber ... du willst also den Tag wirklich ändern, weil ...?« Sie warf ihm einen verwirrten Blick zu. Dann kicherte 151
sie und stieß ihm in die Rippen. »Du bist wirklich ein Spaßvogel, Frank«, sagte sie dabei. »Fast wäre ich darauf hereingefallen.« Sein schmaler Mund verzog sich zu einer ärgerlichen Grimasse. »Meine Liebe, ich werde dich nicht an einem Donnerstag heiraten.« Sie riß die Augen auf. Dann fuhr sie sich mit der Hand über die Stirn. »Mein Gott, du meinst es also wirklich ernst.« »Ganz und gar«, antwortete er. »Ja, aber ...«, begann sie. Ihre Unterlippe zitterte fast unmerklich. »Du bist übergeschnappt«, sagte sie, »weil ...« »Hör zu, spielt das denn eine so große Rolle?« fragte er. »Warum können wir nicht an einem anderen Tag heiraten?« »Aber du hast nichts davon gesagt, als wir das Datum festsetzten«, wandte sie ein. »Ich hatte übersehen, daß es ein Donnerstag war.« Sie versuchte seine Gründe zu verstehen. Sie mußten wichtig sein. »Aber wir haben doch schon alles für diesen Tag vorbereitet«, protestierte sie schwach. »Tut mir leid«, gab er entschlossen zurück. »Nicht an einem Donnerstag!« Sie sah ihn abschätzend an. »Wir wollen uns nichts vormachen, Frank. Du willst mich an dem Donnerstag nicht heiraten?« »An keinem Donnerstag.« »Ich versuche dich zu verstehen, Liebling. Aber der Teufel soll mich holen, wenn ich es kann!« Er schwieg verbissen. Sie sprach lauter. »Du benimmst dich einfach unmöglich 152
kindisch!« Sie rutschte nach rechts und starrte aus dem Seitenfenster. »Schön, dann möchte ich wissen, wie du das nennst.« Sie sprach leiser und tiefer, als sie seine Stimme zu imitieren versuchte. »Ich will nicht an einem Donnerstag heiraten, weil der Teufel an diesem Tag seine ... Großmutter oder sonst jemand geheiratet hat.« »Seine Mutter«, korrigierte er sie. Sie warf ihm einen erbitterten Blick zu und ballte unwillkürlich die Fäuste. »Vereinbaren wir doch einfach einen anderen Tag und denken wir nicht mehr daran«, schlug er gelassen vor. »Ja, selbstverständlich. Klar. Sicher«, sagte sie. »Denken wir einfach nicht mehr daran. Denken wir einfach nicht mehr daran, daß mein Verlobter Angst davor hat, es sich mit dem Teufel zu verderben, wenn er an einem Donnerstag heiratet. Das ist doch ganz leicht zu vergessen.« »Ich sehe keinen Grund zur Aufregung, Liebste.« Sie seufzte. »Oh! Du bist wirklich ... wirklich unausstehlich, wenn du so mit mir sprichst!« Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Augen verengten sich mißtrauisch. »Und was hältst du von Mittwoch?« fragte sie. Er schwieg. Dann räusperte er sich, als sei ihm die Frage peinlich. »Ich ...«, begann er und lächelte dann entschuldigend. »Das habe ich vergessen, Liebste«, fuhr er dann fort. »Auch ein Mittwoch kommt leider nicht in Frage.« Ihr wäre fast schwindlig geworden. »Warum nicht?« 153
erkundigte sie sich. »Wenn wir an einem Mittwoch heiraten würden, würde ich ein Hahnrei werden.« Sie lehnte sich nach vorn und starrte ihm ins Gesicht. »Ein was?« fragte sie mit schriller Stimme. »Ein Hahnrei. Du würdest mich mit einem anderen betrügen.« Sie wandte sich entsetzt ab. »Ich, ich ...«, stotterte sie. »Mein Gott, bring mich nach Hause! Ich würde dich nicht einmal heiraten, wenn du der letzte Mann auf der Welt wärst!« Er fuhr bedächtig weiter. Sie konnte das Schweigen nicht ertragen. Sie warf ihm einen wütenden Blick zu. »Und ... und wenn wir an einem ... einem Sonntag heiraten würden, würdest du dich vermutlich in einen Kürbis verwandeln, habe ich recht?« »Gegen einen Sonntag wäre nichts einzuwenden«, gab er ungerührt zurück. »Oh, das freut mich aber für dich«, antwortete sie bissig. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unendlich glücklich du mich damit gemacht hast!« Sie wandte sich wieder von ihm ab. »Vielleicht willst du mich einfach nicht mehr heiraten«, sagte sie langsam. »Schön, wenn es das ist, dann sage es bitte geradeheraus! Ohne diesen Blödsinn über ...« »Ich will dich immer noch heiraten. Das weißt du selbst recht gut. Aber alles muß seinen richtigen Gang gehen. Sonst leiden wir beide darunter.« Sie hatte ihn nicht hereinbitten wollen. Aber sie war so daran gewöhnt, daß er noch einen Augenblick mitkam, daß sie ihn fortzuschicken vergaß. 154
»Möchtest du einen Drink?« fragte sie mürrisch, als sie im Wohnzimmer saßen. »Nein, danke schön. Ich möchte lieber die ganze Angelegenheit mit dir besprechen, Liebling.« Er lächelte leise. »Du darfst dich übrigens ruhig neben mich setzen, ich beiße nicht.« Sie ließ sich widerwillig neben ihm auf die Couch nieder. Er nahm ihre Hand. »Liebling, du mußt mich richtig verstehen«, begann er. Dann legte er ihr den Arm um die Schulter und drückte sie an sich. Einen Augenblick später war sie dahingeschmolzen. Sie sah ihm ernsthaft ins Gesicht. »Liebling«, sagte sie, »ich möchte dich und deine Gründe so gern verstehen. Aber wie kann ich denn?« Er klopfte ihr auf die Schulter. »Hör zu, ich weiß eben über gewisse Dinge Bescheid, von denen die meisten Menschen noch nie gehört haben. Und ich glaube, daß unsere Ehe unglücklich würde, wenn wir am falschen Tag heiraten würden.« »Aber ... warum nur?« Er schluckte trocken. »Wegen der Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten.« Sie schwieg und lehnte sich an seine Schulter. Vielleicht war es doch Unsinn, ihn nur deshalb nicht zu nehmen, weil er nicht an einem Donnerstag heiraten wollte. Oder an einem Mittwoch. Sie seufzte. »Gut, Liebling. Wir werden den Hochzeitstag auf einen Sonntag verlegen. Bist du jetzt zufrieden?« »Ja«, antwortete er. »Jetzt bin ich zufrieden.«
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* Dann kam der Abend, an dem er ihrem Vater fünfzehn Dollar anbot, um den Ehevertrag perfekt zu machen, wie er sich ausdrückte. Mr. O'Shea legte seine Pfeife beiseite und sah mit einem fragenden Lächeln auf. »Äh ... was haben Sie eben gesagt«, erkundigte er sich freundlich. Frank hielt ihm das Geld unter die Nase. »Ich möchte, daß Sie das hier als Kaufpreis für Ihre Tochter annehmen.« »Kaufpreis?« fragte Mr. O'Shea. »Ja, ich will sie kaufen.« »Wer will sie denn verkaufen?« wollte Mr. O'Shea wissen. »Ich gebe sie nur ihrem Ehemann.« »Das weiß ich auch«, sagte Frank. »Das hier ist nur symbolisch gemeint.« »Stecken Sie es in Ihr Sparschwein«, riet ihm Mr. O'Shea. Er nahm seine Zeitung auf. »Tut mir leid, Sir, aber Sie müssen es annehmen«, drängte Frank. Dann kam sie nach unten. Mr. O'Shea sah seine Tochter an. »Sag deinem jungen Mann, daß er seine Späße lassen soll«, empfahl er ihr. Sie warf Frank einen besorgten Blick zu, »Frank, du fängst doch nicht schon wieder damit an?« Frank erklärte es ihnen. Er betonte immer wieder, daß der Kauf nur symbolische Bedeutung habe, und daß er sie nur aus Prinzip kaufen wolle, um sich später keine Vorwürfe wegen eines Versäumnisses machen zu müssen. »Sie brauchen das Geld nur zu nehmen«, schloß er, 156
»dann ist schon alles in bester Ordnung.« Sie sah ihren Vater an. Ihr Vater sah sie an. »Nimm es, Vater«, seufzte sie schließlich. Mr. O'Shea zuckte mit den Schultern und nahm das Geld entgegen. »Vier-neun-zwei«, murmelte Frank vor sich hin. »Dreifünf-sieben ... acht-eins-sechs. Dreimal fünfzehn spucke ich über meine Schulter, um mich vor dem bösen Zauber zu bewahren.« »Frank!« rief sie aus. »Du kannst doch nicht einfach auf den Teppich spucken!« * Dann erzählte er ihr, daß sie nicht wie üblich nach der Trauung ihren Brautstrauß in die Menge werfen dürfe, sondern daß es unbedingt ihr Strumpfband sein müsse. Sie kniff die Augen zusammen. »Laß das, Frank. Das geht zu weit.« Er sah sie gekränkt an. »Ich versuche nur alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen«, sagte er. »Ich möchte vermeiden, daß etwas schiefgeht.« »Aber – großer Gott, Frank! – hast du denn noch nicht genug getan? Du hast die Hochzeit verschoben. Du hast mich für fünfzehn Dollar gekauft und dabei unseren Wohnzimmerteppich vollgespuckt. Du hast mir dieses fürchterliche Haararmband aufgeschwatzt. Jetzt habe ich allmählich genug!« Frank starrte traurig vor sich hin. Er machte ein Gesicht wie die Jungfrau von Orleans auf dem Scheiterhaufen. »Ich tue nur mein Bestes«, verteidigte er sich. »Wir sind 157
von Gefahren umgeben. Wenn wir nicht auf jeden Schritt achten, sind wir verloren.« Sie sah ihm in die Augen. »Frank, du willst mich doch heiraten, nicht wahr? Das alles ist nicht nur ein Vorwand, um ...« Er riß sie in die Arme und küßte sie leidenschaftlich. »Fulvia«, sagte er, »Liebste! Ich liebe dich und ich will dich heiraten. Aber wir dürfen keinen Fehler machen.« Später sagte Mr. O'Shea: »Der Kerl ist unmöglich. Am besten gibst du ihm den Laufpaß.« Aber sie war etwas dicklich, und sie war nicht sehr hübsch, und Frank war der einzige Mann, der ihr je einen Heiratsantrag gemacht hatte. Deshalb seufzte sie nur und gab nach. Sie sprach mit ihren Eltern darüber. Sie meinte, daß sich alles ändern werde, sobald sie verheiratet seien. »Bis dahin muß ich ihn noch bei guter Laune halten, aber dann – peng!« Aber schließlich brachte sie ihn doch von der Idee ab, daß die Hochzeitsgäste sich um ihr Strumpfband streiten sollten. »Willst du etwa, daß ich mir dabei den Hals breche?« fragte sie. »Wahrscheinlich hast du recht«, antwortete er. »Du kannst einfach deine Strümpfe in die Menge werfen.« »Liebling, darf ich nicht den Brautstrauß dazu nehmen, wie es alle anderen Bräute tun? Bitte?« Er sah nachdenklich zu Boden. »Wenn du willst ...«, meinte er dann. »Aber ich bin nicht begeistert davon. Ganz und gar nicht.« Er nahm einen Salzstreuer und schüttete etwas Salz in das Feuer im Küchenofen. Einige Zeit später sah er wieder hinein. 158
»Jetzt sind unsere Tränen getrocknet – uns kann nichts mehr passieren«, stellte er dabei fest. * Der Hochzeitstag war gekommen. Frank stand ungewohnt früh auf. Er ging in die Kirche und vergewisserte sich, daß alle Fenster dicht verschlossen waren, damit die Dämonen nicht hereinkonnten. Er drückte dem Küster ein gutes Trinkgeld in die Hand, damit der Mann während der Trauungszeremonie die Kirchentüren geschlossen hielt. Der Küster grinste und wurde erst wütend, als Frank seinen Revolver durch den Kamin ins Freie abfeuerte. »Was soll denn der Unsinn?« fragte er zornig. »Ich verscheuche nur die bösen Geister«, erklärte Frank. »Junger Mann, in der First Calvary Episcopal Church gibt es keine bösen Geister!« Frank entschuldigte sich. Aber während der Küster hinausging, um den Polizisten zu beruhigen, der herbeigeeilt war, nahm Frank einige Teller aus der Manteltasche, zerbrach sie und versteckte sie unter dem Chorgestühl und in den Ecken. Dann fuhr er in die Stadt und kaufte unter einigen Schwierigkeiten – schließlich war es Sonntag – fünfundzwanzig Pfund Reis, falls die Gäste nicht genug mitbringen sollten. Als nächstes eilte er zu dem Haus seiner Braut und klingelte Sturm. Mrs. O'Shea öffnete die Tür. »Wo ist Ihre Tochter?« fragte Frank. »Sie können jetzt nicht zu ihr«, sagte Mrs. O'Shea. 159
»Ich muß aber«, forderte Frank. Er drängte sich an Mrs. O'Shea vorbei und rannte die Treppe hinauf. Seine Braut saß nur mit einem Unterrock bekleidet auf ihrem Bett und putzte die Schuhe, die sie tragen wollte. Sie sprang auf. »Was ist denn in dich gefahren?« rief sie. »Gib mir einen von deinen Schuhen«, keuchte er. »Ich hätte beinahe nicht mehr daran gedacht. Alles wäre verloren gewesen, wenn ich es vergessen hätte!« Er griff nach einem Schuh. Sie wich zurück. »Verschwinde!« schrie sie ihn an und raffte ihren Morgenrock an sich. »Gib mir einen Schuh!« »Nein, das ist unmöglich!« widersprach sie. »Was soll ich denn sonst tragen? Galoschen?« »Schon gut«, beruhigte er sie, wühlte in ihrem Kleiderschrank herum, bis er einen alten Schuh gefunden hatte. »Der tut es auch«, meinte er und rannte hinaus. Sie erinnerte sich an etwas und rief hinter ihm her. »Du hättest mich vor der Trauung nicht sehen dürfen, das bringt Unglück!« »Ach was, das ist nur ein dummer Aberglaube!« gab er zurück, bevor er die Treppe hinunterlief. In der Küche gab er den Schuh Mr. O'Shea, der mit seiner geliebten Pfeife vor einer Tasse Kaffee saß. »Geben Sie ihn mir«, verlangte Frank. »Wohin? Über den Kopf? Mit Vergnügen!« antwortete Mr. O'Shea. Frank achtete nicht darauf. »Geben Sie mir den Schuh und sagen Sie dabei ›Hiermit übergebe ich die Autorität‹«, forderte er. Mr. O'Shea riß verblüfft die Augen auf. Aber dann nahm 160
er doch den Schuh entgegen und gab ihn gehorsam zurück. »Hiermit übergebe ich die Autorität«, sagte er. Dann fiel ihm etwas ein. »He, noch einen Augenblick!« Aber Frank war bereits zur Tür hinausgerannt. Er raste die Treppe hinauf. »Nein!« rief sie, als er wieder in ihr Zimmer kam. »Verschwinde gefälligst!« Er schlug ihr den Schuh auf den Kopf. Sie heulte los. Er riß sie in die Arme und küßte sie leidenschaftlich. »Mein geliebtes Weib«, sagte er und rannte hinaus. Sie brach in Tränen aus. »Nein, ich heirate ihn doch nicht!« Sie warf die geputzten Schuhe an die Wand. »Und wenn er der letzte Mann auf der Welt wäre! Er ist zu scheußlich!« Einige Minuten später hob sie die Schuhe auf und fuhr noch einmal mit der Bürste darüber. Etwa zur selben Zeit war Frank bereits wieder in der Stadt und überzeugte sich davon, daß der Konditor die richtigen Zutaten bei der Herstellung der Hochzeitstorte verwendet hatte. Dann kaufte er einen bunten Papphut, den Fulvia tragen sollte, wenn sie vom Kirchenportal zum Wagen ging. Als nächstes suchte er einen Trödler auf, den er zufällig kannte, und erwarb dort sämtliche gebrauchten Schuhe, um damit die bösen Geister fernzuhalten. Als die Trauung schließlich bevorstand, war er völlig erschöpft. Er saß in der Sakristei, rang nach Atem und hakte die Liste ab, die er zusammengestellt hatte, um sicherzugehen, daß er nichts vergaß. Die Orgel begann zu spielen. Und sie schritt am Arm ihres Vaters auf den Altar zu. Frank erwartete sie dort. Er atmete noch immer schwer. 161
Dann zog er die Augenbrauen in die Höhe, als er bemerkte, daß ein verspäteter Gast durch eine Seitentür in die Kirche schlüpfte. »Oh, nein!« rief er aus und bedeckte das Gesicht mit den Händen. »Ich werde in einer Rauchwolke verschwinden!« Aber nichts dergleichen geschah. Als er die Augen wieder öffnete, stand seine Braut neben ihm und umklammerte seine Hand. »Siehst du, Frank«, beruhigte sie ihn, »du bildest dir alles nur ein.« Die Zeremonie fand statt. Und er war vor Überraschung und Schock und Verwirrung so gelähmt, daß er gar nicht mehr an Schuhe, Brautsträuße, Reis, Papphütchen und alles andere denken konnte. Als sie endlich im Mietwagen zum Hotel fuhren, streichelte sie beruhigend seine Hand. »Alles nur dummer Aberglaube«, gurrte sie. »Bist du jetzt endlich überzeugt, Liebling?« »Aber ...«, begann Frank. »Pst!« unterbrach sie ihn und gab ihm einen Kuß. »Du bist doch mit dem Leben davongekommen, nicht wahr?« »Ja«, sagte Frank, »aber ich begreife es einfach nicht.« Vor der Tür ihres Hotelzimmers sah Frank sie an. Sie sah ihn an. Der Page wandte sich taktvoll ab. Schließlich brach sie das entstandene Schweigen. »Du mußt mich über die Schwelle tragen, Liebster.« Er lächelte gequält. »Ich würde mir komisch vorkommen«, sagte er. »Bitte, tu es für mich«, bat sie. »Darf ich nicht wenigstens einen kleinen Aberglauben haben?« Er lächelte zustimmend. »Ja«, gab er zu und beugte sich nieder, um sie auf die Arme zu nehmen. 162
Er schaffte es nicht. Sie wog wirklich zuviel für ihre Größe. »Herzschlag«, stellte der Arzt fest. »Satan«, keuchte Fulvia und versank in das dumpfe Brüten, aus dem sie erst ein Jahrzehnt später wieder erwachte.
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Der Unanständige Autos hielten mit kreischenden Bremsen an. Verwünschungen und Schimpfworte mischten sich mit den Flüchen der Fahrer. Fußgänger blieben verwundert stehen, rissen die Augen auf und starrten das seltsame Ding an. Eine riesige Metallkugel war aus dem Nichts aufgetaucht und lag nun mitten auf der belebten Kreuzung. »He, was soll der Unsinn?« murmelte der Verkehrspolizist und kletterte von seinem Stand herunter. »Mein Gott!« rief die hübsche Stenotypistin von ihrem Fenster im dritten Stock. »Was kann das nur sein?« »Einfach aus blauem Himmel aufgetaucht!« sagte der alte Mann. »Sozusagen aus dem Nichts, der Teufel soll mich holen!« Erschreckte Ausrufe. Eine Menschenmenge sammelte sich an. In der Außenfläche der Kugel öffnete sich eine Luke. Ein Mann sprang heraus. Er sah sich interessiert um. Er starrte die Leute an. Die Menge starrte zurück. »Was hat das zu bedeuten?« erkundigte sich der Verkehrspolizist und zog sein Notizbuch aus der Tasche. »Ich werde Anzeige wegen groben Unfugs gegen Sie erstatten!« Der Mann lächelte. »Ich bin Professor Robert E. Wade«, stellte er sich vor. »Ich komme aus dem Jahr 1967.« »Reden Sie keinen Unsinn«, wehrte der Polizist ab. »Schaffen Sie das Ding gefälligst von der Straße fort!« »Das kann ich nicht«, sagte der Mann. »Jedenfalls nicht sofort.« Der Polizist schob das Kinn vor. 164
»Unmöglich, was?« meinte er geringschätzig und trat an die Kugel heran. Er drückte mit beiden Händen dagegen. Sie bewegte sich nicht. Er gab ihr einen Fußtritt. »Autsch!« rief er dann aus. »Bitte, lassen Sie das«, bat der Fremde. »Es hat wirklich keinen Sinn.« Der Polizist riß wütend das Einstiegsluk auf. Er warf einen Blick in das Innere der Kugel. Er zog sich schreckensbleich zurück. »Was ... was soll das?« erkundigte er sich mit zitternder Stimme. Sein Tonfall verriet ungläubiges Staunen. »Wie, bitte?« fragte der Professor. Der Polizist erholte sich nur allmählich von dem Schock. Seine Zähne schlugen aufeinander. Sein Gesicht war aschfahl. »Wenn Sie ...«, begann der Fremde. »Ruhe, du Schwein!« brüllte der Polizist ihn an. Der Professor wich erschrocken zurück und starrte dem anderen verblüfft ins Gesicht. Der Polizist griff in die Kugel hinein und holte einige Gegenstände heraus. Aufruhr. Frauen schlugen entsetzt die Hände vor das Gesicht. Starke Männer stöhnten auf und standen wie versteinert. Unmündige Kinder verbargen sich hinter ihren Müttern und weinten erschrocken. Junge Mädchen waren einer Ohnmacht nahe. Der Polizist verbarg die Gegenstände rasch unter seiner Jacke, wo er sie mit zitternder Hand festhielt. Die andere legte er dem Professor auf die Schulter. »Mitkommen!« befahl er. »Los, du Schweinehund, sonst mache ich dir Beine!« 165
»Hängt ihn auf, hängt ihn auf!« forderte die Menge gebieterisch. »Abscheulich«, murmelte ein Pfarrer, der die Szene beobachtet hatte, und wurde dunkelrot. Der Professor wurde die Straße entlang geschleppt. Er leistete heftigen Widerstand und protestierte unaufhörlich. Seine Stimme ging im Geschrei der Menge unter. Die Leute schlugen mit Schirmen, Spazierstöcken, Krücken und zusammengerollten Zeitungen nach ihm. »Sittenstrolch!« schrien einige immer wieder. Sie drohten mit dem Zeigefinger. »Schamloser Volksverderber!« »Widerlich!« Aber in den Hinterhöfen, in schäbigen Bars und in fragwürdigen Spielsalons dachten die Menschen etwas anders darüber. Gerüchte verbreiteten sich in rasender Eile und wurden mit lasterhaftem Grinsen weitergegeben. Unzüchtige Gebärden wurden mit beifälligem Lachen quittiert. Der Professor wurde in das Gefängnis gebracht. Zwei Polizisten mußten neben der Metallkugel Wache halten. Sie vertrieben die Passanten. Sie warfen ab und zu einen neugierigen Blick in das Innere der Kugel, als könnten sie sich nicht davon losreißen. »Dort drinnen!« wiederholte der eine Polizist immer wieder und fuhr sich aufgeregt mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Puh!« * Hochkommissar Castlemould betrachtete seine reichhaltige 166
Sammlung verbotener Postkarten, die bei verschiedenen Razzien beschlagnahmt worden waren, als der Summer des Fernsehtelefons ertönte. Seine schmächtigen Schultern zuckten, sein Gebiß klapperte vor Schreck. Er raffte die Postkarten zusammen und warf sie hastig in eine Schublade. Nachdem er noch einen verlangenden Blick auf die bunten Bilder geworfen hatte, knallte er die Schublade zu, setzte ein strenges Gesicht auf und drückte auf den Sprechknopf. Auf dem Fernsehschirm erschien der fette Captain Ranker von der Schutzpolizei. Er wirkte äußerst erregt. »Herr Kommissar«, begann er unterwürfig, »es tut mir unendlich leid, daß ich Sie während Ihrer Meditationsstunde stören muß.« »Schon gut, Ranker. Was gibt es?« fragte Castlemould scharf und schlug ungeduldig mit der geballten Faust auf die Schreibtischplatte. »Eben wurde ein Verhafteter eingeliefert«, fuhr der Captain fort. »Er behauptet ein Zeitreisender aus dem Jahre 1967 zu sein.« Er sah sich vorsichtig um. »Was gibt es da zu gaffen, Ranker?« wollte der Hochkommissar wissen. Captain Ranker hob beschwichtigend die Hand. Dann griff er unter den Tisch, holte drei Gegenstände darunter hervor und stellte sie auf seine Schreibunterlage, so daß Castlemould sie Gehen konnte. Castlemoulds Augen traten weit aus den Höhlen. Sein Adamsapfel sackte nach unten. »Aaaah!« krächzte er. »Woher kommt das Zeug?« »Der Verhaftete hatte es bei sich«, meldete Ranker in 167
dienstlichem Ton. Der alte Hochkommissar genoß den Anblick, der sich ihm auf dem Fernsehschirm bot. Beide Männer schwiegen lange. Castlemould fühlte, daß ihm schwindlig wurde. Er holte tief Luft. »Warten Sie auf mich!« befahl er aufgeregt. »Ich komme sofort.« Er schaltete das Gerät ab, überlegte einen Augenblick und schaltete es wieder an. Captain Ranker zog hastig seine ausgestreckte Hand zurück. »Fassen Sie das Zeug nicht an«, warnte Castlemould eindringlich. »Lassen Sie die Finger davon! Haben Sie verstanden?« Captain Ranker schluckte trocken. »Zu Befehl, Sir«, murmelte er, während sein Gesicht langsam rot anlief. Castlemould zog die Augenbrauen in die Höhe und schaltete das Gerät wieder aus. Dann sprang er lachend von seinem Stuhl auf. »Haah-haah!« rief er dabei aus. »Haah-haah!« Er tanzte unbeholfen um seinen Schreibtisch herum und rieb sich dabei immer wieder die mageren Hände. Dann schlitterte er in seinen schwarzen Schuhen über das blanke Parkett. »Haha! Hehehe! Haah!« Er klingelte nach seinem Wagen. * Schritte. Der riesige Wachtposten schloß die Tür auf und öffnete sie. »Du, steh auf!« schnauzte er und verzog den Mund zu 168
einer verächtlichen Grimasse. Professor Wade erhob sich langsam, warf dem Posten einen bösen Blick zu und ging auf den Korridor hinaus. »Rechts um!« befahl der Posten. Wade wandte sich nach rechts. Sie gingen den Flur entlang. »Ich hätte zu Hause bleiben sollen«, murmelte Wade vor sich hin. »Ruhe, Schweinehund!« »Ach halten Sie doch Ihren Mund!« sagte Wade. »Hier sind wohl alle übergeschnappt, was? Ihr findet ein bißchen ...« »Ruhe!« brüllte der Posten und sah sich hastig um. Er schien zu zittern. »Nimm das Wort gefälligst in diesem sauberen und anständigen Gefängnis nicht in den Mund!« Wade warf einen ergebenen Blick gen Himmel. »Da komme ich einfach nicht mehr mit«, klagte er. »Wie ich es auch ansehe – ich begreife nichts mehr.« Er wurde in einen Raum geführt, an dessen Tür ein übertrieben großes Schild – Captain Ranker, Chef der Schutzpolizei – hing. Ranker stand rasch auf, als Wade hereingeführt wurde. Hinter ihm auf dem Schreibtisch lagen die drei beschlagnahmten Gegenstände diskret mit einem weißen Tischtuch bedeckt. Ein alter, ungewöhnlich feierlich gekleideter Mann starrte Wade neugierig entgegen. Zwei Hände wiesen auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich«, sagte der Polizeichef. »Setzen Sie sich«, sagte der Kommissar. Ranker entschuldigte sich. Castlemould runzelte die Stirn. 169
»Setzen Sie sich doch«, wiederholte der Hochkommissar. »Soll ich mich wirklich setzen?« erkundigte Wade sich. Captain Ranker lief noch röter an, als er bisher schon gewesen war. »Setzen Sie sich!« keuchte er. »Wenn Hochkommissar Castlemould Ihnen sagt, daß Sie sich setzen sollen, dann meint er es auch!« Professor Wade setzte sich. Beide Männer umkreisten ihn wie Bussarde, die eine Maus erkannt haben, bevor sie niederstoßen. Der Professor sah zu Ranker auf. »Vielleicht erklären Sie mir endlich, was ...« »Schweigen Sie!« unterbrach ihn der Captain. Wade schlug mit der flachen Hand auf die Stuhllehne. »Ich denke gar nicht daran! Ich habe allmählich von diesem Geschwätz die Nase voll! Jemand wirft einen Blick in meine Zeitkammer und findet dort diese idiotischen Dinge und ...« Wade stand auf, griff nach der Tischdecke und riß sie mit einem plötzlichen Ruck beiseite. Die beiden Männer traten entsetzt zurück und starrten den Professor an, als habe er damit ein ungeheuerliches Verbrechen begangen. Professor Wade warf das Tuch verächtlich auf den Fußboden. »Um Gottes willen, was ist denn los?« knurrte er dabei. »Es ist nur Essen! Essen. Ein bißchen Essen!« * Die Männer zuckten erschreckt zusammen, als Wade das eine Wort wieder und wieder hervorstieß. 170
»Halten Sie den Mund!« sagte der Captain mit erstickter, schwacher Stimme. »Wir haben genug von Ihren Obszönitäten!« »Obszönitäten?« rief Professor Wade und riß dabei Mund und Augen weit auf. »Höre ich recht?« Er hielt einen der Gegenstände in die Höhe. »Das ist eine Schachtel Crackers!« sagte er in ungläubigem Ton. »Wollen Sie mir erzählen, das sei ... obszön?« Captain Ranker schloß die Augen. Er zitterte am ganzen Leibe. Der alte Hochkommissar erholte sich schneller von seinem Schock, verzog sein Gesicht zu einer undefinierbaren Grimasse und beobachtete den Professor neugierig. Wade warf die Schachtel auf den Tisch zurück. Der Alte erblaßte und fuhr zusammen. Wade griff nach den beiden anderen Gegenständen. »Eine Büchse Corned Beef!« rief er wütend. »Und eine Thermosflasche voll Kaffee. Was, zum Teufel, ist an Fleisch und Kaffee obszön?« Tiefes Schweigen erfüllte den Raum, als er ausgesprochen hatte. Sie starrten sich gegenseitig an. Ranker zitterte noch immer und fuhr sich mit einem Taschentuch über die hochrote Stirn. Der Alte sah abwechselnd auf Wades empörtes Gesicht und die Gegenstände auf dem Schreibtisch. Er überlebte angestrengt. Schließlich nickte Castlemould und räusperte sich bedeutungsvoll. »Captain«, sagte er, »ich möchte, daß Sie mich mit diesem Verbrecher allein lassen. Ich werde ihn persönlich verhören.« 171
Der Captain sah seinen Vorgesetzten an und nickte dann erleichtert. Er eilte wortlos hinaus. Sie hörten ihn den Gang entlangstolpern, bis sich eine andere Tür hinter ihm schloß. »So«, meinte der Hochkommissar und ließ sich in Rankers Sessel nieder, in dem er fast völlig verschwand. »Sagen Sie mir doch zuerst einmal Ihren Namen.« Seine Stimme klang freundlich. Er schlug einen scherzhaften Tonfall an. Er nahm die Tischdecke zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand und breitete sie schwungvoll über die ärgerniserregenden Gegenstände – wie ein Pfarrer, der einer Striptease-Tänzerin sein Jackett überwirft. Wade setzte sich mit einem tiefen Seufzer. »Ich gebe auf«, sagte er. »Ich komme in meiner Zeitkammer aus dem Jahr 1967. Ich bringe ein bißchen ... Essen ... mit. Für etwaige Notfälle. Und dann fallen alle über mich her und nennen mich einen Schweinehund. Das begreife ich einfach nicht.« Castlemould verschränkte die Arme vor seiner eingefallenen Brust und nickte langsam. »Hmmm. Nun, junger Mann, ich glaube Ihnen zufällig«, begann er. »Ihre Geschichte könnte stimmen. Die Geschichtsschreiber berichten von einer Zeit, in der – äh – lebensnotwendige Stoffe dem Körper oral zugeführt wurden.« »Ich freue mich, daß mir endlich jemand Glauben schenkt«, antwortete Wade. »Möchten Sie mir nicht erklären, was es hier mit dem Essen auf sich hat?« Der Hochkommissar zuckte bei diesem Wort zusammen. Wade sah ihn verwundert an. »Ist es wirklich möglich«, fuhr er dann fort, »daß das Wort ... Essen ... zu einem obszönen Ausdruck geworden 172
ist?« Die ständige Wiederholung dieses Wortes schien Castlemould auf einen Gedanken gebracht zu haben. Er beugte sich vor und zog das Tuch mit glitzernden Augen beiseite. Er genoß den Anblick der Flasche, der Büchse und der Schachtel sichtlich. Auf seiner Stirn erschienen Schweißperlen. Wade beobachtete ihn sprachlos. Der Alte wirkte abstoßend auf ihn. Hochkommissar Castlemould streichelte die Schachtel wie ein Lüstling das Bein einer Ballettänzerin. »Essen!« murmelte er dabei verzückt vor sich hin. Dann breitete er das Tuch rasch wieder über die drei Gegenstände, als fürchte er, daß der Anblick ihm den Verstand rauben könne. Er sah zu Professor Wade hinüber und holte tief Luft. »Essen!« wiederholte er. Wade lehnte sich in seinen Stuhl zurück und lächelte peinlich berührt. Dann schüttelte er verständnislos den Kopf. »Phantastisch«, sagte er leise zu sich selbst. Er senkte den Kopf, um dem Blick des Alten nicht begegnen zu müssen. Als er wieder aufsah, beobachtete er, wie Castlemould das Tuch an einem Zipfel hochgehoben hatte. Er wirkte dabei wie ein junger Mann, der zum erstenmal eine Striptease-Show sieht. »Herr Kommissar ...« Der Alte fuhr zusammen und rang offensichtlich nach Fassung. »Ja, ja«, antwortete er geistesabwesend. Wade erhob sich und ging an den Schreibtisch hinüber. Er nahm das Tuch auf, breitete es auf der Tischplatte aus und legte die Gegenstände darauf. Dann knotete er die vier 173
Zipfel zusammen und nahm das Bündel in die Hand. »Ich möchte auf keinen Fall dazu beitragen, daß die guten Sitten Ihrer Gesellschaft verdorben werden«, stellte er fest. »Es ist wohl am besten, wenn ich mich kurz umsehe und dann wieder in meine Zeit zurückkehre. Ich werde auch mein ... das hier wieder mitnehmen.« Das faltige Gesicht des Alten verzerrte sich angstvoll. »Nein!« rief Castlemould aus. Wade warf ihm einen fragenden Blick zu. Der Kommissar hätte sich am liebsten nachträglich die Zunge abgebissen. »Sie dürfen uns nicht so rasch verlassen, wollte ich sagen«, erklärte der Alte. »Schließlich ...« Seine abgezehrte Hand beschrieb eine Geste, die einladend wirken sollte. »Sie sind selbstverständlich mein Gast. Kommen Sie, wir fahren zu mir. Dort können wir etwas ... äh, eine kleine Erfrischung zu uns nehmen.« Er räusperte sich energisch. Dann stand er auf und ging um den Schreibtisch herum auf Wade zu. Er klopfte ihm freundlich auf die Schulter, wobei er sein Gesicht zu einem abscheulichen Grinsen verzog. Etwa wie ein Schakal, der gastfreundlich sein möchte. »Meine Bibliothek steht zu Ihrer Verfügung, wenn Sie sich über unser Jahrhundert informieren wollen«, bot er an. Wade antwortete nicht. Der Alte sah sich schuldbewußt um. »Aber Sie ... ich meine, Sie sollten Ihr Bündel nicht hierlassen«, fügte er hinzu. »Nehmen Sie es lieber mit. Sicher ist sicher.« Er kicherte vertraulich. Wade warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Castlemould wurde deutlicher. »Ich gebe es nicht gerne zu«, meinte er, »aber heutzutage 174
kann man seinen eigenen Untergebenen nicht mehr trauen. Unter Umständen würde es die Moral der gesamten Abteilung untergraben. Das da, meine ich.« Der Hochkommissar sah das Bündel in Wades Hand mit gekünstelt gleichgültigem Blick an. Er räusperte sich nochmals. »Man weiß nie, was passieren könnte«, erklärte er. »Wissen Sie, manche Menschen sind fürchterlich unzuverlässig in diesen Dingen.« Er erweckte damit den Eindruck, als sei ihm dieser abscheuliche Gedanke erst eben durch den Kopf gegangen, dem dergleichen verachtenswerte Überlegungen völlig fremd waren. Er ging auf die Tür zu, um damit jede Diskussion über seinen Vorschlag unmöglich zu machen. Seine knochigen Finger drückten die Klinke nach unten. »Warten Sie hier auf mich«, sagte er. »Ich lasse nur noch Ihren Entlassungsschein ausstellen.« »Aber ...« »Bitte, bitte, nichts zu danken, es ist mir ein Vergnügen«, unterbrach Castlemould ihn rasch und verschwand im Flur. Professor Wade schüttelte den Kopf. Dann griff er in seine Manteltasche und holte einen Riegel Schokolade hervor. »Das darf ich niemand zeigen«, meinte er zu sich selbst, »sonst läßt der Alte mich glatt an die Wand stellen.« * Castlemould wandte sich an Wade, nachdem sie sein Haus betreten hatten. »Hier, lassen Sie mich das Bündel nehmen. 175
Wir werden es in meinem Schreibtisch verstauen.« »Nein, lieber nicht«, gab der Professor zurück und verbarg nur mühsam ein Lächeln. »Vielleicht wäre es eine zu große ... Versuchung.« »Für wen, etwa für mich?« rief Castlemould aus. »Haha, das ist aber lustig!« Er hielt das Bündel des Professors mit einer Hand fest. »Wissen Sie, was wir tun könnten?« unternahm er einen letzten Vorstoß. »Wir gehen in mein Arbeitszimmer, und ich bewache Ihr Bündel, während Sie sich aus meinen Büchern alle nötigen Informationen zusammensuchen. Was halten Sie von meinem Vorschlag? Ha?« Wade folgte dem Alten in dessen geräumiges Arbeitszimmer. Er hatte sich noch nicht damit abgefunden. Essen. Er sagte das Wort leise vor sich hin. Nichts, nur ein völlig harmloses Wort. Aber wie alle übrigen konnte es jede Bedeutung annehmen, die ihm von den Menschen zugeordnet wurde. Er beobachtete, wie Castlemoulds Hände zitternd über das Tuch fuhren, bemerkte den gierigen Ausdruck in den Augen des Alten. Wade fragte sich, ob er ihm nicht das ... den Inhalt des Bündels überlassen sollte. Er lächelte über sich selbst, als er bei dem Wort Essen in Gedanken zögerte. Anscheinend hatte er sich auch schon anstecken lassen. Der Hochkommissar schloß die Tür hinter ihnen ab. »Ich habe die umfangreichste Bibliothek weit und breit«, prahlte er. »Vollständig.« Er kniff ein Auge zusammen. »Unzensiert«, versprach er. »Das freut mich aber«, sagte Wade. Er stand vor den Regalen und betrachtete die Titel der Bände vor ihm. »Haben Sie zufällig ...«, begann er und wandte sich um. 176
Aber der Kommissar stand nicht mehr neben ihm, sondern hatte sich hinter seinem Schreibtisch niedergelassen. Er hatte das Bündel aufgeknotet und starrte nun verzückt die Büchse Corned Beef an. Sein Gesichtsausdruck glich dem eines alten Geizhalses, der in seinen Schätzen wühlt. »Herr Kommissar!« rief Professor Wade laut. Der Alte sprang erschrocken auf und ließ die Büchse fallen. Dann ließ er sich auf die Knie nieder, kroch halbwegs unter seinen Schreibtisch und tauchte endlich mit der Büchse in der Hand wieder auf. »Ja?« fragte er freundlich. Wade betrachtete rasch wieder die Bücher, weil er sonst lauthals hätte lachen müssen. »Haben Sie ... ein Geschichtswerk?« erkundigte er sich. »Selbstverständlich!« gab Castlemould stolz zurück. »Absolut erstklassig!« Seine schwarzen Schuhe knarrten leise, als er über das Parkett ging. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und nahm einen dicken Band aus dem Regal. »Ich habe es erst vor einigen Tagen selbst wieder einmal gelesen«, sagte er, als er es Wade anbot. Der Professor nickte und wischte die darauf lagernde Staubschicht mit dem Jackenärmel ab. »Setzen Sie sich am besten in diesen Sessel«, schlug Castlemould vor und wies auf einen ledernen Klubsessel. »Ich werde Ihnen etwas zum Schreiben geben.« Wade beobachtete ihn, während er an seinen Schreibtisch zurückhumpelte und die oberste Schublade herauszog. Soll er das Zeug doch behalten, dachte er, als Castlemould mit einem dicken Block Kunstpapier zurückkam. Ja, ich werde dem alten Trottel das Essen hierlassen, beschloß er. Wade wollte zunächst dankend ablehnen, weil er selbst einen Notizblock bei sich hatte, 177
überlegte sich dann aber, wie interessant es sein müßte, das Papier der Zukunft im Laboratorium zu untersuchen. »So, jetzt bleiben Sie schön hier sitzen und machen in aller Ruhe Ihre Notizen«, sagte Castlemould. »Sie brauchen keine Angst wegen Ihres E... zu haben, wirklich nicht!« »Wo wollen Sie hin?« »Nirgends! Nirgends!« versicherte ihm der Hochkommissar hastig. »Ich bleibe auch hier. Ich werde das ...« Seine Stimme versagte ihm den Dienst, als er wieder einen verlangenden Blick auf die drei Gegenstände warf. Wade ließ sich in den Sessel sinken und schlug das Buch auf. Nur einmal warf er noch einen Blick auf den Alten. Castlemould schüttelte die Thermosflasche und hörte gespannt auf das leise Gluckern. Auf seinem runzeligen Gesicht lag der törichte Ausdruck eines nachdenklichen Idioten. * Die allgemeine Verwendung bakterieller Kampfstoffe brachte es mit sich, daß die L...erzeugung der Erde praktisch auf den Nullpunkt absank, las der Professor. Die in winzigen Tropfen von Flugzeugen aus versprühten Kampfstoffe drangen so tief in den Erdboden ein, daß jeder Pflanzenwuchs unmöglich gemacht wurde. Zudem wurde die Mehrzahl aller f...liefernden Tiere und fast alle in den Ozeanen lebenden Kiemenatmer vernichtet, nachdem für diese Lebewesen keinerlei Vorbeugungsoder Schutzmaßnahmen getroffen worden waren. Ebenfalls verseucht wurde der größte Teil der zur 178
Wasserversorgung benützten Flüsse und Seen, aber auch das Grundwasser blieb nicht überall sauber. Fünf fahre nach dem Krieg – als dieser Bericht abgefaßt wurde – ist alles Oberflächenwasser noch immer ungenießbar, obwohl schwere Regenfälle die Konzentration des Kampfstoffs im Wasser herabgesetzt haben. Zudem ... Wade sah von dem Buch auf und schüttelte verständnislos den Kopf. Er warf dem Kommissar einen Blick zu. Castlemould saß in seinem Sessel zurückgelehnt und betrachtete gedankenverloren die Schachtel Crackers, die er in der Hand hielt. Der Professor las rasch weiter. Er sah auf seine Uhr. Er mußte bald zurück. Er schrieb sich einige Punkte auf und klappte das Buch zu. Dann stellte er es an den alten Platz zurück und ging zu dem Schreibtisch hinüber. »Ich muß jetzt gehen«, kündigte er an. Castlemoulds Lippen zitterten. »Was, schon so bald?« fragte er. In seiner Stimme schwang eine unbestimmte Drohung mit. Seine Augen wanderten durch den Raum, als suchten sie nach etwas. »Ah!« sagte er dann. Er legte die Schachtel auf die Tischplatte und erhob sich. »Wie wäre es mit einem Venen-Cocktail?« schlug er vor. »Nur einen kleinen, bevor Sie gehen.« »Einen was?« »Einen Venen-Cocktail.« Der Kommissar griff nach Wades Arm und führte ihn zu dem Klubsessel zurück. »Kommen Sie, kommen Sie«, meinte der Alte jovial. Wade ließ sich nieder. Das kann nicht schaden, dachte er. Ich werde ihm das Essen dalassen. Das wird ihn beruhigen. Castlemould hatte unterdessen eine Art Teewagen aus 179
einer Ecke des Raums herangerollt. Von der Platte aus hingen mehrere glänzende Schläuche herab, die jeweils in einer Nadel endeten. Wade erkannte eine Wählscheibe mit über zwanzig Nummern. »Das ist die hier allgemein übliche Methode, wenn man ...« Der Kommissar sah sich ängstlich um, wie ein Hausierer, der mit Aktphotos handelt. »... einen Schluck trinken will«, schloß er leise. Wade beobachtete, wie der andere eine der Nadeln emporhielt. »Hier, geben Sie mir Ihre Hand«, forderte Castlemould. »Tut es weh?« »Keineswegs, nicht im geringsten!« versicherte ihm der Alte. »Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben.« Er griff nach Wades Hand und jagte die Nadel tief in die Handfläche. Der Professor stieß einen leisen Schrei aus, aber der Schmerz verging ebenso schnell, wie er gekommen war. »Vielleicht ...«, begann Wade. Dann fühlte er, wie sich eine Flüssigkeit in seine Adern ergoß, die wohltuend beruhigend wirkte. »Ist das nicht gut?« fragte der Kommissar. »Trinkt man hier immer so?« Castlemould stach sich selbst eine Nadel in die Hand. »Nicht jeder hat eine so luxuriös ausgestattete Hausbar«, meinte er stolz. »Dieser Wagen hier ist ein Geschenk des Staatsgouverneurs. Als Anerkennung für meine Dienste, nachdem ich die berüchtigte Tom-Bande vor Gericht gebracht hatte.« Wade fühlte sich angenehm müde. Nur noch ein paar Minuten, dachte er, dann muß ich wirklich gehen ... »TomBande?« fragte er. 180
Castlemould rückte seinen Stuhl näher heran. »Die Kurzform für – äh – Tomaten-Bande. Eine Ansammlung von Schwerverbrechern, die ... Tomaten anbauen wollten. In großen Mengen!« »Abscheulich«, stimmte Wade zu. »Richtig. Ein schwieriger Fall.« »Sehr schwierig. Ich habe jetzt genug, glaube ich.« »Versuchen Sie doch einmal eine andere Sorte«, schlug Castlemould vor, erhob sich und bediente die Wählscheibe. »Ich habe genug«, protestierte Wade. »Wie gefällt Ihnen das?« erkundigte sich der Alte. Wade zwinkerte mit den Augen und schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. »Genug«, sagte er. »Mir ist schon ganz schwindlig.« »Ist das besser?« fragte der Kommissar. Der Professor spürte, daß ihm immer heißer wurde. Jetzt schien geschmolzenes Blei in seinen Adern zu tropfen. Sein Kopf drehte sich. »Nichts mehr!« rief er laut und versuchte aufzustehen. »Und wie ist das hier?« sagte Castlemould. Er zog sich selbst die Nadel aus der Hand. »Es genügt!« rief Wade. Er griff mit der anderen Hand nach der Nadel, um sie herauszureißen. Seine Hände gehorchten ihm nicht mehr. Er sank in den Sessel zurück. »Drehen Sie es ab«, bat er mit schwacher, erstickter Stimme. »Wie gefällt ihnen das?« erkundigte der Kommissar sich höhnisch, und Wade stöhnte, als die Hitze zunahm. Er war zu keiner Bewegung mehr fähig. Als Castlemould schließlich die Wählscheibe nach links zurückdrehte, lag der Professor bewußtlos in dem Klubsessel. Seine Augen waren halb geschlossen, die Pupillen unnatürlich erweitert. 181
* Geräusche. Sein betäubtes Gehirn versuchte sie aufzunehmen. Er zwinkerte mit den Augen, dann öffnete er sie mühsam. Der Raum schien verschwommen und undeutlich. Die langen Regale tanzten auf und ab. Er schüttelte den Kopf und verspürte dabei einen stechenden Schmerz in den Schläfen. Der Nebel vor seinen Augen nahm langsam ab. Er sah Castlemould an dem Schreibtisch sitzen. Essend. Der Alte beugte sich tief über das Tuch. Seine Augen blitzten und sein Atem ging stoßweise, als befinde er sich in einem Zustand der äußersten Erregung. Er war hingerissen. Die Thermosflasche klirrte gegen seine Zähne. Er hob sie mit beiden Händen an die Lippen und zitterte merklich, als die Flüssigkeit durch seine Kehle rann. Er schmatzte begeistert. Er schnitt sich noch ein Stück Corned Beef ab und legte es zwischen zwei Crackers. Dann führte er den Sandwich mit bebenden Händen an den Mund. Wade verzog angewidert das Gesicht. Er starrte den Alten unverwandt an. Castlemould betrachtete einige Postkarten, die vor ihm lagen, während er aß. Seine Augen leuchteten und wanderten von dem Sandwich zu den bunten Bildern und wieder zu dem Essen zurück. Wade versuchte einen Arm zu bewegen. Er war steif. Mühsam näherte er eine Hand der anderen. Dann zog er die Nadel heraus und seufzte dabei erleichtert auf. Der Kommissar achtete nicht darauf, so sehr war er in seine Freßorgie versunken. 182
Der Professor bewegte versuchsweise die Beine. Sie schienen überhaupt nicht zu ihm zu gehören. Er wußte, daß er sofort auf die Nase fallen würde, wenn er aufzustehen versuchte. Deshalb blieb er unbeweglich sitzen und beobachtete Castlemould, der nun sein Mahl beendete, seinen Stuhl weit zurückschob und die Überreste traurig betrachtete. Wenige Minuten später zeigte lautes Schnarchen an, daß der Kommissar erschöpft eingeschlafen war. Die Orgie war beendet, das Festmahl vorüber. Wade stemmte sich aus dem Sessel hoch. Er stolperte vorwärts. Der Fußboden schwankte unter seinen Füßen. Der Professor machte einige rasche Schritte auf den Schreibtisch zu und hielt sich daran fest. Der Alte schlief noch immer fest. Der Professor stand hinter seinem Stuhl und starrte sprachlos die bunten Postkarten an, die Castlemould so eingehend betrachtet hatte. Dann verzog er den Mund zu einem ungläubigen Grinsen. Er hatte Abbildungen von Lebensmitteln vor sich. Ein Kohlkopf, ein riesiger Truthahn, ein Stück Lachsfilet. Auf anderen hielten leichtbekleidete Mädchen dem Betrachter vertrocknete Salatblätter, winzige Tomaten und zu klein geratene Orangen entgegen. »Mein Gott, das ist ja nicht auszuhalten«, murmelte Wade vor sich hin. »Ich muß so schnell wie möglich wieder nach Hause.« Er stand bereits wieder an der Tür, als ihm einfiel, daß er nicht die geringste Ahnung hatte, wo seine Zeitkammer sich im Augenblick befand. Er sah nachdenklich zu Castlemould hinüber, der noch immer schnarchte. Dann ging er an den Schreibtisch zurück und kniete 183
davor nieder. Während er den schlafenden Kommissar im Auge behielt, durchsuchte er eine Schublade nach der anderen. In der untersten fand er das, wonach er gesucht hatte – eine Art Waffe, die eine entfernte Ähnlichkeit mit einem Revolver aufwies. Er nahm sie heraus. »Aufstehen!« sagte er dann laut und rüttelte den Alten kräftig an der Schulter. »Aaahh!« stieß Castlemould hervor und sprang auf. Dabei prallte er gegen die Schreibtischkante und sank atemlos in seinen Sessel zurück. »Los, aufstehen!« wiederholte Wade ungerührt. Der verwirrte Kommissar starrte ihn sprachlos an, dann versuchte er zu lächeln und wischte sich die letzten Krümel vom Mund. »Hören Sie, junger Mann, ich ...« »Halten Sie den Mund!« unterbrach ihn Wade. »Sie bringen mich jetzt zu meiner Zeitkammer zurück.« »Warten Sie doch einen ...« »Sofort!« »Sehen Sie sich mit dem Ding vor«, warnte Castlemould ängstlich. »Es ist sehr gefährlich.« »Hoffentlich ist es das wirklich«, meinte Wade. »Stehen Sie auf und bringen Sie mich zu Ihrem Wagen.« Castlemould erhob sich hastig. »Junger Mann, das ist ...« »Ach, halten Sie den Mund, Sie seniler Trottel! Bringen Sie mich lieber zu Ihrem Wagen – und hoffen Sie, daß ich nicht auf den Knopf hier drücke!« »Nein, tun Sie das ja nicht!« Der Kommissar blieb stehen, bevor er die Tür erreicht hatte. Er verzog das Gesicht und krümmte sich vor Schmerzen, als sein Magen gegen die ungewohnte 184
Belastung rebellierte. »Oh! Das Essen ...«, murmelte er niedergeschlagen. »Ich hoffe sehr, daß Sie die Magenschmerzen des Jahrhunderts haben«, meinte Wade hoffnungsvoll und schob ihn vor sich her. »Sie haben sie nämlich verdient.« Der Alte preßte die Hände vor den Magen. »Ohhhh!« stöhnte er. »Schieben Sie doch nicht so!« Sie gingen in den Flur hinaus. Castlemould hielt sich an der Tür der Besenkammer fest. Seine Fingernägel gruben sich in das Holz. »Ich sterbe!« kündigte er an. »Los, weiter!« befahl Wade unbarmherzig. Castlemould riß die Tür auf und verschwand in dem winzigen Raum. Einige Minuten später tauchte er mit bleichem Gesicht wieder daraus hervor. »Ohhh ...«, sagte er mit schwacher Stimme. »Sie haben es verdient«, stellte Wade fest. »Voll und ganz.« »Sprechen Sie nicht so schlecht von mir«, bat der Alte. »Ich kann immer noch daran sterben.« »Weiter!« sagte Wade ungeduldig. * Sie saßen in dem Wagen. Der Kommissar hatte sich inzwischen wieder so weit erholt, daß er fahren konnte. Wade saß neben ihm auf der vorderen Sitzbank und hielt die Mündung der Waffe auf Castlemoulds Brust gerichtet. »Ich entschuldige mich dafür, daß ich ...«, begann der Kommissar. »Fahren Sie.« »Nun, ich wollte nur nicht unhöflich erscheinen.« »Halten Sie lieber den Mund.« 185
Der Alte versuchte liebenswürdig zu lächeln. »Junger Mann«, sagte er zögernd, »möchten Sie nicht etwas Geld verdienen?« Wade wußte, was der andere sagen wollte. »Womit denn?« erkundigte er sich aber trotzdem. »Ganz einfach, indem ...« »Indem ich Ihnen Essen bringe«, schloß Wade an seiner Stelle. Castlemould verzog das Gesicht. »Hören Sie«, warf er mit weinerlicher Stimme ein, »das wäre doch kein Verbrechen, oder?« »Sie haben Nerven, daß Sie ausgerechnet mich darum bitten!« sagte Wade. »Seien sie doch vernünftig, junger Mann, ich ...« »Ach, halten Sie den Mund!« unterbrach Wade ihn wütend. »Denken Sie an das, was Ihnen vorher passiert ist, und seien Sie endlich still!« »Hören Sie zu, junger Mann«, fuhr der Kommissar unbeirrt fort, »das war nur, weil ich nicht daran gewöhnt war. Aber jetzt bin ich ...« Er grinste und fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. »Jetzt habe ich Geschmack daran gefunden.« Der Wagen bog um eine Ecke. Nicht sehr weit davon entfernt stand Wades Zeitkammer. »Dann müssen Sie sich eben den Geschmack wieder abgewöhnen«, riet Wade dem Alten und ließ die Augen nicht von ihm. Der Kommissar machte ein verzweifeltes Gesicht. Seine klauenartigen Finger umschlossen das Lenkrad fester. Sein linker Fuß klopfte energisch auf den Boden des Fahrzeugs. »Sie wollen also wirklich nicht?« fragte er drohend. »Sie haben Glück, daß ich Sie nicht erschieße.« 186
Castlemould schwieg. Er starrte auf die Straße. Der Wagen hielt in unmittelbarer Nähe der Zeitkammer. »Sagen Sie den Polizisten, daß Sie die Kammer persönlich besichtigen wollen«, ordnete Wade an. »Und wenn ich es nicht tue?« »Dann drücke ich ab.« Castlemould zwang sich zu einem verzerrten Lächeln, als die Polizisten sich dem Wagen näherten. »He, was soll der Unsinn be... ohhh, Herr Hochkommissar!« sagte der erste Beamte, während seine barsche Stimme ihren Befehlston verlor und unterwürfig klang. »Kann ich Ihnen behilflich sein?« erkundigte er sich und zog dienstbeflissen die Mütze. »Ich will mir das – äh – Ding einmal selbst ansehen«, sagte Castlemould. »Ich möchte etwas überprüfen.« »Selbstverständlich, Sir«, antwortete der Polizist. »Ich habe die Waffe jetzt in der Jackentasche«, stellte Wade ruhig fest. Der Kommissar stieg schweigend ans. Die beiden Männer gingen nebeneinander auf die Zeitkammer zu. »Ich steige zuerst hinein«, kündigte Castlemould an. »Vielleicht ist es doch irgendwie gefährlich.« Die Polizisten murmelten beifällig über diesen Mutbeweis ihres Vorgesetzten. Wade kniff die Lippen zusammen. Dann überlegte er befriedigt, wie er den Alten als Ausgleich dafür mit einem kräftigen Fußtritt auf die Straße befördern würde. Castlemoulds alte Gelenke knackten verdächtig, als er die kurze Leiter bis zu dem Einstiegsluk emporkletterte. Er stöhnte vor Anstrengung. Wade schob kräftig nach und freute sich, als er hörte, daß der Kommissar drinnen mit dem Kopf voran gegen ein stählernes Schott knallte. 187
Dann war er selbst an der Reihe, mußte aber feststellen, daß er mit einer Hand allein die Leiter nicht erklimmen konnte. Deshalb griff er mit beiden Händen nach den Stufen und schwang sich rasch hinauf. In dem Augenblick, in dem Wade seinen Oberkörper durch das Luk steckte, griff Castlemould ihm in die Tasche und riß die Waffe heraus. »Hehehe!« Sein schrilles Gelächter wurde von den Wänden der Kapsel zurückgeworfen. Wade lehnte sich gegen das Schott. In dem hier herrschenden Halbdunkel war nur wenig zu erkennen. »Was haben Sie jetzt vor?« erkundigte er sich gelassen. Das Gebiß des anderen blitzte. »Sie werden mich mitnehmen«, kündigte Castlemould an. »Ich bleibe bei Ihnen.« »Hier ist nur Platz für einen.« »Dann bin eben ich der eine.« »Sie können die Kammer nicht bedienen.« »Zeigen Sie es mir!« befahl Castlemould. »Und wenn ich mich weigere?« »Wenn Sie es nicht tun, erschieße ich Sie.« Wade beherrschte sich nur mühsam. »Was wird aus mir, wenn ich Ihnen die Bedienung der Kammer erkläre?« fragte er. »Dann bleiben Sie hier, bis ich zurückkomme.« »Ich glaube Ihnen kein Wort.« »Das müssen Sie aber wohl oder übel, junger Mann«, meinte der Kommissar spöttisch. »Los, zeigen Sie mir, wie das komische Ding funktioniert!« Wade griff in seine Tasche. »Vorsichtig!« warnte Castlemould. »Darf ich nicht einmal die Bedienungsanweisung 188
herausholen?« »Doch, aber keine schnellen Bewegungen. Die Bedienungsanleitung, was?« »Sie würden bestimmt kein Wort davon verstehen.« Wade holte etwas aus seiner Tasche. »Was haben Sie da in der Hand?« fragte Castlemould. »Das ist kein Papier.« »Ein Riegel Schokolade«, erklärte Wade genießerisch. »Ein dicker, süßer Riegel Vollmilchschokolade mit ganzen Nüssen.« »Geben Sie ihn her!« »Hier. Nehmen Sie ihn.« Der Kommissar griff hastig danach. So hastig, daß er stolperte, wobei der Lauf seiner Waffe zu Boden zeigte. Als der Alte stürzte, faßte Wade ihn am Kragen und am Hosenboden. Hochkommissar Castlemould flog in hohem Bogen aus dem Luk und krachte auf den Gehsteig. Überraschte Ausrufe. Die Polizisten waren entsetzt. Wade warf den Riegel Schokolade hinterher. »Schweinehund!« brüllte er dazu und wäre vor Lachen fast erstickt, als der Riegel von Castlemoulds kahlem Schädel abprallte. Dann knallte er das Luk zu und drehte das große Handrad, bis der Einstieg hermetisch versiegelt war. Er schnallte sich an, überprüfte seine Instrumente und legte dann einen Schalter um. Während dieser Zeit schmunzelte er noch immer vor sich hin, weil er sich überlegte, welche Ausreden der Kommissar wohl erfinden würde, um den Riegel Schokolade für sich selbst behalten zu können. Augenblicke später war die Kreuzung wieder leer und die Kugel verschwunden. Nur ein bläulicher Rauchschleier hing noch in der Luft, aber eine leichte Brise sorgte dafür, 189
daß er nicht lange sichtbar war. Auch der beißende Gestank verflog rasch. Die herrschende Stille wurde nur durch ein klagendes Geräusch unterbrochen. Durch das weinerliche Gejammer eines hungrigen alten Mannes. * Die Kammer bebte in allen Fugen, als sie endlich wieder anhielt. Das Luk öffnete sich und zeigte Wade, der herausgeklettert kam. Seine Assistenten und zahlreiche Studenten strömten aus dem Kontrollraum und umringten ihn. »He!« sagte sein Freund. »Du hast es also geschafft, alter Junge. Meinen Glückwunsch!« »Oh, es war ganz einfach«, gab Wade zurück und winkte bescheiden ab, als die übrigen klatschten. »Das muß wirklich gefeiert werden!« meinte sein Freund. »Ich lade dich heute abend ein – zu dem größten Steak, das du je gesehen hast. He, was ist denn plötzlich in dich gefahren?« Professor Wade war puterrot geworden.
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Liebes Tagebuch 10. Juni 1964 Liebes Tagebuch, ganz ehrlich gesagt habe ich dieses verdammte möblierte Loch, das meine Wirtin Zimmer zu nennen wagt, allmählich so satt, daß mir fast schlecht bei dem Gedanken daran ist. Das Fenster ist völlig verdreckt – selbst am Sonntagmorgen bilde ich mir meistens ein, daß es draußen regnet, obwohl gelegentlich sogar die Sonne scheint. Und die herrliche Aussicht! Unterwäsche, die tropfnaß auf der Leine hängt. Strümpfe, Hemden, blaue Arbeitsanzüge – eine bunte Mischung. Kein Wunder, daß man dabei trübsinnig wird und sich wünscht, man wäre schon tot. Ein richtiges Hundeleben. Und der übergeschnappte Trottel in dem Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite des Flures. Der Kerl vermiest mir das Leben noch mehr. Wo er nur das Geld für die Whiskymengen hernimmt, die er Tag für Tag säuft? Wahrscheinlich beraubt er alte Damen. Ständig besoffen – grölt unanständige Lieder und lauert mir in diesem finsteren Flur auf, der wie eine Kulisse zu einem Frankenstein-Film aussieht. Für ein paar Dollar würde ich mir aus einem Versandhaus eine Kleinkaliberpistole kommen lassen. Dann könnte ich den Unsympathen damit abknallen. Natürlich würden sie mich erwischen und einsperren, aber dann brauchte ich mir wenigstens keine Sorgen mehr zu machen. Ach was, der Kerl ist die Mühe nicht wert. Und morgen abend wird es erst richtig schön. Harry 191
Hartley hat mich ins Kino eingeladen. Hinterher will er wie üblich mit mir »zum Essen gehen«, wie er es so vornehm ausdrückt. Wahrscheinlich wieder diese verdammten Spaghetti, von denen man nur dick wird. Und dafür läßt er sich dann endlos nicht mehr abwimmeln. Ehrlich, diese Männer! Es ist so verflucht heiß. Jetzt muß ich noch ein paar Sachen für morgen auswaschen. Ich mag gar nicht daran denken. Ach, haltet doch endlich einmal den Mund! Diese Vollidioten über mir – bla, bla, bla! Die New York Giants, die Brooklyn Dodgers – von mir aus soll alle Baseballmannschaften der Schlag treffen! Und wenn ich an die fürchterliche Fahrt mit der Untergrundbahn denke, die mir morgen bevorsteht – zweimal, hin und zurück! Man kommt sich wie eine menschliche Sardine vor, nur ohne Olivenöl. Ein ausgesprochenes Vergnügen! Mein Gott, was würde ich nicht alles tun, um hier herauszukommen. Ich glaube, ich würde sogar Harry Hartley heiraten – und dann muß es wirklich schlecht um mich stehen, wenn ich schon auf solche Gedanken komme. Warum kann ich nicht auch nach Hollywood gehen und dort ein Filmstar wie Doris Day oder die anderen werden? Dann würden die Männer sich gegenseitig verprügeln, um mir die Hand küssen zu dürfen. Verdufte, Rock, du bist nur lästig. Na, der sollte mich nur belästigen. Ich würde ihn keinen Meter mehr von mir fortlassen. Oh, dieses verdammte trübselige Loch! Was kann ein Mädchen hier schon vom Leben erwarten? Ihre Zukunftsaussichten – nicht vorhanden. Keinen einzigen Mann, der einen gern hat – nur dieser fette Dussel. Ich 192
glaube, ich werde ihn von jetzt ab einfach Spaghetti-Harry nennen. In zwei Wochen habe ich Urlaub. Vierzehn Tage Langeweile. Wahrscheinlich werde ich mit Gladys nach Coney Island zum Baden fahren. Dort hocken wir dann an dem verdammten Strand, beobachten die alten Männer, die im Wasser planschen, und ärgern uns krank, weil überall nur Liebespaare herumliegen. Kein einziger Junggeselle. Und dann bekomme ich einen erstklassigen Sonnenbrand. Vielleicht sogar Fieber. Und wir sehen uns dämliche Filme an. Puh, ist das ein Leben! Warum kann ich nicht ein paar Jahrtausende später leben? Dann brauchte ich wenigstens nicht zu arbeiten. Ich würde in einer hübschen Wohnung ganz für mich allein leben, könnte ab und zu mit einer Rakete fliegen, brauchte nur noch Pillen statt Mahlzeiten zu essen und würde in einer Gesellschaft leben, in der freie Liebe die Regel ist. Das würde mir gefallen! Die Pillen, natürlich. Endlich nicht mehr kochen! Heutzutage ist man am besten unter der Erde aufgehoben. Überall Kriege, jeder Mensch ist auf den anderen neidisch – was soll das Leben da schon taugen? Jetzt muß ich aber wirklich waschen. Ich wüßte nichts, was ich lieber täte! 10. Juni 3964 Liebes Diarium, irgendwann werde ich dieses verdammte Plastikhochhaus so satt haben, daß ich mich übergeben muß, weil ich mich nicht mehr beherrschen kann, wenn ich daran denke. Diese trübselige Aussicht vor meinem Fenster! 193
Der Raumhafen auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die ganze Nacht hindurch ein Start nach dem anderen – fffitt, fffit, fffitt – und die hellrot glühenden Flammen aus den Düsen. Selbst wenn ich ein Dutzend Tabletten nehme und mir Augen und Ohren mit Narcotilotion einreibe, kann ich unmöglich ruhig schlafen. Eines Tages werde ich noch einen Nervenzusammenbruch bekommen. Eine schöne Misere! Und dieser Idiot in dem Appartement neben mir mit seiner Strahlenmaschine. Ich könnte vor Wut aus der Haut fahren, wenn ich mir überlege, daß er damit durch die Plastikwände sehen kann. Selbst wenn ich den Wandschirm um mein Bett stelle, fühle ich mich unausgesetzt beobachtet. Wo er wohl die Bezugsscheine für die Materialien herbekommt, die er für seine Erfindungen braucht? Sein kümmerlicher Job in der Abfertigung des Raumhafens bringt unmöglich soviel ein. Ich würde mich nicht wundern, wenn er im Büro Warengutscheine mitgehen läßt. Für zwei Minimascheine würde ich mir im Depot eine Strahlenpistole geben lassen und den verdammten Erzschnüffler in seine Bestandteile auflösen. Dann würden sie mich in die Strafkolonie auf Venus deportieren, und ich hätte keine Sorgen mehr. Nein, es lohnt sich doch nicht. Ich kann die Hitze nicht vertragen. Sandstürme sind mir auch zuwider. Und morgen abend – eigentlich müßte ich vor Freude einen Luftsprung machen – will Hendrick Halley mit mir ins Raumkino gehen. Hinterher lädt er mich wieder zum Essen ein – gegrillte Mondfledermaus, wie gehabt – und will anschließend bei mir übernachten. Ehrlich, diese Männer! 194
Oh, wenn es nur nicht so abscheulich heiß wäre! Und mein Elektrowascher muß auch gerade dann versagen, wenn ich ihn brauche. Jetzt muß ich in die RaumMünzwäscherei, um meine Sachen für morgen zu waschen, und dabei fühle ich mich bei Nachtflügen so unsicher. Schon wieder diese Trottel, die über mir wohnen! Warum drehen sie nicht endlich ihren Lautsprecher leiser? Aber unsere Regierung will ja jedes Wort erfahren, das wir von uns geben ... Jetzt fangen sie wieder an. Die Mars Giants, die Saturn Dodgers – alle Baseballmannschaften müßte man ohne Schutzanzug irgendwo im Raum aussetzen! Und wenn ich an den entsetzlichen Raumflug denke, den ich morgen vor mir habe – gleich zweimal! In diesem gräßlichen Schiff. Man stelle sich vor – mehr als eine Stunde Flugzeit bis zum Mars! Oh, das ist wirklich fast zuviel. Was würde ich nicht alles tun, um hier herauszukommen. Hendrick Halley als Partner nehmen? Großer Gott, steht es schon so schlimm mit mir? Am schönsten wäre es natürlich, wenn ich ein berühmter Filmstar wie Gell Fig oder die anderen werden könnte. Dann würden alle Männer einen auf den Knien anflehen, daß man mit ihnen fortfliegen und ihren Heimatplaneten besuchen soll. Ich hasse diese saubere, fleckenlose Stadt. Ein ödes Nest! Habe ich denn hier eine Zukunft? Nein, ganz bestimmt nicht. Ich habe nicht einmal einen Mann, den ich als Partner möchte – gewiß nicht diesen Mondfledermaus-Harry mit seinem fliegenden Schrotthaufen. Er bezeichnet ihn stolz als Raumjacht, dabei hat die Kiste lauter verrostete Nähte. Ich würde damit nicht einmal nach Europa fliegen mögen. 195
In zwei Wochen mache ich Ferien. Nichts zu tun. Langweiliger Abstecher in das Erholungszentrum auf dem Mond. Dort sitze ich dann am Schwimmbecken und sehe zu, wie die jungen Leute sich herrlich amüsieren. Und dann bekomme ich den verdammten roten Staub in die Nase und muß mit Fieber ins Bett. Und eine Menge Vorstellungen im Raumtheater. Ich wünschte mir nur, ich wäre vor einigen Jahrtausenden auf die Welt gekommen. In der guten alten Zeit, als die Menschen noch wußten, wofür sie lebten und arbeiteten. Als die Männer noch wirkliche Männer waren – nicht die glatzköpfigen, zahnlosen Idioten, die sie heute sind. Dann könnte ich wenigstens tun und lassen, was mir Spaß macht, ohne daß eine Regierung jeden einzelnen Schritt nachkontrolliert. Nein, in diesen trübseligen Zeiten hätte man lieber gar nicht erst auf die Welt kommen sollen. Was kann eine junge Frau in meiner Lage schon vom Leben erwarten? Aber jetzt muß ich wirklich losfliegen, damit meine Sachen noch rechtzeitig gewaschen werden. Waschen – meine absolute Lieblingsbeschäftigung! LXIV Liebe Steintafel, allmählich hängt mir diese verdammte Höhle so zum Hals heraus, daß ich ...
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Krieg der Hexen Sieben hübsche Mädchen, die in einer Reihe nebeneinander sitzen. Draußen Dunkelheit und strömender Regen – Kriegswetter. Drinnen behagliche Wärme. Sieben uniformierte Mädchen, die sich eifrig miteinander unterhalten. Ein Schild an der Wand, auf dem mit großen Buchstaben HM-ZENTRUM steht. Der Himmel räuspert sich mit Donnergetöse. Blitze zucken über den Himmel und zerreißen die Nacht mit ihrem fahlen Schein. Dichter Regen, der die Bäume zu Boden drückt und die Erde aufweicht. Ein niedriges quadratisches Gebäude, dessen Vorderfront aus Plastikmaterial besteht. Im Innern das Geplapper der sieben hübschen Mädchen. »Dann habe ich zu ihm gesagt – ›Bilden Sie sich nur das nicht ein, Sie alter Angeber‹ – und er sagt: ›Oh, wirklich?‹ und ich sage: ›Wirklich!‹ und er zieht mit beleidigtem Gesicht ab.« »Ehrlich, ich bin heilfroh, wenn diese ganze Sache endlich vorüber ist! Als ich letztes Mal Ausgang hatte, habe ich den entzückendsten kleinen Hut gesehen, den ihr euch vorstellen könnt. Oh, was würde ich dafür geben, wenn ich ihn hier tragen dürfte!« »Du auch? Ich war ganz hingerissen davon! Dabei kann man hier nicht einmal sein Haar in Ordnung halten. Jedenfalls nicht bei diesem Wetter. Warum sind sie eigentlich immer so dagegen, daß wir es ein bißchen freundlicher machen?« »Männer! Mir wird schon schlecht, wenn ich nur daran denke!« 197
Sieben Handbewegungen, sieben Posen, siebenfaches Lachen, das im Donnergrollen untergeht. Perlweiße Zähne zwischen lächelnden roten Lippen. Lebhaft gestikulierende Hände, die Bilder in die Luft zeichnen. HM-ZENTRUM. Mädchen. Insgesamt sieben. Hübsch. Keine über sechzehn Jahre. Locken. Zöpfchen. Ponyfrisuren. Gespitzte junge Lippen – lächelnd, ernst, stets in Bewegung. Glänzende junge Augen – blitzend, verengt, kalt oder warm. Sieben gesunde junge Körper auf sieben hochlehnigen Stühlen. Gesunde junge Glieder. Mädchen – hübsche Mädchen – sieben an der Zahl. * Ein Heer aus häßlichen, formlosen Männern, die durch den knöcheltiefen Schlamm stolpern. Sie trotten in der Dunkelheit die aufgeweichte Straße entlang. Strömender Regen. Wie aus riesigen Eimern ergießt er sich über die erschöpften Männer. Die Stiefel versinken in dem gelbbraunen Schlamm, jeder Schritt ist eine Qual. Der Lehm bleibt in dicken Batzen an ihren Füßen hängen. Marschierende Männer – Hunderte, Tausende –, durchweicht, elend, ausgepumpt. Junge Männer, die tief gebeugt wie Greise gehen. Hängende Schultern, weit aufgerissene Münder, die gierig die feuchte Nachtluft einsaugen, tief in den Höhlen liegende Augen, die blicklos zu Boden starren. Rast. Männer sinken in den Schlamm, lassen sich müde auf ihr Gepäck nieder. Köpfe fallen nach hinten, Münder öffnen sich. Regen peitscht die Gesichter. Unbewegliche Hände – 198
erschlaffte Werkzeuge aus Fleisch und Knochen. Ausgestreckte Beine – khakiumhüllte Fortbewegungsmittel. Hunderte von müden Gliedmaßen an Hunderten von erschöpften Körpern. Vor ihnen, neben ihnen, hinter ihnen her brummen Lastwagen, rumpeln Panzer, jaulen Jeeps auf. Dicke Reifen spritzen Schmutz und Wasser nach allen Seiten. Breite Ketten mahlen durch den braunen Schlamm. Der Regen trommelt unablässig gegen Stahl und Leinenplanen. Photoblitze ohne Bilder. Plötzliche Lichtausbrüche. Für Zehntelsekunden ist das Gesicht des Krieges sichtbar – es besteht aus verrosteten Waffen und sich drehenden Rädern und erschöpften Menschen. Dunkelheit. Auf jeden Blitzstrahl folgt wieder finsterste Nacht. Der Wind treibt den Regen schräg über Felder und Straßen, gegen Bäume und Fahrzeuge. Überall rinnen braune Bäche über die nackte Erde. Blitze, Donner, wieder Blitze. Ein schriller Pfiff. Die Toten stehen wieder auf. Stiefel hinter lassen tiefe Spuren im Schlamm. Vorwärts, weiter, näher. Dort liegt eine Stadt, die den Weg zu einer Stadt versperrt, die den Weg zu ... * Ein Offizier saß in dem Nachrichtenraum, der zu dem HMZENTRUM gehörte. Er sah den Funker an, der vor seinem Gerät hockte. Der Mann hatte den Kopfhörer über den Ohren und schrieb einen Funkspruch mit. Der Offizier beobachtete den Funker. Sie kommen, dachte er. Frierend, durchnäßt und ängstlich – aber sie kommen trotzdem näher. Er zitterte und schloß die Augen. 199
Dann riß er sie wieder auf. Die Visionen waren kaum zu ertragen – wirbelnder Rauch, schreiende Männer, die in Flammen aufgehen, unvorstellbare Schrecken, die sich in Worten oder Bildern nicht ausdrücken lassen. »Sir«, sagte der Funker, »eine Nachricht von unserem vorgeschobenen Beobachter. Der Feind ist bereits in Sicht.« Der Offizier stand auf, ging zu dem Funker hinüber und nahm den Spruch entgegen. Er las die Nachricht, ohne eine Miene zu verziehen. Nur seine Backenknochen traten sehr deutlich hervor, als er die Zähne zusammenbiß. »Ja«, sagte er. Er drehte sich um und ging auf die Tür zu. Er öffnete sie und betrat den Nebenraum. Die sieben Mädchen schwiegen. In dem Raum herrschte tiefe Stille. Der Offizier stand mit dem Rücken zu der Plastikwand. »Feinde«, sagte er. »Zwei Meilen von hier entfernt. Genau vor euch.« Er machte eine Kehrtwendung und zeigte ins Freie hinaus. »Dort draußen. Entfernung zwei Meilen. Noch Fragen?« Eines der Mädchen kicherte. »Mit Fahrzeugen?« erkundigte sich ein anderes. »Ja. Ungefähr fünfzig schwere Lastwagen, ebenso viele leichtere, sieben oder acht Jeeps, zwischen dreißig und vierzig Panzer.« »Das ist fast zu leicht«, lachte das Mädchen und strich sich die Haare aus der Stirn. »Das wäre alles«, sagte der Offizier. Er ging an die Tür. »Macht eure Sache gut«, fügte er hinzu, und ganz leise, »Ungeheuer!« Er verließ den Raum. 200
»Oh«, seufzte ein Mädchen. »Jetzt fängt es schon wieder an.« »Wie mich das alles langweilt!« meinte ihre Nachbarin. Sie öffnete den Mund und holte ein Stück Kaugummi heraus. Sie klebte ihn gegen die Unterseite ihres Stuhls. »Wenigstens regnet es nicht mehr«, stellte eine Rothaarige fest. Die sieben Mädchen sahen einander ins Gesicht. Bist du bereit? fragten ihre Augen. Ja, es kann losgehen! antworteten ihre Blicke. Sie rückten sich noch einmal auf ihren Stühlen zurecht. Sie hakten ihre Füße hinter die Stuhlbeine. Die Kaugummis wurden irgendwohin geklebt. Die hübschen kleinen Mädchen bereiteten sich auf ihr Spiel vor. Schließlich saßen alle ruhig auf ihren Stühlen. Ein Mädchen holte tief Luft. Die anderen ebenfalls. Alle verschränkten ihre zierlichen Finger und spannten unwillkürlich die Muskeln. »Jetzt«, sagte das Mädchen, die in der Reihe ganz rechts außen saß. Sieben Wimpernpaare senkten sich. Sieben unschuldige junge Gehirne begannen sich etwas vorzustellen, etwas zu sehen, etwas zu transportieren. Lippen wurden zu schmalen Strichen, das Blut wich aus den Gesichtern, Körper zitterten und bebten leidenschaftlich. Sieben hübsche kleine Mädchen kämpften eine Schlacht. * Die Männer hatten gerade eine lange Steigung überwunden, als der Angriff erfolgte. Die Vordersten 201
wurden zu lodernden Fackeln, bevor sie noch einen Schritt tun konnten. Selbst für einen Entsetzensschrei war es zu spät. Die Waffen fielen aus ihren kraftlos gewordenen Händen, ihre Augen schlossen sich vor dem Feuer. Sie torkelten noch einige Schritte und stürzten verkohlt in den Schlamm der Straße. Männer brüllten. Die Kolonne löste sich auf. Gewehre knallten ziellos in die Nacht hinein. Immer wieder wurden andere von den Flammen erfaßt, lohten auf und verkohlten. »Ausschwärmen!« schrie ein Offizier, aber aus seinen ausgebreiteten Armen schlugen Flammen. Sein Gesicht verschwand in einem gelbroten Gluthauch. Die Männer sahen sich hilflos um. Ihre entsetzten Augen suchten nach dem Gegner. Sie schossen wild um sich. Sie trafen ihre eigenen Kameraden. Sie jagten keuchend durch den Schlamm. Ein Lastwagen ging in Flammen auf. Der Fahrer sprang heraus. Er glich einer zweibeinigen Fackel. Der Lastwagen fuhr noch ein Stück weiter, krachte gegen einen Baum, explodierte und brannte aus. Dunkle Schatten huschten an ihm vorüber. Schreie zerrissen die Nacht. Ein Mann nach dem anderen begann zu brennen und blieb im Schlamm liegen. Überall glühende Punkte in der Dunkelheit. Schreie. Verbrannte Leiber. Lastwagen in Flammen. Explodierende Panzer. Eine kleine Blondine, deren Körper vor unterdrückter Erregung bebt. Ihre Lippen zittern, in ihrer Kehle schwingt ein Lachen mit. Ihre Atemzüge kommen stoßweise. Sie fährt angstvoll zusammen. Sie stellt sich vor, stellt sich vor ... Ein Soldat flüchtet schreiend über ein Feld, in seinen Augen steht die Todesangst. Ein riesiger Felsbrocken rast 202
aus dem Nachthimmel auf den Mann zu. Sein Körper wird in den weichen Erdboden hineingetrieben. Der Felsen steigt von der Erde auf, kracht nochmals nieder. Er zerschmettert einen brennenden Lastwagen. Der Felsbrocken fliegt wieder in den dunklen Himmel hinauf. Eine hübsche Brünette, deren Gesicht einer verzerrten Maske gleicht. Wilde Gedanken durchzucken ihr Gehirn. Ihre Haare sträuben sich. Der Mund steht offen und läßt die weißen Zähne sehen. Sie stellt sich vor, stellt sich vor ... Ein Soldat sinkt in die Knie. Er hebt erschrocken den Kopf. Von brennenden Kameraden umgeben, starrt er wie betäubt die turmhohe Woge an, die sich über ihm erhebt. Sie stürzt nieder, reißt seinen Körper mit sich, füllt seine Lungen mit Salzwasser. Die Flutwelle rast über das Feld, ertränkt Hunderte von Männern und schleudert ihre Leichen auf weißen Schaumkronen hoch in die Luft. Plötzlich hält das Wasser an, zerfliegt in Milliarden winzige Teilchen und ist verschwunden. Eine zierliche Rothaarige, deren Hände unter dem Kinn zu Fäusten geballt sind. Ihre Schultern zucken vor unterdrücktem Lachen. Sie runzelt angestrengt die Stirn. Auf ihrer Nase zeigen sich Fältchen. Sie stellt sich vor, sie stellt sich vor ... Ein flüchtender Soldat prallt mit einem Löwen zusammen. Er sieht in der Dunkelheit nur schlecht. Seine Hände greifen vergebens nach der zottigen Mähne. Er schlägt mit dem Kolben seines Gewehrs zu. Ein Aufschrei. Die breite Pranke fährt über das Gesicht und hinterläßt eine blutige Masse. Das Brüllen des Raubtiers erfüllt die Nacht. Ein rotäugiger Elefant trampelt durch den Schlamm, 203
umschlingt Männer mit seinem Rüssel, schleudert sie von sich fort, rast über sie hinweg weiter. Wölfe tauchen aus der Dunkelheit auf und springen den Männern an die Kehle. Gorillas schlagen sich wütend an die Brust und gehen zum Angriff über. Ein Nashorn, dessen dunkler Panzer im Schein der menschlichen Fackeln matt glänzt, prallt auf einen explodierten Panzer, wirft sich herum, donnert durch die Nacht, ist verschwunden. Fänge – Krallen – Reißzähne – Schreie – Trompetenstöße – Gebrüll – Vom Himmel herab regnet es Schlangen. * Stille. Tiefes, entsetztes Schweigen. Kein Windhauch mehr, der Regen hat aufgehört, die Donner sind verstummt. Die Schlacht ist vorüber. Der graue Morgennebel senkt sich über die Verbrannten, die Zerrissenen, die Ersäuften, die Zerschmetterten, die Vergifteten, die leblosen Gestalten. Bewegungslose Lastwagen. Umgestürzte Panzer, von denen ein öliger Rauch aufsteigt, der ihre aufgerissenen Flanken verbirgt. Der Tod beherrscht das Feld. Nur eine Schlacht in einem langen Krieg. Sieg. Alle sind tot. Die Mädchen reckten und streckten sich. Sie hoben die Arme und gähnten dazu. Sie sahen sich gegenseitig an und kicherten schüchtern. Einige wurden rot. Andere sahen schuldbewußt zu Boden. Dann brachen sie aber doch in lautes Gelächter aus. Sie 204
öffneten ein neues Päckchen Kaugummi, holten Puderdosen aus den Taschen und sprachen leise miteinander. In dem vertraulichen Flüstern, mit dem Privatgeheimnisse weitergegeben werden. Leises Lachen erfüllte den warmen Raum. »Sind wir Mutanten nicht schrecklich?« fragte ein Mädchen, während sie sich die Nase puderte. Dann gingen sie alle zusammen zum Frühstück.
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Mamas Zimmer Hier ist alles ruhig und ich bin es auch. Großmutter hat mich in mein Zimmer eingeschlossen und will mich nicht herauslassen. Weil es passiert ist, sagt sie. Ich glaube, daß ich böse war. Aber daran ist nur das Kleid schuld. Mamas Kleid meine ich. Sie ist für immer fortgegangen. Großmutter sagt, deine Mama ist im Himmel. Das kann ich nicht begreifen. Wieso ist sie im Himmel, wenn sie tot ist. Jetzt höre ich Großmutter. Sie ist in Mamas Zimmer. Sie legt Mamas Kleid in die Schachtel zurück. Warum tut sie das immer. Und dann schließt sie es ein. Das mag ich nicht gern. Es ist ein hübsches Kleid und riecht so gut. Und warm. Ich habe es mir manchmal an das Gesicht gehalten. Aber jetzt kann ich das nicht mehr. Weil Großmutter böse auf mich ist. Allerdings weiß ich es nicht ganz sicher. Heute war ein ganz gewöhnlicher Tag wie alle anderen. Mary Jane kam zu uns. Sie lebt in einem Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie kommt jeden Tag zu mir und wir spielen. Auch heute. Ich habe sieben Puppen und ein rotes Feuerwehrauto. Heute sagte Großmutter, spielt schön mit den Puppen und ihm. Geht nicht in Mamas Zimmer, sagte sie. Das sagt sie immer. Ich glaube, daß sie nicht will, daß ich dort etwas unordentlich mache. Darum sagt sie es so oft. Geh nicht in Mamas Zimmer. Einfach so. Aber in Mamas Zimmer ist es schön. Wenn es regnet gehe ich dorthin. Oder wenn Großmutter ihren Mittagsschlaf hält. Ich bin ganz leise. Ich sitze nur auf dem 206
Bett und fasse die weiße Decke an. Wie früher als ich noch klein war. Das Zimmer riecht gut. Ich stelle mir vor, wie Mama sich anzieht und bilde mir ein, daß ich zusehen darf. Ich rieche ihr weißes Seidenkleid. Ihr Kleid zum Ausgehen. Ich erinnere mich daran, daß sie es so genannt hat. Wenn ich sehr gut hinhöre glaube ich ein leises Knistern zu vernehmen. Ich sehe Mama vor mir an dem Toilettentisch sitzen. Wie sie gerade eine Flasche Parfüm oder etwas in der Hand hat, meine ich. Und ich sehe ihre großen schwarzen Augen. Ich erinnere mich an alles was mit ihr zusammenhängt. Es ist so nett wenn es regnet und ich Augen am Fenster sehe. Der Regen klingt wie ein großer Riese dort draußen. Er sagt pscht pscht damit alle Leute still sind. Ich stelle mir gern vor wie er das sagt, wenn ich in Mamas Zimmer bin. Aber fast am liebsten sitze ich doch vor Mamas Toilettentisch. Er ist ganz rosa, sehr groß und riecht so gut. Der Hocker davor hat ein weiches Kissen, das darauf aufgenäht ist. Überall stehen Flaschen und Flaschen mit merkwürdigen Formen, in denen farbige Parfüms sind. Und man kann sich fast ganz in dem Spiegel sehen. Wenn ich dort sitze, bilde ich mir ein, daß ich Mama bin. Ich sage, sei still Mutter, ich gehe jetzt aus und du kannst mich auf keinen Fall zurückhalten. Das ist etwas, das ich sage ohne zu wissen warum als hörte ich es in mir. Und oh hör doch endlich mit dem Gejammer auf Mutter, mich erwischen sie nicht, ich habe doch die magische Robe an. Dann stelle ich mir vor wie ich mein langes Haar bürste. Aber ich nehme dazu immer meine eigene Bürste aus meinem Zimmer. Ich habe Mamas Bürste nie genommen. Ich glaube nicht, daß Großmutter deshalb auf mich böse ist, 207
weil ich nie Mamas Bürste benützt habe. Das würde ich bestimmt nie tun. Manchmal habe ich die Schachtel aufgemacht. Weil ich weiß, wo Großmutter den Schlüssel zu der Kiste versteckt. Zu dem Schloß meine ich. Ich habe sie einmal dabei beobachtet, als sie nicht wußte, daß ich ihr zusehe. Sie hängt den Schlüssel an den Haken in Mamas Kleiderschrank. Hinter die Tür meine ich. Ich habe die Kiste oft aufgeschlossen. Weil ich Mamas Kleid immer wieder ansehen wollte. Ich sehe es am liebsten an. Es ist so hübsch und fühlt sich weich an und wie Seide. Ich könnte es eine Million Jahre lang streicheln. Ich knie auf dem Teppich mit den Rosen darauf. Ich halte das Kleid in den Armen und rieche daran. Ich drücke es gegen mein Gesicht. Ich wünsche mir, daß ich es mit ins Bett nehmen könnte und so einschlafen könnte. Das wäre schön. Aber jetzt darf ich es ganz bestimmt nicht mehr. Großmutter hat es gesagt. Und sie sagt, ich sollte es verbrennen, aber ich habe sie doch so geliebt. Und sie weint bis ihre Tränen auf das Kleid fallen. Ich bin immer vorsichtig damit gewesen. Ich habe es wieder zusammengefaltet und so zurückgelegt, als hätte niemand es angefaßt. Großmutter hat nichts davon gewußt. Ich habe darüber gelacht, daß sie es nicht vorher wußte. Aber jetzt weiß sie, daß ich es getan habe, vermute ich. Und sie wird mich dafür bestrafen. Was habe ich ihr damit getan. War es nicht früher Mamas Kleid. Was ich wirklich am allerliebsten in Mamas Zimmer habe, ist Mamas Bild anschauen. Es hat ein goldenes Ding rundherum. Rahmen sagt Großmutter dazu. Es ist an der Wand über dem Schreibtisch. Mama ist schön. Deine Mama war schön, sagt 208
Großmutter. Warum sagt sie das? Ich sehe Mama wie sie von dort aus zu mir herunterlächelt und sie ist schön. Für immer. Ihre Haare sind schwarz. Wie meine. Ihre Augen sind ebenfalls dunkel und ganz groß. Ihre Lippen sind rot, so rot. Ich mag das Kleid, denn es ist das weiße. Es geht nicht bis über die Schultern. Ihre Haut ist auch weiß, fast so weiß wie das Kleid. Und ihre Hände sind es auch. Sie ist so schön. Ich liebe sie, obwohl sie für immer fortgegangen ist und mich allein gelassen hat. Ich liebe sie so sehr. Ich glaube, das ist auch der Grund dafür, weshalb ich heute so böse war. Zu Mary Jane meine ich. Mary Jane kam nach dem Mittagessen wie sie es immer tut. Großmutter ging in ihr Zimmer, um ihren Mittagsschlaf zu halten. Sie sagte, vergiß nicht, daß du auf keinen Fall in Mamas Zimmer darfst. Ich sagte, nein, bestimmt nicht, Großmutter. Und ich meinte es auch so, aber dann kam Mary Jane und ich spielte gerade mit dem Feuerwehrauto. Mary Jane sagte, ich wette, du hast gar keine Mutter, ich wette, du hast dir das alles nur ausgedacht, sagte sie. Ich war böse auf sie. Ich habe eine Mama, ich weiß es genau. Ich war wütend auf sie, weil sie gesagt hatte, daß ich mir alles ausgedacht habe. Sie sagte, daß ich eine Lügnerin bin. Ich meine in bezug auf das Bett und den Toilettentisch und das Bild und sogar das Seidenkleid und alles. Ich sagte, gut dann werde ich es dir zeigen, du Naseweis. Ich sah in Großmutters Zimmer hinein. Sie hielt noch immer ihren Mittagsschlaf. Ich ging wieder nach unten und sagte zu Mary Jane komm mit weil Großmutter es nicht merken würde. Dann war sie auf einmal nicht mehr so vorlaut wie 209
vorher. Sie kicherte albern was sie sonst nie tut. Als sie oben im Flur gegen einen Tisch stieß, den sie im Halbdunkel nicht gesehen hatte, war sie sehr erschrocken. Ich sagte, du bist ein richtiger Angsthase zu ihr und lachte. Sie sagte, bei mir zu Hause ist nicht alles so finster wie hier. Als ob es so dunkel gewesen wäre. Wir gingen in Mamas Zimmer. Dort war es nicht mehr so dunkel. Ich sagte, das ist das Zimmer meiner Mama, aber du meinst ja, daß ich mir alles nur ausgedacht habe. Sie war in der Tür stehengeblieben und war jetzt gar nicht mehr so schlau. Sie sagte kein einziges Wort. Sie sah nur das Zimmer an. Sie fuhr zusammen, als ich sie am Arm faßte. Komm schon endlich herein, damit ich die Tür zumachen kann, sagte ich. Ich setzte mich auf das Bett und sagte, das ist Mamas Bett, sieh nur wie weich es ist. Sie sagte nichts. Angsthase, sagte ich. Ich bin aber keiner, sagte sie, wie sie es immer tut. Ich sagte, du mußt dich auch auf das Bett setzen, wie willst du denn sehen, daß es weich ist, wenn du dich nicht daraufsetzt. Sie setzte sich neben mich. Ich sagte, fühlst du wie weich es ist. Riechst du wie es duftet. Ich schloß die Augen, aber irgendwie war es nicht so schön wie sonst. Weil Mary Jane dabei war. Ich sagte, hör auf mit den Händen über die Bettdecke zu streichen. Du hast aber gesagt, daß ich es tun soll, sagte sie. Hör auf damit, sagte ich. Siehst du, sagte ich und zog sie an der Hand in die Höhe. Das ist der Toilettentisch. Ich ließ sie nicht los bis wir davorstanden. Sie sagte, laß meine Hand los. Alles war so ruhig und wie sonst immer. Ich fühlte mich unbehaglich. Weil Mary Jane hier war. Weil wir in Mamas Zimmer 210
waren und Mama hätte es bestimmt nicht gern, daß Mary Jane hier ist. Aber ich wollte ihr trotzdem alles zeigen. Ich zeigte ihr den Spiegel. Wir sahen beide hinein und sahen uns gegenseitig. Sie sah ganz weiß aus. Mary Jane ist ein Angsthase, sagte ich. Bin ich nicht, bin ich nicht, sagte sie und außerdem ist es sonst in keinem Haus so düster und totenstill. Und überhaupt riecht es hier nicht gut, sagte sie. Ich wurde böse auf sie. Nein, es riecht nicht schlecht, sagte ich. Doch, sagte sie, du hast es selbst einmal gesagt. Ich wurde noch böser. Es riecht wie Zucker, sagte sie. In dem Zimmer deiner Mama riecht es wie kranke Leute. Das darfst du nicht sagen, daß es im Zimmer meiner Mama wie kranke Leute riecht, sagte ich zu ihr. Ach was, du hast mir gar kein Kleid gezeigt und du lügst, sagte sie, hier ist bestimmt kein Kleid. Mir wurde plötzlich ganz heiß, deshalb riß ich sie an den Haaren. Ich werde es dir zeigen, sagte ich, du wirst das Kleid meiner Mama zu sehen bekommen und nenne mich lieber keine Lügnerin sonst geht es dir schlecht. Ich ließ sie stehen und holte den Schlüssel von dem Haken im Kleiderschrank. Ich kniete nieder. Dann öffnete ich die Kiste mit dem Schlüssel. Mary Jane sagte, puh das riecht wie ein Abfallhaufen. Ich fuhr ihr mit den Fingernägeln durch das Gesicht und sie trat einen Schritt zurück und wurde böse auf mich. Du darfst mich nicht kratzen, sagte sie und war dabei ganz rot. Ich werde meiner Mutter sagen, was du getan hast, sagte sie. Und überhaupt ist das kein weißes Kleid, sondern es ist schmutzig und häßlich, sagte sie. Es ist nicht schmutzig, sagte ich. Ich sagte es so laut, daß es ein Wunder war, daß Großmutter nicht davon 211
aufgewacht ist. Ich holte das Kleid aus der Kiste. Ich hielt es hoch, um ihr zu zeigen wie weiß es ist. Es fiel knisternd auseinander und der Saum reichte bis auf den Teppich. Es ist doch weiß, sagte ich, ganz weiß und sauber und aus Seide. Nein, sagte sie und war immer noch böse auf mich und rot, es hat ein Loch. Ich wurde immer böser. Wenn meine Mama hier wäre, würde sie es dir zeigen, sagte ich. Du hast ja gar keine Mama, sagte sie ganz häßlich. Ich hasse sie. Ich habe doch eine. Ich sagte es ganz laut. Ich zeigte mit dem Finger auf Mamas Bild. Ach was, wer kann in diesem dummen finsteren Zimmer schon etwas sehen, sagte sie. Ich gab ihr einen festen Stoß und sie fiel gegen den Schreibtisch. Da sieh selbst, sagte ich böse, sieh dir das Bild an. Das ist meine Mama und sie ist die schönste Dame der Welt. Sie ist häßlich und sie hat komische Hände, sagte Mary Jane. Das ist nicht wahr, sagte ich, sie ist die schönste Dame der Welt. Nein, nein, sagte sie, das stimmt nicht, denn sie hat vorstehende Zähne. An alles Weitere erinnere ich mich nicht mehr. Ich glaube, daß das Kleid sich in meinen Armen bewegt hat. Mary Jane schrie etwas. Ich weiß nicht mehr was es war. Es wurde dunkel und die Vorhänge waren zugezogen, glaube ich. Ich konnte nichts mehr erkennen. Ich konnte nichts mehr hören, als vorstehende Zähne, komische Hände, vorstehende Zähne, komische Hände, obwohl niemand es sagte. Dann war noch etwas anderes, denn ich glaube, daß ich eine Stimme gehört habe, die sagte, laß nicht zu, daß sie das sagt. Ich konnte das Kleid nicht mehr festhalten. Aber 212
ich hatte es an, daran erinnere ich mich noch. Weil ich plötzlich groß und erwachsen und stark war. Aber trotzdem war ich noch ein kleines Mädchen. Äußerlich, meine ich. Ich glaube, daß ich dann schrecklich böse gewesen sein muß. Großmutter hat mich von dort fortgeholt, nehme ich an. Ich weiß es nicht. Sie schrie immer wieder, Gott schütze uns, es ist passiert, es ist passiert. Nur diesen einen Satz, aber sehr schnell hintereinander. Ich weiß nicht warum. Sie schleppte mich sofort hierher in mein Zimmer und schloß mich ein. Sie will mich nicht mehr herauslassen. Aber davor habe ich keine Angst. Was macht es mir schon aus, wenn sie mich eine Million Milliarden Jahre einsperrt. Sie gibt mir nicht einmal etwas zu essen. Aber ich habe sowieso keinen Hunger. Ich bin völlig satt. – Ende –
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Als TERRA-TASCHENBUCH Nr. 107 erscheint:
Gefängnis im All (ESCAPE ORBIT) von JAMES WHITE Der Himmel war versperrt ... Das Wachschiff des Gegners umkreiste den Planeten, der für mehr als 500 000 Männer und Frauen der terranischen Weltraumstreitkräfte zum Gefängnis geworden war. Die Welt, auf der die »Bugs«, die seit fast 100 Jahren mit der Menschheit im Kampf standen, ihre Gefangenen abgesetzt hatten, war absolut ausbruchssicher. Sektor-Marschall Warren gehörte zum Schub der neuen Gefangenen – und er hatte einen Plan für die Flucht ...
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