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Julian Jaynes Der Ursprung des Bewußtseins
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Julian Jaynes Der Ursprung des Bewußtseins
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Zu diesem Buch Die These: Bewußtsein ist in der Menschheitsgeschichte erst vor rund dreitausend Jahren aufgetreten. Autonomie, eine subjektive Identität, Geschichte, überhaupt das Wissen des Menschen von sich selbst – lauter historische Neuerwerbungen. Die Menschen der Frühzeit hingegen konnten in Grenzsituationen, unter Streß nicht selbstbewußt entscheiden wie wir. Statt dessen vernahmen sie akustische Halluzinationen – Stimmen von Göttern. Der vorbewußte Mensch gehorchte automatenhaft der Stimme Gottes, die von außen zu ihm zu sprechen schien. In Wirklichkeit, so Jaynes, kommunizierte damals das Sprachzentrum in der einen Hemisphäre des in zwei Kammern geteilten Gehirns mit dem Hörzentrum in der anderen. Wie kam es um 1000 v. Chr. zum Zusammenbruch dieser «bikameralen» Organisation des menschlichen Denkapparates? Wie entstand das, was wir heute subjektives Bewußtsein nennen – und was ist das eigentlich?
Über den Autor Julian Jaynes wurde am 17.2.1923 in West Newton/ Massachusetts als Sohn eines unitarischen Geistlichen geboren. Nach dem Psychologiestudium an den Universitäten Harvard und McGill begann er seine Laufbahn als Hochschullehrer in Toronto und Yale. Seit 1964 lehrt er in Princeton. – Wissenschaftlich ist Jaynes als Autor zahlreicher Artikel, Lehrbücher und Forschungsberichte sowie als Herausgeber mehrerer Fachzeitschriften ausgewiesen. Mit dem vorliegenden Werk hat er weit über sein Spezialgebiet hinaus Aufmerksamkeit erregt: von schroffer Kritik bis zu enthusiastischer Bewunderung. Übersetzungen seiner staunenswerten «Paläontologie unseres subjektiven Bewußtseins» in die Weltsprachen liegen vor oder werden vorbereitet.
Julian Jaynes
Der Ursprung des Bewußtseins Deutsch von Kurt Neff
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rororo science Lektorat Jens Petersen
Die Originalausgabe erschien 1976 unter dem Titel «The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind» im Verlag Houghton Mifflin Company, Boston
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Juni 1993 1988 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind» 1976 by Julian Jaynes Umschlaggestaltung Barbara Hanke Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1990-ISBN 3 499 195291
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VORWORT DIE KERNIDEEN des vorliegenden Buches habe ich im September 1969 auf einer Tagung der American Psychological Association in Washington vorgetragen. In all den Jahren seither habe ich meine Gedanken und Begründungen immer wieder auf verschiedenen wissenschaftlichen Veranstaltungen zur Diskussion gestellt. So ergab sich eine ständige Überprüfung und kritische Auseinandersetzung, worin ich einen wertvollen Beitrag sehe. Im Ersten Buch führe ich aus, wie ich auf die erwähnten Kernideen gestoßen wurde. Im Zweiten Buch sichte ich das historische Beweismaterial für meine Thesen im einzelnen. Im Dritten Buch zeige ich, was meine Theorie bei der Erklärung einiger moderner Phänomene zu leisten vermag. Ursprünglich wollte ich in einem Vierten und Fünften Buch die Hauptresultate meines neuen Ansatzes darlegen. Daraus mußte aber ein eigenes Buch werden, an dem ich noch schreibe. Arbeitstitel: The Consequences of Consciousness – Die Folgen des Bewußtseins. Julian Jaynes
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EINFÜHRUNG Das Problem des Bewußtseins
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eine Welt des augenlosen Sehens und des hörbaren Schweigens, dieses immaterielle Land der Seele! Welche mit Worten nicht zu fassenden Wesenheiten, diese körperlosen Erinnerungen, diese niemandem vorzeigbaren Träumereien! Und wie intim das Ganze! Eine heimliche Bühne des sprachlosen Selbstgesprächs und Mit-sich-zu-Rate-Gehens, die unsichtbare Arena allen Fühlens, Phantasierens und Fragens, ein grenzenloser Sammelplatz von Enttäuschungen und Entdekkungen. Ein ganzes Königreich, wo jeder von uns als einsamer Alleinherrscher regiert, Zweifel übt, wenn er will, Macht übt, wenn er kann. Eine versteckte Klause, wo wir die bewegte Chronik unserer vergangenen und noch möglichen zukünftigen Taten ausarbeiten können. Ein inneres Universum, das mehr mein Selbst ist als alles, was mir der Spiegel zeigen kann. Dieses Bewußtsein, das mein eigenstes, innerstes Selbst ist, das alles ist und doch ein reines Nichts – was ist es? Und wie entstand es ? Und warum? AS FÜR
Nur wenige Fragen haben eine längere und verwirrendere Geschichte als diese: das Problem des Bewußtseins und seiner Stellung in der Natur. Jahrhunderte des Grübelns und Experimentierens, Jahrhunderte des Bemühens, sich den Zusammenhang zwischen zwei vermeintlich selbständig existierenden Wesenheiten zu erklären, die man in dem einen Zeitalter Geist und Materie, in dem anderen Subjekt und Objekt, in wieder einem anderen Seele und Leib nannte; endlose Darlegungen über Bewußtseinsströme, Bewußtseinszustände, Bewußtseinsinhalte; präzisierende Begriffsbildungen wie «Anschauung», «Sinnesdaten», «Außenwelt», «Organgefühle», «Wahrnehmung», «Präsentationen» und «Repräsentationen», die «Empfindungen», «Vorstellungen» und «Affekte» der Struk-
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turalistischen Introspektionstheorie, die «Beobachtungsdaten» der wissenschaftlichen Positivisten, die «Felder» der Phänomenologen, die «Apparitionen» eines Hobbes, die «Phänomene» eines Kant, die «Erscheinungen» der Idealisten, die «Elemente» eines Mach, die «Phanera» eines Peirce, die «Kategorialirrtümer» eines Ryle – das alles hat das Problem des Bewußtseins nicht aus der Welt schaffen können. Stets bleibt ein Rest und widersetzt sich einer Lösung. Was sich da so hartnäckig sperrt und nicht verschwinden will, ist der Unterschied zwischen dem, was die anderen von mir sehen, und meinem eigenen inneren, von tiefem Gefühl getragenen Selbstempfinden. Es ist der Unterschied zwischen dem Ich-und-Du der gemeinsamen Verhaltenswelt und dem ortlosen Ort der Gedankendinge. Unsere Reflexionen und Träume, unsere imaginären Gespräche mit imaginären Partnern, in denen wir – ach wie gut, daß niemand weiß – alles ausplaudern, unsere Hoffnungen und unseren Kummer, unsere Zukunft und unsere Vergangenheit entschuldigen, rechtfertigen, behaupten: Dieses ganze dichte Phantasiegewebe unterscheidet sich himmelweit von der handfesten, standfesten, greifbaren, kneifbaren Wirklichkeit mit ihren Bäumen, ihrem Gras, ihren Tischen, Ozeanen, Händen, Sternen – ja selbst ihren Gehirnen. Wie ist das möglich? Wie fügen sich diese flüchtigen Gebilde meines einsamen Erlebens in den Bau der Natur, der diese stille Kammer des Sich-Wissens irgendwie in sich schließt? Das Bewußtsein vom Problem des Bewußtseins ist fast so alt wie das Bewußtsein selbst. Und jede Epoche hat das Bewußtsein in Begriffen gefaßt, die ihren eigenen vorherrschenden Themen und Interessen entsprachen. Im Goldenen Zeitalter Griechenlands, als man frei umherreiste, während Sklaven die Arbeit verrichteten, war das Bewußtsein mit der gleichen Freiheit ausgestattet. So nannte Heraklit es einen unermeßlichen Raum, dessen Grenzen «du im Gehen nicht ausfindig machen kannst, und ob du jegliche Straße abschrit-
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test».1 Ein Jahrtausend später verwunderte sich Augustinus inmitten der höhlenreichen Hügellandschaft um Karthago über «Berg und Hügel meines Sinnens», «die abgeschiedenen Räume meines Gedächtnisses, die vielen weitläufigen Hallen, auf wunderbare Weise gefüllt mit unübersehbaren Vorräten».2 Man beachte, wie die jeweils wahrgenommene Außenwelt zur Metapher für die Innenwelt wird. Die erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts war eine Zeit der großen geologischen Entdeckungen: Man lernte, die Schichtung der Erdkruste als eine Aufzeichnung der Erdgeschichte zu entziffern. Und daraufhin verbreitete sich die Vorstellung vom Bewußtsein als einer Schichtung, in der sich die Vergangenheit des Individuums abgelagert habe, mit immer tieferen und tieferen Schichten, die sich schließlich in unzugänglichem Dunkel verloren. Diese Betonung des Unbewußten gewann immer mehr an Boden, und um 1875 vertraten dann die meisten Psychologen die Ansicht, daß das Seelenleben nur zu einem geringen Teil aus bewußten Prozessen, in der Hauptsache dagegen aus unbewußten Wahrnehmungen, unbewußten Vorstellungen und unbewußten Urteilen bestehe.3 Es war die Chemie, die um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Geologie als Modewissenschaft ablöste, und von James Mill bis hin zu Wundt und seinen Schülern (wie beispielsweise Titchener) verstand man das Bewußtsein als komplexe Verbindung, die im Labor säuberlich in ihre Elemente – Elemente wie «Sinnesempfindung» oder «Gefühl» – zerlegt werden konnte. Und als sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Dampflokomotiven zischend und schnaubend in das Erscheinungsbild des Alltags schoben, eroberten sie sich damit zugleich ihren Platz im Bewußtsein vom Bewußtsein: Das Unbewußte 1 2 3
Diels, Fr. 45. Bekenntnisse 9,4; 10,40. Diese Feststellung trifft G. H. Lewes, The Physical Basis of Mind, London: Trübner 1877, S.365.
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wurde jetzt zu einem Kessel voll brodelnder Energien, die nach Abfuhr verlangten und, wenn sie unterdrückt («verdrängt») wurden, sich in neurotischem Verhalten oder in verstiegenen Träumen mit ihrem Taumel versteckter Wunscherfüllungen gewaltsam ein Ventil schufen. Über solche Metaphern ist nicht viel zu sagen, man kann nur feststellen, daß es eben – Metaphern sind. Ursprünglich lief diese Suche nach dem Wesen des Bewußtseins unter der Bezeichnung Leib-Seele-Problem und brachte eine erdrückende Menge philosophischen Tiefsinns hervor. Mit dem Aufkommen der Evolutionstheorie begann sie sich jedoch zu einer wissenschaftsgemäßeren Problemstellung zu mausern. Heute ist daraus die Frage nach dem Ursprung des Geistes oder, spezifischer, des Bewußtseins im Ganzen des Evolutionsprozesses geworden. Wo kann sich dieses subjektive Erleben, das mir in der Selbstbeobachtung zugänglich wird, dieser ständige Begleiter der Unmasse meiner Assoziationen, Hoffnungen, Befürchtungen, Affekte, Erkenntnisse, Farbeindrücke, Geruchsempfindungen, Zahnschmerzen, Schauder, Nervenkitzel, Lust- und Unlustgefühle und Begierden – wo und wie könnte sich dieses wunderbar gewebte Innenleben im Lauf der Evolution entwickelt haben? Wie können wir von bloßer Materie zu dieser Innerlichkeit gelangt sein? Und wenn dem so ist, wann? Dieses Problem nimmt eine Zentralstellung im Denken des zwanzigsten Jahrhunderts ein. Und es lohnt sich, eine kurze Musterung der bisher vorgeschlagenen Lösungen vorzunehmen. Auf acht von ihnen, die ich für die wichtigsten halte, werde ich im folgenden eingehen. Bewußtsein als Eigenschaft der Materie Die unter sämtlichen in Frage kommenden Möglichkeiten umfassendste Lösung spricht vor allem den Physiker an. Ihr zufolge liegt hinter dem, was in der Selbstbeobachtung
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als Abfolge subjektiver Zustände erscheint, eine kontinuierliche Entwicklungsreihe, die sich durch die gesamte Stammesgeschichte hindurch und weiter bis hin zu einer fundamentalen Eigenschaft der in Wechselwirkung stehenden Materie erstreckt. Das Verhältnis des Bewußtseins zu seinem Gegenstand unterscheidet sich im Prinzip nicht von dem Verhältnis eines Baumes zu dem Boden, in dem er wurzelt, und auch nicht von dem Gravitationsverhältnis zwischen zwei Himmelskörpern. Dies war im ersten Viertel unseres Jahrhunderts die vorherrschende Meinung. Was bei Alexander compresence (etwa «Mit-Sein») und bei Whitehead prehension (nichtreflexives Erfassen) hieß, wurde zur Ausgangsbasis einer monistischen Lehre, die sich in der sogenannten neorealistischen Schule zu voller Blüte entfaltete. Lasse ich beispielsweise dieses Stück Kreide auf das Katheder vor mir fallen, dann unterscheidet sich die Wechselwirkung zwischen der Kreide und dem Katheder nur in ihrem Komplexitätsgrad von den Wahrnehmungen und Erkenntnissen meines Seelenlebens. Die Kreide «erkennt» das Katheder, und ebenso «erkennt» das Katheder die Kreide. Eben deshalb endet der Weg der Kreide auf dem Katheder. Zwar ist dies gewissermaßen nur die Karikatur einer sehr subtil ausgearbeiteten Lehrmeinung, nichtsdestoweniger zeigt sich darin bereits, daß diese bemühte Theorie eine ganz falsche Frage beantwortet. Nicht die Wechselwirkung zwischen mir und meiner Umwelt, sondern die spezielle Erlebnisweise in der Selbstbeobachtung war und bleibt zu erklären. Die Suggestivkraft jener neorealistischen Lehre ist im Grunde nur aus ihrem historischen Kontext heraus zu begreifen, aus dem Zusammenhang einer Zeit, in welcher die aufsehenerregenden Fortschritte der Quantenphysik in aller Munde waren. Die Undurchdringlichkeit der Materie löste sich auf in rein mathematische Verhältnisse im Raum, und dieser Sachverhalt schien vergleichbar mit jener unkörperlichen Beziehung zwischen einander wechselseitig bewußten Individuen.
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Bewußtsein als Eigenschaft des Protoplasmas Bewußtsein eignet nicht der Materie als solcher – so die zweitumfassendste Lösung nach der vorigen –, sondern ist vielmehr eine Grundeigenschaft aller lebenden Wesen. Zunächst ist es nichts weiter als die Reizempfänglichkeit der kleinsten Einzeller, die dann auf dem Weg über die Hohltiere, die Protochordaten, die Fische, die Amphibien, die Reptilien, die Säuger bis hin zum Menschen eine kontinuierliche, grandiose Entwicklung durchläuft. Für viele Naturwissenschaftler des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts – unter ihnen Darwin und E. B. Titchener – schien diese These über jeden Zweifel erhaben, was dann im ersten Viertel unseres Jahrhunderts den Anstoß für eine Reihe ganz ausgezeichneter empirischer Untersuchungen an niederen Lebewesen gab. Die Jagd nach rudimentären Bewußtseinsformen war eröffnet. Bücher mit Titeln wie «Die Tierseele» oder «Das Seelenleben der Mikroorganismen» wurden ebenso eifrig geschrieben wie gelesen.4 Und jeder, der schon einmal Amöben bei der Nahrungssuche oder ihre Reaktion auf die unterschiedlichsten Reize oder Pantoffeltierchen beim Umgehen von Hindernissen oder bei der Konjugation beobachtet hat, kennt jene nahezu leidenschaftliche Versuchung, derartige Verhaltensformen nach menschlichem Muster zu begreifen. Und das bringt uns zu einem sehr wichtigen Punkt des Problems – zu unserem Mit-Fühlen, unserer «Identifikation» mit fremden Lebewesen. Gleichgültig, wie wir den Sachverhalt letztendlich bewerten mögen: es gehört jedenfalls zu unserem Bewußtsein mit hinzu, daß wir uns in ein fremdes Bewußtsein «hineinversetzen», uns mit Bekannten und Verwandten so weit identifizieren können, um eine Vorstellung davon zu haben, 4
Margaret Floy Washburn (eine Titchener-Schülerin), The Animal Mind; Alfred Binet, The Psychic Life of Microorganisms. Der eigentliche Klassiker auf dem Gebiet der niederen Tiere ist H. S. Jennings, Behavior of Lower Organisms, New York: Macmillan 1906.
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was sie gerade denken oder fühlen. Und wenn nun irgendein Lebewesen sich so verhält, wie wir selbst in vergleichbarer Lage es auch tun würden, dann gehört schon ein besonderes Maß intellektueller Disziplin dazu, unsere gut eingespielte, aber in diesem Fall durch nichts gerechtfertigte Einfühlungsund Identifikationsbereitschaft zu unterdrücken. Daß wir Protozoen ein Bewußtsein zuschreiben, liegt also einfach daran, daß wir uns einer gewohnheitsmäßigen, aber unangebrachten Identifikation überlassen. Daß Protozoen sich so verhalten, wie sie sich verhalten, liegt einzig und allein in ihrer Körperchemie und nicht in irgendwelchen introspektiv-psychischen Fähigkeiten begründet. Selbst im Fall von Lebewesen, die mit einem synaptischen Nervensystem ausgestattet sind, gründet das Bewußtsein, das wir in ihrem Verhalten gern erkennen möchten, in uns selbst und nicht in den beobachteten Tatsachen. Die meisten Menschen neigen dazu, Mitgefühl mit einem sich windenden Wurm zu haben. Aber jeder Junge, der schon einmal Köder für seine Angel zubereitet hat, weiß, daß das Entzweigeschnittenwerden dem vorderen Ende des Wurms, in dem das primitive Gehirn sitzt, offenbar weniger ausmacht als dem hinteren, das sich «in Schmerzen» krümmt.5 Würde der Wurm jedoch Schmerzen empfinden wie wir, dann bestimmt in dem Teil, wo das Gehirn sitzt. Die Schmerzen des hinteren Endes sind unsere eigenen Schmerzen, nicht die des Wurms; das Sich-Krümmen ist ein mechanisches Entladungsphänomen: Die motorischen Nerven im hinteren Ende, durch den Schnitt von ihrer normalen Hemmung durch das Kopfganglion befreit, feuern jetzt Salven von Bewegungsimpulsen ab.
5 Da ein Regenwurm sich beim Angefaßtwerden einfach aufgrund des Berührungsreizes krümmt, führt man das Experiment (mit einer Rasierklinge) am besten an einem Exemplar durch, das man über harten Untergrund oder ein Brett kriechen läßt. Zweifler oder Zartbesaitete können ihre Skrupel damit beschwichtigen, daß sie den Wurmbestand (und damit den Bestand an Rotkehlchen) vermehren helfen, da beide Enden des Wurms sich regenerieren.
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Bewußtsein als Lernfähigkeit Wer meint, Bewußtsein bereits auf der Ebene des Protoplasmas ansetzen zu dürfen, wirft damit natürlich die Frage auf, nach welchen Kriterien überhaupt die Rede sein kann von Bewußtsein. Diese Frage führt weiter zur dritten Lösung: Der Ursprung des Bewußtseins liegt nicht in der Materie und nicht in den Anfängen des tierischen Lebens, sondern in einer späteren Etappe des Evolutionsprozesses. Für beinahe jedermann, der praktische Forschung auf diesem Gebiet betrieb, galt es als ausgemacht, daß die Frage, wann und wo im Rahmen der Evolution das Bewußtsein entstanden sei, mit der Frage nach dem Auftauchen des assoziativen Gedächtnisses oder, mit anderen Worten, der Lernfähigkeit zusammenfällt. Wenn ein Lebewesen imstande ist, je nach Maßgabe seiner Erfahrungen sein Verhalten zu ändern, muß es Erfahrungen machen können, ergo Bewußtsein besitzen. Um hinter die Evolution des Bewußtseins zu kommen, braucht man sich also nur an die Evolution der Lernfähigkeit zu halten. In der Tat begann ich selbst meine Suche nach dem Ursprung des Bewußtseins mit dieser Devise. Mein erstes Experiment bestand in dem jugendlich-optimistischen Versuch, einer besonders strapazierfähigen Mimose Signallernen (in anderer Ausdrucksweise: einen bedingten Reflex) beizubringen. Das Signal war ein Lichtblitz, der – vorläufig unbedingte – Reflex das Absenken eines Blattes, ausgelöst durch einen stets sorgfältig bemessenen Berührungsreiz am Blattansatz. Nachdem ich sie über tausendmal simultan dem Licht und dem Berührungsreiz ausgesetzt hatte, war meine geduldige Pflanze noch so dumm wie zuvor. Sie hatte kein Bewußtsein. Nach diesem vorhersehbaren Fehlschlag wandte ich mich den Einzellern zu und ließ im Rahmen einer sehr subtilen Versuchsanordnung Pantoffeltierchen jeweils einzeln ein T-Labyrinth durchwandern, das auf einer wachsüberzogenen schwarzen Bakelitplatte eingeritzt war; ein Tier, das die falsche Richtung einschlug, wurde mittels elektrischer Schläge bestraft und um seine Achse gedreht. Wenn Pantoffeltierchen lernfähig waren,
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dann mußten sie meiner Überzeugung nach Bewußtsein besitzen. Überdies war ich äußerst gespannt zu beobachten, was mit dem erlernten Wissen (und dem Bewußtsein) bei der Teilung der Zelle geschehen würde. Zaghafte Andeutungen eines positiven Ergebnisses waren nach der Verdoppelung jedesmal wieder verschwunden. Nach weiteren Fehlschlägen meines Bemühens, auf den untersten Stufen des Tierreichs Lernfähigkeit zu entdecken, ging ich zu den Arten mit einem synaptischen Nervensystem – zu Plattwürmern, Fischen und Reptilien – über (die sich in der Tat als lernfähig erwiesen): immer in der naiven Annahme, der grandiosen Evolution des Bewußtseins beizuwohnen.6 Lächerlich! Zu meiner eigenen Beschämung muß ich gestehen, daß es noch Jahre dauerte, bis mir klar wurde, daß diese Annahme einfach keinen Sinn ergibt. Der Gegenstand unserer Selbstbeobachtung ist nicht ein Bündel von Lernprozessen und schon gar nicht von Lernprozessen, wie sie sich durch Konditionierung oder in T-Labyrinthen ergeben. Aber warum haben dann so viele Leuchten der Wissenschaft Bewußtsein mit Lernfähigkeit gleichgesetzt? Und warum war ich selbst so begriffsstutzig gewesen, in ihre Fußstapfen zu treten? Der Grund bestand in der Einwirkung einer Art gewaltiger historischer Neurose. Solcher Neurosen gibt es in der Psychologie viele. Und mit ein Grund, warum die Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte dem Psychologen unentbehrlich ist, ist der, daß sie den einzigen Weg aufzeigt, auf dem man aus einer derartigen Geistesverwirrung hinausgelangt und sie überwindet. Die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert unter dem Namen «Assoziationismus» bekannt gewordene psychologische Schule hat ihre Lehren so suggestiv darzustellen vermocht und zählte so viele angesehene Koryphäen zu ihren Ver-
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Die neueste Darstellung des wichtigen, aber mit schwierigen Methodenfragen verknüpften Problems der Evolution des Lernens gibt E. M. Bitterman, The Comparative Analysis of Learning (Thorndyke Centenary Address), Science, Jg. 1975, Nr. 188, S. 699-709. Vgl. weiterhin R. A. Hinde, Animal Behavior, 2. Aufl., New York: McGraw-Hill 1970, insbes. S. 658-663.
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tretern, daß der Grundirrtum dieser Schule sich unbemerkt ins allgemeine Denken und den allgemeinen Sprachgebrauch hat einschleichen können: ein Irrtum, der (bis auf den heutigen Tag) darin besteht, sich das Bewußtsein als einen virtuellen Raum zu denken, bevölkert von Elementen, die Empfindungen oder Vorstellungen heißen, und zugleich anzunehmen, das Lernen und überhaupt das ganze Seelenleben sei nichts weiter als die «Assoziation» dieser Elemente aufgrund ihrer Ähnlichkeit oder ihres außenweltbedingten gleichzeitigen Auftretens. Dabei werden «Lernen» und «Bewußtsein» in einen Topf geworfen und vermengt mit dem verschwommensten aller verschwommenen Begriffe – «Erfahrung». Diese Begriffsverwirrung nicht weniger als die enorme Bedeutung, die man in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dem tierischen Lernen beimaß, lauerte unerkannt auch hinter meinen ersten Scharmützeln mit dem Bewußtseinsproblem. Mittlerweile hat sich absolut zweifelsfrei erwiesen, daß die Fragen, wo im Verlauf der Evolution der Ursprung der Lernfähigkeit und wo der Ursprung des Bewußtseins anzusetzen sei, nicht das geringste miteinander zu tun haben. Diese Behauptung werde ich im folgenden Kapitel ausführlicher belegen. Bewußtsein als Folge einer metaphysischen Intervention Alle bisher erwähnten Theorien gehen von der Annahme aus, das Bewußtsein habe sich auf biologischem Wege, durch bloße natürliche Zuchtwahl, entwickelt. Es gibt jedoch auch die Gegenposition dazu, welche die Berechtigung einer solchen Annahme grundsätzlich bestreitet. Und so wird dabei argumentiert: Läßt sich das Bewußtsein, wie wir es kennen, läßt sich dieser gewaltige Einfluß, den Ideen, Prinzipien, Überzeugungen in unserem Leben und Handeln ausüben, im Ernst bis zu tierischen Verhaltensformen zurückverfolgen? Unter allen natürlichen Arten sind wir Menschen die einzige – die absolut einzige! –, in der die Individuen sich um ein Verständnis ihrer selbst und der Welt bemühen.
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Unsere Ideen machen uns zu Rebellen oder Patrioten oder Märtyrern. Wir bauen Kathedralen und Computer, bringen Gedichte und Tensorgleichungen zu Papier, spielen Schach und Streichquartette, schicken Raumschiffe zu fremden Planeten und lauschen den Signalen aus fremden Galaxien – was hat das alles mit Ratten in Labyrinthen oder den Drohgebärden von Pavianen zu tun? Die Darwinsche Kontinuitätshypothese für die Evolution des Geistes ist ein mehr als fragwürdiges Totem stammesgeschichtlicher Mythenbildung.7 Der Hunger nach Gewißheit, der den Wissenschaftler, und der Durst nach Schönheit, der den Künstler peinigt, der süße Stachel der Gerechtigkeit, der den Rebellen dazu treibt, den Annehmlichkeiten des Lebens zu entsagen, oder die Begeisterung, mit der wir von echten Beispielen des Mutes und der Tapferkeit, heute durchaus nicht mehr selbstverständlichen Tugenden, vernehmen oder vom gelassenen Ertragen eines unheilbaren Leidens – kann man diese Dinge im Ernst als Eigenschaften von Materie begreifen? Oder auch nur als kontinuierliche Fortsetzung der Stammesgeschichte tumber, sprachloser Affen? Die Kluft, die sich hier zeigt, kann einem wirklich den Verstand verschlagen. Zwar gibt es zwischen dem Menschen und anderen Säugern in bezug auf das Gefühlsleben staunenswerte Übereinstimmungen. Doch wer sich über Gebühr bei derlei Ähnlichkeiten aufhält, vergißt darüber ganz und gar, daß zugleich auch jene trennende Kluft existiert. Das menschliche Geistesleben – Kultur, Geschichte, Religion, Wissenschaft – unterscheidet sich von allem, was im uns bekannten Universum sonst noch vorkommt. Das ist eine unumstößliche Tatsache. Es ist, als habe das Lebendige insgesamt eine Evolution bis zu einem gewissen Punkt hinter sich gebracht, um dann mit dem Menschen im rechten Winkel abzubiegen und mit explosionsartiger Wucht in eine neue Richtung zu expandieren.
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Den Nachweis dieser Kontinuität wollte Darwin mit seinem zweitwichtigsten Werk, der Abstammung des Menschen, erbringen.
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Angesichts des nicht wegzudiskutierenden Bruchs zwischen der Welt der Affen und der Welt des mit Sprache, Kultur, Sittlichkeit, Verstand begabten Menschen sahen viele Wissenschaftler keinen anderen Weg zur Lösung dieses Rätsels als die Rückkehr zur metaphysischen Spekulation. Völlig undenkbar, daß sich die Innenwelt des Bewußtseins auf irgendeine Weise aus bloßen Molekül- und Zellansammlungen hätte bilden können. Bei der Evolution des Menschen muß mehr mitgespielt haben als lediglich Materie, Zufall und Überleben. Man muß auf ein Etwas zurückgreifen, das außerhalb dieses geschlossenen Systems liegt, um eine Erklärung für etwas so Andersartiges wie das Bewußtsein zu finden. Diese Denkweise entstand in genauer zeitlicher Parallele zur modernen Evolutionstheorie und fand ihren Niederschlag vor allem in den Arbeiten von Alfred Russel Wallace, einem Mitbegründer der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl. Nachdem Darwin und Wallace in ein und demselben Jahr (1858) unabhängig voneinander jene Theorie veröffentlicht hatten, verfing sich der eine wie der andere – wie Laokoon beim Kampf mit den Seeschlangen – in den Schlingungen und Windungen des Problems der menschlichen Evolution mit seiner erdrückenden Schwierigkeit, die Existenz des Bewußtseins zu erklären. Doch während Darwin das Problem blauäugig unter den Teppich fegte und schließlich in der gesamten Evolution nur kontinuierliche Übergänge meinte erkennen zu dürfen, vermochte Wallace sich dem nicht anzuschließen. Für ihn waren die Brüche erschreckend und nicht wegzudiskutieren. Insbesondere die bewußtseinsabhängigen Fähigkeiten des Menschen «konnten sich unmöglich aufgrund derselben Gesetzmäßigkeiten herausgebildet haben, welche der fortschreitenden Entwicklung der organischen Welt im allgemeinen wie auch des menschlichen Organismus zugrunde liegen».8 Nach Wallaces Überzeugung ließen die beobachteten Fakten 8
A. R. Wallace, Darwinism: An Exposition of the Theory of Natural Selection, London: Macmillan 1889, S. 475; vgl. ders., Contributions to the Theory of Natural Selection, Kap. 10.
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erkennen, daß eine metaphysische Kraft an drei verschiedenen Punkten lenkend in den Gang der Evolution eingegriffen hatte: erstmals bei der Entstehung des Lebens, dann wieder bei der Entstehung des Bewußtseins und zuletzt bei der Entstehung der Zivilisation. Beharrlich widmete Wallace seine letzten Lebensjahre dem vergeblichen Bemühen, als Teilnehmer an spiritistischen Sitzungen den endgültigen Beweis derartiger metaphysischer Eingriffe zu finden; dies ist mit ein Grund, warum sein Name im Zusammenhang mit der Entdeckung der Evolution durch natürliche Zuchtwahl niemals so bekannt wurde wie derjenige Darwins. Solche Sachen waren im offiziellen Wissenschaftsbetrieb verpönt. Wer das Bewußtsein aus einer metaphysischen Intervention ableiten wollte, brach die Spielregeln der Naturwissenschaft. Und das Problem bestand ja in der Tat auch darin, das Bewußtsein auf naturwissenschaftlicher und nur auf naturwissenschaftlicher Grundlage zu erklären. Die Theorie vom hilflosen Zuschauer Im Gegenzug zu solchen metaphysischen Spekulationen kam noch in der Anfangsphase der Evolutionslehre eine verstärkt materialistische Betrachtungsweise auf, die besser mit dem strikt verstandenen Gedanken natürlicher Zuchtwahl harmonierte. Zu ihren Wesenszügen gehörte sogar jener gallige Pessimismus, der gelegentlich in seltsamem Bündnis mit beinhartem Wissenschaftsdenken auftritt. Die Vertreter dieser Lehre versichern uns, daß die Leistung des Bewußtseins gleich Null sei und mit Fug und Recht auch gar nicht anders sein könne. Selbst heute noch sind viele hartgesottene Empiriker der Meinung Herbert Spencers, derzufolge diese Abwertung des Bewußtseins die einzig logische Konsequenz aus der strikt verstandenen Evolutionstheorie ist. Die Lebewesen durchlaufen die Evolution – die Nervensysteme und ihre mechanischen Reflexe werden immer komplexer –, auf einer bestimmten Komplexitätsstufe tritt das Bewußtsein auf und beginnt seine nichtige Rolle als hilfloser Zeuge kosmischer Ereignisse zu
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spielen. Unsere Handlungen sind bis ins letzte durch das Leitungsschema in unserem Gehirn und dessen Reflexe auf Außenreize bestimmt. Das Bewußtsein ist nichts weiter als die von den Leitungen abgestrahlte Hitze – eine nebensächliche Begleiterscheinung («Epiphänomen»). Bewußtseinsvorgänge sind, nach einer Formulierung von Hodgson, bloß der Farbauftrag auf einem Mosaik, dessen Zusammenhalt durch die Steine und nicht durch die Bemalung gewährleistet wird.9 Oder, wie Huxley in einem berühmten Aufsatz behauptet: «Wir sind Automaten mit Bewußtsein.»10 Das Bewußtsein vermag die Funktionsmechanismen des Körpers und dessen Verhalten ebensowenig zu beeinflussen, wie etwa das Signalhorn einer Lokomotive die Arbeit der Maschinen oder den Zuglauf zu beeinflussen vermag. Mag das Horn noch so sehr tuten – die Schienenstränge haben längst entschieden, wohin die Reise gehen soll. Das Bewußtsein ist die Melodie, die von der Harfe aufklingt, aber nicht selbst die Saiten zupfen kann; der Gischt, der von den aufgewühlten Wellen des Flusses stiebt, doch dessen Lauf nicht ändert; der Schatten, der den Fußgänger treulich auf Schritt und Tritt begleitet, aber nicht den mindesten Einfluß auf die Wegrichtung hat. Die einleuchtendste Kritik dieser Theorie vom Automaten mit Bewußtsein lieferte William James.11 Seine Argumentationsweise ähnelt ein wenig dem Vorgehen Samuel Johnsons, der ja bekanntlich den philosophischen Idealismus damit abtat, daß er einen Stein fortkickte und ausrief: «So sieht meine Widerlegung aus!» Es ist einfach unvorstellbar, daß das Bewußtsein mit einem Geschäft, um das es sich so angelegentlich kümmert, gar nichts zu tun haben sollte. Wäre das Bewußtsein nur der kraftlose Schatten des Handelns, wieso ist 9
Shadworth Hodgson, The Theory of Practice, London: Longmans Green 1870, Bd. I, S.416. 10 Und unsere Willensakte sind lediglich Symbole für Gehirnzustände. Vgl. T. H. Huxley, Collected Essays, New York: Appleton 1896, Bd. 1, S. 244. 11 William James, Principles of Psychology, New York: Holt 1890, Bd. 1, Kap. 5; vgl. aber auch William McDougall, Body and Mind, London: Methuen 1911, Kap. 11 und 12.
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es dann um so intensiver, je mehr das Handeln ruht? Wieso sind wir uns unserer Handlungen um so weniger bewußt, je gewohnheitsmäßiger sie sind? Soviel steht jedenfalls fest: Für diese Schaukelbeziehung zwischen dem Bewußtsein und dem aktiven Handeln eine Erklärung zu bieten gehört zu den unerläßlichen Aufgaben jedweder Bewußtseinstheorie. Die «emergente Evolution» Die Lehre von der «emergenten Evolution» oder «Evolution durch Emergenz» wurde auf dem Verhandlungsforum deswegen so freudig begrüßt, weil sie wie gemacht dafür schien, das Bewußtsein aus seiner mißlichen Lage als bloßer hilfloser Zuschauer zu erlösen. Des weiteren schien sie die wissenschaftliche Erklärung für jene faktischen Entwicklungssprünge zu enthalten, die das Hauptargument für die Hypothese von der metaphysischen Intervention gewesen waren. Auch ich machte, als ich vor Jahren diese Lehre genauer studierte, die beglückende Erfahrung, wie sich mir in einem Blitz der Erleuchtung plötzlich ein taufrischer Zusammenhang enthüllte, der für all meine Fragen – das Problem des Bewußtseins samt allem, was damit zusammenhängt – eine wunderbar genaue und sinnvolle Antwort bereitzuhalten schien. Der Hauptgedanke ist eine Metapher: So wie das Merkmal «Nässe» nicht vollständig in den Merkmalen «Wasserstoff» und «Sauerstoff» aufgeht, so hat sich Bewußtsein an einem bestimmten Punkt des Evolutionsprozesses als neues Merkmal gebildet, das sich nicht auf seine Strukturkomponenten reduzieren läßt. Obzwar dieser einfache Gedanke bereits von John Stuart Mill und G. H. Lewes vorgetragen wurde, war es Lloyd Morgan, der mit seinem Buch «Emergent Evolution» (1923) die Lorbeeren dafür erntete. Das Buch zeichnet ein umfassendes Schema der Evolution durch Emergenz, die mit entschlossenem Zugriff bis in den physikalischen Bereich zurückverfolgt wird. Demnach sind sämtliche Merkmale der Materie durch Neubildung («Emergenz») aus einem nicht näher zu bestimmenden Vorläufer entstanden. Die Merkmale der komplexen che-
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mischen Verbindungen sind Neubildungen, die beim Zusammentreten einfacherer Komponenten entstanden. Die spezifischen Merkmale des Lebendigen sind Neubildungen, die beim Zusammentreten jener komplexen Moleküle entstanden. Und das Bewußtsein ist eine Neubildung des Lebendigen. Neue Strukturen bilden neue Beziehungstypen, denen wiederum neugebildete Merkmale entsprechen. So ist zugleich in jedem auftretenden Fall ein Wirkungszusammenhang gegeben zwischen den Neubildungen und den Systemen, auf denen jene basieren. In der Tat verhält es sich so, daß der die neue, höhere Entwicklungsebene ausmachende Beziehungstyp die für diese Ebene kennzeichnenden Geschehensabläufe trägt und lenkt. Das Bewußtsein taucht also in einem bestimmten Stadium der Evolution als echte Neubildung auf. Ist es erst einmal da, lenkt es die Abläufe im Gehirn und wirkt kausal auf das Verhalten des Körpers ein. Diese antireduktionistische Theorie löste beim Großteil der namhafteren Verhaltensbiologen und vergleichenden Verhaltenswissenschaftler – frustrierte Dualisten allzumal – einen Freudentaumel aus, der mitunter recht peinliche Form annahm. Von manchen Biologen wurden sie als Unabhängigkeitserklärung gegenüber Physik und Chemie gefeiert. «Von nun an kann kein Biologe mehr gezwungen werden, bestimmte Befunde zu unterdrücken, nur weil ihre Bestätigung durch Beobachtungen im nichtorganischen Bereich noch aussteht oder von daher gar nicht zu erwarten ist. Die Biologie ist jetzt auf dem Weg, eine Wissenschaft sui generis zu werden.» Namhafte Neurologen waren sich einig, daß wir uns künftig das Bewußtsein nicht mehr so vorstellen müßten, als führe es einen eifrigen, aber wirkungslosen Schattentanz um die Gehirnprozesse herum auf.12 Der Ursprung des Bewußtseins schien auf eine Weise dingfest gemacht zu sein, 12 Das wörtliche Zitat stammt von H. S. Jennings, das paraphrasierte von C. Judson Herrick. Beide sind – zusammen mit weiteren Stellungnahmen zur emergenten Evolution – zu finden in: F. Mason, Creation by Evolution, London: Duckworth 1928, und W. McDougall, Modern Materialism and Emergent Evolution, New York: Van Nostrand 1929.
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die es erlaubte, das Bewußtsein wieder in seine alten – ihm zeitweilig aberkannten – Thronrechte als Herrscher über das Verhalten einzusetzen, und die darüber hinaus für die Zukunft weitere, nicht vorausberechenbare Neubildungen in Aussicht stellte. Aber war das wirklich so? Wenn das Bewußtsein als Neubildung in der Evolution aufgetreten ist, dann stellt sich die Frage: Wann? Und in welcher Spezies? Welche Art von Nervensystem war dazu erforderlich? Nachdem die erste Freude über den «theoretischen Durchbruch» abgeklungen war, wurde man gewahr, daß sich in bezug auf das eigentliche Problem im Grunde nichts geändert hatte. Die erwähnten konkreten Fragen waren ohne Antwort geblieben – aber gerade sie sind es, die beantwortet werden müßten. Problematisch an der «emergenten Evolution» ist nicht so sehr die Lehre als solche, sondern ihr Rückfall in die alten, bequemen Denkweisen im Hinblick auf Bewußtsein und Verhalten; problematisch ist, daß sie einem Freibrief für nichtssagende Allgemeinheiten gleichkommt. Aus historischer Sicht ist es interessant zu bemerken, daß der ganze Freudentaumel, den die Biologen um die «emergente Evolution» aufführten, zur selben Zeit stattfand, als in der Psychologie bereits eine gröbere und sehr viel weniger soignierte Lehre, die sich auf streng empirische Grundsätze berief, ihren Eroberungsfeldzug angetreten hatte. Eine Möglichkeit, das Problem des Bewußtseins und seiner Stellung in der Natur zu lösen, besteht zweifellos darin, die Existenz eines Bewußtseins überhaupt zu leugnen. Der Behaviorismus Man setze sich einmal hin und versuche sich bewußtzumachen, was es bedeutet zu sagen, daß es gar kein Bewußtsein gibt. Eine interessante Übung. Die Geschichte überliefert uns nicht, ob die ersten Behavioristen sich an diesem Bravourstück versucht haben. Hingegen überliefert sie uns jede Menge Belege
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für den enormen Einfluß, den die Lehre, daß kein Bewußtsein existiert, auf die Psychologie unseres Jahrhunderts ausgeübt hat. Diese Lehre ist der Behaviorismus. Seine Wurzeln reichen weit zurück in die verstaubte Ideengeschichte bis zu den sogenannten Epikureern des achtzehnten und früherer Jahrhunderte; zu den Versuchen, den pflanzlichen Tropismus auf die Tierwelt und den Menschen zu extrapolieren; zu Geistesströmungen wie dem «Objektivismus» und insbesondere dem «Aktionismus». Denn in der Schule des «Aktionisten» Knight Dunlap war es, wo jener brillante, aber respektlose Tierpsychologe namens John B. Watson heranwuchs, der später die Begriffsneuprägung «Behaviorismus» kreieren sollte.13 Anfangs ähnelte diese Lehre noch stark der weiter oben bereits vorgestellten Theorie vom hilflosen Zuschauer: Bewußtsein war zwar da, aber für das Verhalten der Lebewesen belanglos. Aber nachdem er einen Weltkrieg mit angesehen hatte und aufgeputscht war durch ein paar Gegenstimmen, stürmte der Behaviorismus angriffslustig in die Geistesarena mit der verächtlichen Behauptung, das Bewußtsein sei rein gar nichts. Welch eine verblüffende Lehre! Doch die eigentliche Überraschung liegt darin, daß sich aus dem, was anfangs wenig mehr als ein flüchtiger Einfall war, eine Schulrichtung entwikkelte, die ungefähr von 1920 bis 1960 in der Psychologie den Ton angab. Die äußeren Ursachen für den anhaltenden Triumph einer so eigenartigen Auffassung sind ebenso interessant wie vielschichtig. Die Psychologie suchte sich damals von der Philosophie abzukoppeln, um eine eigenständige Position innerhalb der akademischen Fächereinteilung zu erlangen, und sah im Behaviorismus das geeignete Mittel zum Zweck. Der unmittelbare Gegenspieler des Behaviorismus, Titche13 Ein weniger persönlichkeitsfixiertes Bild von den Anfängen des Behaviorismus gibt John C. Burnham, On the Origins of Behaviorism, Journal of the History of the Behavioral Sciences 4/1968, S. 143-151. Eine ausgezeichnete kritische Würdigung liefert Richard Herrnstein, Introduction to John B. Watson’s Comparative Psychology, Historical Conceptions of Psychology, hg. von M. Henle, J. Jaynes und J. J. Sullivan, New York: Springer 1974, S. 98-115.
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ners Introspektionstheorie, auf einen irreführenden Vergleich zwischen Bewußtseinsvorgängen und chemischen Reaktionen gegründet, war ein blasser und kraftloser Gegner. Der Zusammenbruch des Idealismus im Gefolge des Ersten Weltkrieges schuf eine revolutionäre Zeitstimmung, die nach neuen Denkweisen heischte. Die faszinierenden Errungenschaften auf dem Gebiet der Physik und der allgemeinen Technik erschlossen Ziele und Methoden, denen der Behaviorismus am ehesten zu genügen schien. Die Welt hatte die Nase voll von subjektiven Gedankengebäuden, sie mißtraute ihnen und lechzte nach objektiven Fakten. Und in den USA war «objektive Fakten» gleichbedeutend mit «pragmatischen Fakten». Und die lieferte der Behaviorismus auf dem Gebiet der Psychologie. In ihm fand eine neue Generation die Berechtigung, all die fadenscheinigen Subtilitäten des Bewußtseinsproblems (einschließlich der Ursprungsfrage) mit einer einzigen ungeduldigen Handbewegung vom Tisch zu fegen: Wir ziehen einen Schlußstrich. Wir fangen noch einmal ganz von vorn an. Und in einem Labor nach dem andern führte der neue Ansatz zum Erfolg. Der ausschlaggebende Faktor dafür war freilich nicht seine vermeintliche innere Richtigkeit, sondern sein Programm. Und was war das doch für ein tatkräftig zupakkendes, mitreißendes Forschungsprogramm – mit seiner hochglanzverchromten Verheißung, alles Verhalten lasse sich auf eine Handvoll Reflexe und die darauf aufgebauten bedingten Reaktionen zurückführen. Und die Reflexbogenkategorien von Reiz und Reaktion und Verstärkung ließen sich ohne weiteres auf die Rätsel des zielgeleiteten Verhaltens übertragen, die damit gelöst erschienen. Und man brauche nur Ratten kilometerweit durch Wunderwerke von Labyrinthen laufen zu lassen, um ganz von selbst das noch schönere Wunderwerk objektiv richtiger Theorieaussagen zu erhalten. Mit seinem (feierlich gelobten) Vorsatz, das Denken auf Muskelzuckungen und die Persönlichkeit auf die Leiden des Kleinen Albert14 zu reduzie14 Die bedauernswerte Versuchsperson bei Watsons Experimenten zum Phänomen der bedingten Angst.
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ren. – Bei alldem war eine Begeisterung im Spiel, die man heute kaum noch versteht. Kompliziertheiten würden einfachen Erklärungen Platz machen, das Dunkel würde dem Licht weichen, und mit der Philosophie wäre ein für allemal Schluß. Für den außenstehenden Beobachter mußte es so aussehen, als ob diese Revolte gegen das Bewußtsein die traditionellen Hochburgen des Denkens im Sturm eroberte, um über einer Universität nach der andern ihr siegreiches Banner flattern zu lassen. Doch ich als ehemaliges Mitglied ihres stärksten Flügels gestehe, daß diese Bewegung im Grunde nicht das war, was sie zu sein vorgab. Außerhalb des Bereichs von Drukkerzeugnissen war der Behaviorismus nichts weiter als die bloße Weigerung, über das Bewußtsein überhaupt zu sprechen. Kein Mensch glaubte eigentlich wirklich, daß er selbst kein Bewußtsein habe. Und es war pure Heuchelei, wenn man – wie geschehen – jeden, der sich weiterhin für Fragen des Bewußtseins interessierte, aus dem Lehrbetrieb der psychologischen Fakultäten hinausdrängte und in den Lehrbüchern das leidige Problem vor den Studenten einfach totschwieg. Der Behaviorismus war im wesentlichen eine Methode, keinesfalls die komplette Theorie, die zu sein er vorgab. Eine Methode zur Austreibung alter Gespenster. Er veranstaltete in der Psychologie einen großen Hausputz. Aber jetzt sind die Zimmer gefegt, die Schränke ausgewischt und gelüftet – und wir sind so weit, daß wir das Problem von neuem angehen können. Bewußtsein als das retikuläre Aktivierungssystem Doch bevor wir dies tun, hier noch ein letzter, total anderer Lösungsansatz, und zwar einer, der mich selbst in letzter Zeit sehr beschäftigt hat: der Ansatz beim Nervensystem. Wie oft bei unserer vergeblichen Mühe, die Geheimnisse der Seele zu lüften, besänftigen wir nicht unsere Fragen mit der Berufung auf – tatsächliche oder eingebildete – anatomische Sachverhalte und stellen uns einen Gedanken als ein bestimmtes Neuron, eine Stimmung als einen bestimmten Neurontrans-
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mitter vor! Diese Versuchung entspringt dem Verdruß über die Unüberprüfbarkeit und Unbestimmheit sämtlicher bisher genannten Lösungen. Fort mit diesen Wortklaubereien! Diese esoterischen Denkposen, ja selbst der Papiertiger Behaviorismus – was sind sie anderes als Ausflüchte, um gerade jene Sachverhalte, von denen wirklich die Rede sein müßte, ignorieren zu können? Hier haben wir ein Lebewesen – meinetwegen ein menschliches – hier, direkt auf unserem Analysetisch. Wenn es Bewußtsein hat, muß dieses Bewußtsein hier drinstecken, direkt hier drin, in dem Gehirn vor uns, und nicht in den philosophischen Nebeln, wie sie irgendeiner ratlosen Vergangenheit vorschwebten. Und heute verfügen wir endlich über die technischen Mittel, um das Nervensystem direkt – von Gehirn zu Gehirn! – erforschen zu können. Irgendwo in diesem dreieinhalb Pfund schweren Klumpen rötlichgrauer Materie muß die Antwort stecken. Wir brauchen nur herauszufinden, mit welchen Gehirnpartien das Bewußtsein verknüpft ist, die anatomische Entwicklung dieser Partien zurückzuverfolgen – und schon haben wir die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bewußtseins. Wenn wir dann noch das Verhalten heutiger Tierarten untersuchen, die die verschiedenen Entwicklungsstadien dieser neurologischen Strukturen repräsentieren, werden wir zu guter Letzt in der Lage sein, mit wissenschaftlicher, experimentell gesicherter Genauigkeit zu sagen, was denn das Bewußtsein eigentlich ist. Das hört sich in der Tat wie ein hervorragendes wissenschaftliches Arbeitsprogramm an. Seit Descartes die Zirbeldrüse (Epiphyse) im Gehirn zum Sitz des Bewußtseins erklärte und damit bei den Physiologen seiner Zeit auf einhellige Ablehnung stieß, ist eine eifrige, wenngleich oftmals ein bißchen oberflächliche Suche nach dem Ort im Gehirn im Gang, wo das Bewußtsein beheimatet ist.15 Und das ist auch heute noch so. 15 Davon handelt ausführlicher mein Aufsatz: The Problem of Animate Motion in the Seventeenth Century, Journal of the History of Ideas 31 (1970), S. 219-234.
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Derzeit aussichtsreichster Kandidat für die Rolle des neuralen Substrats des Bewußtseins ist einer der wichtigsten neurologischen Funde unserer Epoche, nämlich die Formatio reticularis, ein Geflecht winzig kleiner multipolarer Nervenzellen, das lange unentdeckt im Gehirnstamm geruht hatte. Es zieht sich vom oberen Ende des Rückenmarks hinauf bis in den Thalamus und Hypothalamus und erhält kollaterale Fasern und damit Informationen von allen zentrifugalen und zentripetalen Leitungsbahnen (d.h. Empfindungs- und Bewegungsnerven), etwa so, wie eine Abhöranlage die vorbeilaufenden Nachrichtenleitungen anzapft. Aber das ist noch nicht alles. Die Formatio reticularis hat auch direkte Befehlsleitungen zu einem halben Dutzend wichtiger Bereiche der Großhirnrinde sowie vermutlich zu allen Kernen des Gehirnstamms, und sie schickt Fasern in das Rückenmark hinunter, wo sie die peripheren Empfindungs- und Bewegungssysteme beeinflußt. Die Funktion der Formatio reticularis ist die eines unspezifischen Aktivierungssystems: Sie wirkt hemmend und erregend auf einzelne Nervenschaltkreise und steuert damit den Wachheitszustand des Individuums, was die Pioniere ihrer Erforschung veranlaßte, sie als «Wachhirn» zu bezeichnen.16 Nach ihrer Funktion wird die Formatio reticularis auch «retikuläres Aktivierungssystem» genannt. Sie ist die Stelle, wo eine Vollnarkose angreift, indem sie die Nervenzellen deaktiviert. Wird die Formatio reticularis zerstört, hat das Bewußtlosigkeit oder Koma zur Folge. Wird sie (im Tierversuch) bei einem schlafenden Individuum mittels einer eingepflanzten Elektrode stimuliert, so ist Erwachen das Ergebnis. Überdies vermag sie die Aktivität der meisten anderen Gehirnpartien zu regulieren, was nach Maßgabe ihrer eigenen innerlichen Erregbarkeit und ihres neurochemischen Titers erfolgt. Es gibt einige Unregelmäßigkeiten im Erscheinungsbild der Formatio reticularis, die zu kompliziert sind, als daß sie hier erörtert werden könnten. Doch ist keine von ihnen geeignet, 16 Vgl. H. W. Magoun, The Waking Brain, Springfield, Illinois: Thomas 1958.
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die faszinierende Vorstellung zu erschüttern, dieser Filz von Kurzneuronen mit Verbindungsfasern zum ganzen Gehirn, dieses Zwischenstück zwischen den eigentlichen sensorischen und motorischen Systemen der klassischen Neurologie sei möglicherweise die seit langem gesuchte Lösung für das ganze Problem. *** Betrachten wir jedoch die Evolutionsgeschichte der Formatio reticularis und fragen uns, ob und wie sie zur Evolution des Bewußtseins in Parallele gesetzt werden kann, so erhalten wir von daher nicht die geringste Ermutigung. Denn dieses Gebilde erweist sich als einer der ältesten Teile des Nervensystems; ja, man könnte sogar mit guten Gründen die Auffassung vertreten, es sei der älteste Teil überhaupt, um den herum sich die differenzierteren, spezifischeren, höheren Systeme angelagert haben. Das wenige, was wir derzeit über die Evolution der Formatio reticularis wissen, scheint nicht dafür zu sprechen, daß das Problem des Bewußtseins und seines Ursprungs durch weitere Forschungen in dieser Richtung gelöst werden könnte. Außerdem gibt man sich mit derartigen Überlegungen einer Täuschung hin – einer Täuschung, die in unserem Bestreben, psychische Erscheinungen in neuroanatomische und chemische Sachverhalte zu transponieren, nur allzuoft unerkannt mitspielt. Dem Nervensystem können wir Erkenntnisse nur über dasjenige abgewinnen, was wir zuvor im Verhalten erkannt haben. Selbst wenn wir über einen vollständigen Leitungsplan des Nervensystems verfügten, wären wir damit immer noch nicht in der Lage, unsere Ausgangsfrage zu beantworten. Und wüßten wir auch bis in die kleinste Einzelheit Bescheid über die Verdrahtung sämtlicher Axone und Dendriten in sämtlichen Spezies der Entwicklungsgeschichte, mitsamt allen Umwertungsstellen und ihren Varianten in den Milliarden von Synapsen jedes Gehirns, das jemals existiert hat, so könnten wir dennoch niemals – niemals! – allein anhand
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unseres Wissens über ein Gehirn bestimmen, ob dieses Gehirn ein Bewußtsein wie das unsere enthält oder nicht. Wir müssen zunächst ganz oben beginnen, nämlich mit einem Begriff vom Bewußtsein, einem Begriff von der Introspektion, der Selbstbeobachtung. Erst müssen wir hier einen sicheren Stand gewonnen haben, ehe wir zum Nervensystem und seinen Einzelheiten weitergehen können. Wir müssen also neu, das heißt ganz von vorn anfangen, indem wir festzustellen suchen, was denn das eigentlich ist: Bewußtsein. Keine ganz leichte Aufgabe, wie wir bereits gesehen haben: Die bisherige Geschichte unseres Gegenstands steht im Zeichen einer unaufhörlichen Verwechslung von metaphorischen – also indirekten, gleichnishaften – Aussagen mit – direkten – Objektaussagen. In solcher Lage – wenn sich etwas bereits gegen eine ansatzweise Klärung sperrt – ist es immer das klügste, zunächst einmal zu bestimmen, was dieses Etwas nicht ist. Und das wollen wir im folgenden Kapitel tun.
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ERSTES BUCH Bewußtsein, Geist, Gehirn und Seele
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ERSTES KAPITEL Das Bewußtsein des Bewußtseins
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FRAGE: Was ist das Bewußtsein? werden wir uns des Bewußtseins bewußt. Und die meisten Menschen meinen, eben dies, dieses sich des Bewußtseins Bewußt-Sein, sei das Bewußtsein. Das ist ein Irrtum. Sind wir uns unseres Bewußtseins bewußt, so erscheint uns dieses Bewußtsein als die unmittelbar gewisseste Sache von der Welt. Wir erkennen in ihm das charakteristische Merkmal unseres gesamten Wachlebens, unserer Stimmungen und Affekte, Gedanken und Erinnerungen, der Aufmerksamkeitsfunktion und der Willensentscheidungen. Wir sind ganz sicher, daß es die Grundvoraussetzung der Begriffsbildung und des Lernens, des Denkens, Urteilens und Schlußfolgerns ist, und zwar deshalb, weil es unsere Erlebnisse, so wie sie sich zutragen, unmittelbar aufzeichnet und speichert und sie dadurch für unsere Selbstbeobachtung und unser Erkennen beliebig verfügbar macht. Außerdem glauben wir ziemlich genau zu wissen, daß dieses ganze wunderbare System von Funktionen und Materialien, das wir Bewußtsein heißen, irgendwo im Kopf sitzt. Bei kritischer Überprüfung erweisen sich alle diese Annahmen als falsch. Es sind Maskeraden, hinter denen das Bewußtsein seit Jahrhunderten seine wahre Gestalt verbirgt. Es sind grundsätzliche Mißverständnisse, die bis heute die Lösung des Problems vom Ursprung des Bewußtseins verhindert haben. Ziel unseres langen, aber, wie ich hoffe, abenteuerreichen Weges in diesem ersten Kapitel wird es sein, die Irrigkeit jener Auffassungen nachzuweisen und zu zeigen, was das Bewußtsein nicht ist. IT DER
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Die Dimension des Bewußtseins Betrachten wir zunächst einmal verschiedene Verwendungsweisen des Wortes Bewußtsein, die wir von vornherein als irreführend ausrangieren können. Da ist beispielsweise die Wendung «das Bewußtsein verlieren» (nach einem Schlag auf den Kopf). Wollten wir das als zutreffende Beschreibung des gemeinten Sachverhalts gelten lassen, müßten wir darauf verzichten, dieses sprachlich zu unterscheiden von jenen in der klinischen Literatur geschilderten Somnambulzuständen, in denen ein Patient zwar eindeutig bewußtlos ist, jedoch noch so auf die Umwelt reagiert, wie es ein k. o. Geschlagener nicht mehr vermag. Deshalb müßte man von jemandem, der eins auf den Schädel bekommt, eigentlich sagen, daß er sowohl das Bewußtsein als auch das Reaktionsvermögen verliert: und das sind zwei Paar Stiefel. Diese Unterscheidung ist auch für das normale Alltagsleben von Belang. Wir reagieren ständig auf Dinge, ohne uns ihrer jeweils bewußt zu sein. Wenn ich, den Rücken gegen einen Baum gelehnt, auf meinem Rasen sitze, reagiere ich zu jedem Zeitpunkt auf den Baum und den Boden und meine eigene Haltung, denn wenn ich mir die Beine vertreten möchte, werde ich mich zu diesem Zweck vollkommen unbewußt vom Boden erheben. Ganz vertieft in die Gedankengänge dieses ersten Kapitels, bin ich mir nur in den seltensten Augenblicken meiner Umgebung bewußt. Während ich schreibe, reagiere ich auf den Bleistift in meiner Hand, da ich ihn ja festhalte, und ich reagiere auf den Schreibblock, denn ich halte ihn auf den Knien, und auf seine Linien, denn ich schreibe auf ihnen – doch bewußt bin ich mir dessen, was ich sagen will, und der Frage, ob ich mich verständlich ausdrücke oder nicht. Flattert aus dem Gebüsch in meiner Nähe ein Vogel auf und fliegt zeternd davon, wende ich vielleicht den Kopf, verfolge ihn mit den Blicken, lausche ihm nach und wende mich dann wieder dem Blatt vor mir zu, ohne mir des Vorgangs bewußt geworden zu sein.
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Mit anderen Worten: Das Reaktionsvermögen erstreckt sich auf alle Reize, denen ich in meinem Verhalten auf irgendeine Weise Rechnung trage; ganz anders dagegen das Bewußtsein, ein bei weitem weniger allgegenwärtiges Phänomen: der Dinge, auf die wir reagieren, sind wir uns nur zeitweilig bewußt. Und während sich das Reaktionsvermögen vollständig in neurologischen und Verhaltenskategorien beschreiben läßt, ist dies auf dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens in bezug auf das Bewußtsein nicht möglich. Aber der Unterschied geht noch viel tiefer. Ständig sind wir mit Reaktionsweisen beschäftigt, für die es überhaupt keine mögliche Bewußtseinsrepräsentanz gibt. Wenn wir einen Gegenstand anblicken, reagieren unsere Augen und infolgedessen die Bilder auf unserer Netzhaut mit zwanzig kleinen Rucken pro Sekunde, und dennoch erblicken wir einen unverrückt feststehenden Gegenstand, ohne irgendein Bewußtsein zu haben von der Aufeinanderfolge unterschiedlicher Informationseingaben und ihrer Verarbeitung zu einem einheitlichen Gegenstand. Das unnormal kleine Netzhautbild eines Gegenstands wird unter angemessenen Umständen automatisch als entfernter Gegenstand gesehen; die Korrektur vollziehen wir unbewußt. Farbkontrasteffekte, Hell-Dunkel-Kontrasteffekte und andere Wahrnehmungskonstanzen bilden sich allesamt ununterbrochen während jeder Minute unseres Wachlebens, ja sogar unseres Traumlebens, ohne daß wir uns dessen im mindesten bewußt wären. Und diese Beispiele sind nur ein winziger Bruchteil jener Vielzahl von Vorgängen, deren wir uns früheren Definitionen des Bewußtseins zufolge eigentlich bewußt sein müßten – was aber entschieden nicht zutrifft. Ich denke etwa an Titcheners Definition des Bewußtseins als «die Summe aller psychischen Vorgänge, die im gegenwärtigen Augenblick stattfinden». Von dieser Auffassung sind wir heute meilenweit entfernt. Aber wir wollen noch einen Schritt weiter gehen. Das Bewußtsein macht einen sehr viel geringeren Teil unseres Seelenlebens aus, als uns bewußt ist – weil wir kein Bewußtsein davon haben, wovon wir kein Bewußtsein haben. Leicht gesagt, aber
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schwer einzusehen! Es ist, als verlange man von einer Taschenlampe, daß sie in einem dunklen Zimmer einen Gegenstand ausfindig macht, der im Dunkeln bleibt. Weil es überall hell ist, wohin die Lampe ihren Strahl richtet, müßte sie daraus schließen, daß der ganze Raum erleuchtet ist. Genauso kann der Eindruck entstehen, als ob das Bewußtsein das gesamte Seelenleben durchdringe, auch wenn dies nicht im entferntesten der Fall ist. Ein weiterer interessanter Aspekt ist die zeitliche Dimension des Bewußtseins. Sind wir uns, wenn wir wachen, in jedem Augenblick bewußt? Wir glauben es. Wir sind sogar absolut überzeugt davon. Ich schließe die Augen und versuche an nichts zu denken – trotzdem fließt das Bewußtsein weiter, ein mächtiger Strom von Inhalten in wechselnden Zuständen, die ich als Gedanken, Vorstellungen, Erinnerungen, innere Dialoge, Kummergefühle, Wünsche oder Entschlüsse zu bezeichnen gelernt habe und die innig verflochten sind mit den in unablässigem Wechsel vorüberziehenden äußeren Eindrücken, die mein Bewußtsein selektiv aufnimmt. Nirgendwo ist da eine Unterbrechung. So stellt es sich für uns jedenfalls dar. Bei allem, was wir tun, behalten wir das Empfinden, daß unser ureigenstes Selbst, unser tiefstes Tiefen-Ich letztlich in diesem kontinuierlichen Fluß besteht, der nur im traumlosen Schlaf unterbrochen ist, so lautet unsere Erfahrung. Und viele Denker hielten dieses Erlebniskontinuum für die Ausgangsbasis aller Philosophie, die eigentliche Heimstatt unbezweifelbarer Gewißheit. «Cogito, ergo sum.» Aber wie hat man diese Kontinuität zu deuten? Eine Minute ist unterteilbar in sechzigtausend Millisekunden: Haben wir während jeder einzelnen Millisekunde Bewußtsein? Sollten Sie in der Tat dieser Meinung sein, dann unterteilen Sie noch weiter, in immer kleinere Zeiteinheiten, wobei Sie bitte bedenken wollen, daß die Impulsfrequenz der Neuronen begrenzt ist. Wir wissen zwar nicht das mindeste darüber, wie das mit unserem Empfinden von der Kontinuität des Bewußtseins zusammenhängt, doch
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wird kaum jemand ernstlich behaupten wollen, das Bewußtsein schwebe gleichsam wie ein Ätherhauch durch das Nervensystem und über dem Nervensystem, frei von aller irdischen Bedingtheit durch neutrale Refraktärperioden. Sehr viel wahrscheinlicher ist, daß wir im Fall der augenscheinlichen Kontinuität des Bewußtseins der gleichen Täuschung erliegen wie bei den meisten anderen Metaphern vom Bewußtsein. Um es in unserem Gleichnis von der Taschenlampe auszudrücken: Daß sie brennt, wäre der Lampe nur bewußt, solange sie brennt. Auch wenn sie zwischendurch für längere Zeitspannen ausgeknipst war, müßte es der Lampe selbst (unter sonst gleichen Umständen) so vorkommen, als habe sie ununterbrochen gebrannt. Die zeitliche Erstreckung unseres Bewußtseins ist also kürzer, als wir meinen, weil wir uns nicht bewußt sein können, wann wir uns nicht bewußt sind. Und das Gefühl von einem reich und ununterbrochen dahinströmenden Innenleben, einem Strom, der sich bald gemächlich durch träumerische Stimmungen windet, bald reißend in die Schluchten jäher Einsichten hinabstürzt, ein andermal wieder gleichmäßig durch unsere hochgestimmten Tage rauscht – dieses Gefühl ist nichts anderes als das, was es auf dieser Buchseite ist: eine Metapher dafür, wie das subjektive Bewußtsein dem subjektiven Bewußtsein erscheint. Das läßt sich anders noch besser verdeutlichen. Wenn Sie Ihr linkes Auge schließen und dann den Blick fest auf den linken Rand der Buchseite richten, sind Sie sich nicht im mindesten der großen Leerstelle in Ihrem Gesichtsfeld bewußt, die dabei etwa zehn Zentimeter rechts vom Blickpunkt auftritt. Doch wenn Sie jetzt – noch immer nur das rechte Auge offen und auf den Rand geheftet – den Zeigefinger längs einer Zeile von links nach rechts über die Seite führen, werden Sie beobachten, wie die Fingerspitze in dieser Leerstelle verschwindet und auf der anderen Seite wieder auftaucht. Das Phänomen ist auf die im nasenseitigen Teil der Netzhaut gelegene Leerstelle von zwei Millimeter Durchmesser zurückzuführen, wo der Gesichtsnerv in das Augeninnere eintritt und die licht-
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empfindlichen Elemente fehlen.1 Sie wird gewöhnlich «blinder Fleck» genannt. Interessant an dieser Leerstelle ist aber für uns, daß es sich nicht so sehr um einen blinden als vielmehr um einen Nicht-Fleck handelt. Ein Blinder sieht das Dunkel, das ihn einhüllt.2 Sie, der Leser, dagegen sehen keinerlei Lücke in Ihrem Gesichtsfeld, geschweige denn, daß Sie sich einer solchen im geringsten bewußt wären. Und genauso, wie die Löcher in der Raumwahrnehmung, die der blinde Fleck hervorruft, «gestopft» werden, ohne daß die kleinste Lücke hinterbleibt, schließt sich das Bewußtsein über seinen Zeitlöchern und gibt sich den täuschenden Anschein eines Kontinuums. Die Beispiele dafür, wie gering der Anteil des Bewußtseins an unserem Alltagsverhalten ist, lassen sich beliebig vermehren; man findet sie fast allenthalben. Greifen wir ein besonders schlagendes heraus: das Klavierspiel.3 Der Klavierspieler bewältigt die vielfältigsten, verschiedenartigsten Aufgaben alle zu gleicher Zeit, ohne ein nennenswertes Bewußtsein davon zu haben: Zwei unterschiedliche Zeichenfolgen von nahezu hieroglyphischem Aussehen müssen entschlüsselt und die eine davon der rechten, die andere der linken Hand zugeordnet 1
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Noch besser läßt sich der blinde Fleck mit Hilfe zweier quadratischer Stücke Papier von etwa eindreiviertel Zentimeter Seitenlänge darstellen. Man hält mit jeder Hand ein Papierstück ungefähr 45 Zentimeter weit vor sich, schließt ein Auge, fixiert mit dem offenen Auge eines der Papierstücke und bewegt das andere zur Seite des offenen Auges hin vom Blickpunkt weg, bis es verschwindet. Mit Ausnahme der Fälle, in denen die Ursache der Blindheit im Gehirn liegt. Beispielsweise sind sich Soldaten mit einer Läsion in einem der Hinterhauptfelder der Großhirnrinde, durch die ein großer Teil des Gesichtsfelds zerstört wird, keiner Beeinträchtigung ihres Sehvermögens bewußt. Geradeaus blickend haben sie die Illusion, alles Sichtbare ebenso vollständig wahrzunehmen wie jedermann sonst. In ähnlicher Form bediente sich W. B. Carpenter dieses Beispiels, um zu verdeutlichen, was er unter «unbewußter Gehirntätigkeit» verstand. Es war dies vermutlich die erste ernst zu nehmende Formulierung dieses Gedankens im 19. Jh. Sie findet sich erstmals in der 4. Aufl. von Carpenters Human Physiology (1852) und weiter ausgeführt dann in seinen späteren Schriften, etwa in dem einflußreichen Buch Principles of Mental Physiology, London: Kegan Paul 1874, Buch 2, Kap. 13.
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werden. Jeder einzelne von zehn Fingern hat unterschiedliche Aufgaben und damit unterschiedliche motorische Probleme zu lösen, ohne daß der Spieler dessen gewahr würde, und ebensowenig wird er gewahr, wie er erhöhte, erniedrigte und normale Noten in Anschläge der schwarzen und weißen Tasten übersetzt, das Zeitmaß von ganzen oder Viertel- oder Sechzehntelnoten einhält, Pausen oder Triller einlegt, die eine Hand womöglich einen Dreiviertel- und die andere einen Viervierteltakt spielen läßt, während er zugleich mit den Füßen einzelne Töne dämpft, bindet oder hält. Und während alledem befindet sich der Pianist mit dem bewußten Teil seines Selbst vielleicht im siebten Himmel vor Verzückung über das künstlerische Ergebnis dieser staunenswerten Geschäftigkeit; oder er gibt sich der Betrachtung des zarten Geschöpfes hin, das ihm die Notenblätter umwendet und dem er zu Recht sein tiefstes Inneres zu offenbaren glaubt. Selbstverständlich spielt das Bewußtsein in der Regel eine gewisse Rolle beim Erlernen derart komplizierter Verrichtungen, hingegen nicht unbedingt auch bei ihrer Ausführung – und nur das ist der Punkt, auf den es mir hier ankommt. Bewußtsein ist häufig nicht nur überflüssig – es kann sogar störend wirken. Würde unser Pianist mitten in einer rasend gespielten Folge von Arpeggios sich plötzlich seiner Finger bewußt, müßte er sein Spiel abbrechen. Nijinski hat einmal gesagt, beim Tanzen habe er immer das Gefühl gehabt, als ob er im Orchestergraben sitze und sich selber zusehe. Er war sich also nicht jeder einzelnen seiner Bewegungen bewußt, sondern des Bildes, das er für die anderen abgab. Ein Sprinter ist sich vielleicht seiner Position im Feld bewußt, mit Sicherheit jedoch ist ihm nicht bewußt, wie er ein Bein vor das andere setzt, denn das könnte ihn unter Umständen sogar zum Straucheln bringen. Und jedermann, der auch nur so laienhaft Tennis spielt wie ich, kennt den Ingrimm, der einen übermannt, wenn plötzlich der Aufschlag «beim Teufel ist» und man aus den Doppelfehlern nicht mehr herauskommt. Je mehr Doppelfehler, desto bewußter wird man sich seiner
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Haltung, seiner Bewegungen (und seiner Laune!), und desto schlimmer wird alles nur noch.4 Erscheinungen wie die genannten, die im Zusammenhang mit Hochleistungen auftreten, kann man nicht mit dem Hinweis auf die körperliche Anspannung wegdiskutieren, denn die gleichen Erscheinungen in bezug auf das Bewußtsein treten auch bei weniger anstrengenden Beschäftigungen auf. In diesem konkreten Augenblick ist Ihnen nicht bewußt, wie Sie dasitzen, wie Sie Ihre Hände halten, wie schnell Sie lesen, wenngleich Sie dieser Dinge, im selben Moment, da ich sie erwähnte, gewahr wurden. Beim Lesen sind Sie sich weder der Buchstaben noch der Wörter, noch des Satzbaus oder der einzelnen Sätze und der Zeichensetzung bewußt, sondern nur der Bedeutung von alledem. Wenn Sie sich einen Vortrag anhören, verschwinden die artikulierten Laute hinter den Wörtern, die Wörter hinter den Sätzen und die Sätze hinter dem Gemeinten, der Bedeutung. Sich als Zuhörer der Elemente der Rede bewußt zu werden heißt den Sinn der Rede zunichte machen. Das gleiche gilt für den Sprecher. Versuchen Sie einmal, mit einem klaren Bewußtsein Ihrer Artikulation zu sprechen. Sie werden einfach nicht mehr weitermachen können. Nicht anders beim Schreiben: Es ist, als ob der Bleistift oder der Füller oder die Schreibmaschine von sich aus die Wörter buchstabierte, Abstand zwischen ihnen ließe, die Zeichensetzung wählte, auf die neue Zeile überwechselte, Wortwiederholungen vermiede und hier eine Frage, dort einen Ausruf einschaltete, während wir selbst nichts anderes im Kopf haben als dies: was wir sagen wollen, und den Menschen, dem wir es sagen. Denn beim Sprechen und Schreiben sind wir uns unseres faktischen Tuns nicht wirklich bewußt. Das Bewußtsein 4
Der Schreiber dieser Zeilen übt sich von Zeit zu Zeit in der Kunst des Improvisierens auf dem Klavier, und er leistet immer dann sein Bestes in der Erfindung neuer Themen und ihrer Ausführung, wenn er sich des Vorgangs nicht als einer geforderten Leistung bewußt ist, sondern die Sache in schlafwandlerischer Manier betreibt: seines Spiels in einer Weise gewahr werdend, als handle es sich um das Spiel eines anderen Menschen.
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betätigt sich in der Entscheidung darüber, was wir sagen wollen und wie und wann es am besten zu sagen ist; aber was dann kommt: die geordnete und zweckentsprechende Aneinanderreihung von artikulierten Lauten oder geschriebenen Buchstaben, wird uns irgendwie abgenommen. Das Bewußtsein ist kein Abbild unseres Erlebens Zwar kommt die Metapher von der Seele als einem leeren Informationsspeicher – etwa nach Art einer unbeschriebenen Wachstafel – schon in den Aristotelischen Schriften vor, aber erst seit John Locke im siebzehnten Jahrhundert seinerseits die Seele mit einer «tabula rasa» verglich, ist dieser Speicheraspekt des Bewußtseins so weit in den Vordergrund gerückt, daß wir es uns heute als ein übervolles Archiv oder eine Registratur von Erinnerungsbildern vorstellen, die in der Selbstbeobachtung wieder hervorgeholt werden können. Wäre Locke ein Zeitgenosse unseres Jahrhunderts, hätte er wohl zum Bild von der Kamera statt von der Wachstafel gegriffen. Die Leitvorstellung ist jedoch in beiden Fällen die gleiche. Und die meisten Menschen würden heute im Brustton der Überzeugung vorbringen, die Hauptaufgabe des Bewußtseins bestehe darin, Erlebniseindrücke zu speichern, sie abbildlich festzuhalten wie eine Kamera, damit sie für spätere Betrachtung zur Verfügung stehen. So könnte man meinen. Aber beantworten Sie jetzt die folgenden Fragen: Schlägt die Tür des Zimmers, in dem Sie sich befinden, rechts oder links an? Welches ist Ihr zweitlängster Finger? Ist an der Verkehrsampel das rote oder das grüne Licht oben? Wie viele Zähne sehen Sie beim Zähneputzen? Falls Sie Raucher sind: Welche Marken außer Ihrer eigenen befinden sich in dem Automaten, aus dem Sie gewöhnlich Ihre Zigaretten ziehen, und in welcher Reihenfolge von links nach rechts sind sie in den Schächten plaziert? Und falls Sie sich augenblicklich in einem Zimmer befinden, das Ihnen vertraut ist: Schreiben Sie, ohne sich umzudrehen, alle Gegenstände
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auf, die sich an der Wand hinter Ihrem Rücken befinden, und prüfen Sie dann nach. Ich schätze, Sie werden staunen, wie wenig Sie sich von jenen vermeintlichen Bildern, die Sie aus soviel vorangegangenem aufmerksamem Erleben aufgespeichert haben, bewußt vergegenwärtigen können. Wenn die vertraute Tür plötzlich links statt rechts anschlüge, wenn einer Ihrer Finger über Nacht länger geworden wäre, oder wenn Sie plötzlich einen Zahn mehr als früher im Gebiß hätten, wenn eine Zigarettenmarke im Automaten ausgetauscht oder die Lichter an der Ampel versetzt worden wären, oder wenn das Fenster in Ihrem Rücken einen neuen Griff bekommen hätte, dann würden Sie das auf Anhieb erkennen, womit bewiesen wäre, daß Sie auch den früheren Zustand «kannten», wenngleich er Ihnen nicht bewußt war. Dies ist der – für Psychologen altvertraute – Unterschied zwischen Wiedererkennen und Erinnerung. Was Sie erinnern, das heißt bewußt ins Gedächtnis zurückrufen können, ist nur ein Fingerhut voll im Vergleich zu dem gewaltigen Ozean Ihres faktischen Wissens. Experimente wie das vorige beweisen, daß das bewußte Gedächtnis nicht, wie manchmal angenommen, im Aufspeichern von Wahrnehmungsbildern besteht. Nur wenn Sie irgendwann zuvor einmal bewußt auf die Länge Ihrer Finger oder auf die Tür geachtet oder Ihre Zähne gezählt haben, können Sie sich an diese Dinge erinnern, mögen Sie sie sonst auch noch so oft wahrgenommen haben. Falls Sie nicht irgendwann einmal auf die Gegenstände an Ihrer Wand besonders geachtet oder nicht zufällig diese Wand vor kurzem geputzt oder frisch gestrichen haben, werden Sie staunen, was alles Sie bei Ihrer Aufzählung ausgelassen haben. Und jetzt überprüfen Sie das Ganze einmal im Licht Ihrer Selbstbeobachtung. Haben Sie sich nicht in jedem einzelnen Fall gefragt, was da sein müßte? Waren es nicht vielmehr Überlegungen und Schlußfolgerungen und nicht so sehr irgendein Bild, wovon Sie sich dabei leiten ließen? Die bewußte Rückschau besteht nicht im Wiederauffinden von Wahrnehmungsbildern, sondern im Wiederauffinden von Sachverhalten, deren wir uns zu einem
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früheren Zeitpunkt einmal bewußt waren,5 und in der Verarbeitung dieser Elemente zu einem rationalen oder plausiblen Zusammenhang. Das gleiche läßt sich noch auf anderem Wege beweisen. Denken Sie bitte daran zurück, wie Sie das Zimmer betraten, in dem Sie jetzt sind, und dieses Buch zur Hand nahmen. Betrachten Sie den Vorgang in der Innenschau, und fragen Sie sich jetzt: Entsprechen die Wahrnehmungsvorstellungen, die Sie haben, Ihren tatsächlichen Wahrnehmungsfeldern, während Sie eintraten, sich hinsetzten und zu lesen begannen? Sehen Sie sich in Ihrer Vorstellung nicht vielmehr in ganzer Person durch die Tür treten – das Ganze vielleicht sogar aus der Vogelperspektive? Sehen Sie sich nicht – und sei es auch nur verschwommen – Platz nehmen und das Buch ergreifen? Dinge, die Sie niemals so erlebt haben, außer eben jetzt in Ihrer Introspektion! Und können Sie sich die mit dem Vorgang verbundenen Geräuschfelder vergegenwärtigen? Oder Ihre Hautempfindungen, während Sie sich niederließen, das Gewicht von den Füßen auf den Sitz verlagerten und das Buch aufschlugen? Selbstverständlich wären Sie in der Lage, wenn Sie lange genug nachdenken, das rückblickend vorgestellte Geschehen so zu überarbeiten, daß Sie in der Tat das «sehen», was Sie genauso beim Betreten des Zimmers gesehen haben könnten; daß Sie das Stuhlrücken und das Geräusch beim Aufschlagen des Buches «hören» und die Hautempfindungen «spüren». Ich behaupte jedoch, daß dabei ein starkes Element von schöpferischer Phantasie – wir werden es unter der Bezeichnung «Narrativierung» in kurzem noch näher kennenlernen – am Werk ist, Phantasie, die das Erleben nicht wiedergibt, wie es tatsächlich war, sondern wie es hätte gewesen sein können. Oder vergegenwärtigen Sie sich introspektiv das letzte Mal, da Sie beim Schwimmen waren: Ich vermute, Sie haben die Vorstellung von einem Strand oder einem See oder einem 5
Vgl. hierzu Robert Woodworth, Psychological Issues, New York: Columbia University Press 1939, Kap. 7.
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Schwimmbecken, die weitgehend ein Erinnerungsbild ist, doch wenn Sie jetzt zu Ihren Schwimmerlebnis kommen, holla! – wie Nijinski sich selber tanzen sieht, sehen Sie sich schwimmen, etwas, das Sie nie im Leben direkt beobachtet haben! Da ist verschwindend wenig von Ihren tatsächlichen Empfindungen während des Schwimmens vorhanden – von der konkreten Wasserlinie über Ihrem Gesicht, dem Gefühl des Wassers an der Haut oder davon, wie weit die Augen unter Wasser waren, wenn Sie den Kopf zum Atemholen drehten.6 Ähnlich, wenn Sie sich an das letzte Mal erinnern, da Sie unter freiem Himmel übernachteten oder beim Eislaufen waren oder – wenn’s gar nicht anders geht – sich öffentlich blamiert haben: Sie werden die Dinge nicht mehr so sehen, hören, empfinden, wie Sie sie ursprünglich erlebt haben, sondern sich mehr oder weniger wie eine fremde Person in einer Szene auftreten sehen. Bei der erinnernden Rückschau ist also eine gehörige Portion Erfindung mit im Spiel: Man sieht sich so, wie andere einen sehen. Die Erinnerung ist das Medium des «So muß es gewesen sein». Allerdings bezweifle ich nicht, daß Sie in jedem der genannten Fälle auch in der Lage wären, sich auf dem Wege der Schlußfolgerung eine subjektive Sicht des Erlebnisses zu erfinden und dabei sogar überzeugt zu sein, es handle sich um ein wirklichkeitsgetreues Erinnerungsbild. Das Bewußtsein ist nicht notwendig für die Begriffsbildung Einen weiteren schweren Irrtum in bezug auf das Bewußtsein stellt die Meinung dar, es sei der primäre und einzige Ort der Begriffsbildung. Es ist dies eine altehrwürdige Vorstellung: Wir machen im Bewußtsein erst eine Reihe konkreter Erfahrungen, an denen wir dann Gleichförmigkeiten beobachten, die wir zu einem Begriff verdichten. Von dieser Leitvorstellung ging sogar eine ganze Menge von Laborversuchen aus, mit denen manche Psychologen allen Ernstes den Vorgang der 6
Das Beispiel ist einem streitbaren Aufsatz von Donald Hebb entnommen: The Mind’s Eye, Psychology Today 2/1961.
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Begriffsbildung darzustellen meinten. In einer seiner faszinierenden Arbeiten fand Max Müller, ein Psychologe des vergangenen Jahrhunderts, für das Problem eine pointierte Formulierung, indem er fragte, wer schon jemals einen Baum gesehen habe. «Niemand hat jemals einen Baum gesehen, sondern immer nur diese oder jene Tanne oder Eiche, diesen oder jenen Apfelbaum ... ‹Baum› ist also ein Begriff und kann als solcher nie gesehen oder sonstwie mit den Sinnen wahrgenommen werden.»7 Draußen in der Landschaft gebe es nur das konkrete Einzelexemplar und nur im Bewußtsein den Allgemeinbegriff des Baumes. Hier könnte jetzt eine längere Abhandlung über das Verhältnis zwischen Begriff und Bewußtsein folgen. Doch genügt für unsere Zwecke der einfache Nachweis, daß zwischen beiden kein notwendiger Zusammenhang besteht. Wenn Müller meint, noch nie habe jemand einen Baum gesehen, dann verwechselt er sein Wissen über den Gegenstand mit dem Gegenstand selbst. Jeder von einem kilometerweiten Marsch in der heißen Sonne erschöpfte Wanderer kann mühelos einen Baum erblicken. Desgleichen jede Katze, der ein Hund auf den Fersen ist. Die Biene hat einen Begriff von der Blume als solcher, der Adler einen Begriff von einer unzugänglichen Felsnase und die Drossel einen Begriff von einer hochgelegenen Astgabel im Schutz des grünen Laubes. Begriffe sind nichts weiter ngen. Wurzelformen der Begrifflichkeit gehen aller Erfahrung voraus als Fundamentaleigenschaften der aptischen Strukturen, welche manifestes Verhalten überhaupt erst möglich machen.8 Müller hätte besser sagen sollen, daß nie7 8
Max Müller, The Science of Thought, London: Longmans Green 1887, S. 78f. Einen ähnlichen Einwand wie ich erhebt Eugenio Rignano: The Psychology of Reasoning, New York: Harcourt, Brace 1923, S. 108f. «Aptische Strukturen» sind die neurologische Grundlage aller Fähigkeiten. Ihre Komponenten sind zum einen ein angeborenes, evolutionär bedingtes Paradigma und zum anderen der Niederschlag der Erfahrungen im Zuge der individuellen Entwicklung. Der Begriff der «Befähigungsstruktur» soll problematische Ausdrücke wie «Instinkt» u. ä. ersetzen. «Befähigungsstrukturen» sind – teils angeborene, teils erworbene – Organisationsschemata des Gehirns, die den Organismus dazu befähigen, sich unter bestimmten Bedingungen auf bestimmte Weise zu verhalten.
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mand sich jemals eines Baumes als solchen bewußt gewesen ist. Denn das Bewußtsein ist in der Tat nicht nur nicht der Speicher der Begriffe, sondern es funktioniert in der Regel gänzlich ohne sie! Denken wir bewußt an den Baum als solchen, dann sind wir uns in Wirklichkeit eines konkreten Einzelexemplars – der Tanne, der Eiche oder der Ulme vor unserem Haus – bewußt und lassen es stellvertretend für den Begriff stehen, so wie wir auch ein Wort für einen Begriff stehen lassen können. Es ist ja eine der großen Leistungen der Sprache, daß sie ein Wort an die Stelle eines Begriffes setzt, und genau das tun wir jedesmal, wenn wir über Begriffsverhältnisse reden oder schreiben. Und wir können auch gar nicht anders, weil Begriffe im Bewußtsein normalerweise überhaupt nicht vorkommen. Das Bewußtsein ist nicht notwendig für das Lernen Ein drittes gravierendes Mißverständnis sieht im Bewußtsein die Grundlage des Lernens. Insbesondere für die nicht gerade kleine Schar erlauchter Geister, die der führenden psychologischen Richtung des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, dem Assoziationismus, huldigten, bestand das Lernen darin, daß sich aufgrund von Ähnlichkeiten, räumlicher oder zeitlicher Nähe oder irgendeiner sonstigen Beziehung Zusammenhänge zwischen den Vorstellungen im Bewußtsein herstellten. Ob Mensch oder Tier, spielte dabei keine Rolle: Alles Lernen war «aus der Erfahrung gewonnen», war also die Verbindung von Vorstellungen im Bewußtsein (wie in der Einführung bereits erwähnt). Von daher hat sich unserer Gegenwart, gleichsam als Teil ihres kulturellen Erbes, die fast allenthalben kritiklos hingenommene Überzeugung eingeprägt, das Bewußtsein sei eine notwendige Vorbedingung für das Lernen. Der Sachverhalt, um den es hier geht, ist einigermaßen verwickelt. Zudem wird er von den Psychologen unglücklicherweise verzerrt durch ein manchmal haarsträubendes Kauderwelsch, das im Grunde eine unzulässige Verallgemeinerung der Reflexbogenterminologie des neunzehnten Jahrhunderts
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darstellt. Doch für unsere Zwecke dürfen wir uns die Laboruntersuchungen des Lernens als im wesentlichen auf drei Haupttypen bezogen vorstellen: auf das Erlernen von Signalen, Geschicklichkeiten und Problemlösungen. Diese drei Typen wollen wir jetzt der Reihe nach besprechen, um uns bei jedem von ihnen die Frage zu stellen, ob er notwendigerweise Bewußtsein voraussetzt. Signallernen (die klassische oder Pawlowsche Konditionierung) ist der einfachste Fall. Trifft ein Lichtsignal, unmittelbar gefolgt von einem Luftstrom aus einem Gummischlauch, ungefähr zehnmal auf das Auge einer Versuchsperson, beginnt das Augenlid, das vorher nur auf den Luftstrom hin geblinzelt hat, auf das Lichtsignal allein zu blinzeln, und dies mit wachsender Zahl der Versuche immer regelmäßiger.9 Versuchspersonen, die sich diesem bekannten Verfahren des Signallernens unterzogen haben, berichten, daß dabei keinerlei bewußte Komponente im Spiel ist. In der Tat verhindert das Einschalten des Bewußtseins – in diesem Fall der Versuch, das Signallernen durch willentliches Augenzwinkern zu unterstützen – den Lernerfolg. An alltäglicheren Beispielen läßt sich zeigen, daß sich dieses einfache, assoziative Lernen vollzieht, ohne dem Betroffenen bewußt zu werden. Wird ein charakteristisches Musikstück gespielt, während Sie eine besonders schmackhafte Mahlzeit zu sich nehmen, wird Ihnen dieses Musikstück, wenn Sie es das nächste Mal hören, ein bißchen besser gefallen, und Sie werden sogar mit leicht verstärkter Speichelproduktion reagieren. Das Musikstück ist zu einem Signal für Lust geworden, die in Ihr Urteil mit einfließt. Das gleiche Ergebnis läßt sich mit Bildern erzielen.10 Versuchspersonen, die sich solchen Tests im 9
G. A. Kimble, Conditioning as a Function of the Time between Conditioned and Unconditioned Stimuli, Journal of Experimental Psychology 37/1947, S. 1-15. 10 Meine Darstellung stützt sich hier auf Gregory Razran, Mind in Evolution, Boston: Houghton Mifflin 1971, S. 232. Dazu kritisch mit Rücksicht auf das ganze Problem des nichtintentionalen Lernens: T. A. Ryan, Intentional Behaviors, New York: Ronald Press 1970, S. 235 f.
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Labor unterzogen hatten, wußten keine Antwort auf die Frage, warum ihnen die Musik oder die Bilder nach dem Essen besser gefielen. Es war ihnen nicht bewußt, daß sie etwas gelernt hatten. Das wirklich Interessante an der Sache ist jedoch, daß der Lernprozeß nicht stattfindet, wenn man vorher Bescheid weiß und sich des Zusammenhangs zwischen dem Essen und der Musik oder dem Gemälde bewußt ist. Demnach ist es in diesem Bereich sogar so, daß das Bewußtsein die Lernfähigkeit vermindert, ganz zu schweigen davon, daß es eine notwendige Voraussetzung wäre. Was wir schon bei der Ausübung von Geschicklichkeiten feststellen konnten, ist auch beim Erlernen von Geschicklichkeiten der Fall: Das Bewußtsein ähnelt einem hilflosen Zuschauer, der bei der Sache nicht viel zu tun hat. Zum Beweis dafür ein einfaches Experiment: Sie nehmen in jede Hand eine Münze, werfen die beiden Geldstücke über Kreuz in die Luft und fangen sie jeweils mit der anderen Hand wieder auf. Wenn man das ein dutzendmal geübt hat, beherrscht man es. Und während Sie jetzt probieren, fragen Sie sich, ob Sie sich dessen, was Sie da tun, restlos bewußt sind. Wird das Bewußtsein dazu überhaupt gebraucht? Meiner Meinung nach werden Sie feststellen, daß der Lernerfolg sich eher auf «organischem» als auf bewußtem Weg einstellt. Das Bewußtsein führt Sie an die Aufgabe heran und nennt Ihnen das Ziel. Alles Weitere jedoch – von möglichen Selbstzweifeln neurotischer Natur abgesehen – läuft so, als würde Ihnen das Lernen von irgendwoher abgenommen. Im neunzehnten Jahrhundert allerdings, als man sich die gesamte Verantwortung für das Verhalten in der Hand des Bewußtseins dachte, hätte man den Vorgang so erklärt, daß die «guten» und die «schlechten» Bewegungen bewußt erkannt und daß erstere aus freiem Entschluß wiederholt und letztere ausgeschieden werden! Mit dem Erlernen komplizierterer Geschicklichkeiten steht es in dieser Hinsicht durchaus nicht anders. So wurde beispielsweise das Schreibmaschineschreiben eingehend untersucht, wobei man zu der allgemein akzeptierten Ansicht
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gelangte, «daß sämtliche Verbesserungen und Vereinfachungen der Technik unbewußt vorgenommen wurden, das heißt, die Schüler verfielen ganz unabsichtlich darauf. Irgendwann einmal bemerkten sie, daß sie bestimmte Teile ihrer Arbeit auf neue und bessere Weise ausführten.»11 Bei dem Experiment mit den Münzen haben Sie vielleicht sogar bemerkt, daß eine Beteiligung des Bewußtseins Ihren Lernerfolg nur behinderte. Diese Feststellung läßt sich im Zusammenhang mit dem Erlernen von Geschicklichkeiten immer wieder machen, und wie wir weiter oben schon gesehen haben, ebenso auch bei ihrer Ausübung. Lassen Sie das Lernen geschehen, ohne sich seiner übermäßig bewußt zu sein, dann verläuft alles glatter und wirkungsvoller. Manchmal sogar zu wirkungsvoll. Denn bei komplizierten Geschicklichkeiten wie dem Schreibmaschineschreiben kann man sich beispielsweise angewöhnen, ständig «dei» statt «die» zu tippen. Das Gegenmittel besteht darin, den Vorgang umzukehren, nämlich bewußt den Fehler «dei» zu üben, woraufhin er – im Widerspruch zu der gängigen Vorstellung von «Übung macht den Meister» – verschwindet (ein Phänomen, das man als negative Übung bezeichnet). Bei der Leistungsmessung des allgemeinen Bewegungsgeschicks, wie sie beispielsweise mit «pursuit rotor»- oder «mirror tracing»-Tests vorgenommen wird, schneiden die Versuchspersonen, die aufgefordert wurden, sich ihrer Bewegungen klar bewußt zu bleiben, stets schlechter ab.12 Und im Zuge meiner Umfragen habe ich erfahren, daß Sporttrainer unbewußt laborgetestete Grundsätze anwenden, indem sie ihre Schäflein auffordern, nicht soviel mit dem Kopf zu machen. Die Art und Weise, wie im Zen die Kunst des Bogenschießens erlernt wird, ist in dieser Hinsicht äußerst aufschlußreich: Dem Schützen wird geraten, sich nicht als einen Menschen zu erleben, der die Sehne spannt und losläßt, sondern das 11 W. F. Book, The Psychology of Skill, New York: Gregg 1925. 12 H. L. Waskom, An Experimental Analysis of Incentive and Forced Application and Their Effect upon Learning, Journal of Psychology 2/1936, S. 393-408.
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Bewußtsein eigenen Tuns ganz aufzugeben, bis der Bogen sich von selbst spannt, die Sehne sich von selbst löst und der Pfeil von selbst sein Ziel sucht. Lösungslernen (instrumentales Lernen oder operante Konditionierung) ist ein komplexerer Typ. Im Normalfall spielt das Bewußtsein eine beträchtliche Rolle bei der Suche nach einer Lösung für ein Problem oder nach einem Weg zu einem Ziel, indem es das Problem auf eine bestimmte Weise aufbereitet. Doch keineswegs ist es unter allen Umständen notwendig. Es lassen sich Fälle anführen, in denen die Versuchsperson nicht das mindeste Bewußtsein davon hat, welches Ziel sie anstrebt, noch auf welchem Lösungsweg sie es zu erreichen sucht. Dazu ein weiteres einfaches Experiment: Bitten Sie jemanden, sich Ihnen gegenüberzusetzen und nach Belieben Wörter aufzusagen, wie sie ihm einfallen, aber nach jedem Wort eine Pause von zwei oder drei Sekunden einzulegen, damit Sie es aufschreiben können. Wenn Sie nach jedem Pluralsubstantiv (oder Adjektiv oder abstraktem Begriff, oder was immer Sie wollen) «gut» oder «richtig» oder auch nur «Mhm!» murmeln, während Sie es niederschreiben, oder dabei lächeln oder das Pluralwort freundlich wiederholen, wird die Häufigkeit von Pluralsubstantiven (oder was immer) im weiteren Fortgang des Experiments erheblich zunehmen. Bemerkenswerterweise jedoch wird Ihre Versuchsperson gar nicht gewahr, daß sie einen Lernprozeß durchläuft.13 Weder ist sie sich bewußt, daß sie noch mehr ermutigende Bemerkungen aus Ihnen heraus13 J. Greenspoon, The Reinforcing Effect of Two Spoken Sounds on the Frequency of Two Responses, American Journal of Psychology 68/1955, S. 409-416. Allerdings bestehen hier beträchtliche Meinungsverschiedenheiten, insbesondere hinsichtlich der Formulierung und der Reihenfolge der postexperimentellen Fragen. Es könnte sogar sein, daß sich zwischen Versuchsperson und Versuchsleiter eine stillschweigende Übereinkunft herstellt (vgl. Robert Rosenthal, Experimental Effects in Behavioral Research, New York: Appleton-Century-Crofts 1966). Ich selbst teile vorderhand die Ansicht von Postman, daß der Lernerfolg eintritt, bevor die Versuchsperson sich der Verstärkungsbeziehung bewußt wird, ja daß es andernfalls gar nicht zu dieser Bewußtwerdung käme (vgl. L. Postman und L. Sassenrath, The Automatic Action of Verbal Rewards and Punishment, Journal of General Psychology 65/1961, S. 109-136.
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zulocken sucht, noch wie sie diese Aufgabe löst. Tag für Tag, in jeder Unterhaltung, richten wir uns fortwährend gegenseitig auf diese Weise ab, aber wir sind uns dessen nie bewußt. Unbewußtes Lernen ist keineswegs auf das Sprachverhalten beschränkt. Die Hörer einer Psychologievorlesung wurden beauftragt, jedem Mädchen auf dem Universitätsgelände, das Rot trug, Komplimente zu machen. Binnen einer Woche war die Cafeteria ein Meer von Rot (und Freundlichkeit), und keine der Damen war sich bewußt, daß sie manipuliert worden war. Die Hörer einer anderen Vorlesung probierten eine Woche, nachdem sie mit dem unbewußten Lernen und Abrichten bekannt gemacht worden waren, ihr neues Wissen an ihrem Professor aus. Jedesmal, wenn er sich zur rechten Seite des Hörsaals bewegte, zollten sie ihm gespannteste Aufmerksamkeit und lachten schallend über seine Witze. Es wird berichtet, daß sie ihn fast zur Tür hinausdressiert hätten, während ihm selbst nicht das geringste auffiel.14 Der kritische Punkt bei den meisten dieser Experimente ist der, daß die Versuchsperson nicht ahnen darf, worum es geht, weil sie sonst natürlich bewußt auf derartige Verstärkungsverhältnisse achten würde. Man umschifft diese Klippe, indem man sich auf solche Verhaltensreaktionen stützt, die von der Versuchsperson selbst nicht wahrgenommen werden können. Einschlägige Experimente wurden mit einem winzigen Muskel im Daumen gemacht, dessen Bewegungen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle liegen und nur unter Zuhilfenahme eines elektronischen Geräts registriert werden können. Den Versuchspersonen wurde gesagt, es gehe darum, welche Auswirkungen periodisch auftretender unangenehmer Lärm während einer Musikdarbietung auf die Muskelspannung habe. An ihrem Körper wurden jeweils vier Elektroden angebracht, die einzige echte über dem kleinen Daumenmuskel, die anderen drei waren nur Attrappen. Die Versuchsanordnung war so getroffen, daß jedesmal, wenn die unwahr14 W. Lambert Gardiner, Psychology: A Story of a Search, Belmont, California: Brooks/Cole 1970, S. 76.
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nehmliche Daumenmuskelzuckung elektronisch erfaßt wurde, das Störgeräusch 15 Sekunden lang unterbrochen oder, wenn es gerade abgeschaltet war, sein neuerliches Auftreten um 15 Sekunden verzögert wurde. Bei sämtlichen Personen verstärkte sich die Häufigkeit der unwahrnehmlichen Muskelzuckungen, die den quälenden Lärm unterbanden, ohne daß auch nur das geringste Bewußtsein davon vorhanden war, daß man lernte, den unangenehmen Lärm abzustellen.15 Somit steht fest: Das Bewußtsein ist kein notwendiger Bestandteil des Lernvorgangs, gleichgültig, ob es sich um das Lernen von Signalen, Geschicklichkeiten oder Problemlösungen handelt. Es gibt natürlich noch viel mehr zu diesem faszinierenden Thema zu sagen, denn es ist der Brennpunkt der gesamten zeitgenössischen Verhaltensforschung. Aber hier war lediglich der Nachweis zu erbringen, daß die ältere Auffassung, derzufolge bewußtes Erleben die unerläßliche Grundlage alles Lernens darstellt, eindeutig und absolut falsch ist. Wir dürfen jetzt zumindest den Schluß ziehen, daß es möglich ist – ich sage: möglich ist –, sich menschliche Wesen vorzustellen, die kein Bewußtsein haben und dennoch lernen und Probleme lösen können. Das Bewußtsein ist nicht notwendig zum Denken Auf dem Weg von den einfachen zu den komplizierteren Aspekten des Seelenlebens gelangen wir auf immer unübersichtlicheres Gelände, wo unsere gängigen Begriffe nur mehr fragwürdige Reisebegleiter sind. Von solcher Fragwürdigkeit ist zweifellos auch der Begriff des Denkens. Sträubt sich denn 15 R. F. Hefferline, B. Keenan, R. A. Harford, Escape and Avoidance Conditioning in Human Subjects without Their Observation of the Response, Science, 130/ 1959, S. 1338 f. Eine weitere klare Beschreibung des unbewußten Erlernens von Problemlösungsverhalten gibt J. D. Keehn, Experimental Studies of the Unconscious: Operant Conditioning of Unconscious Eye Blinking, Behavior Research andTherapy 5/1967, S. 95-102.
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nicht alles in uns, wenn wir hören, das Bewußtsein sei nicht notwendig zum Denken? Ja, ist denn nicht das Denken geradezu das Herz- und Kernstück des Bewußtseins?! Gemach! Mit dieser Meinung beziehen wir uns auf jenen Denktyp des freien Assoziierens, den man als «Denken an ...» oder «Nachdenken über ...» bezeichnen könnte und der in der Tat stets von allen Seiten umschlossen und umströmt zu sein scheint von der Bilderflut der Bewußtseinswelt. In Wirklichkeit jedoch ist die Sache nicht entfernt so klar, wie sie scheint. Beginnen wir mit dem Denktyp, der zu einem Ergebnis führt, auf das wir die Prädikate «wahr» oder «falsch» anwenden können. Es wird gemeinhin als «Urteilen» bezeichnet und hat große Ähnlichkeit mit einem Extremfall des Lösungslernens, den wir gerade kennengelernt haben. Ein einfaches Experiment – so einfach, daß es banal erscheinen mag – wird uns direkt zum Kern der Sache führen. Nehmen Sie zwei ungleiche Gegenstände, beispielsweise einen Kugelschreiber und einen Bleistift oder zwei ungleichmäßig gefüllte Gläser, und legen oder stellen Sie sie vor sich auf den Tisch. Schließen Sie dann halb die Augen, um sich besser konzentrieren zu können, heben Sie die Gegenstände nacheinander mit Daumen und Zeigefinger hoch und urteilen Sie, welcher schwerer ist. Beobachten Sie dabei mittels Introspektion genau, was Sie tun. Sie werden feststellen, daß Sie sich der Empfindung der Gegenstände an der Haut Ihrer Finger bewußt sind, daß Sie sich des leichten Zugs nach unten bewußt sind, den das Gewicht der einzelnen Gegenstände vermittelt, daß Sie sich etwaiger Unebenheiten auf der Oberfläche der Gegenstände bewußt sind, und so weiter. Und jetzt das eigentliche Urteil, welcher Gegenstand schwerer ist. Wo ist das? Holla! Gerade der Vorgang der Urteilsfindung mit dem Ergebnis: Dieser Gegenstand ist schwerer als der andere, ist Ihnen nicht bewußt. Das Ergebnis erhalten Sie einfach fix und fertig irgendwoher aus dem Nervensystem. Wenn wir diesen Urteilsvorgang Denken nennen, müssen wir einräumen, daß solches Denken ganz und gar nicht bewußt ist. Ein zugegebenermaßen einfaches, aber äußerst wichtiges Experiment. Es zerstört mit
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einem Schlag total den überlieferten Glauben, daß solche Denkvorgänge das Gerüst des bewußten Seelenlebens darstellen. Experimente dieser Art wurden zu Beginn des Jahrhunderts in großem Umfang von der sogenannten Würzburger Schule angestellt. Ausgangspunkt war eine im Jahr 1901 veröffentlichte Untersuchung von Karl Marbe, der in ähnlicher Weise wie eben beschrieben vorging, nur daß er kleinere Gewichte benutzte.16 Die Versuchsperson wurde aufgefordert, zwei vor ihr stehende Gewichte emporzuheben und das schwerere von beiden vor den Versuchsleiter zu stellen, der ihr gegenüber saß. Und es war sowohl für den Versuchsleiter selbst als auch für seine hochgradig geschulten Versuchspersonen, die allesamt in der Selbstbeobachtung geübte Psychologen waren, eine verblüffende Entdeckung, daß der Prozeß des Urteilens als solcher nie bewußt war. Physik und Psychologie weisen immer interessante Gegensätze auf, und es ist eine der Ironien der Wissenschaft, daß das Marbe-Experiment, das in seiner Einfachheit fast albern wirken könnte, für die Psychologie von ebenso großer Bedeutung war wie das so schwierig durchzuführende Michaelson-Morley-Experiment für die Physik. Genauso, wie anhand des letzteren bewiesen wurde, daß der Äther – jene Substanz, die vermeintlich den ganzen Raum erfüllt – nicht existiert, so zeigte sich in dem Gewichtbeurteilungsexperiment, daß Urteilen, jenes vermeintliche Kennzeichen des Bewußtseins, im Bewußtsein überhaupt nicht vorkommt. Dazu läßt sich allerdings ein Einwand vorbringen. Vielleicht vollzog sich die Urteilsfindung beim Emporheben der Gegenstände so schnell, daß wir den Vorgang vergessen haben. Schließlich fassen wir bei der Selbstbeobachtung immerzu
16 K. Marbe, Experimentell-psychologische Untersuchung über das Urteil. Eine Einleitung in die Logik, Leipzig: Engelmann 1901.
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etwas in Hunderte von Wörtern, was sich innerhalb weniger Sekunden zuträgt. (Was für eine erstaunliche Tatsache dies doch ist!) Und unser Gedächtnis für eben Geschehenes beginnt zu schwinden, noch während wir es auszudrücken versuchen. Vielleicht war es dies, was sich bei Marbes Experiment zutrug, und dieser «Urteilen» genannte Denktyp ließe sich vielleicht doch im Bewußtsein finden, wenn wir uns nur besser erinnern könnten. In dieser Form stellte sich das Problem einige Jahre nach Marbes Versuch für Watt.17 Für die Lösung benutzte er ein anderes Verfahren, nämlich den Assoziationsversuch. Der Versuchsperson wurden Kärtchen mit aufgedruckten Hauptwörtern vorgelegt, und sie mußte so rasch wie möglich mit einem Bezugswort antworten. Es handelte sich also nicht um freie Assoziation, sondern um etwas, das man als teilweise gelenkte Assoziation bezeichnet: In verschiedenen Durchgängen wurde die Versuchsperson aufgefordert, zu dem gesehenen Wort einen übergeordneten Begriff (zum Beispiel Eiche/Baum), einen gleichgeordneten Begriff (zum Beispiel Eiche/ Ulme) oder einen untergeordneten Begriff (Eiche/ Balken) zu assoziieren – oder ein Ganzes (Eiche/Wald), einen Teil (Eiche/Eichel) oder einen anderen Teil eines gemeinsamen Ganzen (Eiche/Waldpfad). Die Aufgabenstellung bei der gelenkten Assoziation bot die Möglichkeit, das Bewußtsein der Versuchsperson in vier Phasen einzuteilen: 1. Instruktion über die erwünschte Assoziationsrichtung, (zum Beispiel «übergeordneter Begriff»), 2. Darbietung des Reizwortes (zum Beispiel «Eiche»), 3. Suche nach einer passenden Assoziation und 4. die gesprochene Antwort (zum Beispiel «Baum»). Die Versuchspersonen wurden aufgefordert, ihre Selbstbeobachtung zunächst ganz auf die erste Phase und dann der Reihe nach auf jeweils eine andere zu konzentrieren, um auf diese Weise genauer Rechenschaft von ihrem Bewußtheitsstand in jeder Einzelphase geben zu können.
17 H. J. Watt, Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens, Archiv für die Geschichte der Psychologie 4/1905, S. 289-436.
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Man rechnete nun damit, daß sich anhand dieses präzisen Aufteilungsverfahrens Marbes Schlüsse würden als falsch erweisen lassen und daß die Bewußtheit des Denkens in Watts dritter Phase – bei der Suche nach einem Wort, das die angegebenen Bedingungen erfüllte – zum Vorschein kommen werde. Doch nichts dergleichen geschah. Alles deutete darauf hin, daß das Denken automatisch und nicht eigentlich bewußt erfolgte, sobald ein Reizwort dargeboten und zuvor der gewünschte Assoziationstyp von der Versuchsperson richtig verstanden worden war. Ein bemerkenswertes Ergebnis. Es besagt mit anderen Worten: Man denkt sich etwas, bevor man konkret weiß, was es ist, woran man denken soll. Das Wichtigste an der Sache ist die Instruktion als Voraussetzung dafür, daß alles andere automatisch abläuft. Für diese Phase möchte ich die Bezeichnung «Struktion» einführen, die die Bedeutung sowohl von «Instruktion» als auch von «Konstruktion» in sich vereinen soll.18 Das Denken geschieht also nicht bewußt. Es ist vielmehr ein automatischer Vorgang nach Maßgabe einer Struktion und des Materials, in dem die Struktion getätigt werden soll. Und wir brauchen auch nicht bei Wortassoziationen stehenzubleiben. Aufgaben jedes beliebigen anderes Typs erfüllen den gleichen Demonstrationszweck, auch solche, die Willenshandlungen näherkommen. Wenn ich mir vornehme, an eine Eiche im Sommer zu denken, so ist dies eine Struktion, und was ich «denken an» nenne, ist im Grunde genommen eine Kette von Bildassoziationen, die aus einem unbekannten Meer an die Küste meines Bewußtseins gespült werden, genau wie die gelenkten Assoziationen in Watts Experiment. Sehen wir die Ziffern 6 und 2 und zwischen ihnen einen vertikalen Strich: 18 Die Begriffe «Einstellung», «determinierende Tendenz» und «Struktion» müssen auseinandergehalten werden. «Einstellung» ist der umfassendere Begriff: Er bezeichnet eine gebundene Befähigungsstruktur, deren Stufung bei Säugern von einer (limbischen) Allgemeinkomponente qua «Bereitschaft» bis hin zur (kortikalen) spezifischen Komponente qua «determinierende Tendenz» reicht. Die Endstufe der letzteren wiederum ist beim Menschen häufig eine Struktion.
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6/2, dann bringt dieser Reiz die Vorstellung «acht», «vier» oder «drei» hervor, je nachdem, ob die vorgeschriebene Struktion Addition, Subtraktion oder Division lautet. Wichtig dabei ist, daß die Struktion selbst – der Prozeß der Addition, Subtraktion oder Division –, ist sie erst einmal aufgestellt, im Nervensystem verschwindet. Aber sie ist offensichtlich «im Geiste» mit dabei, da ein und derselbe Reiz dreierlei Reaktionen hervorbringen kann. Allerdings – wie das jeweils vor sich geht, ist uns nicht im mindesten bewußt. Betrachten wir uns jetzt eine Reihe geometrischer Figuren:
Welche Figur kommt als nächste in der Reihe? Wie sind Sie auf die Antwort gekommen? Sobald ich Ihnen die Struktion gegeben habe, «sehen» Sie automatisch, daß es ein Dreieck sein muß. Wenn Sie sich jetzt mittels Selbstbeobachtung davon überzeugen wollen, wie Sie zu Ihrer Antwort gelangt sind, dann – so behaupte ich – vergegenwärtigen Sie sich in Wirklichkeit nicht den Vorgang, der tatsächlich stattgefunden hat, sondern Sie erfinden, wie es stattgefunden haben muß, indem Sie sich zu diesem Berufe selbst eine neue Struktion geben. Während des Vollzugs der Aufgabe selbst waren Sie sich lediglich der Struktion, der Figuren auf dem Blatt vor Ihnen und dann der Lösung bewußt. Nicht anders verhält es sich mit der gesprochenen Sprache (ein Beispiel, das ich weiter oben schon erwähnt habe). Beim Reden sind wir uns weder der Suche nach Wörtern noch der Zusammenfügung der Wörter zu Satzteilen, noch der Zusammenfügung der Satzteile zu ganzen Sätzen wirklich bewußt. Bewußt ist uns lediglich eine fortgesetzte Folge von Struktionen, die wir uns selbst geben und die dann automatisch, ohne irgendwelches Bewußtsein, in sprachlichen Äußerungen resultieren. Die Rede selbst können wir uns im Augenblick des Vollzugs bewußt halten, wenn wir wollen: Dadurch entsteht dann ein gewisses Feedback, das zu neuen Struktionen führt.
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Somit wäre erwiesen, daß der eigentliche Denkvorgang, der gemeinhin als das Herz- und Kernstück des Bewußtseins betrachtet wird, überhaupt nicht bewußt ist und daß lediglich seine Vorbereitung, sein Material und sein Endergebnis im Bewußtsein wahrgenommen werden. Das Bewußtsein ist nicht notwendig für die Vernunfttätigkeit Die lange Tradition, die den Menschen als das vernunftbegabte Lebewesen definiert und ihn als Homo sapiens zur Krone der Schöpfung erhebt, ruht mit ihrem ganzen päpstlichen Absolutheitsanspruch auf dem schmalen Fundament der Annahme, das Bewusstsein sei der Sitz der Vernunft. Eine kritische Durchleuchtung dieser Annahme wird durch die Unbestimmtheit des Begriffs Vernunft erschwert, eine Unbestimmtheit, die das Erbe der alten «Vermögens»psychologie ist, für welche die Vernunft ein – selbstverständlich «im» Bewußtsein angesiedeltes – «Seelenvermögen» war. Und diese erzwungene Verbindung von Vernunft und Bewußtsein wurde noch vermengt mit der Idee der Wahrheit und des richtigen Vernunftgebrauchs, das heißt der Logik – alles jeweils ganz verschiedene Dinge. Demzufolge galt dann die Logik als das Funktionsprinzip der bewußten Vernunfttätigkeit oder, mit anderen Worten, des Schließens, was Generationen von bedauernswerten Gelehrten in Verlegenheit brachte, denn sie wußten sehr gut, daß logische Syllogismen nicht zu dem gehörten, was sich ihrer Selbstbeobachtung darbot. Vernunfttätigkeit oder schlußfolgerndes Denken und Logik verhalten sich zueinander wie Gesundheit und Medizin oder, besser, wie Verhalten und Moral. Das Schließen umfaßt eine Reihe natürlicher Denkprozesse des täglichen Lebens. Die Logik umfaßt Vorschriften, wie wir denken müssen, wenn unser Ziel die objektive Wahrheit ist – und im täglichen Leben geht es höchst selten um die objektive Wahrheit. Die Logik ist die Wissenschaft von der Begründung jener Schlüsse, zu denen wir mit Hilfe unserer natürlichen Vernunft gelangt
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sind. Meine These ist, daß das Bewußtsein für die natürliche Vernunfttätigkeit nicht benötigt wird. Der eigentliche Grund, warum wir die Logik überhaupt benötigen, ist der, daß das Schließen meistenteils ganz und gar nicht bewußt geschieht. Denken Sie zunächst an die vielen Phänomene, von denen wir bereits festgestellt haben, daß sie ohne begleitendes Bewußtsein ablaufen, und die als elementare Formen des Schließens bezeichnet werden können. Das Auswählen von Lösungswegen, Wörtern, Tönen; Körperbewegungen und die Korrekturen an Größen- und Farbeindrücken, die Wahrnehmungskonstanzen ergeben – das alles sind Primitivformen des Schließens, die keinerlei Hilfestellung oder Eselsbrücke von seiten des Bewußtseins, ja nicht einmal des geringsten Funkens von Bewußtsein bedürfen. Aber auch die geläufigeren Formen des Schließens können ohne Beteiligung des Bewußtseins stattfinden. Ein Junge, der einmal oder mehrmals beobachtet hat, daß ein bestimmtes Stück Holz in einem bestimmten Teich an der Oberfläche schwamm, schließt in einer neuen Situation auf unmittelbarem Weg, daß ein anderes Stück Holz in einem anderen Teich ebenfalls oben schwimmen wird. Es findet nicht etwa ein bewußtes Sammeln und Vergleichen von früheren Situationen statt, und es ist auch sonst überhaupt kein Bewußtseinsvorgang vonnöten, damit das neue Stück Holz unmittelbar als «oben schwimmend» gesehen wird. Man bezeichnet dies gelegentlich als Schließen aus dem Besonderen, und es ist nichts weiter als eine auf Generalisierung beruhende Erwartung. Daran ist nichts Außergewöhnliches. Es handelt sich um eine Fähigkeit, die alle höheren Wirbeltiere besitzen. Dieses Schließen ist ein Funktionsprinzip des Nervensystems und nicht des Bewußtseins. Aber ständig finden auch komplexere Formen des Schließens ohne Beteiligung des Bewußtseins statt. Unser Geist arbeitet so schnell, daß unser Bewußtsein nicht Schritt halten kann. Allgemeinaussagen aufgrund vorausgegangener Erfahrungen treffen wir in aller Regel vollkommen automatisch, und nur im nachhinein sind wir manchmal in der Lage, uns von den
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vorausgegangenen Erfahrungen, auf denen solche Aussagen beruhen, irgend etwas wieder ins Gedächtnis zu rufen. Wie oft gelangen wir nicht zu absolut zuverlässigen Schlüssen, ohne sie im geringsten begründen zu können. Weil das Schlußfolgern nicht bewußt geschieht. Und denken Sie an die Schlüsse, die wir in bezug auf die Gefühle und den Charakter anderer Menschen oder in bezug auf die Motive ihrer Handlungen ziehen. Hier haben wir es eindeutig mit automatischen Schlußfolgerungen unseres Nervensystems zu tun, einem Vorgang, bei dem Bewußtsein nicht nur überflüssig ist, sondern wahrscheinlich sogar ebenso hinderlich wäre, wie wir es schon bei der Ausübung motorischer Geschicklichkeiten festgestellt haben.19 Dies mag ja alles sein, so höre ich einwenden, aber auf keinen Fall gilt das auch für die höchsten Formen der Denktätigkeit. Hier gelangen wir endlich in das eigentliche Herrschaftsgebiet des Bewußtseins, wo alles in goldener Klarheit daliegt und alle Gedankenarbeit der Vernunft fein ordentlich im Lichte voller Bewußtheit getätigt wird. Aber so glanzvoll geht es in der Wirklichkeit nicht zu. Der Wissenschaftler, der sich mit seinen Problemen hinsetzt und bewußte Induktionen und Deduktionen auf sie anwendet, ist genauso ein Fabelwesen wie das Einhorn. Die größten Einsichten der Menschheit sind auf mysteriöse Weise zustande gekommen. Helmholtz hatte seine glücklichen Einfälle, die sich «oft genug heimlich in mein Denken einschlichen, ohne daß ich ihre Bedeutung geahnt hätte ... in anderen Fällen waren sie auf einmal da ohne irgendein Bemühen von meiner Seite ... sie stellten sich besonders gern ein, wenn ich bei sonnigem Wetter einen Spaziergang im Bergwald machte!»20 Und Gauß schrieb über ein arithmetisches Theorem, das er jahrelang erfolglos zu beweisen versucht hatte, daß «sich das 19 Vorgänge dieser und ähnlicher Art wurden schon früh als nichtbewußt erkannt und mit Namen wie «automatisches Schlußfolgern» oder «gesunder Menschenverstand» belegt. Einschlägige Darlegungen findet man bei Sully, Mill und anderen Psychologen des 19. Jh. 20 Zitiert nach Robert S. Woodworth, Experimental Psychology, New York: Holt 1938, S. 818.
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Rätsel plötzlich wie durch einen Blitzschlag löste. Ich vermag selbst nicht zu sagen, welcher Faden mein bisheriges Wissen mit den Bedingungen des Gelingens verknüpfte.»21 Der brillante Mathematiker Poincaré widmete der Art und Weise, wie er zu seinen Entdeckungen gelangte, besonderes Augenmerk. In einem berühmten Vortrag vor der Pariser Société de Psychologie schilderte er seine Teilnahme an einer geologischen Exkursion: «Die Reiseerlebnisse ließen mich meine mathematische Arbeit vergessen. In Coutances angekommen, bestiegen wir einen Omnibus, der uns irgendwohin bringen sollte. In dem Augenblick, als ich meinen Fuß auf das Trittbrett setzte, überraschte mich völlig unvorbereitet der Gedanke, daß die Transformationen, die ich zur Definition der Fuchsschen Funktionen benutzt hatte, mit denen der nichteuklidischen Geometrie identisch waren.»22 Allem Anschein nach ist dieses Phänomen der jäh hereinbrechenden Einsicht am offenkundigsten in den abstrakten Wissenschaften, in denen das Untersuchungsmaterial zunehmend weniger mit der Alltagserfahrung zu tun hat. Ein guter Bekannter Einsteins erzählte mir, daß dem Physiker viele seiner hervorragendsten Ideen beim Rasieren kamen, und zwar so überfallartig, daß er sein Rasiermesser morgens mit größter Vorsicht handhaben mußte, um sich im Moment der Überraschung nicht zu schneiden. Und ein bekannter englischer Physiker äußerte einmal gegenüber Wolfgang Köhler: «Wir sprechen oft von den drei B’s – Bus, Bad und Bett. An diesen Orten werden in unserer Wissenschaft die großen Entdeckungen gemacht.» Worauf es hier ankommt, ist, daß das kreative Denken verschiedene Stadien durchläuft, zuerst ein Präliminarstadium, in dem das Problem bewußt durchgearbeitet wird, dann eine Inkubationsphase ohne irgendwelche bewußte Konzentration 21 Zitiert nach Jacques Hadamard, The Psychology of Invention in the Mathematical Field, Princeton: Princeton University Press 1945, S. 15. 22 Henri Poincaré, Mathematical Creation, in: ders., The Foundations of Science, übs. von G. Bruce Halstedt, New York: The Science Press 1913, S. 387.
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auf das Problem und darauf die Erleuchtung, die hinterher logisch begründet wird. Die Parallele zwischen diesen Problemen hochbedeutsamer und komplexer Natur und einfachen Problemen wie dem Beurteilen von Gewichten oder dem Fortsetzen einer Figurenfolge liegt auf der Hand. Die Präliminarphase besteht im wesentlichen im Aufstellen einer komplexen Struktion bei gleichzeitiger bewußter Aufmerksamkeit gegenüber dem Material, auf das die Struktion sich beziehen soll. Aber was dann eintritt – der Schlußvorgang als solcher, der Sprung ins Unbekannte der großen Entdeckung –, hat ebensowenig eine Vertretung im Bewußtsein wie in dem simpler gelagerten Fall der Beurteilung von Gewichtsunterschieden. In der Tat scheint es manchmal fast so, als habe das Problem vergessen werden müssen, damit sich die Lösung zeigen konnte. Der Sitz des Bewußtseins Der letzte Irrtum, auf den ich hier eingehen möchte, ist ebenso bedeutsam wie aufschlußreich. Ich habe seine Analyse an den Schluß gestellt, weil sie meiner Meinung nach den geläufigen Auffassungen vom Bewußtsein den sicheren Todesstoß versetzt. Wo hat das Bewußtsein seinen Sitz? Jedermann (oder so gut wie jedermann) antwortet darauf ohne Zögern: In meinem Kopf. Denn bei der Selbstbeobachtung kehren wir scheinbar den Blick nach innen in einen Raum irgendwo hinter den Augen. Aber was um alles in der Welt soll das heißen, daß wir den «Blick» dorthin richten? Manchmal schließen wir sogar die Augen, um in der Selbstbeobachtung (die ja auch Innenschau – Introspektion – genannt wird) desto besser zu sehen. Aber wohin ? Daß es sich um irgendeine Art Raum handelt, scheint unbezweifelbar. Außerdem scheinen wir uns – oder zumindest unseren «Blick» – einmal hierhin, einmal dorthin zu wenden. Und wenn wir uns zu sehr anstrengen, diesen Raum (nicht seine vorgestellten Inhalte) genauer zu charakterisieren, empfinden wir ein schwer zu defi-
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nierendes Unbehagen, so als ob da etwas wäre, das sich gegen das Erkanntwerden sperrt, ein Etwas, das unter die Lupe zu nehmen fast ebenso ungebührlich ist wie grobes Betragen in freundlicher Gesellschaft. Nicht nur in unserem Kopf glauben wir diesen Bewußtseinsraum zu finden, wir setzen ihn auch bei anderen Menschen voraus. Wenn wir mit einem Bekannten sprechen und dabei immer wieder Blickkontakt aufnehmen (ein Überbleibsel aus unserer Primatenvergangenheit, als Blickkontakt mit dazu diente, Stammeshierarchien herzustellen), setzen wir hinter den Augen unseres Gesprächspartners immer einen Raum voraus, in den wir hineinsprechen, ähnlich dem Raum in unserem eigenen Kopf, aus dem wir unserer Vorstellung nach heraussprechen. Und damit kommen wir zum Kern der Sache. Wir wissen nämlich ganz genau, daß in keines Menschen Kopf ein solcher Raum vorhanden ist! In meinem wie in Ihrem Kopf befindet sich nichts als irgendwelches physiologisches Gewebe. Und die Tatsache, daß es sich dabei vorwiegend um Nervengewebe handelt, ist in diesem Zusammenhang belanglos. Sich an diesen Gedanken zu gewöhnen erfordert allerdings ein bißchen Denkaufwand. Das Ganze bedeutet, daß wir diesen Raum in unserem eigenen Kopf und in den Köpfen anderer Leute immer neu erfinden, während wir genau wissen, daß er in der Anatomie nicht existiert; und die Ansiedlung dieses «Raumes» erfolgt denn auch ganz willkürlich. Die aristotelischen Schriften23 beispielsweise siedelten das Bewußtsein, den Sitz des Denkens im Herzen und knapp darüber an und betrachteten das Gehirn als bloßes Kühlorgan, da es sich unempfindlich zeigte gegenüber Berührungen und Verletzungen. Und manchen Lesern wird das bisher Gesagte einfach deshalb nicht eingeleuchtet haben, weil ihr denkendes Selbst nach ihrem eigenen Dafürhalten irgendwo im oberen Brust23 Ich wähle diese Bezeichnung, weil die dem Aristoteles zugeschriebenen Werke ganz eindeutig von mehreren Verfassern stammen.
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raum angesiedelt ist. Für die meisten von uns ist es jedoch eine so eingefleischte Gewohnheit, sich das Bewußtsein im Kopf zu denken, daß wir uns kaum etwas anderes vorstellen können. Aber in Wirklichkeit könnten Sie, ohne sich von der Stelle zu rühren, die nächstbeste Ecke zwischen Wand und Fußboden im Zimmer nebenan zum Sitz Ihres Bewußtseins erklären und Ihr Denken ebensogut dort wie in Ihrem Kopf vor sich gehen lassen. Nein, nicht ebensogut. Es gibt einige sehr gute Gründe, die dafür sprechen, daß Sie sich Ihren Seelenraum innerhalb Ihrer Person angesiedelt vorstellen, Gründe, die sowohl mit dem bewußten Wollen und den inneren Empfindungen als auch mit der Beziehung zwischen Ihrem Körper und Ihrem «Ich» zu tun haben und die hier in der Folge noch deutlicher zutage treten werden. Daß keinerlei objektiv feststellbare Notwendigkeit besteht, das Bewußtsein im Gehirn anzusiedeln, wird des weiteren durch verschiedentlich auftretende Anomalien bekräftigt, bei denen sich das Bewußtsein außerhalb des Körpers zu befinden scheint. Einer meiner Bekannten, der sich eine Kriegsverletzung im linken Frontallappen zugezogen hatte, fand sein Bewußtsein wieder an der Decke des Lazarettsaals, von wo er in gehobener Stimmung auf seinen Körper hinabblickte, der mit bandagiertem Kopf auf dem Feldbett lag. Personen, die LSD geschluckt haben, berichten häufig von ähnlichen – sogenannten exosomatischen – Erlebnissen außerhalb des Körpers. Derartige Vorkommnisse haben keinerlei metaphysische Bedeutung, sie zeigen lediglich, daß es vom Zufall abhängen kann, wo wir unser Bewußtsein ansiedeln. Um einem Irrtum vorzubeugen, sei klargestellt: Im Zustand der Bewußtheit benutze ich fraglos immer bestimmte Teile des Gehirns in meinem Kopf. Das gleiche tue ich jedoch auch, wenn ich Fahrrad fahre, und das Fahrradfahren spielt sich nicht in meinem Kopf ab. Die beiden Fälle liegen natürlich verschieden, weil das Fahrradfahren einen klar bestimmten geographischen Ort hat und das Bewußtsein nicht. Tatsächlich hat das Bewußtsein überhaupt keinen Ort außer dem, den wir ihm in unserer Vorstellung zuweisen.
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Ist Bewußtsein überhaupt erforderlich ? Wir wollen noch einmal rekapitulieren, wie weit wir gekommen sind, denn wir haben uns gerade einen Weg durch ein ungeheures Materialdickicht gebahnt und dabei vielleicht mehr Verwirrung als Klarheit gestiftet. Wir haben gesehen, daß das Bewußtsein nicht das ist, wofür wir es im allgemeinen halten. Es ist nicht mit der Reaktionsfähigkeit zu verwechseln. Es ist an vielen Wahrnehmungsvorgängen nicht beteiligt. Es ist nicht beteiligt an der Ausübung von Geschicklichkeiten und stellt oft sogar eine Behinderung für sie dar. Es ist nicht notwendigerweise am Sprechen, Schreiben, Zuhören oder Lesen beteiligt. Es ist keine originalgetreue Aufzeichnung unseres Erlebens, wie die meisten Menschen meinen. Das Bewußtsein spielt beim Signallernen überhaupt keine Rolle und wird auch nicht unbedingt gebraucht für das Erlernen von Geschicklichkeiten und Problemlösungen, das ganz ohne Bewußtsein vonstatten gehen kann. Es ist nicht erforderlich zum Urteilen noch für die einfachen Formen des Denkens. Es ist nicht der Sitz der schlußfolgernden Vernunft, und tatsächlich finden selbst komplizierteste Formen kreativer Vernunfttätigkeit ganz ohne Mitwirkung des Bewußtseins statt. Und das Bewußtsein hat keinen konkreten Sitz außer einem eingebildeten! Da erhebt sich denn unmittelbar die Frage: Existiert das Bewußtsein überhaupt? Auf sie wollen wir jedoch erst im nächsten Kapitel eingehen. An dieser Stelle genügt es, den unabweislichen Schluß zu ziehen, daß das Bewußtsein bei den meisten menschlichen Aktivitäten keine ausschlaggebende Rolle spielt. Wenn es richtig ist, was ich bisher gesagt habe, dann ist es auch durchaus möglich, daß zu irgendeiner Zeit einmal Menschen gelebt haben, die sprachen, urteilten, Schlüsse zogen und Probleme lösten, ja die so gut wie alles, was wir tun, zu tun vermochten, die aber nicht das geringste Bewußtsein besaßen. Dies ist die hochbedeutsame und in mancher Hinsicht verwirrende Vorstellung, die sich uns an diesem Punkt als Schlußfolgerung aufdrängt. In der Tat war dies der Ausgangspunkt all meiner Überlegungen, und ich messe diesem
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Anfangskapitel große Bedeutung bei, denn falls Sie an diesem Punkt nicht davon überzeugt sind, daß eine Zivilisation ohne Bewußtsein möglich ist, werden Sie die nachfolgenden Ausführungen unglaubhaft und widersinnig finden.
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ZWEITES KAPITEL Das Bewußtsein
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einige der wichtigsten Mißverständnisse in bezug auf das Bewußtsein gleichsam mit Hammer und Meißel weggehauen haben, stellt sich die Frage, was uns geblieben ist. Wenn das Bewußtsein alles das nicht ist, wenn es sich nicht so weit erstreckt, wie wir glauben, wenn es weder eine Aufzeichnung unseres Erlebens noch das unentbehrliche Medium des Lernens, Urteilens, ja nicht einmal des Denkens ist – was ist es dann? Wir starren in den Staub und die Trümmer und hoffen, das Bewußtsein wie die Schöpfung des Pygmalion in ursprünglicher Frische und Reinheit aus dem Schutt hervortreten zu sehen. Aber während wir warten, bis der Staub sich gelegt hat, wollen wir ein wenig vom Gegenstand abschweifen und von anderen Dingen reden. ACHDEM WIR ALSO
Metapher und Sprache Reden wir über die Metapher – das «sprachliche Bild». Die faszinierendste Eigenschaft der Sprache ist ihre Fähigkeit, Metaphern zu bilden. Welch eine Untertreibung! Die Metapher ist nämlich nicht, wie sie in den alten Schulbüchern unter den Regeln für das Aufsatzschreiben so oft abgetan wird, bloß ein rhetorischer Trick unter vielen, sondern sie ist der eigentliche Wesensgrund der Sprache. Ich benutze den Begriff Metapher hier in seinem allgemeinsten Sinn: den Ausdruck für eine Sache zur Bezeichnung einer anderen Sache verwenden, und zwar aufgrund einer Ähnlichkeit zwischen den beiden Sachen oder zwischen ihren jeweiligen Relationen zu anderen Sachen. Somit enthält eine Metapher immer zwei Gliedstellen, die Sache, die bezeichnet werden soll – ich werde sie fortan den Metaphoranden nennen –, und die Sache oder die Relation, die als Bezeichnung dient und die ich den Metaphorator nennen
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will. Eine Metapher besteht also immer darin, daß ein uns bekannter Metaphorator auf einen uns weniger bekannten Metaphoranden bezogen wird.1 Ich habe mich bei der Neubildung dieser Ausdrücke an die ursprüngliche griechische Wortform und an das Beispiel der Mathematik gehalten, die bei der Multiplikationsrechnung von Multiplikator und Multiplikand spricht. Das Wachstum der Sprache beruht auf der Metapher. Wird man gefragt: «Was ist das?» und ist die Antwort darauf nicht ganz einfach oder das in Rede stehende Erlebnis einmalig, antwortet man in aller Regel: «Tja, das ist so wie ...» Laboruntersuchungen haben ergeben, daß sowohl Kinder wie Erwachsene sich umfänglicher Metaphoratoren bedienen, wenn sie Nonsensobjekte (nämlich Metaphoranden), die nur ihnen sichtbar sind, einem Außenstehenden beschreiben sollen; bei wiederholtem Gebrauch werden diese umfänglichen Metaphoratoren dann zu Namen verkürzt.2 Vornehmlich auf diesem Wege bildet sich der Wortschatz unserer Sprache. Die große und nie zu Ende kommende Bedeutung der Metapher besteht darin, daß sie die mit wachsendem Komplexitätsgrad der menschlichen Zivilisation neu benötigte Sprache schafft. Um dies einzusehen, genügt es schon, wenn Sie in einem etymologischen Wörterbuch die Herkunft einiger wahllos herausgegriffener Alltagswörter nachschlagen. Oder denken Sie an bestimmte lateinische Namen aus dem Tier- und Pflan-
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Die Bedeutung dieser Begriffe deckt sich nicht in allen Punkten mit derjenigen von I. A. Richards’ «Tenor» und «Vehikel» (vgl. The Philosophy of Rhetoric, New York: Oxford University Press 1939, S. 96 u. 120f.), auch nicht mit derjenigen des Begriffspaars «eigentlicher»/«übertragener» Ausdruck bei Christine Brooke-Rose, die das Thema zu sehr einengt auf den literarischen Aspekt (A Grammar of Metaphor, London: Secker and Warburg 1958; das erste Kapitel gibt eine ausgezeichnete Einführung in die Geschichte des Gegenstands. – Zusatz des Übersetzers: Dem deutschen Leser sei zur Einführung in den Problembereich «Metapher» empfohlen: Wilhelm Köller, Semiotik und Metapher. Untersuchungen zur grammatischen Struktur und kommunikativen Funktion von Metaphern, Stuttgart: J.B. Metzler 1975). S. Glucksberg, R. M. Krauss und R. Weisberg, Referential Communication in Nursery School Children: Method and Some Preliminary Findings, Journal of Experimental Child Psychology 3/1966, S. 33-342.
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zenreich oder auch nur an phantasievolle deutsche Namen wie Fingerhut, Hirschkäfer, Frauenschuh und Butterblume. Der menschliche Körper ist ein besonders vielseitiger und ergiebiger Metaphorator, mit dessen Hilfe sich in unzähligen Bereichen Unterscheidungen treffen lassen, für die sonst kein sprachlicher Ausdruck existiert. Zum Beispiel der Kopf: Nagelkopf, Briefkopf; auch das Familienoberhaupt, der Hauptmann und der Stammeshäuptling gehören hierher. Stirn und Gesicht verstecken sich (mit ihren lateinischen Formen frons und fades) in Front und Fassade. Wir reden von der Scheitelhöhe eines Gebirges, von Zahnrädern, und wir bemerken Zähne auch am Kamm und eine Zunge am Schuh, an einer Zange oder einer Autobremse, Beine an Tischen und Stühlen. Und so weiter und so fort. Gleich werden Sie beim Lesen am Fuß dieser Seite angekommen sein und dann vielleicht das Blatt umwenden. All diese konkreten Metaphern verstärken in ungeheurem Ausmaß unser Vermögen, die Welt um uns herum wahrzunehmen und zu verstehen, ja, sie schaffen buchstäblich neue Gegenstände. In Wahrheit und Wirklichkeit ist die Sprache ein Wahrnehmungsorgan und nicht einfach nur ein Kommunikationsmittel. Was wir bisher beschrieben haben, ist die Sprache, wie sie sich «synchronisch» (das heißt quer zur Zeitachse) im Raum der Welt entfaltet und dabei immer präzisere Wahrnehmungen und Beschreibungen hervorbringt. Die zweite und wichtigere Entfaltungsrichtung der Sprache verläuft jedoch «diachronisch» (entlang der Zeitachse) hinter den Erlebnissen auf der Basis von Befähigungsstrukturen in unserem Nervensystem und führt zu abstrakten Begriffen, die «Gegenstände» bezeichnen, welche nur noch in einem metaphorischen Sinn Gegenstände heißen können (insofern «Gegenständlichkeit» zumindest im Grundsatz und theoretisch «Beobachtbarkeit» mit einschließt). Und diese «Gegenstände» werden durch Metaphern gebildet: Damit wären wir beim «Dreh- und Angelpunkt» meiner Überlegungen angelangt – bei einer Sache also, die ihrerseits wieder eine Metapher ist und nur mit dem gei-
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stigen «Auge» «gesehen» werden kann. In den Abstraktionsbegriffen für die zwischenmenschlichen Beziehungen spielt die Haut eine besonders wichtige Rolle als Metaphorator. Wir kommen oder bleiben mit anderen «in Berührung», die – je nachdem – «dickfellig» oder «dünnhäutig» sein können oder so «kitzelig» sind, daß man sie «mit Samthandschuhen anfassen» muß und sie auf keinen Fall «gegen den Strich bürsten» darf.3 Die Begrifflichkeit der Wissenschaft ist samt und sonders auf diese Weise entstanden: aus konkreten Metaphern, die zu abstrakten Begriffen wurden. In der Physik haben wir es mit Kraft, Beschleunigung, Trägheit, Widerstand, Feldern und neuerdings sogar mit Charme zu tun. In der Physiologie wurde der Metaphorator «Maschine» zum eigentlichen Motor der Entdeckertätigkeit. Wir interpretieren das Gehirn mit Hilfe von Metaphern jeder nur denkbaren technischen Herkunft, angefangen beim Akkumulator und der Fernmeldetechnik bis hin zum Computer und zur Holographie. Ärztliche Behandlungsverfahren richten sich zuweilen ganz nach dem Gebot einer Metapher. Im achtzehnten Jahrhundert verglich man das Herz eines Fieberkranken mit einem siedenden Topf und hielt deshalb den Aderlaß für angezeigt, um den Brennstoff zu vermindern. Und selbst heute noch versteht sich ein Großteil der Medizin mit einer Metapher aus dem Militärbereich als das Abwehren oder Niederschlagen einer Attacke, die von dieser oder jener Seite gegen den Körper geführt wird. Im Griechischen geht der Begriff für Recht und Gesetz (nomos)auf einen Ausdruck zurück, der ursprünglich das Fundament eines Bauwerks bezeichnete. «Obligatorisch» (das heißt durch Gesetz verbindlich vorgeschrieben) ist vom lateinischen ligare, «mit Stricken binden», abgeleitet – eben daher ja auch das deutsche Wort «verbindlich». In der Frühzeit erhob sich die Sprache mitsamt den Gegenständen, die sie bezeichnete, auf der 3
Vgl. Ashley Montagu, Touching, New York: Columbia University Press 1971. Dt. Übs.: Körperkontakt. Die Bedeutung der Haut für die Entwicklung des Menschen, Stuttgart: Klett, 2. Aufl. 1980.
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Stufenleiter der Metaphorik vom Konkreten zum Abstrakten, ja, man kann sagen, sie schuf den gesamten abstrakten Bereich mit Hilfe von Metaphern. Es liegt nicht immer klar auf der Hand, welche hochbedeutsame Leistung die Metapher in dieser Hinsicht vollbracht hat. Aber das kommt daher, daß die konkreten Metaphoratoren durch Lautwandel zum Verschwinden gebracht wurden, wonach die verbleibenden Wörter ein Eigenleben führen. Selbst ein so unmetaphorisch klingendes Wort wie die Infinitivform des englischen Hilfsverbs to be ist aus einer Metapher entstanden. Sie leitet sich aus dem Sanskritwort bhu, «wachsen» oder «wachsen lassen», ab, während die Formen am und is auf die gleiche Wurzel wie das Sanskritwort asmi, «atmen», zurückgehen. Man ist angenehm berührt zu erfahren, daß die Beugungsformen eines der farblosesten Wörter der englischen Sprache ein Zeugnis aus einer Zeit darstellen, als die Menschen noch kein eigenes Wort für «sein» hatten und lediglich ausdrücken konnten, daß etwas «wächst» oder «atmet».4 Natürlich sind wir uns nicht bewußt, daß der Begriff des Seins dergestalt vom Bild des Wachsens und Atmens abgeleitet ist. Abstrakte Ausdrücke sind wie alte Münzen, deren bildhafte Prägung im lebhaften Geschäftsverkehr der täglichen Rede bis zur Unkenntlichkeit abgegriffen wurde. Im Lauf unseres kurzen Lebens bekommen wir nicht viel mit von der ungeheuren Ausdehnung der Geschichte, und darum wirkt die Sprache auf uns nur allzuleicht so starr und unveränderlich, wie sie im Wörterbuch steht, dauerhaft wie ein Granitblock, während sie doch in Wahrheit eher eine wildbewegte See von Metaphern ist. In der Tat: Wollten wir sämtliche Veränderungen des Wortschatzes durchgehen, die im Lauf der jahrhundertealten Sprachgeschichte stattgefunden haben, und diese Entwicklung dann in Gedanken um Jahrtausende in die Zukunft verlängern, würden wir schließlich in einen interes4
Das Vorstehende in Anlehnung an Phillip Wheelwright, The Burning Fountain, Bloomington: Indiana University Press 1954.
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santen Widerspruch geraten. Denn würde es jemals gelingen, eine Sprache zu schaffen, die für alles eine eigene Benennung hätte, dann wäre es um die Metapher geschehen. Niemand würde dann noch zu seiner Geliebten sagen: «Du bist wie eine Blume», denn das Merkmal «Weiblichkeit» wäre zerstäubt in Ausdrücke für Tausende exakter Nuancen, man brauchte nur den jeweils passenden Ausdruck auszuwählen, und die Blume als Metapher wäre erledigt. Der Wortschatz einer Sprache besteht also aus einer endlichen Menge von Ausdrücken, die mit Hilfe der Metaphernbildung auf unendlich viele Sachverhalte angewandt werden, ja sogar ihrerseits neue Sachverhalte schaffen können. (Wäre es möglich, daß das Bewußtsein eine solche Neuschöpfung ist?) Verstehen als Metapher Wir bemühen uns, das Bewußtsein zu verstehen – doch was ist das eigentlich, worum wir uns bemühen, wenn wir uns um das Verständnis einer Sache bemühen? Wie die Kinder, wenn sie sich bemühen, Nonsensobjekte zu beschreiben, suchen wir nach einer Metapher für die Sache, um deren Verständnis wir uns bemühen. Nicht nach einer x-beliebigen Metapher, sondern nach einer, die etwas enthält, das uns vertraut ist und uns leichter eingeht. Eine Sache verstehen heißt eine Metapher für sie finden, indem wir etwas Vertrauteres an ihre Stelle setzen. Das Gefühl der Vertrautheit ist das Gefühl, verstanden zu haben. Vor Menschenaltern hätten wir ein Gewitter vielleicht als Lärmen und Kampfgetümmel übermenschlicher Gottheiten verstanden. Das Donnern im Anschluß an den Blitzschlag zum Beispiel hätten wir als den vertrauten Schlachtenlärm gedeutet. Ähnlich deuten wir heute ein Gewitter anhand unserer vermeintlichen Erfahrungen mit Reibungs-, Entladungs- und Unterdruckphänomenen sowie anhand einer Vorstellung von gewaltigen Wolkenbänken, die aufeinanderprallen und Lärm
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erzeugen. Kein einziges von diesen Dingen existiert, so wie wir es uns vorstellen, in der Wirklichkeit. Unsere Vorstellungen von derlei physikalischen Vorkommnissen sind ebenso wirklichkeitsfern wie die Vorstellung von kämpfenden Göttern. Dennoch erfüllen sie die Funktion einer Metapher, sie wirken vertraut, und darum glauben wir, wir hätten das Gewitter verstanden. Ebenso in anderen Bereichen der Wissenschaft: Wir sagen, daß wir einen Aspekt der Natur verstanden haben, sobald wir eine Ähnlichkeit mit einem vertrauten theoretischen Modell feststellen konnten. Die Ausdrücke «Theorie» und «Modell» werden übrigens manchmal bedeutungsgleich verwendet, was jedoch nicht ganz richtig ist. Eine Theorie stellt eine Beziehung auf zwischen einem Modell und den Dingen, für die das Modell Modell sein soll. Das Bohrsche Atommodell besteht in einem Proton, das von Elektronen umkreist wird. Es erinnert an die schematische Darstellung des Sonnensystems, und diese war ja in der Tat eine seiner metaphorischen Quellen. Bohrs Theorie bestand in der Behauptung, daß alle Atome Ähnlichkeit mit seinem Modell haben müßten. Mit der späteren Entdekkung neuer Teilchen und komplizierter Beziehungen zwischen den Atomen war diese Theorie hinfällig geworden. Doch das Modell ist geblieben. Ein Modell ist weder wahr noch falsch; wahr oder falsch ist nur die Theorie von seiner Ähnlichkeit mit dem, wofür es steht. Eine Theorie ist also eine metaphorische Beziehung zwischen einem Modell und einem Tatsachenzusammenhang. Und wissenschaftliches Verstehen ist das Gefühl, daß zwischen einem komplizierten Tatsachenzusammenhang und einem vertrauten Modell eine Ähnlichkeit besteht. Wenn eine Sache verstehen bedeutet, sich diese Sache mit Hilfe einer Metapher vertraut zu machen, dann liegt es auf der Hand, daß es uns immer Schwierigkeiten bereiten wird, das Bewußtsein zu verstehen. Denn es leuchtet wohl ohne weiteres ein, daß in unserem unmittelbaren Erleben nichts vorkommt und nichts vorkommen kann, was mit dem unmittelba-
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ren Erleben selbst vergleichbar wäre. So gesehen wird es also ein Verständnis des Bewußtseins niemals im gleichen Sinne geben, wie wir ein Verständnis der Dinge im Bewußtsein haben können. Die Irrtümer über das Bewußtsein, von denen hier die Rede war, sind meistenteils irreführende Versuche der Metaphernbildung. Wir erwähnten die Vorstellung vom Bewußtsein als einer Aufzeichnung des Erlebens, die sich ausdrücklich auf das Bild von der Wachs- oder Schiefertafel beruft. Natürlich hat nie jemand ernstlich sagen wollen, das Bewußtsein zeichne das Erleben im buchstäblichen Sinne auf, sondern nur, daß alles sich so verhält, als ob es dies tue. Daß es überhaupt nichts dergleichen tut, haben wir dann ja bei näherer Betrachtung gesehen. Und noch die Vorstellung, die in den oben gebrauchten Wendungen zum Ausdruck kommt – nämlich daß das Bewußtsein irgend etwas «tut» –, selbst diese Vorstellung ist eine Metapher. Sie zeigt uns das Bewußtsein im Bild einer Person, die sich in einem physikalischen Raum verhält und Dinge tut – was in bezug auf das Bewußtsein eben nur metaphorisch Geltung haben kann. Denn «etwas tun» bezeichnet die Verhaltensweise eines Lebewesens im physikalischen Universum. Und dann: Was ist das für ein «Raum», in dem dieses metaphorische «Tun» stattfindet? (Da und dort beginnt der Staub sich schon zu legen.) Auch dieser «Raum» kann nichts anderes sein als eine Metapher des wirklichen Raums. Wir fühlen uns hier an unsere Überlegungen zum «Sitz» des Bewußtseins erinnert, der ebenfalls nur eine metaphorische Existenz hat. Man betrachtet das Bewußtsein als ein Ding und muß ihm deshalb wie den anderen Dingen einen Ort im Raum zuweisen – den es, wie wir gesehen haben, in Wirklichkeit nicht hat. Ich bin mir durchaus im klaren darüber, daß mein Gedankengang im Moment auf ziemlich verschlungenen und überwachsenen Pfaden verläuft. Aber bevor wir wieder in übersichtlicheres Gelände hinaustreten, möchte ich noch eine Sache erklären, die ich künftig mit dem Ausdruck «Analogon»
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bezeichnen werde. Ein Analogon ist ein Modell, allerdings ein Modell besonderer Art. Es ist nicht das gleiche wie ein wissenschaftliches Modell, das aus allem möglichen hergenommen sein kann und den Zweck einer Erklärungs- oder Interpretationshypothese erfüllt. Im Gegensatz dazu ist ein Analogon Punkt für Punkt aus der Sache abgeleitet, für die es ein Analogon ist. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Landkarte. Es handelt sich bei ihr nicht um ein Modell im wissenschaftlichen Sinn, also nicht – wie etwa im Fall des Bohrschen Atommodells – um ein hypothetisches Modell, das eine Erklärung geben soll für etwas Unbekanntes. Vielmehr bezieht sich die Landkarte auf einen verhältnismäßig gut, wenn nicht sogar vollständig bekannten Sachverhalt. Jedem Gebietssektor in der Natur entspricht ein Sektor auf der Karte, wenngleich das Gelände und die Karte aus völlig verschiedenen Materialien bestehen und die Merkmale des Geländes bei der Abbildung größtenteils entfallen. Die Beziehung nun zwischen dem Analogon Landkarte und dem dazugehörigen Gelände ist metaphorischer Natur. Wenn ich auf einen Punkt auf der Landkarte zeige und sage: «Da ist der Montblanc, von Chamonix aus können wir die Ostwand auf diesem Weg erreichen», ist das eigentlich eine verkürzte Art zu sagen: «Die Beziehungen zwischen dem als ‹Montblanc› bezeichneten Punkt und anderen Punkten auf der Karte ähneln den Verhältnissen in der Natur.» Die Metaphernsprache des Geistes Ich glaube, zumindest umrißhaft ist jetzt zu erkennen, was aus dem Schutt, den das letzte Kapitel hinterlassen hat, Neues zum Vorschein kommt. Vorläufig ging es mir freilich nicht so sehr darum, meine These Schritt für Schritt vor Ihnen zu entwickeln, sondern vielmehr Ihnen bestimmte Gedanken- und Begriffszusammenhänge wenigstens so weit nahezubringen, daß Ihnen das, was ich als nächstes zu sagen habe, nicht von vornherein völlig abwegig vorkommt. Ich werde nun auf den folgenden, wie ich selbst am besten weiß: schwierigen und aus-
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gesprochen weitschweifigen Seiten dieses Buches einfach so verfahren, daß ich das Endergebnis langer Überlegungen in Form einer allgemeinen Behauptung vorwegnehme, um dann zu erläutern, was es im einzelnen bedeutet. Also: Der subjektive, seiner selbst bewußte Geist ist ein Analogon der sogenannten wirklichen Welt. Seine Bauelemente bestehen in einem Wortschatz (einem «Lexikon» oder, noch besser, einem «lexematischen System», wie die Sprachwissenschaftler sagen würden), der sich ausnahmslos aus Metaphern oder Analoga von konkretem Verhalten in der materiellen Welt zusammensetzt. Was seinen Realitätsstatus betrifft, steht er auf gleicher Ebene mit der Mathematik. Er setzt uns in den Stand, unter Umgehung von konkretem Verhalten zu sachgemäßeren Entscheidungen zu gelangen. Wie die Mathematik ist es eher ein Operator als ein Ding oder Speicher. Und er hängt aufs engste mit Wollen und Entscheiden zusammen. Denken wir daran, welche Wörter wir benutzen, um Bewußtseinsvorgänge zu beschreiben. Weitaus überwiegend finden wir die Ausdrücke aus dem visuellen Bereich. Wir «sehen» die Lösung eines Problems, die uns womöglich noch «glanzvoll» erscheint. Während wir dem einen Menschen ein «helles» Köpfchen zugestehen, scheint es bei anderen in dieser Hinsicht «düster» oder «trübe» auszusehen. Diese Ausdrücke sind samt und sonders Metaphern, und der Innenraum, auf den sie sich beziehen, ist eine Metapher des realen Raums. In diesem Innenraum können wir ein Problem «angehen» und womöglich sogar unter einem bestimmten «Gesichtspunkt», wir können es «aufdröseln», um seine Einzelheiten besser zu «begreifen», und immer so weiter, immer weiter erfinden Verhaltensmetaphern für uns Dinge, die wir in diesem metaphorischen Innenraum tun können. Und die Merkmale des körperlichen Verhaltens im wirklichen Raum werden in analoger Verwendung dem geistigen Verhalten im Bewußtseinsraum zugeschrieben, wenn wir von «geistiger Aufgewecktheit», «Trägheit» oder «Rührigkeit», von «Geisteskraft» oder «Geistesschwäche» sprechen. Der Bewußtseinsraum, in dem derlei metaphorische Aktivitäten
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vor sich gehen, hat eine Vielzahl spezieller Eigenschaften: Wir denken und empfinden «oberflächlich» oder «tief», sind «engstirnig», «aufgeschlossen» oder «beschränkt». Wir sind «voll» von irgend etwas, voller Freude oder Sorgen oder Gedanken. Wir lassen Erlebnisse in uns «einsinken». Wir schlagen uns etwas «aus» dem Sinn oder «behalten» es darin, etwas anderes «leuchtet uns ein». Wie im wirklichen Raum können wir auch im Bewußtseinsraum Dinge «in den Hintergrund» drängen, in «tiefste Seelentiefen» verbannen. Etwas kann über unser «Fassungsvermögen» gehen. Wenn wir andere überzeugen wollen, suchen wir nach Argumenten, die «unter die Haut gehen». Voraussetzung jeder Verständigung ist eine «gemeinsame Basis». Manchmal haben wir es mit Gesprächspartnern zu tun, die sich völlig «abschotten», zu ihnen «dringen» wir dann nicht mehr «durch». Und so weiter und so weiter: alles Handlungen, die ursprünglich einmal im wirklichen Raum ihren Platz hatten und als Analoga in den Bewußtseinsraum übertragen wurden. Aber was ist das, was wir da metaphorisch wiedergeben? Wir haben gesehen, daß eine Metapher üblicherweise dazu dient, eine Sache oder einen Sachverhalt oder einen Aspekt dieser beiden wiederzugeben, sofern eine anderweitige Bezeichnung nicht zur Verfügung steht. Was da jeweils benannt, bezeichnet, wiedergegeben, zum Ausdruck gebracht oder lexematisch erweitert werden soll, nannten wir den Metaphoranden. Auf diesen wenden wir als Operator eine ähnliche, aber vertrautere Sache an, die wir Metaphorator nennen. Der Vorgang ergab sich ursprünglich immer aus dem allerpraktischsten Lebenszusammenhang, etwa wenn es darum ging, einen Meeresarm als besonders ergiebigen Fischgrund namhaft zu machen oder Nägel mit Köpfen zu versehen, weil sie so besser hielten. Die Metaphoratoren waren in diesen Fällen Arm und Kopf, der Metaphorand ein bestimmter Teil des Meeres oder dieses bestimmte Ende des Nagels, beide jeweils schon vorhanden. Erklären wir nun den Bewußtseinsraum als Metapher des phy-
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sikalischen Raums, dann spielt in diesem Fall die wirkliche Welt, die «Außenwelt», die Rolle des Metaphorators. Wenn jedoch die metaphorische Relation als solche eher die Erzeugungsbedingung des Bewußtseins als dessen nachträgliche Beschreibung darstellt – was wäre dann hier der Metaphorand? Paraphoratoren und Paraphoranden Betrachten wir das Wesen der Metapher etwas genauer (wobei uns ständig auffällt, daß so gut wie alles, was wir sagen, metaphorischen Charakter hat), so finden wir (auch das Verb «finden»!) außer Metaphorator und Metaphorand noch weitere Komponenten. Der eigentliche Gehalt von komplexen Metaphern liegt in den allermeisten Fällen in den zahlreichen dem Metaphorator zugesellten Assoziationen und Attributen, die ich fortan als «Paraphoratoren» bezeichnen werde. Und diese Paraphoratoren gelangen durch Rückprojektion auch in den Metaphoranden, wo ich sie als Paraphoranden des Metaphoranden ansprechen werde. Zugegeben: das ist Jargon; genausoviel Jargon jedoch wie absolut unerläßlich, um in der Sache selbst auch nicht den Schatten eines Mißverständnisses aufkommen zu lassen. Anhand einiger Beispiele werde ich zeigen, daß die Zerlegung der Metapher in diese vier Komponenten auf einen im Grunde ziemlich simplen Sachverhalt zielt und im selben Zug etwas aufhellt, wofür uns sonst die Worte fehlen würden. Nehmen wir die Metapher von der «Schneedecke», die die Erde «einhüllt». Metaphorand ist hier die Lückenlosigkeit, womöglich auch die Dichte oder Dicke des Belags. Der Metaphorator ist «Bettdecke». Doch die ansprechenden Ober- und Untertöne der Metapher gehen von den Paraphoratoren des Metaphorators «Bettdecke» aus. Sie signalisieren Wärme, Geborgenheit und wohligen Schlaf, dem irgendwann ein Wiedererwachen folgen wird. Diese Assoziationen zu der Vorstellung «mit einer Decke einhüllen» werden jetzt automatisch auch zu Assoziationen oder Paraphoranden des ursprünglichen
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Metaphoranden «Schneebelag auf dem Boden». Und so haben wir vermittels dieser Metapher die Vorstellung geschaffen, daß die Erde unter der Schneedecke geborgen Winterschlaf hält, bis sie im Frühjahr wieder erwacht. Das alles steckt in einer so simplen Sache wie der Verwendung der Wörter «Decke» und «einhüllen» für die Art und Weise, wie der Schnee sich zum Unterboden verhält. Natürlich sind nicht alle Metaphern so fruchtbar. In jenem häufig bemühten Bild vom Schiff, das die Wellen pflügt, ist der Metaphorand die Einwirkung des Schiffsbugs auf das Wasser und der Metaphorator die Tätigkeit des Pflügens. Die Zuordnung zwischen beiden ist, in mathematischer Sprache ausgedrückt, eineindeutig. Und damit hat sich’s. Aber wenn ich von einem (womöglich «munteren») Bächlein sage, es durchquere singend und springend den Wald, dann ist die Zuordnung zwischen dem Metaphoranden – das heißt der plätschernden, brabbelnden Unrast des Baches – und dem Metaphorator – das heißt (möglicherweise) einem singenden, springenden Kind – alles andere als eindeutig, geschweige denn eineindeutig. Das eigentlich Interessante ist in diesem Fall, daß die Paraphoratoren «Ausgelassenheit» und «Munterkeit» zu Paraphoranden des Bächleins geworden sind. Und nehmen wir das vielbedichtete Gleichnis von der Liebe, die «wie eine Rose» ist. Auch hier sind es nicht so sehr die oberflächlichen Entsprechungen zwischen Metaphorand und Metaphorator, was uns daran fesselt, als vielmehr die Paraphoranden: Die Liebe braucht zum Leben Sonnenschein, sie duftet süß, sie kehrt Stacheln hervor, wenn unsanft mit ihr umgegangen wird, und sie welkt nach kurzer Blüte. Oder nehmen wir an, ich gebrauche einen weniger dem Gesichtssinn verpflichteten, aber dafür um so tiefsinnigeren Vergleich, indem ich sage, meine Liebe sei wie eine zinnerne Schaufel, die ihre kunstreiche Gestalt verleugnet, um bis auf den Grund des Kastens tief ins weiche Mehl zu tauchen.5 Die direkte Übereinstimmung 5
Der Vergleich ist dem Gedicht «Mossbawn (for Mary Heany)» von Seumas Heany entnommen (North, London: Faber 1974).
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zwischen Metaphorand und Metaphorator – nämlich daß beide dem Blick des Uneingeweihten verborgen bleiben – läuft in diesem Fall auf eine Banalität hinaus. Dagegen beschwören die Paraphoranden der Metapher etwas herauf, was unmöglich in den Gegebenheiten als solchen anzutreffen wäre: Vollkommenheit, Glanz und Echtheit dauerhafter Liebe, tief verborgen und dennoch bewahrt im nachgiebigen, schmiegsamen, weichlastenden Medium der Zeit. Das Ganze wiederum ist – mit eigenen Paraphoratoren/ Paraphoranden – ein Bild des Geschlechtsakts aus männlicher Sicht. Die Liebe hat derlei Eigenschaften nur, insofern wir sie mit Hilfe der Metaphorik erzeugen. Und das Bewußtsein ist aus solchem Stoff, wie Dichtung ist. Das wird sich zeigen, wenn wir uns jetzt wieder der Metaphorik des Geistes zuwenden, mit der wir es bereits zu tun hatten. Nehmen wir an, wir haben ein einfaches Problem zu lösen, wie es zum Beispiel in der Kreis-Dreieck-Reihe des vorangegangenen Kapitels vorliegt. Und nehmen wir weiter an, wir drücken den erfolgreichen Abschluß der Operation mit dem lauten Ausruf aus, daß wir jetzt endlich die Lösung (nämlich ein Dreieck) «sehen». Diese Metapher läßt sich nach dem gleichen Schema zerlegen wie die «einhüllende» Schnee«decke» und das «muntere» Bächlein. Metaphorand ist das Auffinden der Lösung, Metaphorator ist das leibliche Sehen, und Paraphoratoren sind all jene Einzelheiten im Assoziationsfeld des Sehvermögens, die ihrerseits Paraphoranden schaffen – Paraphoranden wie zum Beispiel das «innere Auge», «die Lösung deutlich vor sich sehen» und so weiter; und als wichtigsten von allen: den Paraphoranden von einem «Raum», in dem das «Sehen» vor sich geht (der «Bewußtseinsraum», «innere Raum», «Seelenraum», «geistige» oder «mentale Raum» oder ähnliche Ausdrücke), mitsamt «Gegenständen», die dort «zu sehen» sind. Die vorstehende knappe Skizze soll keineswegs eine echte Theorie ersetzen, die erklärt, wie es überhaupt zum Auftreten von Bewußtsein kam. Auf diese Frage werden wir im Zweiten
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Buch eingehen. Meine Absicht an dieser Stelle ist lediglich, den hypothetischen Gedanken zu vermitteln – eine Hypothese, deren Plausibilität ich in der Folge zu erweisen hoffe –, daß Bewußtsein ein Werk der sprachlichen Metaphorik ist, ein Gewirke aus den konkreten Metaphoratoren des Sprachausdrucks und ihren Paraphoratoren, die projektiv Paraphoranden aus sich entlassen, deren Sein mit ihrer Funktion identisch ist. Und weiter: das Bewußtsein, einmal gegeben, zeugt sich von selber fort, insofern jeder neue Paraphorand seinerseits wieder zu einem Metaphoranden werden kann, der dann neue Metaphoratoren samt ihren Paraphoratoren auf den Plan ruft ... (Und so weiter.) Natürlich ist dieser Vorgang nicht das Spiel des Zufalls und kann es nicht sein, als das er hier vorläufig erscheint. Die Welt besitzt einen – sogar sehr hohen – Grad an Organisiertheit, und infolgedessen erzeugen die bewußtseinserzeugenden konkreten Metaphoratoren das Bewußtsein in organisierter Form. Das ist der Grund für die Übereinstimmungen zwischen dem Bewußtsein und der Ding- und Verhaltenswelt, deren es sich bewußt ist. Und auch der Grund, warum sich die Struktur dieser Welt – wenngleich mit gewissen Unterschieden – in der Struktur des Bewußtseins wiederholt. Noch eine letzte Kniffligkeit, bevor wir unseren Weg fortsetzen. Zu den Haupteigentümlichkeiten des Analogons zählt, daß seine Erzeugungsweise sich nicht mit seiner Verwendungsweise deckt. Klarer Fall: der Kartograph verfährt anders als später der Benutzer seines Produkts. Für den Kartographen ist der Metaphorand das leere Blatt Papier, auf das er den Operator oder Metaphorator «bekanntes, vermessenes Gelände» anwendet. Für den Benutzer der Karte verhält sich die Sache genau umgekehrt: für ihn ist das Gelände die unbekannte Größe (der Metaphorand), Metaphorator hingegen die Karte, die er benutzt, um sich im Unbekannten zurechtzufinden. Und ebenso liegen die Dinge auch im Fall des Bewußtseins. Das Bewußtsein ist der Metaphorand, wenn es von den Paraphoranden unserer sprachlichen Ausdrücke erzeugt wird. Aber
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das Bewußtsein in Funktion ist sozusagen die Reise in die Gegenrichtung: Es wird zum Metaphorator voll vergangener Erfahrungen, in fortwährender selektiver Operation mit Unbekannten befaßt – Unbekannte wie zum Beispiel Fragen unseres Handelns in der Zukunft, unserer Entscheidungsfindung in der Gegenwart oder einer nur bruchstückhaft erinnerten Vergangenheit –, befaßt mit der Frage, was wir sind und womöglich noch werden können. Und wir danken es der vorgängig erzeugten Bewußtseinsstruktur, daß wir uns in der Welt zurechtfinden. Wie läßt sich diese Bewußtseinsstruktur im einzelnen charakterisieren? Nur die wichtigsten Punkte seien im folgenden andeutungsweise herausgestellt. Die Eigenschaften des Bewußtseins 1. Spatialisierung. Den ersten und ursprünglichsten Aspekt des Bewußtseins haben wir schon bei früherer Gelegenheit erwähnt; er ist als Paraphorand in nahezu jeder Metapher, die wir über «Geist» bilden können, mit enthalten: der mentale (geistige, «innere») Raum, den wir als das ureigenste Heimatrevier der ganzen Veranstaltung kurzerhand dorthin, wo er sich befindet, nämlich nach «innen», transferieren. Wenn ich Sie jetzt auffordere, an Ihren Kopf zu denken, sodann an Ihre Füße, dann an das Frühstück, das Sie heute morgen zu sich genommen haben, dann an den Eiffelturm und zuletzt an das Sternbild des Orion: dann haben diese Dinge in Ihrer Vorstellung die Qualität des räumlichen Getrenntseins; und von dieser Qualität ist hier die Rede. Eben dieser metaphorische «innere» Raum ist es, in den wir bei der Introspektion (ein Fremdwort, das soviel wie «Innenschau» bedeutet, also metaphorischen Charakter hat) hineinblicken und den wir dabei fortwährend neu erzeugen und mit jedem Ding und jeder Relation, die wir neu «ins» Bewußtsein aufnehmen, «erweitern». Im Ersten Kapitel sagte ich, daß wir diesen Bewußtseinsraum in unserem eigenen Kopf wie in den Köpfen der anderen
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«erfinden». Der Ausdruck «erfinden» schießt vielleicht ein bißchen übers Ziel hinaus, es sei denn, man versteht ihn in rein ontologischer Bedeutung, das heißt im Sinn von «fingieren». Es verhält sich eher so, daß wir diese «Räume» umstandslos voraussetzen. Sie gehören zum «Bewußtsein haben» (im eigenen Fall) und zum (fraglos unterstellten) «Fremdbewußtsein» einfach mit dazu. Überdies werden Realitäten der Ding-Verhaltens-Welt, die an und für sich nicht die Qualität der Räumlichkeit besitzen, im Bewußtsein mit dieser Qualität ausgestattet. Anders können wir uns ihrer nicht bewußt werden. Wir heißen das: Spatialisierung. Ein evidentes Beispiel hierfür ist die Zeit. Wenn ich Sie auffordere, sich die letzten hundert Jahre zu denken, mögen Sie das Ganze etwa dergestalt ins «Exzerpt» bringen (siehe den folgenden Punkt z), daß Sie sich die Jahresfolge in Form einer Strecke vorstellen, die vielleicht in einem Punkt linker Hand beginnt und in einem Punkt rechter Hand endet. Doch selbstverständlich kennt die Zeit kein Links noch Rechts; hier existiert nur Davor und Danach – ein Verhältnis, das keinerlei räumlichen Charakter hat, es sei denn per analogiam. Es ist unmöglich – absolut unmöglich –, sich die Zeit vorzustellen, ohne sie zu verräumlichen. Bewußtsein bedeutet immer Spatialisierung: die Umwandlung von Diachronie in Synchronie, die Repräsentation zeitlicher Geschehensfolgen im Exzerpt und als räumliches Nebeneinander. Diese Spatialisierung ist ein Charakteristikum jeglichen bewußten Denkens. Sollten Sie sich jetzt überlegen, wie sich meine spezielle Theorie in das Gesamtschema der bereits existierenden Theorien des Geistes einfügt, so «wenden» Sie sich zunächst in gewohnter Manier «nach innen», in Ihren Bewußtseinsraum, wo Abstrakta zwecks genauerer «Betrachtung» «isoliert» und einander «gegenübergestellt» werden können – was materialiter und realiter niemals der Fall sein könnte. Alsdann bilden Sie die Metapher von Theorien als konkreten Objekten und zum zweiten die Metapher von der zeitlichen Aufeinanderfolge dieser Objekte als einem synchroni-
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schen Schema und drittens die Metapher von Theorie-Merkmalen als dinglichen Merkmalen, die sämtlich prinzipiell skalierbar sind, so daß sie sich nach ihren jeweiligen «Stellenwerten» in einen «Zusammenhang» bringen lassen. Damit sind Sie dann praktisch auch schon bei dem metaphorischen Ausdruck «einfügen», der hier das Bewußtseins-Analogon einer realen Verhaltensweise bezeichnet. Was der Ausdruck an Realem bezeichnet, mag von Individuum zu Individuum und von Kulturkreis zu Kulturkreis schwanken, je nach den vorherrschenden Erfahrungen mit dem ordnungsgemäßen Zusammensetzen von Dingen; ein Juwelier zum Beispiel könnte an das «Einfügen» von Edelsteinen in ihre Fassung denken und so weiter. Infolgedessen ist das metaphorische Substrat des Denkens bisweilen höchst verwickelt und schwer zu entwirren. Doch jeder bewußte Gedanke, den Sie bei der Lektüre dieses Buches haben, läßt sich in der bezeichneten Weise analytisch zurückverfolgen bis zu konkreten Handlungen in der Welt des Konkreten. 2. Exzerpierung. Im Bewußtsein «sehen» wir niemals etwas zur Gänze. Das kommt daher, daß dieses «Sehen» ein Analogon von realem Verhalten ist; und in der Realität vermögen wir eine Sache in jedem gegebenen Zeitpunkt nur partiell zu sehen beziehungsweise sie im Handeln nur partiell zu berücksichtigen. Genauso ist es im Bewußtsein. Aus dem Ensemble der möglichen «Hinsichten» – der «Aspekte» einer Sache, die ipso facto Teilaspekte sind – greifen wir ein Stück heraus, ein «Exzerpt», das unser Wissen vom Ganzen in sich verkörpert. Und mehr geht nicht, weil das Bewußtsein eine Metapher unseres leiblichen Verhaltens ist. Fordere ich Sie beispielsweise auf, sich einen Zirkus vorzustellen, so werden Sie zunächst einen kurzen Moment lang eine leichte Vorstellungstrübung erleben, aus der dann (möglicherweise) ein Bild von fliegenden Trapezkünstlern oder (andere Möglichkeit) von einem Clown im Ring oder etwas Ähnliches auftaucht. Oder: stellen Sie sich die Stadt oder Ortschaft vor, in der Sie sich zur Zeit aufhalten: irgendeine Ein-
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zelheit – etwa ein bestimmtes Bauwerk, ein Turm oder eine bestimmte Straßenkreuzung – wird Ihnen als Exzerpt dienen. Und bitte ich Sie jetzt, an sich selbst zu denken, dann werden Sie irgendwelche Exzerpte aus Ihrer jüngsten Vergangenheit anfertigen in der Überzeugung, auf diese Weise dächten Sie an sich selbst. In sämtlichen genannten Fällen erscheint es uns weder problematisch noch sonderlich paradox, daß die Exzerpte nicht die Sachen selber sind, obzwar wir so reden, als wären sie es. In Wirklichkeit sind wir uns niemals der Dinge, wie sie an sich selber sind, bewußt, sondern immer nur der Exzerpte, die wir uns von ihnen machen. Die Exzerpierung wird von Variablen gesteuert, denen noch viel mehr Nachdenken und Forschung gewidmet werden müßte. Denn sie bestimmen das gesamte bewußte Weltbild des einzelnen sowie sein Bild von seinen Mitmenschen. Wie Sie einen Menschen aus Ihrer Bekanntschaft exzerpieren, hängt eng mit Ihrer affektiven Einstellung zu ihm zusammen. Wenn Sie ihn mögen, exzerpieren Sie seine angenehmen Seiten. Wenn nicht, die unangenehmen. Die Ursächlichkeit kann in der einen wie in der anderen Richtung funktionieren. Wie wir andere Menschen exzerpieren, das entscheidet weitgehend darüber, welches Gesicht unsere Lebenswelt uns zeigt. Nehmen wir zum Beispiel unsere Familienangehörigen während unserer Kindheit. Orientieren sich unsere Exzerpte von ihnen an den Fällen, in denen sie versagt haben, an ihren verborgenen inneren Konflikten, ihren Selbsttäuschungen – na ja, das wäre die eine Möglichkeit. Doch wenn wir sie in ihren glücklichsten Momenten, auf dem Gipfel ihrer persönlichsten Freuden exzerpieren – dann sieht die Welt gleich ganz anders aus. Künstler und Schriftsteller tun nichts anderes, als die Vorgänge, die «im» Bewußtsein mehr oder weniger unter Zufallsbedingungen ablaufen, einer methodischen Kontrolle zu unterwerfen. Die Exzerpierung ist etwas anderes als das Gedächtnis. Das Exzerpt einer Sache ist der Vertreter der Sache oder des Ereignisses, woran sich Erinnerungen knüpfen, im Bewußtsein, und es versetzt uns in die Lage, Erinnerungen aus dem Gedächtnis abrufen zu können. Will ich mir in Erinnerung rufen, was ich
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vergangenen Sommer gemacht habe, nehme ich zunächst eine Exzerpierung des fraglichen Zeitraums vor, die vielleicht in einem flüchtigen Vorstellungsbild von ein paar Monatsspalten im Kalender besteht, bis ich schließlich bei der Exzerpierung eines bestimmten Ereignisses verweile, etwa bei einem Spaziergang entlang einem bestimmten Fluß. Von hier aus ergehe ich mich dann in Assoziationen und rufe mir Erinnerungen an den vergangenen Sommer zurück. Diesen Vorgang meinen wir, wenn wir von Reminiszenzen sprechen: Er ist eine spezifische Bewußtseinsleistung, deren kein Tier fähig ist. Das Reminiszieren ist eine Folge von Exzerpierungen. Jede sogenannte Bewußtseinsassoziation ist eine Exzerpierung, eine aus dem Zeitfluß des Erlebens herausgegriffene Teilansicht oder ein stehendes Bild, wenn man so will, deren Gestaltung durch Persönlichkeits- sowie fallweise wechselnde situative Faktoren bedingt ist.6 3. Das Ich (qua Analogon). Ein höchst wichtiges «Merkmal» der Metapher «Welt» ist die Metapher, die wir von uns selber haben: das Analogon «ich», das sich in unserer «Vorstellung» stellvertretend «frei bewegen» und dabei «tun» kann, was wir realiter nicht tun. Für solch ein «Ich (qua Analogon)» gibt es natürlich eine Menge Verwendungen. Wir stellen «uns» vor, daß wir entweder dies oder jenes «tun», und «finden» daraufhin anhand von vorgestellten «Resultaten» eine Entscheidung – was unmöglich wäre, verfügten wir nicht über ein Vorstellungs-«Selbst», das in einer Vorstellungs-«Welt» agiert. Kehren wir nochmals zurück zu dem im Abschnitt über die Spatialisierung gegebenen Beispiel: Nicht Ihr Körper-Verhaltens-Selbst stellte dort die «Betrachtung» an, wie sich meine Theorie in das Schema alternativer Theorien «einfügt». Nein, das war Ihr «Ich (qua Analogon)». 6
Individuelle Unterschiede oder alters- und gesundheitsbedingte Schwankungen in der Exzerpierungsweise sind ein überaus interessanter Untersuchungsgegenstand. So z. B. bewirkt psychisches oder physisches Leiden einen drastischen Wandel in unserer Art und Weise, die Welt zu exzerpieren.
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4. Das Ich (qua Metapher). Das Analogon «ich» begnügt sich jedoch nicht mit dieser einen Rolle. Es tritt zugleich als Metapher auf. Während wir in unserer Vorstellung den längeren Weg entlangschlendern, erhaschen wir in der Tat auch manchen flüchtigen «Blick» auf «uns aus der Distanz» («autoskopische Vorstellungen»), wie wir schon bei Gelegenheit der Übungsbeispiele im Ersten Kapitel festgestellt haben. Wir können einesteils aus dem Vorstellungs-Selbst hinaus in ein vorgestelltes Gesichtsfeld sehen, und wir können zum andern ein Stück zurücktreten und uns selbst beobachten, wie wir etwa an dem oder jenem Bach niederknien, um einen Schluck Wasser zu trinken. Wir stehen hier zweifellos vor einem durchaus schwerwiegenden Problemkomplex, konzentriert in der Frage nach dem Verhältnis zwischen «Ich (qua Analogon)» und «Ich (qua Metapher)». Die Antwort würde eine Abhandlung für sich füllen. Indes wollte ich hier die Natur des Problems nur kurz antippen. 5. Narrativierung. Das Stellvertreter-Selbst, das wir im Bewußtsein sehen, ist immer der Held einer Lebensgeschichte. In unserem mehrfach zitierten Beispiel springt die Narrativierung in die Augen, insofern sich das Ganze zu einer Episode «Waldspaziergang» zusammenschließt. Weniger augenfällig ist die Tatsache, daß wir, wann immer und solange wir uns in bewußtem Zustand befinden, ununterbrochen auf solche Weise am Werk sind – an einem Werk, das ich Narrativierung nenne. Ich sitze hier und schreibe ein Buch, und dieser Umstand ist in meine Lebensgeschichte so ungefähr an deren Mittelpunkt eingebettet, wobei die Zeit spatialisiert ist zu einem Wanderweg durch Jahr und Tag. Neue Situationen werden vermittels selektiver Wahrnehmung zu Anschlußstücken dieser Fortsetzungsgeschichte verarbeitet; Wahrnehmungen, die sich nicht einordnen lassen, bleiben unbeachtet oder jedenfalls aus dem Erinnerungsvermögen ausgeschlossen. Wichtiger noch: Situationen, in die ich mich hineinbegebe, werden von vornherein so gewählt, daß sie zu meiner Fortsetzungsgeschichte passen, bis das Selbstbild, das ich mir in meiner Lebensgeschichte
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schaffe, so weit gediehen ist, daß es unvorhergesehen auftretende neuartige Situationen auf Anhieb mit Handlungs- und Auswahlprozeduren zu beherrschen vermag. Daß wir unseren Verhaltensmustern diese oder jene Ursache zuschreiben oder eine bestimmte Einzelhandlung so oder so begründen, das alles gehört mit zur Narrativierung. Derlei Ursachenzuschreibungen wie Begründungen mögen wahr oder falsch, wertneutral oder idealisierend sein. Das Bewußtsein ist allzeit bereit, für jedes x-beliebige Tun, bei dem wir uns ertappen, eine Erklärung zu liefern. Der Dieb narrativiert sein Handeln in einen Kausalzusammenhang mit der Armut, der Künstler mit der Schönheit, der Wissenschaftler mit der Wahrheit, wobei Ursache und Zweck unauflöslich mit eingeflochten sind in die Spatialisierung des Verhaltens im Bewußtsein. Aber dergestalt narrativieren wir nicht nur unser eigenes «Ich (qua Analogon)», sondern alles und jedes, was uns überhaupt ins Bewußtsein tritt. Ein isoliertes Faktum wird in irgendeinen Zusammenhang mit einem anderen isolierten Faktum narrativiert. Ein weinendes Kind auf der Straße: Prompt narrativieren wir das Vorkommnis im Geist zur Sequenz vom verirrten Kind und der ängstlich suchenden Mutter. Eine Katze auf dem Baum: Prompt narrativieren wir das Vorkommnis zur Sequenz vom Hund, der sie da hinaufgescheucht. Oder wir narrativieren die Fakten des psychischen Lebens, so wie wir sie verstehen, zu einer Theorie des Bewußtseins. 6. Kompatibilisierung. Der Aspekt des Bewußtseins, den ich abschließend herausstellen möchte, ist die Kopie einer Verhaltenseinheit, die ein gemeinsames Erbteil der meisten Säuger darstellt. Das reale Urbild jenes Bewußtseinsmerkmals ist das schlichte Wiedererkennen, bei dem ein maßvoll mehrdeutiges Wahrnehmungsobjekt einem zuvor erworbenen Schema angeglichen wird; dieser automatische Vorgang wird gelegentlich als «Assimilation» bezeichnet. Wir assimilieren einen neu auftretenden Reiz unserer Konzeption oder unserem Schema von ihm, auch wenn er maßvoll davon abweicht. Da wir
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die Dinge von einem Augenblick zum nächsten nie in exakt gleichbleibender Weise sehen, hören oder tasten, ist dieser Assimilationsprozeß, diese Angleichung an vorangegangene Erfahrungen, ununterbrochen im Gang, solange wir die Welt um uns her wahrnehmen. Anhand früher erlernter Schemata setzen wir unsere Eindrücke zu identifizierbaren Gegenständen zusammen. Die Assimilation ins Bewußtsein übertragen ergibt die Kompatibilisierung. Der so bezeichnete Vorgang leistet im wesentlichen das gleiche im Bewußtseinsraum wie die Narrativierung in der Bewußtseinszeit beziehungsweise der spatialisierten Zeit. Die Kompatibilisierung setzt Einzelelemente zur Einheit eines Bewußtseinsgegenstands zusammen, genauso wie die Narrativierung Einzelelemente zur Einheit einer Geschichte zusammensetzt. Und dieses Zusammenfügen in einen Plausibilitätsoder Probabilitätszusammenhang vollzieht sich nach Regeln, die aus früherem Erleben gewonnen wurden. Bei der Kompatibilisierung passen wir Exzerpte oder Narrativierungen einander an, ebenso wie bei der Außenwahrnehmung die innere Konzeption und der dazutretende Reiz in Übereinstimmung gebracht werden. Narrativieren wir unser «Ich» als Spaziergänger auf einem Waldweg, dann wird die Aufeinanderfolge der Exzerpte automatisch den Bedingungen eines solchen Spaziergangs angepaßt. Und sollten im Lauf einer Tagträumerei unversehens zwei unverbundene Exzerpte simultan auftreten oder zwei Exzerpierungen simultan einsetzen, so werden sie miteinander verschmolzen: kompatibel gemacht. Fordere ich Sie auf, gleichzeitig an eine Bergwiese und an einen Turm zu denken, dann kompatibilisieren Sie die beiden Dinge automatisch, indem Sie den Turm auf die Wiese stellen. Indes, wenn ich Sie auffordere, jetzt simultan an die Bergwiese und das Meer zu denken, dann dürfte die Kompatibilisierung ausbleiben, und es ist wohl eher so, daß Sie immer nur an eines von den beiden Dingen auf einmal denken können, also entweder an die Wiese zuerst und dann an das Meer, oder umgekehrt. In einen gemeinsamen Zusammenhang können Sie die
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beiden in diesem Fall nur vermittels Narrativierung bringen. Es existieren demnach Kompatibilitätskriterien, die den Vorgang regeln, und diese Kriterien werden erlernt und gründen in der Struktur der Welt. Lassen Sie mich kurz zusammenfassen, damit wir einen «Überblick» gewinnen, wo wir augenblicklich stehen und in welche Richtung wir marschieren. Wir haben festgestellt, daß das Bewußtsein ein Operator ist, kein Ding, kein Speicheroder Trägergerät und keine Funktion. Es operiert im Medium der Analogie, indem es einen Analograum konstruiert, zu dem ein Analogon «ich» gehört, das diesen Raum zu beobachten und sich metaphorisch darin zu bewegen vermag. Sein Operationsbereich umfaßt jegliches Handeln; es exzerpiert die relevanten Aspekte seiner Operanten und stiftet durch Narrativierung und durch Kompatibilisierung zwischen jenen einen Zusammenhang in einem Metaphernraum, wo derlei Bedeutungszusammenhänge manipuliert werden können wie Dinge im realen Raum. Der seiner selbst bewußte Geist ist ein räumliches Analogon der Welt, und mentale Akte sind Analoga von körperlichen Akten. Möglicher Operant für das Bewußtsein ist nur das objektiv Beobachtbare. Oder, mit anderen Worten (die John Lockes bekannte Formel variieren): Nichts ist im Bewußtsein, was nicht Analogon von etwas wäre, das zuvor im Verhalten war. Wir sind am Ende eines schwierigen Kapitels angelangt. Ich hoffe jedoch, es ist mir gelungen, sei’s auch nur umrißhaft, wenigstens einigermaßen überzeugend darzutun, daß die Auffassung vom Bewußtsein als einem per Metapher erzeugten Modell der Welt einige sehr präzise Schlußfolgerungen nach sich zieht und daß diese Folgerungen sich anhand von jedermanns bewußter Alltagserfahrung verifizieren lassen. Das Ganze ist natürlich nur ein – zudem noch etwas grobschlächtig geratener – Anfang, dem ich in einer geplanten weiteren Studie eine differenziertere Gestalt zu geben hoffe. Er reicht immerhin aus, uns jetzt die Rückkehr zu unserem Generalthema – der Frage nach dem Ursprung von dem allen – zu gestatten;
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weitere Ausführungen über das Wesen des Bewußtseins für sich selbst genommen seien auf spätere Kapitel vertagt. Wenn das Bewußtsein nichts anderes ist als eine Analogwelt auf sprachlicher Basis – eine Parallele zur Verhaltenswelt in exakt dem gleichen Sinn, wie man die Mathematik als Parallele zum quantitativen Aspekt der Dingwelt betrachten kann –, was können wir dann über seinen Ursprung ausmachen? Wir sind hier an einem höchst interessanten Punkt unserer Überlegungen angelangt – einem Punkt, der in vollkommenem Widerspruch steht zu allem, was die im Einleitungskapitel erörterten Alternativtheorien an Lösungen des Problems vom Ursprung des Bewußtseins anzubieten hatten. Denn wenn das Bewußtsein auf der Sprache beruht, dann folgt daraus, daß es weit jüngeren Datums ist als bisher angenommen. Das Bewußtsein entstand später als die Sprache! Diese Auffassung hat äußerst schwerwiegende Konsequenzen.
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DRITTES KAPITEL Die Psychologie der «Ilias»
I
Scheitelpunkt des Riesenrads lernt man einen Augenblick des Unbehagens kennen, wenn man während der Auffahrt, mit dem Blick nach innen sitzend, stabile, vertrauenerwekkende Träger und Streben vor sich sah und jetzt auf einmal diese ganze Konstruktion wegtaucht und man zur Abfahrt jäh hinausgehoben wird ins Leere. So etwa empfinden wir auch in diesem Augenblick. Denn sämtliche wissenschaftlichen Theorien, die wir in der Einleitung durchgemustert haben, einschließlich meiner eigenen vorläufigen Ausgangsposition, sie alle versicherten uns: irgendwann weit zurück in der Entwicklungsgeschichte der Säuger oder noch davor hat sich durch natürliche Selektion das Bewußtsein entwickelt. Wir hielten es für gesichert, daß zumindest einige Tiere bereits ein Bewußtsein hatten. Für gesichert, daß das Bewußtsein in wesentlicher Hinsicht mit der Evolution des Gehirns und, sehr wahrscheinlich, der Evolution von dessen Rindenschichten zusammenhängt. Und auf alle Fälle hielten wir es für gesichert, daß der Mensch der Frühzeit bereits ein Bewußtsein hatte, als er sich anschickte, das Sprechen zu erlernen. Von diesen Sicherheiten ist nichts mehr übrig: Mit einem ganz neuen Problem hängen wir jetzt anscheinend im Leeren. Auch wenn die impressionistisch ausgeführte Bewußtseinstheorie, die wir im vorangegangenen Kapitel aufgestellt haben, nichts weiter leistet, als ungefähr die richtige Richtung zu bezeichnen – falls sie das tut –, kann das Bewußtsein nur in der menschlichen Spezies entstanden sein, und die entsprechende Entwicklung kann nur nach der Entwicklung der Sprache stattgefunden haben. Könnten wir nun davon ausgehen, daß die menschliche Entwicklungsgeschichte ein einfaches Kontinuum darstellt, so wäre unser weiteres Vorgehen im Grundsatz festgelegt: Wir M
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hätten uns von jetzt an mit der Evolution der Sprache zu beschäftigen und sie, so gut es eben geht, zu datieren. Anhand dieser Vorgabe hätten wir sodann die menschliche Psychoevolution nachzuzeichnen, bis wir schließlich und endlich unser Ziel, die Antwort auf unsere Ausgangsfrage, erreicht hätten: irgendeinen Ort und Zeitpunkt, für den wir aufgrund dieses oder jenes Kriteriums behaupten könnten, daß hier und nirgendwo sonst der Ursprung und Anfang des Bewußtseins anzusetzen ist. Aber die menschliche Entwicklungsgeschichte ist kein einfaches Kontinuum. Um 3000 v. Chr. kommt in der Geschichte der Menschheit eine seltsame und höchst folgenreiche Praxis auf. Sie besteht in der Umwandlung gesprochener Laute in kleine Markierungen auf Stein oder Ton oder Papyrus (neuerdings Papier), so daß die Sprache fortan nicht mehr nur gehört, sondern auch gesehen werden kann, und zwar im Prinzip von x-beliebigen Personen, nicht nur von denen, die sich gerade in Hörweite befinden. Ehe wir uns also an die Ausführung des im vorigen Absatz aufgestellten Programms machen, sollten wir zweckmäßigerweise erst herauszufinden suchen, ob der Ursprung des Bewußtseins vor oder nach Erfindung dieser sichtbaren Sprache datiert. Deren früheste Zeugnisse bieten sich als erste zur Untersuchung an. Die Frage, mit der wir es jetzt zu tun haben, lautet also: Welche «Mentalität» – welches Stadium der Psychoevolution – zeigt sich in den frühesten Schriftdokumenten der Menschheit? Aber kaum haben wir uns den ältesten Schrifturkunden des Menschengeschlechts zugewandt, um in ihnen nach Anzeichen für das Vorhandensein oder Fehlen eines subjektiven, seiner selbst bewußten Geistes zu suchen, bauen sich auch schon zahllose technische Schwierigkeiten vor uns auf. Die größte von ihnen ist das Problem, wie man Schriftwerke übersetzen soll, die möglicherweise Ausdruck einer von der unseren völlig verschiedenen Geistesverfassung sind. Und dieses Problem zeigt sich in seiner ganzen Schärfe gerade bei den allerältesten Schriftdokumenten. Diese sind in Hieroglyphen, hieratischer Schrift und Keilschrift abgefaßt und tauchen – interessanter-
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weise – in allen erwähnten Schriftarten ungefähr um 3000 v. Chr. erstmals auf. Von keiner dieser Schriftarten läßt sich behaupten, sie sei restlos entziffert. Wo sie von konkreten Dingen handeln, machen sie nur wenig Schwierigkeiten. Sobald man es jedoch mit ausgefallenen Symbolen zu tun hat, deren Sinn sich nicht aus dem Kontext erschließt, ist man in solchem Maß aufs Rätselraten angewiesen, daß diese faszinierenden Zeugnisse der Vergangenheit sich unter der Hand in einen Rorschachtest verwandeln, in den neuzeitliche Altertumsforscher ihre eigene Subjektivität hineinprojizieren, ohne dieses verzerrenden Einflusses selber recht gewahr zu werden. Infolgedessen sind hier Anhaltspunkte dafür, ob die ersten ägyptischen Dynastien oder die Kulturen Mesopotamiens bereits ein Bewußtsein kannten oder nicht, nicht mit dem für die Stringenz unseres Beweisgangs unerläßlichen Grad an Zweifelsfreiheit zu gewinnen. Auf diesen ganzen Fragenkomplex werden wir im Zweiten Buch noch einmal zu sprechen kommen. Das erste Schriftwerk der Menschheitsgeschichte, dessen Sprache wir mit hinreichender Gewißheit meistern, um es im Zusammenhang mit meiner Hypothese in Betracht ziehen zu können, ist die «Ilias». Den Erkenntnissen der neueren Forschung zufolge gewann diese Rachegeschichte voll Blut, Schweiß und Tränen ihre Form in der mündlichen Überlieferung von fahrenden Sängern, den aoidoi, und zwar in dem Zeitraum von etwa 1230 v. Chr. (wohin man das in dem Epos berichtete Geschehen zu datieren hat: dies ergibt sich als Schlußfolgerung aus einigen neuerdings aufgefundenen hethitischen Tontafeln1) bis etwa 900/850 v. Chr. (dem Datum der ersten Niederschrift). Ich möchte diese Dichtung im folgenden als ein psychologisches Dokument von gewaltiger Tragweite behandeln. Und die Frage, die wir an es zu richten haben, lautet: Wie stellt sich die menschliche Psyche in der «Ilias» dar?
1
V. R. d’A. Desborough, The Last Mycenaeans and Their Successors: An Archeological Survey, c. 12000-c. 1000 B. C, Oxford: The Clarendon Press 1964.
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Die Sprache der «Ilias» Die Antwort ist mehr als interessant, nämlich geradezu aufrüttelnd. Die «Ilias» weiß im allgemeinen nichts von einem Bewußtsein. (Ich sage «im allgemeinen», weil ich später noch auf ein paar Ausnahmen zu sprechen kommen werde.) Und dementsprechend kennt sie im allgemeinen auch keine Wörter für Bewußtsein oder Bewußtseinstätigkeiten. Wörter, deren Designat in späterer Zeit im Bereich des Mentalen liegt, haben, wo sie in der «Ilias» vorkommen, eine andere und in allen Fällen konkretere Bedeutung. Das Wort psyche, das später die Seele oder den sich wissenden Geist bezeichnet, steht hier meistenteils für Lebenssubstanzen wie das Blut und den Atem: Ein sterbender Krieger verströmt die psyche aus seinen Wunden auf den Boden, oder er haucht sie mit seinem letzten Seufzer aus. Der thymos, der später die Seele als Sitz der Affekte bezeichnet, bedeutet hier einfach noch – sei’s normale, sei’s heftige – Bewegung. Hört ein Mensch auf, sich zu bewegen, verläßt der thymos seine Glieder. Zugleich ist er in gewisser Beziehung aber auch ein Organ für sich, denn als Glaukos zu Apollon betet, ihm die Kraft zu geben, um die Leiche seines gefallenen Freundes Sarpedon zu streiten, da erhört ihn der Gott und «schickt ihm Kraft in den thymos» (16, 529). Der thymos heißt den Menschen essen, trinken oder kämpfen. Diomedes sagt an einer Stelle, Achilleus werde wieder kämpfen, «wenn der thymos in seiner Brust es ihm gebietet und wenn ein Gott ihn erregt» (9, 702f.). Aber er ist kein Organ im eigentlichen Sinn und auch nicht immer genau lokalisiert: die tobende See hat thymos. In mancher Beziehung vergleichbar ist die Verwendungsweise des Wortes phren, das indes etwas anatomisch Lokalisiertes, nämlich das Zwerchfell oder Empfindungen im Zwerchfell, bezeichnet und gewöhnlich in der Mehrzahl gebraucht wird. Hektors phrenes sind es, die erkennen, daß sein Bruder nicht an seiner Seite steht (22, 296); es ist derselbe Sachverhalt, den wir in der Wendung ausdrücken, daß einem «vor Schreck der Atem stockt». Erst Jahrhunderte später kommt das Wort zu der Bedeutung «Sinn» oder «Herz» (beides
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im übertragenen Sinn von «Geist», «Seele» oder «Gemüt»). Vielleicht das wichtigste Wort dieser Art ist noos, das später (in der Schreibweise nous) die Bedeutung von Geist annahm. Es ist von noeein, sehen, abgeleitet. So wie es in der «Ilias» gebraucht wird, müßte es genaugenommen mit Ausdrücken wie «Wahrnehmung», «Wiedererkennen» oder «Gesichtsfeld» übersetzt werden. Zeus «behält Odysseus in seinem noos». Er hat ein wachsames Auge auf ihn. Ein weiteres wichtiges Wort, möglicherweise durch Reduplikation von meros, Teil, abgeleitet, ist mermera, das «zweigeteilt» bedeutet. Daraus wiederum wurde durch Anfügen des üblichen Verb-Suffixes -izo an den Substantivstamm das Verb mermerizein, «angesichts einer Sache in zwei Teile gespalten sein». Der vermeintlichen literarischen Qualität ihrer Arbeit zuliebe benutzen moderne Übersetzer häufig die moderne Ausdrucksweise der Subjektivität, die Sinn und Bedeutung des Originals verfehlt. So wird mermerizein fälschlich wiedergegeben mit «hin und her überlegen», «erwägen», «im Zweifel sein», «unschlüssig sein», «sich sorgen» oder «beunruhigt sein über», «um einen Entschluß ringen» und ähnlichem. Im wesentlichen besagt das Wort jedoch, daß man einen Konflikt zweier Handlungsweisen, nicht zweier Gedanken austrägt. Sein Sinn ist immer behavioristisch. Es wird wiederholt von Zeus ausgesagt (20, 17; 16, 647), aber auch von anderen Akteuren. Als Austragungsort dieses Widerstreits wird oft der thymos angegeben, manchmal auch die phrenes, aber niemals der noos. Das Auge kann nicht unschlüssig zögern oder mit sich selbst im Widerstreit liegen, wie das später der (in der «Ilias» noch auf seine Erfindung harrende) Geist zu tun vermögen wird. Im allgemeinen – das heißt, wie gesagt, bis auf gewisse Ausnahmen – bezeichnen die bisher aufgeführten Wörter den höchsten Grad der Annäherung an bewußte Geistigkeit oder bewußtes Denken, den man – und dieses «man» umfaßt gleichermaßen Verfasser wie Götter wie Helden der «Ilias» – in dieser Dichtung üblicherweise zu erreichen vermag. Detailliertere Ausführungen zur Bedeutung dieser Wörter seien einem späteren Kapitel vorbehalten.
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Die Dichtung kennt auch kein Konzept des Willens, noch hat sie ein Wort dafür – das Konzept des Willens ist eine auffallend späte Schöpfung des griechischen Denkens. So besitzen die Menschen in der «Ilias» keinen eigenen Willen und schon gar keine Vorstellung von Willensfreiheit. In der Tat ist das ganze Problem des Wollens, mit dem sich die moderne Psychologie meinem Eindruck nach so schwer tut, vielleicht nur deshalb zum Problem geworden, weil die Ausdrücke für die einschlägigen Phänomene erst so spät erfunden wurden. Und ähnlich fehlt in der «Ilias» auch ein Wort für den Körper in unserem Sinn. Das Wort soma, das im fünften Jahrhundert v. Chr. die Bedeutung von Körper annimmt, steht bei Homer stets im Plural und bezeichnet leblose Glieder oder einen Leichnam. Es kennzeichnet den Gegensatz zu psyche. Die Sprache der «Ilias» hat eine Reihe von Bezeichnungen für einzelne Körperteile – und jedesmal, wenn sie gebraucht werden, ist dann aber auch nur dieser bestimmte Körperteil gemeint, niemals der Körper im ganzen.2 Kein Wunder also, daß die frühgriechische Kunst der mykenischen Periode die menschliche Gestalt als eine Montage aus einzelnen Gliedern wiedergibt, die auf (für uns) befremdliche Weise untereinander verbunden sind (schwach ausgeprägte Gelenke; die Verbindung zwischen Rumpf und Hüfte kaum vorhanden). Das ist die bildkünstlerische Version dessen, was uns bei Homer laufend begegnet, wenn hier von Händen, Unterarmen, Oberarmen, Füßen, Waden und Schenkeln die Rede ist, die behende sind oder nervig oder in hurtiger Bewegung und so weiter, ohne daß auch nur ein einziges Mal der Körper als Ganzheit in den Blick käme. Das alles ist nun höchst eigenartig. Wenn die Menschen der «Ilias» kein subjektives Bewußtsein haben, 2
Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg: Claassen & Goverts 1946, 4. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975. Ich steckte bereits tief in den Gedankengängen und Materialien des gegenwärtigen Kapitels, als ich Snells Arbeit über die homerische Sprache kennenlernte, die eine Parallele zu der meinen bildet. Allerdings gelangen wir beide zu ganz unterschiedlichen Schlußfolgerungen.
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keinen Geist, keine Seele, keinen Willen – was bewegt sie dann zum Handeln? Die Religion der frühen Griechen Nach ebenso alter wie allgemein akzeptierter Überzeugung gab es vor dem vierten Jahrhundert v. Chr. in Griechenland keine echte Religiosität3: die Götter Homers seien lediglich «farbenfrohe Ausgeburten der dichterischen Phantasie» (wie anerkannte Altertumswissenschaftler es ausdrücken)4. Diese irrige Auffassung rührt daher, daß man die Religion als ethisches System betrachtet, als eine dem Streben nach einem tugendhaften Lebenswandel entsprungene Unterordnung gegenüber äußeren Göttern. Und tatsächlich ist dem Gelehrten insoweit recht zu geben. Zu behaupten freilich, die Götter der «Ilias» seien lediglich dichterische Kunstgriffe oder rhetorische Tropen, kommt einer völligen Verkennung der Tatsachen gleich. Die Helden der «Ilias» überlegen nicht, was als nächstes zu tun sei. Sie haben kein Bewußtsein in dem Sinn, wie wir das von uns sagen, und auf gar keinen Fall verfügen sie über die Gabe der Introspektion. Für uns mit unserer Subjektivität ist es unmöglich nachzuempfinden, wie das ist. Als Agamemnon, der König der Mannen, dem Achilleus seine schöne Gefangene wegnimmt, greift eine Göttin in das goldene Haar des Peleussohns und ermahnt ihn, nicht das Schwert zu zücken gegen Agamemnon (1, 197 ff). Und am düsteren Strand des Meeres steigt dann eine Göttin aus dem grauen Gewässer auf, um bei den schwarzen Schiffen dem Weinenden die Zornestränen zu trocknen. Eine Göttin flößt mit ihrem Geflüster das süße Verlangen nach der alten Heimat ins Herz der Helena (3, 129 ff). 3 4
Eine Ausnahme macht E. R. Dodds mit seinem hervorragenden Buch The Greeks and the Irrational, Berkeley: University of California Press 1951. So z. B. Maurice Bowra, Tradition and Design in the Iliad, Oxford: The Clarendon Press 1930, S. 222.
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Eine Göttin verbirgt den Paris in einer Nebelwolke vor dem Angriff des wütend heranstürmenden Menelaos (3, 380ff). Ein Gott heißt Glaukos die goldene Wehr gegen die eherne tauschen (6, 234ff). Stets ist es ein Gott, der die Heere in die Schlacht führt, der in kritischen Momenten zu den einzelnen Kriegern spricht, der Hektor vorschlägt und ihn lehrt, was er tun soll, der die Krieger antreibt oder ihre Niederlage bewirkt, indem er einen lähmenden Bann auf sie legt oder ihr Gesichtsfeld vernebelt. Götter sind es, die Zwietracht unter den Menschen stiften (4, 437 ff), die in Wirklichkeit den Krieg anzetteln (3, 164 f) und dann auch die strategische Planung und Ausführung übernehmen (2, 56ff). Eine Göttin nimmt Achilleus das Versprechen ab, nicht mehr am Kampf teilzunehmen, eine andere heißt ihn später, die Troer zu vertreiben, und wiederum eine andere umkränzt sein Haupt mit goldenen Wolken und läßt eine himmelhoch aufragende Flamme von ihm ausgehen und schickt durch seine Kehle einen so fürchterlichen Wutschrei über den blutdampfenden Graben zu den Troern, daß diese von namenloser Panik ergriffen werden. Kurzum, die Götter spielen die Rolle des Bewußtseins. Handlungen werden nicht von bewußten Planungen, Überlegungen oder Motiven in Gang gebracht, sondern durch das Handeln und Reden der Götter initiiert. Seinen Nebenmenschen erscheint der Mensch als Verursacher seines eigenen Verhaltens. Nicht so sich selber. Als Achilleus gegen Ende des Krieges dem Agamemnon vorhält, wie dieser ihm seinerzeit die schöne Beutegefangene raubte, da erklärt der König der Mannen, Gebieter des Volkes: «Nicht ich habe die Handlung verursacht, sondern Zeus und mein Schicksal und dunkelschleichend Erinys, welche mir böse ate eingaben in der Versammlung jenes Tags, da ich Achilleus der Beute beraubte. Es tut ja alles die Göttin ...»(19, 86-90). Und daß dies nicht eine hastig improvisierte faule Ausrede des Agamemnon ist, mit der er die Verantwortung von sich abzuwälzen gedenkt, erhellt aus dem Umstand, daß Achill sich mit dieser Erklärung voll und ganz zufriedengibt – denn auch Achill gehorcht seinen Göttern. Wenn Gräzisten in ihren Kommentaren zu der zitier-
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ten Textstelle anmerken, Agamemnons Verhalten grenze hier an «Selbstentfremdung»5, so liegen sie damit weit, weit vom Schuß. Denn die Frage ist doch: Wie war es mit der Psychologie der homerischen Helden in der «Ilias» bestellt ? Und ich sage: Die Helden der «Ilias» hatten überhaupt kein Selbst. Sogar die Dichtung als solche ist nicht Menschenwerk in unserem Sinn. Ihre ersten drei Worte lauten: Menin aeide, thea, «Singe, o Göttin, vom Zorn!» Und das gesamte nachfolgende Epos ist nichts anderes als eben dieser Gesang der Göttin, von einem verzückten Poeten «vernommen» und als Rezitation in den Ruinen von Agamemnons Welt an seine eisenzeitliche Hörerschaft weitergegeben. Wären wir in der Lage, unsere sämtlichen vorgefaßten Konzepte von Dichtung zu löschen und auf dieses Epos zu reagieren, als hätten wir noch nie etwas von Dichtung gehört, dann würden wir auf der Stelle von der ganz ungewöhnlichen Beschaffenheit dieser Sprache in Bann geschlagen. Das, womit wir es da zu tun haben, nennen wir heute «Metrum». Doch welch ein Unterschied zwischen dem stetig wiederkehrenden «hexametrischen», also sechshebigen, Schema des Tonhöhenwechsels in der solchermaßen «gebundenen» Rede einerseits und andererseits der holprigen – «ungebundenen» – Betonungsweise in unseren alltäglichen Unterhaltungen! Die Funktion des dichterischen Metrums ist es, die elektrische Aktivität des Gehirns aufzuputschen und auf jeden Fall die normalerweise gegebenen moralischen Hemmungen sowohl des Vortragenden wie auch seiner Zuhörer abzubauen. Mit etwas Ähnlichem haben wir es zu tun, wenn die «Stimmen» der Schizophrenen in skandierten Rhythmen oder in Reimen sprechen. Demnach wurde, von späteren Hinzufügungen abgesehen, das Epos als solches weder bewußt produziert noch bewußt reproduziert, sondern im jeweils neuschöpfenden Vortrag von Mal zu Mal kreativ verändert, ohne daß dabei auf Seiten des Sängers mehr Bewußtheit im Spiel war als bei 5
So u. a. Martin P. Nilsson, A History of Greek Religion, New York: Norton 1964.
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einem improvisierenden Pianisten. Wer aber nun waren diese Götter, die die Menschen herumdirigierten, als wären sie Roboter, und die durch Menschenmund epische Dichtungen zum besten gaben? Es waren Stimmen, deren Reden und Befehle von den Helden der «Ilias» genauso deutlich vernommen wurden, wie manche Epileptiker und Schizophrene ihre Stimmen hören, oder wie die heilige Johanna von Orleans die ihrigen hörte. Die Götter waren Organisationstypen des Zentralnervensystems; sie lassen sich als «personae» im Sinne scharf ausgegrenzter Konsistenzen im Zeitfluß auffassen, als Amalgame von Eltern- und/oder Erzieher-Imagines. Der Gott ist Bestandteil des Menschen, und mit dieser Betrachtungsweise stimmt sehr gut überein, daß die Götter niemals den Bezirk der Naturgesetzlichkeit verlassen. Anders als der Gott der Hebräer im ersten Buch Mose sind die griechischen Götter nicht imstande, etwas aus dem Nichts zu erschaffen. Im Wechselspiel der Beziehung zwischen dem Gott und dem Helden gilt das gleiche Schicklichkeitszeremoniell, treten die gleichen Emotionen auf, werden die gleichen Überredungsstrategien eingesetzt wie zwischen zwei Menschen. Der griechische Gott tritt niemals unter Blitz- und Donner-Begleitung auf, erzeugt im Helden niemals Furcht und Schrecken und ist himmelweit entfernt von der schauerlich outrierten Erhabenheit des Gottes im Buch Hiob. Er geleitet, rät und befiehlt, mehr nicht. Dieser Gott erwirkt keine Demut, ja nicht einmal Liebe, und allenfalls in bescheidenem Umfang Dankbarkeit. Tatsächlich meine ich, daß die Gott-Held-Beziehung – als genetische Vorform – in der Sache genau dem entspricht, was bei Freud als Ich-ÜberichBeziehung und bei George H. Mead als die Beziehung des Selbst zum generalisierten Anderen erscheint. Das Äußerste, was der Held dem Gott an Gefühl entgegenbringt, ist Staunen oder Verblüffung – die Art von Gefühl, die wir empfinden, wenn uns plötzlich die Lösung eines besonders kniffligen Problems durch den Kopf schießt, oder die im «Heureka!» des badenden Archimedes zum Ausdruck kommt. Die Götter sind – so würden wir es heute ausdrücken – Halluzinationen. Gewöhnlich sind sie zu sehen und zu hören nur
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für denjenigen Helden, an den sie gerade das Wort richten. Manchmal kommen sie aus einem Nebel oder aus dem «grauen Gewässer» des Meeres oder eines Flusses, oder vom Himmel herunter – was alles darauf hindeutet, daß ihnen auraartige Gesichtserscheinungen vorausgingen. Zu anderen Malen dagegen ist es einfach nur so, daß sie plötzlich da sind. In der Regel melden sie sich in eigener Person, meist nur stimmlich; zuweilen kommen sie jedoch auch in Gestalt eines Menschen aus der näheren Umgebung des Helden. Unter dem zuletzt genannten Aspekt ist die Beziehung zwischen Apollon und Hektor besonders interessant. Im Sechzehnten Gesang tritt Apoll Hektor zur Seite in Gestalt von dessen Oheim (715 ff), im Siebzehnten Gesang spricht er zu ihm in Gestalt des verbündeten Kikonenfürsten Mentes (71 ff) und dann nochmals in Gestalt des liebsten Gastfreunds Phainops (582ff). Die entscheidende Wende des ganzen Kriegsgeschehens bahnt sich an, als Athene, nachdem sie Achilleus den Auftrag erteilt hat, Hektor zu «erlegen», nunmehr in Gestalt von dessen Lieblingsbruder Deiphobos zu Hektor tritt und sich als Waffenträger anbietet. Im Vertrauen auf diesen Beistand fordert Hektor Achilleus heraus, schleudert seinen Speer nach dem Gegner, verfehlt jedoch das Ziel, und wie er sich daraufhin nach seinem Bruder umdreht, um dessen Speer zu fordern, muß er feststellen, daß da niemand mehr ist (22, 514ff). Wir würden heute sagen, daß Hektor das Opfer einer Halluzination geworden ist. Und gleich Hektor hatte auch Achilleus eine Halluzination. Im Trojanischen Krieg führten Halluzinationen das Kommando. Und die Recken, die diesem Kommando unterstanden, waren ganz andere Menschen, als wir es sind. Sie waren erlauchte Roboter, die nicht wußten, was sie taten. Die bikamerale Psyche Wir blicken also in Fremdheit, Herzlosigkeit, Leere. Zu diesen Helden gewinnen wir kein Verhältnis, indem wir hinter ihren grimmigen Blicken ein Bewußtsein fingieren, wie wir das untereinander tun. Die Menschen der «Ilias» kannten keine
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Subjektivität wie wir; sie wurden ihres Gewahrseins der Welt nicht gewahr, besaßen keinen inneren Raum, wo sie sich selbst hätten beobachten können. Um die Geistesverfassung der Mykener von unserem eigenen, subjektiven Geist zu unterscheiden, werden wir sie als Zwei-Kammer-Psyche oder (der dadurch vereinfachten Kompositabildung halber) als bikamerale Psyche bezeichnen. Wollen, Planung und Handlungsanstoß kommen ohne irgendwelches Bewußtsein zustande und werden sodann dem Individuum fix und fertig in seiner vertrauten Sprache «mitgeteilt», manchmal mit einer Gesichtsaura in Gestalt eines vertrauten Menschen oder einer Autoritätsfigur als Begleiterscheinung, manchmal allein in einem Stimmphänomen. Das Individuum gehorcht diesen Stimmen, weil es nicht «sieht», was es von sich aus tun könnte. Ich habe nicht vor, den Beweis für die historische Existenz einer Mentalität der eben beschriebenen Art einzig und allein mit der «Ilias» zu führen, sondern werde meine Hypothese in späteren Kapiteln mit Hilfe unseres Wissens von anderen antiken Kulturen verifizieren. Die «Ilias» legt freilich diese Hypothese von sich aus nahe und spricht zu ihren Gunsten. Es empfiehlt sich jedoch, bevor wir uns neuen Materialien zuwenden, auf einige mögliche Einwände gegen meine letzten Ausführungen einzugehen, denn das wird zur Klärung der anhängigen Fragen beitragen. Einwand: Stimmt es denn nicht, daß man in der Forschung auch die Position vertreten finden kann, die «Ilias» sei von Anfang bis Ende das Phantasieprodukt eines einzelnen Menschen namens Homer, und zwar ein Phantasieprodukt ohne jegliche historische Grundlage? Das geht doch sogar so weit, daß man – ungeachtet Heinrich Schliemanns und seiner berühmten Ausgrabungen im neunzehnten Jahrhundert – bezweifelt, daß es die Stadt Troja jemals gegeben habe. Erwiderung: Derartige Zweifel sind neuerdings endgültig widerlegt durch die Entdeckung hethitischer Tontafeln aus der Zeit um 1300 v. Chr., die unmißverständlich auf das Land der Achaier und ihren König Agamemnon Bezug nehmen. Der –
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im Zweiten Gesang der «Ilias» enthaltene – Katalog der Städte, die Schiffe nach Troja entsandten, entspricht auffallend genau der archäologisch ermittelten Siedlungsstruktur. Die Schätze von Mykene, die man ehemals für Phantastereien eines Dichters hielt, sind zusammen mit den Ruinen der Stadt inzwischen aus dem Boden gefördert worden. Auch andere Detailangaben der «Ilias», betreffend Begräbnissitten und Waffenrüstung, sind bestätigt durch Ausgrabungen an Orten, die in der Dichtung eine Rolle spielen (so wurde beispielsweise der präzis beschriebene Helm mit den Eberhauern gefunden). Es besteht also keinerlei Zweifel hinsichtlich des historischen Substrats der Dichtung. Die «Ilias» ist keine Literatur – wenn man unter Literatur das Resultat einer aus sich selbst schöpfenden Einbildungskraft versteht – und insofern auch kein Gegenstand der Literaturwissenschaft. Sie ist ein Stück Geschichte und Geschichtsschreibung der mykenisch-ägäischen Periode und daher von Rechts wegen ein Fall für den Psychohistoriker. Die Frage, ob die Dichtung das Werk eines einzigen oder mehrerer Verfasser ist, beschäftigt die Altphilologen seit mindestens einem Jahrhundert. Doch der Nachweis der historischen Basis, der sogar in dem Epos erwähnte Handwerkserzeugnisse mit einbegreift, führt zwangsläufig zu dem Schluß, daß jenes Geschehen im dreizehnten Jahrhundert v. Chr., wie immer es realiter gewesen sein mag, der Nachwelt über eine Reihe von Mittelsmännern überliefert wurde. Es ist also plausibler, sich die Abfassung des Epos so vorzustellen, daß sie im Zuge dieser mündlichen Überlieferung erfolgte, als sie einem einzelnen Menschen des neunten Jahrhunderts v. Chr. namens Homer zuzuschreiben, der – falls er je gelebt hat – vielleicht einfach nur der erste aoidos war, dessen Version zur Niederschrift gelangte. Einwand: Selbst wenn dem so ist – was berechtigt uns zu der Annahme, daß ein episches Gedicht, dessen früheste erhaltene handschriftliche Aufzeichnung in einer von Gelehrten in Alexandria angefertigten Redaktion aus dem vierten oder dritten Jahrhundert v. Chr. besteht, ein Gedicht, das offenbar in vielerlei Versionen in Umlauf war, bevor es durch Kompilation
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die Form erhielt, in der wir es heute kennen – was berechtigt uns zu der Annahme, wir dürften aus einer solchen Dichtung beweiskräftige Aufschlüsse ziehen über die Mykener des dreizehnten Jahrhunderts, wie sie leibten und lebten? Erwiderung: Dieser sehr ernst zu nehmende Einwand wird noch bekräftigt durch den Umstand, daß manche Angaben in dem Epos allen Regeln der Wahrscheinlichkeit widersprechen. Die reichlich enttäuschend anmutenden grasüberwachsenen Schutthügel, in denen die Archäologen heute die Feste des Priamos erkennen, erstrecken sich über wenige Morgen Land, wohingegen die «Ilias» die Zahl ihrer Verteidiger mit fünfzigtausend angibt. Selbst Nebensächliches ist zuweilen bis zur Unmöglichkeit übertrieben: Hätte der Schild des Ajas tatsächlich, wie angegeben, aus sieben Stierhäuten und einer Lage Erz bestanden, so wäre er fast drei Zentner schwer gewesen. Die historischen Fakten wurden mit Sicherheit entstellt. Die Belagerung soll zehn Jahre gedauert haben: eine glatte Unmöglichkeit angesichts der Versorgungsprobleme beider Parteien. Als Zeiträume, in welchen derartige Verzeichnungen der historischen Fakten stattgefunden haben könnten, kommen – in grober Einteilung – zwei Perioden in Frage: zum einen diejenige der mündlichen Überlieferung, die vom Trojanischen Krieg bis zu jenem Zeitpunkt im neunten Jahrhundert v. Chr. währt, wo das Epos mit Hilfe des just neuentstandenen griechischen Alphabets schriftlich fixiert wurde; zum zweiten die anschließende Periode der Schriftkultur bis hin zu den Gelehrten im Alexandria des dritten und zweiten Jahrhunderts v. Chr., deren zusammengestückelte Redaktion die heute geläufige Version der Dichtung ist. Was die zuletzt genannte Periode angeht, so ist zweifellos davon auszugehen, daß Unterschiede zwischen den verschiedenen Niederschriften existierten, und ebenso auch davon, daß Zusätze und Abwandlungen, ja sogar Geschehnisse, die zu anderen Zeiten an anderen Orten stattgefunden hatten, vom Sog dieser einen und einzigen furiosen Geschichte angezogen und erfaßt wurden. Doch dürfte der Spielraum für derartige Hinzufügungen immer sehr beengt
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gewesen sein: einesteils durch die – in der gesamten übrigen Literatur Griechenlands belegte – Ehrfurcht, die das Epos seinerzeit, wie allenthalben, so erst recht bei Schriftkundigen genoß; zum andern durch die Bedingungen des mündlichen Vortrags. Öffentlich vorgetragen wurde die «Ilias» bei den verschiedensten Gelegenheiten, in erster Linie jedoch bei den alle vier Jahre in Athen stattfindenden «Panathenäen», wo sie zusammen mit der «Odyssee» von den sogenannten Rhapsoden vor einer gewaltigen Zuschauermenge hingebungsvoll rezitiert wurde. Es ist daher in höchstem Grad wahrscheinlich, daß die «Ilias», wie wir sie kennen, mit Ausnahme einzelner Stellen (wie zum Beispiel die Episode um den Hinterhalt, in den der Späher Doion gerät, und die Anspielungen auf den Hades), in denen die moderne Forschung Einschübe aus späterer Zeit erkennt – ich sage, es ist höchst wahrscheinlich, daß die «Ilias» in ihrer heutigen Gestalt weitgehend dem entspricht, was im neunten Jahrhundert v. Chr. erstmals schriftlich aufgezeichnet wurde. Doch davor, im Dämmergrau der Frühzeit, lassen sich schattenhaft die Gestalten der aoidoi ausmachen. Und mit Sicherheit waren sie es, die nach und nach die ursprüngliche Geschichte veränderten. Orale, mündlich tradierte Dichtung ist ein anderes – ein vollkommen anderes – Genre als geschriebene Dichtung.6 Orale Dichtung will anders – vollkommen anders – gelesen und beurteilt werden. Schöpfung und Vortrag sind bei ihr nicht zu trennen; sie bilden eine simultane Ganzheit. Und jede Neuschöpfung der «Ilias» im raschen Wechsel der Generationen erfolgte auf der Basis des auditiven Gedächtnisses und eines zur Zunfttradition gehörenden Fundus von Versatzstücken: vorgefertigte Sprachformeln von unterschiedlicher Länge und vorgestanzte Handlungsschemata, auf die der aoidos jederzeit zurückgreifen konnte, wenn sein Gedächtnis in bezug auf Wortlaut oder Handlungsfolge versagte. Und diese Praxis war 6
Vergleiche hierzu Milman Parry, Collected Papers, New York: Oxford University Press 1971. Ich danke Randall Warner und Judith Griessman für unsere Gespräche über dieses Thema.
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maßgebend für die Dauer der ersten drei, vier Jahrhunderte im Anschluß an den historisch-faktischen Krieg. Die «Ilias» spiegelt also nicht so sehr das gesellschaftliche Leben in und um Troja wider als vielmehr verschiedene Etappen der Sozialgeschichte vom Trojanischen Krieg bis zum Beginn der Schriftkultur. Nimmt man das Epos als soziologisches Dokument, so ist dem zitierten Einwand in der Tat nichts entgegenzusetzen. Indes, unter psychologischem Aspekt sieht der Fall ganz anders aus. Wie hat man sich diese Götter zu erklären? Wie ihr spezielles Verhältnis zu diesem oder jenem Menschen? Meine Argumentation knüpft vor allem an zwei Fakten an: 1. das Fehlen eines mentalen Ausdrucksfelds in der Sprache der «Ilias» und 2. die handlungseinleitende Wirkung der Götter. Beides hat weder mit archäologischen Befunden zu tun, noch dürfte es der Erfindungsgabe der aoidoi zuzuschreiben sein. Jeder Versuch einer Erklärung dieser Fakten verlangt nach dem Menschenbild einer psychologischen Theorie als seinem theoretischen Ort. Als Ausnahme hiervon käme allenfalls der folgende Einwand in Betracht. Einwand: Bauschen wir hier nicht etwas zu überdimensionaler Bedeutung auf, was im Grunde vielleicht nichts weiter ist als eine literarische Stilgepflogenheit? Sind die Götter nicht bloß Kunstgriffe der aoidoi, um die Handlung etwas dramatischer zu gestalten – Kunstgriffe, die womöglich in der Tat auf die ältesten mykenischen Sänger zurückgehen? Erwiderung: Dieser Einwand artikuliert das wohlbekannte Problem, vor dem wir stehen, wenn wir die Überdeterminierung des Handelns bedenken, die sich aus dem Eingreifen der Götter ergibt. Aus unserer Sicht erscheinen die Götter ziemlich überflüssig. Warum sind sie überhaupt da? Die allgemeine Antwort darauf lautet wie oben: Es handelt sich um einen dichterischen Kunstgriff. Weil die aoidoi nicht das nötige stilistische Raffinement besitzen, um psychologische Zusammenhänge angemessen ausdrücken zu können, verdoppeln sie die natürlichen Bewußtseinsursachen in einem Götterapparat, dessen Sinn und Zweck einfach nur darin besteht, jene psychologischen Zusammenhänge in anschau-
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lich-greifbarer Form darzustellen. Aber nicht nur fehlt es an Belegen dafür, daß die aoidoi eine bewußte Vorstellung von psychologischen Zusammenhängen gehabt hätten, der sie Ausdruck zu geben suchten; schon der Gedanke als solcher geht am ganzen Wesen und Charakter der Dichtung völlig vorbei. Die «Ilias» handelt von – Handlungen, sie ist förmlich vollgepackt mit ihnen: Eine reiht sich an die andere. Worum es hier geht, sind Achills Taten und deren Folgen, nicht sein Geisteszustand. Und was die Götter betrifft, so akzeptieren die Verfasser wie die Figuren der «Ilias» allesamt einmütig dieses göttliche Management der Welt als Selbstverständlichkeit. Zu behaupten, die Götter seien ein künstlerischer Notbehelf, wäre das gleiche, als wollte man sagen, Jeanne d’Arc habe der Inquisition nur deshalb von ihren Stimmen berichtet, um die ganze Angelegenheit für ihre Henker etwas abwechslungsreicher zu gestalten. Es ist nicht so, daß zuerst ein paar unbestimmt-allgemeine Vorstellungen von psychologischen Wirkungszusammenhängen aufgetreten wären, denen der Dichter dann mit der Erfindung von Göttern eine bildhaft-konkrete Ausdrucksform verlieh. Es ist – wie ich späterhin noch zeigen werde – genau umgekehrt. Und käme mir hier jemand mit der Erklärung, daß innerliche Gefühle von Macht oder innerliche Selbstermahnungen oder ein Versagen der Urteilskraft die Keime gewesen seien, aus denen sich der göttliche Herrschaftsapparat entwickelte, so würde ich dem entgegenhalten, daß gerade das Gegenteil der Fall ist: Das Auftreten von Stimmen, denen gehorcht werden mußte, war in jeder Hinsicht die Vorbedingung für das bewußte Geistesstadium, in dem der verantwortliche Entscheidungsträger ein Selbst ist, das sich innerlich mit sich selbst auseinandersetzen und sich Befehle und Direktiven geben kann; und: zustande gekommen ist dieses Selbst als Kulturprodukt. Wir sind gewissermaßen unsere eigenen Götter geworden. Einwand: Falls die bikamerale Psyche jemals existiert hat, müßte man für die fragliche Zeit eigentlich das nackte Chaos annehmen, solange da jedermann seinen eigenen privaten Hal-
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luzinationen folgte. Die einzig mögliche Form einer bikameralen Zivilisation wäre eine starre Hierarchie gewesen, in der die Menschen auf der untersten Stufe der Rangordnung die Stimmen ihrer nächsthöheren Gebieter halluzinierten und diese Gebieter wiederum die Stimmen der Nächsthöheren im Rang – und so weiter bis hinauf zu den Königen und ihren Pairs, in deren Halluzinationen die Götter auftraten. Die «Ilias» indes zeigt uns keinerlei vergleichbares Bild, sondern stellt statt dessen ganz das heroische Individuum in den Mittelpunkt. Erwiderung: Dies ist ein sehr begründeter Einwand, mit dem ich mich lange abgemüht habe wie mit einem Puzzle, das nicht aufgehen will. Er beschäftigte mich insbesondere während meiner Studien zur Geschichte von Bikameralkulturen, in denen dem individuellen Handeln bei weitem nicht die gleiche Freiheit eingeräumt war wie in der sozialen Welt der «Ilias». Als diejenigen Teile, mit denen mein Puzzle schließlich aufging, erwiesen sich die wohlbekannten Schrifttafeln aus Knossos, Mykene und Pylos. Sie sind in Altkretisch (Linear B) beschrieben und stammen unmittelbar aus der Zeit, die ich als die bikamerale Periode bezeichnen möchte. Diese Tafeln sind schon seit langem bekannt, haben sich jedoch auch beinahe ebenso lange schon selbst angestrengtesten Entzifferungsbemühungen widersetzt. Vor kurzem nun haben sie ihr Geheimnis preisgegeben: Es besteht in einer Silbenschrift, die die früheste, nur zu urkundlichen Zwecken verwendete Schriftform des Griechischen darstellt.7 Und das Bild der mykenischen Gesellschaft, das sich hier in Umrissen präsentiert, stimmt sehr viel besser mit der Hypothese von der bikameralen Psyche zusammen: Hierarchien von Beamten, Kriegern und Arbeitern; Inventarlisten und Listen von Abgaben, die an den Herrscher und speziell die Götter zu erbringen waren. Die reale Welt des Trojanischen Krieges hatte also 7
M. C. F. Ventris und J. Chadwick, Documents in Mycenaean Greek, Cambridge: Cambridge University Press 1973. Einen Überblick über diese Materie und ihren Zusammenhang mit der archäologischen Fundlage erhält man bei T. B. L. Webster, From Mycenae to Homer, London: Methuen 1958.
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nach Ausweis der historischen Fakten doch mehr von der starren Theokratie an sich, die man nach der Theorie erwarten durfte, als von jenem Zustand individueller Freiheit, von dem die «Ilias» kündet. Mehr noch: die gesamte Struktur des mykenischen Staatswesens unterscheidet sich ganz erheblich von dem in der «Ilias» geschilderten lockeren Verband von Kriegern. Tatsächlich ähnelt sie sehr den gleichzeitigen Priesterkönigtümern Mesopotamiens (auf die später eingegangen werden wird, insbesondere in Buch 2, Kap. 2). In jenen Urkunden in Linearschrift B trägt das Staatsoberhaupt den Titel wanax, der im späteren klassischen Griechisch ausschließlich den Göttern vorbehalten ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Land, das seine Hofhaltung beansprucht: Die Urkunden nennen es sein temenos; das Wort bezeichnet später das einer Gottheit geweihte Land, den heiligen Bezirk oder Hain. Das Wort für «König» lautet im späteren Griechisch basileus, auf jenen Tafeln indes bezeichnet es einen Menschen weit niedrigeren Ranges. Der basileus ist mehr oder weniger der erste Diener des wanax, so wie in Mesopotamien der menschliche Herrscher nur als Verwalter von Ländereien galt, deren wahrer «Eigentümer» der Gott war, dessen Stimme jener in seinen Halluzinationen hörte – wie wir in Buch 2, Kap. 2 noch genauer sehen werden. Der Informationsgehalt der Linearschrifttafeln ist nicht einfach zu erschließen, doch unverkennbar bezeugen sie die hierarchische Stufenordnung einer zentral verwalteten absoluten Monarchie, von der sich in der mündlichen Dichtertradition, aus welcher in der Abfolge der Generationen schließlich die «Ilias» hervorging, absolut nichts mehr wiederfindet. Diese Lockerung des Sozialgefüges in der fertig ausgeformten «Ilias» mag zum Teil darauf zurückgehen, daß in die Stoffmasse des Trojanischen Krieges noch andere, sehr viel jüngere Erzählthemen mit eingearbeitet wurden. Eines der stärksten Indizien dafür, daß die «Ilias» ein In- und Nebeneinander unterschiedlicher Bearbeitungsstufen darstellt, ist die große Zahl von Ungereimtheiten im Text der Dichtung, manchmal sogar in engster Nachbarschaft. So heiß es zum Beispiel einmal,
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als Hektor sich vom Schlachtfeld entfernt (6, 117): «Und vom Hals zu den Knöcheln umschlug ihn das schwärzliche Leder.» Das kann sich nur auf den alten mykenischen Körperschild beziehen. Doch schon die nächste Zeile spricht vom «äußersten Rand des genabelten Schildes», also von einem ganz anderen, sehr viel jüngeren Schildtyp. Zweifellos handelt es sich bei dieser Zeile um die Hinzufügung eines Dichters aus späterer Zeit, der in seiner auditiven Trance noch nicht einmal visualisierte, was er vortrug. Wie wir in einem späteren Kapitel noch genauer sehen werden, haben wir es mit jener chaotischen Geschichtsperiode zu tun, in der die bikamerale, die «ZweiKammer»-Psyche unter dem Druck der Umstände versagt, zusammenbricht und untergeht, während zugleich das subjektive Bewußtsein aufkommt. Wir dürfen also von der «Ilias» in der uns überlieferten Gestalt von vornherein nichts anderes erwarten, als daß sie sowohl diesen Zusammenbruch des hierarchischen Staatswesen als auch die fortschreitende Subjektivierung widerspiegelt. Tatsächlich habe ich auf den vorausgegangenen Seiten einige Einzelheiten übergangen, die nicht mit meiner Theorie zusammenstimmen und die ich für solche Einschübe halte. An diesen Stellen äußert sich etwas, was dem subjektiven Bewußtsein sehr nahe kommt; aber wir haben nach dem Urteil der Forschung in all diesen Fällen Textstücke vor uns, die nicht Bestandteil des Kerngedichts sind, sondern spätere Hinzufügungen.8 So spricht beispielsweise der Neunte Gesang, der erst nach der Großen Wanderung und der griechischen Kolonisation in Kleinasien verfaßt und in die Dichtung eingefügt wurde, von Betrug und bewußter Täuschung unter Menschen in einer Weise, die aus dem Rahmen des übrigen herausfällt. Die meisten einschlägigen Stellen finden sich in der großen Erwiderungsrede des Achilleus an Odysseus, deren Thema die Behandlung ist, die ihm, Achill, von Agamemnon widerfuhr (9, 344; 371; 375). Besonders bemerkenswert ist Achills Seitenhieb auf Agamemnon: «Denn verhaßt wie die 8
Ich stütze mich hier auf Walter Leaf, A Companion to the Iliad, London: Macmillan 1892, S. 170-173.
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Tore des Hades ist immer der Mann mir, der im Herzen es anders verbirgt, wie anders er redet» (9, 312 f). Ganz unbestreitbar äußert sich hier ein subjektives Bewußtsein. Das gleiche ist vielleicht der Fall in den schwer zu übersetzenden Optativkonstruktionen Helenas (3, 173 ff; 6, 344 ff) und in Nestors unverkennbarer Erinnerungstätigkeit (1, 260 ff). Außerdem begegnet zweimal der ungewöhnliche Fall, daß einer der Helden mit sich selber spricht: zuerst Agenor (21, 553), später Hektor (22, 99 ff). Beide Selbstgespräche tauchen im Schlußteil der Dichtung auf, und zwar nicht weit entfernt voneinander; ihr Inhalt paßt durchaus nicht in den zuvor abgesteckten Rahmen (sie zeichnen den Charakter des Sprechers im Widerspruch zum übrigen Text); und bestimmte Redewendungen oder Zeilen kommen stereotyp in der einen wie in der anderen Passage vor: Das alles legt den Schluß nahe, daß es sich um formelhafte Ausschmückungen handelt, die von ein und demselben aoidoi zu einem späteren Zeitpunkt vorgenommen wurden.9 Zu einem nicht sehr viel späteren Zeitpunkt freilich. Denn der Vorgang als solcher wird noch als so ungewöhnlich empfunden, daß sich sogar die Akteure der Handlung überrascht zeigen. Nach dem Selbstgespräch brechen beide Helden, jeder mit exakt den gleichen Worten, in den verwunderten Ausruf aus: «Doch weshalb sagt mein Leben dies zu mir?» Wären derartige Ansprachen an das eigene Selbst so gewöhnliche Vorkommnisse gewesen, wie sie es hätten sein müssen, wenn die Sprecher wirklich ein Bewußtsein gehabt hätten, dann wäre hier eigentlich kein Anlaß zur Verwunderung gegeben. Wir werden auf die zitierten Beispielfälle bei späterer Gelegenheit zurückkommen, wenn wir uns ausführlicher mit der Frage nach den Entstehungsbedingungen des Bewußtseins beschäftigen.10 9 Auch Leaf (a. a. O., S. 3 5 6) hält diese beiden Stellen für unecht. 10 Man könnte sich eine weitergehende Untersuchung in dieser Richtung so denken, daß man – der in der Forschung vertretenen «Erweiterungstheorie» folgend – die chronologische Datierung der nach und nach zum «Kerngedicht» hinzugekommenen Einschübe unternimmt, um dann zu zeigen, daß die Häufigkeit, mit der solche offenkundigen Subjektivismen auftreten, desto größer, je jünger die fragliche Hinzufügung ist.
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Die älteste in ihrer Sprache uns wirklich verständliche Schrifturkunde der Menschheit bezeugt bei objektiver Betrachtung eine Mentalität, die sich von der unsrigen gewaltig unterscheidet. Diesen Sachverhalt zu erweisen war die Hauptaufgabe dieses Kapitels, und nach meinem Dafürhalten kann ihm hiernach mit guten Gründen nicht mehr widersprochen werden. Soweit in der «Ilias» gelegentlich Fälle von Narrativierung oder Reflexion in einem Bewußtseinsraum auftreten, handelt es sich nach Ansicht der Spezialforschung um vergleichsweise spät abgefaßte Partien. Der weitaus überwiegende Teil der Dichtung belegt bündig das Fehlen eines reflexiven Bewußtseins und weist in die Vergangenheit zurück auf eine ganz anders geartete Menschennatur. Da die griechische Kultur bekanntlich sehr rasch eine Literatur der reflektierten Bewußtheit hervorbrachte, können wir die «Ilias» als Markstein im großen Umbruch der Zeiten betrachten, als einen Durchblick in jene Zeiten ohne Subjektivität, wo jedes Königtum seinem Wesen nach eine Theokratie war und jeder Mensch der Sklave von Stimmen, die sich ihm in jeder neuartigen Situation zu hören gaben.
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VIERTES KAPITEL Die bikamerale Psyche
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MENSCHENWESEN mit Bewußtsein. Wir bemühen uns um ein Verständnis des menschlichen Wesens. Im vorigen Kapitel gelangten wir zu der aberwitzig anmutenden Hypothese, daß es eine Zeit gegeben hat, in der das menschliche Wesen in zwei Teile zerfiel: einen Lenker und Leiter namens Gott und einen Gefolgsmann namens Mensch. Keiner von beiden hatte Bewußtsein. Für uns ist das nahezu unbegreiflich. Und da wir unsererseits mit Bewußtsein ausgestattet sind und uns um ein Verständnis der Dinge bemühen, bemühen wir uns, diesen Sachverhalt mit einem anderen Sachverhalt zu vergleichen, der uns aus eigener Erfahrung vertraut ist – denn dies, so sahen wir im Zweiten Kapitel, ist das Wesen des Verstehens. Und dies ist es auch, was ich im nun folgenden Kapitel tun will. IR SIND
DER BIKAMERALE MENSCH Was die menschliche Seite betrifft, so gibt es da wenig zu sagen, was sie uns vertraut machen könnte, es sei denn, man greift zurück auf das Erste Kapitel und ruft sich in Erinnerung, was alles wir ohne Mitwirkung des Bewußtseins leisten. Doch wie unbefriedigend bleibt eine solche Liste von Negativa. Irgendwie verspüren wir dennoch den Wunsch, uns in Achilleus einzufühlen. Wir meinen noch immer, es müsse doch eigentlich – nein, es muß da unbedingt etwas in seinem Innern vor sich gehen, was er denkt und fühlt. Das heißt, genauso, wie wir es mit uns selbst und unseren Zeitgenossen machen, versuchen wir auch im Innern von Achilleus einen Bewußtseinsraum und eine Analogwelt der Verhaltenswelt zu fingieren. Aber diese Fiktion, so behaupte ich, ist in bezug auf die Griechen jener Epoche sinnlos!
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Vielleicht kann uns die Metapher von etwas, was dem fraglichen Zustand nahekommt, weiterhelfen. Am Steuer meines Autos sitze ich nicht wie jemand, der sich selbst vom Rücksitz aus Anweisungen gibt, wie er zu fahren hat, sondern ich bin jederzeit ohne viel Bewußtsein in meinem Tun als Fahrer «drin».1 Tatsächlich wird es in aller Regel sogar so sein, daß mein Bewußtsein mit ganz anderen Dingen als dem Fahren befaßt ist, etwa in einer Unterhaltung mit Ihnen befangen, wenn Sie zufällig mein Fahrgast sein sollten, oder auch mit Nachdenken über den Ursprung des Bewußtseins beschäftigt. Das Verhalten meiner Hände, meiner Füße und meines Kopfes spielt sich demgegenüber fast in einer anderen Welt ab. Wenn ich etwas berühre, werde ich berührt; wenn ich den Kopf wende, wendet sich die Welt mir zu; über den Blick stehe ich mit einer Welt in Beziehung, der ich unmittelbar gehorche – gehorche in dem Sinn, daß ich beispielsweise mit dem Wagen auf der Fahrbahn bleibe und ihn nicht auf den Gehsteig lenke. Und nichts von alledem ist mir bewußt. Und auf gar keinen Fall ist es Gegenstand meines logischen Denkens. Ich bin hineingenommen – unbewußt verstrickt, wenn man so will – in ein Globalsystem anhaltender Stimulierungswiderspiele zwischen den Polen «gefährlich» und «sicher», «angenehm» und «unangenehm», wobei ich auf Veränderungen der Verkehrslage und bestimmte Einzelheiten der Situation erschrocken oder gelassen, zuversichtlich oder ängstlich reagiere, während mein Bewußtsein unterdessen noch immer mit anderen Dingen befaßt ist. Ziehen Sie nun von dem Ganzen einfach das Bewußtsein ab, dann haben Sie eine Vorstellung davon, was es heißt, ein bikameraler Mensch zu sein. Für ihn besteht die Welt in der Gesamtheit dessen, was ihm widerfährt, und ein unabtrennbarer Bestandteil davon ist sein eigenes Tun, das ohne jegliches Bewußtsein erfolgt. Und jetzt stellen Sie sich vor, daß 1
Den Einfall für dieses Beispiel verdanke ich Erwin W. Straus’ aufschlußreichem Aufsatz «Phenomenology of Hallucinations», in: Hallucinations, hg. von L.J. West, New York: Grune & Stratton 1962, S. 220-232.
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auf einmal eine nie dagewesene Situation eintritt – weiter vorn auf der Straße hat ein Unfall stattgefunden, oder eine Straßensperre taucht auf, oder ein Reifen am Auto platzt, oder der Motor streikt – und siehe da!, unser bikameraler Mensch verhält sich nicht so, wie Sie und ich uns verhalten würden: Wir würden nämlich in jedem dieser Fälle unser Bewußtsein rasch und energisch der Sache zuwenden, um eine Narrativierung davon zu schaffen, was als nächstes zu tun sei. Er dagegen müßte auf die bikamerale Stimme warten, mit der seine aufgespeicherte praktische Lebensweisheit ihm ohne Dazwischenkunft von Bewußtsein mitteilen würde, wie er sich zu verhalten hat. DER BIKAMERALE GOTT Aber was hat es mit solchen Gehörshalluzinationen auf sich? Manche Menschen finden es ja schon schwierig, sich auch nur die Möglichkeit von inneren Stimmen vorzustellen, die mit derselben Erlebnisqualität vernommen werden wie äußerlich produzierte Sprachlaute. Schließlich existiert im Gehirn kein Mund und kein Kehlkopf! Gleichgültig, welche Gehirnzentren an ihrem Zustandekommen beteiligt sind – es steht auf alle Fälle mit absoluter Sicherheit fest, daß es solche Stimmerlebnisse gibt und daß sie sich in nichts von der Wahrnehmung realer Laute unterscheiden. Zudem ist es höchst wahrscheinlich, daß die bikameralen Stimmen der Antike ganz ähnlich beschaffen waren wie die Gehörshalluzinationen von Menschen unserer Zeit. Viele vollkommen normale Menschen erleben, mit Gradunterschieden, solche Halluzinationen. Häufig ist der Fall, daß man unter Streß die tröstende Stimme einer Elternfigur vernimmt. Unter Streß ... oder bei der Beschäftigung mit einem hartnäckigen Problem. Ich war Ende Zwanzig und lebte damals allein in einer Wohnung auf dem Beacon Hill in Boston, wo ich seit ungefähr einer Woche in intensiven und einsamen Grübeleien einigen der im vorliegenden Buch berührten Pro-
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bleme nachhing, insbesondere der Frage nach dem Wesen der menschlichen Erkenntnis, und wie wir überhaupt etwas erkennen können. Meine Pros und Kontras kreisten ziellos in den stellenweise ätherischen Nebeln der Erkenntnistheorien herum, auf vergeblicher Suche nach einem Landeplatz. Eines Nachmittags legte ich mich in einem Anfall geistiger Verzweiflung auf dem Sofa nieder. Plötzlich erklang mitten in die absolute Stille hinein eine kräftige Stimme; sie kam von irgendwo rechts über mir und sagte laut und vernehmlich: «Mach den Erkennenden zum Bestandteil des Erkannten!» Mich riß es hoch, und mit dem verblüfften Ausruf «Ist da jemand?» hielt ich im Zimmer Ausschau nach diesem Jemand. Die Stimme war von einer ganz bestimmten Stelle hergekommen. Niemand dort! Niemand zu finden auch in den angrenzenden Räumlichkeiten, wo ich verdattert nachsah. Ich halte jene kryptische Tiefsinnigkeit nicht für eine göttliche Eingebung, aber ich glaube, daß der Vorfall dem ähnelt, was Menschen erlebten, die sich in der Vergangenheit für göttlich Auserwählte meinten halten zu dürfen. Derartige Stimmen können bei durchaus normalen Menschen mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftreten. Im Anschluß an meine Vorträge über die Theorien dieses Buches erlebte ich immer wieder mit Überraschung, wie Zuhörer mich aufsuchten, um mir von ihren Stimmen zu berichten. Die junge Ehefrau eines Biologen erzählte, daß sie fast jeden Morgen beim Bettenmachen und während ihrer Hausarbeit eine ausgedehnte, aufschlußreiche und amüsante Unterhaltung mit ihrer verstorbenen Großmutter führe, wobei sie die Stimme der Großmutter höre, als ob sie wirklich da wäre. Den entgeisterten Ehemann traf diese Neuigkeit wie ein Schlag: Seine Frau hatte nie zuvor mit ihm darüber gesprochen, weil «Stimmen hören» im allgemeinen als ein Symptom des Wahnsinns gilt. Was es bei psychisch gestörten Menschen natürlich auch ist. Infolge des Nimbus von Grauen, in den diese Krankheit gehüllt ist, wird über das tatsächliche Ausmaß solch regelmäßiger Gehörshalluzinationen bei psychisch Gesunden so gut wie nichts bekannt.
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Die einzige ausführliche Arbeit auf diesem Gebiet ist eine dürftige Erhebung britischen Ursprungs aus dem vorigen Jahrhundert.2 Erfaßt wurden nur Halluzinationen von solchen psychisch Gesunden, die sich auch sonst des besten Wohlbefindens erfreuten. Von 7717 Männern hatten 7,8 Prozent zu irgendeiner Zeit in ihrem Leben Halluzinationen gehabt. Bei den 7599 weiblichen Probanden betrug der entsprechende Anteil 12 Prozent. Die stärkste Gruppe unter den halluzinierenden Probanden bildeten die Zwanzig- bis Neunundzwanzigjährigen – übrigens die gleiche Altersgruppe, in der auch die Schizophrenie am verbreitetsten ist. Gesichtshalluzinationen waren doppelt so häufig wie Gehörshalluzinationen. Auch nationale Unterschiede wurden festgestellt. In Rußland war die Häufigkeit von Halluzinationen doppelt so hoch wie im allgemeinen Durchschnitt. In Brasilien lag sie sogar noch höher infolge des beträchtlich verstärkten Vorkommens von Gehörshalluzinationen. Warum und weshalb das so ist, bleibt der Spekulation des Lesers überlassen. Zu den Mängeln dieser Studie zählt nicht zuletzt die Verkennung der Tatsache, daß in einem Land, wo Gespenstererscheinungen zu den interessantesten Themen des Alltagsklatsches zählen, wohl kaum mit Sicherheit auszumachen ist, was tatsächlich halluzinatorisch gesehen und gehört wurde. Es besteht ein prononciertes Bedürfnis nach neuen und besseren Erhebungen dieser Art.3 Halluzinationen bei Psychotikern Gehörshalluzinationen, wie sie den bikameralen Stimmen ähneln, sind natürlich bei Schizophreniekranken am häufigsten anzutreffen und am besten zu studieren. Letzteres ist freilich heutzutage keine ganz einfache Sache mehr. Schon beim Verdacht auf Halluzinationen unterzieht man akute Psychosefälle 2 3
Henry Sidgewick u. a., Report on The Census of Hallucinations, Proceedings of the Society for Psychic Research 34 (1894), S. 25-394. Ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen soll, liefert D. J. West, A MassObser-vation Questionnaire on Hallucinations, Journal of the Society for Psychic Research 34/1948, S. 187-196.
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einer speziellen Chemotherapie, die das Halluzinieren unterbindet. Diese Vorgehensweise ist einigermaßen fragwürdig; sie dürfte nicht so sehr dem Besten des Patienten als vielmehr den Interessen der behandelnden Klinik dienen, wo man in erster Linie Wert darauf legt, eine rivalisierende Instanz bei der totalen Kontrolle über den Patienten auszuschalten. Bis dato ist jedoch völlig unbewiesen, daß halluzinierende Patienten therapieresistenter wären als andere. Nach dem Urteil ihrer Mitpatienten sind sie vielmehr im Vergleich mit Schizophreniekranken ohne Halluzinationen freundlicher, weniger querulant, liebenswürdiger und ihrer Umwelt gegenüber positiver eingestellt.4 Selbst in Fällen, wo die halluzinierten Stimmen scheinbar negative Effekte zeitigen, ist nicht auszuschließen, daß sie den Therapieverlauf im ganzen günstig beeinflussen. Aber wie immer dem sei: seit es die Chemotherapie gibt, sind Halluzinosefälle weit seltener als zuvor anzutreffen. Aus neueren Untersuchungen geht hervor, daß ihr Anteil unter den Psychosepatienten von Klinik zu Klinik schwankt: von 50 Prozent im Bostoner City Hospital bis zu 30 Prozent in einer Klinik in Oregon5 und sogar noch darunter in Kliniken mit langfristig internierten Patienten, bei denen mit Sedativa in der Regel nicht gespart wird. Daher stütze ich mich im folgenden in verstärktem Maß auf die ältere Literatur über die Psychosen – wie etwa Bleulers klassische Arbeit –, wo eben auch die halluzinatorische Seite der Schizophrenie noch klarer beschrieben ist.6 Das gehört mit zur Sache, wenn wir uns eine Vorstellung von Wesen und Tragweite jener bikameralen Stim4 5 6
P. M. Lewinsohn, Characteristics of Patients with Hallucinations, Journal of Clinical Psychology 24 (1968), S. 423. P. E. Nathan, H. F. Simpson u. M. M. Audberg, A Systems Analytic Model of Diagnosis II: The Diagnostic Validity of Abnormal Perceptual Behavior, Journal of Clinical Psychology 25 (1969), S. 115-136. Eugen Bleuler, Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien, in: Handbuch der Psychiatrie, hg. von G. Aschaffenburg, Spezieller Teil, (B), 4. Abt., 1. Hälfte, Leipzig: Franz Deuticke 1911. Weitere Quellen für die folgenden Abschnitte sind meine eigenen Beobachtungen an/Gespräche mit Patienten, die jeweils in den Anmerkungen verzeichneten Schriften, mehrere Beiträge in dem oben zitierten Sammelband unter der Herausgeberschaft von L. J. West sowie eine Reihe unveröffentlichter Fallgeschichten.
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men verschaffen wollen, wie sie in den Kulturen der Frühzeit vernommen wurden. Die Eigenarten der Stimmen Die Stimmen der Schizophrenen nehmen ihren Wirten gegenüber jede erdenkliche Haltung ein. Sie machen Konversation, drohen, üben Kritik und geben Ratschläge; das alles häufig in knappen Sätzen. Sie ermahnen, trösten, verspotten, kommandieren oder führen manchmal auch lediglich die tönende Chronik der laufenden Ereignisse. Sie kreischen, winseln, höhnen und schwanken in der Lautstärke vom leisesten Flüstern bis zum donnernden Gebrüll. Häufig weisen die Stimmen irgendeine charakteristische Eigentümlichkeit auf; so etwa sprechen sie im einen Fall sehr langsam, im andern skandierend; in Reimen; in Rhythmen; sogar in irgendeiner Fremdsprache. Es kommt vor, daß der einzelne nur eine einzige, bestimmte Stimme hört; häufiger jedoch kommen sie zu mehreren und gelegentlich sogar zu vielen. Wie in den bikameralen Kulturen werden sie mit Göttern, Engeln, Teufeln, Unholden oder mit der oder jener bestimmten Person oder einem Verwandten identifiziert. Dann und wann werden sie jedoch auch einem künstlichen Gebilde zugeschrieben, welches an jene Skulpturen erinnert, die – wie wir noch sehen werden – in den bikameralen Monarchien in vergleichbarer Hinsicht eine so bedeutende Rolle spielten. Manchmal treiben die Stimmen den Kranken zur Verzweiflung, indem sie ihm befehlen, etwas Bestimmtes zu tun, um ihn dann, sobald der Befehl ausgeführt ist, mit giftigen Vorwürfen zu malträtieren. Manchmal ist die Rede einer Stimme dialogisch aufgebaut, so als würden sich zwei Menschen über den Kranken unterhalten. Manchmal sind die Rollen des Fürsprechers und des Widersachers auf zwei Personen verteilt. Während die Stimme seiner Tochter über einen Patienten erklärt: «Er wird verbrannt!», entgegnet die Stimme seiner Mutter: «Er wird nicht verbrannt.»7 In anderen Fällen schnat-
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tern mehrere Stimmen durcheinander, so daß der Patient nicht verstehen kann, was sie sagen. Lokalisierung und Funktion In manchen – insbesondere den sehr schweren – Fällen sind die Stimmen nicht lokalisiert. In der Regel jedoch sind sie es. Sie melden sich linker Hand, rechter Hand, von hinten, von oben, von unten; nur selten freilich kommt es vor, daß sie den Kranken geradewegs von vorn ansprechen. Dem Anschein nach können sie aus Mauern und Wänden dringen, aus dem Keller oder vom Dach, vom Himmel oder aus der Hölle, von nah oder weither kommen oder ihren Sitz in Körperteilen und Kleidungsstücken haben. Und manchmal ist es auch so, daß sie – wie ein Patient es ausdrückte – «das Wesen von all den Dingen annehmen, durch die sie sprechen – egal, ob sie nun aus der Wand kommen oder aus dem Ventilator oder ob sie sich in Wald und Flur bemerkbar machen»8. Manche Patienten lassen die Neigung erkennen, die guten, tröstenden Stimmen von rechts oben zu hören, während sich böse Stimmen eher von links und von unten melden. In ganz seltenen Fällen kommt es dem Patienten so vor, als kämen die Stimmen aus seinem eigenen Mund, zuweilen begleitet von dem Gefühl anschwellender Fremdkörper im Mund. Manchmal werden die Stimmen auf denkbar bizarre Weise orts- und dingfest gemacht. Ein Patient gab an, über jedem seiner Ohren hocke eine Stimme, die eine ein wenig größer als die andere – was an die Vorstellungen der alten Ägypter von dem «Ka» und dessen Darstellungen auf Pharaonenbildnissen gemahnt (wir werden später ausführlicher darauf eingehen). Sehr häufig kritisieren die Stimmen das Denken und Handeln der Patienten. Manchmal verbieten sie ihnen etwas, was sie sich gerade zu tun vorgenommen hatten. Und mitunter wird das Verbot bereits ausgesprochen, noch bevor der Patient 7 8
Bleuler, a. a. O., S. 80. T. Hennell, The Witnesses, London: Davies 1938, S. 182.
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seines Vorhabens gewahr wurde. «Ein intelligenter Paranoider aus dem Thurgau hegte feindliche Gefühle gegen seinen Wärter; als dieser ins Zimmer trat, sagte ihm die Stimme [noch bevor der Patient irgend etwas getan hatte] in tadelndem Ton: ‹So ein Thurgauer schlägt einen anständigen Privatwärter einfach nicht.›»9 Von immenser Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Umstand, daß das Nervensystem des Patienten einfache Wahrnehmungsurteile trifft, deren das «Selbst» des Patienten nicht gewahr ist. Und diese wiederum können – wie im zuletzt erwähnten Fall – in prophetisch wirkende Stimmen umgesetzt werden. Der Hausmeister kommt den Flur entlang und verursacht dabei ein leises Geräusch, dessen sich der Patient nicht bewußt ist. Dafür hört der Patient die halluzinierte Stimme rufen: «Da kommt wer auf dem Flur mit einem Eimer Wasser.» Die Tür geht auf – und die Prophezeiung ist erfüllt. Der Glaube an das hellseherische Vermögen der Stimmen wird auf diese Weise geboren und am Leben erhalten, und möglicherweise war das in der bikameralen Ära der Geschichte ganz genauso. Der Patient folgt dann nur noch seinen Stimmen, denen er wehrlos ausgeliefert ist. Falls die Stimmen unverständlich sind, verharrt er katatonisch starr und stumm, wartend, daß seine Stimme oder die Stimmen und Hände seiner Pfleger ihn in Form bringen. Während des Klinikaufenthalts unterliegt der Schweregrad der Krankheit in der Regel einem steten Wechsel, und häufig steht das Auftreten oder Ausbleiben der Stimmen mit diesem Oszillieren in Zusammenhang. Manchmal melden sie sich nur, sobald der Patient bestimmte Dinge tut oder sich in einer bestimmten Umgebung aufhält. Indes, zu der Zeit, als man die heute gebräuchliche Chemotherapie noch nicht kannte, gab es viele Patienten, die keinen Augenblick ihres wachen Lebens vor den Stimmen Ruhe hatten. Je schwerer die Krankheit, desto lauter die Stimmen, die in diesem Fall in der Außenwelt 9
Bleuler, a.a.O., S. 81.
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lokalisiert sind; je leichter das Krankheitsbild, desto mehr neigen die Stimmen dazu, nur als ein inneres Flüstern in Erscheinung zu treten; innerlich lokalisierte Stimmen haben manchmal ein verschwommenes Klangbild. Es kommt vor, daß ein Patient sie so beschreibt: «Es sind überhaupt keine wirklichen Stimmen, es sind bloß die nachgemachten Stimmen von toten Verwandten.» Besonders intelligente Patienten mit einer leichteren Form der Krankheit können oft nicht mit Sicherheit sagen, ob sie tatsächlich Stimmen hören oder ob sie nicht dem Denkzwang, sie zu hören, erliegen, etwa wie bei «hörbarem Denken», «tonloser Stimme» oder «Bedeutungshalluzination». Für Halluzinationen muß es eine angeborene Basis im Nervensystem geben. Das zeigt sich ganz klar, wenn man das Phänomen an Menschen untersucht, die von Geburt an oder seit frühester Kindheit taub sind: auch sie können – auf diese oder jene Weise – Gehörshalluzinationen haben, wie sich gemeinhin an tauben Schizophrenen beobachten läßt. Bei einer wissenschaftlichen Untersuchung beharrten 16 von 22. tauben Schizophreniepatienten darauf, daß sie irgendwelche Mitteilungen hörten.10 Eine seit ihrer Geburt taube zweiunddreißigjährige Frau, die nach einer medizinisch indizierten Abtreibung sich mit Selbstvorwürfen überhäufte, behauptete zu hören, wie Gott sie anklagte. Eine andere, ebenfalls taubgeborene Frau (50 Jahre alt) hörte übernatürliche Stimmen, die ihr okkulte Kräfte zusprachen. Die visuelle Komponente Gesichtshalluzinationen treten bei Schizophrenen nicht mit gleicher Regelmäßigkeit auf, gegebenenfalls jedoch zuweilen in äußerst klarer und lebhafter Form. Einer meiner Proban10 J. D. Rainer, S. Abdullah u. J. C. Altshuler, Phenomenology of Hallucinations in the Deaf, Origin and Mechanisms of Hallucinations, hg. von Wolfram Keup, New York: Plenum Press 1970, S. 449-465.
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den, eine lebenslustige junge Frau (Liedermacherin, 22 Jahre alt), saß einmal in einem geparkten Auto, wo sie seit geraumer Zeit mit einem gewissen Bangen auf eine Bekannte wartete. Von vorn auf der Straße kam ein blauer Wagen, der – sonderbarerweise – ohne ersichtlichen Grund seine Fahrt verlangsamte, die Farbe zu Rostbraun wechselte, dann zwei mächtige graue Flügel entfaltete und mit sanftem Flügelschlag über eine Hecke hinweg verschwand. Am meisten erschreckte sie jedoch der Umstand, daß die Menschen auf der Straße sich so verhielten, als sei nichts Außergewöhnliches vorgefallen. Was konnte anderes dahinterstecken, als daß sie sich irgendwie verschworen hatten, ihre Reaktionen vor meiner Probandin zu verheimlichen? Aber warum? Häufig führt erst die Narrativierung solcher Pseudo-Ereignisse im Bewußtsein, bei der ein Zusammenhang zwischen ihnen und der Welt rationalisiert wird, zur eigentlich tragischen Symptombildung. Interessant ist, daß bei tauben Schizophrenen, die keine Gehörshalluzinationen haben, oft Gesichtshalluzinationen auftreten, die Botschaften in Zeichensprache übermitteln. Eine Sechzehnjährige, ertaubt im Alter von acht Monaten, erging sich, zu den Wänden ihres Zimmers hin gestikulierend, in bizarren Unterhaltungen mit der Leere. Eine taubgeborene ältere Frau unterhielt sich mit ihrem halluzinierten Freund in Zeichensprache. Andere taube Patienten erwecken den Anschein, als seien sie unentwegt in Gespräche mit imaginären Personen vertieft, wobei sie einen Wortsalat aus Zeichensprache und Taubstummenalphabet benutzen. Eine Vierunddreißigjährige, die das Gehör im Alter von 14 Monaten verloren hatte, verbrachte ihr Leben in zügelloser Promiskuität, die mit heftigen Wutanfällen abwechselte. Bei der Aufnahme in die Klinik erklärte sie in Zeichensprache, jeden Morgen besuche sie ein weißgewandeter Geist, um ihr in Zeichensprache bisweilen entsetzenerregende Dinge zu sagen, die ihre Laune für den nachfolgenden Tag bestimmten. Eine andere taube Patientin spuckte regelmäßig ins Leere und gab dafür die Erklärung, sie spucke nach den Engeln, die dort versteckt auf der Lauer lägen. Ein dreißigjähriger von Geburt an tauber
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Mann, der friedfertiger eingestellt war, sah regelmäßig Engelputten und zwerghafte Menschenwesen um sich her und glaubte sich im Besitz eines Zauberstabs, mit dem er so gut wie alles, was er wollte, bewirken könne. Im akuten sogenannten Dämmerzustand werden zuweilen sogar am hellichten Tag komplette Szenen – häufig religiösen Inhalts – halluziniert: Der Patient sieht den Himmel offen, und Gott selbst spricht zu ihm. Manchmal erscheinen auch Schriftzeichen vor dem Patienten (wie bei Nebukadnezar). Ein Paranoid-Schizophrener sah im selben Moment, als der Pfleger ihm seine Medizin verabreichen wollte, das Wort «Gift» vor sich in die Luft geschrieben. In anderen Fällen passen sich die Gesichtshalluzinationen in die reale Umwelt ein, so zum Beispiel, wenn sie als Gestalten gesehen werden, die auf der Krankenstation herumspazieren oder auf dem Kopf des Arztes stehen (geradeso wie nach meiner Ansicht Athene dem Achilleus erschien). Wenn Gesichtshalluzinationen im Verein mit Stimmen auftreten, ist es mit großer Regelmäßigkeit der Fall, daß sie lediglich in einem Lichtschein oder Nebelschleier bestehen – so wie Thetis sich dem Achilleus oder wie Jahwe sich vor Moses zeigte. Die Auslösung der Götter Trifft unsere Annahme zu, daß die Halluzinationen Schizophrener der göttlichen Lenkung in der Antike vergleichbar sind, dann muß es für beide Erscheinungen einen gemeinsamen physiologischen Auslöser geben. Dieser ist nach meinem Dafürhalten nichts anderes als der Streß. Bei normalen Menschen ist, wie erwähnt, die Streßschwelle zur Halluzinationsauslösung extrem hoch; den meisten von uns müßten die Sorgen über dem Kopf zusammenschlagen, wenn wir anfangen sollten, Stimmen zu hören. Bei Menschen mit Psychoseneigung ist diese Schwelle jedoch deutlich niedriger: Bei der erwähnten jungen Liedermacherin bedurfte es nur eines längeren gespannten Wartens im geparkten Auto. Die Ursa-
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che ist, wie ich glaube, darin zu suchen, daß diese Menschen aus genetischen Gründen Abbauprodukte von streßerzeugtem Adrenalin nicht mit der gleichen Geschwindigkeit wie normale über die Nieren ausscheiden können, so daß diese Stoffe im Blut angereichert werden. Wir können annehmen, daß in der Ära der bikameralen Psyche die Streßschwelle zur Halluzinationsauslösung noch weit, weit niedriger lag als beim Normalmenschen wie auch dem Schizophrenen von heute. Der einzig erforderliche Streß war der, der auftritt, wenn irgend etwas hinzutretend Neuartiges an einer Situation eine Verhaltensänderung notwendig macht. Alles, womit nicht auf habitueller Basis fertig zu werden war, jeder Konflikt zwischen Leistungsanforderung und Erschöpfungsgrad, zwischen Angriffs- und Fluchtneigung, jede Wahl, wem man gehorchen und was man tun solle, kurzum alles, was irgendeine Entscheidung erforderte, reichte aus, um eine Gehörshalluzination zu bewirken. Es ist mittlerweile zweifelsfrei geklärt, daß Entscheidungsprozesse (und ich möchte den Ausdruck «Entscheidung» ohne jeden Beiklang von Bewußtsein verstanden wissen) genau das sind, was den Streß ausmacht. Ratten, die ein elektrisch geladenes Gitter überqueren müssen, um an Futter und Wasser zu gelangen, bekommen mit der Zeit Magengeschwüre.11 Eine einfache Elektroschockbehandlung der Ratten hat keineswegs diesen Effekt. Es bedarf dazu vielmehr des Schwebens im Konflikt oder des Stresses angesichts der Entscheidung, ob man jetzt das Gitter überqueren oder den damit verbundenen Effekt nicht doch vermeiden soll. Steckt man zwei Affen in eine Vorrichtung, die es einem von ihnen ermöglicht, einen periodischen Stromstoß in die Füße beider Affen zu unterbinden, wenn er mindestens einmal innerhalb von zwanzig Sekunden eine Taste drückt, dann bekommt der Affe, der die Entscheidungen trifft,
11 W. L. Sawrey u. J. D. Weisz, An Experimental Method of Producing Gastric Ulcers, Journal of Comparative and Physiological Psychology 49/1956, S. 269f.
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innerhalb von drei bis vier Wochen Magengeschwüre, der andere – genau im gleichen Maß geschockte – Affe dagegen nicht.12 Der entscheidende Faktor ist das Schweben in der Erfolgsungewißheit. Ist das Experiment dergestalt angelegt, daß ein Tier wirksam reagieren kann und sofort die Rückmeldung über den Erfolg erhält, dann treten keine derartigen ManagerGeschwüre (wie sie vielfach genannt werden) auf.13 Achilleus, von Agamemnon gedemütigt, halluziniert also im Entscheidungsstreß bei den grauen Gewässern Thetis aus dem Nebel. Hektor in der Qual der Wahl, ob er Trojas Mauern verlassen soll, um draußen vor den Toren mit Achilleus zu kämpfen, oder ob er besser in der Stadt bleibt, halluziniert also im Entscheidungsstreß die Stimme, die ihn nach draußen gehen heißt. Die göttliche Stimme macht dem Entscheidungsstreß ein Ende, bevor er überhaupt ein nennenswertes Ausmaß erreicht hat. Wären Achilleus und Hektor moderne Manager, Mitglieder einer Kultur, die ihre streßlindernden Götter unterdrückt hat, dann hätte wohl jeder von den beiden sein Päckchen von unseren psychosomatischen Leiden zu tragen.
DIE MACHT DES WORTES Wir können das Thema des Halluzinationsmechanismus nicht abschließen, ohne uns zuvor die wichtigste Frage gestellt zu haben: Warum werden diese Stimmen für real gehalten, warum wird ihnen gehorcht? Denn für objektiv wirklich werden sie zweifelsohne gehalten, und man folgt ihnen, als spräche aus ihnen die objektive Wirklichkeit selber – folgt ihnen sogar gegen das Zeugnis der Erfahrung und gegen noch soviel gesun-
12 J. V. Brady, R. W. Porter, D. G. Conrad u. J. W. Mason, Avoidance Behavior and the Development of Gastro-Duodenal Ulcers, Journal of the Experimental Analysis of Behavior 1/1958, S. 69-72. 13 J. M. Weiss, Psychological Factors in Stress and Disease, Scientific American 226/1972, S. 106.
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den Menschenverstand. Ja, die Stimmen, die der Patient hört, sind für ihn wirklicher als selbst die Stimme seines Arztes. Mitunter spricht er das auch aus. «Wenn das keine wirkliche Stimme ist, dann könnte ich genausogut sagen, daß – Sie selber in diesem Augenblick nicht wirklich mit mir sprechen», sagte ein Schizophrener zu den behandelnden Ärzten. Und ein anderer antwortete auf die entsprechenden Fragen so: Unbedingt. Ich höre deutlich Stimmen, sogar ziemlich laute. Sie reden uns in diesem Moment dazwischen. Ich kann diese Stimmen besser verstehen, als ich Sie verstehe. Es leuchtet mir mehr ein, was sie sagen und daß es sie wirklich gibt, und sie stellen keine Fragen.14
Daß er als einziger diese Stimmen hört, tut für den Schizophrenen nicht viel zur Sache. Zuweilen ist ihm so, als stelle dies eine Gabe, eine Auszeichnung für ihn dar, als sei er von göttlichen Mächten auserwählt und erhöht worden. Und dies sogar dann, wenn die Stimmen ihn mit grimmigen Vorwürfen überhäufen, ja selbst wenn sie ihn in den Tod schicken. Es ist, als sei er schutz- und wehrlos irgendwelchen elementaren Mächten der Klangwelt ausgeliefert: Mächte, die realer sind als Wind und Regen und Feuer, Mächte, die ihn verhöhnen, bedrohen und trösten, Mächte, von denen er sich nicht lösen, die er nicht aus objektiver Distanz betrachten kann. Vor nicht allzu langer Zeit lag an einem sonnigen Nachmittag ein Mann in einem Liegestuhl am Strand von Coney Island. Plötzlich hörte er eine Stimme, und zwar so laut und deutlich, daß er zu seinen Freunden hinsah in der festen Überzeugung, sie müßten die Stimme gleichfalls gehört haben. Aber sie verhielten sich, als sei nichts geschehen, und so hatte der Mann auf einmal ein etwas sonderbares Gefühl und rückte mit seinem Liegestuhl von den anderen weg. Und da ... ... auf einmal fuhr die sonore Stimme wieder auf mich los, jetzt noch deutlicher, noch sonorer und sogar noch lauter als vorher, und diesmal mir direkt ins Ohr, so daß ich innerlich zusammenschrak und zitterte. «Larry Jayson, ich hab dir gerade gesagt, daß du nichts wert 14 Hennell, a.a.O., S. 181f.
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bist. Wieso sitzt du hier herum und tust so, als ob du genausoviel wert wärst wie andere, wo das doch gar nicht stimmt? Wen willst du damit anschmieren?»
Die sonore Stimme hatte so laut und deutlich gesprochen – jeder mußte sie gehört haben. Der Mann stand auf und ging langsam davon, von der hölzernen Strandpromenade über die Bohlentreppe zu dem schmalen Sandstreifen hinunter. Er wartete, ob die Stimme wiederkommen würde. Und sie kam wieder – diesmal ihm jedes Wort einzeln einhämmernd, nicht so wie Wörter sonst klingen, sondern sonorer, ... als ob jedes Stückchen von mir sich in ein Ohr verwandelt hätte, so daß meine Finger die Worte hörten und meine Beine und auch mein Kopf. «Du bist nichts wert», sagte die Stimme im gleichen sonoren Ton. «Nie warst du auch nur einen Pfifferling wert oder auf der ganzen Welt zu irgend etwas nütze. Da ist das Meer. Am besten, du ersäufst dich gleich. Geh einfach rein und dann weiter und immer weiter.» Sobald die Stimme geendet hatte, wußte ich aus ihrem ungerührten Befehlston, daß ich ihr gehorchen mußte.15
Der Kranke auf dem zerstampften Sand von Coney Island hörte die Stimme genauso deutlich, wie Achilleus Thetis hörte am nebelverhangenen Strand der Ägäischen See. Und genau wie Agamemnon dem «ungerührten Befehlston» des Zeus «gehorchen mußte» oder wie Paulus vor Damaskus dem Befehl Jesu gehorchte, genauso watete Mr. Jayson in den Atlantik hinaus, um den Tod durch Ertrinken zu suchen. Rettungsschwimmer durchkreuzten den Willen seiner Stimme – er wurde aus dem Wasser gezogen und in die Bellevue-Klinik gebracht, wo er sich so weit erholte, daß er einen Bericht über sein bikamerales Erlebnis abfassen konnte. In manchen weniger schweren Fällen lernen die Kranken, wenn sie sich erst einmal an die Stimmen gewöhnt haben, eine objektive Einstellung zu ihnen anzunehmen und ihren Autoritätsdruck einigermaßen abzufedern. Aber fast in allen Autobiographien von Schizophrenen ist jedenfalls im Hin15 L. N. Jayson, Mania, New York: Funk & Wagnall 1937, S.1-3.
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blick auf die Anfangsphase des Leidens durchgängig von rückhaltloser Unterwerfung unter das Kommando der Stimme die Rede. Wie das? Wieso besitzen diese Stimmen solche Autorität, sei es in Argos, sei’s auf der Straße nach Damaskus oder sei’s am Strand von Coney Island? Das Gehör nimmt unter den Sinnesmodalitäten eine Sonderstellung ein. Wir können es nicht manipulieren. Wir können uns Laute nicht vom Leib halten. Wir können ihnen nicht den Rücken kehren. Wir können die Augen schließen, uns die Nase zuhalten, einer Berührung ausweichen, uns weigern, etwas zu kosten. Unsere Ohren können wir nicht schließen in dem Sinn, daß wir die Gehörswahrnehmung vollständig auf Null bringen: Wir können sie allenfalls dämpfen, indem wir uns die Ohren verstopfen. Von allen Sinnesmodalitäten ist das Gehör die am wenigsten willkürlich beherrschbare, und hier, in diesem Bereich, sind wir zugleich im Medium der komplexesten aller evolutionären Errungenschaften – der Sprache. Wir haben es also mit einem ziemlich weitreichenden und verwickelten Problem zu tun. Die Beherrschung des Gehorchens Überlegen wir einmal, was es bedeutet, einem anderen, der spricht, zuzuhören und ihn zu verstehen! In gewissem Sinn müssen wir selbst dieser andere werden, oder vielmehr: wir lassen ihn momentweise einen Teil von uns selber werden. Wir bringen die eigene Identität in Schwebe, um hernach wieder zu uns zu kommen und dem Gesagten entweder beizupflichten oder es zu verwerfen. Doch in jenem transitorischen Augenblick der gewissermaßen leeren Identität besteht das Wesen des Verstehens von Sprache; und wenn es sich bei der fraglichen Sprachäußerung um einen Befehl handelt, wird die Identifikation im Verstehen zum Gehorchen. Hören ist in Wahrheit eine Art von Gehorchen. In der Tat haben beide Wörter dieselbe Wurzel, waren also sehr wahrscheinlich ursprünglich einmal ein und dasselbe Wort. Dies trifft für die griechische,
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lateinische, hebräische, französische und die russische Sprache ebenso zu wie für das Deutsche mit seinem Wort «gehorchen»; der lateinische Ausdruck oboedire, ein Kompositum aus ob + audire, bedeutet «jemandem von Angesicht zu Angesicht zuhören»: ein in unserem Zusammenhang besonders aufschlußreiches Beispiel.16 Die Frage ist jetzt, wie man derartigen Gehorsam unter die eigene Willensherrschaft bringt. Das geschieht auf zweierlei Weise. Die erste und weniger wichtige Methode beruht in nichts anderem als in der räumlichen Entfernung. Denken Sie etwa daran, wie Sie sich verhalten, wenn jemand mit Ihnen spricht. Sie nehmen die dem etablierten Standard Ihrer Kultur entsprechende Distanz zum Sprecher ein.17 Kommt er Ihnen zu nahe, wirkt das so, als wolle er Ihr Denken allzu unvermittelt beherrschen. Nicht nahe genug, beherrscht er es nicht genug, damit sie ihm zwanglos folgen können. Sollten Sie in einem arabischen Land zu Hause sein, ist «zwanglos» ein Abstand von weniger als dreißig Zentimetern von Gesicht zu Gesicht. In nördlicheren Breiten dagegen wird ein Höchstmaß an Zwanglosigkeit erst bei einer Gesprächsdistanz empfunden, die mehr als das Doppelte beträgt; derartige kulturelle Differenzen können im internationalen Verkehr auf gesellschaftlicher Ebene zu mancherlei Mißverständnissen führen. Mit jemandem aus geringerem Abstand als dem gesellschaftlich üblichen Worte zu tauschen heißt, sich zumindest spielerisch oder versuchsweise auf wechselseitiges Dominanz-Unterordnungs-Verhalten einzulassen: man denke an das trauliche Zusammensein verliebter Paare oder an zwei junge Burschen, die drauf und dran sind, sich zu prügeln, aber vorerst einander mit vorge16 Straus, a.a.O., S. 229. 17 Wem an einer vertieften Darstellung dieser Fragen gelegen ist, der findet sie in Edward T. Halls The Hidden Dimension (New York: Doubleday 1966), wo insbesondere die kulturellen Varianzen behandelt werden, sowie in Robert Sommers Personal Space: The Behavioral Basis of Design (Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall 1969), einem Buch, das der Raumorientierung des Verhaltens nachgeht.
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recktem Kinn Drohungen «ins Gesicht schleudern». Auf jemanden von innerhalb der sozial festgelegten Intimitätsschranke einzureden ist gleichbedeutend mit dem ernsthaften Versuch, ihn oder sie zu dominieren. Ist man selbst derjenige, der solchermaßen angesprochen wird, und unternimmt nichts, den Abstand zu korrigieren, so ist das Ergebnis eine verstärkte Disposition, die Autorität des Sprechers zu akzeptieren. Die zweite und wichtigere Methode, wie wir die stimmliche Autorität fremder Menschen über unsere eigene Person kontrollieren können, beruht in der Meinung, die wir uns von den anderen bilden. Warum sind wir unentwegt damit beschäftigt, andere Menschen zu beurteilen, zu kritisieren und in Kategorien einzuordnen, die allesamt – und sei’s auch nur in milder Form – Lob oder Tadel implizieren? In einem fort bewerten wir die anderen oder rangieren sie ein in oftmals nachgerade lächerliche Statushierarchien. Und warum das? Aus dem einfachen Grund, weil wir so ihre Herrschaft über uns und unser Denken unsererseits in den Griff bekommen. Unsere persönlichen Meinungen über andere Menschen sind ein Schutzfilter gegen ihren Einfluß auf uns. Möchten Sie einmal probeweise jemandes Sprachmacht über Sie steigern, dann plazieren Sie den Betreffenden einfach nur ein paar Stufen höher auf Ihrer privaten Wertschätzungsskala. Und nun versuchen Sie sich bitte vorzustellen, wie das ist, wenn keine dieser beiden Methoden praktikabel ist, weil niemand da ist, kein räumlicher Fixpunkt, von dem die Stimme ausgeht: eine Stimme, der man nicht ausweichen, zu der man nicht auf Distanz gehen kann, die einem so nahe ist, «als wär’s ein Stück von mir», nämlich vom eigenen Ich; wie das ist, wenn sich die Allgegenwart dieser Stimme jeder Einschränkung entzieht: flieh, und die Stimme flieht mit, weder Wände noch Entfernungen halten sie auf, es macht ihr nichts aus, daß du dir die Ohren verstopfst, von nichts läßt sie sich übertönen, noch nicht einmal von deinem eigenen Schreien und Brüllen – wie hilflos, wer da zuhören muß! Und wenn der Zuhörer einer bikameralen Kultur angehörte, in der die Stimmen konventionell die höchsten Höhen der Hierarchie besetzt hielten, dich als Götter
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oder Könige oder sonstige Eminenzen belehrten und mit Haut und Haar als ihr Eigentum beanspruchten; in einer Kultur, in der die allwissenden, allmächtigen Stimmen niemals und in keiner Hinsicht kritisiert oder als inferior kategorisiert werden konnten – wie «hörig» mußte ihnen der bikamerale Mensch gewesen sein! Das psychische Faktum des Wollens beim subjektiv bewußten Menschen zu erklären ist bis auf den heutigen Tag ein gravierendes Problem geblieben, das noch keine zufriedenstellende Lösung gefunden hat. Beim bikameralen Menschen indes war dies das Wollen. Man kann auch so sagen: sein Wille zeigte sich als Stimmphänomen, das dem Wesen nach ein neurologischer Imperativ war und das den Imperativ und die Vollzugshandlung unauflöslich in sich vereinigte: die Stimme hören hieß ihr gehorchen.
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FÜNFTES KAPITEL Das Doppelhirn
W
GEHIRN des bikameralen Menschen vor? Etwas so Bedeutsames in der Geschichte unserer Gattung, wie es das – nur rund hundert Generationen zurückliegende – Vorkommen einer vollkommen anders gearteten Mentalität als der unsrigen ist, macht ein Eingehen auf die physiologische Seite der Sache unausweichlich. Wie ist so etwas möglich? Ausgehend von der faktischen Gegebenheit dieses überaus delikaten Apparats aus Nervenzellen und Fasern im Innern unseres Schädels, ist zu fragen: Wie war dieser Apparat wohl organisiert, um eine Mentalität wie die bikamerale zu ermöglichen? Dies ist der Fragehorizont des gegenwärtigen Kapitels. AS GEHT IM
Zur ersten Annäherung an eine Antwort folgen wir einem vorgezeichneten Weg: Das gesprochene Wort ist das Medium der bikameralen Psyche – also müssen die Sprachzentren des Gehirns auf irgendeine maßgebliche Weise involviert sein. In allem, was hier zu diesen Zentren gesagt wird, wie insgesamt in diesem Kapitel und in der Folge überhaupt, werde ich, um Umständlichkeiten der Ausdrucksweise zu vermeiden, die Fakten so wiedergeben, wie sie im allgemeinen für Rechtshänder zutreffen. Bei Rechtshändern befinden sich die Sprachzentren in der linken Großhirnhemisphäre, die die rechte Körperseite steuert. Man nennt sie daher meist auch die dominante Hemisphäre, während die rechte Hemisphäre, die die linke Körperseite steuert, als nichtdominante Hemisphäre bezeichnet wird. Ich werde in der Folge die Verhältnisse so darstellen, als sei die linke Hemisphäre bei allen Menschen die dominante. In Wirklichkeit jedoch ist bei Linkshändern die Dominanz von Fall zu Fall unterschiedlich auf die Hemisphären verteilt: Bei einigen sind die Verhältnisse einfach spiegelbildlich umgekehrt (so daß also die rechte Hemisphäre die Funktionen ausübt, die bei Rechtshändern der linken zufallen), bei ande-
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Die drei Sprachzentren der linken Gehirnhemisphäre haben unterschiedliche Funktionen und Bedeutung. Das Motorische Sekundärrindenzentrum ist vor allem verantwortlich für die Artikulation, das Broca-Zentrum für Artikulation, Wortschatz, Tonfall und Grammatik, das Wernicke-Zentrum schließlich für Wortschatz, Satzbau, Bedeutung und das Verstehen gesprochener Sprache.
ren ist überhaupt kein Unterschied zu Rechtshändern gegeben, und bei wieder anderen teilen sich beide Hemisphären in die Dominanz. Indes, als Ausnahmefälle, die lediglich fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, können wir die Linkshänder hier vernachlässigen. Die Sprachzentren sind drei an der Zahl und befinden sich bei der Mehrheit aller Menschen sämtlich in der linken Hirnhemisphäre.1 Es handelt sich um: 1. das Motorische Sekundärrindenzentrum auf der Oberseite der linken 1
Ich stütze mich hier und im folgenden auf ein Buch von Wilder Penfield und Lamar Roberts: Speech and Brain-Mechanisms (Princeton: Princeton University Press 1959), das als klassische Autorität gelten kann, wenngleich es in Einzelheiten überholt ist durch die gegenwärtige Wissensexplosion auf diesem Sektor.
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oberen Stirnhirnwindung (seine Entfernung auf chirurgischem Weg hat eine elementare Sprachstörung zur Folge, die sich nach Ablauf einiger Wochen wieder verliert); 2. das Broca-Zentrum im hinteren Abschnitt der linken unteren Stirnwindung (wird es entfernt, so ist die Folge eine motorische Aphasie, die ebensowohl permanent wie vorübergehend sein kann); und 3. das Wernicke-Zentrum, überwiegend im hinteren Abschnitt des linken Schläfenhirns und zum Teil im Scheitelhirn lokalisiert (jede ernst zu nehmende Läsion im Wernicke-Zentrum resultiert von einem gewissen Lebensalter an in sensorischer Aphasie). Das Wernicke-Zentrum ist also das für die normale Ausübung des Sprachvermögens am wenigsten entbehrliche. Wie daraufhin zu erwarten, weist die Hirnrinde im Bereich des WernickeZentrums eine merkliche Verdichtung von Pyramidenzellen auf, was auf beträchtliche innere wie äußere Verbindungen hindeutet. Zwar ist man sich in der Forschung noch nicht ganz einig über die genaue Abgrenzung dieses Bereichs;2 nicht der geringste Zweifel besteht jedoch hinsichtlich der Wichtigkeit des Wernicke-Zentrums für die sinnhafte menschliche Kommunikation. Aus erkenntnislogischer Sicht, das ist klar, begibt man sich auf extrem dünnes Eis, indem man Isomorphien zwischen der konzeptuellen Abbildung eines psychologischen Sachverhalts auf der einen und der gleichzeitigen Gehirnstruktur auf der anderen Seite statuiert. Aber wir können dieses Risiko unter den gegebenen Bedingungen nun einmal nicht vermeiden. Freilich bleibt es schwer vorstellbar, daß in den drei Sprachzentren oder selbst im Ganzen der höchst subtilen Querverbindungen zwischen ihnen die Matrix irgendeiner Sprachkomponente in so differenzierter und spezifizierter Form auszuma2
Mit der gewohnten Hilfsbereitschaft hat Joseph Bogen seine Zeit geopfert, um mir die Fußangeln zu zeigen, die in dem vorhandenen Faktenmaterial zu der Frage lauern, welche Abschnitte denn nun genau in das Wernicke-Zentrum einzubeziehen sind. Dank schulde ich auch meinem ehemaligen Schüler Stevan Harnad für seine unschätzbare Hilfe in Gesprächen über viele der hier berührten Fragen.
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chen sein sollte, wie das zum Beleg meiner Theorie von der bikameralen Psyche erforderlich wäre. Verweilen wir einen Augenblick bei diesem Problem. Die Sprachzentren befinden sich sämtlich in der linken (dominanten) Hemisphäre. Warum? Aus welchem Grund ist die Sprachfunktion nur in einer der beiden Gehirnhälften repräsentiert? Diese vexierende Rätselfrage hat mich so gut wie jedermann, der sich einmal mit der Evolution des menschlichen Gehirns befaßte, lange Zeit nicht losgelassen. Von den anderen wichtigen psychischen Funktionen sind die meisten bilateral repräsentiert. Diese sonst allenthalben gegebene Redundanz ist ein biologischer Vorteil für das Lebewesen, denn bei Verletzungen in der einen Hemisphäre kann die andere den Schaden kompensieren. Wieso aber ist das bei der Sprache anders ? Bei der zwingendsten und charakteristischsten aller menschlichen Fähigkeiten, der unerläßlichen Voraussetzung und Grundlage allen sozialen Handelns, dem allerletzten kommunikativen Verbindungsfaden, von dessen Tragfestigkeit in den nacheiszeitlichen Jahrtausenden oftmals der Fortbestand des menschlichen Lebens als solchen abgehangen haben muß? Warum wurde diese Conditio sine qua non der menschlichen Kultur nicht in beiden Gehirnhemisphären repräsentiert? Das Problem wird noch rätselhafter, wenn man bedenkt, daß der für die Sprachfunktion erforderliche neurologische Apparat in der rechten Hemisphäre ebenso vorhanden ist wie in der linken. Wird das Wernicke-Zentrum der linken Hemisphäre oder der darunterliegende Thalamus, der die Verbindung zum Hirnstamm unterhält, im Kindesalter schwer verletzt, so verlagert sich in der Folge der gesamte Sprachmechanismus in die rechte Hemisphäre. Bei Beidhändern kommt es (obschon sehr selten) vor, daß die Sprachrepräsentanz tatsächlich in beiden Hemisphären ausgebildet ist. Wir sehen also, daß die normalerweise sprachfreie rechte Gehirnhälfte unter bestimmten Bedingungen der linken in puncto Sprache durchaus ebenbürtig ist. Eine weitere Dimension des Problems enthüllt sich in der Frage, was denn nun evolutionsgeschichtlich gesehen in der rechten Hemisphäre materialiter vorging zu der Zeit, in der
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sich links die aptischen Strukturen der Sprachfunktion herausbildeten. Betrachten wir doch einmal jene Regionen der rechten Hemisphäre, die den Sprachzentren der linken entsprechen: Worin besteht ihre Funktion? Oder noch präziser: Worin besteht ihre wichtige Funktion – denn nur eine vorrangig wichtige Funktion kann verhindert haben, daß aus diesen Regionen evolutiv zusätzliche Sprachzentren wurden. Wenn wir heute diese Bezirke in der rechten Hemisphäre reizen, erzeugen wir damit nicht die übliche «aphasische Unterbrechung» (ein schlichtes Aussetzen der laufenden Sprachprozesse), wie sie als Folge einer Reizung der regulären Sprachzentren in der linken Hemisphäre auftritt. Aus diesem augenscheinlichen Mangel irgendeiner Funktion hat man vielfach den Schluß gezogen, daß umfängliche Bereiche der linken Hemisphäre schlicht überflüssig seien. Tatsächlich sind menschlichen Patienten infolge von Krankheiten oder Unfällen schon große Mengen rechtsseitigen Gewebes, die mitunter auch das Gegenstück zum Wernicke-Zentrum umfaßten, ja in einigen Fällen sogar das ganze rechte Großhirn herausoperiert worden, ohne daß die resultierenden Ausfälle in den psychischen Funktionen zu nennenswerten Problemen geführt hätten. Wir haben also eine Sachlage zur Kenntnis zu nehmen, derzufolge diejenigen Bezirke der rechten Hemisphäre, die den Sprachzentren entsprechen, allem Anschein nach keine ohne weiteres ersichtliche Funktion haben. Aber wozu dann diese vergleichsweise unwichtigen Gehirnpartien? Könnte es sein, daß diese stummen «Sprachzentren» in der rechten Hemisphäre auf einer früheren Etappe der Menschheitsgeschichte irgendeine Funktion ausübten, die sie heute nicht mehr haben? Die Antwort liegt auf der Hand, wenngleich erst in vorläufiger Gestalt. Der evolutionäre Selektionsdruck, der ein so gewaltiges Ergebnis zu zeitigen vermochte, war derjenige der bikameralen Kultur. Die Menschensprache war aus dem einen Grund mit nur einer Gehirnhemisphäre verknüpft: damit die andere frei blieb für die Sprache der Götter.
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In der Frühzeit des Menschen mag die Stelle in der rechten, die dem Wernicke-Zentrum in der linken Gehirnhemisphäre entspricht, Direktiven produziert und in «Stimmen» übersetzt haben, die dann über die vordere Kommissur von der linken oder dominanten Hemisphäre «gehört» wurden.
Wenn dem so ist, dürfen wir erwarten, gewisse Kanäle zu finden, über welche die bikameralen Stimmen aus dem rechten (nichtdominanten) Schläfenlappen in den linken gelangten. Die Hauptverbindung zwischen den Hirnhemisphären ist fraglos der mächtige, aus über zwei Millionen Fasern bestehende «Balken» (das Corpus callosum). Indes, beim Menschen besitzen die Schläfenlappen ihren eigenen – sozusagen privaten – «Balken» in der (bedeutend weniger faserreichen) vorderen Kommissur (Commissura anterior rostri cerebri). Bei Ratten und Hunden verbindet die vordere Kommissur die Geruchszentren. Beim Menschen hingegen – das habe ich in meiner etwas dilettantischen Zeichnung zu verdeutlichen gesucht – geht dieses transversale Bündel aus weißer Substanz vom größeren Teil der Schläfenhirnrinde aus, vor allem jedoch von der mittleren Windung, die zum Wernicke-Zentrum gehört; es verjüngt sich zur Mitte hin und überquert als Strang von kaum mehr als 3 mm Durchmesser in einem klei-
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nen Bogen Hypothalamus und Mandelkern, um sich dann zum gegenüberliegenden Schläfenlappen hin wieder trichterförmig zu erweitern. Hier haben wir nach meinem Dafürhalten den schmalen Steg vor uns, über den die Direktiven kamen, auf denen unsere Kultur und die Weltreligionen gründen; die Stelle, wo die Götter sich den Menschen offenbarten und Gehorsam ernteten, weil sie der menschliche Wille waren.3 Auf zweifache Weise läßt diese Hypothese sich in eine spezifische Fassung bringen. In der stärkeren Fassung – die ich persönlich vorziehe, weil sie einfacher und spezifischer ist (und das bedeutet ja auch: durch empirische Daten leichter zu bestätigen oder zu widerlegen) – besagt sie, daß die Rede der Götter unmittelbar in der Gehirnpartie strukturiert wurde, die rechtsseitig dem entspricht, was linksseitig das Wernicke-Zentrum ist, und daß sie dann über die vordere Kommissur den Hörzentren des linken Schläfenlappens «zugesprochen» und also von diesen «gehört» wurde. (Man beachte, daß ich mich hier nur metaphorisch auszudrücken vermag, indem ich den rechten Schläfenlappen zu einem Sprecher und den linken zu seinem Zuhörer personifiziere: daß jeder einzelne Term der Relation für sich und im buchstäblichen Sinn genommen falsch ist, berührt ja die Geltung der Äquivalenzrelation als solcher nicht.) Ein weiterer Grund, warum ich für die Hypothese in der stärkeren Fassung optiere, ist der, daß sie den effizientesten Weg beschreibt, wie verarbeitete Informationen oder Gedanken von der einen Seite des Gehirns in die andere gelangen können. Man stelle sich die evolutionäre Problemlage vor: Milliarden von Ganglienzellen verarbeiten in der einen Hemisphäre komplexe Erfahrungen,
3
Ich behaupte damit nicht, daß die bikamerale Vermittlung die einzige Funktion der vorderen Kommissur war. Die Kommissur verbindet den größten Teil jeweils des linken und rechten Schläfenlappens, einschließlich eines großen Stücks vom hinteren Abschnitt der unteren Schläfenwindungen. Diese Region wird von einem kräftigen Fasersystem gespeist, das steil vom Okzipitallappen herunterkommt; sie spielt überdies eine zentrale Rolle für die visuellen Erkenntnisfunktionen. Vgl. E. G. Ettlinger, Functions of the Corpus Callosum, Boston: Little, Brown 1965.
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die jetzt durch die erheblich kapazitätsschwächere Kommissur hinübergeschickt werden müssen in die andere Hemisphäre. Dazu ist ein Code vonnöten, der hochkomplexe Verarbeitungsergebnisse auf eine einfachere Form reduziert, in der sie die zahlenmäßig verminderten Nervenbahnen speziell der vorderen Kommissur zu passieren vermögen. Und wo in der Evolution des animalischen Nervensystems ist jemals ein besserer Code aufgetreten als die menschliche Sprache? Der stärkeren Fassung unserer Hypothese zufolge nehmen mithin die als Dispositiv gegebenen Gehörshalluzinationen Sprachform an einzig aus dem Grund, weil dies das effizienteste Verfahren ist, komplizierte Rindenbearbeitungen von einer Seite des Gehirns auf die andere zu übermitteln. Die schwächere Fassung der Hypothese ist weniger spezifisch. Sie besagt, daß das artikulatorische Moment der Gehörshalluzination, nicht anders als die Rede der Person selbst, aus der linken Hemisphäre stammte, daß aber Sinn und Inhalt der halluzinierten Rede sowie das andersgeartete Verhältnis, in welchem die Person zu dieser Rede stehend sich empfand, Hervorbringung rechtsseitiger Schläfenhirnaktivität waren, die über die vordere Kommissur und eventuell auch über das Splenium (das ist der hintere Teil des Balkens) Erregung in die Sprachzentren der linken Hemisphäre schickte und somit dort «gehört» wurde. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es im Grunde gleichgültig, für welche Fassung der Hypothese wir optieren. Das Zentrum beider bildet die Behauptung, daß das Amalgamieren erzieherischer Erfahrungen eine Funktion der rechten Hemisphäre war und daß die Stimmen der Götter hervorgerufen wurden durch Erregung in jener rechtsseitigen Gehirnpartie, die das Gegenstück zum linksseitig gelegenen Wernicke-Zentrum darstellt. Einzelbeobachtungen, die unsere Hypothese stützen, lassen sich unter fünf verschiedenen Beweisthemen rubrizieren: 1. Jede der beiden Hemisphären versteht Sprache, doch selber sprechen kann normalerweise nur die linke; 2. im rechts-
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seitigen Gegenstück zum Wernicke-Zentrum läßt sich die Rudimentärform einer Funktionsweise feststellen, die in gewisser Weise den Götterstimmen ähnelt; 3. unter bestimmten Bedingungen sind beide Hemisphären in der Lage, jede für sich beinahe wie eine selbständige Person zu agieren, und ihr Verhältnis zueinander ist dann ein Bild der Gott-MenschBeziehung bikameraler Epochen; 4. die heute feststellbaren Unterschiede zwischen den beiden Hemisphären in bezug auf kognitive Funktionen lassen sich zumindest als ein Nachhall der – aus der Literatur der bikameralen Menschheit ablesbaren – funktionalen Differenzen zwischen Gott und Mensch begreifen; 5. die Organisiertheit des Gehirns unterliegt Umwelteinflüssen in viel höherem Grad als bisher angenommen, so daß ein Wandel, wie er dem Übergang vom bikameralen zum bewußten Menschen zugrunde gelegen haben muß, sich durchaus allein auf der Basis des Lernens und der Kultur vollzogen haben kann. Der Rest des Kapitels in diesen fünf Beweisthemen gewidmet. 1. Jede der beiden Hemisphären versteht Sprache Die Götter, so habe ich an früherer Stelle noch ein bißchen spekulativ gesagt, waren Amalgame aus erzieherischen Erfahrungen, Mischprodukte aus sämtlichen Befehlen, die dem Individuum je erteilt worden waren. Demnach wäre für die göttlichen Gehirnregionen nicht unbedingt deren Beteiligung am motorischen Sprachprozeß vorauszusetzen, unumgänglich aber müßten sie die Bedingung erfüllen, daß sie am Hören und Verstehen von Sprache teilnehmen. Und das ist selbst heute noch der Fall. Tatsächlich verstehen wir Sprache mit beiden Hemisphären. Gehirnschlagpatienten mit Blutungen im linken Kortex können nicht sprechen, verstehen aber, was ihnen gesagt wird.4 Spritzt man Natriumamytal in die linke 4
Ein allgemein beobachteter Sachverhalt, den ich aufgrund eigener Erhebungen bestätigen kann.
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Kopfschlagader (das ist der sogenannte «Wada-Test»), die zur linken Gehirnseite führt, so wird die ganze linke Hemisphäre gelähmt, und nur die rechte funktioniert ungestört weiter; dennoch bleibt die Versuchsperson in der Lage, Anweisungen, die man ihr gibt, auszuführen.5 In Tests mit Patienten, an denen die sogenannte Split-brain-Operation vorgenommen wurde (auf diese Operation komme ich gleich ausführlich zu sprechen), wurde eine beträchtliche Fähigkeit des Sprachverstehens in der rechten Hemisphäre nachgewiesen.6 In der Regel kann der Patient Gegenstände, die man ihm nennt, mit der linken Hand aus anderen Gegenständen herausgreifen und Befehle, die man ihm gibt, mit der linken Hand ausführen. Selbst in Fällen, wo bei Menschen infolge eines Glioms (Geschwulst der Stützsubstanz des Gehirns) die gesamte linke Hirnhemisphäre – die spracherzeugende Hemisphäre, wie wir uns erinnern – entfernt werden muß, scheinen die Patienten bereits unmittelbar nach der Operation in der Lage, die Fragen des Chirurgen zwar nicht zu beantworten, aber doch immerhin zu verstehen.7 2. In der rechten Hemisphäre ist die gottähnliche Funktion noch rudimentär vorhanden Wenn das soeben ausgeführte Modell korrekt ist, dürften wir eigentlich auch damit rechnen, in der rechten Hemisphäre, in wie verkümmerter Form auch immer, irgendeinen Überrest 5
6
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Der Wada-Test gehört im Neurological Institute in Montreal derzeit zu den vorbereitenden Maßnahmen im Zusammenhang mit Gehirnoperationen. Vgl. J. Wada u. T. Rasmussen, Intracarotid Injection of Sodium Amytal for the Lateralization of Cerebral Speech Dominance, Journal of Neurosurgery 17 (1960), S. 266-282. M. S. Gazzaniga, J. E. Bogen, R. W. Sperry, Laterality Effects in Somesthesis Following Cerebral Commissurotomy in Man, Neuropsychologia 1, S. 209-215. Vgl. auch Stuart Dimonds hervorragende Ausführungen zu diesem Thema: The Double Brain, Edinburgh, London: Churchill Livingstone 1972, S. 84. Aaron Smith, Speech and Other Functions after Left (Dominant) Hemispherectomy, Journal of Neurology and Neurosurgical Psychiatry 29, S. 467-471.
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ihrer weiland göttlichen Funktion zu finden. Wir können hier sogar noch präziser werden: Da die Stimmen der Götter nicht mit der Bildung artikulierter Laute, das heißt nicht mit dem Gebrauch von Kehlkopf und Mund einhergingen, können wir das rechtsseitige Pendant zum Broca-Zentrum sowie zum Motorischen Sekundärrindenzentrum bis zu einem gewissen Grad vernachlässigen und uns ganz auf das Pendant zum Wernicke-Zentrum beziehungsweise auf den hinteren Abschnitt des rechten («nichtdominanten») Schläfenlappens konzentrieren. Wenn wir das Gehirn in dieser Gegend reizen, werden wir dann, wie in uralten Zeiten, Götterstimmen hören? Oder wenigstens irgend etwas, was von fern an sie erinnert? Etwas, was uns zu der Annahme berechtigt, daß ihm vor dreitausend Jahren die göttliche Lenkung der menschlichen Geschicke oblag? Wir erinnern uns vielleicht daran, daß ja genau die eben bezeichnete Gehirnregion vor Jahren von Wilder Penfield in einer seither berühmt gewordenen Folge von Untersuchungen der experimentellen Reizung ausgesetzt worden ist.8 Darauf möchte ich nun näher eingehen. Diese Untersuchungen wurden durchgeführt an rund siebzig Patienten mit Epilepsiediagnose, und zwar Epilepsie, bedingt durch Läsion im Bereich des Schläfenlappens. Im Rahmen der Vorbereitungen für die operative Entfernung des geschädigten Gewebes wurde die Hirnoberfläche im Schläfenbereich an mehreren Stellen mit einem leichten elektrischen Strom stimuliert. Die Reizintensität entsprach ungefähr der Mindeststromstärke, die erforderlich ist, um durch Reizung des entsprechenden motorischen Zentrums ein leichtes Kribbeln im Daumen hervorzurufen. Wollte man hier nun einwenden, daß die aus solchen Reizungen resultierenden Phänomene entstellt seien durch das für die angegebene Patientengruppe typische Vorhandensein von vernarbten Gliose-, Sklerose- oder Meningitis8
Wilder Penfield u. Phanor Perot, The Brain’s Record of Auditory and Visual Experience: A Final Summary and Discussion, Brain 86/1963, S. 595-702.
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herden, so würde ich dem entgegenhalten, daß ein Blick in den Originalbericht genügt, um derlei Bedenken als unbegründet zu zerstreuen. Wo die erwähnten Mißbildungen festgestellt wurden, waren sie genau eingegrenzt und hatten keinerlei Einfluß auf die Reaktionen der Versuchspersonen während der Dauer der Reizung.9 Man darf also davon ausgehen, daß die Ergebnisse dieser Untersuchungen auch über die Vorgänge Auskunft geben, die wir unter gleichen Bedingungen bei normalen Individuen antreffen würden. In der großen Mehrzahl der Fälle wurde der rechte Schläfenlappen stimuliert, insbesondere im hinteren Bereich zur oberen Windung hin – also die rechtsseitige Entsprechung zum Wernicke-Zentrum. Bei den Patienten stellte sich daraufhin eine Reihe von bemerkenswerten Reaktionen ein. Wir stehen hier – ich wiederhole es – an dem Punkt, wo wir erwarten dürfen, gleichsam aus dem anderen Teil unserer bikameralen Psyche neuerlich den Anruf der antiken Götter zu vernehmen. Haben diese Patienten – und sei’s bloß im Nachhall – die Gottheiten des Altertums sprechen hören? Hier einige repräsentative Untersuchungsbefunde. Während der Reizung in dem beschriebenen Bereich rief Fall Nr. 7 (Student, männlich, 22 Jahre alt) aus: «Jetzt höre ich wieder Stimmen, irgendwie ist für mich der Kontakt mit der Wirklichkeit abgerissen. Mir summt’s in den Ohren, und ich fühle mich ein bißchen beklommen.» Und bei erneuter Reizung: «Stimmen – genau wie vorher. Und jetzt war auch wieder der Kontakt mit der Wirklichkeit abgerissen.» Auf die entsprechende Frage erwiderte er, er habe nicht verstehen können, was die Stimmen sagten. Sie hätten «verschwommen» geklungen. Ähnlich verschwommen waren die Stimmen in der Mehrzahl der Fälle. Fall Nr. 8 (Hausfrau, 26 Jahre alt) wurde ungefähr im gleichen Bereich stimuliert und gab an, es sei ihr so vorge9
Wenngleich die jeweilige epileptische Aura vermutlich durch die Ausbreitung kortikaler Erregung von der Läsion auf die erwähnten Zentren bedingt war.
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kommen, als habe sie von weit, weit her eine Stimme gehört: «Es klang, als ob die Stimme etwas sagte, aber sie war so leise, daß ich nicht mitkriegte, was.» Fall Nr. 12 (weiblich, 24 Jahre alt) wurde sukzessive an verschiedenen Stellen im hinteren Abschnitt der oberen Schläfenwindung gereizt; die Reaktion war: «Ich hörte jemand sprechen oder murmeln oder so ähnlich.» Und nach Reizung einer anderen Stelle: «Da wurde eben geredet oder gemurmelt, aber ich konnte nichts verstehen.» Und als ein knapp zwei Zentimeter langes Stück der Windung gereizt wurde, blieb die Frau anfangs stumm, um dann einen lauten Schrei auszustoßen. «Ich hab die Stimmen gehört und dann losgeschrien. Ich hatte ein Gefühl, das ging mir durch und durch.» Und als die Reizung wieder ein kleines Stück zurück gegen den Ausgangspunkt verlagert wurde, begann sie zu schluchzen: «Wieder die Stimme von diesem Mann! Dazu fällt mir nicht mehr ein, als daß mein Vater mir furchtbar viel Angst macht.» Sie identifizierte die Stimme nicht als die ihres Vaters, sondern fühlte sich durch jene nur an diesen erinnert. Manche Patienten hörten Musik, unbekannte Melodien, die sie dem Chirurgen vorsummen konnten (Nr. 4 und Nr. 5). Andere hörten Verwandte, zumal ihre Mutter. Fall Nr. 32 (weiblich, 22 Jahre alt) hörte ihre Eltern sprechen und singen; nach Verlagerung der Reizung hörte sie ihre Mutter «bloß noch keifen». Für viele Patienten gingen die Stimmen von absonderlichen oder unbekannten Orten aus. Fall Nr. 3 6 (weiblich, 26 Jahre alt) gab nach Reizung im vorderen Abschnitt der rechten oberen Schläfenwindung zu Protokoll: «Ja, ich habe irgendwo flußabwärts Stimmen gehört, eine männliche und eine weibliche, und beide riefen sie.» Gefragt, wie sie darauf käme, daß es «flußabwärts» war, sagte sie: «Ich meine, ich hätte den Fluß gesehen.» Welchen Fluß? «Ich weiß auch nicht. Offenbar einer, wo ich als Kind mal zu Besuch gewesen bin.» Bei Reizung anderer Stellen hörte sie Menschen etwas aus einem Gebäude ins Nebengebäude hinüberrufen. Und als eine Stelle daneben gereizt wurde: laute Rufe einer Frau auf einem Holzlagerplatz; dazu versicherte die Patientin, sie sei «nie im Leben auch nur
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in die Nähe von einem Holzlagerplatz gekommen». In den seltenen Fällen, wo die Stimmen als von links oder rechts kommend beschrieben wurden, wurden sie stets kontralateral lokalisiert. Fall Nr. 29 (männlich, 25 Jahre alt) erklärte nach Reizung in der rechten mittleren Schläfenwindung: «Jemand sagte mir ins linke Ohr: ‹Sylvère, Sylvère!› Kann sein, daß es mein Bruder war.» Die Stimmen und die Musik – gleichgültig, ob verworren oder klar erkennbar – wurden als Realerlebnisse gehört, Gesichtshalluzinationen wurden als Realerlebnisse gesehen, geradeso wie Achilleus Thetis erlebt oder wie Moses Jahwe aus dem brennenden Dornbusch gehört hatte. Der im vorigen Absatz zitierte Fall Nr. 29 sah bei neuerlicher Reizung, «wie jemand mit jemand anderem sprach, er hat ihn auch mit Namen angeredet, aber den habe ich nicht verstanden». Auf die Frage, ob er die Person sehe, gab er zur Antwort: «Es war genau wie im Traum.» Und auf die weitere Frage, ob die Person im Raum anwesend sei: «Aber ja doch – ungefähr da drüben, wo die Schwester mit der Brille sitzt.» Bei einigen etwas älteren Patienten mußte erst eine Weile nach einer geeigneten Stelle gesucht werden, bis es auf die Reizung hin zu Halluzinationen kam. Ein vierunddreißigjähriger Französischkanadier (Fall Nr. 24), der auf vorausgegangene Reizungen nichts bemerkt hatte, wurde jetzt im hinteren Abschnitt der mittleren Schläfenwindung stimuliert, als er plötzlich sagte: «Moment mal, da sehe ich jemand!» Und als der Reizpunkt etwa zweieinhalb Zentimeter nach oben verlagert wurde: «Oui, là, là, là! Das war er, er ist gekommen, der Depp!» Nochmals ein Stückchen weiter oben, doch immer noch im Bereich, der dem Wernicke-Zentrum entspricht: «Jetzt, jetzt, j’entends! Gerade hat mir wer was sagen wollen und hat in einem fort auf mich eingeredet: ‹Vite, vite, vite!›» Indes, bei den jüngeren Lebensaltern ist die Sachlage einwandfrei so, daß durch Reizung des rechten Schläfenlappens verursachte Halluzinationen plastischer und lebhafter im Ausdruck und autoritärer im Inhalt sind. Ein vierzehnjähriger Junge (Fall Nr. 34) sah zwei Männer in Lehnstühlen sitzen, die
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ihm lauthals entgegensangen. Ein vierzehnjähriges Mädchen (Fall Nr. 15), das im hinteren Abschnitt der rechten oberen Schläfenwindung gereizt wurde, rief aus: «Oh, jetzt schreien sie wieder alle auf mich ein ... Sie sollen aufhören!» Die Dauer der Reizung hatte zwei Sekunden betragen, die Stimmen hielten elf Sekunden an. Das Mädchen erklärte: «Sie schimpfen mit mir, weil ich böse war; allesamt schimpfen sie.» Wo immer es im hinteren Abschnitt des rechten Schläfenlappens stimuliert wurde, hörte es Geschimpfe. Sogar als die Reizung knappe vier Zentimeter hinter den Anfangspunkt verlegt wurde, rief das Mädchen noch: «Jetzt fangen sie schon wieder an zu schimpfen. Sie sollen aufhören!» Und jetzt hielten die Stimmen auf eine einzelne Reizung hin 21 Sekunden lang an. Ganz so simpel ist die Sache freilich nicht, und ich möchte auch nicht den Eindruck vermitteln, sie wäre es. Die erwähnten Beispiele sind das Resultat einer Siebung. Bei manchen Patienten zeigte sich überhaupt keine Reaktion. Gelegentlich mischte sich in die geschilderten Erlebnisse die autoskopische Erinnerungstäuschung mit ein, von der wir im Zweiten Kapitel gesprochen haben. Eine zusätzliche Komplikation ergibt sich aus dem Umstand, daß auch die Reizung der entsprechenden Stellen auf der linken (normalerweise dominanten) Hemisphäre vergleichbare Halluzinationen hervorrufen kann. Mit anderen Worten, die geschilderten Erscheinungen sind nicht das ausschließliche Privileg des rechten Schläfenhirns. Doch treten solche Reaktionen bei Reizung der linken Hemisphäre nicht mit gleicher Regelmäßigkeit auf und allenfalls mit verminderter Intensität. Wichtig an all diesen durch Reizung erzeugten Erlebnissen ist ihr Fremdcharakter: Sie stellen eher eine Gegenposition zum Selbst als dessen eigene Worte und Handlungsweise dar. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, erlebten sich die Versuchspersonen niemals essend, sprechend, laufend oder spielend oder beim Liebesakt. In beinahe sämtlichen Fällen waren sie ebenso passives Objekt, wie der bikamerale Mensch das passive Objekt seiner Stimmen war.
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Passives Objekt wovon? Penfield und Perot meinen, es handle sich um nichts anderes als frühere Erlebnisse, um Rückblenden in die Vergangenheit. Das durchweg beobachtete Ausbleiben des Wiedererkennungseffekts erklären sie mit bloßer Vergeßlichkeit. Sie gehen davon aus, daß hier konkrete Erinnerungen vorliegen, für die bei längerer Versuchsdauer mit etwas mehr Aufwand der volle Wiedererkennungseffekt hätte erzielt werden können. Tatsächlich zielten die Fragen, die sie den Probanden während des Versuches stellten, auf die Bestätigung dieser Hypothese. Und es kam auch vor, daß Aussagen einzelner Patienten in die Richtung der Erinnerungskonkretheit wiesen. Doch aufs Ganze gesehen ist weitaus typischer der Befund, daß die Versuchsperson auch auf ausdrückliche Fragen hin darauf beharrt, man könne diese Erlebnisse nicht als Erinnerungen bezeichnen. Nicht allein deshalb, sondern auch mit Rücksicht auf das generelle Fehlen von Vorstellungsbildern der agierenden eigenen Person, in denen normalerweise unsere Erinnerungen bestehen, bin ich der Ansicht, daß Penfield und Perot ihre Befunde nicht korrekt interpretiert haben. Jene Bereiche des Schläfenlappens sind nicht «der Speicher von Hörund Seherlebnissen im Gehirn», noch sind sie der Sitz des Erinnerungsvermögens für solche Erlebnisse, sondern in ihnen sind Kombinationen und Amalgame bestimmter Aspekte jenes Erlebens lokalisiert. Nach meinem Dafürhalten rechtfertigen es die Befunde keineswegs, von den beschriebenen Regionen zu behaupten: «Sie spielen im Erwachsenenleben eine gewisse Rolle bei der unterbewußten Erinnerung früheren Erlebens, das sie für aktuelle Situationsdeutungen verfügbar machen.» Vielmehr führen die Befunde in eine ganz andere Richtung, nämlich zu Halluzinationen, die eine Verdichtung speziell von Erziehungserlebnissen darstellen und die bei denjenigen Patienten, die auf Befragen Auskunft über sie zu geben vermochten, gegebenenfalls durch Wahrnehmungstäuschung oder Rationalisierung in das Realerleben integriert werden.
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3. Jede der beiden Hemisphären kann sich unabhängig von der anderen betätigen Unser Gehirnmodell der bikameralen Psyche muß der Tatsache Rechnung tragen, daß der göttliche Sektor und der menschliche Sektor einigermaßen unabhängig voneinander agierten und dachten. Aber wenn wir nun den Nachweis zu führen suchen, daß die Zweigeteiltheit jener antiken Mentalität in der Zweigeteiltheit des Großhirns mit seinen beiden Hemisphären vorgebildet ist – heißt das nicht, daß wir ganz willkürlich Gehirnregionen personifizieren? Was könnte uns das Recht geben, die beiden Hirnhemisphären fast wie zwei verschiedene Individuen zu betrachten, von denen nur das eine die Fähigkeit zu manifester Sprachäußerung besitzt, die jedoch alle beide in der Lage sind, Sprache zu hören und zu verstehen? Daß es plausibel ist, so zu verfahren, läßt sich mit Hilfe einer anderen Gruppe von Epileptikern erhärten. Es handelt sich bei ihnen um ein rundes Dutzend von neurochirurgischen Operationspatienten, die einer kompletten Kommissurotomie unterzogen wurden – einem Eingriff, bei dem sämtliche Verbindungsbahnen zwischen rechter und linker Hemisphäre in der Mitte durchtrennt werden.10 Diese sogenannte Split-brainOperation (der Ausdruck ist insofern nicht ganz zutreffend, als ja die tiefer gelegenen Gehirnregionen unzertrennt bleiben) bewirkt normalerweise die Heilung der Epilepsie – eines für andere Behandlungsmethoden unzugänglichen Leidens –, weil sie die unkontrollierte Ausbreitung paroxysmischer Erregung 10 Die Literatur über Joseph E. Bogens Patienten wächst noch immer. Empfehlenswert sind Bogens eigene, mittlerweile klassische Veröffentlichungen, insbesondere: The Other Side of the Brain, 2: An Appositional Mind, Bulletin of the Los Angeles Neurological Society 34/3 (1969), S. 135-161. Von einem Pionier der Hemisphärenforschung behandelt wird die Materie in: R.W. Sperry, Hemisphere Disconnection and Unity in Conscious Awareness, American Psychologist 23 (1968), S. 723-733. Wer eine leichtverdauliche Darstellung sucht, findet sie bei dem Mann, dessen Scharfsinn die Tests entsprungen sind, die mit jenen Patienten veranstaltet wurden: Michael Gazzaniga, The Bisected Brain, New York: Appleton-Century-Crofts 1970.
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über die gesamte Gehirnrinde unterbindet. Als unmittelbare Folge der Operation stellt sich bei manchen Patienten ein bis zu zwei Monaten währender Verlust der Sprachäußerung ein, während andere in dieser Hinsicht nicht die geringsten Probleme haben – niemand weiß zu sagen, warum das so ist. Es könnte sein, daß die Beziehungen zwischen den Hemisphären von Mensch zu Mensch geringfügig unterschiedlich ausgebildet sind. Der Genesungsprozeß ist schleppend; bei allen Patienten zeigen sich Störungen des Kurzzeitgedächtnisses (was auf die Durchtrennung der kleinen hippokampischen Verbindungsbahnen zurückzuführen sein mag), in gewissem Umfang auch Orientierungsschwierigkeiten sowie psychische Erschöpfung. Das Erstaunliche ist nun aber, daß diese Patienten sich nach etwa einjähriger Genesungsfrist vollständig wiederhergestellt fühlen. Sie verspüren in ihrem Befinden nicht den geringsten Unterschied zu dem Zustand vor der Operation. Jetzt sehen sie fern und lesen die Zeitung, ohne über irgendwelche Beschwerden zu klagen. Und auch einem uneingeweihten Beobachter fällt nichts Besonderes an ihnen auf. Indes, unter Bedingungen strengster Kontrolle der sensorischen Reizaufnahme enthüllen sich hochinteressante und aufschlußreiche Defizite. Nehmen wir an, Sie fixieren irgend etwas mit dem Blick, sagen wir, das Wort genau in der Mitte dieser Zeile: während Sie das tun, werden alle Wörter links vom Blickpunkt nur von Ihrer rechten Gehirnhälfte gesehen und alle Wörter rechts davon nur von der linken. Solange die Verbindungsbahnen zwischen den Hemisphären intakt sind, stellt die Koordination der beiden Seiten kein Problem dar (wenngleich es an und für sich bereits ein erstaunlich Ding ist, daß wir so etwas wie lesen können). Wären Ihnen allerdings die Kommissuren durchtrennt worden, dann sähe die Sache ganz anders aus. Von der Zeilenmitte an nach rechts würde das Gedruckte wie gewöhnlich wahrgenommen; Sie könnten es ab- und vorlesen, als sei alles normal. Aber an der Stelle von allem Gedruckten und der ganzen Seite links davon wäre jetzt nur mehr Leere.
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Genaugenommen nicht einmal Leere, sondern nichts, pures, absolutes Nichts, weit mehr Nichts als alles Nichts, das Sie sich noch vorzustellen vermögen. So sehr Nichts, daß Ihnen – so seltsam sich das anhören mag – noch nicht einmal bewußt werden würde, daß da nichts ist. Wie beim Phänomen des blinden Flecks wird das «Nichts» irgendwie «ausgefüllt», «gestopft», so als wäre da nichts, wo nichts wäre. In Wirklichkeit freilich wäre all dieses «Nichts» in Ihrer zweiten Gehirnhemisphäre, die all das, was «Sie» nicht sehen könnten, trotzdem sehen würde, und das sogar ganz ausgezeichnet. Aber weil sie nicht über die Gabe des artikulierten Ausdrucks verfügt, kann sie nicht sagen, daß sie etwas sieht. Es ist, als befänden «Sie» – was immer das Wort in diesem Zusammenhang bedeuten mag – sich «in» Ihrer linken Gehirnhemisphäre und könnten jetzt, wo die Verbindungsbahnen gekappt sind, nie mehr erfahren oder ein Bewußtsein davon erlangen, was eine fremde Person – die einmal dasselbe war wie «Sie» – in der Hemisphäre gegenüber gerade sieht oder denkt. Zwei Personen in einem Kopf ... Das vorstehende Gedankenspiel folgt einem der Testverfahren, die an Kommissurenschnitt-Patienten erprobt wurden. Die Versuchsperson fixiert den Mittelpunkt eines diaphanen Projektionsschirms; auf der linken Seite des Schirms erscheinen Diaprojektionen von bestimmten Gegenständen: Sie werden also nur von der rechten Hemisphäre gesehen und können nicht benannt werden, aber der Proband ist in der Lage, den jeweils abgebildeten Gegenstand mit der linken (von der rechten Hemisphäre gesteuerten) Hand aus einer Gruppe von Gegenständen herauszugreifen oder ihn durch Deuten auf eine übereinstimmende Abbildung zu identifizieren, auch wenn er verbal beteuert, er sehe ihn nicht.11 Solche nur von der rechten (nichtdominanten) Hemisphäre erblickten Reize sind dort gleichsam eingesperrt: Sie können der linken Hemisphäre, 11 M. S. Gazzaniga, J. E. Bogen u. R. W. Sperry, Observations on Visual Perception after Disconnection of the Cerebral Hemispheres in Man, Brain 8/1965, S. 221-236.
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in der sich die Sprachzentren befinden, nicht «mitgeteilt» werden, weil die Verbindungsbahnen gekappt sind. Daß die rechte Hemisphäre sich im Besitz dieser Information befindet, erfahren wir einzig, indem wir sie auffordern, die linke Hand zum Deuten zu benutzen – was sie prompt und geschickt bewerkstelligt. Projiziert man in das rechte und in das linke Gesichtsfeld unterschiedliche Graphen – etwa links das Dollarzeichen ($), rechts ein Fragezeichen – und fordert die Versuchsperson auf, mit der linken Hand aufzuzeichnen, was sie gesehen hat, und zwar so, daß die Handbewegung durch eine Blende verdeckt wird, also außer Sicht der Versuchsperson erfolgen muß: dann wird das Dollarzeichen gezeichnet. Auf die Frage jedoch, was sie da unter der Sichtblende gerade gezeichnet habe, antwortet die Versuchsperson unbeirrbar: das Fragezeichen. Mit anderen Worten: Mit den beiden Hirnhemisphären verhält es sich unter den gegebenen Bedingungen buchstäblich so, daß die linke nicht weiß, was die rechte tut. Auch wenn der Name irgendeines Gegenstands – zum Beispiel das Wort «Radiergummi» – in das linke Gesichtsfeld projiziert wird, ist die Versuchsperson in der Lage, den Radiergummi mit der linken Hand – und nur mit der linken Hand – aus einer Ansammlung von Gegenständen hinter einer Sichtblende herauszusuchen. Ist das korrekt ausgeführt und wird die Versuchsperson nun gefragt, um welches Ding es sich handle, so vermag der redebegabte Bewohner der linken Hemisphäre nicht zu sagen, was der stumme Bewohner der rechten Hemisphäre hinter der Sichtblende in der linken Hand hält. Das gleiche leistet die Linke auch auf das Vorsprechen des Wortes «Radiergummi» hin, doch die redende Hemisphäre erfährt nicht, wann die Hand den Gegenstand gefunden hat. Auch das bestätigt natürlich wieder, was ich schon ausgeführt habe, nämlich daß beide Hemisphären Sprache verstehen; allerdings war es vorher nicht möglich gewesen festzustellen, wie weit das Sprachverständnis in der rechten Hemisphäre geht. Des weiteren zeigt sich, daß die rechte Hemisphäre in der Lage ist, komplizierte Definitionen zu verstehen. Proji-
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ziert man «Gerät zum Entfernen von Bartstoppeln» ins linke Gesichtsfeld, will sagen: in die rechte Hemisphäre, so zeigt die linke Hand auf einen Rasierapparat; bei «Reinigungsmittel» zeigt sie auf Seife und bei «wird in den Automatenschlitz eingeworfen» auf eine Münze.12 Überdies vermag die rechte Hemisphäre dieser Patienten emotional zu reagieren, ohne daß die redebegabte linke Hemisphäre erfährt, was der Anlaß des Ganzen war. Eine Reihe von neutralen geometrischen Figuren wird sukzessive dargeboten, und zwar nach dem Zufallsprinzip mal im rechten, mal im linken Gesichtsfeld, mit anderen Worten, mal der linken, mal der rechten Gehirnhemisphäre; wird nun mittendrin unvermittelt das Bild eines appetitlichen nackten Mädchens ins linke Feld (= die rechte Hemisphäre) projiziert, so erklärt der Patient (genauer: die linke Gehirnhemisphäre des Patienten), er habe nichts oder allenfalls bloß den Lichtblitz gesehen. Aber während der folgenden Minute widerlegen Grinsen, Erröten und Kichern die Auskunft der redenden Hemisphäre. Auf die Frage, was es mit all diesem Getue auf sich habe, erwidert die linke, redebegabte Hemisphäre, sie habe nicht die leiseste Ahnung.13 Die auftretenden mimischen Veränderungen und das Erröten sind übrigens nicht auf eine Gesichtshälfte beschränkt, da sie von den tiefliegenden Verbindungen im Hirnstamm von der einen auf die andere Seite übertragen werden. Affektausdruck ist nicht Sache der Rinde. Und gleichermaßen verhält es sich mit anderen Sinnesmodalitäten. Gerüche, die dem rechten Nasenloch und damit (da die Geruchsfasern nicht kreuzweise verlaufen) der rechten Hemisphäre dargeboten werden, können diese Patienten mit ihrer redenden Hemisphäre nicht benennen, wenngleich die letztere sehr wohl kundzutun weiß, ob es sich um einen angenehmen oder einen unangenehmen Geruch handelt. Das geht 12 M. S. Gazzaniga u. R. W. Sperry, Language after Section of the Cerebral Commissures, Brain 90/1967, S. 131-148. 13 R. W. Sperry, Hemisphere Disconnection, a.a. O.
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so weit, daß der Patient einen unerquicklichen Geruch mit Grunzlauten, Grimassieren oder einem lauten «Puh!» quittiert: Trotzdem kann er nicht sagen, ob er es mit Knoblauch, Käse oder etwas Verfaultem zu tun hatte.14 Dem linken Nasenloch dargeboten, können die gleichen Gerüche sehr wohl benannt und beschrieben werden. Das bedeutet, daß der Ekelaffekt über das unversehrte limbische System und den Hirnstamm in die sprechende Hemisphäre hinübergelangt, die in der Rinde erarbeitete spezifischere Information hingegen nicht. Tatsächlich spricht manches dafür, daß gemeinhin die rechte Hemisphäre als Auslöser von Unlustreaktionen auf das limbische System und den Hirnstamm einwirkt. Man kann eine Testsituation arrangieren, in der man die rechte Hemisphäre die richtigen Antworten auf die vorgelegten Fragen jedesmal wissen läßt; muß sie dann mit anhören, wie die linke (dominante) Hemisphäre offenkundige Fehlantworten gibt, so kann es vorkommen, daß der Patient die Stirn runzelt, zusammenzuckt oder den Kopf schüttelt. Es ist nicht einfach nur eine Redensart, wenn man sagt, daß die rechte Hemisphäre verärgert ist über die fehlerhaften Antworten der linken. Und so mag sich auch die Verärgerung der Pallas Athene erklären, in der sie den Achilleus bei seinen goldenen Haaren packt und ihn davon abhält, das Schwert gegen seinen König zu zücken («Ilias» 1, 197). Oder die Verärgerung Jahwes angesichts der Sündhaftigkeit seines Volkes. Selbstverständlich ist da ein Unterschied. Beim bikameralen Menschen waren sämtliche Verbindungsbahnen zwischen links und rechts intakt. Wie ich jedoch später noch ausführen werde, können Veränderungen in der Umwelt so weitgehende Neuorganisierungen im Gehirn bewirken, daß die in dem soeben angezogenen Vergleich angelegten Schlußfolgerungen nicht völlig absurd sind. Aber wie dem auch sei, die Untersuchungen an den Split-brain-Patienten haben jedenfalls schlüssig erwiesen, daß die beiden Gehirnhemisphären unabhängig von14 H.W. Gordon u. R.W. Sperry, Olfaction Following Surgical Disconnection of the Hemisphere in Man, Proceedings of the Psychonomic Society 1968.
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einander funktionieren können, so als wäre jede eine Person für sich, und diese virtuellen Personen, so behaupte ich, waren in der bikameralen Epoche der Geschichte das menschliche Individuum und sein Gott. 4. Die Unterschiede in den kognitiven Funktionen der beiden Hemisphären sind analog dem Unterschied zwischen Gott und Mensch Ist das vorgelegte Gehirnmodell der bikameralen Psyche korrekt, so enthält es zugleich die Voraussage, daß zwischen den beiden Hemisphären ein prononcierter Unterschied in der kognitiven Funktion bestehen muß. Im einzelnen wäre zu erwarten, daß die zum menschlichen Part gehörenden Funktionen in der linken (dominanten) Hemisphäre lokalisiert sind und die den Göttern zugehörigen Funktionen mehr in der rechten Hemisphäre ausgeprägt. Überdies gibt es keinen Grund, auf die Annahme zu verzichten, daß diese unterschiedlichen Funktionen zumindest residual auch in der Gehirnorganisation des Gegenwartsmenschen vorhanden sind. Die Funktion des Gottes bestand zur Hauptsache in der Anleitung und Planung des Handelns in ungewohnten Situationen. Die Götter taxieren Probleme und organisieren das Handeln nach Maßgabe eines durchgängigen Schemas oder Zwecks mit dem Ergebnis der hochkomplexen bikameralen Kultur; der Zusammenhang unter einer Vielfalt disparater Einzelglieder, wie etwa zwischen Saatzeit und Erntezeit, das taxonomische System der produzierten Güter wie überhaupt die Zusammenbindung grenzenloser Mannigfaltigkeit zu einem planvollen Ganzen ist ihr Werk, das sie schaffen, indem sie dem neurologischen Mensch-Part im Allerheiligsten des gesprochenen, analytischen Wortes die entsprechenden Direktiven erteilen. Wir dürfen also erwarten, daß eine der heute residual noch verbliebenen Funktionen der rechten Hemisphäre im Organisatorischen liegt, in der taxonomischen Gliederung der innerhalb einer Kultur anfallenden Erfahrungen und ihrer Integra-
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tion zu einer figuralen Ganzheit, die dem Individuum «sagt», was es zu tun hat. Das Bild, das sich ergibt, wenn wir daraufhin eine Reihe von göttlichen Verlautbarungen in der «Ilias», dem Alten Testament oder anderen literarischen Zeugnissen des Altertums überprüfen, stimmt damit überein. Die Mannigfaltigkeit vergangenen wie zukünftigen Geschehens wird gesiebt und kategorisiert und zu einem neuen Bild synthetisiert, letzteres häufig vermittels des A und O aller Synthese, der Metapher. Und diese Funktionen dürfen wir demnach als Charakteristika der rechten Hirnhemisphäre anzutreffen erwarten. Klinische Beobachtungen bestätigen diese Hypothese. Von den Split-brain-Patienten, die uns einige Seiten weiter vorn begegnet sind, wissen wir, daß die rechte Gehirnhälfte mit der ihr zugeordneten linken Hand sich hervorragend auf das Auseinanderhalten und Kategorisieren von Formen und Größen und Materialbeschaffenheiten versteht. Von Patienten mit Hirnverletzungen wissen wir, daß Verletzungen der rechten Hemisphäre das Leistungsvermögen im Bereich der Raumbeziehungen sowie von Ganzheit und Gestalt beeinträchtigen.15 Labyrinthe verkörpern eine Problemsituation, die verlangt, lernend die zahlreichen Einzelelemente einer Raumfigur zum Ganzen zu vereinen. Patienten, denen der rechte Schläfenlappen vollständig entfernt wurde, schaffen es so gut wie nie, sich in einem visuellen oder taktilen Labyrinth zurechtzufinden, während Patienten mit Läsionen gleichen Ausmaßes im linken Schläfenlappen in dieser Hinsicht kaum Schwierigkeiten haben.16 Eine andere Aufgabenstellung, die ebenfalls den Aufbau einer räumlichen Figur aus Einzelteilen einschließt, verkörpert der Block Design Test von S. C. Kohs (auch als Würfel-Test oder Mosaikspiel bekannt), der gewöhnlich als Bestandteil von 15 H. Hecaen, Clinical Symptomatology in Right and Left Hemispheric Lesions, Interhemispheric Relations and Cerebral Dominance, hg. von V.B. Mountcastle, Baltimore: Johns Hopkins Press 1962. 16 Brenda Milner, Visually Guided Maze Learning in Man: Effects of Bilateral, Frontal, and Unilateral Cerebral Lesion’s, Neuropsychologia 3/1965, S. 317-338.
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Intelligenztests angewandt wird. Dem Probanden wird eine einfache geometrische Figur gezeigt; seine Aufgabe besteht darin, diese Figur hinterher mit Würfeln, auf denen ihre Elemente aufgezeichnet sind, nachzulegen. Für die meisten Menschen ist das überhaupt kein Problem. Gehirnverletzte mit einer Schädigung der rechten Hemisphäre jedoch haben dabei extreme Schwierigkeiten, und dieser Zusammenhang ist so auffällig, daß der Test auch zur Diagnose von Läsionen der rechten Hemisphäre eingesetzt wird. Die bereits erwähnten Split-brain-Patienten scheitern meist kläglich, wenn sie die Figur mit der rechten Hand nachlegen sollen. Die linke Hand dagegen – gewissermaßen die Hand der Götter – hat da überhaupt keine Probleme. Ja, bei manchen Split-brain-Patienten mußte die Linke vom Versuchsleiter mit sanfter Gewalt davon abgehalten werden, der ziellos an ihrer simplen Aufgabe herumfummelnden Rechten spontan zu Hilfe zu kommen.17 Diese wie auch andere vergleichbare Beobachtungen führten allgemein zu dem Schluß, daß die rechte Hemisphäre mehr auf synthetische und räumlich-konstruktive Aufgaben spezialisiert ist, die linke dagegen mehr auf Analyse und Sprachperformanz. Die rechte Hemisphäre – darin vielleicht den Göttern vergleichbar – begreift den Sinn von Einzelheiten nur aus deren Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen; sie sieht Ganzheiten. Die linke (dominante) Hemisphäre dagegen sieht – wie die menschliche Komponente der bikameralen Psyche – das einzelne als solches. Diese klinischen Befunde wurden bekräftigt durch eine an normalen Versuchspersonen durchgeführte Untersuchung, die Schule zu machen verspricht.18 Über Schläfen- und Scheitellappen wurden beidseitig EEG-Elektroden befestigt, ehe man die Versuchspersonen einer Reihe von Tests unterzog. Sind unterschiedliche Buchstabensorten niederzuschreiben – eine Aufgabe, die sprachperformative und analytische Befähigungen 17 Zu sehen in einem Film, den R.W. Sperry 1971 an der Princeton University vorführte. 18 David Galin u. R.E. Ornstein, Lateral Specialization of Cognitive Mode: An EEG Study, Psychophysiology 9/1972, S. 412-418.
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aktiviert –, so registriert das EEG über der linken Hemisphäre schnelle Wellen von schwacher Spannung, was bedeutet, daß die linke Hemisphäre die Arbeit verrichtet; über der rechten Hemisphäre treten gleichzeitig langsame Alpha-Wellen (wie sie bei einer Versuchsperson in Ruhestellung mit geschlossenen Augen beidseits registriert werden) in Erscheinung, was verrät, daß die rechte Hemisphäre nicht arbeitet. Erhält dieselbe Versuchsperson eine Aufgabe, die ihre Befähigung zu räumlicher Synthese anspricht – wie beispielsweise der zuvor erwähnte Würfel-Test –, so ergibt sich der umgekehrte Befund. Jetzt tut die rechte Hemisphäre die Arbeit. Weitere Annahmen, welche bestimmten Funktionen residual in der rechten Hemisphäre vorhanden sein müßten, lassen sich aus Überlegungen zu der Frage herleiten, was die göttlichen Stimmen der bikameralen Psyche in bestimmten Situationen zu leisten hatten. Um Erfahrungen sortieren und zu Handlungsanleitungen synthetisieren zu können, mußten die Götter in der Lage sein, gewisse Wiedererkennungsleistungen zu vollbringen. Solche Identifizierungsleistungen sind in sämtlichen göttlichen Verlautbarungen der Literatur des Altertums an der Tagesordnung. Ich meine nicht nur das Identifizieren speziell von Individuen, sondern ebensosehr auch allgemeiner von Menschentypen und Klassen von Sachverhalten. Eine höchst wichtige Leistung des menschlichen Urteilsvermögens war zu allen Zeiten die Identifizierung von Gesichtsausdrücken, insbesondere im Hinblick auf etwaige freundliche oder feindliche Absichten ihres Trägers. Sah ein bikameraler Mensch ein nichtidentifiziertes Individuum auf sich zukommen, dürfte die Entscheidung der Gott-Komponente seiner Mentalität über freundliche oder feindliche Absicht der unbekannten Person von erheblicher überlebenswichtiger Bedeutung gewesen sein. Die nächste Abbildung dient einem Experiment, das ich mir vor ungefähr zehn Jahren aufgrund der soeben beschriebenen Annahme ausgedacht habe. Die zwei Gesichter sind Spiegelbilder voneinander. Ich habe bis dato nahezu tausend Men-
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Diese beiden Gesichter sind Spiegelbilder voneinander. Richten Sie Ihren Blick jeweils auf die Nasen: Welches Gesicht sieht fröhlicher aus?
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schen befragt, welches von beiden fröhlicher aussieht. Durchaus folgerichtig entschieden sich ungefähr 80 Prozent der befragten Rechtshänder für das untere Gesicht mit dem vom Betrachter aus gesehen linksseitig emporgezogenen, also lächelnden Mundwinkel. Daraus folgt, daß sie das Gesicht mit der rechten Gehirnhemisphäre beurteilten – vorausgesetzt natürlich, daß ihr Blick auf den Mittelpunkt des Bildes gerichtet war. Dieses Ergebnis fällt noch überzeugender aus, wenn die Zeichnung mittels eines Tachistoskops dargeboten wird. Wählt man den Brennpunkt genau in der Bildmitte und als Belichtungszeit eine Zehntelsekunde, so erscheint das untere Gesicht ausnahmslos allen Rechtshändern als das fröhlichere. Eine zunächst durchaus plausible andere Erklärung für diese Bereitschaft, einen Gesichtsausdruck anhand der linken Hälfte des Gesichtsfelds zu beurteilen, besagt, daß man es hier mit einer Folgeerscheinung unserer kulturellen Gepflogenheit, von links nach rechts zu lesen, zu tun hat. Und zweifellos erfährt der beschriebene Effekt in unserer Kultur durch diese Gepflogenheit eine Verstärkung. Daß jedoch die Hemisphärendifferen-zierung den eigentlichen Kern der Sache bildet, geht aus den Befunden mit Linkshändern hervor. 55 Prozent der
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befragten Linkshänder sahen das obere Gesicht als das fröhlichere, was darauf hindeutet, daß die linke Hemisphäre die Beurteilung vornahm. Und das läßt sich nicht aus der kulturell vorgegebenen Schreib-Lese-Richtung erklären. Hinzu kommt, daß Menschen mit vollständiger Dominanz der linken Körperhälfte (also nicht nur der Hand) offenbar noch sehr viel häufiger das obere Gesicht als das fröhlichere empfinden. Zu ähnlichen Befunden kamen wir neuerdings in einem Experiment, in dem wir Fotos verwendeten, auf welchen ein Schauspieler Trauer, Fröhlichkeit, Ekel und Überraschung mimt.19 Unsere – sehr sorgfältig auf Rechtshändigkeit hin überprüften – Versuchspersonen hatten zunächst den Blickpunkt eines Tachistoskops zu fixieren, dann wurde ihnen für wenige Millisekunden ein Foto in zentraler Position dargeboten und anschließend mit der gleichen Expositionszeit ein weiteres rechts oder links davon. Die Versuchspersonen hatten zu bestimmen, ob die beiden Bilder identisch oder verschieden waren; die Zeit, die sie für ihre Entscheidung benötigten, wurde registriert. Die meisten identifizierten übereinstimmende Gesichtsausdrücke mit größerer Treffsicherheit und schneller, wenn das Duplikat im linken Gesichtsfeld dargeboten wurde. Im Kontrollversuch wurden Verzerrungen derselben Fotografien benutzt (also im Grunde genommen sinnlose Figuren); auch in diesem Fall wurden übereinstimmende Figuren schneller und sicherer identifiziert, wenn das Duplikat im linken Gesichtsfeld erschien – freilich nicht annähernd mit der Zügigkeit und Zuverlässigkeit wie im Fall der unverzerrten Bilder. Klinisches Material aus jüngerer Zeit deutet unverkennbar in die gleiche Richtung. Das Unvermögen, Gesichter – nicht bloß Gesichtsausdrücke – zu identifizieren, tritt sehr viel häufiger in Verbindung mit Schädigungen der rechten als mit Schädigungen der linken Gehirnhemisphäre auf. In einem
19 Die Durchführung des Experiments oblag Jack Shannon. Wir beide danken Steven Harnad für Kritik und Anregungen.
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klinischen Test besteht die Aufgabe des Patienten darin, anhand der Frontalansicht eines Gesichts unter wechselnden Beleuchtungsverhältnissen die dazugehörigen Dreiviertelansichten zu identifizieren. Patienten mit Läsionen der rechten Hemisphäre haben damit unverhältnismäßig viel größere Schwierigkeiten als normale Probanden oder Patienten mit Läsionen der linken Hemisphäre.20 Das Erkennen von Gesichtern und Gesichtsausdrücken ist also primär eine Funktion der rechten Hemisphäre. Und in ungewohnten Situationen Freund und Feind auseinanderzuhalten war eine der Funktionen der Götter. 5. Das Gehirn in neuer Sicht Wie ist es möglich – so könnte nun eingewandt werden –, daß ein System wie dieses: das Gehirn mit der Struktur, die ich als bikamerale Psyche bezeichnet habe, und die, mit der in unserem Modell beschriebenen Distribution von Funktionen, jahrtausendelang das Substrat der menschlichen Kultur bildete – ich sage: wie ist es möglich, daß hier innerhalb so relativ kurzer Frist ein Wandel des Funktionsprinzips eintritt, in dessen Verlauf jene erzieherischen Stimmen verstummen und wonach wir es alsdann mit einer neuen Organisiertheitsform namens Bewußtsein zu tun haben? Auch wenn es in der Welt seit jenem Wandel Völkermord genug gegeben hat, um eine gewisse natürliche Selektion und Evolution zu bewirken, spielt dieser Punkt in meiner Beweisführung keinerlei Rolle. Was an natürlicher Selektion während der Herausbildung des Bewußtseins ins Spiel kam, hat sicherlich zu dessen Überdauern beigetragen, kann jedoch nicht als Bedingungsrahmen für eine regelrechte Evolution von der bikameralen Psyche zum Bewußtsein in Anspruch genommen werden – 20 H. Hecaen u. R. Angelergues, Agnosia for Faces (Prosopagnosia), Archives of Neurology 7/1962, S. 92-100; A. L. Benton u. M. W. Allen, Impairment in Facial Recognition in Patients with Cerebral Disease, Cortex 4/1968, S. 345-358.
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Evolution in dem Sinn, wie der Weg von den Läufen und Pfoten irgendeines Vorfahren zu den Flossenfüßen der Robben als Evolution bezeichnet wird. Ein angemessenes Begreifen des Sachverhalts läßt sich nur aus einem neuen Bild vom Gehirn gewinnen, unter Preisgabe von Auffassungen, wie sie noch vor wenigen Jahrzehnten geläufig waren. Die neue Perspektive betont vor allen Dingen: die Plastizität des Gehirns; die redundante Repräsentation eines psychischen Vermögens innerhalb einer spezialisierten Region beziehungsweise eines «Zentrums»; die «multiple Steuerung» des einzelnen psychischen Vermögens, also seine Steuerung durch mehrere Zentren, die entweder bilateral paarig angeordnet sind oder in einem Verhältnis zueinander stehen, das Hughlings Jackson als «Re-Repräsentation» von Funktionen bestimmte, als Spiegelung von Spiegelungen der Funktionen auf zunehmend höheren und phylogenetisch jüngeren Entwicklungsebenen des Nervensystems.21 Daß das Gehirn von Säugern in dieser Weise organisiert ist, ist der Grund für jene Erfahrungstatsachen, die sich unter der Rubrik «Wiederherstellung von Funktionen» zusammenfassen lassen. Im Vordergrund des neuen Bildes vom Gehirn steht jedoch die Eigenschaft der Plastizität: Das Gehirn ist sehr viel plastischer als bisher angenommen; es verfügt über einen geradezu schwindelerregenden Überschuß von Neuronen, dergestalt, daß beispielsweise 98 Prozent der Sehnerven einer Katze durchtrennt werden können, ohne daß die Fähigkeit zur Unterscheidung von Helligkeitsgraden und Figuren dadurch verlorengeht.22 Das Gehirn quillt förmlich über von in sich redundant ausgestatteten Zentren, deren jedes vielleicht eine direkte Rolle in einem Leitungsbogen spielt oder die Arbeitsweise anderer Zentren modifiziert, oder beides zugleich, wobei es
21 Hughlings Jackson, Evolution and Dissolution of the Nervous System, Selected Writings of Hughlings Jackson, hg. von J. Taylor, Bd. 2, London: Staples Press 1958, S. 45-75. 22 R. Galambos, T. T. Norton u. G. P. Fromer, Optic Tract Lesions Sparing Pattern Vision in Cats, Experimental Neurology 18/1967, S. 18-25.
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zu den vielfältigsten Formen und Graden der Vernetzung zwischen zusammenwirkenden Zentren kommen kann. Dieses ganze System redundanter Repräsentation und multipler Steuerung führt zu dem Bild eines sehr viel wandelbarer organisierten Gehirns, als die ältere Neurologie wahrhaben wollte. Die Ausführung einer Verhaltenseinheit oder eines Verhaltensmusters beschäftigt eine Unmenge gleichartiger Neuronen eines bestimmten Zentrums und versetzt unter Umständen eine Reihe weiterer Zentren in Aktion, die je nach ihrem evolutionären Status in unterschiedlichen Konfigurationen von Hemmung und Bahnung miteinander gekoppelt sind. Die Dichte der Kopplungen zwischen den einzelnen Zentren schwankt ihrerseits von Funktion zu Funktion gewaltig.23 Mit anderen Worten, das Ausmaß der Veränderungen, denen die Distribution kortikaler Funktionen unterliegen kann, ist für jede Funktion ein anderes; die Veränderlichkeit der Distribution als solche jedoch ist, wie jetzt immer offenkundiger wird, ein hervorstechendes Kennzeichen des Gehirns der höheren Säuger. Der biologische Zweck, der Selektionsvorteil derartiger redundanter Repräsentation und multipler Steuerung sowie der daraus resultierenden Plastizität, ist ein doppelter: Zum einen ist das Gehirn damit gegen die Auswirkungen von Läsionen gesichert, zum anderen – und das dürfte der wichtigere Aspekt sein – ergibt sich so ein Organismus, der weitaus flexibler, anpassungsfähiger auf das Risiko ständig sich wandelnder Umweltbedingungen zu antworten in der Lage ist. Ich denke hierbei an existentielle Risiken der Art, wie die fortschreitende Vergletscherung sie für den Urmenschen mit sich brachte, und selbstverständlich auch an jenes noch viel größere Risiko, das im Scheitern der bikameralen Psyche lag und dem Menschen die Anpassungsleistung des Bewußtseins abnötigte. Das bedeutet aber nicht nur, daß das Verhalten des ausgewachsenen Menschen weniger rigide ist als das seiner 23 Ich stütze mich hier auf einen vorzüglichen neueren Abriß dieses Fragenkomplexes: Burton Rosner, Brain Functions, Annual Reviews of Psychology 21/1970, S. 555-594.
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Vorfahren, obzwar dies gewiß auch zutrifft. Wichtiger jedoch ist, daß damit ein Organismus geschaffen ist, bei dem Einzelheiten der frühkindlichen Entwicklungsgeschichte beträchtliche Konsequenzen für die spätere Gehirnorganisation haben können. Noch vor wenigen Jahren hätte eine solche Idee für rundheraus abwegig gegolten. Doch eine steigende Flut einschlägiger Forschungen hat jegliche starre Auffassung vom Gehirn weggewaschen und die Tatsache ins Licht gerückt, in welch erstaunlichem Umfang das Gehirn Strukturdefizite – gleichgültig, ob angeborene Deformationen oder spätere Läsionen – zu kompensieren vermag. Zahlreiche Untersuchungen an Tieren haben bewiesen, daß Gehirnschädigungen im Kindheitsstadium sich im Verhalten des erwachsenen Exemplars kaum auswirken, während gleichartige Läsionen im ErwachsenenStadium hier gravierende Veränderungen bewirken können. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß frühkindliche Schädigungen der linken Hemisphäre beim Menschen normalerweise in einer Verlagerung des gesamten Sprachapparats in die rechte Hemisphäre resultieren. Einer der verblüffendsten Beweise für diese Elastizität des Gehirns ist der Fall eines fünfunddreißigjährigen Mannes, der an einer Unterleibsgeschwulst gestorben war. Die Autopsie ergab, daß ihm die Fimbria hippocampi, die Fornix, das Septum pellucidum sowie das größte Stück vom Mittelteil des Thalamus von Geburt an fehlten; außerdem besaß er einen abnorm kleinen Hippokampus und einen ebenso abnorm kleinen Gyrus parahippocampalis und Gyrus dentatus. Ungeachtet dieser beträchtlichen Anomalien hatte der Patient sich stets als «Gemütsmensch» und «Lebenskünstler» erwiesen und war in der Schule sogar Klassenbester gewesen!24 Während des Wachstums kompensiert also das Nervensystem Erb- oder umweltbedingte Schäden, indem es andere, wiewohl weniger begangene Entwicklungswege einschlägt und 24 P. W. Nathan u. M. C. Smith, Normal Mentality Associated with a Maldeveloped Rhinencephalon, Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry 13/ 1950, S. 191-197 (zit. nach Rosner, a.a.O.)
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dabei unversehrtes Gewebe in Dienst nimmt. Im Erwachsenenstadium, nach Abschluß der Entwicklung, sind diese Wege versperrt. Die durchgebildete Gehirnorganisation ist bereits auf normalem Weg erreicht. Nur im Verlauf der Kindheitsentwicklung kann die Neugliederung, die vom Normalfall abweichende Redistribution der Systeme der multiplen Steuerung erfolgen. Und ganz entschieden trifft dies für die im vorliegenden Zusammenhang zentral wichtige Beziehung zwischen den beiden Gehirnhemisphären zu.25 Vor diesem Hintergrund sehe ich nichts, was gegen die Annahme spräche, daß die Region der rechten (nichtdominanten) Gehirnhemisphäre, die das Gegenstück zum Wernicke-Zentrum bildet, in der bikameralen Epoche ihre genau umschriebene bikamerale Funktion ausübte, daß sie jedoch nach Jahrtausenden der psychologischen Neugliederung, der Redistribution, in welchem Zeitraum jeder aufkeimende Ansatz zur Bikameralität bereits in früher Kindheit unterdrückt wurde, ganz anders funktioniert. Aus denselben Gründen wäre es verfehlt zu glauben, daß die gegenwärtige Neurologie des Bewußtseins, wie immer sie aussehen mag, eine für alle Ewigkeit festgeschriebene Größe sei. Die Beispiele, die wir in diesem Kapitel kennengelernt haben, sprechen im Gegenteil dafür, daß kein unabdingbar festgelegter Zusammenhang besteht zwischen Hirngewebe und der Funktion, die es ausübt; und damit ist es durchaus denkbar, daß veränderte Umstände, die dem Individuum ein verändertes Entwicklungsprogramm vorschreiben, Veränderungen der Hirnorganisation bedingen können.
25 R. E. Saul u. R. W. Sperry, Absence of Commissurotomy Symptoms with Agenesis of the Corpus Callosum, Neurology 18/1968, S. 307; D. L. Reeves u. C. B. Carville, Complete Agenesis of Corpus Callosum: Report of Four Cases, Bulletin of Los Angeles Neurological Society 3/1938, S. 169-181.
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SECHSTES KAPITEL Der Ursprung der Kultur
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PSYCHE – wozu das? Und warum Götter? Was mag der Ursprung des Göttlichen sein? Und wenn das menschliche Gehirn in der bikameralen Epoche so organisiert war, wie ich es im vorausgegangenen Kapitel darstellte: was für ein Selektionsdruck könnte im Lauf der Evolution des Menschen ein so einschneidendes Ergebnis hervorgebracht haben? Die spekulative These, die ich in diesem Kapitel zu explizieren versuchen werde – und sie ist sehr spekulativ –, ist einfach nur eine selbstverständliche Folgerung aus dem Bisherigen. Die bikamerale Psyche ist eine Form von sozialer Kontrolle – diejenige Form der sozialen Kontrolle, die den Übergang der Menschheit von Jäger-und-Sammler-Kleingruppen zu ackerbauenden Gemeinschaften möglich machte. Die bikamerale Psyche mit ihren göttlichen Kontrollinstanzen bildet das Endstadium der Evolution der Sprache. Und in dieser Entwicklung liegt der Ursprung der Kultur. Was bedeutet der Begriff der sozialen Kontrolle? Beginnen wir mit einer Klärung dieser Frage. BER BIKAMERALE
GRUPPENEVOLUTION Die Säuger insgesamt weisen ein breites Spektrum sozialer Gruppenbildung auf, das vom Einzelgängertum bestimmter Raubtiere bis hin zu dem sehr starken sozialen Zusammenhalt reicht, der bei anderen Arten und Familien anzutreffen ist. Tiere, die in Gruppen leben, sind häufiger Jagdobjekte von Räubern: soziale Gruppenbildung als solche ist eine Erbanpassung zum Schutz gegen Räuber. Bei Huftieren ist die Struktur der Herde verhältnismäßig einfach und wird mittels präzis umschriebener, genetisch verankerter anatomischer und beha-
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vioraler Signale aufrechterhalten, die alle dem Schutz der Gruppe dienen und infolgedessen evolutionär selegiert wurden. Primaten sind von ähnlicher Verletzbarkeit und haben sich daher gleichfalls zu Herdentieren mit hohem Zusammenhalt untereinander entwickelt. Im Schutz dichter Wälder mag die Zahl der Gruppenmitglieder nicht mehr als sechs betragen, wie etwa bei den Gibbons, in offenerem Gelände dagegen kann sie sich bis auf achtzig belaufen, so zum Beispiel bei den südafrikanischen Tschakmas (Bärenpavianen).1 Unter ausgefallenen Umweltbedingungen kann der Gruppenumfang sogar noch größer sein. Es ist demnach die Gruppe, die sich evolutionär entwickelt. Wenn dominante Tiere einen Warnruf ausstoßen oder davonlaufen, ergreifen die anderen Gruppenmitglieder die Flucht, ohne von der Gefahrenquelle Notiz zu nehmen. So ist es die Erfahrung eines einzelnen Exemplars und sein Dominanzstatus, was der Gruppe als ganzer Vorteil bringt. Einzeltiere reagieren im allgemeinen noch nicht einmal auf elementare physiologische Bedürfnisse, solange die damit verbundene Handlung nicht dem Gesamtschema der augenblicklichen Gruppenaktivität entspricht. So verläßt beispielsweise ein durstiger Pavian nicht die Gruppe und begibt sich auf die Suche nach Wasser: entweder wechseln alle Gruppenmitglieder gemeinsam den Standort oder keines. Durst wird im Rahmen der autonom strukturierten Gruppenaktivität gestillt. Das gleiche gilt, mutatis mutandis, auch für andere Bedürfnisse und Situationen. Das Wichtige an der Sache ist für uns, daß diese Sozialstruktur von der Kommunikation unter den Individuen abhängt. Bei den Primaten hat daher die Evolution zu einer ungeheuren Vielfalt komplexer Signale geführt: Die taktile Kommunikation reicht vom Huckepack und der Körperpflege bis zu den verschiedenen Formen der Umarmung, des Stupsens mit
1
Irven DeVore u. K. R. L. Hall, Baboon Ecology, Primate Behavior, hg. von I. DeVore, New York: Holt, Rinehart & Winston 1965, Kap. 2, S. 20-52.
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der Schnauze und des Befingerns; dazu kommen im stimmlichen Bereich diverse Grunz-, Bell- und Kreischtöne sowie mehr oder weniger heftiges Schnattern, wobei das alles ohne scharfe Abgrenzung ineinander übergeht; überdies gibt es noch nichtvokale Lautsignale, wie etwa Zähneknirschen oder das Patschen auf Zweige;2 zu den visuellen Signalen zählt eine Reihe unterschiedlichster Gesichtsausdrücke, dazu das drohende Auge-in-Auge-Starren, bei Pavianen ein bestimmtes Lidflattern, bei dem die Brauen hochgezogen und die Augenlider gesenkt werden, so daß ihre helle Färbung scharf gegen den dunkleren Hintergrund des Gesichts kontrastiert, das Ganze begleitet von aggressivem Zähnefletschen; auch Körperbewegungen und Gesten dienen als Signale, so etwa plötzliches Vorwärtsschießen, Kopfrucken oder Wedeln mit den Händen, und das alles in den unterschiedlichsten Zusammenstellungen.3 Dieses enorm umfangreiche, komplexe und redundante Signalverhalten dient in allererster Linie den Erfordernissen der Gruppenexistenz, der Schaffung einer sozialen Rangordnung (als Dominanz-Unterordnungs-Hierarchie), der Aufrechterhaltung des Friedens, der Reproduktion und der Aufzucht der Jungen. Mit Ausnahme der Fälle, wo sie eine potentielle Bedrohung der Gruppe anzeigen, beziehen sich die Signale der Primaten selten auf Vorkommnisse außerhalb der Gruppe, etwa Nahrungs- oder Wasservorkommen.4 Sie verbleiben vollständig im Bereich der Gruppenangelegenheiten und sind nicht so weit entwickelt, daß sie Umweltinformationen übermitteln könnten, wie die menschliche Sprache das vermag. Damit hätten wir unseren Ausgangspunkt. Unter gleichbleibenden Umweltbedingungen ist es für die meisten Tierarten 2 3 4
K. R. L. Hall, The Sexual, Agonistic, and Derived Social Behaviour Patterns of the Wild Chacma Baboon (Papio ursinus), Proceedings of the Zoological Society, London, 139/1962, S. 283-327. Peter Marler, Communication in Monkeys and Apes, Primate Behavior, Kap. 16. Wie man es von manchen Vogelarten kennt. Vgl. M. Konishi, The Role of Auditory Feedback in the Vocal Behavior of Domestic Fowl, Zeitschrift für Tierpsychologie 20/1963, S. 349-367.
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das gegebene Kommunikationssystem, was über die Größe der Gruppe entscheidet. Paviane bringen es zu Gruppen von bis zu 80 und mehr Einzeltieren, indem sie bei ihren Wanderungen auf den Savannen ein streng geometrisches Muster aus Untergruppen bilden, deren jede für sich eine Dominanzhierarchie darstellt. Aber im allgemeinen überschreitet die normale Primatengruppe nicht die Zahl von 30 bis 40 Mitgliedern, ein Limit, das sich aus den für eine funktionierende Dominanz-Unterordnungs-Hierarchie erforderten Kommunikationsbedingungen ergibt. Bei Gorillas zum Beispiel bildet das dominante Männchen – normalerweise das größte weißrückige Exemplar – zusammen mit sämtlichen Weibchen und den Jungen den Kern der rund zwanzig Einzeltiere zählenden Herde, während die übrigen Männchen mehr oder weniger an die Peripherie verwiesen sind. Der Durchmesser einer Herde ist so gut wie niemals größer als 60 Meter, da jedes Tier in der dichtwaldigen Umgebung die Bewegungen einzelner Genossen im Auge behält.5 Die Herde wechselt den Ort, wenn das dominante Männchen mit gespreizten Beinen reglos stehenbleibt und in eine bestimmte Richtung blickt. Dann scharen sich die anderen Gruppenmitglieder um den Anführer, und der ganze Trupp rückt ein Stück weiter auf seiner gemütlichen Tagesroute von etwa 500 Metern. Hier kommt es entscheidend darauf an, daß die verzweigten Kommunikationskanäle zwischen der Spitze der Dominanzhierarchie und dem Rest der Gruppe jederzeit offen und intakt bleiben. Nichts spricht dafür, daß die Lebensweise des Frühmenschen nach Entstehung der Gattung Homo vor zwei Millionen Jahren auch nur im geringsten anders ausgesehen hätte. Die archäologischen Zeugnisse, soweit vorhanden, deuten auf eine Gruppenstärke von rund 30 Mitgliedern hin.6 Diese Zahl, 5 6
G. Schaller, The Mountain Gorilla: Ecology and Behavior, Chicago: University of Chicago Press 1963. Glynn L. Isaac, Traces of Pleistocene Hunters: An East African Example, Man the Hunter, hg. von Richard B. Lee u, Irven DeVore, Chicago: Aldine Press 1968.
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so meine ich, war als Höchstmaß festgelegt durch das Problem der sozialen Kontrolle und die Übertragungskapazität der Kommunikationskanäle zwischen den Individuen.7 Und es dürfte so sein, daß die Götter aus keinem anderen Grund auf der Bühne der Evolutionsgeschichte erschienen sind, als um dieses Problem des von vornherein eingeschränkten Gruppenumfangs zu lösen. Doch bevor wir uns diesem Gesichtspunkt zuwenden, müssen wir erst noch einige Betrachtungen über die Evolution der Sprache als der notwendigen Voraussetzung für die Existenz von Göttern überhaupt einschalten.
DIE EVOLUTION DER SPRACHE Die Frage von Zeitpunkt und Zeitraum Man findet gemeinhin die Ansicht vertreten, die Sprache sei ein so integrierender Teil der menschlichen Konstitution als solcher, daß ihre Anfänge über mehr oder weniger die gesamte stammesgeschichtliche Ahnenreihe des heutigen Menschen, also einen Zeitraum von zwei Millionen Jahren, hinweg auf die Anfänge der Gattung Homo selber zurückreichen müßten. Die meisten heutigen Linguisten, die ich kenne, würden mir die Wahrheit dieser Auffassung hoch und heilig beteuern. Aber gerade diese Auffassung ist es, mit der ich hier rundheraus und so entschieden wie nur möglich brechen möchte. Wenn die ersten Menschen am Anfang dieser zwei Millionen Jahre auch nur im Keim über eine Sprache verfügten – weswegen haben sie uns dann kaum Zeugnisse auch nur der einfachsten Kultur und Technik hinterlassen? Denn abgesehen von allerprimitiv7
Die Gruppenstärke ist in etwa die gleiche wie bei nomadischen Jägerstämmen der Neuzeit. Ansonsten jedoch sind die beiden Fälle nicht miteinander vergleichbar. Vgl. Joseph B. Birdsell, On Population Structure in Generalized Hunting and Collecting Populations, Evolution 12/1958, S. 189-205.
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sten Steinwerkzeugen hat uns die Archäologie für die gesamte Zeit vor 40000 v. Chr. in dieser Hinsicht wirklich nur Dürftiges zu bieten. Wer bestreitet, daß der Urmensch sprechen konnte, bekommt zuweilen den Einwand zu hören: Aber wie haben die Menschen dann ihr Leben bewältigt und miteinander kommuniziert? Die Antwort darauf ist sehr einfach: Genau wie alle anderen Primaten mit einer Fülle von visuellen und stimmlichen Signalen, die freilich sehr weit entfernt waren von der syntaktischen Sprache, deren wir uns heute bedienen. Und wenn ich dann sogar so weit gehe, diese Sprachlosigkeit bis weit ins Pleistozän – in dem der Mensch verschiedene Formen von behauenen Geröllsteinen und Faustkeilen als Gerätschaften entwickelte – hinein dauern zu lassen, nehmen das meine sprachwissenschaftskundigen Bekannten abermals zum Anlaß, meine anmaßende Unwissenheit zu beklagen und heilige Eide darauf zu schwören, daß man Sprache nötig hatte, um derartige, sei’s auch bloß rudimentäre Fertigkeiten von einer Generation an die nächste weitergeben zu können. Aber bedenken wir einmal, daß es so gut wie unmöglich ist, sprachlich zu beschreiben, wie man einen Feuerstein so behaut, daß ein Faustkeil daraus wird. Dieses Können wurde ganz allein durch Imitationslernen tradiert, auf haargenau dem gleichen Weg also, auf dem Schimpansen den Trick mit dem Strohhalm weitergeben, den man in einen Ameisenhügel steckt, um Ameisen herauszuangeln. Das Problem ist das gleiche wie bei der Weitergabe der Kunst des Fahrradfahrens: spielt die Sprache dabei irgendeine Rolle? Da die Sprache Informationsübertragung großen Stils ermöglicht, bringt sie notwendigerweise dramatische Wandlungen in der menschlichen Aufmerksamkeitsorientierung gegenüber Personen wie Sachen mit sich; infolgedessen muß sie in einer Zeitperiode entstanden sein, für die derartige Wandlungen archäologisch bezeugt sind. Eine solche Periode ist das späte Pleistozän: grob umrissen die Zeitspanne von 70000 bis 8000 v. Chr. In klimatischer Hinsicht war sie durch beträchtliche Temperaturschwankungen gekennzeichnet, die
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in Parallele zum Ab- und Zunehmen der Vereisung standen, und in biologischer Hinsicht durch die Auswirkungen dieser Klimawechsel: gewaltige Wanderbewegungen von Tieren und Menschen. Aus dem afrikanischen Herzland dehnte sich die Hominidenpopulation explosionsartig in die eurasische Subarktis und weiter auf den amerikanischen Doppelkontinent und nach Australien aus. Rund um das Mittelmeer erreichte die Population einen Höchststand wie nie zuvor und übernahm die Führung in der kulturellen Innovation, wodurch sich der Brennpunkt der kulturellen und biologischen Menschheitsentwicklung aus den Tropen in die mittleren Breiten verlagerte.8 Feuer, Höhlen und Pelze schufen für den Menschen eine Art transportables Mikroklima, das diese Wanderungen ermöglichte. Wir sind es gewohnt, jene Menschen als Spät-Neandertaler zu bezeichnen. Zuzeiten glaubte man, es habe sich bei ihnen um eine Spezies für sich gehandelt, die um 35000 v. Chr. vom Cro-Magnon-Menschen verdrängt wurde. Die neuere Auffassung geht jedoch dahin, daß sie nur eine von vielen Varietäten auf der allgemeinen menschlichen Stammeslinie waren, der Varietäten, deren Vielzahl ein beschleunigtes Evolutionstempo ermöglichte zu jenen Zeiten, als der Mensch mit seinem künstlichen Klima im Gepäck in die neuen ökologischen Nischen einströmte. Die bisherige Forschung reicht noch nicht aus, die tatsächlichen Siedlungsschemata zu bestimmen, doch scheinen sie sich nach neuester Einsicht vor allem durch Abwechslungsreichtum auszuzeichnen: Es gab Gruppen, die ständig unterwegs waren, während andere jahreszeitlich bedingt wanderten und wieder andere das ganze Jahr seßhaft blieben.9 Ich habe die Klimaänderungen während dieser jüngsten Eiszeit deswegen besonders betont, weil ich glaube, daß sie der 8 9
J. D. Clark, Human Ecology During the Pleistocene and Later Times in Africa South of the Sahara, Current Anthropology 1/1960, S. 307-314. Vgl. Karl W. Butzer, Environment and Archaeology: An Introduction to Pleistocene Geography, Chicago: Aldine Press 1964, S. 378.
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Ursprung des Selektionsdrucks waren, der über mehrere Stadien hin die Entwicklung der Sprache prägte. Rufe, Modifikatoren, Imperative Erstes Stadium und Conditio sine qua non der Sprachentwicklung ist der Übergang von zufallsbedingten «unwillkürlichen» Ausrufen zu intentionalen Zurufen, nämlich Ausrufen, die im Prinzip so lange wiederholt werden, bis eine Verhaltensänderung des Empfängers sie abstellt. Auf der vorausliegenden Etappe in der Evolution der Primaten waren nur mimische/gestische Signale wie die Drohgebärden, also visuelle Signale, intentionale Signale gewesen. Die evolutionäre Ausdehnung der Intentionalität auf auditive Signale wurde unumgänglich, als der Mensch in nördliche Klimate einwanderte, wo sowohl im Freien wie in den dunklen Höhlen, die er sich zur Behausung wählte, die Lichtverhältnisse schlechter waren und visuelle Signale nicht mit der gleichen Zuverlässigkeit und Promptheit übermittelt werden konnten wie auf den sonnigen afrikanischen Savannen. Der fragliche Evolutionsprozeß dürfte bereits im tertiären Eiszeitalter, womöglich sogar noch früher eingesetzt haben. Doch erst wenn im quartären Eiszeitalter zunehmende Kälte und Dunkelheit in den nördlichen Klimaten erlebt werden, bedeuten die intentionalen Stimmsignale einen Selektionsvorteil für den, der über sie verfügt. Was ich hier biete, ist das Resümee einer Theorie der Sprachevolution, die ich anderswo ausführlicher und mit umfassender Argumentation dargelegt habe.10 Diese Theorie ist nicht als das letzte Wort über das tatsächliche Evolutionsgeschehen gemeint, sondern vielmehr als eine grob umrissene Arbeitshypothese zur ersten Annäherung an die Tatsachen. Überdies handelt es sich bei den von mir beschriebenen Stadien der Sprachentwicklung nicht notwendigerweise um diskrete (abge10 Julian Jaynes, The Evolution of Language in the Late Pleistocene, Annals of the New York Academy of Sciences Bd. 280 (1976).
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grenzte) Zustände, noch treten sie allerorten stets in der gleichen Reihenfolge auf. Um es zu wiederholen: die zentrale Aussage, die sich aus meiner Sicht der Dinge ergibt, lautet: Jede neue Etappe der Wortgeschichte schuf buchstäblich neue Wahrnehmungen und eine neue Aufmerksamkeitsorganisation, und diese neuen Wahrnehmungen und Aufmerksamkeitsrichtungen hatten jeweils bedeutende kulturelle Veränderungen zur Folge, die sich in den archäologischen Zeugnissen widerspiegeln. Die ersten Elemente einer Wortsprache waren die Schlußlaute intentionaler Rufe in der durch unterschiedliche Intensität bewirkten Differenzierung. So würde man zum Beispiel einen Warnruf in einer höchst akuten Gefahrensituation mit erheblich verstärktem Nachdruck ausstoßen, wodurch das Schlußphonem eine Veränderung erfährt. Ein sprungbereiter Tiger etwa könnte ein «wa-hi!» provozieren, während man es für einen Tiger in der Ferne mit einem weniger nachdrücklichen Ruf – der dementsprechend anders auslautet, etwa «wa-hu!» – genug sein läßt. Aus diesen Endungen wurden in der Folge die ersten Modifikatoren, mit der Bedeutung «nah» und «fern». Und der nächste Schritt bestand darin, daß diese Endungen «hi» und «hu» vom ursprünglichen Ruf abgetrennt und unter Erhaltung ihres Bedeutungswerts mit anderen Rufen kombiniert werden konnten. Der springende Punkt hierbei ist, daß die Differenzierung von Stimmlauten zu spezifizierenden Konstituenten der Erfindung der zu spezifizierenden Nomina vorausgehen mußte und nicht umgekehrt. Und was noch wichtiger ist: in diesem Stadium hat die Sprache lange verharren müssen, bis jene Modifikatoren stabilisiert waren. Die langsame Entwicklung war auch in dem Erfordernis begründet, das Grundrepertoire des Rufsystems intakt zu halten, damit es weiterhin seine intentionalen Funktionen erfüllen konnte. Die Epoche der Modifikatoren dauerte vermutlich bis um 40000 v. Chr., bis zu der Zeit also, die in archäologischer Hinsicht durch retuschierte Faustkeile (Einseiter wie Zweiseiter) gekennzeichnet ist. Die nächste Etappe könnte eine Epoche des Imperativs gewesen sein, in der die Modifikatoren – abgetrennt von den
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Rufen, die sie spezifizieren, und verselbständigt – nunmehr direkt zur Spezifizierung von menschlichem Handeln dienen konnten. Insbesondere seit die Menschen unter kühleren Klimabedingungen mehr und mehr auf die Jagd als Lebensunterhalt angewiesen waren, muß der auf einer solchen mittels stimmlicher Kommandos zusammengehaltenen und gesteuerten Gruppe von Jägern lastende Selektionsdruck immens gewesen sein. Und es ist nicht schwer, sich vorzustellen, daß die Erfindung eines Modifikators mit der Bedeutung «schärfer», und dieser sodann als Kommando ausgegeben («schärfer!»), einen merklichen Fortschritt in der Herstellung von Gerätschaften aus Feuerstein und Knochen zu bewirken vermochte, der sich in dem Zeitraum 40000-25000 v. Chr. zu einer wahren Explosion von neuen Gerätetypen auswuchs. Substantive Sobald ein Stamm über ein Repertoire von Modifikatoren und Imperativen verfügt, ist die Notwendigkeit, das ältere, primitive Rufsystem unverändert aufrechtzuerhalten, hinfällig geworden und kann erstmals so weit gelockert werden, wie es erforderlich ist zur Bezeichnung von Referenten der Modifikatoren und Imperative. Bedeutete «wa-hi!» mit seinem höheren Intensitätsgrad einmal eine akute Gefahr, so könnte «wa-k-i!» jetzt einen herannahenden Tiger und «wa-b-i!» einen herannahenden Bären signalisieren. Wir hätten hier die ersten Sätze – bestehend aus Substantiv + prädikativem Modifikator (in Suffixform) – vor uns: zu dergleichen dürfte es zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen 25000 und 15000 v. Chr. gekommen sein. Dies sind nicht einfach willkürlich aus der Luft gegriffene Spekulationen. Daß auf Modifikatoren Imperative und – jedoch erst wenn diese hinreichend stabilisiert sind – weiter dann Substantive folgen, ist kein Zufall. Und ebensowenig die Chronologie. Wie die Epoche der Imperative mit der Herstellung von stark verbesserten Geräten einhergeht, so bringt die Epoche der Substantive die Anfänge von Tierdarstellungen auf Höhlenwänden und Gerät aus Horn.
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Das nächste Stadium – praktisch die Fortschreibung des vorigen – bringt die Herausbildung von Substantiven als Sachbezeichnungen. Und wie die Tiernamen einst die Tierdarstellungen hervorriefen, so rufen jetzt die Namen der Dinge neue Dinge hervor. In diese Epoche fällt nach meinem Dafürhalten die Erfindung der Keramik, der Schmuckketten und Anhänger sowie der mit Widerhaken versehenen Harpune und Speerspitze, die zwei letzteren von überragender Bedeutung für die Ausbreitung der menschlichen Spezies in die schwierigeren Klimate. Aus Fossilfunden wissen wir zuverlässig, daß das Gehirn, insbesondere der Stirnlappen vor der Zentralfurche, mit einem Tempo wuchs, das die Evolutionsforscher noch heute in Erstaunen setzt. Und mit dem Abschluß dieser Epoche, die ungefähr dem Zeitraum der Kultur des Magdalénien entspricht, war auch die Entwicklung der Sprachzentren zum heute gegebenen Zustand abgeschlossen. Der Ursprung von Gehörshalluzinationen An dieser Stelle wollen wir uns kurz einem weiteren Problem zuwenden, das sich im Zusammenhang mit der Frage nach dem Ursprung der Götter stellt: der Frage nach dem Ursprung von Gehörshalluzinationen. Die Problematik liegt gerade darin, daß die Existenz solcher Halluzinationen in der Welt von heute nicht zu bezweifeln ist, für die bikamerale Epoche jedoch allenfalls erschlossen werden kann. Woher also halluzinierte Stimmen? Die plausibelste Hypothese ist die, daß sie eine Nebenwirkung des Sprachverstehens waren, das sich durch natürliche Selektion als Mittel der Verhaltenskontrolle herausbildete. Nehmen wir den Fall eines Mannes, der sich selbst oder dem das Stammesoberhaupt den Befehl gab, weit weg vom Lager den Flußlauf hinauf ein Fischwehr anzulegen. Wenn er kein Bewußtsein hat und infolgedessen die Umstände nicht narrativieren kann, das heißt kein «Ich (qua Analogon)» in spatialisierter Zeit mit allem, was dazugehört, vor seinem «inneren
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Auge» sich ständig präsent halten kann – wie geht er dann die Sache an? Ich meine, nur die Sprache hält ihn bei der Stange – bei dieser langwierigen, den Nachmittag aufzehrenden Plackerei. Ein Mensch des mittleren Pleistozäns würde sofort wieder vergessen haben, was er da zu tun im Begriff war. Doch der sprechende Mensch hätte seine Sprache, ihn daran zu erinnern: entweder indem er selbst das Kommando wiederholt – was einen Typ des Wollens voraussetzt, zu dem er meiner Meinung nach seinerzeit noch nicht in der Lage war – oder aber, wie es wahrscheinlicher ist, vermittels wiederholter «innerer» Sprachhalluzination, die ihm sagt, was zu tun ist. Jemandem, der das vorige Kapitel nicht ganz verstanden hat, müssen derartige Überlegungen höchst befremdlich und abwegig vorkommen. Stellt man sich jedoch unumwunden und ernsthaft dem Problem, die Entwicklung des menschlichen Geistes einsehbar zu machen, dann erkennt man, daß solche Lösungsvorschläge wichtig und notwendig sind, auch wenn wir derzeit noch nicht wissen, auf welchem Weg sie zu substantiieren wären. Ein Verhalten, das enger an aptische Strukturen gebunden ist (in älterer Ausdrucksweise: «Instinktverhalten»), bedarf keiner fortwährenden Impulszündung. Aber erlernte Handlungsweisen ohne Endhandlung müssen durch einen äußeren Faktor, der nicht zur Handlung selbst gehört, aufrechterhalten werden. Und Sprachhalluzinationen könnten der Faktor sein, der das leistet. So etwa setzt der halluzinierte Imperativ «Schärfer!» den Urmenschen ohne Bewußtsein beim Verfertigen eines Geräts in den Stand, für sich allein bei der Sache zu bleiben. Das gleiche leistet ein halluzinierter Ausdruck mit der Bedeutung «feiner» für einen anderen, der Körner zwischen Steinen zu Mehl zerreibt. In der Tat begann nach meiner Meinung zu diesem Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte das artikulierte Sprechen unter dem Selektionsdruck langwieriger Aufgaben im Gehirn nur mehr einseitig repräsentiert zu werden, damit die andere Seite frei blieb für die halluzinierten Stimmen, die dieses Verhalten aufrechterhielten.
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Die Epoche der Eigennamen In leider nur allzu skizzenhafter Raffung zeigten wir bisher, was aus der Evolution der Sprache nicht wegzudenken ist. Doch bevor die Götter ihren Auftritt haben konnten, mußte zuerst noch ein weiterer Schritt gemacht, mußte die Erfindung eines hochbedeutsamen sozialen Phänomens getätigt werden: die Erfindung der Eigennamen. Es berührt uns irgendwie seltsam, zu hören, daß Eigennamen an einem speziellen Punkt der Menschheitsgeschichte speziell erfunden werden mußten. Wann war das? Und welche Veränderungen in der menschlichen Kultur mußte das bedingen? Ich meine, nicht vor dem Mesolithikum, so etwa zwischen 10000 und 8000 v. Chr. traten erstmals Eigennamen auf. Während dieser Periode paßte der Mensch sich den veränderten Umweltbedingungen der wärmeren Nacheiszeit an. Die ausgedehnte Eisdecke war bis auf die Höhe von Kopenhagen zurückgewichen, und der Mensch stimmt sich jetzt auf ein spezifisch neues Umweltverhältnis ein, auf die Jagd in der Tundra, das Waldleben, das Schalentiersammeln oder auf die Kombination von Festlandjagd mit der Ausbeutung maritimer Ressourcen (Fischfang, Muschelsammeln, Schlingenjagd am Strand). Die Lebensweise dieser Menschen zeichnet sich gegenüber der ihrer Vorläufer, der mobileren Jägertrupps mit ihrer hohen Sterblichkeit, durch stabilere Populationen aus. Verfestigung der Populationsverhältnisse, Verfestigung zwischenmenschlicher Beziehungen, erhöhte Lebenserwartung und wahrscheinlich innerhalb der Einzelgruppe eine größere Zahl von Mitgliedern, die auseinanderzuhalten waren – das alles macht sowohl Notwendigkeit wie Wahrscheinlichkeit der Weiterentwicklung vom Substantiv zum Eigennamen für das einzelne Individuum leicht begreiflich. Sobald aber nun ein Stammesmitglied seinen eigenen Namen hat, kann es in seiner Abwesenheit gewissermaßen reproduziert werden. Man kann an «ihn»/«sie» denken – «denken» in der speziellen, keine Bewußtseinskomponente einschließenden Bedeutung des Eingliederns in Sprachstruk-
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turen. Zwar gibt es auch aus früherer Zeit Funde, die man zur Not als Gräber bezeichnen kann, doch begegnen wir erstmals in dieser Epoche der förmlichen Bestattung als allgemeinem Brauch. Nun denken Sie sich einen jüngst Verstorbenen, der Ihnen nahestand, und nehmen Sie einmal an, er oder sie wäre namenlos: Wie wäre es dann um Ihren Kummer bestellt? Wie lange könnte er währen ? Vermutlich hatte der Mensch in vorausgegangenen Zeiten, wie die anderen Primaten auch, seine Toten einfach dort liegenlassen, wo sie gerade verendet waren; oder er hatte sie mit Steinen zudringlichen Blicken entzogen und in manchen Fällen sie wohl auch gebraten und verzehrt.11 Aber genau wie die generische Bezeichnung für ein Tier die Objektbeziehung intensiviert, so auch der Eigenname der menschlichen Person. Und wenn die Person stirbt, dauert gleichwohl der Name und damit die Beziehung weiter fast wie zu Lebzeiten, und daher rühren die Bestattungssitten und die Trauer. Die Vertreter der mesolithischen Ertebölle-Kultur von Morbihan beispielsweise beerdigten ihre Toten in Fellkleidern, die von Knochennadeln zusammengehalten wurden; manchmal gaben sie ihnen ein Hirschgeweih als Kopfschmuck mit und bedeckten sie zum Schutz mit Steinplatten.12 Aus anderen Gräbern der gleichen Periode kamen Tote mit Krönchen, vielfältigen Schmuck- und möglicherweise auch Blumenbeigaben zum Vorschein, sämtlich in sorgfältig ausgehobene Gruben gebettet – was alles, wie ich meine, das Resultat der Erfindung des Eigennamens ist. Aber noch ein anderer Wandel stellt sich gemeinsam mit den Namen ein. Bis zur fraglichen Periode waren vermutlich fallweise auftretende Gehörshalluzinationen anonym und ohne die geringste Bedeutung im sozialen Interaktionszusammenhang geblieben. Sobald jedoch diese oder jene Halluzination namentlich – als von dieser oder jener bestimmten Person aus11 So um die Mitte des Pleistozäns in Chou-Kou-Tien und später in der Höhle von Krapina in Kroatien. Vgl. Grahame Clark und Stewart Piggott, Prehistoric Societies, London: Hutchinson 1965, S. 61. 12 Grahame Clarke, The Stone Age Hunters, New York: McGraw-Hill 1967, S. 105.
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gehende Stimme – identifiziert wird, gewinnt der Vorgang eine ganz andere Qualität. Die Halluzination ist jetzt eine soziale Interaktion von sehr viel größerem Einfluß auf das Verhalten des Individuums. Vor ein neues Problem geraten wir hier mit der Frage, wie denn nun halluzinierte Stimmen eine Identität bekamen, mit welcher Person sie identifiziert wurden und wie sie, wenn sie zu vielen auftraten, auseinandergehalten wurden. Die vorhandenen autobiographischen Schriften Schizophrener werfen einiges Licht auf diese Fragen – freilich nicht genug, um uns in die Lage zu versetzen, hier tiefer in die Materie eindringen zu können. Wir benötigen dringend Spezialforschungen in diesem Bereich des schizophrenen Erlebens, die uns helfen würden, unser Verständnis des Menschen der mittleren Steinzeit zu erweitern. Das Aufkommen der Landwirtschaft Wir stehen nunmehr an der Schwelle zur bikameralen Epoche, denn der Mechanismus der sozialen Kontrolle, der die Organisation zahlenstarker Populationen zu Stadtstaaten erlaubt, ist vorhanden. Es herrscht allgemeine Übereinstimmung, daß der Übergang von der Jäger-und-Sammler-Wirtschaft zu einer Wirtschaftsweise, die auf der Produktion der Nahrungsmittel durch Domestikation von Pflanze und Tier beruht, der Riesenschritt war, der Kultur und Zivilisation ermöglichte. Doch über das Wie und Warum dieses Wandels gehen die Meinungen weit auseinander. Die herkömmliche Theorie knüpft in erster Linie an den folgenden Umstand an: Gegen Ende des Pleistozäns, als der größte Teil Europas von Gletschern bedeckt war, erfreute sich der Landstrich, der von der nordafrikanischen Atlantikküste über den Nahen Osten bis zum Zagrosgebirge im Iran reichte, so ausgiebiger Regenfälle, daß man ihn in der Tat als einen einzigen fruchtbaren Garten Eden betrachten kann, wo Pflanzen im Überfluß wuchsen, um ein vielzähliges, vielgestaltiges Tierleben – einschließlich des altsteinzeitlichen Menschen – mit
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Nahrung versorgen zu können. Mit dem Zurückweichen der Eisdecke hätte sich der Kurs dieser atlantischen Regenwinde weiter nach Norden verlagert, und der gesamte Nahe Osten sei zunehmend ausgetrocknet. Die eßbaren Wildpflanzen und das jagdbare Wild reichten für die menschliche Existenzform des schlichten Nahrungssammelns nicht mehr aus. Als Folge davon wanderten viele Stämme aus jenem Gebiet nach Europa ab. Die zurückbleibenden – so Pumpelly, der anhand der eigenen Ausgrabungen als erster diese Hypothese formulierte – «wurden in die Oasen gedrängt und begannen unter dem Zwang, sich neue Nahrungsquellen zu erschließen, die urwüchsigen Pflanzen zu kultivieren, und in diesem Zusammenhang wiederum erlernten sie, die Körner verschiedener Grasarten zu nutzen, die auf dem ausgetrockneten Boden und in den Dschungelsümpfen um die Mündungen der größeren Wüstenflüsse wuchsen»13. Dieser Ansicht hat sich dann eine Reihe von späteren Historikern angeschlossen, unter ihnen Childe14 und auch Toynbee15, der diese mutmaßliche Dürre im Nahen Osten als «Herausforderung seitens der physischen Umwelt» verstand, auf welche ackerbauende Kulturen die Antwort waren. Neuere Forschungenl6 haben jedoch erwiesen, daß es keine derartige ausgedehnte Dürre gab und daß der Ursprung der Landwirtschaft nicht in ökonomischem «Zwang» zu suchen ist. Ich habe schon einmal die überwältigende Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der Kultur im Mesolithikum hervorgehoben, und das gleiche möchte ich auch hier wieder tun. Wie wir im Dritten Kapitel gesehen haben, ermöglicht die Sprache mit der metaphorischen Bezeichnung von Dingen die Steigerung von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit und 13 R. Pumpelly, Explorations in Turkestan: Expedition of 1904: Prehistoric Civilizations of Anau, Washington: Carnegie Institution 1908, S. 65 f. 14 V. G. Childe, The Most Ancient East, London: Routledge & Kegan Paul 41954. 15 J.Toynbee, A Study of History, London: Oxford University Press 1961, S. 304f. – Dt. (Ausw.): Der Gang der Weltgeschichte Bd. 1: Aufstieg und Verfall der Kulturen, München: dtv 1970, S. 118-120. 16 Butzer, a. a. O., S. 416.
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schafft damit die Möglichkeit, neue Namen für neue Sachverhalte von Bedeutung zu prägen. Dieser sprachlich vermittelte Geisteszuwachs fand sich im Nahen Osten inmitten einer Umwelt wieder, die der Zufall mit domestizierbarer Fauna und Flora gesegnet hatte: mit wilden Weizensorten und Wildgerste, deren natürliches Verbreitungsgebiet überlappte mit den sehr viel weiter ausgedehnten Lebensräumen der südwestasiatischen Herdentiere Ziege, Schaf, Rind und wildes Schwein. Und aus diesem Zusammentreffen des sprachvermittelten Neugeists mit der solchermaßen konstellierten Umwelt sind nach meiner Ansicht Ackerbau und Viehzucht erwachsen. DER ERSTE GOTT Wenden wir jetzt vorübergehend unsere Aufmerksamkeit der bestbekannten, am gründlichsten untersuchten mesolithischen Kultur zu, dem Natoufien, so benannt nach dem ersten Fundort, dem Wadi el-Natuf in Palästina. Um 10000 v. Chr. waren die Natoufien-Menschen Jäger wie ihre paläolithischen Vorfahren, etwa 1,50 m groß, und bewohnten häufig Höhleneingänge; sie waren ebenso geschickt als Bearbeiter von Knochen und Geweihen wie als Hersteller von retuschierten Feuersteinklingen und -sticheln; was Tierzeichnungen betraf, konnten sie es beinahe mit den Höhlenmalern von Lascaux aufnehmen; als Schmuck trugen sie durchbohrte Muscheln und Tierzähne. Um 9000 v. Chr. sehen wir sie ihre Toten in formellen Gräbern bestatten und eine seßhaftere Lebensweise annehmen. Letzteres tut sich in den ersten Anzeichen einer geregelteren Bautätigkeit kund, wie zum Beispiel das Bepflastern und Auskleiden von Abris (das sind Wohnstätten unter Felsvorsprüngen oder in Felsnischen) mit reichlich Gips oder Gräberfelder, die bis zu 87 Bestattungsplätze umfassen, eine in früheren Zeiten nie gekannte Dimension. Wir haben es jetzt, wie ich schon sagte, mit der Epoche der Eigennamen zu tun – mit allem, was diese mit sich bringen.
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Die unter freiem Himmel liegende Natoufien-Ansiedlung bei ‘Aïn Mallaha (Eynan) zeigt den Wandel in seiner dramatischsten Form.17 Sie wurde im Jahr 1959 entdeckt; inzwischen ist der knapp 20 Kilometer nördlich vom See Genezareth auf einer natürlichen Terrasse oberhalb des Huleh-Sumpfsees gelegene Ort eine der am fleißigsten bearbeiteten Ausgrabungsstätten. Drei zeitlich aufeinanderfolgende Dauersiedlungen aus der Zeit um 9000 v. Chr. sind dort in penibler Kleinarbeit exhumiert worden. Jede bestand aus etwa fünfzig runden schilfgedeckten Steinhäusern mit Durchmessern von bis zu sieben Metern. Die Häuser waren um einen Platz herum errichtet, auf dem zahlreiche glockenförmige Gruben ausgehoben waren, die, mit Gips ausgekleidet, der Aufbewahrung von Nahrungsmitteln dienten. In einigen Fällen waren die Gruben als Bestattungsplätze wiederverwendet worden. Hier nun haben wir einen sehr bedeutsamen Wandel in den Gegebenheiten des Menschseins vor uns: statt eines Nomadenstamms von rund zwanzig Mitgliedern, der in Höhleneingängen kampiert, eine Stadt von wenigstens 200 Bewohnern. Eine Fülle von Erntemessern, Stößeln und Stampfern sowie in den Boden jedes Hauses eingelassene Mahlsteine und Mörser, also Geräte zum Einbringen und Verarbeiten von Getreide und Hülsenfrüchten, das alles bezeugt das Aufkommen des Ackerbaus, und der aufkommende Ackerbau ist es, der diese Seßhaftigkeit und Zahlenstärke der Gruppe ermöglicht. Die Landbestellung war zur gegebenen Zeit unbeschreiblich primitiv und der Ertrag lediglich eine Ergänzung zur großen Vielfalt der Tierfauna – Wildziegen, Gazellen, Wildschweine, Füchse, Hasen, Nager, Vögel, Fische, Schildkröten, Krebse, Muscheln und Schnecken – die, wie aus 14C-datierten Überresten hervorgeht, den wesentlicheren Teil der Kost ausmachte.
17 Vgl. J. Perrot, Excavations at Eynan, 1959 Season, Israel Exploration Journal 10/1961, S.I; James Mellaart, Earliest Civilizations of the Near East, New York: McGraw-Hill 1965, Kap. 2; Clark u. Piggott, a.a.O., S. 150ff.
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Der halluzinogene König Eine Stadt! ... Nun ist es zwar nicht undenkbar, daß ein einzelnes Stammesoberhaupt über ein paar hundert Menschen gebietet, aber es wäre eine aufreibende Arbeit, wenn die Herrschaft in wieder und wieder erneuertem direktem Kontakt mit jedem einzelnen Gruppenmitglied realisiert werden müßte, wie die Dominanz in Primatengruppen mit streng hierarchischem Aufbau. Wenn wir jetzt versuchen, uns die soziale Seite des Lebens in ‘Aïn Mallaha zu vergegenwärtigen, bitte ich den Leser, dabei nie zu vergessen, daß die Natoufiens kein Bewußtsein hatten. Sie konnten nicht narrativieren, und es gab für sie kein «Ich (qua Analogon)», vermittels dessen sie «sich» in ihrem Verhältnis zu den anderen zu «sehen» vermocht hätten. Sie waren, so könnte man aus heutiger Sicht sagen, signalverhaftet, das heißt, sie reagierten fortwährend reflektorisch auf Hinweisreize aus der Umgebung und wurden durch diese Hinweisreize gesteuert. Und welches waren die Hinweisreize, die einen so umfänglichen Sozialkörper organisierten? Welche Signale übten die soziale Kontrolle über die zwei-, dreihundert Glieder an diesem Sozialkörper aus? Ich habe die These vorgetragen, derzufolge Gehörshalluzinationen als Nebenwirkungen im Zuge der Sprachrevolution auftraten und dazu dienten, das Individuum zum Ausharren bei den vom Stammesleben erheischten längerwierigen Arbeiten zu bewegen. Diese Halluzinationen nahmen ihren Ausgang von lauten Befehlen, die das Individuum sich entweder selbst erteilte oder vom Stammesoberhaupt erteilt bekam. Von hier aus führt ein geradliniger Zusammenhang zu den komplexeren Gehörshalluzinationen, die nach meinem Dafürhalten die Hinweisreize der sozialen Kontrolle in ‘Aïn Mallaha und als solche aus den Befehlen und Reden des Königs hervorgegangen waren. Wir dürfen hier allerdings nicht in den Irrtum verfallen, uns diese Gehörshalluzinationen als Reproduktion faktisch
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geäußerter königlicher Kommandos – also etwa so wie das Abhören von Tonbandaufzeichnungen – vorzustellen. Zwar mag die Sache so angefangen haben, doch gibt es keinen vernünftigen Grund, der dagegen spräche, daß die halluzinierten Stimmen mit fortschreitender Zeit auch «denken» und Probleme lösen konnten, obzwar alles unbewußt. Die «Stimmen» unserer zeitgenössischen Schizophrenen «denken» genausoviel wie und oftmals noch mehr als ihre Wirte. Demnach vermochten die «Stimmen», die, wie ich meine, die NatoufienMenschen hörten, mit der Zeit auch zu improvisieren und Sachen zu «sagen», die der König selbst nie gesagt hatte. Freilich dürfen wir annehmen, daß all diese neu hinzutretenden Halluzinationen stets einen engen Zusammenhang zum Persönlichkeitsbild des realen Königs wahrten. Der Sachverhalt ist der gleiche, wie wenn wir heute «intuitiv» wissen, wie ein abwesender Bekannter in dieser oder jener Situation höchstwahrscheinlich urteilen würde. Dergestalt trug jeder Arbeiter – gleichgültig, ob beim Muschelsammeln, beim Fallenstellen, im Streit mit einem Rivalen oder beim Säen an dem Platz, wo man zuvor das Wildgetreide geerntet hatte – die Stimme seines Königs in sich, die für den kontinuierlichen, ausdauernden Fortgang und den Kollektivnutzen seines Tuns sorgte. Der Gottkönig Wir haben dafür optiert, im Anschluß an die heutigen Gegebenheiten als auslösenden Faktor für die Halluzinationen Streß anzunehmen. Wenn unsere Überlegung insoweit richtig ist, dann leuchtet weiter ein, daß der durch den Tod eines Menschen bewirkte Streß mehr als genug war, um die halluzinierte Stimme des Toten zu evozieren. Vielleicht ist dies der Grund, warum in so vielen prähistorischen Kulturen die Köpfe der Toten vom Rumpf getrennt oder die Beine gebrochen oder gefesselt wurden, warum man so häufig Eßwaren als Grabbeigaben findet und warum die Funde so häufig darauf hindeuten,
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daß ein Leichnam zweimal bestattet wurde, beim zweitenmal (nach Erlöschen seiner Stimme) in einem Kollektivgrab. Und wenn sich das schon bei einem gewöhnlichen Sterblichen so verhielt, um wieviel mehr bei einem König, dessen Stimme bereits zu seinen Lebzeiten mit Halluzinationen geherrscht hatte. Wir dürfen also mit Fug erwarten, daß die letzte Ruhestätte dieses reglosen Menschen, dessen Stimme noch immer den Zusammenhalt der ganzen Gruppe stiftete, eine ganz besonders aufmerksame Zuwendung erfuhr. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Grabhaus in ‘Aïn Mallaha der Zeit um 9000 v. Chr. – das einzige (bisher entdeckte) seiner Art – ein beachtlicher Fall. Das eigentliche Grabhaus war ein Rundbau wie die übrigen Häuser, mit einem Durchmesser von etwa fünf Metern. Im Inneren lagen, in der Mitte des Raumes rücklings ausgestreckt, zwei vollständige menschliche Skelette mit abgetrennten und unnatürlich verdrehten Beinen. Das eine trug einen Kopfputz aus Schalen von «Elefantenzähnen» (in diesem Fall Weichtiere der Klasse Graboder Kahnfüßer) und wird für das der Frau des Königs angesehen. Das zweite – das Skelett eines erwachsenen Mannes, vermutlich des Königs – war mit Steinen teils bedeckt, teils auf sie gestützt, und der aufgerichtete, in weitere Steine gebettete Kopf blickte zu den schneebedeckten Gipfeln des 50 Kilometer entfernten Bergs Hermon hinüber. Zu irgendeinem späteren Zeitpunkt – ob bald oder erst Jahre nach der Bestattung, wissen wir nicht – wurde das Grabhaus mit einer gemauerten, mit Ocker bestrichenen Brüstung umgeben. Die Himmelsöffnung wurde mit großen flachen Steinen zugepflastert, so daß die beiden reglosen Bewohner fortan ungestört unter einem festen Dach ruhten. Auf dem Flachdach wurde eine Feuerstelle errichtet. Noch später wurde auch diese mit einer niedrigen runden Brüstung ummauert, die ihrerseits ein flaches Steindach erhielt, auf dem in der Mitte drei große, von kleineren Steinen umgebene Steinblöcke gruppiert wurden. Meine Vermutung geht dahin, daß der auf sein steinernes Ruhekissen aufgestützte tote König in den Halluzinationen
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Der erste Gott: der tote König von ‘Aïn Mallaha, das Haupt auf einem Steinkissen erhöht, aus der Zeit um 9000 v. Chr., wie er im Jahre 1959 n. Chr. ausgegraben wurde.
seines Volkes noch immer Befehle ausgab, daß die rotbemalte Ringmauer mit Terrassendach und Feuerstelle die Antwort auf die Zersetzung des Leichnams darstellte und daß die Anlage als solche, die auf mehrere hundert Meter im Umkreis das Gesichtsfeld beherrschte, wenigstens zeitweilig – wie die grauen Nebelschleier über der Ägäischen See für Achilleus – ein Quellpunkt der Halluzinationen und Imperative war, die das soziale Leben in der Welt des mesolithischen ‘Aïn Mallaha steuerten. In paradigmatischer Form war hier vorgebildet, was die kommenden acht Jahrtausende bringen sollten. Ist der
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König tot, wird er zum lebendigen Gott. Das Mausoleum des Königs ist das Haus des Gottes: Hier nehmen die kunstreichen Gotteshäuser und Tempel, denen wir im folgenden Kapitel unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen, ihren Anfang. Noch die zweistufige Bauweise weist voraus auf die vielstufigen Zikkurats, auf die übereinandergebauten Tempel, wie zum Beispiel in Eridu, oder auf die gigantischen Pyramiden im Niltal, die die allerhabene Zeit in Tausenden von Jahren zu geschichtlicher Blüte bringen wird. Wir sollten ‘Aïn Mallaha nicht verlassen, ohne zuvor das diffizile Problem der Amtsnachfolge wenigstens gestreift zu haben. Zugegeben, in dieser Hinsicht finden sich in ‘Aïn Mallaha so gut wie keine konkreten Fingerzeige. Doch der Umstand, daß das königliche Grabhaus auch ältere Begräbnisse enthielt, die für den toten König und seine Frau beiseite geräumt worden waren, läßt vermuten, daß es sich bei jenen früheren Bewohnern um vorausgegangene Könige handelt. Und der Umstand, daß sich neben der Feuerstelle auf der nächsthöheren Ebene über dem aufgestützten König noch ein Schädel fand, könnte dafür sprechen, daß es sich hierbei um den des unmittelbaren Nachfolgers handelt und daß nach und nach die halluzinierte Stimme des alten mit der des neuen Königs verschmolz. Vielleicht hatte der Osiris-Mythos, der die treibende Kraft hinter den altägyptischen Herrscherdynastien war, schon hier begonnen. Die Gleichung königliches Grabhaus = Gotteshaus bleibt jahrtausendelang charakteristisch für viele Zivilisationen, insbesondere die ägyptischen. Häufiger jedoch geht die eine Seite der Gleichung, nämlich die menschliche, verloren, und zwar in solchen Fällen, wo der Nachfolger eines Königs während der Dauer seiner eigenen Herrschaft fortfährt, die Stimme seines Vorgängers zu halluzinieren, und sich daraufhin selbst zum Priester oder Diener des verstorbenen Königs erklärt: Dieses Schema galt für alle mesopotamischen Zivilisationen. Anstelle des Grabhauses gibt es nur mehr schlicht und einfach den Tempel, und die Stelle des Leichnams hat eine Statue eingenommen, die noch mehr Dienstbarkeit und Verehrung genießt,
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da sie nicht der Zersetzung unterworfen ist. Im nächsten und übernächsten Kapitel werden wir auf diese Idole – Surrogate für die Leichen der Könige – ausführlicher eingehen. Sie spielen eine wichtige Rolle. Wie im Termitenbau oder im Bienenkorb die Königin sind in der bikameralen Welt die Idole die wohlbehüteten Zentren der sozialen Kontrolle, nur daß hier Gehörshalluzinationen an die Stelle von Pheromonen getreten sind. Der Sieg der Zivilisation Hier also haben wir den Anfang der Zivilisation. Ziemlich unvermittelt treten um 9000 v. Chr. archäologische Zeugen des Ackerbaus wie die Erntemesser, Stampf- und Mahlwerkzeuge von ‘Aïn Mallaha mehr oder weniger gleichzeitig an mehreren Fundorten in der Levante und im Irak auf, was auf eine sehr frühe Verbreitung des Ackerbaus im nahöstlichen Hochland hindeutet. Und wie in ‘Aïn Mallaha ging in diesem Anfangsstadium auch andernorts der Landbau, wie später die Viehzucht, Hand in Hand mit einer zunächst noch vorrangigen Sammelwirtschaft.18 Aber bis um 7000 v. Chr. war die Landwirtschaft in den an diversen Fundorten in der Levante, dem Zagrosgebiet und im Südwestteil Anatoliens ausgegrabenen bäuerlichen Ansiedlungen zum ersten Rang unter den Quellen des Nahrungserwerbs aufgestiegen. Als Erntefrucht wurden Einkorn, Emmer und Gerste angebaut, als Zuchttiere Schafe, Ziegen und mitunter Schweine gehalten. Bis um 6000 v. Chr. hatten sich bäuerliche Gemeinschaften über einen Großteil des Nahen Ostens verbreitet. Und um 5000 v. Chr. war die bäuerliche Kolonisierung der Alluvialflußtäler von Euphrat/Tigris und Nil in rapidem Fortschritt begriffen, was bedeutete, daß wach18 Vgl. R.J. Braidwood, Levels in Pre-History: A Model for the Consideration of the Evidence, Evolution after Darwin, hg. von S. Tax, Chicago: University of Chicago Press 1960, Bd. 2, S. 143-151.
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sende Bevölkerungszahlen diese ertragreichen Kulturlandschaften überschwemmten.19 Städte von 10000 Einwohnern, wie Merinde am Westrand des Nildeltas, waren keine Seltenheit.20 In Ur und Ägypten traten die großen Dynastien in die Geschichte ein, deren Bild sie so nachhaltig prägen sollten. Um 5000 v. Chr., möglicherweise auch 500 Jahre früher, begann zudem die Postglaziale Mittlere Wärmezeit (auch Atlantikum genannt), die bis gegen 3000 v. Chr. dauerte; wie sich vor allem anhand von Pollenuntersuchungen belegen läßt, zeichnete sich das Erdklima während dieser Periode durch optimale Wärmeund Feuchtigkeitsbedingungen aus, was das weitere Vordringen der Landwirtschaft nach Europa und Nordafrika sowie die Steigerung der Produktivität im Nahen Osten begünstigte. Und das Steuerungsorgan für diesen ungeheuer komplexen Prozeß der Zivilisation der Menschheit war die bikamerale Psyche – diesen Schluß, so meine ich, machen die historischen Zeugnisse unabweislich. Dem Beweismaterial der Geschichte wollen wir uns nunmehr in den folgenden Kapiteln zuwenden.
19 Vgl. Butzer, a.a.O., S. 464. 20 Vgl. K. W. Butzer, Archaeology and Geology in Ancient Egypt, Science 132/160, S. 1617-1624.
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ZWEITES BUCH Das Beweismaterial der Geschichte
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ERSTES KAPITEL Götter, Gräber und Idole
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KUNST des menschlichen Zusammenlebens in Städten von solcher Größe, daß nicht mehr jeder jeden kennt. Sie mag einen nicht gerade vom Sitz reißen, diese Definition, aber sie trifft ins Schwarze. Wir haben die Hypothese aufgestellt, daß es die bikamerale Psyche war, die die sozialorganisatorischen Rahmenbedingungen dafür schuf. In diesem und dem folgenden Kapitel werde ich versuchen, in einem weltweiten Überblick, zusammengefaßt und ohne übertriebene Detailversessenheit, die Belege vorzustellen, die dafür sprechen, daß immer und überall, wo erstmals Zivilisation aufkam, tatsächlich auch diese Geistesverfassung (oder Mentalität) existierte. In einer gegenwärtig noch viel und kontrovers diskutierten Frage vertrete ich die Ansicht, daß die Zivilisation oder Hochkultur an mehreren Orten im Nahen Osten jeweils autochthon entstand (wie im vorigen Kapitel angedeutet) und sich von dort in die Täler von Euphrat und Tigris, nach Anatolien und ins Nil-Tal ausbreitete, sodann nach Zypern, Thessalien und Kreta und späterhin durch Diffusion ins Indus-Tal und darüber hinaus sowie in die Ukraine und nach Innerasien, dann teils durch Diffusion, teils autochthon am Jangtse-Fluß entlang; eine autochthone Zivilisation entstand dann in Mittelamerika, eine weitere teils autochthon, teils durch Diffusion im Andenhochland. In jeder dieser Regionen finden wir eine Abfolge von Monarchien, die sämtlich übereinstimmende Merkmale aufweisen, Merkmale, die wir späterhin als die Kennzeichen ihrer Bikameralität verstehen lernen werden. Zwar hat es im Verlauf der Weltgeschichte ganz gewiß noch andere bikamerale Königtümer gegeben, wahrscheinlich im ganzen Küstenstreifen des Golfs von Bengalen und auf der Malaiischen Halbinsel sowie auch in Europa, mit Sicherheit – von Ägypten aus durch Diffusion dorthin gelangt – in Zentralafrika, möglicherweise IVILISATION IST DIE
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auch bei den Indianern Nordamerikas während der sogenannten Missouri-Periode. Aber was von diesen Zivilisationen bisher an Spuren dingfest gemacht werden konnte, reicht bei weitem nicht aus, um bei der Überprüfung unserer Hauptthese irgendeinen Nutzen zu bringen. Nehmen wir die Theorie, wie ich sie bisher skizziert habe, so würde ich meinen, daß die Zivilisationen des Altertums in den archäologischen Befunden eine Reihe hervorstechender Merkmale aufweisen müssen, die anders als mit Hilfe dieser Theorie nicht zu begreifen sind. Solche augenfälligen Merkmale sind Gegenstand des vorliegenden Kapitels; das nächste widmet sich dann den schriftbesitzenden Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens. DIE GOTTESHÄUSER Stellen wir uns vor, wir kämen als Fremde in ein unbekanntes Land und uns fiele auf, daß dort alle Ansiedlungen nach dem gleichen Prinzip angelegt sind: gewöhnliche Wohn- und sonstige Gebäude um eine größere und prunkvollere Behausung herum gruppiert. Wir würden ohne weiteres annehmen, daß es sich bei der großen, prunkvollen Behausung um die des Lokalherrschers handelt. Und womöglich hätten wir recht damit. Falls wir uns jedoch in einer der alten Zivilisationen befänden, würde unser Irrtum in dem Moment beginnen, wo wir uns diesen Herrscher als eine Person vom Zuschnitt neuzeitlicher Potentaten vorstellen wollten. Er war vielmehr eine Halluzination oder – im verbreiteteren Fall – eine Statue, häufig am einen Ende dieses höherklassigen Hauses aufgestellt, mit einem Tisch davor, auf dem Krethi und Plethi ihre Opfergaben abladen konnten. Nun denn: wo immer wir auf einen derartigen Siedlungsoder Stadtplan stoßen, bei dem ein größeres Gebäude die Mittelpunktstellung einnimmt, das keine menschliche Behausung ist und auch sonst keinerlei praktischen Zwecken – etwa als Kornspeicher oder Scheune – dient, und zumal wenn dieses Gebäude ein menschliches Bildnis irgendwelcher Art beher-
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bergt: immer und überall, wo dies so ist, dürfen wir darin ein Anzeichen für das Vorliegen einer bikameralen Kultur oder einer Kultur, die historisch aus einer bikameralen entstanden ist, erblicken. Dieses Unterscheidungskriterium mag sinnlos erscheinen, und zwar einfach deshalb, weil es den Grundriß so vieler Siedlungsanlagen von heute beschreibt. Der Siedlungsgrundriß mit der Kirche in der Mitte und den Wohn- und Geschäftshäusern drumherum ist für uns etwas so Selbstverständliches, daß wir nichts Bemerkenswertes an ihm finden können. Aber unsere zeitgenössische Sakral- wie Stadtarchitektur ist nach meinem Dafürhalten in Teilen ein Erbe unserer bikameralen Vergangenheit. Die Kirche, die Synagoge, die Moschee heißt man noch heute das Gotteshaus. In ihrem Innern reden wir noch heute mit dem Gott, auf einem Tisch oder Altar werden dort noch heute vor dem Gott oder seinem Sinnbild Opfer dargebracht. Mit dieser objektivierten Darstellungsweise versuche ich einen gewissen Verfremdungseffekt zu erzielen: Das Strukturschema in alldem muß für unser Empfinden so weit verfremdet werden, wir müssen uns von diesen Dingen innerlich so weit distanzieren, als nötig ist, um den zivilisierten Menschen vor dem Hintergrund seiner gesamten Primatenevolution wahrzunehmen und dabei zu erkennen, daß ein derartiges Grundrißschema für Stadtanlagen doch etwas Bemerkenswertes und von unseren Neandertaler-Ursprüngen her gesehen durchaus keine Selbstverständlichkeit ist. Von Jericho bis Ur Mit nur wenigen Ausnahmen zeigt der schematische Grundriß kommunaler Siedlungsformen vom Ende des Mesolithikums bis hin zu verhältnismäßig jungen Epochen stets ein Gotteshaus, umringt von menschlichen Behausungen. Bei den ältesten Dörfern1, so etwa auf der Ausgrabungsebene in Jeri1
Als Quellen für das folgende wurden u. a. benutzt: Grahame Clark u. Stewart Piggott, Prehistoric Societies, London: Hutchinson 1965; James Mellaart, Earliest Civilizations of the Near East, New York: McGraw-Hill 1965; Grahame Clark, World Prehistory: A New Outline, Cambridge: Cambridge University Press 1969.
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cho, die dem 9. Jahrtausend v. Chr. entspricht, ist dieses Schema nicht restlos klar und könnte bezweifelt werden. Indes ist keinerlei Zweifel möglich in bezug auf den Zweck des von schlichteren Behausungen umgebenen größeren Gotteshauses in Jericho auf der Ebene des 7. Jahrtausends, ein Bauwerk, bestehend aus einer – möglicherweise säulengetragenen – Vorhalle und einem Hauptraum mit Nischen und Apsiden. Hier haben wir es nicht mehr mit einem Grabhaus für den toten König zu tun, wo auf Steine gebettet der Leichnam lag. Die Nischen beherbergten fast lebensgroße Standbilder: naturalistisch in Lehm geformte Köpfe, auf Rohrschäfte oder Schilfbündel aufgesetzt und rot angestrichen. Ähnlich halluzinogen dürften auch die am selben Ort gefundenen, vielleicht von toten Königen stammenden zehn Menschenschädel gewirkt haben, die in Gips realistisch nachgebildete Gesichtszüge trugen, mit weißen Kaurimuscheln anstelle der Augen. Auch in der anatolischen Hacilar-Kultur der Zeit um 7000 v. Chr. gab es auf erhöhter Grundlage aufgestellte Schädel, was den Schluß zuläßt, daß die Angehörigen dieser Kultur durch ein ähnliches bikamerales Kontrollverfahren bei den der Nahrungsmittelproduktion oder der Sicherheit dienenden Kollektivunternehmungen zusammengehalten wurden. Mit einer Fläche von 3 z Morgen – von denen vorerst lediglich ein oder zwei Morgen vollständig untersucht sind – ist Çatal Hüyük die größte Ausgrabungsstätte im Nahen Osten. Hier begegnen wir einer etwas veränderten Lage der Dinge. Die Funde in der Schicht, die etwa der Zeit um 6000 v. Chr. entspricht, geben zu erkennen, daß beinahe jedes Haus vier bis fünf auf gleicher Ebene liegende Räume enthielt, die einen Gottesraum wie schützend in ihrer Mitte bargen. In diesen Gottesräumen wurden zahlreiche Statuengruppen aus Stein oder gebrannter Erde gefunden. Fünfhundert Jahre später in Eridu errichtete man die Gotteshäuser auf einem Ziegelsteinsockel (und hatte damit die Vorform der Zikkurat geschaffen). In einer langgestreckten Cella blickte das Gott-Idol von seinem Postament an der einen zum Opfertisch an der anderen Schmalwand hinüber.
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Grundriß der Schicht VI in Çatal Hüyük aus der Zeit um 6000 v. Chr. Auffällig sind die mit S markierten Sanktuarien in fast jeder Wohnungseinheit.
Die Traditionsfolge der Heiligtümer vom Eridu-Typ reicht bis zur ‘Obed-Kultur im südlichen Irak, ehe dieser Typ sich um 4300 v. Chr. über ganz Mesopotamien ausbreitet und damit zur Basis sowohl der sumerischen als auch der nachfolgenden babylonischen Hochkultur wird (auf beide werde ich im folgenden Kapitel näher eingehen). In Städten von vielen tausend Einwohnern kam es zugleich zu jenen monumentalen und kolossalen Gotteshäusern, die – wohl als Halluzinationshilfen für jedermann auf Meilen im Umkreis – fortan allenthalben das Stadtbild prägen und beherrschen sollten. Selbst der Zeitgenosse der Moderne, steht er im Schatten eines solchen künstlich angelegten Stufenbergs wie beispielsweise der Zikkurat von Ur, die mit ihren Stufenrampen heute zwar nur noch bis zur Hälfte ihrer ursprünglichen Höhe, doch noch immer gewaltig über den ausgegrabenen Ruinen ihres ehemaligen bikameralen Kulturzusammenhangs emporragt; und stellt er sich dann die dreifach gestufte Tempelanlage vor, die sich dort ganz oben einstmals in die Sonne reckte – dann fühlt sogar der Zeitgenosse unserer Tage noch etwas von dem machtvol-
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len Bann, den eine solche Architektur allein durch sich selbst auf die Geistesverfassung des Betrachters auszuüben vermag. Die hethitische Variante Im Zentrum ihrer Hauptstadt Hattuša (dem heutigen Boğazköy) im zentralen Anatolien2 unterhielten die Hethiter vier riesige Tempel, deren aus Granitsteinen gebautes Sanktuarium die Außenmauern aus Kalkstein nach oben überragte, damit von den Seiten her Licht nach innen auf mehrere monumentale Götteridole fallen konnte. Doch die Rolle einer Zikkurat – also einer hochgebauten Tempelanlage, die überall, wo Arbeiter das Land bestellten, zu sehen war – spielte wohl das eindrucksvolle Felsheiligtum von Yazilikaya, nicht weit außerhalb der Stadtmauern gelegen, dessen Wände mit Götterreliefs übersät sind.3 Daß die Berge selber auf die Hethiter halluzinatorisch wirkten, geht hervor aus den auf den Felswänden im Innern des Heiligtums noch deutlich erkennbaren Reliefbildern mit den üblichen stereotypen Umrißdarstellungen von Bergen, die gekrönt sind von Götterhäuptern oder mit einem den Göttern vorbehaltenen Kopfputz. Wie singt doch der Psalmist? «Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt» (121, 1). Auf der Ostwand des Felsenraums B in diesem Heiligtum findet sich die Reliefdarstellung des Königs Tuthalija IV. in der Staatsrobe. Ihm zur Seite steht, den König um mehr als 2
3
Die Hethiter sind möglicherweise Vertreter einer Gruppe von Nomadenstämmen, die die bikamerale Zivilisation von ihren Nachbarn erlernten. Für die Zeit um 2100 v. Chr. verzeichnet die Archäologie auf dem kappadozischen Hochland ein sprunghaftes Überhandnehmen von farbenfroh dekorierter Keramik gegenüber der hier ursprünglich vertretenen einfarbig glatten Keramik; man nimmt dies als Indiz für die Ankunft der Hethiter (sehr wahrscheinlich aus den Steppen des südlichen Rußland). Gute Fotografien von Yazihkaya findet man in: Seton Lloyd, Early Highland Peoples of Anatolia, New York: McGraw-Hill 1967 (Kap. 3). Eine kommentierende Beschreibung enthält: Ekron Akurgal, Ancient Civilizations and Ruins of Turkey, Istanbul 1969.
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Felsrelief in Yazihkaya aus der Zeit um 1250 v. Chr. Der Gott Šarruma hält seinen Statthalter-König Tuthalija umarmt. Die brezelförmige Hieroglyphe für «Gottheit» findet sich sowohl an der Stelle des Kopfes in dem Ideogramm links oben als auch an der Tiara des Gottes als ornamentales Muster. Auch im Ideogramm des Königs oben rechts taucht es auf und bedeutet nach meiner Überzeugung, daß auch der König per Halluzination von seinen Untertanen «gehört» wurde.
Kopflänge überragend und eine sehr viel höhere Krone als dieser tragend, der Gott Šarruma. Den rechten Arm hält er ausgestreckt, um dem König den Weg zu weisen, den linken hat er um des Königs Schultern gelegt; die linke Hand des Gottes hält das rechte Handgelenk des Königs fest umschlungen. Hier haben wir das Sinnbild der bikameralen Psyche vor uns, wie es sich treffender nicht denken läßt. Der Umstand, daß die Hethiter – als einziges Volk, soweit ich sehe – Götterdarstellungen besitzen, die die Götter in langer Reihe aufgestellt zeigen, scheint mir der Schlüssel zur Lösung eines alten Problems der Hethiterforschung zu sein. Es betrifft die korrekte Übersetzung des wichtigen Begriffs pankuš. Ursprünglich sahen die Gelehrten in ihm eine Bezeichnung für die ganze Volksgemeinschaft, möglicherweise auch für eine Art Nationalversammlung. Andere Texte machten die Kor-
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rektur dieser Auffassung erforderlich; danach verstand man das Wort in der Bedeutung «Adelskaste» oder «Elitegemeinschaft». Eine weitere Möglichkeit besteht nun, wie ich meine, darin, daß es auf die ganze vielköpfige Göttergemeinschaft verweist, zumal auf jene exquisiten Momente, da sämtliche bikameralen Stimmen sich in einhelliger Entscheidung zusammenfinden. Die Tatsache, daß in den letzten rund hundert Jahren der Hethiterherrschaft, also ungefähr von 1300 v. Chr. an, in keinem einzigen Text mehr von der pankuš die Rede ist, könnte auf ihr kollektives Verstummen und den Beginn des turbulenten Wandels zur Subjektivität hindeuten. Olmeken und Maya Kennzeichen der ältesten bikameralen Reiche in Amerika sind ebenfalls solch riesengroße, in jeder sonstigen Hinsicht nutzlose Bauwerke in zentraler Lage: die sonderbar unförmige Olmekenpyramide in La Venta, aus der Zeit um 500 v. Chr. datierend, mit ihrem Spalier von kleineren, mit rätselhaften Mosaiken von Jaguarköpfen übersäten Erdauftürmungen; oder die um 200 v. Chr. wie Pilze aus dem Boden schießenden großen Tempelpyramiden.4 Die größte von ihnen, die riesige Sonnenpyramide in Teotihuacán (wörtlich übersetzt: «Ort der Götter»), hat mehr Rauminhalt als die größte Pyramide Ägyptens; sie hat eine Seitenlänge von 200 m an der Basis und ist höher als ein zweiundzwanzigstöckiges Haus.5 Die Kammer des Gottes an ihrer Spitze war über ein System steiler Treppen zugänglich. Und oben auf dieser Kammer, so will es die Überlieferung, erhob sich ein gigantisches Standbild der Sonne. Zur Pyramide führte ein von anderen Pyramiden flankierter Prozessi4 5
Vgl. dazu C. A. Burland, The Gods of Mexico, London: Eyre & Spottiswoode 1967; ferner G. H. S. Bushnell, The First Americans: The Pre-Columbian Civilizations, New York: McGraw-Hill 1968. Aus nahezu drei Millionen Tonnen Lehmziegeln erbaut: eine gewaltige Menge von Arbeitsstunden ... Zum Verständnis dieser Art Handarbeit (in Mittelamerika war das Rad noch unbekannt) vgl. in diesem Buch S. 520 f.
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onsweg, und auf Meilen im Umkreis sind auf dem mexikanischen Hochland noch heute die Überreste einer großen Stadt zu sehen: die Häuser der Priester, zahlreiche Innenhöfe und kleinere Behausungen, die Wohnbauten allesamt eingeschossig, so daß man von jedem Ort in der Stadt aus die großen Wohnpyramiden der Götter sehen konnte.6 Nach etwas späteren Anfängen, doch ansonsten zeitgleich mit der Teotihuacán-Kultur entstehen auf der Halbinsel Yucatán zahlreiche Maya-Städte7 mit erkennbar dem gleichen bikameralen Anlageschema: Jede einzelne ist um steil aufragende Pyramiden zentriert, die mit einem Gotteshaus gekrönt sind und verziert mit Jaguarmasken vom Olmeken-Typ sowie mit anderen Wanddekorationen und Reliefs, auf welchen sich eine unerschöpfliche Vielfalt von Schlangen mit menschlichen Gesichtern grimmig durch Ornamentendschungel hindurchwindet. Außerordentlich interessant ist der Umstand, daß einige der Pyramiden wie in Ägypten Gräber enthalten, was auf eine Phase des Gottkönigtums hindeuten könnte. Vor den Maya-Pyramiden stehen gewöhnlich Stelen mit eingemeißelten Götterbildern oder Inschriften in einer Hieroglyphenschrift, die noch längst nicht vollständig entschlüsselt ist. Da diese Schriftart immer im Zusammenhang mit den religiösen Vorstellungen der jeweiligen Benutzer steht, scheint es nicht ausgeschlossen, daß die Hypothese von der bikameralen Psyche mit dazu beitragen könnte, ihre Geheimnisse zu enträtseln. Maya-Städte findet man sonderbarerweise häufig in recht unwirtlicher Umgebung, wo sie ebenso unvermittelt gegründet wie abrupt wieder aufgegeben wurden. Auch dafür ergibt sich meiner Meinung nach die beste Erklärung, wenn man annimmt, daß derlei Gründungen und Auszüge auf den Befehlen der Halluzinationen beruhten, die sich in bestimmten Epochen nicht nur reichlich sprunghaft verhalten konnten, son6 7
Vgl. S. Linne, Archaeological Researches at Teotihuacan, Mexiko, Stockholm, Ethnographic Museum of Sweden 1934; ferner Miguel Covarrubias, Indian Art of Mexico and Central America, New York: Knopf 1957. Vgl. Victor W. von Hagen, Die Kultur der Maya, Hamburg, Wien: Paul Zsolnay 1960.
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dern auch regelrechte Selbstbestrafungsaktionen verordneten – wie Jahwe das zuweilen seinem Volk gegenüber tat oder Apollon (durch den Mund des Delphischen Orakels) gegenüber dem seinen, etwa wenn er sich auf die Seite von Invasoren schlug (vgl. weiter unten, Drittes Buch, Erstes und Zweites Kapitel). Gelegentlich kommt es sogar zur Verbildlichung des bikameralen Geschehens. Eine solche liegt ganz klar vor auf zwei Reliefsteinen aus Santa Lucia Cotzumalhaupa, einem nicht zur Maya-Kultur gehörenden Ruinenplatz im pazifischen Tiefland von Guatemala. Die Reliefdarstellung zeigt einen in Prostrationshaltung – die Stirn am Boden, die Arme ausgebreitet – vor zwei Göttergestalten, die zu ihm sprechen, im Gras knienden Mann; eine dieser Gestalten ist halb Mensch, halb Hirsch, die andere eine Verkörperung des Todes. Daß es sich bei der Szene um eine direkte Wiedergabe von aktualem Erleben im bikameralen Seelenzustand handelt, leuchtet vollends ein, sobald man Gelegenheit hat, in derselben Region die sogenannten chilanes oder Wahrsager von heute zu beobachten. Wie eh und je halluzinieren sie Stimmen in exakt der gleichen Haltung, wenngleich man vielfach die Meinung vertreten findet, daß in unserer Zeit der halluzinogenen Trance mit Meskalin (Peyote) kräftig nachgeholfen wird.8
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J. Erik S. Thompson, Maya History and Religion, Norman: University of Oklahoma Press 1970, S. 186. Übrigens kam Peyote bei den meisten mittelamerikanischen Indianervölkern in Gebrauch, als ihre Bikameralität zu versagen begann. Eine Ausnahme bilden die Maya, das Volk, das als einziges eine Schrift besaß. Wäre es nicht möglich, daß «Lesen» bzw. Halluzinieren anhand von Schriftzeichen für die Maya die gleiche Funktion hatte wie das halluzinogene Peyote für andere Völker?
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Andenkulturen Von den Hochkulturen in den Anden, die dem Inkareich vorausgingen, ein halbes Dutzend an der Zahl, sind unter dem Gestrüpp der Zeit noch weniger Spuren aufzufinden.9 Die älteste ist bezeugt durch den Ruinenplatz Kotos. Er stammt aus einer Zeit vor 1800 v. Chr.; den Mittelpunkt der Anlage bildet ein rechteckiges Gotteshaus, errichtet auf einem 7,5 m hohen Stufenunterbau auf einem mächtigen Erdhügel, auf dem sich ringsum Reste noch weiterer Bauwerke finden. Alle Innenwände hatten jeweils mehrere hohe Nischen; in einer davon fand man die Gipsplastik eines verschränkten Händepaars – wohl ehemals Teil von einem größeren Idol, das inzwischen zu Staub zerfallen ist. Die Ähnlichkeit mit dem fünftausend Jahre älteren Heiligtum in Jericho ist unübersehbar. Während Kotos möglicherweise von Auswanderern aus Mexiko ins Leben gerufen wurde, zeigt die nächstfolgende Hochkultur, der etwa um 1200 v. Chr. beginnende sogenannte Chavín-Horizont, ausgeprägt olmekische Züge: im Maisanbau, in bestimmten charakteristischen Einzelheiten der Keramik und im Jaguar als Mittelpunkt des religiösen Kultes und dementsprechend als vorherrschendes bildnerisches Motiv. In Chavín selbst (im Tal des Mozna im nördlichen Hochland gelegen) beherbergt ein großer kastenförmiger, von Mauerdurchbrüchen wabenartig überzogener Tempel ein imposantes Idol in Gestalt eines prismatisch geformten Granitblocks, mit Basrelief überzogen, so daß er einen Menschenkörper mit Jaguarkopf darstellt.10 Die nachfolgende Hochkultur – das
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Das ist zum Teil auf den Umstand zurückzuführen, daß jede neue bikamerale Zivilisation in einer Region dazu tendiert, die Spuren ihrer Vorgängerin auszulöschen. Bikamerale Götter sind eifersüchtige Götter. 10 Die unmittelbar anschließende Paracas-Kultur (ca. 400 v. Chr.-ca. 400 n. Chr.) bildet eine rätselhafte Anomalie. Sie hinterließ keinerlei Bauwerke, sondern lediglich rund 400 farbenfroh gewandete Mumien in tief unter der Erdoberfläche gelegenen Höhlen auf der Halbinsel Paracas.
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Reich der Mochica11 in Nordperu (400-1000 n. Chr.) – errichtete ihren Göttern gewaltige Pyramiden; sie erheben sich nahe außerhalb von Einfriedungsmauern, hinter denen vermutlich die Städte lagen – wie heute noch im Chicamatal bei Trujillo zu sehen.12 Dann folgte im kahlen Hochland unweit des Titicacasees das große Reich von Tihuanaco (1000-1300 n. Chr.) mit einer noch gewaltigeren steinverkleideten Pyramide, um und um mit riesigen pilasterähnlichen Relieffiguren von Göttern verziert, die aus ihren Geier- und Schlangenköpfen (warum?) Tränen vergießen.13 Dann kommen die Chimú, und mit ihnen wird alles noch um eine Dimension größer. Die Hauptstadt ihres Reiches, Chanchán, bedeckte 28 Quadratkilometer und war mit Mauern in zehn Areale unterteilt, jedes von ihnen in sich selber eine kleine Stadt mit eigener Pyramide, eigenem palastähnlichem Gebäude, eigenen Bewässerungsanlagen, Wasserspeichern und Friedhöfen. Was genau die Existenz solcher durch Mauern abgegrenzter benachbarter Stadtbezirke im Licht der Bikameralitätshypothese zu bedeuten hat, ist ein hochinteressantes Problem für zukünftige Forschungen.
11 Wie man es heute nennt. Bei all diesen alten Kulturen haben wir natürlich keine Ahnung, wie sie sich selber genannt haben. 12 Auf Luftaufnahmen ähneln ihre Städte den mesopotamischen der bikameralen Periode. Zur gleichen Zeit existierten nach Süden hin noch andere Kulturen, so z. B. die Ica-Nazca-Kultur. Von ihr ist freilich wenig übriggeblieben außer den rätselhaften Linien und Figuren, die sich zuweilen kilometerweit über die Länge der Nazca-Trockentäler erstrecken, und riesenhafte Umrißzeichnungen von Vögeln und Insekten mit Tausenden von Quadratmetern Flächeninhalt, für die kein Mensch eine Erklärung weiß. 13 Um 1300 n. Chr. so schnell und vollständig zusammengebrochen – möglicherweise infolge Übervölkerung (vgl. Zweites Buch, Drittes Kapitel bezügl. der Gründe für die Instabilität bikameraler Königtümer) – daß 250 Jahre später, nach der Invasion der Europäer, auch nicht mehr die geringste Kunde von diesem Reich existierte.
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Das Goldreich der Inka Zuletzt dann die Inka, wie eine Synthese aus Ägypten und Assyrien. Auf jeden Fall zu Beginn ihrer Machtentfaltung dürfte ihre Herrschaft den Gottkönig-Typus der bikameralen Monarchie verkörpert haben. Doch binnen eines Jahrhunderts hatten die Inka sämtliche bereits existierenden Reiche dem ihren unterworfen – und damit vielleicht, wie zu anderer Zeit und in anderen Breiten die Assyrer, ihre Bikameralität selber aufgeweicht. Die sozialen Gegebenheiten im Inkareich zur Zeit seiner Eroberung durch Pizarro könnte man vielleicht als eine Kombination aus Bikameralität und Proto-Subjektivität beschreiben. Das Zusammentreffen der zwei Mentalitäten war wohl nur noch einen Schritt entfernt von jener Kraftprobe, von der das vorliegende Buch handelt. Die Kraft der Subjektivität erwuchs aus den riesenhaften Dimensionen des Imperiums; denn bringt man die sowohl horizontale wie vertikale Mobilität in Anschlag, für die die effiziente Verwaltung eines Reichs von solcher Größe heute schlicht Voraussetzung ist,14 so ist leicht zu sehen, daß der Inkastaat auf bikamerale Weise allein kaum noch regierbar gewesen wäre. Glaubt man den – freilich auf Hörensagen beruhenden – überlieferten Berichten, dann durften die Häuptlinge der unterworfenen Völker Amt und Titel weiter führen, mußten jedoch ihre Söhne zur Erziehung – und vermutlich auch als Geiseln – nach Cuzco an den Hof des Inka schicken, ein Schema, das die Grenzen des bikameralen Geistes doch wohl überschritt. Offenbar durften die unterworfenen Völker auch ihre Sprache behalten, wenngleich Amtsträger die Kultsprache, das Quechua, erlernen mußten. Demgegenüber gab es in der Staatsorganisation eine große Zahl von Eigenheiten, die zweifellos bikameralen Ursprungs waren, auch wenn für einen Teil von ihnen mit der explosions14 J. H. Rowe, Inca Culture at the Time of the Spanish Conquest, in: J. H. Steward, Handbook of South American Indians, Bd. 2, Washington, D. C. 1946-1950.
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artigen Entwicklung des hoch gelegenen kleinen Stadtstaats Cuzco zu einer Art Imperium Romanum der Anden die Raison d’être mehr und mehr zur bloßen Trägheitskraft der Tradition verkümmern sollte. Der Inka selbst war der Gottkönig: In diesem Punkt glich das Bild so sehr den Verhältnissen im Alten Ägypten, daß die weniger konservativen unter den Geschichtsschreibern des Alten Amerika zu der Überzeugung gelangten, hier müsse auf irgendeine Weise kulturelle Diffusion mit im Spiel sein. Ich meine jedoch, daß unter den vorgegebenen Rahmenbedingungen von «Mensch», «Sprache» und «Kommunalorganisation auf bikameraler Basis» historisches Geschehen allüberall nur ganz bestimmten wohlumschriebenen Mustern folgen kann. Der König war aus göttlichem Geschlecht, ein Abkömmling der Sonne, ein Schöpfergott des Bodens und der Erde, des Schweißes der Sonne (Gold) und der Tränen des Mondes (Silber). Sein Anblick vermochte selbst die Großen seines Reiches in solche Ehrfurchtschauer zu versetzen, daß sie förmlich von den Füßen gerissen wurden15 – in eine numinose Ehrfurcht, wie sie für die Psychologie unserer Tage schlichtweg unbegreiflich ist. Das Alltagsleben des Königs war ein einziges ausgefeiltes Ritual. Auf seinen Schultern ruhte ein Umhang, der gesteppt war aus den Flügeln frisch erlegter Fledermäuse; sein Haupt war von einer Franse aus roten Troddeln umgeben, die wie ein Vorhang vor seinem Gesicht hing, als solle sie die Seigneurs in seiner Umgebung vor dem übergroßen Grauen bewahren, das mit einem unbedachten Blick in dieses für Menschenaugen nicht gemachte Götterantlitz verbunden wäre. Wenn der Inka starb, ergaben sich sein Harem und seine Leibdienerschaft einem Zech- und Tanzgelage, auf dessen Höhepunkt sie hingemetzelt wurden, um ihren Herrn auf seiner Reise zur Sonne zu begleiten: ein Brauch, der zuvor schon in Ägypten, Ur und China existiert hatte. Der Leichnam 15 Nach einem Bericht von Pedro Pizarro, einem Vetter des Konquistadors, zitiert in: Victor W. von Hagen, Das Reich der Inka, Hamburg, Wien: Paul Zsolnay 1958, S. 141.
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des Inka wurde einbalsamiert und die Mumie in seiner Residenz bestattet, die fortan als Tempel galt. Man fertigte ein lebensgroßes Standbild des Inka aus Gold, das ihn auf seinem goldenen Thronsessel sitzend wie zu Lebzeiten zeigte, und wie in den Königtümern des Vorderen Orients wurden der Statue täglich frische Speisen dargeboten. Nun ist es zwar denkbar, daß im sechzehnten Jahrhundert der Inka mitsamt seiner Aristokratenkaste nur mehr schauspielerisch ein bikamerales Rollenpensum absolvierte, das in einem sehr viel früheren, echt bikameralen Stadium der Herrschaft festgeschrieben worden war – genauso wie das wohl der Kaiser Hirohito, der erhabene Sonnengott Japans, heutigentags noch tut. Indes, nimmt man alles zusammen, was wir über die Inkakultur wissen, zeigt sich doch, daß man es sich mit dieser Erklärung allzu einfach machen würde. Je näher im Umkreis des Inka die Stellung einer Person zum Mittelpunkt war, desto deutlicher herrschte in ihrer Geistesverfassung das bikamerale Moment vor. Noch die Ohrstecker aus Gold und Edelsteinen, zuweilen mit Darstellungen der Sonne, die die Spitzen der Gesellschaft, der Inka selber eingeschlossen, trugen, hatten wohl nichts anderes zu bedeuten, als daß die dergestalt ausgezeichneten Ohren die Stimme der göttlichen Sonne vernahmen. Am bezeichnendsten in dieser Hinsicht ist jedoch zweifellos die Art und Weise, in der dieses Riesenreich erobert wurde.16 Die arglos-sanftmütige Kapitulation der Ureinwohner vor den europäischen Invasoren ist für alle, die sich mit der Entdeckung und Eroberung Amerikas beschäftigen, seit langem das in diesem Zusammenhang rätselhafteste Phänomen. Das Faktum als solches liegt klar zutage, doch das Warum und Weshalb ist in den Berichten darüber von Vermutungen und Vorurteilen getrübt, die bereits mit den ersten Berichten der abergläubischen Konquistadoren beginnen. Wie war es
16 Eine detailgenaue und trotzdem lesbare Darstellung gibt John Hemming, The Conquest of the Incas, New York: Harcourt Brace Jovanovich 1970.
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möglich, daß ein Reich, dessen Truppen die Kulturen eines halben Kontinents unterworfen hatten, in den Nachmittagsstunden des 16. November des Jahres 1532 zur Beute einer Rotte von nicht mehr als rund 150 Spaniern wurde? Wäre denn nicht folgende Erklärung möglich? Es handelte sich um eine der seltenen direkten Konfrontationen zwischen Vertretern des subjektiven Geistes einerseits und der bikameralen Psyche andererseits. Und zu all dem fremdartig Neuen, dem Inka Atahualpa sich hier gegenübersah – rauhbeinige Männer mit einer Haut wie Milch und Haaren, die sich vom Kinn statt vom Scheitel abwärts kräuselten, so daß ihre Köpfe wie umgekehrt aufgesetzt aussahen, Männer in metallenen Gewändern, mit flackernden Augen, auf seltsamen, lamaähnlichen Kreaturen mit silbrig glänzenden Hufen einherreitend, Männer, die in gewaltig großen, wie Mochicatempel gestuften künstlichen Bergen über das für Inka-Untertanen unbefahrbare Meer gekommen waren wie Götter – zu alldem blieben die bikameralen Stimmen, die sonst von der Sonne oder von den goldenen Statuen in den gleißenden Türmen von Cuzco kamen, sprachlos und stumm. Des subjektiven Bewußtseins nicht teilhaftig, der Heimtücke nicht fähig und ebenso unfähig, sich die Heimtücke anderer narrativ zu vergegenwärtigen,17 wurden der Inka und seine Magnaten wie wehrlose Puppen überwunden. Vor den Augen des antriebslos erstarrten Volkes beraubte dieser Schiffsbauch voll subjektivbewußter Männer die heilige Stadt ihrer Goldverkleidungen, schmolz die goldenen Bildwerke und alle Schätze des Goldenen Bezirks ein – die goldenen Maisfelder mit kunstvoll goldgefertigten Kolben, Blättern und Stengeln –, ermordete den leibhaftigen Gott samt seinen Prinzen, schändete die widerstandslosen Frauen, und seine Zukunft in Spanien narrativierend vorwegnehmend, segelte er mit dem gelben Metall auf und davon, zurück in jenes System subjektiv bewußter Werte, 17 In Cuzco gab es weder Diebe noch Türen: Zwei kreuzweise vor einen Hauseingang gelegte Stäbe signalisierten, daß niemand zu Hause war, und kein Fremder hätte auf dieses Zeichen hin das Haus betreten.
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aus dem er gekommen war. Von ‘Aïn Mallaha bis hierher ist eine lange Strecke. DIE LEBENDEN TOTEN Die Leichen wichtiger Personen so zu bestatten, als ob diese noch am Leben wären, ist in sämtlichen dieser alten Kulturen, deren Baustil wir soeben genauerer Betrachtung unterzogen haben, eine weitverbreitete Praxis. Der Brauch läßt sich stichhaltig nicht erklären, es sei denn, man nimmt an, daß die Stimmen der Toten noch über das Grab hinaus von den Lebenden vernommen wurden – und womöglich sogar selbst eine derartige Unterbringung forderten. Wie in den Abschnitten über ‘Aïn Mallaha bereits ausgeführt (Erstes Buch, Sechstes Kapitel), waren jene auf einem Pfühl von Steinen gelagerten toten Könige, deren Stimmen die Halluzinationen der Lebenden beherrschten, die ersten Götter. Während sich diese Frühkulturen dann zu bikameralen Königtümern fortentwickeln, füllen sich die Gräber ihrer Honoratioren mehr und mehr mit Waffen, Ausrüstungsgegenständen, Schmuck und vor allem mit Essensgefäßen. Das gilt für die frühesten Kammergräber im gesamten Europa und Asien ab 7000 v. Chr. und wird mit zunehmendem Umfang und wachsender Komplexität der bikameralen Staatsorganisationen zu unerhörten Graden ausgebaut. Allgemein bekannt sind die Prachtgräber der ägyptischen Pharaonen in einer regelrechten Geschlechterfolge von Pyramiden (mehr darüber im folgenden Kapitel). Doch ähnliche, sei’s auch weniger ehrfurchtgebietende, Bestattungsformen trifft man auch andernorts. Während der «frühdynastischen» Zeit in der ersten Hälfte des dritten Jahrtausends v. Chr. wurden die Könige von Ur mit ihrem gesamten Anhang bestattet, wobei die Gefolgsleute – in manchen Fällen noch lebend – in kauernder Stellung wie zum Dienst bereit um ihren Herrn herum postiert wurden. Achtzehn solcher Gräber hat man bisher entdeckt, die in unterirdischen Gewölben Speise und Trank, Kleider, Geschmeide, Waffen, aus Stierköpfen geformte Lyren, ja sogar Triumphwa-
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gen mit geopferten Zugtieren als Gespann enthielten.18 Dienerbeisetzungen (aus etwas späteren Perioden) sind auch aus Kiš und Assur bekannt. Im anatolischen Alaca Hüyük waren die Königsgräber mit ganzen gebratenen Ochsen bedeckt, damit die reglosen Bewohner auch im Nachleben nicht Hunger zu leiden brauchten. In vielen Kulturen wird selbst der gemeine Mann nach seinem Tod noch wie ein Lebender behandelt. Die allerältesten dem Thema Beisetzung gewidmeten Inschriften sind Listen der monatlichen Bier- und Brotrationen, die den Toten des einfachen Volks zustehen. Um 2500 v. Chr. erhielt ein Dahingegangener in Lagaš 7 Krüge Bier, 420 flache Brote, 2 Scheffel Korn, 1 Gewand, 1 Kopfstütze sowie 1 Bett mit ins Grab.19 In einigen frühgriechischen Gräbern hat man nicht nur das vielfältige Zubehör des täglichen Lebens gefunden, sondern sage und schreibe auch Sonden für künstliche Ernährung, was doch wohl nichts anderes bedeutet, als daß die archaischen Griechen Suppen und Brühen in die fahlen Kinnbakken des modernden Leichnams einfüllten.20 Und im Metropolitan Museum in New York ist (als Inventarstück Nr. 14.130.15) ein bemalter Krater oder Mischkrug zu besichtigen, auf dem ein Knabe mit der einen Hand sich offenbar die Haare rauft, während er mit der anderen Speise in den Mund eines Leichnams stopft (bei dem es sich vermutlich um den seiner Mutter handelt). Darauf kann man sich nur schwer einen Reim machen, solange man nicht annimmt, daß der Fütternde zugleich in halluzinatorischem Kontakt mit der Leiche steht. Das Material über die Kulturen im Indus-Tal21 ist dünner 18 Vgl. C. L. Woolley, Ur Excavations, Bd. 2, London u. Philadelphia 1934. 19 Wie König Urukagina von Lagaš, der diese Mengen später um einiges herabsetzte, uns auf einem Kegel belehrt. Vgl. Alexander Heidel, The Gilgamesh Epic and Old Testament Parallels, Chicago: University of Chicago Press 1949, S. 151. 20 E. R. Dodds, The Greeks and the Irrational, Berkeley: University of California Press 1968. 21 Sir Mortimer Wheeler, Civilizations of the Indus Valley and Beyond, New York: McGraw-Hill 1966; ausführlicher: ders., The Indus Civilizations (= The Cambridge History of India, Erg.-Bd.), Cambridge: Cambridge University Press 2 1960.
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gesät: Sämtliche Papyrusschriften sind ein Opfer der Fäulnis geworden, über sonstigen Zeugnissen ruhen Schichten von Alluvialanschwemmungen, und zu alldem ist die Region archäologisch noch keineswegs ausreichend erforscht. Doch soweit dies geschehen ist, fand man auf den Ausgrabungsstätten im Indus-Tal den Totenacker häufig an hoch gelegenem Ort nächst der Zitadelle und fünfzehn bis zwanzig Töpfe mit Speisen als Beigabe bei jeder Leiche – was wiederum übereinstimmt mit der Hypothese, daß man die Toten zum Zeitpunkt der Bestattung noch als lebendig empfand. Die neolithische Yangshao-Kultur in China22, für die bislang noch keinerlei chronologische Daten fixiert werden konnten (außer als Terminus ante quem die Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr.), beerdigte ihre Toten in mit Holz verschalten Gräbern und gab ihnen Töpfe mit Speisen und Steingeräte mit. Um 1200 v. Chr. dann weist die Shang-Dynastie Königsgräber mit Menschen- und Tieropfern auf; die Ähnlichkeit mit den um ein Jahrtausend älteren Grabfunden in Mesopotamien und Ägypten ist so frappant, daß einige Gelehrte zu der Überzeugung kamen, die Zivilisation sei vom Westen her auf dem Weg der Diffusion nach China gelangt.23 Ähnlich waren in Mittelamerika die Olmekengräber der Zeit 800-300 v. Chr. reichlich mit Töpfen voll Speisen versehen. In den Maya-Königtümern wurden die Toten des Adels so bestattet, als ob sie auf den Tempelplätzen weiterlebten. Ein Häuptlingsgrab, das kürzlich unter einem Tempel in Palenque entdeckt wurde, kann es an prachtvoller Ausgestaltung mit
22 Vgl. William Watson, Early Civilizations in China, New York: McGraw-Hill 1966; ferner Chang Kwang-Chih, The Archaeology of Ancient China, New Haven: Yale University Press 1963. 23 Wagenbegräbnisse, die alles enthalten bis hin zu getöteten Pferden und Wagenlenkern, breiten sich zum Ende der Shang-Zeit (11 .Jh. v. Chr.) hin immer mehr aus; die Sitte überdauert bis in die Chou-Zeit (8. Jh. v. Chr.) und stirbt dann aus. Wie kommt es zu so etwas? Ist denn nicht die einzig mögliche Erklärung die, daß man glaubte, die Könige seien noch am Leben und benötigten daher weiterhin ihre Wagen und ihr Personal? Und daß man dies glaubte, weil man sie noch reden hörte?
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jedem Gegenstück in der Alten Welt aufnehmen.24 In Kaminaljuyu, einer Stätte aus der Zeit um 500 n. Chr., war ein Häuptling in Gesellschaft zweier Jünglinge, eines Kindes und eines Hundes begraben. Angehörige des gewöhnlichen Volks begrub man mit dem Mund voll gestampfter Maiskörner im Lehmboden ihrer Behausungen zusammen mit ihren Waffen und Gerätschaften sowie mit Töpfen, angefüllt mit Speis und Trank, genau wie in früheren Kulturen auf der anderen Seite des Ozeans. Zu erwähnen sind ferner die Porträtskulpturen von Yucatán, die als Urnen für die Asche abgeschiedener Häuptlinge dienten; die Schädelabgüsse von Mayapan; sowie im Andenhochland die kleinen Katakomben, in denen Leute des gemeinen Volks in Sitzhaltung gefesselt, umringt von Schalen mit chicha und den Dingen und Gerätschaften, die sie im Leben benutzt hatten, bestattet wurden.25 Die Toten wurden alsdann huaca, gottgleich, genannt, was ich als weiteres Indiz dafür werte, daß man sie als die Quellen halluzinierter Stimmen identifizierte. Und wenn die Konquistadoren berichten, daß nach Meinung der Eingeborenen jenes Landes ein Mensch erst lange nach seinem Tod «stirbt», dann scheint mir das nur so zu verstehen, daß es eben so lange dauerte, bis die halluzinierte Stimme dieses Menschen schließlich verstummte. Daß die Götter ursprünglich nichts anderes als die Toten waren, erhellt auch aus den Schriftzeugnissen derjenigen bikameralen Kulturen, die eine Schrift entwickelten. In einem zweisprachigen Beschwörungstext aus Assyrien werden die Toten unumwunden als Ilani, Götter, apostrophiert.26 Und drei Jahrtausende später notierte Sahagun in einem der frühesten Berichte über Land und Leute Mittelamerikas: die Azteken «nannten den Ort Teotihuacan, d.h. Grabstätte der Könige; die Alten sagten: der Verstorbene ist zum Gott geworden; oder sagte jemand: er ist zum Gott geworden, so sollte das heißen: er ist gestorben».27 24 25 26 27
von Hagen, Die Kultur der Maya, S. 143. von Hagen, Das Reich der Inka, S. 137. Heidel, a.a.O., S. 153,196. Zitiert bei Covarrubias, S. 123.
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Noch in der Epoche des Bewußtseins kannte man die Überlieferung, daß Götter in grauer Vorzeit verstorbene Menschen waren. Hesiod weiß von einem goldenen Menschengeschlecht, das dem eisernen seines eigenen Zeitalters vorausging; und wenn von diesem Geschlecht irgendwelche gestorben sind, «werden sie fromme Dämonen der oberen Erde genennet, Gute, des Wehs Abwehrer, der sterblichen Menschen Behüter»28. Noch vier Jahrhunderte später ist diese Vorstellung den Griechen geläufig: Platon zum Beispiel zitiert sie sowohl in der «Politeia» (469 A) wie im «Kratylos»(398). Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als seien Töpfe mit Essen und Getränken in ausnahmslos allen Gräbern der genannten Kulturen und Regionen anzutreffen; ich sage nur: Grabbeigaben dieser Art sind im bezeichneten Rahmen weit verbreitet. Und häufig ist es sogar so, daß Ausnahmen die Regel bestätigen. So zum Beispiel war Sir Leonard Woolley bei der Ausgrabung der (in die Zeit um 1900 v. Chr. datierenden) Privatgräber im mesopotamischen Larsa zunächst überrascht und enttäuscht angesichts der Armseligkeit dessen, was sie enthielten. Selbst mit großem Konstruktionsaufwand gebaute Gewölbe hatten an Beigaben nichts weiter aufzuweisen als etwa ein paar irdene Gefäße hinter der Tür der Grabkammer, jedoch keinerlei Ausstattung der Art, wie man sie von anderweitigen Grabfunden kannte. Die Erklärung dafür lag auf der Hand, sobald er sich vor Augen hielt, daß diese Gräber sämtlich jeweils unter Wohnstätten angelegt waren: Der Tote der altbabylonischen Epoche brauchte keine Ausstattung oder größere Essensvorräte als Grabbeigaben, da ihm ja alles in dem Haus über seinem Kopf zur Verfügung stand. Essen und Getränk nahe der Kammertür dürften wohl so etwas wie eine ErsteHilfe-Maßnahme für den Dringlichkeitsfall großen Hungers dargestellt haben, damit der Tote, falls ihn das Bedürfnis nach «geselligem Beisammensein» mit der Familie ankam, sich gut gelaunt zeigte. 28 Hesiod, Werke und Tage, 120-121.
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Von Mesopotamien bis Peru sind also für die Hochkulturen zumindest auf einer Etappe ihrer Entwicklung Bestattungsgepflogenheiten kennzeichnend, die den Toten behandeln, als würde er noch weiterleben. Und soweit Schriftzeugnisse vorliegen, bekunden sie, daß die Toten häufig als Götter bezeichnet wurden. Das mindeste, was sich dazu bemerken läßt, ist, daß es der Hypothese vom Überdauern der Stimmen der Toten in den Halluzinationen der Lebenden nicht widerspricht. Indes, ist die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Totenkult und Stimmhalluzinationen zwingend? Könnte es nicht einfach so sein, daß der Grund für die geschilderten Bräuche in bloßer Trauer zu suchen ist – in einer Art Weigerung, sich mit dem Tod eines geliebten Menschen oder eines verehrten Führers abzufinden, die dazu führt, daß man dem Toten, gleichsam als Zeichen der Liebe und Zuneigung, den Namen «Gott» beilegt? Immerhin eine denkbare Erklärung. Sie ist jedoch zu schwach, um dem Gesamtbild, zu dem sich die Befunde zusammenfügen, gerecht werden zu können: Sie erklärt nicht die Ubiquität des einheitlichen Musters, Tote als Götter zu betiteln, in weit auseinanderliegenden Weltteilen; nicht das Gigantische mancher kultischen Veranstaltungen, etwa der Pyramidenbauten; und noch nicht einmal, wieso wir in Volksglauben und Literatur noch heute auf die Spur von Geistern treffen, die mit Botschaften für die Lebenden aus ihren Gräbern zurückkehren. SPRECHENDE IDOLE Eine dritte Eigenheit der frühen Hochkulturen, die im Zusammenhang der Bikameralitätshypothese für mich Beweiswert hat, ist die gewaltige Anzahl und Vielfalt plastischer Menschendarstellungen sowie die unverkennbar zentrale Rolle, die sie im Alltag des Altertums spielen. Als deren Vorform haben ohne Zweifel die bereits erwähnten aufgestützten Leichname von Stammesführern und nachbehandelten Schädel zu gelten. Davon ausgehend folgte eine erstaunliche Entwicklung der
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Menschenplastik. Deren unverkennbare Wichtigkeit im jeweiligen kulturellen Rahmen ist schwerlich zu verstehen ohne die Annahme, daß sie als Hilfsmittel bei der Erzeugung von Stimmhalluzinationen dienten. Dies ist jedoch alles andere als eine einfache Angelegenheit, und die erschöpfende Erklärung dürfte wohl ein Geflecht durchaus unterschiedlicher Prinzipien in sich fassen. Statuetten Die kleinsten dieser Plastiken sind Statuetten, wie sie in fast allen alten Königtümern von den ersten menschlichen Dauersiedlungen an gefunden wurden. Im siebenten und sechsten Jahrtausend v. Chr. sind sie äußerst primitiver Machart – kleine Steine mit eingeritzten Gesichtszügen oder groteske Tonfiguren. Daß sie im Kulturzusammenhang etwa um 5 600 v. Chr. eine wichtige Rolle spielten, belegen die Ausgrabungen in Hacilar in der südwestlichen Türkei. Flache weibliche Standbilder aus gebrannter Erde oder aus Stein, Augen, Nase, Haar und Kinn auf der Oberfläche eingeritzt, waren in jedem Haus zu finden29 – ich würde sagen: geradeso, als seien sie die halluzinatorischen Überwacher der Bewohner. In den Amrahund Gerzeh-Kulturen Ägyptens (um 3600 v. Chr.) hatte man auf Stoßzähne geschnitzte bärtige Köpfe mit konzentrischen Ringen als Augen, das Ganze jeweils 15-20 Zentimeter lang und in die Hand passend.30 Und ihnen kam solche Bedeutung zu, daß man sie nach dem Tod ihres Besitzers in seinem Grab aufstellte.
29 Mellaart, a.a.O., S. 106; vgl. ferner Clark & Piggott, a.a.O., S. 204. 30 Vgl. Flinders Petrie, Prehistoric Egypt, London: British School of Archaeology in Egypt 1920, S. 27 u. 36. Selbst Götter werden zuweilen mit Handidolen in der Hand dargestellt. Ein Beispiel aus Anatolien findet man in: Seton Lloyd, a.a.O., S. 51; ein Beispiel aus der Maya-Kultur in: A. P. Maudslay, Archaeology in Biologia Centrali-Americana, New York: Arte Primitivo 1975, Bd. 2, Tafel 36 (Stele F, Nordseite).
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In den meisten Zentren mesopotamischer Hochkulturen wurden Statuetten in gewaltigen Mengen ausgegraben, so in Lagaš, Uruk, Nippur und Susa.31 In Ur fand man, jeweils an der Wand im Zimmerboden vergraben, kastenartige Verschalungen aus gebrannten Ziegeln, die schwarz und rot bemalte Tonfiguren enthielten, doch war eine Wand der Verschalung weggelassen, so daß sie zur Mitte des Raums hin offenstand. Indes, was genau die Funktion all dieser Statuetten war, zählt nicht zu den geringsten Rätseln der an Rätseln nicht armen Archäologie. Die geläufigste Ansicht zu dieser Frage verdankt sich dem kritiklosen Eifer, mit dem die Ethnologen im Anschluß an Frazer Fruchtbarkeitsriten aus jedem zerkratzten Kieselstein herauslasen. Wenn die Statuetten jedoch irgend etwas mit Fruchtbarkeitskulten im Frazerschen Sinn zu tun hätten, dürften wir sie nicht an Orten finden, wo es mit der Fruchtbarkeit keinerlei Probleme gab. So ist es aber nicht. Die Kultur der Olmeken im fruchtbarsten Landstrich von Mexiko hat eine erstaunliche Vielfalt solcher Statuetten, häufig mit aufgesperrtem Mund und übertrieben großen Ohren – exakt wie man es erwarten würde, wenn man annimmt, daß ihre Ausdrucksgestaltung den Zweck erfüllt, den Stimmen, die man hörte, in der sichtbaren Welt einen Platzhalter zu schaffen, mit dem man gegebenenfalls Dialoge führen konnte.32 Freilich ist die weitergehende Erklärung nicht einfach. Genau wie die Kultur, der sie angehören, scheinen auch die Statuetten eine Entwicklung durchlaufen zu haben. Um beim zuletzt genannten Beispiel zu bleiben: Im Anfangsstadium bilden die früholmekischen Statuetten eine überzogene Prognathie (Vorstehen des Oberkiefers) aus, die sie schließlich fast wie Tiere erscheinen läßt. In der Teotihuacán-Periode dann sind sie kunstvoller und feiner ausgestaltet; in ihren großen, mit zartroten, -gelben und -weißen Farbtupfern bemalten Kopf31 In späteren Ritualen wurden sie mit übernatürlichen Kräften ausgestattet; vgl. H.W.F. Saggs, The Greatness That Was Babylon, New York: Mentor Books 1962, S. 301-303. 32 Vgl. Burland, a.a.O., S. 22 f; Bushnell, a.a.O., S. 37f.
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bedeckungen und Umhängen ähneln sie sehr den olmekischen Priestern. In einer dritten Entwicklungsetappe sind die Statuetten der Olmeken noch sorgfältiger lebensgetreu modelliert, zuweilen mit ausgebildeten Gelenken an Armen und Beinen; zuweilen haben sie, wie Reliquiare, einen Hohlraum im Innern, der mit einem kleinen quadratischen Deckel verschlossen war und weitere, winzig kleine Figurinen enthielt – was möglicherweise ein Ausdruck der Verwirrung im bikameralen Führungsprinzip ist, die unmittelbar vor dem Zusammenbruch der olmekischen Hochkultur auftrat. Denn diese Phase, die nicht nur eine Flut von Statuetten, sondern auch neue Riesenstandbilder mit offenen Mündern in halbfertigem Zustand aufweist, ging um 700 v. Chr. mit der mutwilligen Zerstörung der Metropole Teotihuacán zu Ende: Man brannte die Tempel nieder und schleifte die Mauern, ehe man aus der Stadt wegzog. Waren die Stimmen verstummt und sollten mit vermehrter Bilderproduktion wieder heraufbeschworen werden? Oder hatten sie sich zu einem chaotischen Durcheinander vervielfacht? Für die Mehrzahl dieser Statuetten muß aufgrund ihrer Größe und Quantität bezweifelt werden, daß sie dazu da waren, Gehörshalluzinationen auszulösen. Tatsächlich könnte es sich bei einem Teil von ihnen um die mnemotechnischen Hilfsmittel, die Erinnerungsstützen eines Menschenschlags ohne Bewußtsein gehandelt haben, dem es nicht gegeben war, normbildende Erfahrungen per Willensakt zu reproduzieren; in diesem Fall mag man sich ihre Funktion ähnlich derjenigen der Quipu (Knotenschriftschnüre) der Inka oder des uns aus unserer eigenen Kultur vertrauten Rosenkranzes denken. So kennt man zum Beispiel drei Typen von Fundament-Statuetten aus Bronze, die in Mesopotamien an den Ecken neuerrichteter Gebäude oder unter Türschwellen vergraben wurden: einen knienden Gott, der einen Pflock in den Boden treibt; einen Korbträger; und einen liegenden Stier. Die derzeit akzeptierte Theorie, wonach sie dazu da waren, böse Geister unter den Boden des Gebäudes zu verbannen, darf wohl kaum als das letzte Wort zur Sache gelten. Statt dessen ist es denkbar, daß
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Zu Tausenden wurden solche «Augenidole», die man in der Hand halten konnte, gefunden. Dieses Exemplar stammt aus dem Tell Brak an einem der Quellflüsse des Euphrat (etwa 3300 v. Chr.). Die gehörnte Gazelle ist das Symbol der Göttin Ninhursag.
es sich um semi-halluzinatorische Gedächtnishilfen für einen Menschenschlag ohne Bewußtsein handelte, die dazu anhielten, die Pfosten gerade aufzustellen, beim Heranschaffen des Baumaterials nicht zu erlahmen und für schwere Stücke die Ochsen einzuspannen. Doch dürfen wir sicher sein, daß ein Teil dieser kleinen Objekte als Hilfsmittel für die Hervorbringung bikameraler Stimmen tauglich war. Dies gilt insbesondere für die aus der Zeit um 3000 v. Chr. stammenden Augenidole, wie sie vor allem im Tell Brak am Ğaggaga (einem Nebenfluß des Habur, der seinerseits ein Nebenfluß des Euphrat ist) zu Tausenden gefunden wurden: schwarzweiße Gebilde aus Alabaster, bestehend aus einem flachen, keksähnlichen Korpus mit einem augenförmigen, ehemals malachitgrün getönten Aufsatz. Wie die älteren Stoßzahn-Idole der Amrah- und Gerzeh-Kulturen eignen sie sich dazu, in der Hand gehalten zu werden. Die meisten haben nur ein Augenpaar, doch gibt es auch welche mit zweien; manche tragen Kronen, manche Kennzeichnungen, die sie eindeutig als Gottheiten ausweisen. An anderen Ausgrabungsstätten – in Ur, Mari und Lagaš – wurden größere Augenidole aus Terrakotta gefunden; da ihre Augen die Form
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von offenen Schlaufen haben, hat man sie Brillenidole getauft. Andere Augenidole, aus Stein verfertigt und auf Sockeln oder Altären postiert, sehen aus wie zwei Muffen auf einer quadratischen, mit Einritzungen verzierten Platte, die einen Mund darstellen könnte.33
Eine Theorie der Idole Hier ist nun ein weiterer Ausblick in die Psychologie vonnöten. Blickkontakt ist unter Primaten von überaus wichtiger Bedeutung. Unterhalb der Menschheitsebene artikuliert sich in ihm die relative Position zweier Individuen in der Rangordnung der Sozietät, was bei vielen Primatenarten so aussieht, daß sich das rangniedrigere Tier grinsend abwendet. Beim Menschen hat sich der Blickkontakt – vermutlich im Zusammenhang mit dem stark verzögerten Reifungsprozeß – zu einer hochbedeutsamen sozialen Interaktion entwickelt. Ein Säugling sieht der Mutter in die Augen, nicht auf den Mund, wenn sie mit ihm spricht; es handelt sich dabei um eine automatische und universelle Reaktion. Der Ausbau solchen Blickkontakts zum Artikulationsmedium von Autoritäts- und Liebesbeziehungen ist ein immens wichtiger Entwicklungsweg, dessen Verlauf noch der Erforschung harrt. Wir können uns hier mit der Andeutung begnügen, daß die Autorität eines Höhergestellten in der Regel eindrücklicher empfunden werden dürfte bei direkter Konfrontation Auge in Auge mit ihm. Das Erleben einer solchen Situation ist verbunden mit einem Gefühl von Streß, von Unentschlossenheit und obendrein mit einer Art Bewußtseinsschwäche, so daß man sich leicht vorstellen kann, wie das Simulieren einer derartigen Situation mit Hilfe einer Statue zur Vertiefung des Effekts halluzinierter Götterreden beiträgt. 33 Vgl. M. E. L. Mallowan, Early Mesopotamia and Iran, New York: McGraw-Hill 1965, Kap. 2.
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Die Augen werden somit zu einem hervorstechenden Merkmal der Tempelplastik der gesamten bikameralen Epoche. Der Durchmesser des menschlichen Auges beträgt ungefähr 10 Prozent der Schädelhöhe; die entsprechende Proportion bei einem Idol werde ich künftig als dessen Augenindex bezeichnen. Die berühmten zwölf Statuen,34 die in der Favissa des Abu-Tempels zu Ešnunna (dem heutigen Tell Asmar) gefunden wurden und die, den auf ihren Basen eingemeißelten Sym-
Der Gott Abu (oben) eine unbekannte Göttin (links). Beide Statuen wurden in einem Tempel von Tell Asmar bei Bagdad gefunden, wo sie heute im Nationalmuseum aufbewahrt werden. Sie datieren in die Zeit um 2600 v. Chr.
34 Abgebildet in zahlreichen Überblicksdarstellungen, so beispielsweise bei Mallowan, a.a.O., S. 43 u. 45.
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bolen zufolge, Gottheiten darstellen, haben einen Augenindex von nicht weniger als 18 Prozent: Aus riesengroßen kreisrunden Augen blicken sie uns mit unbeugsamer Autorität aus fünftausendjähriger geschichtsloser Vergangenheit hypnotisierend an. Das gleiche Bild bei anderen Idolen von anderen Fundorten. Ein besonders schönes und mit Recht berühmtes Marmorhaupt aus Uruk35 hat einen Augenindex von über 20 Prozent; zu erkennen ist noch, daß Augen und Brauen ehemals Inkrustierungen aus Edelstein sowie daß Gesicht und Haare bemalt waren und daß der Kopf zu einer lebensgroßen, inzwischen zu Staub zerfallenen Holzstatue gehörte. Um 2700 v. Chr. gibt es in dem reichen Stadtstaat Mari am mittleren Euphrat eine Überfülle von Alabaster- und Kalkspatplastiken leichtgewandeter Gottheiten, Herrscher und Priester, deren Augen, kräftig mit schwarzer Farbe konturiert, bis zu 18 Prozent der Schädelhöhe messen. Im Haupttempel von Mari herrschte die berühmte «Göttin mit der Blütenvase», deren riesengroße leere Augenhöhlen einst hypnotische Edelsteine faßten und die einen Aryballos (eine kleine Kugelvase) schräggeneigt in Händen hält. Durch das Innere der Statue lief eine Röhre, die den Aryballos mit einem Wasserreservoir verband: Über den Rand des Gefäßes hinaustretend, strömte die Flüssigkeit über das Gewand des Idols abwärts und hüllte die untere Partie in einen wallenden Schleier; zugleich entstand ein zischendes Geräusch, wie es sich trefflich eignet, in eine Gehörshalluzination eingebaut zu werden. Nicht zu vergessen sind hier die berühmten Abbilder des Gudea, des rätselhaften Herrschers von Lagaš (um 2100 v. Chr.), aus härtestem Stein gemeißelt und allesamt mit einem Augenindex von 17 oder 18 Prozent. Der Augenindex der Tempel- und Grabplastiken ägyptischer Pharaonen erreicht manchmal 20 Prozent. Die wenigen ägyptischen Holzstatuen, die überdauert haben, lassen erkennen, daß ihre übergroßen Augen ehemals aus in Kupfer 35 Vgl. Mallowan, a. a. O., S. 55.
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gefaßten Quarzen oder Kristallen bestanden. Wie für eine Monarchie vom Gottkönig-Typ (vgl. das folgende Kapitel) nicht anders zu erwarten, spielten Idole in Ägypten offenbar nicht die gleiche herausragende Rolle wie in Mesopotamien. Von der Steinplastik der Indus-Kulturen sind nur wenige Beispiele erhalten, doch an diesem wenigen lassen sich auffallende Augenindizes von mehr als 20 Prozent feststellen.36 Aus der bikameralen Epoche Chinas sind bislang noch keine Idole bekannt. Doch mit dem neuerlichen Beginn einer Hochkultur um 900 v. Chr. in Mittelamerika zeigt sich wiederum ein ähnliches Bild wie Jahrtausende früher im Vorderen Orient, wenngleich mit charakteristischen Eigenheiten: mächtige, oft knapp zweieinhalb Meter hohe Köpfe, ohne Körper bei La Venta und Tres Zapoltes aus dem Boden wachsend (ein Teil von ihnen ist heute im Olmekenpark in Villahermosa aufgestellt); sie sind aus hartem Basalt gemeißelt, tragen in der Regel eine Haube, nicht selten mit großen Ohrenklappen, so daß die ganze Kopfbedeckung sehr den Schutzhelmen der amerikanischen Footballspieler ähnelt. Der Augenindex dieser Köpfe reicht von normalen 11 bis zu mehr als 19 Prozent. Gewöhnlich ist der Mund halb geöffnet wie beim Reden. In zahlreichen Exemplaren war in der Olmekenkultur auch ein schwer deutbares Keramikidol in Gestalt eines geschlechtslosen Kindes verbreitet; diese Figuren sitzen ausnahmslos mit weitgespreizten Beinen da, als wollten sie ihre Geschlechtslosigkeit zur Schau stellen, und halten mit vorgebeugtem Oberkörper ihre breiten Schlitzaugen fest auf den Betrachter gerichtet; die dicken Lippen sind wie zum Sprechen geöffnet. Waren die Lider geöffnet, so betrug der Augenindex bei der Auswahl von Figuren, die ich zu diesem Zweck selbst in Augenschein genommen habe, im Durchschnitt 17 Prozent. Man kennt aus der Olmekenkultur auch Statuetten von halber Lebensgröße mit noch größerem Augenindex; nicht selten findet man sie als Grabbeigaben, so auf der von olmekischem Einfluß zeugen36 Vgl. z.B. die Illustrationen in: Wheeler, a.a.O.
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den Ausgrabungsstätte von Tlatilco bei Mexico City, die auf die Zeit um 500 v. Chr. zurückgeht; man gewinnt hier den Eindruck, daß der Tote zusammen mit seinem Privatidol begraben wurde, um weiterhin von ihm hören zu können, was er zu tun hatte. Maya-Idole haben gewöhnlich keinen derart anomalen Augenindex. Aber in den großen Städten auf Yucatán pflegte man verstorbene Führer in Porträtstatuen zu verewigen, die nach meinem Dafürhalten gleichfalls halluzinogenen Zwecken dienten. Im Hinterkopf wurde ein Hohlraum gelassen, der die Asche des Toten aufnahm. Und Bischof Landa, ein Chronist des sechzehnten Jahrhunderts, berichtet: «sie bewahrten diese Bildwerke mit großer Ehrfurcht auf.»37 Bei den Cocom, ehemals (um 1200 n. Chr.) Herrscher von Mayapan, wiederholte sich ein kulturelles Muster, das wir vom neuntausend Jahre älteren Natoufien her kennen. Sie enthaupteMaya-Gott, etwa 3,5 m ten ihre Toten, «und nachdem sie die hohe Stele aus Copan Schädel ausgekocht hatten, befreiten in Honduras. sie sie vom Fleische, sägten sodann Datiert: um 700 n. Chr. die eine Hälfte des Hinterschädels ab und ließen nur die Vorderpartie mit Kieferknochen und Zähnen unangetastet. Dann ersetzten sie das Fleisch ... durch eine Art Erdpech [und Gipsmörtel], was ihnen ein natürliches und lebensähnliches Aussehen verlieh 37 Zitiert nach von Hagen, Die Kultur der Maya, S. 144.
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... sie bewahrten sie in den Beträumen ihrer Häuser auf und boten ihnen an Festtagen Nahrung dar ... sie glaubten, ihre Seelen wohnten darin, und diese Gaben kämen ihnen zugute».38 Nichts spricht gegen die Auffassung, daß man die präparierten Köpfe so behandelte, weil die Stimmen ihrer früheren Besitzer «in ihnen» steckten. Die Maya verwendeten noch viele andere Arten von Idolen, und zwar in solchen Mengen, daß ein spanischer Statthalter, der 1565 den Auftrag erhielt, in seiner Stadt mit dem Götzendienst aufzuräumen, angesichts der erbrachten Ernte entgeistert berichtete: «In meiner Gegenwart wurden mehr als eine Million Idole herbeigeschafft.»39 Ein Typ des Maya-Idols wurde aus Zedernholz geschnitzt, das die Maya kuche (heiliges Holz) nannten. «Und das heißen sie: Götter machen.» Die Schnitzarbeit wurde unter Furcht und Zittern von Priestern (chak) ausgeführt, die zu strengem Fasten in eine zuvor mit Räucherwerk und Gebeten geweihte Hütte eingeschlossen waren. Die Herrgottsschnitzer «schnitten sich des öfteren in ein Ohr, um die Götzen mit dem Blut einzureiben, und brannten Räucherwerk vor ihnen ab». Die fertigen Gottheiten wurden reich gekleidet auf Podesten in Miniaturbauwerken aufgestellt, von denen einige an weniger zugänglichen Orten das Zerstörungswerk des Christentums und der Zeit überlebt haben, so daß stets von neuem die eine und andere gefunden wird. Nach einem Augenzeugenbericht aus dem sechzehnten Jahrhundert «glaubten die armseligen Tölpel, die Götzenbilder sprächen mit ihnen, und darum opferten sie ihnen Vögel, Hunde und auch von ihrem eigenen Blut, ja sogar Menschen».40, 41 38 Landa, zitiert nach von Hagen, ebd. 39 von Hagen, ebd., S. 178. 40 Alle Zitate nach dem Augenzeugenbericht des Spaniers Landa aus dem 16. Jh.; zitiert in: J. Eric S. Thompson, Maya History and Religion, S. 189-191. 41 Auch bei den Inkas gab es eine Vielfalt von zum Teil mannshohen Idolen, die man als Götter bezeichnete, einige aus Gold oder Silber gefertigt, andere aus Stein, bekrönt und bekleidet; entdeckt wurden sie von den Spaniern allesamt in abgelegenen Tempeln des Inkareichs. Vgl. von Hagen, Das Reich der Inka, S. 152, 197, 202.
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Sprachen die Idole? Wie können wir wissen, daß diese Idole «sprachen» im Sinne der Bikameralitätshypothese? Mir ist es hier nicht zuletzt auch darum zu tun gewesen, einsichtig zu machen, daß allein schon die Existenz von Groß- und Kleinplastik nach einer Erklärung verlangt. (Daß hier überhaupt eine Problematik vorliegt, ist bisher noch kaum wahrgenommen worden.) Diese Erklärung liefert die Hypothese von der bikameralen Psyche. Das Aufstellen derartiger Idole an kultischen Plätzen; die in einer Reihe von Kulturen beobachtete Praxis, in die Augenhöhlen Edelsteine vom glänzenden Typ einzusetzen; ein in den zwei bedeutendsten frühen Hochkulturen anzutreffendes ausgefeiltes Ritual, um neuen Statuen den Mund zu öffnen (vgl. das folgende Kapitel): all das rückt die vorhandenen Beweisstücke in eine bestimmte Perspektive. Die Keilschriftliteratur zitiert sprechende Götterstandbilder häufig. Noch am Anfang des ersten Jahrtausends v. Chr. heißt es in einem königlichen Brief: Ich habe die Omina zur Kenntnis genommen ... Ich habe sie der Reihe nach Šamaš vortragen lassen ... das Königsbild [eine Statue] von Akkad ließ Gesichte vor mir aufsteigen und rief mit lauter Stimme: «Welch böses Omen hast du dir vom Königsbild gefallen lassen?» Wiederum sprach es: «Sage dem Gärtner ... [hier wird die Keilschrift unleserlich, entzifferbar ist dann wieder das folgende] ... es erhob Fragen nach Ningal-Iddina, Šamaš-Ibni und Na’id-Marduk.» Die Rebellion im Lande betreffend, sagte es: «Nehmt die befestigten Städte ein, eine nach der andern, damit kein Verfluchter sich vor dem Gärtner zeige.»42
Auch das Alte Testament der Bibel läßt erkennen, daß von den dort erwähnten Idolen ein Typus, der Terap, sprechen konnte. Hesekiel 21, 26 läßt den König zu Babylon bei mehreren von ihnen Auskunft einholen. Ein weiteres direktes Indiz stammt aus dem amerikanischen Erdteil. Die unterworfenen Azteken erzählten den spanischen Eindringlingen, wie ihre Geschichte 42 R. H. Pfeiffer, State Letters of Assyria, New Haven: American Oriental Society 1935, S. 174.
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begann, als eine Statue aus einer Tempelruine – dem Relikt einer älteren Zivilisation – zu ihren Führern sprach. Das Standbild befahl ihnen, von ihrem Sitz aufzubrechen, den vor ihnen liegenden See zu überqueren und es auf ihrer Reise überallhin mitzunehmen; es lenkte sie hierhin und dorthin genau wie die körperlosen bikameralen Stimmen, die Moses im Zickzack durch die Wüste Sinai führten.43 Und schließlich sind da die bemerkenswerten Zeugnisse aus Peru. Alle frühesten Berichte von der Eroberung Perus, von gelehrigen Schülern der spanischen Inquisition verfaßt, stimmen darin überein, daß das Königreich der Inka vom Teufel regiert wurde. Beweis: Der Leibhaftige persönlich redete wirklich und wahrhaftig zu den Inka aus dem Mund ihrer Götzenbilder. Für diese ungehobelten, in blindestem Dogmatismus befangenen Christen, die aus den bildungsärmsten Regionen Spaniens stammten, war dies nicht weiter verwunderlich. Der allererste in die europäische Heimat abgesandte Bericht vermerkte: «in dem Tempel [des Pachamac] hielt sich ein Teufel auf, der in einem finsteren Raum, der so dreckig war wie er selber, zu den Indianern zu sprechen pflegte.»44 Und ein späterer Bericht vermeldete: ... es war in den indianischen Landen erwiesenermaßen weit verbreitet, daß der Teufel in diesen falschen Heiligtümern Rede und Antwort stand ... Gewöhnlich zur Nachtzeit traten sie, mit widerlich gebeugtem Kopf und Rücken rückwärts gehend, zu ihrem Götzen ein, und dergestalt pflegten sie auch Rat mit ihm. So er ihnen antwortete, war dies gemeinhin einem furchterregenden Gezischel zu vergleichen, oder wie ein Zähneknirschen, und solches regte ihr Entsetzen auf; und alles, was er ihnen anwies und befahl, taugte doch nicht besser als wie zu ihrem Verderben und Untergang.45
43 C. A. Burland, a. a. O., S. 47. 44 (Anon.), The Conquest of Peru, übersetzt und kommentiert von J. H. Sinclair, New York: New York Public Library 1919, S. 37f. 45 Father Joseph de Acosta, The Natural and Moral History of the Indies, London: Hakluyt Society 1880, Bd. 2, S. 325 f.
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ZWEITES KAPITEL Bikamerale Theokratien mit Schriftkultur
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SCHRIFT? Schrift schreitet von Bildern visueller Ereignisse zu Symbolen phonetischer Ereignisse. Und das ist eine erstaunliche Wandlung. Schriften des letztgenannten Typs – wie zum Beispiel diejenige auf der vorliegenden Seite – wollen ihrem Leser etwas sagen, was er nicht weiß. Doch je näher eine Schrift dem Ausgangstypus steht, desto mehr ist ihre Funktion zuallererst die eines mnemotechnischen Hilfsmittels zur Aktivierung von Informationen, die ihr Leser schon besitzt. Die proto-lautschriftlichen Piktogramme von Uruk, die Ikonographie der ältesten Götterbilder, die Bilderschriften der Maya und der Azteken, ja selbst die aus unserem eigenen Kulturkreis bekannte Heraldik – all das gehört zu jenem erstgenannten Typ. Es kann vorkommen, daß im Einzelfall die Informationen, die auf solche Weise aktiviert werden sollten, unwiederbringlich verlorengegangen sind, so daß eine Schrift auf ewig unübersetzbar bleibt. Zwischen den beiden genannten Extremformen stehen die zwei Schriftarten, die – halb Bild und halb Symbol – das Material für das gegenwärtige Kapitel abgeben. Es sind die ägyptische Hieroglyphenschrift mit ihrer abgekürzten QuasiKurrentform, dem Hieratischen (was beides soviel wie «Schrift der Götter» bedeutet), und die – der Form ihrer Striche wegen von den Gelehrten unserer Epoche so genannte – Keilschrift, deren Gebrauch noch viel weiter verbreitet war. Von diesen beiden wird sich die Keilschrift als die für uns wichtigere erweisen; zudem sind von ihr weit mehr Zeugnisse erhalten. Tausende von Tontafeln harren ihrer Übersetzung und weitere Tausende der Ausgrabung. Mindestens vier Sprachen wurden in Keilschrift geschrieben: Sumerisch, Akkadisch, Hurritisch sowie, später, das Hethitische. Im Gegensatz zu unserer Schrift mit ihrem Alphabet von 2.6 Buchstaben AS IST DIE
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oder zur aramäischen (die um 200 v. Chr. die Keilschrift auf allen Verwendungsgebieten mit Ausnahme religiöser Texte verdrängte) mit 22 Buchstaben besteht die Keilschrift aus über sechshundert Zeichen, was sie zu einem recht schwerfälligen und vieldeutigen Kommunikationssystem macht. Viele dieser Zeichen werden logographisch gebraucht und können dabei in ein und derselben Gestalt für eine Silbe, einen Gedanken oder einen Namen stehen oder auch für ein Wort, welches seinerseits wieder mehrere Bedeutungen haben kann, je nachdem, welche Klasse es im gegebenen Fall vertritt (die Klasse kann durch eine besondere Markierung gekennzeichnet sein, indes ist der Gebrauch solcher Indizes nicht regelmäßig). Nur aus dem Kontext heraus können wir einem solchen Zeichen eine Interpretation zuordnen. So zum Beispiel hat das Zeichen neun verschiedene Bedeutungen: in der Aussprache šamšu bedeutet es «Sonne»; in der Aussprache umu «Tag»; in der Aussprache pisu «weiß»; und dazu kann es auch für die Silben ud, tu, tarn, pir, lah und bis stehen. In einem solchen Wust kontextabhängiger Bedeutungen restlos klarzusehen war schon vorzeiten keine ganz einfache Sache. Erst recht gewaltig (und faszinierend) ist das Problem für uns, aus einem Abstand von viertausend Jahren zu der Kultur, die sich in ihnen artikulierte, Keilschrifttexte zu entziffern. Gleiches trifft im wesentlichen auch für die Hieroglyphik/Hieratik zu. Handelt es sich um konkrete Ausdrücke – und dies ist der Regelfall, denn der größte Teil der Keilschriftliteratur besteht aus Auflistungen von Einnahmen, Sachbeständen und Opfergaben für die Götter –, so ergeben sich beim Übersetzen kaum Zweifelsfragen. Doch je abstrakter die Bedeutung der Ausdrücke, und zumal wenn sie eine psychologische Deutung zulassen, desto ausgeprägter die Neigung der Übersetzer, die Texte im Interesse leichterer Eingängigkeit mit neuzeitlichen Kategorien zu überformen. Die einschlägigen Populärdarstellungen und selbst gelehrtes Schrifttum servieren ihren Stoff mit glättenden «Verbesserungen» kandiert und appetitlich garniert mit Erläuterungen und lassen dabei die Menschen des Altertums sich wie unseresgleichen gebaren
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oder legen ihnen doch zumindest eine Art Lutherdeutsch in den Mund. Was der Übersetzer tut, ist nicht selten mehr ein Hinein- als ein Herauslesen. Viele der fraglichen Texte – diejenigen, in denen es scheinbar um Entscheidungsfindungen geht, oder sogenannte Spruchweisheiten, auch Epen und Unterweisungen – müssen erst in die präzisen Termini konkreten Verhaltens neuübersetzt werden, ehe sie als Daten für die PsychoArchäologie des Menschen in Frage kommen. Und ich warne den Leser gleich, daß die Ergebnisse dieses Kapitels nicht mit dem übereinstimmen, was das Populärschrifttum zum gleichen Gegenstand zu sagen hat. Dies bedenkend, fahren wir also fort. Mit dem Aufkommen der Schrift im dritten Jahrtausend v. Chr. werden jene glanzvollen Hochkulturen, wie wenn über einer zuvor dunklen Bühne die Beleuchtung angeht, für unser Auge in ein zwar noch unvollständiges, aber klares Licht getaucht, und wir sehen, daß zu dem fraglichen Zeitpunkt bereits seit längerem zwei Hauptformen der Theokratie existieren: 1. das Statthalter-Königtum, bei dem der Führer oder König der erste Stellvertreter der Götter oder – im gewöhnlicheren Fall – des Gottes einer bestimmten Stadt ist, der Verwalter und Pfleger seiner Ländereien. Dies war der bedeutendste und am weitesten verbreitete Typ der Theokratie in den bikameralen Königtümern. Es war die Herrschaftsform in vielen bikameralen Stadtstaaten Mesopotamiens, in Mykene (vgl. Erstes Buch, Drittes Kapitel) und nach allem, was wir wissen, in Indien, China und wahrscheinlich auch in Mittelamerika. 2. Das Gottkönigtum, bei dem der König selbst ein Gott ist. Am deutlichsten vertreten finden wir diesen Typ in Ägypten sowie, wenn nicht in allen, zumindest in einigen Andenreichen und mit hoher Wahrscheinlichkeit im ältesten japanischen Königtum. Meiner bereits früher dargelegten These zufolge (vgl. Erstes Buch, Sechstes Kapitel) haben sich beide Herrschaftsformen aus der ursprünglicheren bikameralen Organisationsform entwickelt, bei der die Herrschaftsmacht eines neuen Königs im Gehorsam gegenüber der halluzinierten
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Stimme des toten Königs bestand. Auf diese Typen will ich nun am Beispiel der zwei bedeutendsten frühen Hochkulturen näher eingehen. MESOPOTAMIEN: DIE GÖTTER ALS EIGENTÜMER Seit den frühesten Zeiten der Sumerer und Akkader war in ganz Mesopotamien alles Land stets Eigentum der Götter, und die Menschen waren ihre Sklaven. Daran lassen die Keilschrifttexte nicht den geringsten Zweifel.1 Jeder Stadtstaat hatte seine eigene Obergottheit, und in den allerältesten uns überkommenen Schriftdokumenten findet man den König als den «Pachtbauern des Gottes» bezeichnet. Der Gott selbst war ein Standbild. Die Plastik war nicht das Abbild eines Gottes (wie wir heute sagen würden), sondern eben dieses Bild war der Gott selbst. Er wohnte in seinem eigenen Haus, das bei den Sumerern das «große Haus» hieß. Es bildete das Zentrum eines Tempelkomplexes, dessen Umfang von Fall zu Fall schwankte, je nach Bedeutung des betreffenden Gottes und dem Reichtum der betreffenden Stadt. Der Gott war vermutlich aus Holz, damit er nicht zu schwer war, um auf den Schultern von Priestern mitgeführt werden zu können. Sein Gesicht war eine Einlegearbeit aus wertvollen Metallen und Edelsteinen. Er war kostbar gekleidet und stand auf einem Piedestal in einer Nische im innersten Raum seines Hauses. In den größeren und bedeutenderen Gotteshäusern gab es kleine Innenhöfe, deren umliegende Räume dem Statthalter-König und seinen Nebenpriestern vorbehalten waren. 1
Die meisten der einschlägigen Quellen sind gut erschlossen und in zahlreichen hervorragenden Darstellungen nachzulesen, u. a. in: H. W. F. Saggs, The Greatness That Was Babylon, New York: Mentor Books 1962; The Cambridge Ancient History, Bd. 1-3, Cambridge: Cambridge University Press (zahlreiche Auflagen); George Roux, Ancient Iracq, Baltimore: Penguin Books 1966; A. L. Oppenheim, Ancient Mesopotamia: Portrait of a Dead Civilization, Chicago: University of Chicago Press 1964.
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In den meisten der in Mesopotamien ausgegrabenen großen Städte war das Haus der obersten Gottheit eine Zikkurat, ein viereckiger, in Stufen hoch ins Licht emporsteigender Turm, auf dessen oberster Plattform ein Tempel stand. Im Zentrum der Zikkurat lag die gigunu, eine geräumige Kammer, wo nach Meinung der Mehrheit der Gelehrten die Statue der Obergottheit wohnte, die nach anderer Ansicht jedoch nur der Abhaltung von Riten diente. Derartige Zikkurat oder ähnliche Tempeltürme sind während einer bestimmten Epoche den meisten bikameralen Königtümern gemein. Da die göttliche Statue der Eigentümer des Bodens und die Menschen seine Leibeigenen waren, bestand die erste Pflicht des königlichen Statthalters nicht allein in loyaler Verwaltung der königlichen Ländereien, sondern ebensosehr auch in privateren Dienstbarkeiten. Die Götter liebten den Keilschrifttexten zufolge Essen und Trinken, Musik und Tanz; sie benötigten Betten zum Schlafen und für das geschlechtliche Vergnügen mit anderen Götterstatuen, die von Zeit zu Zeit zum Behufe solcher Hochzeitsfeste von anderswoher zu Besuch kamen; sie wollten gewaschen und gekleidet und mit Wohlgerüchen geschmeichelt sein; bei Staatsfeierlichkeiten mußten sie umhergefahren werden; und um all das lagerte sich mit fortschreitender Zeit immer mehr Zeremoniell und Ritual an. Das tägliche Tempelritual schloß das Waschen, Ankleiden und Füttern der Statuen ein. Gewaschen wurden sie wahrscheinlich, indem priesterliche Diener sie mit reinem Wasser besprengten – möglicherweise haben wir hier die Ursprünge unserer Tauf- und Salbungszeremonien vor uns. Als Kleidung stand eine Vielfalt von Gewandformen zur Verfügung. Vor den Gottheiten waren Tische aufgestellt – die Urformen unserer Altäre –, von denen einer Blumenschmuck trug, der zweite Speis und Trank für den göttlichen Hunger. Das Essen bestand aus Brot, Kuchen und Fleisch; das Fleisch lieferten Stier, Hammel, Ziege, Hirsch, Fisch und Geflügel. Will man bestimmten Interpreten der Keilschriften glauben, so wurde zunächst das Essen aufgetragen, woraufhin das menschliche Personal sich zurückzog, damit die göttliche Statue sich allein und
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ungestört an ihrem Mahl gütlich tun konnte. Nach geziemender Frist betrat dann der Statthalter-König das Allerheiligste durch einen Nebeneingang und verzehrte, was der Gott übriggelassen hatte. Im übrigen mußten die Götterstatuen auch bei Laune gehalten werden. Man nannte das: «ihrer Leber schmeicheln» und verrichtete dieses Geschäft mittels Opfergaben von Butter, Fett, Honig und Konfekt, die wie das reguläre Essen auf die Tische gelegt wurden. Man kann sich vorstellen, daß Menschen, deren bikamerale Stimme sich kritisch und verärgert zeigte, derlei Opfergaben zum Gotteshaus trugen. Gibt es eine andere Erklärung für all diese Dinge und für ihre historische Dauerhaftigkeit – denn in der einen oder anderen Form blieben sie tatsächlich über Tausende von Jahren der zentrale Bezugspunkt der Lebensorganisation –, ich sage: Gibt es dafür eine andere Erklärung als unser Postulat, daß jene Menschen die Statuen genauso sprechen hörten, wie die Helden der «Ilias» die Stimmen ihrer Götter hörten oder die heilige Johanna ihre Stimmen? Ja, daß sie diese Statuen sogar reden hören mußten, um zu wissen, was sie tun sollten. Wir können das unmittelbar in den Texten selber lesen. Der große «Zylinder» B des Gudea von Lagaš (um 2100 v. Chr.) gibt an, daß die Priesterinnen in einem neuerbauten Tempel für Gudeas Gott Ningirsu die sieben Töchter aus der Nachkommenschaft der Baba, die Ningirsu mit ihr zeugte, die Göttinnen Zazaru, Impae, Urentaea, Hegirnunna, Hesagga, Guurma, Zaarmu, [aufstellten], damit sie an der Seite des Landesherrn Ningirsu günstige Entscheidungen aussprächen.2
Im einzelnen betrafen die auszusprechenden Entscheidungen diverse Fragen der Bodenbestellung, damit das Getreide «die Abhänge des heiligen Feldes bedecke» und «sämtliche reichen 2
Spalte 11, Zeile 4-14; vgl. George A. Barton, The Royal Inscriptions of Sumer and Akkad, New Haven: American Oriental Society 1929. Die Hervorhebungen stammen – wie auch in den folgenden Zitaten – von mir.
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Kornspeicher von Lagaš zum Überfließen gebracht werden». Und ein Tonkegel der Dynastie, die um 1700 v. Chr. in Larsa herrschte, preist die Göttin Ningal als Ratgeberin, überaus weise Befehlshaberin, Fürstin aller großen Götter, erhabene Rednerin, deren Worten nichts gleichkommt.3
Allenthalben in diesen Texten sind es die Worte der Götter, die darüber entscheiden, was zu tun ist. Auf einem Kegel aus Lagaš liest man: Mesilin, König von Kiš, errichtete auf Geheiß seiner Gottheit Kadi, betreffend die Bepflanzung jenes Feldes, eine Stele an jenem Ort. Uš, Patesi von Umma, um sich ihrer zu bemächtigen, fertigte Zauberformeln an; jene Stele zerbrach er in Trümmer; in die Ebene von Lagaš rückte er vor. Ningirsu, der Held des Enlil, auf dessen rechtmäßiges Geheiß führte Krieg gegen Umma. Auf das Geheiß des Enlil schnappte sein großes Netz zu. An jenem Ort auf der Ebene errichtete er ihren Grabhügel.4
Nicht die Menschen üben die Herrschaft aus, sondern die halluzinierten Stimmen der Götter Kadi, Ningirsu und Enlil. Man beachte, daß die zitierte Textstelle von einer Stele handelt, einer Steinplatte, in die in Keilschrift die Worte eines Gottes eingemeißelt waren und die auf einem Feld errichtet worden war, um Anweisungen zu erteilen, wie man dieses Feld zu bestellen hatte. Daß solche Stelen ihrerseits Manifestationen des Göttlichen waren, läßt sich daraus vermuten, wie sie umkämpft und verteidigt, zertrümmert und als Beutestücke weggeführt wurden. Und daß sie die Quellen von Gehörshalluzinationen waren, wird von anderen Texten nahegelegt. Eine besonders aufschlußreiche Stelle aus einem anderen Textzusammenhang schildert, wie eine Stele bei Nacht entziffert wird: Die Glätte ihrer Oberfläche gibt ihm sein Hören kund; die eingemeißelte Schrift gibt ihm sein Hören kund; das Licht der Fackel hilft ihm besser hören.5
3 4 5
Ebd., S. 327. Ebd., S. 61. Inimma ist hier mit «Zauberformeln» übersetzt. Ebd., S. 47.
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Lesen dürfte also im dritten Jahrtausend v. Chr. eine Sache des Hörens der Keilschrift gewesen sein, das heißt des Halluzinierens gesprochener Rede beim Betrachten ihrer Bild-Symbole, ungleich dem visuellen Lesen von Silben nach unserer Art. Das hier mit «Hören» wiedergegebene Wort ist ein sumerisches Zeichen, das in der Transliteration «giš-tug-pi» lautet. Zahlreiche andere königliche Inschriften verzeichnen, wie der König von irgendeinem Gott mit diesem «giš-tug-pi» ausgestattet wird, das ihn zu Großem befähigt. Noch 1825 v. Chr. rühmt sich Waradsîn, der König von Larsa, auf einem Tonkegel, er habe die Stadt umgebaut mit «giš-tug-pi dagal», das bedeutet: seinen Gott Enki «auf Schritt und Tritt hörend».6 Zeremonielle Mundwaschungen Ein weiterer Anhaltspunkt dafür, daß die Statuen Halluzinationshilfen waren, ergibt sich bei Betrachtung anderer zeremonieller Verrichtungen, die sämtlich sehr präzis und konkret auf Keilschrifttafeln beschrieben sind. Die Standbild-Gottheiten wurden in der bit-mummu, einer speziellen gottgeweihten Werkstatt, angefertigt. Selbst die Handwerker wurden bei ihrer Arbeit von einem Handwerker-Gott, Mummu, angeleitet, der ihnen «diktierte», wie sie bei der Herstellung der Statue zu verfahren hatten. Vor der Aufstellung im Heiligtum wurde das Standbild den Ritualen des mispi, das heißt der Mundwaschung, und des pitpi, der Öffnung des Mundes, unterzogen. Nicht nur im Zusammenhang mit der Herstellung der Statue, sondern turnusmäßig auch danach – und vor allem wohl gegen Ende der bikameralen Ära, als die halluzinierten Stimmen weniger häufig aufzutreten begannen – vermochte die mit umständlichem Zeremoniell vorgenommene Mundwaschung die Redegabe der Götter zu erneuern. Beim Licht tropfender Fackeln trug man den Gott mit seinem Intarsiengesicht 6
Ebd., S. 320.
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aus Juwelen zum Flußufer, und dort wurde ihm unter Zeremonien und Beschwörungen mehrmals der Mund ausgewaschen, wobei das Gesicht nacheinander gen Osten, Westen, Norden und schließlich gen Süden gewandt war. Das benutzte Weihwasser war ein Sud von vielerlei Zutaten: Tamariskenrinde, verschiedene Gräser, Schwefel, verschiedene Gummis, Salze und Öle, dazu Dattelhonig sowie verschiedene kostbare Steine. Nach weiteren Beschwörungen wurde der Gott «an der Hand» zurück auf die Straße «geleitet», wobei der Priester ein litaneiartiges «Fuß, der vorwärtsschreitet – Fuß, der vorwärtsschreitet ...» intonierte. Am Tempeltor wurde dann nochmals eine Zeremonie abgehalten. Darauf nahm der Priester den Gott «bei der Hand» und geleitete ihn zu seinem Thron in der Nische, wo ein goldener Baldachin aufgeschlagen war und der Mund der Statue abermals ausgewaschen wurde.7 Die bikameralen Königtümer darf man sich nicht eines wie das andere vorstellen oder so, als hätten sie nicht im Lauf der Zeit eine beträchtliche Entwicklung durchgemacht. Die Texte, denen die zuletzt angezogenen Informationen entstammen, datieren aus der Zeit etwa gegen Ende des dritten Jahrtausends v. Chr. Es mag also sein, daß sie eine Spätentwicklung der Bikameralität repräsentieren, eine Phase, in der der erreichte Komplexitätsgrad der Zivilisation an sich schon die Deutlichkeit der Stimmen trübte und die Häufigkeit ihres Auftretens beschnitt und damit dieses Reinigungsritual ins Leben rief, in welchem sich die Hoffnung auf eine Regeneration der göttlichen Stimme ausspricht.
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Die Übersetzung dieses Texts (von Sidney Smith) in: Journal of the Royal Asiatic Society, Januar 1925; abgedruckt in (und hier zitiert nach): S. H. Hooke, Babylonian and Assyrian Religion, Norman: University of Oklahoma Press 1963, S. 118-121.
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Der Privatgott Es wäre allerdings verkehrt, nun annehmen zu wollen, daß der gemeine Mann die Stimmen der großen Götter, denen die Stadt gehörte, selbst unmittelbar vernommen hätte; eine derartige Vielfalt des individuellen Halluzinierens wäre mit systematischer staatlicher Kontrolle unvereinbar gewesen. Der gemeine Mann diente den Göttern, bestellte ihr Land und nahm teil an den Festlichkeiten ihnen zu Ehren. Aber nur in extremer Not flehte er sie an, und auch dann nur über Mittelsleute. Das geht aus zahllosen Rollsiegeln hervor. Ein Großteil der Keilschrifttafeln vom Inventarverzeichnis-Typ trägt Abdrücke solcher Rollsiegel auf der Rückseite; gewöhnlich zeigen diese einen sitzenden Gott sowie eine weitere, untergeordnete Gottheit – in der Regel eine Göttin –, die den Besitzer der Tafel an der rechten Hand vor das Angesicht des Gottes führt. Als derartige Mittelsleute fungierten die Privatgötter. Jedes Individuum, ob König oder Bauer, hatte seinen eigenen persönlichen Gott, dessen Stimme er hörte und auf dessen Stimme er hörte.8 In fast allen der bei Ausgrabungen zutage geförderten Wohnhäuser gab es einen Raum, der als Weihestätte diente; dieser Raum beherbergte wahrscheinlich die Privatgottheiten der Bewohner in Gestalt von Idolen und Statuetten. Mehrere späte Keilschrifttexte schildern rituelle Verrichtungen an ihnen, die den zeremoniellen Mundwaschungen bei den großen Göttern ähneln.9 Durch flehentliches Bitten waren diese Privatgötter dazu zu bringen, bei anderen Göttern, die einen höheren Platz in der Götterhierarchie einnahmen, wegen spezieller Gnadenerweise vorstellig zu werden. Und so seltsam uns Heutigen das vor8
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Nach Thorkild Jacobsens Überzeugung «erscheint [der Privatgott] als die Personifizierung von Glück und Erfolg eines Menschen» (vgl. T. J., Mesopotamia, The Intellectual Adventures of Ancient Man, hg. von H. Frankfort u. a., Chicago: University of Chicago Press 1946, S. 203). Nach meiner eigenen festen Überzeugung handelt es sich dabei um nichts anderes als eine Überfremdung des Sachverhalts aus modernem Empfinden heraus. Saggs, a.a.O., S. 301 f.
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kommen mag – der Instanzenweg funktionierte auch andersherum: Hatte der Grundeigner-Gott sich einen Fürsten zum Statthalter-König erkoren, so informierte er zuerst den Privatgott des Designierten von seiner Wahl, und erst danach wurde der Betreffende selbst ins Bild gesetzt. Aus meinen früheren Ausführungen (vgl. Erstes Buch, Fünftes Kapitel) ergibt sich, daß diese Stufung in der vertikalen Sozialdimension insgesamt in der rechten Hirnhemisphäre vonstatten ging, und ich bin mir der Probleme der Authentizität und der kollektiven Akzeptanz, die sich mit einem derartigen Erwählungsvorgang verknüpfen, durchaus bewußt. Wie auch anderweitig im Altertum war der persönliche Gott verantwortlich für das Handeln des Individuums – im Fall des Königs wie in dem des gemeinen Bauern. Andere Keilschrifttexte weisen aus, daß der Mensch im Schatten seines Privatgotts, seines ili, lebte. So unauflöslich waren Mensch und Privatgott miteinander verbunden, daß der Name des Privatgotts in die Bildung des Personennamens einging und so die bikamerale Natur des Menschen plakatierte. Höchst interessant sind die Fälle, in denen der Name des Königs den Privatgott bezeichnet: beispielsweise Rimsînili, das bedeutet «Rimsîn ist mein Gott» (Rimsîn war ein König von Larsa), oder, noch einfacher, Šarruili, «Der König ist mein Gott».10 Diese Beispiele legen die Vermutung nahe, daß der Statthalter-König selbst zuweilen Gegenstand von Halluzinationen sein konnte. Wann der König zum Gott wird Insofern mit dieser Möglichkeit gerechnet werden muß, hat die Unterscheidung, die ich zwischen Statthalter-König-Typ und Gottkönig-Typ der Theokratie getroffen habe, keine absolute Geltung. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammen10 The Intellectual Adventures ..., S. 306.
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hang ferner der Umstand, daß auf mehreren Keilschrifttafeln neben den Namen einer Reihe von frühen mesopotamischen Königen der achtzackige Stern – das Determinativzeichen für Göttlichkeit – erscheint. In einem älteren Text sind von einer größeren Anzahl von Königen der Städte Ur und Isin elf mit diesem oder einem gleichbedeutenden Determinativum ausgezeichnet. Zur Erklärung dieses Sachverhalts wurden bereits mehrere Theorien aufgestellt; keine von ihnen ist sonderlich überzeugend. Das richtungweisende Indiz ist hier meiner Meinung nach darin zu sehen, daß das Göttlichkeitsdeterminativum den Königen meistenteils erst nach längerer Regierungszeit und auch dann nur in bestimmten Städten ihrer Herrschaft erteilt wird. Das könnte bedeuten, daß die Stimme eines besonders mächtigen Königs einer Anzahl seiner Untertanen – wenngleich nicht allen – in ihren Halluzinationen vernehmlich wurde, freilich nur an einigen Orten, und nachdem er bereits seit längerer Zeit an der Herrschaft war. Doch selbst in solchen Fällen scheint der Unterschied zwischen göttlichen Königen und Göttern im eigentlichen Sinn in ganz Mesopotamien niemals seine Bedeutung verloren zu haben.11 Ganz anders ist das in Ägypten, wohin wir uns nun wenden wollen. ÄGYPTEN: DIE KÖNIGE ALS GÖTTER Das weite Tiefland um die Flüsse Euphrat und Tigris geht allmählich und ohne klare Begrenzung einerseits über in die endlosen arabischen Wüsten, andererseits in die sanft ansteigende Hügellandschaft im Vorfeld der Gebirgsketten von Persien und Armenien. Ägypten dagegen ist, vom Süden abgesehen, auf zwei Seiten achsensymmetrisch eingeschlossen von unverrückbaren natürlichen Grenzen und damit eine klar defi11 Saggs, a.a.O., S. 343 f.
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nierbare geopolitische Einheit. Denn ein Pharao, der seine Macht nilaufwärts auszudehnen suchte, geriet alsbald in Landstriche, wo er zwar Raubzüge veranstalten konnte, die er jedoch niemals völlig zu unterwerfen vermochte. So zeigte sich in Ägypten seit jeher eine über den geographischen Raum wie durch die historische Zeit sich erstreckende und selbst das Volkstum prägende Einförmigkeit. Wie Untersuchungen an Schädelfunden ergaben, waren die Menschen Ägyptens einander im Körpertyp erstaunlich ähnlich, und dies konstant über Zeitalter hinweg. Diese ökologisch abgeschirmte Homogenität war12 meines Erachtens die Voraussetzung für das lange Überdauern der archaischeren Spielart der Theokratie, des Gottkönigtums. Die «Memphitische Theologie» Betrachten wir zunächst die berühmte «Memphitische Theologie».13 Es handelt sich um einen Granitblock aus dem achten Jahrhundert v. Chr. (den sogenannten «Schabakastein», heute Britisches Museum 138), auf den eine ältere Handschrift (vermutlich von einer vom Verfall bedrohten Lederrolle aus der Zeit um 3000 v. Chr.) übertragen wurde. Der Text beginnt mit einer Apostrophe des «Schöpfer»-Gottes Ptah, fährt fort mit dem Zwist zwischen den Göttern Horus und Seth und dessen Schlichtung durch Geb, schildert die Erbauung des königlichen Gotteshauses zu Memphis, um dann in der berühmt gewordenen Schlußsektion festzustellen, daß die anderen Götter im ägyptischen Pantheon Varianten von Ptahs Stimme oder «Zunge» seien. 12 G. M. Morant, Study of Egyptian Craniology from Prehistoric to Roman Times, Biometrika 17/1925, S. 1-52. 13 Zusätzlich zur sonstigen Quellenliteratur habe ich für diesen Abschnitt benutzt: John A. Wilson, The Culture of Ancient Egypt, Chicago: University of Chicago Press 1951; Cyril Aldred, Egypt and the End of the Old Kingdom, New York: McGraw-Hill 1965; W. W. Hallo u. W. K. Simpson, The Ancient Near East: A History, New York: Harcourt Brace Jovanovich 1971.
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Übersetzt man nun, wie es häufig getan wird, das Wort «Zunge» an dieser Stelle mit «objektivierte Begriffe seines Denkens» oder ähnlichem, so ist dies ohne Frage eine Überformung des Textes mit neuzeitlichen Kategorien.14 Vorstellungen wie die von objektivierten Denkbegriffen und selbst noch diejenige von einer im Erscheinenden sich Ausdruck suchenden Geistigkeit haben sich erst sehr viel später herausgebildet. Es herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß die altägyptische Sprache genau wie die sumerische durch und durch konkret war. In irgendeiner Form zu unterstellen, sie sei Ausdruck abstrakter Gedanken gewesen, heißt nach meinem Dafürhalten, hier die moderne Vorstellung mit einzuschmuggeln, die Menschen seien einander zu allen Zeiten gleich gewesen. Auch an den Stellen, wo in der «Memphitischen Theologie» davon die Rede ist, daß von der Zunge beziehungsweise den Stimmen alles andere geschaffen wird, vermute ich bereits in dem Wort «geschaffen» eine moderne Überfremdung: Als die korrektere Lesart will mir «befehligt» erscheinen. Diese Theologie ist also im wesentlichen ein Mythos von der Sprache, und was Ptah in Wahrheit befehligt – worüber er herrscht und gebietet –, sind nichts anderes als die bikameralen Stimmen, die die ägyptische Zivilisation ins Leben riefen, sie lenkten und leiteten. Osiris: die Stimme des toten Königs Schon manches Mal wurde Verwunderung geäußert angesichts der Art und Weise, wie in dem erwähnten Text Mythologie und Realität durcheinandergehen – dergestalt, daß der himmlische Zank zwischen Horus und Seth ein reales Stück Land zum Gegenstand hat, oder daß die Osirisgestalt des letzten Abschnitts zu Memphis realiter begraben liegt, oder auch, daß jeder König bei seinem Tod zu Osiris wird, so wie er zu Leb-
14 Henri Frankfort, Kingship and the Gods, Chicago: University of Chicago Press 1948, S. 28.
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zeiten Horus war. Indes, in der angenommenen Voraussetzung, daß es sich bei all diesen Gestalten um einzelne Stimmhalluzinationen handelt, wie sie von Königen und den ihnen im Rang Nächststehenden vernommen wurden; und daß die Stimme eines Königs dessen Tod überdauern und als Wegweiserin seines Nachfolgers ihre «Existenz» fortsetzen konnte; und daß wir es bei den Mythen von Göttergezänk und von den vielfältigen Beziehungen der Mitglieder des Pantheons untereinander mit Rationalisierungsversuchen zu tun haben, die dem Auftreten einander widerstreitender belehrender Stimmautoritäten Rechnung tragen und im übrigen die real existierende Herrschaftsorganisation reflektieren – in dieser Voraussetzung haben wir zumindest einen neuen Ansatz für die Deutung der Befunde gewonnen. Um gleich zum Kern der Sache zu kommen: Osiris war kein «sterbender Gott», nicht «das Leben im Bann des Todes» und kein «toter Gott», wie moderne Interpreten gemeint haben. Er war die halluzinierte Stimme eines verstorbenen Königs, dessen Belehrungen noch immer etwas galten. Und da er sich noch immer vernehmen ließ, liegt kein Widersinn darin, daß man den Körper, von dem die Stimme ehemals ausging, einbalsamierte und sein Grab mit allem Lebensnotwendigen ausstattete: mit Speis und Trank, mit Sklaven und Frauen und allem sonstigen Drum und Dran. Da war keine geheimnisvolle Macht, die er ausströmte – da war nur das Andenken seiner Stimme, die sich in den Halluzinationen derer, die ihn gekannt hatten, geltend machte, ihnen ebenso gebot und sie beriet, wie sie es getan hatte, bevor sein Leib aufgehört hatte, zu atmen und sich zu bewegen. Und daß, unter anderem, eine Naturerscheinung wie das Gewisper der Wellen im Fluß als Hinweisreiz für derartige Halluzinationen wirken konnte, erklärt, wie es zu dem Glauben kam, daß Osiris beziehungsweise der König, dessen Leib sich nicht mehr bewegte und in Mumiengewänder eingekleidet war, weiterhin die Überflutungen des Nils kontrollierte. Des weiteren ist die Beziehung zwischen Horus und Osiris und ihre auf ewig wiederholte «Verkörperung» in jedem neuen König und seinem verstorbenen Vater nur zu verstehen
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als die langsame Angleichung einer halluzinierten gebietenden Stimme an des Königs eigene Stimme, ein Vorgang, der sich von Generation zu Generation wiederholte. Herrschaftshäuser für Stimmen Daß die Stimme und mithin die Macht eines Gottkönigs weiterlebten, nachdem sein Leib bereits aufgehört hatte, zu atmen und sich zu bewegen, geht fraglos aus der Art des Begräbnisses hervor, das man ihm bereitete. Freilich ist Begräbnis hier wohl kaum das richtige Wort. Solche göttlichen Könige wurden nicht in triste Gräber eingesperrt, sondern heimgeführt in strahlende Paläste. Sobald man die Technik des Steinbaus gemeistert hatte, kurz nach 3000 v. Chr., schossen die zuvor als Stufenmastaba ausgeführten Grabbauten empor zu den uns unter dem Namen Pyramiden bekannten Galabühnen für das Nachleben der unsterblichen bikameralen Stimmen: zu Komplexen von Festhöfen und mit heiligen Bildwerken und Schriften heiter ausgezierten Galerien, häufig umgeben von Gräberfeldern für des Gottes Dienerschaft, überragt vom Pyramidenpalais des Gottes selbst, das – im Äußeren von beinah allzu selbstgewisser Nüchternheit – zur Sonne aufstieg wie eine lichtüberflutete Zikkurat und dessen Bauweise von einer ungebrochenen Gesinnung kündete, die sich nicht scheute, neben Alabaster und Kalkstein die härtesten Gesteinsarten zu verwenden – geschliffenen Basalt, Granit und Diorit. Der psychologische Sinn von alldem harrt noch der Enträtselung – nicht zuletzt, weil die Materialien, auf die man sich dabei stützen könnte, durch «Goldsammler» jeglicher Couleur in so bedenklichem Ausmaß dezimiert sind, daß diese ganze Frage vielleicht überhaupt in ewiges Dunkel gehüllt bleiben wird. Ein Rätsel ist beispielsweise der Umstand, daß man die reglose Mumie des Gottkönigs häufig in einem recht schlichten Sarkophag findet, während seine prunkvollen Ebenbilder mit unvergleichlich viel mehr Ehrfurcht umhegt wurden: Ist das damit zu erklären, daß letztere als Realursachen des
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halluzinierten Geschehens erlebt wurden? Wie die Statuengottheiten Mesopotamiens waren auch diese ägyptischen Plastiken lebens- oder überlebensgroß. Zuweilen trugen sie eine kunstreiche Bemalung; die Augen bestanden in der Regel aus Edelsteinen, die seither längst von bewußten, nichthalluzinierenden Grabräubern brutal aus ihren Fassungen gebrochen worden sind. Anders als ihre Vettern im Osten wurden die ägyptischen Götterbilder niemals von ihrem Platz entfernt, so daß man ihre Züge, unbesorgt um Transportrisiken, im Kalkstein, Schiefer, Diorit, oder welchen Stein man auch immer benutzte, aufs feinste ausmeißeln konnte; nur gebietsweise wurden sie aus Holz verfertigt. In einer Nische hatten sie gewöhnlich ihren Dauerplatz, den sie manchmal sitzend, manchmal freistehend einnahmen und manchmal auch, als vielfache Ausfertigungen des einen Gottkönigs, sitzend oder stehend in einer Reihe; manchmal findet man sie in eine kleine Kapelle, den Serdab, eingemauert, mit zwei Gucklöchern vor den Juwelenaugen, damit der Gott in den Vorraum hinausblicken konnte auf geopferte Speisen und Schätze und wir wissen nicht, was sonst noch alles, was seither in die Hände von Plünderern gefallen ist. Gelegentlich kam es sogar vor, daß die halluzinierte Rede des verstorbenen Gottkönigs im Wortlaut schriftlich aufgezeichnet wurde, wie in der «Lehre, von der Majestät des von Rechts wegen König Amenemhet I. seinem Sohn erteilt, als er in einer Traum-Offenbarung zu ihm sprach». Auch den gemeinen Mann behandelt die Begräbnissitte, als ob er noch weiterlebte. Bereits seit vordynastischen Zeiten wurden Bauern Töpfe mit Speisen, Gerätschaften und Opfergaben zum Gebrauch im anderen Leben mit ins Grab gegeben. Weiter oben in der Gesellschaftshierarchie hielt man Leichenfeiern ab, an denen auf ungeklärte Weise der Leichnam selber teilnahm. Relieftafeln, die den Verstorbenen als MitEsser beim eigenen Leichenmahl zeigen, wurden in einer Wandnische des Grabhügels oder der Mastaba aufgestellt. In jüngeren Begräbnisstätten ist das zur gemauerten Grabkammer mit bemalten Reliefs und dem Serdab mit Statuen und
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Opfergaben wie in den richtigen Pyramiden fortentwickelt. Häufig wurde dem Namen eines Toten ein Epitheton mit der Bedeutung «wahrhaftig von Stimme» beigefügt. Außerhalb der hier vorgetragenen Theorie läßt sich dafür schwerlich eine Erklärung finden. «Wahrhaftig von Stimme» war ursprünglich das Attribut von Osiris und Horus, das sie als Sieger über ihre Widersacher bezeichnete. Auch Briefe wurden an die Toten gerichtet, als ob sie Lebende wären. Wahrscheinlich ging man dazu über, nachdem einige Zeit verstrichen war und der Adressat sich nicht mehr halluzinativ «vernehmen» ließ. Ein Mann schreibt an seine tote Mutter und bittet sie um einen Schiedsspruch in der Streitigkeit zwischen ihm und seinem toten Bruder. Wie wäre das anders zu erklären als unter der Voraussetzung, daß der lebende die Stimme des toten Bruders in seinen Halluzinationen hörte? Oder ein Toter wird gebeten, seine Vorfahren aufzuwecken, damit sie seiner Witwe und ihrem Kind helfen. Diese Briefe sind private Zeugnisse alltäglicher Sorgen und Nöte, unbeeinflußt von Offizialdoktrinen und schaustellerischen Bedürfnissen. Eine neue Theorie des Ka Könnte man von einer psychologischen Wissenschaft der alten Ägypter sprechen, müßte man sagen, daß deren fundamentales Konzept in der Idee des «Ka» bestand – und damit erhebt sich die Frage: Was ist dieser Ka? Dieser besonders schwer zu deutende Begriff begegnet in ägyptischen Inschriften auf Schritt und Tritt; das Kopfzerbrechen über seinen Sinn hat in der gelehrten Welt zu einem Schwall von Übersetzungslesarten geführt: «Geist», «Seele», «Doppelgänger», «Lebenskraft», «Geschick» oder «Schicksal», «Vorsehung», und Gott weiß, was sonst noch alles. Man hat ihn mit dem Lebenshauch der Semiten und der Griechen wie mit dem «genius» der Römer gleichgesetzt. Aber diese späteren Begriffe gehören offenkundig zu den überlebten Sprachgewändern aus dem Restbestand
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der bikameralen Psyche. Auch läßt sich diese semantische Vieldeutigkeit weder in der Weise bereinigen, daß man für die Ägypter eine Mentalität annimmt, die durch vieldeutigen Wortgebrauch ein und dieselbe geheimnishafte Wesensheit einzukreisen versuchte, noch durch das Postulat einer «Eigenart des ägyptischen Denkens, die auf die Möglichkeit hinauslief, einen Gegenstand nicht durch eine einzige, bündige Definition zu bestimmen, sondern in ihrem Begriff unterschiedliche und untereinander unverbundene Perspektiven zusammenzufassen»15. Das alles schafft keine zufriedenstellende Erklärung. Die hieratischen Texte liefern verwirrende Befunde. Jeder Mensch hat seinen eigenen Ka und spricht von ihm etwa so wie wir von unserer Willenskraft. Andererseits heißt es von jemandem, der gestorben ist, er sei zu seinem Ka gegangen. In den bekannten Pyramidentexten aus der Zeit um 2200 v. Chr. werden die Toten «Herren ihres Ka» genannt. Das Hieroglyphenzeichen für den Ka ist eine ermahnende Geste: zwei erhobene Arme mit flachgestreckten Händen, das Ganze auf einem Querbalken postiert, der in der Hieroglypenschrift sonst den Symbolen für die Götter vorbehalten ist. Nach dem bisher Gesagten leuchtet ohne weiteres ein, daß der Ka als bikamerale Stimme gedeutet werden muß. Er ist nach meinem Dafürhalten das, was der ili, der Privatgott, für die alten Babylonier war. Der Ka des einzelnen war die für ihn selber deutlich vernehmbare Stimme, die sein Handeln dirigierte und die für ihn wahrscheinlich den Klang einer Elternstimme oder der Stimme einer ihm bekannten Autoritätsperson hatte, die jedoch, wenn sie nach seinem Tod für Bekannte und Verwandte hörbar wurde, von diesen selbstverständlich mit dem Stimmklang des Verstorbenen halluziniert wurde. Vergessen wir jetzt einmal die hier ansonsten strikt betonte Bewußtseinslosigkeit dieser Menschen und stellen sie uns mehr oder weniger als unseresgleichen vor, so könnten wir uns etwa 15 Ebd., S. 61.
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einen Landarbeiter denken, der draußen auf dem Feld plötzlich die Stimme des vorgesetzten Aufsichtsbeamten ihm irgendeine Anweisung geben hört. Würde er nach seiner Rückkehr in die Stadt dem Beamten erzählen (in der zeitgenössischen Wirklichkeit hätte es für ihn natürlich nicht den geringsten Anlaß gegeben, das zu tun), er habe seinen, des Aufsehers, Ka gehört, so würde der Beamte – vorausgesetzt, er hätte ein Bewußtsein wie wir – annehmen, daß es sich um die gleiche Stimme handelt, die er auch selber hört und die auch sein eigenes Leben lenkt. Tatsächlich jedoch hätte der Ka des Aufsehers zu dem Arbeiter auf dem Feld mit der Stimme des Aufsehers gesprochen gehabt, wohingegen er zu dem Aufseher selbst mit der Stimme seines Vorgesetzten oder einer Legierung mehrerer Vorgesetztenstimmen spräche. Daß diese Wahrnehmungsdiskrepanz niemals entdeckt werden könnte, liegt auf der Hand. Andere Aspekte des Ka stimmen mit dieser Deutung überein. Die Haltung der Ägypter dem Ka gegenüber ist reinste Passivität. Wie im Fall der griechischen Götter, so auch hier: Hören ist gleich Gehorchen. Der Ka gibt nicht nur Befehle, sondern ist zugleich die Antriebskraft des Vollzugs. Auf einigen Inschriften von Hofleuten heißt es mit Bezug auf den König: «Ich habe gehandelt, wie sein Ka es liebte» oder «Ich habe gehandelt, wie sein Ka es guthieß»16, was so ausgelegt werden kann, daß der Höfling die halluzinierte Stimme des Königs seiner Arbeit Beifall spenden hörte. In manchen Texten heißt es, der König mache eines Mannes Ka, und einige Gelehrte übersetzen Ka in dieser Verwendung mit Glück.17 Auch dies ist eine neuzeitliche Überfremdung. Einen Begriff von Glück und Erfolg zu haben ist für die bikamerale Zivilisation Ägyptens unmöglich. Nach meiner Lesart sind derartige Stellen so zu verstehen, daß der betreffende Mann eine erzieherische halluzinierte Stimme erlangt, die ihn dann bei seiner Arbeit leitet. In den Namen der ägyptischen 16 Ebd., S. 68. 17 Vgl. jedoch Alan H. Gardiner, Egyptian Grammar (Oxford 1957), S. 172, Anm. 12.
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Der Gott Chnum formt auf der Töpferscheibe mit der rechten Hand den künftigen König, mit der linken den Ka des Königs. Dieser Ka deutet mit dem Zeigefinger seiner linken Hand auf seinen Mund zum Beweis seiner Sprechfunktion. Die in dieser Figurengruppe durchgehaltene Verteilung auf die beiden Körperhälften (Lateralisierung) entspricht dem im Kapitel «Das Doppelhirn» dargestellten neurologischen Modell.
Beamten taucht der Ka so häufig auf wie der ili in denen der babylonischen: Kaininesut, das heißt «Mein Ka gehört dem König», oder: Kainesut, «Der König ist mein Ka».18 Auf der Stele Nr. 20538 im Museum von Kairo heißt es: «Der König gibt seinen Dienern Ka und nährt, die ihm treu sind.» Besonders interessant ist der Ka des Gottkönigs. Nach meiner Vermutung teilte er sich dem König mit dem Stimmbild von dessen Vater mit. Doch in den Halluzinationen des Hofstaats – und dies ist der eigentlich wichtige Punkt – wurde er als die Stimme des Königs selbst gehört. Die Texte vermerken, daß, wenn der König sich zu Tisch setzte und aß, sein Ka dabeisaß und mitaß. Die Pyramiden sind voller Scheintüren – manchmal sind sie einfach nur auf die Kalksteinwand aufgemalt –, durch die der Ka des abgeschiedenen Gottkönigs in die Welt hinaustreten konnte, um sich dort hören zu lassen. Auf Denkmälern wird nur des Königs eigener Ka abgebildet, manchmal als Standartenträger, der die Kopfstütze des Königs und die Feder hält, bisweilen auch als hinter dem Kopf des Königs hockender Vogel. Am bezeichnendsten ist jedoch 18 Frankfort, a. a. O., S. 68; vgl. auch John A. Wilson, Egypt: The Values of Life, The Intellecrual Adventures ..., Kap. 4, S. 97.
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die Wiedergabe von König und Ka als Zwillingsgestalten in mythischen Geburtsdarstellungen. Eine dieser Darstellungen zeigt den widderköpfigen Gott Chnum, wie er auf seiner Töpferscheibe den König und seinen Ka modelliert, zwei Figürchen, die sich nur darin unterscheiden, daß der Ka mit dem Zeigefinger der linken Hand auf seinen Mund deutet – offenbar um sich damit als personifizierte Rede (wie man sagen könnte) zu bezeichnen.19 Als Anzeichen zunehmender Komplexität in diesen Dingen ist vielleicht eine Reihe von Texten zu werten, die aus der Zeit der achtzehnten Dynastie – um 1500 v. Chr. – und später datieren und beiläufig erwähnen, daß der König vierzehn (!) Ka besitzt. Eine höchst verblüffende Feststellung! Das Verwaltungssystem – so könnte man sie interpretieren – war so kompliziert geworden, daß die Stimme des Königs als vierzehn verschiedene Stimmpersonifikationen vernommen wurde, wobei die letzteren die Stimmen von Mittelsleuten zwischen dem König und denjenigen waren, die seine Befehle letzten Endes in die Tat umsetzten. Die Auffassung, wonach dem König vierzehn Ka zugeschrieben werden, bleibt für jede andere Auffassung des Ka als die hier vertretene unerklärlich. Jeder König, so sagten wir, ist Horus, während sein verstorbener Vater sich in Osiris verwandelt. Dem König eignet ein Ka oder, in späteren Zeiten, mehrere Ka, was am besten mit «personifizierte Stimme(n)» zu übersetzen wäre. Dies richtig zu verstehen ist unabdingbare Voraussetzung für das richtige Verständnis der gesamten ägyptischen Zivilisation, denn das Verhältnis zwischen König, Gott und Volk gestaltet sich durch Vermittlung des Ka. Der königliche Ka ist selbstverständlich göttlicher Ka; er operiert als Überbringer der königlichen Botschaften; für den König selbst ist er die Stimme seiner Vorfahren, für seine Untergebenen die Stimme, die dem einzelnen Anweisungen erteilt. Und wenn ein Untertan, wie es in manchen Texten vorkommt, feststellt: «Mein Ka stammt vom 19 Abbildung 23 bei Frankfort, a. a. O.
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König», oder: «Der König macht meinen Ka», oder: «Der König ist mein Ka», dann ist das so zu verstehen, daß sich die – möglicherweise den Eltern nachempfundene – innere Stimme, die das Tun des Betreffenden lenkte, dem Klang (oder vermuteten Klang) der Stimme des Königs angeglichen hatte. Eine andere, in der altägyptischen Mentalität der des Ka verwandte Vorstellung ist die des «Ba». Doch zumindest im Alten Reich steht der Ba nicht auf derselben Stufe wie der Ka. Er ist eine visuelle Materialisierung dessen, was sonst als Ka nur zu hören ist, und hat demzufolge mehr mit unserer üblichen Geistererscheinung gemein. Auf Grabbildern ist der Ba gewöhnlich als kleiner menschengestaltiger Vogel dargestellt, was seinen Grund darin haben mag, daß Gesichtshalluzinationen oft mit vogelgleich huschenden Bewegungen auftreten. Solche Bilder zeigen ihn in der Regel in direkter oder indirekter Verbindung mit der Leiche oder mit Statuen des Verstorbenen. Daß der Ba nach dem Zusammenbruch des hochzentralisierten Alten Reiches bikamerale Funktionen des Ka übernimmt, läßt sich zum einen aus der Veränderung seiner Hieroglyphe entnehmen: Aus dem kleinen Vogel wird ein kleiner Vogel neben einer Lampe (die den einzuschlagenden Weg erhellt); zum andern tritt es in dem berühmten Papyrus Berlin 3024 aus der Zeit um 1900 v. Chr. zutage, in dem der Ba die Rolle einer Gehörshalluzination spielt. Sämtliche vorliegenden Übersetzungen dieses erstaunlichen Textes – einschließlich der jüngsten, die ansonsten ein Bravourstück an Gelehrsamkeit ist20 – kranken daran, daß sie mit einer Unzahl von modernen Geistkategorien überformt sind. Und kein Ausleger hat sich je getraut, dieses «Streitgespräch zwischen einem Lebensmüden und seinem Ba» für das zu nehmen, was es allen Anzeichen nach ist: ein Dialog mit einer Gehörshalluzination, wie man ihn heute noch ganz ähnlich bei Schizophrenen beobachten kann.
20 Hans Goedicke, The Report about the Dispute of a Man with His Ba. Papyrus Berlin 302.4, Baltimore: Johns Hopkins Press 1970.
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THEOKRATIEN IM WANDEL DER ZEITEN Im vorigen Kapitel war es mir um die Hervorhebung der Gleichförmigkeiten zwischen bikameralen Königtümern zu tun: große, zentral gelegene Kultstätten; die Behandlung von Toten, als ob sie Lebende wären; das Vorhandensein von Idolen. Freilich weisen die alten Kulturen neben diesen Globalaspekten und über sie hinaus zahlreiche Differenzierungen auf, deren Erwähnung an Ort und Stelle der angestrebten Prägnanz der Argumentation zum Opfer fiel. Wir alle wissen ja sehr wohl, welch handfeste Unterschiede zwischen Zivilisationen und Kulturen bestehen können, und so dürfen wir auch nicht erwarten, daß überall, wo die bikamerale Psyche in Erscheinung trat, dies mit ein und demselben Ergebnis geschah. Andere Bevölkerungszahlen, eine andere Umwelt, andere Priester, Verwaltungshierarchien, Idole, Produktionsmerkmale – das alles bedingt, so meine ich, halluzinatorische Kontrollen von jeweils markant anderer Autorität und Intervalldichte, anderem Streuungs- und Wirkungsgrad. Hauptthema dieses Kapitels sind demgegenüber die Unterschiede zwischen den zwei größten dieser Zivilisationen. Allerdings habe ich jede von ihnen bisher so dargestellt, als seien sie sich im Laufe der Zeit immer gleichgeblieben. Und das trifft nicht zu. In bezug auf die bikameralen Theokratien den Eindruck über Raum und Zeit hinweg anhaltender Statik und Stabilität zu erwecken wäre ein Mißgriff ganz und gar. Darum möchte ich im letzten Abschnitt dieses Kapitels die bisher einseitige Akzentverteilung korrigieren, indem ich kurz auf den intrakulturellen Strukturwandel sowie auf interkulturelle Strukturdifferenzen der bikameralen Königtümer eingehe. Zunehmende Komplexitätsgrade Was an den Theokratien als erstes ins Auge fällt, ist ihr «Erfolg» nach biologischen Maßstäben. Die Bevölkerungszahlen nahmen stetig zu. Im selben Zug wurden die Probleme der sozialen
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Kontrolle auf der Grundlage von Halluzinationen, die Götter hießen, immer komplizierter. Das Strukturschema der sozialen Kontrolle in einer Dorfgemeinschaft von wenigen hundert Mitgliedern, wie sie weit zurück in der Vergangenheit im ‘Aïn Mallaha des neunten Jahrtausends v. Chr. bestand, ist fraglos himmelweit unterschieden von dem, was wir in gleicher Hinsicht in den zuletzt erörterten Hochkulturen mit ihren hierarchisch geordneten Götter-, Priester- und Beamtenschichten finden. In der Tat meine ich, daß den bikameralen Theokratien so etwas wie eine eingebaute Periodizität eignet: daß halluzinatorische Kontrolle eben dank ihres Erfolgs soziale Komplexität schafft, und zwar bis zu einem Grad, wo die Aufrechterhaltung des Zivilisationszustands und zivilisierter zwischenmenschlicher Beziehungen nicht mehr gelingt und als Folge davon der Zusammenbruch der bikameralen Gesellschaft eintritt. Wie ich im vorigen Kapitel bemerkte, ereignete sich dies zu wiederholten Malen mit präkolumbischen indianischen Hochkulturen: Ganze Populationen verließen ohne äußeren Grund urplötzlich ihre Städte, um unter Preisgabe der erreichten Herrschaftsorganisation in den umliegenden Gebieten auf die Entwicklungsstufe des Stammeslebens zu regredieren, nach rund hundert Jahren jedoch wieder zu ihren Städten und Göttern zurückzukehren. In den Jahrtausenden, die Gegenstand des vorliegenden Kapitels sind, war die Komplexität der Gesellschaft offenkundig im Steigen begriffen. Sinn und Zweck vieler der bisher geschilderten Riten und Gebräuche war Komplexitätsreduktion. Sogar an der aufkommenden Schrift läßt sich das ablesen: Die ältesten Piktogramme dienten der Etikettierung, Katalogisierung und Systematisierung. Und einige der ältesten syntaktisch aufgebauten Texte sprechen bereits von Übervölkerung. Das akkadische Epos von «Atramhasis» (dem «überaus Weisen») platzt mit einem Problem heraus – Das Volk wurde zahlreich ... Der Gott war betrübt über ihren Tumult, Enlil vernahm ihren Lärm.
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Er klagte den großen Göttern: Der Lärm der Menschen ist zur Plage geworden 21
- das sich ganz so anhört, als ob die Stimmen Schwierigkeiten gehabt hätten durchzudringen. Die mythische Erzählung schildert im weiteren, wie die Götterversammlung Pest, Hungersnöte und zum Schluß eine große Flut (das Urbild der biblischen Sintflut) über die Menschen verhängt, um die «Schwarzköpfe» – wie die babylonischen Götter ihre menschlichen Sklaven verächtlich nannten – zu dezimieren. Die göttliche Maschinerie begann an Überlastung zu kranken. In den ersten Jahrtausenden der bikameralen Epoche war das Kollektivleben einfacher gewesen, in der Ausdehnung auf ein kleines Gebiet begrenzt, der politische Organisiertheitsgrad mäßig – dazu bedurfte es damals nur weniger Götter. Doch zum dritten Jahrtausend v. Chr. hin und in dessen Verlauf steigt der Komplexitätsgrad der Sozialorganisation rapide an, so daß jetzt innerhalb gleicher Zeiteinheiten an Zahl sehr viel mehr auf sehr viel abwechslungsreichere Problemtypen passende Entscheidungen zu treffen waren. Das führt zu einer Schwemme von Gottheiten, damit jedermann in jedweder Bedarfssituation einen Ansprechpartner hatte. Von den großen Gotteshäusern der sumerischen und babylonischen Städte, wo die Hauptgötter wohnten, bis hin zu den häuslichen Andachtskapellen, wo jede Hausgemeinschaft ihre Privatgötter verwahrte, war die alte Welt der Tummelplatz für regelrechte Schwärme von Göttern, was wiederum den Bedarf an Priestern erhöhte, die eine strenge Rangfolge in diesen Haufen brachten. Für jede vorstellbare Lage gab es einen zuständigen Gott. Man kann beispielsweise das Aufkommen von offenbar populären Landstraßen-Heiligtümern beobachten, wie etwa die Pasag-Kapelle eines war, in welcher der Statuengott Pasag Entscheidungshilfen für den Weg durch die Wüste vermittelte.22 21 Zitiert nach Saggs, a. a. O., S. 384f. 22 Nach Keilschrifttafeln, die Sir Leonard Woolley zusammen mit einer grob behauenen Kalksteinstatue von Pasag fand. Vgl. C. L. Woolley, Excavations at Ur: A Record of Twelve Years Work, London: Benn 1954, S. 190-192.
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Beide nahöstlichen Theokratien reagieren auf diese Zunahme der Komplexität auf je verschiedene, höchst aufschlußreiche Weise. In Ägypten erweist sich das Gottkönigtum des Alten Reichs – ungeachtet der Tatsache, daß dieses sich über gewaltige Entfernungen den Nil entlang erstreckt – als die weniger flexible Regierungsform: weniger fähig, menschliches Potential zu aktivieren, weniger innovationsbereit, weniger duldsam gegenüber individuellen Faktoren in unteren Verwaltungsbereichen. Für den Historiker – gleichgültig, welche Theorie des politischen Zusammenhalts er vertreten mag – gibt es keinen Zweifel, daß im letzten Jahrhundert des dritten Jahrtausends v. Chr. jegliche Staatsautorität in Ägypten zusammenbrach. Es könnte sein, daß irgendeine Naturkatastrophe dabei als Auslöser gewirkt hat: Aus manchen alten Texten, die sich auf die Zeit etwa um 2100 v. Chr. beziehen, lassen sich Hinweise auf eine Austrocknung des Nilbetts herauslesen, das Menschen trockenen Fußes überquert haben sollen; auch sollen Verdunkelungen der Sonne und Mißernten aufgetreten sein. Was immer die unmittelbare Ursache gewesen sein mag, fest steht, daß die Machtpyramide mit dem Gottkönig zu Memphis an der Spitze um jene Zeit einstürzte wie ein Kartenhaus. Literarische Quellen schildern uns Menschen auf der Flucht aus ihren Wohnorten, Adelsleute beim Durchwühlen des Ackerbodens nach irgend etwas Eßbarem, Zwietracht unter Brüdern, Morde, begangen an den eigenen Eltern, die Plünderung von Pyramiden und Grabstätten. Die Forschung vertritt seit langem die Ansicht, daß dieser absolute Verfall der politischen Macht in keinerlei äußerer Einwirkung seinen Grund hatte sondern die Folge irgendeiner unergründlichen inneren Schwäche war. Und in der Tat meine ich, daß sich hier die Schwachstelle der bikameralen Psyche zeigte, ihre Unzulänglichkeit angesichts wachsender Komplexität, und daß ein solch vollständiger Zusammenbruch politischer Machtstrukturen nur daraus zu erklären ist. Ägypten war zur damaligen Zeit vom Delta bis zum Oberlauf des Nils in Gaue eingeteilt, deren jedes eine höchstrangige Verwaltungseinheit darstellte und im Prinzip hätte autark bestehen können. Doch eben der Umstand, daß
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der totale Verfall der Herrschaftsgewalt nicht zum Aufstand führte und daß keines dieser Untergebiete Selbständigkeit für sich beanspruchte, deutet nach meinem Dafürhalten auf eine Mentalität hin, die sich von der unseren gewaltig unterschied. Dieser Zusammenbruch der bikameralen Psyche in der sogenannten Ersten Zwischenzeit ähnelt zumindest von fern den periodischen Zusammenbrüchen der Maya-Zivilisationen mit ihrer totalen Preisgabe fortgeschrittener Herrschaftsorganisation und der Rückkehr von Stadtbevölkerungen zur Kulturstufe des Stammeslebens im Urwald. Und ebenso wie nach einer Interimsperiode der Auflösung die Maya-Städte wieder bezogen wurden oder neue Städte entstanden, so wurde Ägypten nach einer weniger als hundert Jahre währenden Zwischenzeit der Auflösung zu Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. unter einem neuen Gottkönig zu dem, was nachmals Mittleres Reich heißen sollte, wiedervereinigt. In gleicher Weise fielen auch anderswo im Nahen Osten von Zeit zu Zeit Zivilisationen dem Zusammenbruch anheim, so beispielsweise um 1700 v. Chr. die von Assur, wie wir im folgenden Kapitel noch genauer sehen werden. Die Idee des Rechts Dagegen blieb der Südteil des Zweistromlands von Katastrophen dieses Ausmaßes verschont. Natürlich fanden dort Kriege statt. Stadtstaaten schlugen sich darum, wessen Gott (und mithin wessen Statthalter) über welche Ländereien herrschen sollte. Aber niemals kam es dort irgendwo zum vollständigen Kollaps der Staatsmacht wie in Mittelamerika oder in Ägypten beim Zusammensturz des Alten Reichs. Einer der Gründe dafür war, so glaube ich, die größere Flexibilität der Theokratie vom Typ des Statthalter-Königtums. Einen zweiten, vom erstgenannten nicht ganz unabhängigen Grund sehe ich in der Verwendung, die man hier von der Schrift machte. Anders als in Ägypten wurde die Schrift in Mesopotamien schon früh für Zwecke der Verwaltung eingesetzt.
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Hammurabi halluziniert Urteile seines Gottes Marduk (oder auch Šamaš): Relief vom Kopf einer Stele, die solche Urteile aufzählt. Aus der Zeit um 1750 v. Chr.
Um 2100 v. Chr. begann man in Ur damit, die Urteilssprüche, die die Götter durch den Mund ihrer Statthalter kundgaben, schriftlich festzuhalten. Hier liegen die Anfänge der Idee des Rechts. Solche in Schriftform niedergelegten Urteile konnten räumlich gestreut werden und bewahrten Dauer in der Zeit: So schufen sie Zusammenhalt in einer größeren Gesellschaft. Vergleichbares ist uns aus Ägypten erst für einen beinah ein Jahrtausend späteren Zeitpunkt bekannt. Im Jahr 1792 v. Chr. reißt der verwaltungstechnische Gebrauch der Schrift im beschriebenen Sinn eine nahezu vollständig neue Dimension der Regierungstätigkeit auf, deren Anfänge verkörpert sind in der die babylonische Geschichte beherrschenden Gestalt des Hammurabi, des größten aller Statthalter-Könige, Stellvertreter des Stadtgotts von Babylon, Marduk. Hammurabis lange Statthalterschaft – sie währt bis 1750 v. Chr. – ist dem Zusammenschluß der Stadtstaaten im unteren Zweistromland zu einem Hegemonialreich unter der Vorherrschaft seines Gottes Marduk zu Babylon gewidmet. In Botmäßigkeit gebracht und gehalten werden Hammurabis
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Tributäre unter Verwendung einer nie zuvor gekannten Fülle von Briefen, Tontafeln und Stelen. Da all seine KeilschriftBriefe von ein und derselben Hand in den feuchten Ton geritzt zu sein scheinen, vertritt man heute sogar die Ansicht, daß Hammurabi als erster König überhaupt selber des Schreibens kundig war und keinen Privatschreiber beschäftigte. Schrift im verwaltungstechnischen Einsatz war etwas Neues – in der Tat haben wir hier Keim und Urbild des uns Neueren vertrauten, ohne Akten und Protokolle nicht denkbaren Regierungsstils vor uns. Ohne diesen Gebrauch der Schrift wäre ein geeinigtes Babylonien unmöglich gewesen. Wir begegnen hier erstmals einem Verfahren der sozialen Kontrolle, das, wie wir im nachhinein feststellen können, binnen kurzem die bikamerale Psyche ablösen sollte. Die berühmteste Hinterlassenschaft dieses Königs ist der – von den Interpreten ein bißchen überstrapazierte und möglicherweise zu Unrecht so benannte – Codex Hammurabi.23 Die Originalversion ist auf einer etwa zweieinhalb Meter hohen Stele aus schwarzem Basalt eingemeißelt, die zu Ende der Regierungszeit Hammurabis neben einer Statue – möglicherweise einem Idol – des Herrschers aufgestellt wurde. Soweit wir auszumachen vermögen, war es Gepflogenheit, daß jemand, der gegen einen andern einen Sühneanspruch geltend machte, vor die Statue des Statthalters trat, um «zu hören meine Worte» (wie es am Fuß der Stele heißt), und dann zu den auf der Stele aufgezeichneten, durch den Statthalter vermittelten Präzedenzurteilen des Gottes hinüberwechselte. Der Gott des Statthalters, wie erwähnt, war Marduk; über den Schriftzeichen ist auf der Stele ein Relief eingemeißelt, das den Vorgang der Rechtsprechung zeigt: Der Gott sitzt auf einem Unterbau, wie er in der altbabylonischen Ikonographie einen Berg symbolisiert. Von den Schultern des Redenden geht eine Flammenaura aus (was einige Altertumswissenschaftler zu der
23 Ich habe die Übersetzung von Robert Francis Harper benutzt: The Code of Hammurabi, King of Babylon, Chicago: University of Chicago Press 1904.
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Ansicht geführt hat, daß es sich um den Sonnengott Šamaš handelt). Hammurabi, ein wenig unterhalb direkt vor ihm stehend («ver-stehend»), hört mit gebannter Aufmerksamkeit zu. (Zur Etymologie des Wortes «verstehen» [wie im Englischen «unterstand»] meint das Spezialwörterbuch: «Grundbedeutung ist wohl ‹vor etwas [unterhalb von etwas] stehen› ...» – Anm. d. Übs.) In der Rechten hält der Gott die Attribute der Macht, Stab und Reif, die Gemeingut solcher Götterbilder sind. Mit diesen Insignien rührt er leicht an den linken Ellbogen seines Statthalters Hammurabi. Zum Großartigsten dieser Szene gehört die trancegleiche Unerschütterlichkeit, mit der Gott und Intendant, beide gleichermaßen majestätisch ruhig, die Blicke ineinandersenken; die erhobene Rechte des Königs ist dabei zwischen uns, die Betrachter, und die Kommunikationsebene geschoben. Noch nichts ist hier zu finden von den Selbstdemütigungen, der bettlerischen Haltung im Angesicht eines Gottes, wie sie nur wenige Jahrhunderte später in Erscheinung treten. Hammurabi besitzt kein subjektiv bewußtes Ich, das sich narrativ in eine solche Beziehungslage hineinversetzen könnte. Hier gibt es nur das Ge-Horchen. Und was Marduk diktiert, sind Urteilsfindungen in einer Reihe von ganz spezifischen Fällen. Auf der Stele sind Marduks Urteilssprüche zwischen einen Prolog und einen Epilog von Hammurabi selbst gesetzt. Gewaltig auftrumpfend rühmt er sich darin seiner Taten, seiner Macht und seiner Vertraulichkeit mit Marduk; er zählt die Eroberungen auf, die er für Marduk gemacht hat, nennt die Gründe für das Aufstellen der Stele und droht zum Schluß mit fürchterlichen Sanktionen jedem, der sich an ihr vergreifen sollte. Mit ihrem naiven Geprahle erinnern Prolog und Epilog sehr an die «Ilias». Doch zwischen ihnen finden sich die 282 gelassen vorgetragenen Urteilssprüche des Gottes: klar formulierte Entscheidungen betreffend die Zuteilung von Gütern an die verschiedenen Handwerkssparten, die Strafen für Haussklaven, Diebe oder ungebärdige Söhne, Bußen nach dem Muster «Auge um Auge, Zahn um Zahn», Donationen und Domesti-
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ken, Eheschließungen, Todesfälle und die Adoption von Kindern (die eine recht geläufige Praxis gewesen zu sein scheint) – das alles in kühlen, lakonischen Worten, sehr zum Unterschied von der bramarbasierenden Suada des Prologs und des Epilogs. Man meint zwei ganz verschiedene «Persönlichkeiten» zu hören – und im Sinne der Bikameralität waren sie das auch. Es waren zwei getrennte, jede für sich integrale Organisationseinheiten von Hammurabis Nervensystem, deren eine in der linken Hirnhemisphäre Prolog und Epilog verfaßte und in plastischer Verbildlichung neben der Stele postiert war; die andere, in der rechten Hemisphäre zu Hause, fällte Urteilssprüche. Und keine von beiden tat, was sie tat, mit Bewußtsein im heutigen Sinn. Während auf der einen Seite die Stele als solche ein unbezweifelbarer Beleg für eine gewisse Ausprägung von Bikameralität der Psyche ist, scheint auf der anderen die Sachlage bei den Problemfällen, denen die Verdikte des Gottes gelten, weniger klar. Man erfährt ja aus diesen «Gesetzen» so einiges von dem, was unter Menschen im achtzehnten Jahrhundert v. Chr. an der Tagesordnung war, und kann sich nur sehr schwer vorstellen, wie das alles soll getan worden sein, ohne daß die Täter mit subjektivem Bewußtsein vorausdachten und planten, Vortäuschungen aussannen und Hoffnungen hegten. Wir sollten jedoch nicht aus den Augen verlieren, in welch unentwickelten Zusammenhängen sich das alles abspielte und wie irreführend die Wiedergabe dieser Zusammenhänge in neuzeitlicher Sprache sein kann. Das Wort, das fälschlich mit «Geld» oder sogar mit «Kredit» übersetzt wird, lautet kaspu, was schlicht «Silber» bedeutet. Von Geld in unserem Sinn kann nicht die Rede sein, denn niemals hat man irgendwelche Münzen gefunden. Ähnlich ist das, was mit «Pachtzins» übersetzt wurde, in Wirklichkeit ein Zehnter in Form einer Naturalabgabe: Die Tontafel hält die Übereinkunft fest, wonach ein Teil des Ernteertrags an den Eigentümer des Bodens abzuführen ist. Wein gab es nicht zu kaufen, sondern man erwarb ihn durch Tausch – soundso viel Maß Wein gegen soundso viel Maß Getreide. Und wenn manche Übersetzer
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gar Ausdrücke des modernen Bankwesens verwenden, so ist das Bild, das dabei entsteht, rundweg falsch. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt, zeugen viele Übersetzungen von Keilschriftquellen von dem beharrlichen Bemühen der Gelehrten, diese alten Kulturen in moderne Denkkategorien zu pressen, um sie so für das moderne Publikum anheimelnder und damit – vorgeblich – interessanter zu machen. Auch die Regeln auf der Stele sollte man sich nicht nach modernen Kategorien vorstellen – als Gesetze, über deren Einhaltung eine Polizei wachte: So etwas gab es damals nicht. Es handelt sich vielmehr um eine Aufzählung der in Babylon selbst geübten Praktiken, wie sie von Marduk festgesetzt waren; für deren Wahrung genügte allein das Echtheitssiegel ihres Vorhandenseins auf der Stele selbst. Aus dem Umstand, daß sie schriftlich aufgezeichnet wurden, wie überhaupt aus der weiten Verbreitung des visuellen Kommunikationsmediums Schrift ist, wie ich glaube, abzulesen, daß die auditive Komponente in der Kontrolle der bikameralen Psyche im Schwinden begriffen war. Insgesamt brachte das kulturelle Determinanten in Bewegung, die im Verein mit anderen Kräften, wie sie wenige Jahrhunderte später hinzutreten sollten, einen tiefgreifenden Strukturwandel in der Psyche selber bewirkten. Fassen wir zusammen. In diesem wie im vorigen Kapitel war es um die Sichtung und Entschlüsselung von historischen Zeugnissen aus einer gewaltigen Zeitspanne zu tun. Ziel dabei war, die These einleuchtend zu machen, wonach der Mensch des Altertums mitsamt seinen frühen Hochkulturen in einer radikal anderen Geistesverfassung lebte, als die unsere es ist; tatsächlich hatten jene Menschen kein Bewußtsein, wie wir es haben; sie waren demnach für das, was sie taten, nicht verantwortlich, so daß nichts von allem, was sie über diese langen Jahrtausende hin taten und ausrichteten, ihnen als Verdienst oder Schuld angerechnet werden kann. Vielmehr steckte im Leib jedes einzelnen ein Nervensystem, das in einem Teil «göttlich» organisiert
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war, und dieser Teil kommandierte den Menschen herum, als sei er ein x-beliebiger Sklave; die Stimme(n), in der oder denen er in Erscheinung trat, waren zu ihrer Zeit das, was wir heute das Wollen nennen: Sie formulierten nicht nur Direktiven, sondern bildeten zugleich die energetisierende Komponente; die halluzinierten Stimmen aller einzelnen standen untereinander im Zusammenhang eines differenzierten hierarchischen Systems. Das Grundmuster des Gesamtbilds, das sich uns bot, deckt sich mit dieser Auffassung. Das ist selbstverständlich kein absolut zwingender Beweis. Die erstaunliche Konsequenz jedoch, mit der Hochkulturen von Ägypten bis Peru, von Ur bis Yucatán stets im Verein mit bestimmten Bestattungssitten, mit Idolatrie, mit einer göttlichen Staatsführung und mit dem Phänomen halluzinierter Stimmen auftraten, spricht jedesmal für jene Idee einer von der unseren weit entfernten Mentalität. Wie ich ebenfalls darzutun versucht habe, wäre es jedoch verfehlt, die bikamerale Psyche als etwas Statisches zu betrachten. Zwar hat sie sich in dem Zeitraum vom neunten bis zum zweiten Jahrtausend v. Chr. so langsam entwickelt, daß sich für jedes einzelne Jahrhundert der Eindruck einer Statik ergibt, die der von Zikkurat und Tempel gleicht. Ihr Zeitmaß ist das Jahrtausend. Doch zumindest im Vorderen Orient tritt mit dem zweiten Jahrtausend v. Chr. eine Beschleunigung des Entwicklungstempos ein. In der Vielzahl sowohl der akkadischen Götter wie der Ka in Ägypten verrät sich eine Zunahme an Komplexität. Und mit der weiteren Entfaltung dieser Komplexität kommt erstmals Ungewißheit auf und erstmals das Bedürfnis nach Privatgöttern als Mittlern im Verhältnis zu den höherrangigen Göttern, die sich immer weiter himmelwärts zu entfernen scheinen: Nach Ablauf eines weiteren kurzen Jahrtausends werden sie sich in den oberen Regionen ganz verflüchtigt haben. Angefangen von dem auf sein Sitzkissen von Stein drapierten königlichen Leichnam im rotgestrichenen Turmgrab von ‘Aïn Mallaha, der in den Halluzinationen seiner Untertanen sein Natoufien-Dorf über den Tod hinaus weiterregiert, bis hin
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zu den mächtigen Wesen, die den Donner regieren und Welten schaffen und sich schließlich in einem himmlischen Jenseits verlieren, sind alle Götter einerseits nichts weiter als ein bloßer Nebeneffekt der Sprachevolution, andererseits zugleich aber auch die bemerkenswerteste Hervorbringung der Evolution des Lebens seit Entstehung des Homo sapiens. Das alles sollte nicht als poetische Rhetorik verstanden werden. Keineswegs waren die Götter «figmenta imaginationis», Fiktionen aus irgendeines Menschen Einbildungskraft. Sie waren des Menschen Wollen. Ihr Ort war das menschliche Nervensystem, höchstwahrscheinlich die rechte Hirnhemisphäre, wo sie, aus dem aufgespeicherten erzieherischen und sittlich verbindlichen Erfahrungsschatz schöpfend, diese Erfahrungen in artikulierte Rede umsetzten, die dann dem betreffenden Menschen «sagte», was er zu tun hatte. Warum diese Rede, um in Funktion zu treten, so häufig ein Requisit wie den Leichnam eines Führers oder eine übergoldete, juwelenäugige Statue in einem Kulthaus benötigte – auf diese Frage bin ich die Antwort eigentlich schuldig geblieben. Der Punkt bedarf ebenfalls einer überzeugenden Klärung. Ich habe die Materie, um die es geht, keineswegs in diesem ersten Anlauf erschöpft, und es bleibt zu hoffen, daß vollständige und genauere Übersetzungen der vorhandenen Texte sowie das zügigere Fortschreiten archäologischer Grabungen uns künftig zu einem realitätsgerechteren Verständnis dieses Jahrtausende und Jahrtausende durchmessenden Wegs der Menschheit zur Zivilisation verhelfen werden.
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DRITTES KAPITEL Bedingungen für Bewußtsein
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SPRICHWORT lautet in moderner Übersetzung: «Handle unverzüglich, mach deinem Gott Vergnügen.»1 Sehen wir einen Moment lang davon ab, daß die beziehungsreichen Wörter unserer Sprache nur eine tastende Annäherung an sehr viel weniger aufgeschlüsselte sumerische Gegebenheiten zu liefern vermögen, so können wir die Verständnisbrücke zwischen dieser seltsamen Aufforderung und unserer eigenen subjektiven Mentalität in folgender Lesart finden: «Denke nicht nach: laß keinen Zeit-Raum sein zwischen dem Hören deiner bikameralen Stimme und der Ausführung dessen, was sie dich tun heißt.» Das war recht und gut unter den Bedingungen einer stabilen hierarchischen Herrschaftsorganisation, die solche stets unfehlbaren Stimmen als konstitutiven Faktor einschloß, die gottgewollte Lebensordnung durch unveränderliche Rituale festlegte und schützte und von sozialer Unruhe weitgehend verschont blieb. Aber im zweiten Jahrtausend v. Chr. sollte das nicht so bleiben. Diese Zeit steht im Zeichen von Kriegen, Katastrophen, Völkerwanderungen. Chaotische Zustände trübten die heilige Gelichtetheit der Welt ohne Bewußtsein. Hierarchien bröckelten und stürzten in sich zusammen. Und zwischen das Handeln und seine göttliche Quelle trat der Schatten – die profanisierende Pause, die schreckenerregende Ungebundenheit, die die Götter mißvergnügt, hadernd und eifersüchtig machte. Bis schließlich mit der aus dem Leistungspotential der Sprache geborenen Erfindung eines Analog-Raums mit einer Komponente namens «Ich» ein wirksamer Schutzschild gegen ihre Tyrannei errichtet war. Die hochdifferenziert strukturierte bikamerale Psyche war ins Bewußtsein gerüttelt worden. IN
1
ALTES
SUMERISCHES
Nr. 1, 145 in: Edmund I. Gordon, Sumerian Proverbs, Philadelphia: University Museum 1959, S. 113.
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Soviel als kurzer Umriß der gewichtigen Thematik dieses Kapitels. Die Labilität des bikameralen Königtums Hören wir in unserer gegenwärtigen Welt von einem streng autoritären Regime, so assoziieren wir dazu sofort Militarismus und polizeistaatliche Unterdrückungsmethoden. Man muß sich jedoch davor hüten, diese Gedankenverbindung auf die autoritär regierten Staatsgebilde der bikameralen Epoche zu übertragen. Militarismus, Polizeistaat und Schrekkensherrschaft sind extreme Methoden zur Reglementierung einer aus subjektiv bewußten Menschen bestehenden, durch Identitätskrisen in permanenter Unrast gehaltenen und in eine Unzahl von persönlichem Hoffen und Hassen durchdrungener Privatexistenzen zersplitterten Bevölkerung. In der bikameralen Epoche war die bikamerale Psyche die soziale Kontrolle – und nicht Schrecken oder Unterdrückung oder auch nur Gesetz und Recht. Es gab keinen privaten Ehrgeiz, keinen privaten Groll, keine privaten Frustrationen – es gab überhaupt nichts Privates, weil der bikamerale Mensch keinen inneren Raum hatte, in dem er hätte privat, also «für sich» sein können, und kein Analogon namens «Ich», zu dem er ein Privatverhältnis hätte unterhalten können. Alle Handlungsinitiative ging von den Stimmen der Götter aus. Und der Unterstützung durch die nach göttlichem Diktat aufgeschriebenen Gesetze bedurften die Götter erst in den historisch späten Staatenbünden des zweiten Jahrtausends v. Chr. Die Binnenbeziehungen in einem bikameral verfaßten Staatsgebilde waren daher höchstwahrscheinlich friedlicher und freundschaftlicher als in jeder anderen Zivilisation seither. Anders war das jedoch an den Kontaktstellen zweier verschiedener bikameraler Zivilisationen, wo ganz andere, hochkomplexe und daher brisantere Lagen eintraten. Überlegen wir einmal, was passieren müßte, wenn zwei einander unbekannte Menschen aus verschiedenen bikamera-
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len Zivilisationen unverhofft zusammentreffen, und gehen wir dabei von der Annahme aus, daß keiner von beiden des anderen Sprache versteht und daß jeder Eigentum eines anderen Gottes ist. Der Verlauf einer solchen Begegnung würde abhängen von den Erziehungslehren, Geboten, Verboten und Ermahnungen, mit denen die beiden aufgewachsen sind. In Friedenszeiten, wenn der Stadtgott sich im Wohlstand sonnt und alles – die Bestellung seiner Felder, das Einbringen, Lagern und Umverteilen seiner Bodenfrüchte – so reibungslos läuft wie in einem Ameisenvolk, dürfte man damit rechnen, daß seine göttliche Stimme im Grundton voller Wohlwollen und Freundlichkeit ist, ja daß sämtliche von den Einzelmenschen vernommenen Stimmphänomene mit überwiegend wohlwollenden und friedfertigen Tönen zur weiteren Steigerung der Harmonie beitragen, in deren Erhaltung das Entwicklungsziel dieser Form der sozialen Kontrolle zu suchen ist. Wären also die bikameralen Theokratien, denen die beiden zusammentreffenden Individuen entstammen, während deren Lebensdauer von keinerlei Gefahr bedroht gewesen, so wäre in beiden Fällen der handlungslenkende Gott aus wohlwollenden Stimmen gebildet. Im Ergebnis könnte das zu einem probeweisen Austausch von Grußgesten und Gesichtsausdrücken führen, die wiederum freundschaftliches Gebaren und sogar den Austausch von Geschenken im Gefolge haben könnten. Denn wir dürfen überzeugt sein, daß der Seltenheitswert, den die Besitztümer der fremden Kultur für jedes der beiden Individuen haben, einen solchen Austausch beiderseits wünschenswert macht. So hat man sich wahrscheinlich den Ursprung des Handels vorzustellen. Die Urform des Tauschs läßt sich zurückverfolgen bis auf das Teilen und Zuteilen der Nahrungsmittel innerhalb der familiären Gruppe, das sich zum Tausch von Gütern und Produkten innerhalb der Stadtgemeinschaft weiterentwickelte. Wie in den frühesten Ackerbauersiedlungen die Getreideernten nach bestimmten gottgesetzten Regeln zur Verteilung gelangten, so traten mit zunehmender Spezialisierung der Arbeits-
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kraft die neuen Produkte und Dienste – Wein, Schmuck, Kleider oder Häuserbau – in gottgesetzte Tauschwertverhältnisse zueinander. Der Handel zwischen zwei Völkern ist nichts weiter als die Ausweitung dieses Gütertauschs über die Grenzen des eigenen hinaus auf ein anderes bikamerales Königtum. In Sumer aufgefundene Texte aus der Zeit um 2500 v. Chr. sprechen von Tauschbeziehungen, die bis zum Industal reichen. Und erst kürzlich wurden auf halber Strecke zwischen Sumer und dem Industal, bei Tepe Yahya an der Mündung des Persischen Golfs, die Überreste einer bisher unbekannten Stadtanlage entdeckt, deren Handwerkserzeugnisse zweifelsfrei erkennen lassen, daß es sich um die Hauptlieferantin des Steatits (Seifenstein) handelt, der in Mesopotamien ein sehr verbreiteter Werkstoff war: was wiederum zuverlässig beweist, daß jene Stadt als Umschlagplatz für den Tauschhandel zwischen den beiden genannten Reichen fungierte.2 Man hat dort kleine, etwa fünf Zentimeter im Quadrat messende Tontafeln gefunden; sie tragen Zählmarken, die sehr wahrscheinlich die Tauschsätze angeben. All das spielte sich in einer Ära des Friedens um die Mitte des dritten Jahrtausends v. Chr. ab. Bei späterer Gelegenheit werde ich die Hypothese begründen, daß gerade der ausgedehnte Tauschhandel unter bikameralen Theokratien möglicherweise zur Schwächung der bikameralen Organisationsform beigetragen hat, die den tragenden Grund der Zivilisation bildete. Doch kehren wir jetzt zu unseren beiden Individuen aus den unterschiedlichen Kulturen zurück. Bisher haben wir überlegt, was in einer friedlichen Welt, die von friedfertigen Göttern gelenkt wird, geschieht. Aber was, wenn das Gegenteil der Fall wäre? Kämen die beiden aus gefährdeten Kulturen, würden sie sehr wahrscheinlich kampflüsterne Stimmen halluzinieren, die sie anweisen würden, den Fremden zu töten, und das wäre der Beginn von Feindseligkeiten. Das gleiche Ergebnis würde 2
New York Times, 20.11.1970, S. 53.
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auch eintreten, wenn nur einer von beiden Angehöriger einer gefährdeten Kultur wäre: Ist nämlich der andere erst einmal in die Verteidigerrolle gedrängt, wird sein Gott – egal, wie er heißt – ihn ebenfalls zum Kampf anspornen. In den Beziehungen zwischen den Theokratien gibt es also keinen Platz für Kompromisse. Daß mahnende Stimmen, in denen die Autorität von Königen, Aufsehern, Eltern nachklingt, dem einzelnen eine Kompromißhandlung auferlegen, ist höchst unwahrscheinlich. Noch heute sind unsere Vorstellungen von adeligem Wesen großenteils Relikte des bikameralen Autoritarismus: Es ist unedel, über erlittenen Schmerz zu klagen; es ist unedel, an die Großmut des andern zu appellieren; es ist unedel, sich zum Bittsteller zu erniedrigen – auch wenn all diese Haltungen im Grunde jeweils höchst moralische Methoden sind, Divergenzen zu bereinigen. Hierin liegt der Grund für die Labilität der bikameralen Welt und für den Umstand, daß grenzüberschreitende Beziehungen in der bikameralen Epoche nach meiner Einschätzung dazu tendierten, sich entweder uneingeschränkt freundlich oder uneingeschränkt feindlich zu gestalten, und kaum je eine Zwischenform zwischen den beiden Extremen annahmen. Und das ist noch nicht alles. Das reibungslose Funktionieren eines bikameralen Königtums ist an den intakten Zustand seiner autoritären Hierarchie gebunden. Sobald die klerikale oder weltliche Hierarchie von außen in Frage gestellt oder von inneren Störungen befallen wird, muß das so krasse Folgen haben, wie es in einem Polizeistaat nie der Fall sein könnte. Von einem gewissen Punkt in der Wachstumsentwicklung der theokratischen Stadtstaaten an – wir haben es bereits erwähnt – wird es um die Effektivität der bikameralen Kontrolle höchst prekär bestellt. Je größer die bikameralen Städte wurden, desto mehr war die Priesterhierarchie damit beschäftigt, die mitwachsende Zahl der Götterstimmen nach Rang und Namen zu klassifizieren. Bei der geringsten Erschütterung lief diese Equilibristik menschlicher wie halluzinierter Autoritäten Gefahr, zusammenzustürzen wie ein Kartenhaus. Wie schon im vorigen und vorvorigen Kapitel erwähnt, kam es tatsächlich vor, daß
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solche Theokratien ohne erkennbaren äußeren Grund zusammenbrachen. Im Vergleich mit Staatsverbänden der Bewußtseins-Ära sind bikamerale Staatsgebilde also in höherem Grad von plötzlichem Zusammenbruch bedroht. Die Entscheidungskompetenz der Götter hat ihre Grenzen. Tritt nun zu dieser inneren Brüchigkeit ein äußeres Geschehen ganz neuartigen Charakters hinzu – wie beispielsweise die (durch welche Ursachen auch immer) erzwungene Vermischung bikameraler Völker –, so tun die Götter sich schwer, eine solche Lage auf friedlichem Wege zu bereinigen. Die Schwächung der göttlichen Autorität durch den Vormarsch der Schrift Das Leistungsdefizit des Götterwesens wurde durch den Vormarsch der Schrift im zweiten Jahrtausend v. Chr. im selben Zuge kompensiert und gewaltig verstärkt. Einerseits schuf die Schrift überhaupt erst die Voraussetzungen für die Stabilität eines Staatswesens wie das des Hammurabi. Andererseits jedoch trug sie zum schrittweisen Abbau der Macht des Hörens innerhalb der bikameralen Struktur mit bei. Mehr und mehr wurden Berichte und Anweisungen der Verwaltung in Keilschrift – vor allem auf Tontafeln – verbreitet. Bis auf den heutigen Tag werden stets von neuem ganze Archive solcher Tafeln entdeckt. Behördliche Sendschreiben wurden zur Alltagserscheinung. Um 1500 v. Chr. war die Entwicklung so weit fortgeschritten, daß sogar Bergwerksarbeiter hoch droben in der Steinwüste der Halbinsel Sinai ihre Namen und ihr Verhältnis zur Grubengöttin in die Grubenwände ritzten.3 Die Eingabeinformation für die halluzinatorische göttliche Dimension der bikameralen Psyche war eine ins Lautliche
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Romain F. Butin, The Sarabit Expedition of 1930, IV: The Protosinaitic Inscriptions, Harvard Theological Review 25/1932, S. 130-204.
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transformierte Information. Dieser ganze Erscheinungsaspekt des Systems beschäftigte auf der physiologischen Seite Hirnrindenbezirke, die überwiegend mit der Gehörsfunktion zu tun haben. Und sobald das Wort Gottes tonlos auf stummen Tontafeln oder schweigsamen Steinblöcken erschien, konnte man sich den göttlichen Befehlen oder den königlichen Anweisungen kraft eigener Anspannung zuwenden oder auch von ihnen abwenden, wie das mit Gehörshalluzinationen allein niemals möglich gewesen wäre. Die Worte eines Gottes hatten jetzt eine fremder Verfügungsgewalt unterworfene dingfeste Lokalisierung und waren nicht länger die allgegenwärtige Macht, die unmittelbaren Gehorsam erzwang. Dies ist eine Sache von allerhöchster Bedeutung. Das Versagen der Götter Die Lockerung der Partnerbindung zwischen Gott und Mensch – eine Folge vielleicht des zwischenstaatlichen Handels sowie auf alle Fälle der Ausbreitung des Schriftgebrauchs – war als Hintergrundfaktor an dem hier in Frage stehenden Geschehen beteiligt. Die unmittelbare und die Katastrophe auslösende Ursache für den Zusammenbruch der bikameralen Psyche – was den Keil des Bewußtseins zwischen Gott und Mensch, halluzinierte Stimme und puppenhaftes Handeln trieb – war der Umstand, daß die Götter niemandem sagen konnten, wie er sich in einem sozialen Chaos zu verhalten hatte. Beziehungsweise, wenn sie es taten, führten ihre Anweisungen in den Tod oder zuallermindest zu einer Steigerung des Stresses, der auf der physiologischen Seite das Auftreten der Stimme überhaupt erst bewirkt hatte – bis schließlich Stimmen in undurchdringlicher babylonischer Verwirrung auftraten. Der historische Kontext, in dem sich das alles abspielte, war beispiellos. Das zweite vorchristliche Jahrtausend führte eine schwere Fracht von tiefgreifenden und irreversiblen historischen Wandlungen mit. Geologische Katastrophen ungeheuren Ausmaßes ereigneten sich. Kulturen gingen unter. Die
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halbe Weltbevölkerung wurde ins Flüchtlingsdasein gestoßen. Kriege, die es vorher nur sporadisch gegeben hatte, wurden häufiger und erbitterter geführt, je weiter dieses hochbedeutsame Jahrtausend in seinem Siechtum vor- und seinem finsteren, blutigen Ende näher rückte. Was sich uns zeigt, ist ein komplexes Bild; die Variablen, die soviel Wandel bedingen, sind vielschichtig; was wir an Fakten zu kennen glauben, darf keineswegs als gesichert gelten. Fast jährlich werden Fakten von gestern von der jeweils jüngsten Generation von Archäologen und Altertumswissenschaftlern für ungenügend befunden und durch neue ersetzt. Um den komplexen Sachverhalt wenigstens näherungsweise zu erfassen, wollen wir in der Folge die zwei Hauptfaktoren jener Umwälzungen betrachten. Der eine von ihnen sind die Völkerwanderungen und Invasionen, die rund um das östliche Mittelmeer im Anschluß an den Vulkanausbruch auf der Insel Thera stattfanden; der zweite ist der über drei Etappen führende Aufstieg Assyriens zum Großreich, das sich ganz Mesopotamien einverleibte und im Westen bis nach Ägypten, im Norden bis zum Kaspischen Meer vorstieß, auf seinem Weg jegliche Lokalherrschaft unterjochte und einen ganz anderen Typ des Reiches bildete, als ihn die Welt bislang gekannt hatte. Die assyrische Springflut Betrachten wir zunächst die Lage im nördlichen Mesopotamien, dem Umland der Stadt des Gottes Aššur, wie sie sich zu Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. darstellt.4 Ursprünglich zu Akkad und späterhin zum dreihundert Kilometer südlich gelegenen altbabylonischen Reich von Ur gehörig, war die friedliche bikamerale Stadt Assur am Oberlauf des gemächlichen 4
In bezug auf die Grundzüge der assyrischen Geschichte stütze ich mich auf verschiedene einschlägige Standardwerke, insbesondere jedoch auf das von H. W. F. Saggs; hinzu kommen mehrere Aufsätze von William F. Albright.
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Tigris bis ungefähr um 1950 v. Chr. von Außenwelteinflüssen so ziemlich unberührt geblieben. Unter der Herrschaft von Aššurs oberstem menschlichem Diener Puzur-Aššur I. begann die Stadt an friedlicher Macht und an Wohlstand zuzunehmen. In höherem Maß als bei irgendeiner Nation zuvor verdankt sich diese Zunahme dem Gütertausch mit anderen Theokratien. Rund zweihundert Jahre später wird aus der Stadt des Aššur das Reich Assyrien, das noch mehr als tausend Straßenkilometer weit weg im Nordosten, in Anatolien, Handelsposten unterhält. Der Gütertausch zwischen Städten war um diese Zeit durchaus nichts Neues mehr. Es ist jedoch zu bezweifeln, daß er je zuvor ein solches Ausmaß erreichte wie in den Händen der Assyrer. Von Ausgrabungen aus jüngerer Zeit her kennen wir die karum oder (in kleineren Ansiedlungen) ubartum, die Handelskolonien direkt vor den Toren mehrerer anatolischer Städte, in denen der Tausch abgewickelt wurde. Von ganz besonderer Bedeutung ist der unmittelbar neben der kappadokischen Stadt Kaniš (heutiger Ruinenname: Kültepe) ausgegrabene karum: fensterlose Häuschen, wo in Regalfächern aus Steinen oder Holz mit Keilschrift bedeckte Tontafeln gefunden wurden, die größtenteils noch der Entzifferung harren sowie hie und da Krüge, die etwas enthalten, was wie Zählsteine aussieht.5 Die Schriften auf den Tontafeln – in altassyrischer Sprache abgefaßt – sind die ersten Schriftzeugnisse überhaupt, denen man in Anatolien begegnet. Dieser Tauschhandel war freilich kein echter Handel im Sinne des ökonomischen «Marktens». Es gab keine mit dem Druck von Angebot und Nachfrage variierenden Preise, kein Kaufen und Verkaufen, kein Geld. Es war ein Geben und Nehmen nach einer durch göttlichen Ratschluß festgesetzten Äquivalentenordnung. Kein einziger der bisher übersetzten Keilschrifttexte spricht auch nur im entferntesten von Gewinnen oder Verlusten. Da und dort scheint diese Regel 5
Nimet Osguc, Assyrian Trade Colonies in Anatolia, Archeology 4/1965, S. 250-255.
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durchbrochen, es wird sogar eine «Inflation» angenommen (möglicherweise in einem Hungerjahr, als das Tauschen sich schwieriger gestaltete) – doch alles das vermag Karl Polanyis Sicht der Dinge, der ich mich hier anschließe, nicht ernstlich zu erschüttern.6 Verweilen wir ein wenig bei diesen assyrischen Kaufleuten. Sie waren, so dürfen wir annehmen, lediglich Agenten, die – durch Familientradition in ihre Stellung gelangt und hier überliefertes Familienwissen verwertend – den Gütertausch makelten nach jahrhundertealter, von Vätern und Vorvätern ererbter Gewohnheit. Doch ergibt sich an dieser Stelle für den Psychohistoriker eine Vielzahl von Fragen. Was geschah mit den bikameralen Stimmen dieser Kaufleute in einer Entfernung von bis zu tausend Kilometern und mehr von der lokalisierten Quelle der Stimme ihres Stadtgotts und dazu im täglichen Umgang mit bikameralen Menschen (möglicherweise sogar, wenngleich nicht notwendigerweise, deren Sprache sprechend), die von den Stimmen einer ganz anderen Götterwelt regiert wurden? Wäre es denkbar, daß in diesen an der Berührungslinie zweier unterschiedlicher Zivilisationen angesiedelten Händlern so etwas wie ein protosubjektives Bewußtsein auftrat? Brachten sie bei ihren periodischen Besuchen in Assur eine geschwächte Bikameralität mit nach Hause, die sich womöglich in den nachfolgenden Generationen verbreitete? So daß vielleicht auf diesem Wege die bikameralen Fesseln zwischen Göttern und Menschen gelockert wurden? Die Entstehungsbedingungen des Bewußtseins sind vielfältiger Art, doch scheint es mir kein Zufall, daß in dieser Entwicklung ausgerechnet diejenige Nation eine Schlüsselrolle spielte, die den ausgedehntesten Gütertausch mit anderen Zivilisationen unterhielt. Träfe es zu, daß die Macht der Götter und insbesondere Assurs zu jener Zeit eine zunehmende Schwächung erfuhr, so hätte man hier eine mögliche Erklärung für den vollständigen Untergang von Assurs Stadtstaat um 1700 v. Chr., mit dem ein zweihundert Jahre währendes finste6
Karl Polanyi, Trade and Market in the Early Empires, Glencoe: Free Press 1957.
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res Zeitalter der Anarchie in Assyrien anhebt. Dieses Ereignis konnte bisher auf keine Weise erklärt werden. Kein Historiker weiß sich einen Reim darauf zu machen. Und es besteht wenig Hoffnung, daß sich daran jemals etwas ändert, denn nicht eine einzige assyrische Inschrift aus der fraglichen Periode wurde gefunden. Die Neustrukturierung Assyriens nach jenem Zusammenbruch mußte warten, bis andere Ereignisse die Voraussetzungen für sie schufen. Um 1450 v. Chr. vertreibt Ägypten die Mitanni aus Syrien und drängt sie dabei über den Euphrat auf ehemals assyrisches Gebiet. Aber weniger als hundert Jahre später werden die Mitanni von den aus dem Norden einrückenden Hethitern unterworfen – und damit ist, nach zwei Jahrhunderten anarchischer Finsternis und einer Periode der Mitanni-Hegemonie, 1380 v. Chr. der Weg frei für die Wiedererrichtung eines assyrischen Reichs. Und was für ein Reich dies war! Nie zuvor hatte die Welt eine so militaristische Nation gesehen. Anders als die früheren Inschriften allerorten strotzen die Inschriften aus der mittleren assyrischen Periode von Nachrichten über grausame Feldzüge. Ein dramatischer Wandel hat hier stattgefunden. Doch die Erfolge der Assyrer, die sich mit unnachsichtigem Wüten ihren Weg zur Weltherrschaft erstreiten, sind Umwandlungen einer von Katastrophen ganz anderer Art ausgehenden Schubkraft. Vulkanausbruch, Massenwanderung, Invasion Der Zusammenbruch der bikameralen Psyche wurde sicherlich beschleunigt durch das Einbrechen einer großen bevölkerten Landmasse in der Ägäis, die mit einemmal unter dem Meeresspiegel versank. Darauf folgte ein Ausbruch – oder eine Serie von Ausbrüchen – des Vulkans auf der Insel Thera (Santorin), knapp hundert Kilometer nördlich von Kreta.7 Was heute eine 7
Vgl. Jerome J. Pollit, Atlantis and Minoan Civilization: An Archeological Nexus; ferner Robert S. Brumbaugh, Plato’s Atlantis; beide Aufsätze in The Yale Alumni Magazine 33/1970, S. 20-29.
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Touristenattraktion ist, war zu damaliger Zeit ein Teil dessen, was bei Platon (Kritias 108eff u.ö.) und in späteren Legenden als der untergegangene Kontinent Atlantis beschrieben wird, der zusammen mit Kreta das Minoische Reich bildete. Der größte Teil der Landfläche von Atlantis sowie möglicherweise auch Teile von Kreta sanken mit einem Schlag dreihundert Meter tief unter den Wasserspiegel. Das verbliebene Stück Boden, Thera, lag größtenteils unter einer fast fünfzig Meter hohen Schicht von Bims und Vulkanasche begraben. Geologen haben die Hypothese aufgestellt, daß die bei dem Ausbruch entstandene Aschenwolke den Himmel tagelang verdunkelte und auf Jahre hinaus die Atmosphäre in Mitleidenschaft zog. Die Stärke der Druckwelle wurde auf das Dreihundertfünfzigfache einer Wasserstoffbombenexplosion geschätzt. Auf Meilen im Umkreis wurden dicke Giftgasschwaden über die blaue See ausgespien. Ihnen folgte eine Tsunami, eine Flutwelle gewaltigen Ausmaßes. Über zweihundert Meter hoch aufgetürmt, fegte sie mit einer Fortbewegungsgeschwindigkeit von rund 550 Stundenkilometer krachend über die ungeschützten Inseln der Ägäis und die Küsten der angrenzenden bikameralen Königtümer auf dem Festland. Bis auf drei Kilometer weit ins Landesinnere wurde alles zerstört. Es war das Ende einer Zivilisation und ihrer Götter. Wann genau sich das zutrug, ob eine ganze Reihe von Vulkanausbrüchen stattgefunden hat oder ein Drama in zwei Akten mit einjähriger Verzögerung zwischen der Eruption auf Thera und dem Kollaps der Kulturen – das sind Fragen, die sich zuverlässig erst werden beantworten lassen, wenn bessere wissenschaftliche Methoden für die Datierung von Vulkanasche und Bimsstein zur Verfügung stehen als heute. Manche vertreten die Ansicht, das alles habe sich um 1470 v. Chr. ereignet.8 Andere datieren den Untergang von Thera in die Zeit 1180-1170 v. Chr., als das gesamte Mittelmeergebiet einschließlich Zyperns, des Nildeltas und der palästinensischen 8
S. Marinatos, Crete and Mycaenae, New York: Abrams 1960.
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Küste von einer universellen Katastrophe heimgesucht wurde, die das Zerstörungswerk von 1470 v. Chr. weit in den Schatten stellte.9 Wann immer das Ganze stattgefunden hat und gleichgültig, ob es sich um eine einzige Eruption oder eine Folge von Eruptionen handelte: auf jeden Fall löste das Ereignis eine gewaltige Kettenreaktion von Massenwanderungsbewegungen und Invasionen aus, die das Hethiterreich und das Reich von Mykene zerschlugen und die Welt in ein finsteres Zeitalter stürzten, das den Rahmen für das Aufdämmern des Bewußtseins abgab. Lediglich Ägypten scheint sich den Hochstand seiner Zivilisation bewahrt zu haben, wenngleich der Auszug der Israeliten etwa um die Zeit des Trojanischen Kriegs, vermutlich um 1230 v. Chr., nahe genug bei diesem weltbewegenden Ereignis liegt, um als ein Teil von ihm betrachtet werden zu können. Die Legende von der Teilung des Roten Meers geht wahrscheinlich auf den veränderten Rhythmus der Gezeiten im Gefolge der Eruption auf Thera zurück. Im Ergebnis sind damit ganze Landesbevölkerungen – besser: der überlebende Rest von ihnen – innerhalb eines einzigen Tages schlagartig ins Nomadendasein gestoßen. Man dringt in die benachbarten Territorien ein, der Nachbar überfällt den nächsten Nachbarn, und so breiten sich Anarchie und Chaos wie ein Lauffeuer über einen mit Entsetzen geschlagenen Erdstrich aus. Und was haben die Götter inmitten dieser Trümmerwüste zu sagen? Was können sie sagen, wenn Hunger und Tod das Regiment führen – ein Regiment, viel strenger als das ihrige; wenn Unbekannte Unbekannten drohend in die Augen starren und fremdartige Sprachlaute wie unverständliches Blaffen an fremde Ohren schlagen? Der bikamerale Mensch wurde in banalen Alltagssituationen von unbewußten Gewohnheiten gesteuert, und wenn ihm in seinem eigenen oder dem Verhalten anderer Menschen irgend etwas Neuartiges oder Außergewöhnliches begegnete, dann wiesen 9
New York Times, 28.9.1966, S. 34.
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ihm seine Stimmvisionen den Weg. Aus dem Umfeld der hierarchisch strukturierten Großgruppe herausgerissen und in eine Lage versetzt, wo ihm weder die Gewohnheit noch die bikamerale Stimme zu helfen oder ihn anzuleiten vermochte, muß er wahrhaftig eine bedauernswerte Kreatur gewesen sein. Wie hätte sein Reservoir von sublimierten Erziehungserlebnissen, das sich unter den Bedingungen eines friedlich-autoritär geordneten bikameralen Staatswesens angesammelt hatte, jetzt noch irgendeinen praktikablen, Erfolg verbürgenden Ratschluß entbinden können? Wandernde Menschenmassen ergießen sich über Ionien und von dort nach Süden. Von der Land- wie der Seeseite her dringen osteuropäische Völker – die Philister des Alten Testaments sind eines von ihnen – als Invasoren in die Küstenländer der Levante ein. Der Druck der Nomaden wird um 1200 v. Chr. in Anatolien so groß, daß unter ihm das mächtige Hethiterreich zusammenbricht; die Hethiter werden nach Syrien abgedrängt, wo andere Nomaden neuen Lebensraum suchen. Assyrien lag geschützt im Binnenland. Und das Chaos, das jene Invasionen schufen, ermöglichte es den brutalen assyrischen Kampftruppen, bis weit nach Phrygien, Syrien und Phönikien vorzustoßen und selbst die Bergvölker Armeniens im Norden und des Sagrosgebirges im Osten zu unterjochen. Ist es vorstellbar, daß ein rein bikameral organisiertes Volk dazu in der Lage war? Der mächtigste König von Assyrien während dieser mittleren Periode war Tiglat-Pileser I. (1115-1077 v. Chr.). Man beachte, daß er seinem Namen nicht mehr den seines Gottes anhängt. Seine Taten sind mit ungeheuerlicher Großsprecherei auf einem großen Tonblock bestens verzeichnet. Seine grausamen Gesetze sind uns in einer Sammlung von Tontafeln überliefert. Gelehrte haben seinen politischen Stil als «Politik des Schreckens» bezeichnet.10 Und das zu Recht. Die Assyrer fielen wie Schlächter über wehrlose Dorfbewohner her, nahmen 10 Saggs, a.a.O., S. 101.
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unter ihren Opfern Sklaven, soviel sie gebrauchen konnten, und metzelten die übrigen zu Tausenden nieder. Es existieren Basreliefs, die zeigen, daß allem Anschein nach die Einwohnerschaften ganzer Städte bei lebendigem Leib gepfählt wurden. Tiglat-Pilesers Gesetzgebung vergalt selbst geringfügige Vergehen mit den blutigsten Strafen, die die Weltgeschichte bis dahin gesehen hatte. Sie steht in schreiendem Gegensatz zu den von größerem Gerechtigkeitssinn getragenen Vorschriften, die sechs Jahrhunderte zuvor der Stadtgott von Babylon dem bikameralen Hammurabi diktiert hatte. Warum diese brutale Härte? Und dies zum erstenmal in der Geschichte der Zivilisation? Die einzige Erklärung liegt darin, daß die vorausgegangene Methode der sozialen Kontrolle vollständig zusammengebrochen sein mußte. Und diese Form der sozialen Kontrolle war die bikamerale Psyche. Eben diese Anwendung von Grausamkeit in dem Bemühen, eine Schreckensherrschaft aufzurichten, markiert nach meinem Dafürhalten den Übertritt zum subjektiven Bewußtsein. Das Chaos ist weit verbreitet und währt lange. Seine dunklen Umrisse in Griechenland haben den Namen «Dorische Wanderung» erhalten. Gegen Ende des dreizehnten Jahrhunderts v. Chr. geht die Akropolis in Flammen auf. Am Ende des zwölften Jahrhunderts v. Chr. hat Mykene zu bestehen aufgehört. Als Bodensatz der Geschichte sind nur Legenden und märchenhafte Erzählungen übriggeblieben. Und man kann sich mühelos vorstellen, wie der erste Aoidos, noch ganz bikameral, in Trance von Nomadenlager zu Nomadenlager in den Ruinen schweift und durch seine fahlen Lippen der strahlenden Göttin Gesang ertönen läßt vom Zorn des Peliden Achilleus in einem goldenen Zeitalter, das ehedem war und längst nicht mehr ist. Sogar aus der Gegend des Schwarzen Meers drangen Völkerschaften – bisweilen «Muški», im Alten Testament «Mesech» genannt – bis in das zerstörte Hethiterreich vor. Zwanzigtausend von ihnen trieb es weiter in den Süden, wo sie in die assyrische Provinz Kummuhi einfielen. Aramäerhorden drängten fortgesetzt vom Wüstenland im Westen her auf assy-
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risches Gebiet vor, und das blieb so bis ins erste Jahrtausend v. Chr. hinein. Im Süden machten andere Nomaden, die in den Hieroglyphentexten als «Seevölker» bezeichnet werden, zu Beginn des elften Jahrhunderts v. Chr. den Versuch, über das Nildelta in Ägypten einzufallen. Ihre Vernichtung durch Ramses III. ist Gegenstand einer Reliefdarstellung an der Nordwand des Totentempels dieses Pharaos in Medinet Habu im Westteil von Theben, die dort noch heute zu besichtigen ist.11 Die Angreifer nähern sich Ägypten von der See her auf Schiffen und auf dem Land in pferdebespannten Streitwagen, die nach Nomadenmanier gefolgt sind von Ochsenkarren, welche die Familien und die Habe tragen. Wäre die Invasion erfolgreich gewesen, so hätte möglicherweise Ägypten die geistesgeschichtliche Rolle gespielt, die für das darauffolgende Jahrtausend an Griechenland fiel. Doch die Seevölker wurden zurückgeschlagen und nach Osten in die Krallen des assyrischen Militarismus abgedrängt. Und schließlich waren all diese Bedrängnisse selbst für die Brutalität der Assyrer nicht mehr zu bewältigen. Im zehnten Jahrhundert v. Chr. verliert auch Assyrien die Herrschaft über die Lage und schrumpft auf eine Armutsprovinz hinterm Tigris zusammen. Aber nur um Atem zu holen. Denn schon im darauffolgenden Jahrhundert stürzen sich die Assyrer mit gesteigerter sadistischer Wildheit erneut in das Abenteuer der Welteroberung, erkämpfen sich blutvergießend und schreckenverbreitend das Reich in seiner früheren Größe zurück und stürmen dann weiter nach Ägypten und das fruchtbare Niltal hinauf bis zum heiligen Sonnengott selbst – so wie zweieinhalb Jahrtausende später auf der entgegengesetzten Seite der Erdkugel Pizarro den göttlichen Inka in die Gefangenschaft führen sollte. Und zu diesem Zeitpunkt war der große Umbruch in der Geistesart bereits vollzogen. Der Mensch war sich seiner selbst und seiner Welt bewußt geworden. 11 Abbildungen davon in: William Stevenson Smith, Interconnections in the Ancient Near East, New Haven: Yale University Press 1965, S. 220f.
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Die Anfänge des Bewußtseins Bislang galt unser Augenmerk der Frage, wieso und warum die bikamerale Psyche zusammenbrach. Jetzt könnte man allerdings auch fragen, warum der Mensch dann nicht einfach auf den vorausgegangenen Zustand regredierte. Mitunter tat er das auch. Doch das Trägheitsmoment der komplexeren Kulturen verhinderte die Rückkehr zum Stammesleben. Der Mensch war der Gefangene seiner eigenen Zivilisation. Die riesigen Städte existierten nun einmal einfach, und ihre zählebigen Funktionsgewohnheiten blieben bestehen, auch als ihr göttliches Regiment dahinstarb. Auch die Sprache wirkt als Bremse des sozialen Wandels. Die bikamerale Psyche war ein Nebentrieb des Spracherwerbs, und bis zur fraglichen Zeit hatte die Sprache ein Vokabular entwickelt, das ein solch hochgradiges Aufmerken auf eine zivilisierte Umwelt bedingte, daß hierdurch die Rückkehr zu Gegebenheiten einer mindestens fünftausend Jahre alten Vergangenheit so gut wie unmöglich geworden war. Die faktische Seite des Übergangs von der bikameralen zur subjektiv bewußten Psyche werde ich in den folgenden beiden Kapiteln darzustellen versuchen. Hier beschäftigt uns die Frage, wieso es überhaupt zu einem solchen Wechsel kam – eine Frage, zu deren Beantwortung noch eine ganze Menge Forschungsarbeit zu leisten sein wird. Wir brauchen eine Paläontologie des Bewußtseins, die uns Schicht für Schicht demonstriert, wie und unter welchen speziellen Bedingungen sozialer Druckverhältnisse diese metaphorisierte Zweitwelt, die wir subjektives Bewußtsein nennen, aufgebaut wurde. Alles, was ich zu diesem Unternehmen hier beisteuern kann, sind einige wenige Fingerzeige. Dabei möge der Leser bitte zweierlei nicht vergessen. Erstens: Hier ist nicht die Rede von den bereits früher besprochenen Mechanismen der Metaphorik, die das Bewußtsein konstituieren, sondern es geht vielmehr um deren historischen Ursprung – um die Frage: Warum wurden diese Bewußtseinseigenschaften zu einer bestimmten Zeit vermit-
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tels der sprachlichen Metaphorik erzeugt? Zweitens: Es ist hier nur vom Nahen Osten die Rede. Ist das Bewußtsein erst einmal da, treten ganz andere Gründe in ihr Recht, die es so erfolgreich machen und zu seiner Verbreitung unter den übrigen bikameralen Völkern führen: Diese Frage werden wir in einem späteren Kapitel aufgreifen. In der Beobachtung kultureller Unterschiede liegt möglicherweise der Ursprung des Analog-Raums des Bewußtseins. In einem für uns kaum vorstellbaren Ausmaß waren in den Wirren nach dem Zusammenbruch der Autoritätsstrukturen und der Götter die Reaktionen der Menschen von Panik und ihr Handeln von Unentschlossenheit beherrscht. Wir sollten jedoch bedenken, daß im bikameralen Zeitalter alle, die ein und demselben Stadtgott gehörten, sich mehr oder weniger glichen in Ansichten und Handlungsweisen. Aber in dem vom Druck der Umstände erzeugten gewaltsamen Durcheinander von Völkern unterschiedlicher Nationalität und jeweils anderen Göttern zugehörig, könnte die Beobachtung, daß Fremde, mochten sie einem äußerlich auch noch so sehr gleichsehen, anders sprachen, andere Ansichten hatten und sich anders betrugen als man selbst, zu der Annahme geführt haben, daß irgend etwas in ihrem Innern anders sein müsse. Tatsächlich ist uns dieser Vorgang durch die philosophische Tradition in der Ansicht überliefert, daß Gedanken, Meinungen und Verblendungen subjektive Erscheinungen des menschlichen Innenlebens seien, da die «wirkliche», «objektive» Welt keinen Platz für sie hat. Es wäre also möglich, daß der Einzelmensch, bevor er zu seinem eigenen inneren Selbst kam, dieses zuerst unbewußt in anderen Menschen, vor allem in Fremden, als die Ursache ihres andersartigen und bestürzenden Verhaltens voraussetzte. Mit anderen Worten: Die philosophische Tradition, für die die Erkenntnis des Fremdpsychischen in einer Logik des Schließens von der eigenen Subjektivität auf die Subjektivität anderer gründet, stellt die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf. Es mag durchaus so sein, daß wir zunächst unbewußt (!) fremde subjektive Existenzen annehmen und dann von
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ihnen durch Generalisierung auf unsere eigene Subjektivität schließen. Der Ursprung der Narrativierung in der epischen Dichtung Zu sagen, daß die Götter lernen, mag befremdlich wirken. Da sie jedoch (wenn das im Ersten Buch, Fünftes Kapitel aufgestellte Modell korrekt ist) nichts anderes sind als die Funktion einigermaßen umfänglicher Partien des rechten Schläfen- und Scheitelhirns, gibt es keinen Grund, warum nicht auch sie – genau wie das linke Schläfen- und Scheitelhirn und vielleicht sogar in noch höherem Maße – neue Fähigkeiten erlernen sollten, indem sie neue Erfahrungen speichern und verarbeiten und dabei ihre Erzieherrolle neu gestalten, um sich neuen Bedürfnissen gewachsen zu zeigen. Narrativierung bezeichnet in einem einfachen Wort einen sehr verschachtelten Komplex von Fähigkeiten zur Bildung von Beziehungsganzheiten; Fähigkeiten, die meiner Meinung nach eine verzweigte Genealogie besitzen. Doch was größere Ganzheiten wie Lebensspannen, Geschichten, Vergangenheit und Zukunft betrifft, dürften die entsprechenden Fähigkeiten von linkshemisphärisch dominanten Menschen anhand eines neuen Funktionstyps der rechten Hirnhemisphäre erlernt worden sein. Dieser Funktionstyp war eben die Narrativierung, und diese war zuvor, so meine ich, in einer bestimmten Epoche der Geschichte von den Göttern erlernt worden. Wann könnte das gewesen sein? Es ist fraglich, ob wir darauf jemals eine zuverlässige Antwort werden geben können; zum Teil liegt dies daran, daß wir keine absolut sicheren Kriterien haben für die Unterscheidung zwischen dem Bericht von einem jüngstvergangenen Ereignis und einem Epos. Außerdem geraten bei der Suche in der Vergangenheit die Dinge stets durcheinander mit den Problemen der Entwicklung der Schrift. Doch verdient es in diesem Zusammenhang Interesse, daß um die Mitte des dritten Jahrtausends v. Chr. oder kurz davor in der Zivilisation des südlichen Mesopotamien offenbar ein
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neues Merkmal auftaucht. Ausgrabungen lassen erkennen, daß vor der als «Frühdynastische Zeit II» bezeichneten Periode Siedlungen und Städte in diesem Gebiet nicht befestigt waren und keine Verteidigungseinrichtungen besaßen. Danach jedoch entstanden in den Hauptregionen der städtischen Siedlungsentwicklung in einigermaßen gleichbleibender Entfernung voneinander ummauerte Städte, deren Bewohner das umliegende Land bebauten und gelegentlich mit den Nachbarn Krieg um die Grundherrschaft führten. Ungefähr in die gleiche Zeit datieren die ersten uns bekannten Epen, wie beispielsweise die Gedichte um Enmerkar, den König von UrukKaluba, und seinen Zwist mit dem Herrscher von Aratta. Und eben die Beziehungen zwischen benachbarten Stadtstaaten sind die Themen dieser Epen. Meine Vermutung geht dahin, daß die Narrativierung aus dem Bedürfnis entstand, die Ergebnisse zurückliegender politischer Entwicklungen zu normieren: Das Epos stattet den Bericht von den Ereignissen mit der normativen Kraft des Kodex aus. Bis zur fraglichen Zeit war die Schrift – deren Erfindung nur wenige Jahrhunderte zurücklag – in erster Linie ein Instrument der Buchführung gewesen, das dazu diente, Bestände und Umschlagbewegungen in den Speichern des göttlichen Grundherrn zu verzeichnen. Jetzt wird sie zum Mittel für die Aufzeichnung gottbefohlenen Geschehens, aus dessen nachträglicher Rekapitulation im mündlichen Vortrag die Narrativierung des epischen Gedichts erwächst. Da der Vorgang des Lesens, wie ich im vorigen Kapitel ausführte, ein Halluzinieren aus Keilschriftzeichen gewesen sein könnte, dürfte es sich dabei um eine Funktion des rechten Schläfenlappens gehandelt haben. Und da es Ereignisse der Vergangenheit waren, die da aufgezeichnet wurden, wurde die rechte Hirnhemisphäre dadurch zumindest zeitweilig zum Ort göttlichen Reminiszierens. Im Vorbeigehen sollten wir festhalten, wie sehr sich das Lesen auf Tafeln fixierter Keilschrifttexte in Mesopotamien unterschied von der griechischen Tradition jedesmaliger mündlicher Neudichtung des epischen Gesangs in der Genera-
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tionenfolge der Aoidoi: möglicherweise brachte die orale Tradition der Griechen insofern einen unermeßlichen Vorteil, als sie es dem «Apoll» und den «Musen» in der rechten Hemisphäre zur Aufgabe machte, sich zur Quelle des Gedächtnisses auszubilden und das Narrativieren zu erlernen, um die Erinnerungen an Achilleus im Zusammenhang der epischen Struktur zu bewahren. Später, im chaotischen Umbruch zum Bewußtsein, wird sich der Mensch sowohl diese Gedächtnisfähigkeit aneignen als auch die Fähigkeit der narrativen Zusammenfassung von Erinnerungen zu einem Beziehungsgeflecht. Der Ursprung des Ich (qua Analogon) in der Hinterlist Täuschendes Verhalten könnte ebenfalls zu den Ursachen des Bewußtseins gehören. Doch müssen wir vor der eingehenden Erörterung dieses Punkts eine Unterscheidung treffen zwischen instrumenteller oder kurzfristiger List und langfristiger Arglist, die man besser als Intriganz bezeichnen würde. Mehrere Fälle kurzfristiger Täuschungsmanöver sind von Schimpansen bekannt. So kommt es vor, daß Schimpansenweibchen sich dem männlichen Tier in der sexuellen Anlockungspose «präsentieren», um ihm dann, sobald sein Interesse auf diese Weise vom Futter abgelenkt ist, seine Banane wegzuschnappen. In einem anderen Fall nahm ein Schimpanse das Maul voll Wasser, lockte einen verhaßten Wärter vor die Käfigstangen und spuckte ihm dann das Wasser ins Gesicht. In beiden Fällen fällt das in dem Vorgang enthaltene Täuschungsmanöver unter die Kategorie des instrumentellen Lernens: Ein bestimmtes Verhaltensmuster wird von einem angenehmen Sachverhalt gefolgt. Weitergehender Erklärungen bedarf es hier nicht. Etwas ganz anderes ist demgegenüber die List von der Art des intriganten Trugs. Tiere oder bikamerale Menschen sind ihrer nicht fähig. Auf lange Sicht angelegte Täuschungsmanöver setzen die Erfindung eines Selbst (qua Analogon) voraus, das ganz anderes zu «tun», etwas anderes zu «sein» vermag als das, was die Person in der Sicht ihrer unmittelbaren Umge-
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bung tatsächlich ist und tut. Man kann sich leicht vorstellen, welch bedeutender Überlebenswert einer solchen Fähigkeit in jenen Jahrhunderten zukommen mußte. Ein Mann, der im Ansturm von Invasoren seine Frau vergewaltigt sieht, würde, wenn er seiner Stimme gehorcht, auf der Stelle losschlagen und dabei wahrscheinlich ums Leben kommen. Wer jedoch innerlich ein anderer sein kann als von außen, wer Haß und Rachegelüste hinter der Maske des Sichschickens ins Unvermeidliche zu verbergen weiß – ein solcher wird mit höherer Wahrscheinlichkeit überleben. Oder auch in der gewöhnlicheren Situation, daß man von den fremden Invasoren – womöglich in fremder Sprache – Befehle erhält: die weitaus größten Aussichten auf Selbsterhaltung und Fortsetzung seines Stammes ins neue Jahrtausend hat derjenige, der mit seinem sichtbaren Teil zu gehorchen vermag, aber «im Innern» ein zweites Selbst beherbergt, dessen «Gedanken» seinem trügerischen Tun widersprechen; derjenige, der seinem verhaßten Gegenüber ins Gesicht zu lächeln vermag. Natürliche Selektion Als letztes in diesem Kapitel möchte ich die Möglichkeit erwägen, daß natürliche Selektion beim Aufkommen des Bewußtseins mitgewirkt haben könnte. Doch ist in diesem Zusammenhang nochmals mit allem Nachdruck daran zu erinnern, daß das Bewußtsein zur Hauptsache eine kulturelle Schöpfung ist und keinerlei biologische Notwendigkeit: Es wird auf sprachlicher Basis erlernt und an andere weitervermittelt. Der Umstand allerdings, daß es Überlebenswert besaß und noch immer besitzt, spricht dafür, daß natürliche Selektion beim Übergang zum Bewußtsein in gewissem Umfang eine begünstigende Rolle gespielt haben könnte. Es läßt sich nicht genau errechnen, welcher Prozentsatz der zivilisierten Menschheit in jenen grausigen Jahrhunderten gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. ausgerottet wurde. Meiner Schätzung nach muß er enorm hoch gewesen
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sein. Und der Tod ereilte diejenigen zuerst, deren Handeln den Impulsen ihrer unbewußten Gewohnheiten folgte oder die den Befehlen ihrer Götter, auf jeden Fremden loszuschlagen, der sich in ihre Angelegenheiten mischte, nicht zu widerstehen vermochten. Demnach ist damit zu rechnen, daß Menschen des verhärtet bikameralen Typs, die sich am loyalsten gegenüber den vertrauten Gottheiten verhielten, mit großer Wahrscheinlichkeit untergingen und daß es die weniger ungestümen, die Menschen mit weniger stark ausgeprägter Bikameralität waren, die übrigblieben und ihre Gen-Ausstattung an die Nachfolgegenerationen weitergaben. Wie zuvor bei der Erörterung der Sprache können wir auch hier wieder das Prinzip des Baldwinschen Evolutionismus heranziehen. Das Bewußtsein muß in jeder neuen Generation neu erlernt werden, und diejenigen, die von der biologischen Ausstattung her am ehesten fähig sind, es zu erlernen, haben die besten Überlebensaussichten. Wie wir in einem späteren Kapitel noch sehen werden, findet sich sogar in der Bibel ein Beleg dafür, daß rein bikameral veranlagte Kinder schließlich einfach umgebracht wurden (Sacharja 13, 3-4). Zusammenfassung Dieses Kapitel ist nicht so zu verstehen, als sei es hier um die Faktenbelege für meine Theorie vom Ursprung des Bewußtseins gegangen. Diese beizubringen ist die Aufgabe der folgenden Kapitel. Die vorstehenden Ausführungen sind rein deskriptiver und theoretischer Natur: In ihnen war es mir darum zu tun, ein Bild zu zeichnen, das allgemeine Plausibilitätsbedingungen enthält; das einen gewaltigen Umbruch in der menschlichen Geistesverfassung gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. im Hinblick auf Wieso und Warum als überhaupt im Rahmen des Möglichen liegend erscheinen läßt. In summa habe ich eine Reihe von Faktoren namhaft gemacht, die für den großen Umschwung von der bikamera-
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len Psyche zum subjektiven Bewußtsein eine Rolle spielten; im einzelnen sind dies: 1. der Bedeutungsverlust der auditiven Sinnesmodalität als Folge der aufkommenden Schrift; 2. die inhärente Brüchigkeit der halluzinatorischen Kontrolle; 3. die Praxisferne der Götter im Chaos des historischen Umbruchs; 4. die Annahme einer inneren Ursache für die beobachteten Verhaltensabweichungen Fremder; 5. die Übernahme der Narrativierung aus der epischen Dichtung; 6. der Überlebenswert der Verstellung und 7. ein Quentchen natürliche Selektion. Ich möchte schließen mit der Frage nach den Geltungsbedingungen meines Bildes. Tauchte das Bewußtsein wirklich nur zu dieser Zeit und keiner anderen als Novum in der Welt auf? Wäre es nicht möglich, daß zum mindesten einige Einzelmenschen schon in viel früherer Zeit ein subjektives Bewußtsein entwickelten? Ja, das wäre möglich. So wie Menschen von heute sich in ihrer Mentalität unterscheiden können, so wäre es auch für vergangene Zeitalter durchaus denkbar, daß ein einzelner oder wohl eher eine Sekte oder Clique einen metaphorischen Raum mit einem Analog-Selbst zu konstruieren begonnen hatte. Doch eine derart abweichende Mentalität wäre nach meinem Dafürhalten im Rahmen einer bikameralen Theokratie eine kurzlebige Angelegenheit gewesen und noch weit entfernt von dem, was wir heute mit dem Ausdruck Bewußtsein meinen. Worum es uns hier geht, ist die kulturelle Norm, und die Belege für einen dramatischen Wandel in der kulturellen Norm bilden den Hauptinhalt der nächsten Kapitel. Die drei Weltgegenden, in denen dieser Umschwung der Beobachtung am leichtesten zugänglich ist, sind Mesopotamien, Griechenland und die Welt der bikameralen Nomadenvölker. Ihnen werden wir uns jetzt in dieser Reihenfolge zuwenden.
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VIERTES KAPITEL Metanoia in Mesopotamien
U
JAHR 1230 v. Chr. ließ Tukulti-Ninurta I., der Tyrann von Assyrien, einen Steinaltar errichten, der in schroffem Kontrast steht zu allem, was ihm in der Weltgeschichte vorausgeht. Das Reliefbild auf der Vorderseite zeigt den König zweimal in ein und derselben Szene: einmal, wie er sich dem Thron seines Gottes naht, zum andern auf den Knien vor diesem Thron. Gerade das zweifache Vorkommen der Figur in einem Bild plakatiert recht grell die in der gesamten Geschichte bis dato beispiellose Bettlerpose, in die sich hier ein Monarch begibt. Während der Blick des Betrachters von dem stehenden König zu dem direkt vor ihm knienden König hinübergleitet, gewinnt die Szene die Ausdruckskraft bewegter Bilder – an und für sich bereits eine bemerkenswerte künstlerische Innovation. Weitaus bemerkenswerter ist jedoch der Umstand, daß der Thron, vor dem der wildeste unter all den grausamen assyrischen Erobererkönigen sich erniedrigt, leersteht. In der ganzen vorherigen Geschichte wird kein König jemals kniend dargestellt. In der ganzen vorherigen Geschichte gibt es keine bildliche Darstellung, die auf einen abwesenden Gott hindeutet. Jetzt war die bikamerale Psyche zusammengebrochen. Die Abbildungen Hammurabis zeigen diesen stets stehend und einem sehr gegenwärtigen Gott lauschend. Und zahllose Rollsiegel aus der gleichen Periode tragen Bilder, auf denen noch andere Personen von Angesicht zu Angesicht einem menschengestaltigen Gott, der ebenso real ist wie sie, lauschen oder ihm vorgeführt werden. Der Aššur-Altar des Tukulti-Ninurta steht in konsternierendem Gegensatz zu allen früheren Bilddarstellungen von Gott-Mensch-Beziehungen. Und keineswegs handelt es sich hier bloß um eine vereinzelte künstlerische Laune. Andere Altarbilder von Tukulti-Ninurta sind gleichermaßen götterleer. Und auch auf Rollsiegeln der Zeit ist ein TukultiNinurta zu sehen, der sich dieser oder jener nichtvorhanM DAS
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Relief von der Vorderseite des Tukulti-Altars (Berlin, Pergamon-Museum). Der assyrische Tyrann Tukulti-Ninurta I. steht und kniet sodann vor dem leeren Thron seines Gottes. Ausdrucksvoll ist seine hinweisende Gebärde mit dem Zeigefinger.
denen – mitunter durch ein Symbol vertretenen – Gottheit nähert. Solche Bildvergleiche sprechen dafür, daß der Zusammenbruch der bikameralen Psyche zeitlich irgendwo zwischen Hammurabi und Tukulti-Ninurta anzusiedeln ist. Diese Hypothese wird bestätigt durch die erhaltenen Keilschrifttexte aus der Epoche von Tukulti-Ninurta.1 Das sogenannte «Tukulti-Ninurta-Epos» ist nach Hammurabi das erste wieder sicher zu datierende und guterhaltene Keilschriftdokument von Bedeutung. Zur Zeit Hammurabis steht die fort- und 1
Dieser wie die anderen hier behandelten Texte ist übersetzt in: W. G. Lambert, Babylonian Wisdom Literature, Oxford: Clarendon Press 1960.
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immerwährende Gegenwart der Götter unter den Menschen, deren Handeln sie leiten, niemals in Zweifel. Dagegen sind zu Beginn des propagandistisch angehauchten «Tukulti-NinurtaEpos» die babylonischen Götter verbittert über den König von Babylonien, weil er es an Respekt fehlen läßt. Darum verlassen sie die babylonischen Städte, so daß deren Bewohner ohne göttliche Führung zurückbleiben – womit der Sieg des assyrischen Heeres unter Tukulti-Ninurta besiegelt ist. Götter, die ihre menschlichen Sklaven unter irgendwelchen Umständen im Stich zu lassen fähig sind, wären im Babylonien Hammurabis ein Unding gewesen. Sie sind ein Novum in der Welt. Und solchen Göttern begegnet man in den literarischen Texten, die sich aus den letzten drei Jahrhunderten des zweiten Jahrtausends v. Chr. erhalten haben, auf Schritt und Tritt. Wer keinen Gott hat, auf seinen Wegen Hüllt ihn der Kopfschmerz ein wie ein Gewand
liest man auf einer Keilschrifttafel etwa aus der Zeit der Regierung von Tukulti-Ninurta. Diese Aussage gewinnt zusätzliche Bedeutung vor dem Hintergrund unserer früher geäußerten Vermutung, daß mit dem Zusammenbrechen der bikameralen Psyche ungewollte Hemmungen im Bereich des rechten Schläfenhirns verbunden waren. Ungefähr aus der gleichen Zeit stammt das berühmte, auf drei Tontafeln nebst einer vierten von anfechtbarer Echtheit überlieferte Gedicht «Ludlul bel nemeqi», so betitelt nach seinen Anfangsworten, die gewöhnlich übersetzt werden mit «Ich will preisen den Herrn der Weisheit». «Weisheit» ist an dieser Stelle eine unverbürgte moderne Bedeutungsinterpolation. Das eigentlich Gemeinte wäre etwa wiederzugeben mit «Fertigkeit (oder Fähigkeit, Vermögen), Unglück abzuwenden»; und der «Herr» – derjenige, der diese Fähigkeit beherrscht – ist in diesem Fall Marduk, der Stadtgott von Babylon. Die ersten vollständig lesbaren Zeilen auf der beschädigten ersten Tafel lauten:
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Mein Gott hat mich verlassen und entschwand, Meine Göttin hat mich im Stich gelassen und hält sich fern. Der gute Engel, der mir zur Seite schritt, ist auf und davon.
Dies bedeutet de facto den Zusammenbruch der bikameralen Psyche. Der Sprecher ist ein gewisser Šubsi-Mešre-Šaqqan (wie wir auf der dritten Tafel informiert werden), ein Stadtvogt, möglicherweise ein Vasall Tukulti-Ninurtas. Er beschreibt im weiteren, wie er nach dem Wegzug der Götter bei seinem König in Ungnade fällt, seines Amtes verlustig geht und am Ende zu einem gesellschaftlich Geächteten und Ausgestoßenen wird. Die zweite Tafel schildert, wie er in seinem gottverlassenen Zustand von allen möglichen Krankheiten und Übeln heimgesucht wird. Warum haben die Götter ihn verlassen? Und er zählt die Fußfälle auf, die Gebete und die Opfer, die ihm allesamt die Götter nicht zurückzubringen vermocht haben. Priester und Omendeuter werden zu Rate gezogen, doch trotzdem Ist mein Gott mir nicht zu Hilfe gekommen und hat mich bei der Hand genommen, Noch hat sich meine Göttin meiner erbarmt und ist mir zur Seite geschritten.
Auf der dritten Tafel begreift der Sprecher, daß für alles, was ihm widerfährt, der allmächtige Marduk verantwortlich ist. Im Traum erscheinen ihm – nach bikameraler Manier – Marduks Engel und richten ihm von Marduk selber Trostbotschaften und Verheißungen künftigen Wohlergehens aus. Auf diese Zusicherung hin wird Šubši erlöst von seinen Übeln und Plagen; er begibt sich in den Tempel des Marduk, um dem großen Gott, der «meine Verfehlungen im Wind zerstreute», seinen Dank abzustatten. Die gewaltigen Themen der Weltreligionen sind hier zum erstenmal angeschlagen. Warum haben die Götter uns verlassen? Wie Freunde, die uns die Freundschaft aufkündigen, müssen sie durch irgendeine Verfehlung, die wir gegen sie begangen haben, verletzt sein. Die Übel und Mißgeschicke, die uns befallen, sind die Strafe für unsere Verfehlungen. Wir
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werfen uns auf die Knie und bitten um Vergebung. Und finden dann Entsühnung und Erlösung im auf diese oder jene Weise wiedergekehrten Wort Gottes. Diese Aspekte der Religion der Gegenwart finden ihre Erklärung in der Theorie von der bikameralen Psyche und ihrem seinerzeitigen Zusammenbruch. Regeln und Pflichten hatte die Welt damals schon seit langem gekannt. Sie waren von den Göttern festgesetzt und wurden von den Menschen befolgt. Doch die Vorstellung von Gut und Böse, die Vorstellung von einem guten Menschen, von der Erlösung von Sünde und göttlicher Vergebung – dergleichen kam erst auf mit dem quälerischen Nachgrübeln über die Ursachen des Verstummens der göttlichen Führer. Das gleiche vorherrschende Thema von den verlorengegangenen Göttern tritt uns grell aus den Tontafeln der sogenannten «Babylonischen Theodizee» entgegen.2 Dieses Zwiegespräch zwischen einem Gepeinigten und seinem ratspendenden Freund ist offenkundig späteren Datums – vielleicht aus der Zeit um 900 v. Chr. –, hallt jedoch von den gleichen qualvollen Klagen wider. Warum haben die Götter uns verlassen? Und warum haben sie, die Allgewaltigen, Unglück auf Unglück über uns ausgegossen? In dem Gedicht meldet sich zugleich eine aufdämmernde neue Individualität – etwas, das wir als Selbst (qua Analogon) bezeichnen könnten –, in der wir das neue Bewußtsein erkennen. Das Ganze endet mit einem Aufschrei, der in der seitherigen Geschichte bis zur Gegenwart nachhallt: O daß die Götter, die mich verworfen haben, Hilfe brächten, O daß die Göttin, die mich verlassen hat, sich gnädig zeigte.
2
Vor ein faszinierendes Problem gerät man mit der Frage, warum zur fraglichen Zeit in den Apostrophierungen der Götter der Nominalausdruck in Pluralform gebraucht wird, selbst wenn das Verb im Singular steht. Das geschieht in Zusammenhängen, wo man in der älteren Literatur hätte davon ausgehen dürfen, daß ein Privatgott gemeint war. Der Fall tritt sowohl stellenweise im «Ludlul» (II, 12.15.33) als auch durchgängig in der «Babylonischen Theodizee» auf und später dann wieder in der Pluralform elohim des Elohisten im Alten Testament. Nicht vergessen sollte man in diesem Zusammenhang auch die Musen der Griechen, und möglicherweise gehört auch der auf hethitischen Tontafeln genannte pankusch hierher. Hören und hörten Halluzinationen sich wie ein Stimmenchor an, wenn auf neurologischer Ebene eine Schwächung ihrer Zuverlässigkeit eintritt
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Von hier bis zu den Psalmen des Alten Testaments ist der Weg nicht mehr weit. Nicht die geringste Spur solchen Grämens jedoch findet sich in der Literatur, die den hier erörterten Texten geschichtlich vorausgeht. Die Konsequenzen des Verschwindens der Gehörshalluzinationen aus der menschlichen Geistesverfassung reichen tief und weit; sie treten auf vielen verschiedenen Ebenen auf. Eine von ihnen zeigt sich als Unklarheit im Hinblick auf Autorität als solche. Was ist Autorität? Herrscher, die der Götter als Führer entraten, sind launisch und wankelmütig. Sie verlassen sich auf Omina und Orakelkünste (auf die wir alsbald zu sprechen kommen). Und wie ich bereits erwähnte, werden Grausamkeit und Unterdrückung der Untertanen jetzt zu der Methode, mit der die Herrscher in Ermangelung von Gehörshalluzinationen ihre Herrschaft durchsetzen. Im Zustand der Götterferne wird sogar die Autorität des Monarchen selbst fragwürdig. Rebellion im modernen Sinne ist jetzt als Möglichkeit gegeben. In der Tat war es eine solche neuartige Rebellion, was das Regiment sogar eines Tukulti-Ninurta beendete. Der Monarch hatte gegenüber von Assur jenseits des Tigris eine komplette neue Hauptstadt erbauen lassen, der er gottlos seinen eigenen Namen gab: Kar-Tukulti-Ninurta. Doch unter der Führung seines eigenen Sohnes und Nachfolgers schlossen ihn seine konservativer eingestellten Granden in der neuen Stadt ein, legten Feuer an sie und brannten sie bis auf den Grund nieder: Mit seinem Tod in den Flammen beginnt die Herrschaft dieses Königs in die Legende hinüberzugleiten. (In den Nebeln der alttestamentlichen Geschichtsdarstellung taucht er schattenhaft als Nimrod3 auf und als König Ninos4 im griechischen Mythos.) Unruhe und soziale Wirren hatte es natürlich auch zuvor schon gegeben. Doch planvolle Meuterei und vorsätzlicher Tyran3 4
E. A. Speiser, In Search of Nimrod, Oriental and Biblical Studies: Collected Writings of E. A. Speiser, hg. von J. J. Finkelstein u. Mosh Greenberg, Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1967, S. 41-52. H. Lewy, Nitokoris-Naqi’ja, Journal of Near Eastern Studies 11/1952, S. 164-286.
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nenmord wie in diesem Fall sind undenkbar für die gottergebenen Hierarchien der bikameralen Epoche. Von weitaus größerer Bedeutung sind jedoch die Anfänge einiger neuer kultureller Themen, die als Reaktion auf diesen Zusammenbruch der bikameralen Psyche und ihrer göttlichen Autorität auftraten. Die Fortbewegungsart der Geschichte ist nicht der sprunghafte Wechsel zu irgend etwas isoliert dastehendem Neuem, sondern vielmehr ein selektives Akzentuieren von Aspekten der unmittelbaren Vergangenheit. Und bei den neuen Aspekten der Menschheitsgeschichte, die als Reaktion auf den Verlust der göttlichen Autorität auftraten, handelt es sich ausnahmslos um neu akzentuierende Fortentwicklungen aus der bikameralen Epoche.
Gebet Bei der klassischen bikameralen Psyche – will heißen: der bikameralen Psyche vor ihrer Schwächung durch die Schrift um 2500 v. Chr. – gab es nach meinem Dafürhalten keine Verzögerung im Auftreten der halluzinierten Stimme und also keinen Anlaß zum Gebet. Eine neuartige Situation, Streß – und prompt war da auch die Stimme, die einem sagte, was zu tun war. Ohne Zweifel ist so die Sachlage bei halluzinierenden Schizophrenen heute. Sie flehen nicht darum, ihre Stimme zu hören: das ist nicht nötig. Wenn dies bei einigen wenigen Patienten anders ist, dann während der Genesungsphase, in der die Stimmen sich nicht mehr so häufig wie früher hören lassen. Mit zunehmender Komplexität der Kulturen und ihrer Binnenbeziehungen indessen werden die Götter gegen Ende des dritten Jahrtausends v. Chr. gelegentlich um Entgegenkommen in verschiedenen Anliegen gebeten. In der Regel handelt es sich bei diesen Bitten freilich nicht um das, was wir unter Gebeten verstehen. Es sind verschiedene Spielarten von Verfluchungsformeln, wie etwa die gewöhnliche Schlußformel von Standbildinschriften:
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So jemand dieses Bild verschandelt, möge Enlil seinen Namen auslöschen und seine Waffe zerbrechen!5
oder Lobpreisungen von der Art, mit der Gudea von Lagaš auf seinen großen «Zylindern» seine Götter bedenkt. Eine bemerkenswerte Ausnahme freilich bilden auf Zylinder A Gudeas durchaus echte Gebete an seine Mutter, in denen er diese um die Deutung eines Traums bittet. Doch ist dies, wie so vieles an dem rätselhaften Gudea, eine Abweichung von der Norm. Das Beten als die zentral wichtige Handlung des Gottesdiensts tritt erst dann in den Vordergrund, wenn die Götter mit dem Menschen nicht mehr «von Angesicht zu Angesicht» (wie es in 5. Mose 34, 10 heißt) sprechen. Was zur Zeit von Tukulti-Ninurta noch neu war, wird im Verlauf des ersten Jahrtausends v. Chr. zur Alltäglichkeit – das alles, wie ich meine, eine Folge des Zusammenbruchs der bikameralen Psyche. Ein typisches Gebet hebt an: O Herr, du Starker, du Berühmter, du, der du alles weißt, dich selbst verjüngst, du Vollkommener, Erstgezeugter des Marduk ...
und fährt dann auf vielen Zeilen fort mit der Aufzählung von Titeln und Attributen ... der du die Kultstätten dauerhaft festigst, der du alle Kulte auf dich versammelst ...
was möglicherweise auf den chaotischen Zustand innerhalb der Hierarchie der Götter hindeutet, der sich eingestellt hatte, seitdem sie nicht mehr zu hören waren, ... du wachst über alle Menschen, du erhörst ihre Bitten.
Der Bittsteller führt dann sich selbst und sein Anliegen ein: Ich, Balasu, Sohn seines Gottes, dessen Gott Nabu ist, dessen Göttin Tasmetu ... Ich bin einer, der matt und geplagt ist und dessen Leib sehr krank, ich neige mich vor dir ... O Herr, du Weiser unter den Göttern, durch deinen Mund befiehl du meine Wohlfahrt; o Nabu, Weiser unter den Göttern, durch deinen Mund möge ich gesunden und das Leben haben.6
5 6
Vgl. Barton, a.a.O., S. 113. Vgl. Saggs, a. a. O., S. 312.
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Das allgemeine Schema des Gebets mit dem emphatischen Lobpreis des Gottes am Anfang und dem persönlichen Anliegen am Schluß hat sich im Grunde seit den Tagen der mesopotamischen Zivilisationen nicht geändert. Gerade diese Erhöhung des Gottes, ja allein schon das Konzept einer anbetenden Gottesverehrung steht in scharfem Gegensatz zu der sachlicheren Beziehung zwischen Gott und Mensch, wie sie tausend Jahre früher an der Tagesordnung war. Zur Genealogie der Engel Während der sogenannten neusumerischen Periode gegen Ende des dritten Jahrtausends v. Chr. nehmen auf Bildnereien, insbesondere auf Rollsiegeln, «Präsentationsszenen» einen herausragenden Platz ein: eine – häufig weibliche – untergeordnete Gottheit führt einen Menschen (wahrscheinlich den Eigentümer des Siegels) einem höherrangigen Gott vor. Dies steht in vollem Einklang mit dem, was unsere Theorie als Wahrscheinlichkeit für die bikameralen Theokratien nahelegt: nämlich daß jede Person ihre Privatgottheit hatte, deren Funktion auf der phänomenalen Ebene die Vermittlung zwischen jener Person und den höheren Gottheiten war. Und dieser Typ der Präsentations- oder Mittlerszene lebt bis weit in das zweite Jahrtausend v. Chr. hinein fort. Doch dann tritt ein tiefgreifender Wandel ein. Als erstes verschwinden die höheren Götter aus derartigen Bildern, genau wie auf dem Aššur-Altar des Tukulti-Ninurta. Es folgt eine Periode, während der nur noch die Privatgottheit zu sehen ist, die den Menschen vor eine symbolische Repräsentation des höheren Gottes geleitet. Gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. begegnen wir dann den ersten Mischwesen aus Mensch- und Tiergestalt als Mittlern und Boten zwischen den entschwundenen Göttern und ihren verlorenen Schäfchen. Diese Boten waren stets halb Vogel, halb Mensch; zuweilen handelt es sich um einen bärtigen Mann mit zwei Flügelpaaren und gekrönt wie ein Gott, der häufig eine Art Tasche oder
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Beutel mit – so wird angenommen – den Zutaten für eine Reinigungszeremonie trägt. Diesen gemutmaßten Bediensteten der himmlischen Hofhaltung begegnet man auf assyrischen Rollsiegeln und Reliefs mit zunehmender Häufigkeit. Anfangs sieht man diese Engel – oder Genien, wie die Assyriologen sie häufiger nennen – einen Menschen vor das Symbol eines Gottes führen, wie es auf den älteren Präsentationsbildern der Privatgott tat. Doch bald wird auch das aufgegeben. Mit Beginn des ersten Jahrtausends v. Chr. erscheinen solche Engelsfiguren in einer unübersehbaren Vielfalt von Szenen, manchmal zusammen mit Menschen und manchmal in diverse Auseinandersetzungen mit anderen Mischwesen verwickelt. Zuweilen haben sie Vogelköpfe. Oder es sind geflügelte Stiere und geflügelte Löwen mit menschlichen Köpfen, die als Palastwächter fungieren – so beispielsweise im neunten Jahrhundert v. Chr. in Kalhu (dem heutigen Nimrud) – oder die Stadttore bewachen wie im achten Jahrhundert v. Chr. in Horsabad. Oder sie zeigen sich – wie in einem Wandrelief von Aššurnasirpal aus dem neunten Jahrhundert v. Chr. – mit Falkenköpfen und breiten Schwingen hinter einem König einherschreitend, einen Pinienzapfen in der Hand, der zuvor in einen kleinen Eimer eingetunkt wurde: Eine Szene, die an die Besprengungszeremonie der Taufhandlung erinnert. Keines dieser Bilder vermittelt den Eindruck, daß die Engel sprechen oder die Menschen zuhören. In allen Fällen handelt es sich um wortlose visuelle Szenen, in denen das auditorische Vollerleben des alten bikameralen Geschehens zu einer nur mehr angenommenen und vermuteten stummen Beziehung wird. Wir könnten auch sagen: zum Mythos wird. Dämonen Doch Engel allein reichten nicht aus, das anfängliche Vakuum zu füllen, das der Rückzug der Götter hinterließ. Außerdem wurden sie als Boten der höchsten Götter, die sie waren, gemeinhin nur in Verbindung mit dem Monarchen und seinen Unterfürsten gedacht. Im gemeinen Volk, dessen hilfreiche
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Privatgötter den Dienst versagen, wirft nunmehr eine ganz andere Art von halbgöttlichen Wesen ihren furchterregenden Schatten auf das Alltagsleben. Wie kann man sich erklären, daß die böswilligen Dämonen zu jener bestimmten Zeit ihren Einzug auf der Bühne der menschlichen Geschichte hielten? Das gesprochene Wort, und sei es auch in einer unverständlichen Sprache, ist für Menschen der wichtigste Weg, einander zu begrüßen. Bleibt ein ergangener Gruß unerwidert, so wird daraus automatisch eine feindselige Absicht des Schweigenden gefolgert. Da die Privatgötter schweigen, müssen sie verärgert und feindselig gesinnt sein. Aus dieser Logik entspringt die Idee des Bösen, die beim Zusammenbruch der bikameralen Psyche erstmals in der Menschheitsgeschichte auftaucht. Daß die Götter nach Gutdünken über unser Schicksal herrschen, unterliegt nicht dem geringsten Zweifel: Was können wir also tun, um ihren Zorn zu beschwichtigen und sie uns neuerlich geneigt zu machen? Daher also die Gebete und Opferhandlungen, von denen wir zuvor gesprochen haben, und von daher also erhält die Demütigung vor einem Gott ihren Sinn. Während die Götter sich zurückziehen, um fortan nur noch in Menschen von besonderer Art – in Propheten und Orakeln – zu erscheinen oder über Engel und Omina eine schattenhafte Verbindung mit den Menschen aufrechtzuerhalten, schießt in das so entstehende Machtvakuum der Dämonenglaube ein. Der Himmel Mesopotamiens wurde mit der Zeit förmlich von Dämonen verdunkelt. Naturerscheinungen nahmen deren Feindseligkeit an: Ein wütender Dämon steckte in dem Sandsturm, der über die Wüste fegte; es gab einen Dämon des Feuers und Skorpionmenschen, die die aufgehende Sonne hinter den Bergen bewachten; da waren Pazuzu, der fratzenhafte Sturmwinddämon, Asakku und zahllose andere Pest- und Krankheitsbringer und die schrecklichen AsapperDämonen, die mit Hilfe von Hunden abgehalten werden konnten. Dämonen lagen auf der Lauer, um sich, wann immer sich Gelegenheit bot, der Menschen zu bemächtigen: an einsamen Orten, beim Schlafen, Essen, Trinken und vor allem im Kind-
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bett. Sie hängten sich an die Menschen in Gestalt aller Krankheiten, die Menschen widerfahren können. Sogar die Götter konnten in die Lage kommen, sich der Angriffe von Dämonen erwehren zu müssen, und das erklärte in einigen Fällen, wieso sie von der Ausübung des Regierungsgeschäfts über die Menschen abgehalten waren. Schutzmaßnahmen gegen diese bösen Gottheiten – für die bikamerale Zeit etwas Unvorstellbares – gab es in vielerlei Formen. Aus der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr. datieren Tausende von apotropäischen Amuletten, die um den Hals oder das Handgelenk getragen wurden. In der Regel zeigen sie ein Bild des betreffenden Dämons, dessen Einfluß abgewehrt werden soll, fallweise mit gestikulierenden Priestern darüber, die das Böse verscheuchen, und häufig mit einer Beschwörung im unteren Teil, in der die Hochgötter gegen den gefürchteten Graus zu Hilfe gerufen werden; etwa so: Beschwörung. Jener, der sich dem Haus genaht hat, schreckt mich aus dem Bett, treibt Schindluder mit mir, macht mir Alpträume. Dem Gott Bine, dem Türhüter der Unterwelt, mögen sie ihn überantworten nach dem Ratschluß des Ninurta, Fürsten der Unterwelt. Nach dem Ratschluß des Marduk, der zu Esagilia in Babylon wohnt. Tür und Riegel sei es kund, daß ich unter dem Schutz der zwei Herren stehe. Beschwörung.7
Überall in Mesopotamien wurden im Laufe des ersten Jahrtausends v. Chr. Rituale ohne Zahl andächtig gemurmelt und inszeniert, um die Kräfte des Bösen zu bannen. Die Hochgötter wurden um Intervention angefleht. Alle Krankheiten, Gebresten und Schmerzen wurden dem Wirken von boshaften Dämonen angelastet, bis schließlich die ärztliche Kunst nur mehr im Exorzismus bestand. Was wir über diese Praktiken der Dämonenbekämpfung wissen, stammt zum größten Teil aus der riesigen Bibliothek, die Aššurbanipal um 650 v. Chr. in Ninive anlegte. Buchstäblich Tausende von erhaltenen Tontafeln aus dieser Sammlung beschreiben Exorzismusriten, und weitere Tausende zählen Omen um Omen auf: Alles in allem liefern sie uns das Bild einer verfallenden Kultur, auf der sich 7
Ebd., S. 291.
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Wolken von Dämonen abgesetzt haben wie Fliegen auf einem Stück faulen Fleisch. Ein neuer Himmel In vorangegangenen Kapiteln sahen wir, daß die Götter üblicherweise ein festes Domizil hatten, auch wenn sie sich ihren Dienern an jedem beliebigen Ort vernehmlich machten. Der Aufenthaltsort war in vielen Fällen die Zikkurat oder das häusliche Heiligtum. Mochten einige Götter auch mit Himmelskörpern wie Sonne, Mond und Sternen assoziiert sein und der oberste von ihnen, Anu, im Himmel residieren, so wohnte nichtsdestoweniger die Mehrzahl der Götter auf Erden gemeinsam mit den Menschen. Das alles ändert sich mit dem Eintritt in das erste Jahrtausend v. Chr., die Zeit, da nach unserer These die göttlichen Stimmen nicht mehr zu hören sind. Wie nun die Erde zum Tummelplatz von Engeln und Dämonen wird, so scheint es auch ausgemacht, daß die entschwundenen Götter bei Anu im Himmel Wohnung genommen haben. Und dies ist auch der Grund dafür, daß die Engel stets in geflügelter Gestalt erscheinen: Sie sind Sendboten vom Himmel, wo die Götter wohnen.8 Der Gebrauch des Worts Himmel in Verbindung mit Götternamen wird in der akkadischen Literatur mehr und mehr zum Gemeinplatz. Und als im siebten Jahrhundert v. Chr. die Geschichte von der Großen Flut (der Ursprung der biblischen Erzählung von der Sintflut) in den Gilgamesch-Zyklus
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Wenn man spätere Abschriften des «Enuma elisch», des neubabylonischen Weltschöpfungsepos, in dieser Hinsicht als zuverlässige Quellen betrachten darf, setzte diese Abwanderung der Hochgötter in den Himmel bereits in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Chr. ein. Vgl. die Übersetzung von E. A. Speiser in Near Eastern Texts Relating to the Old Testament, hg. von J. B. Pritchard, Princeton: Princeton University Press 1950. Der Titel gibt einfach die ersten zwei Wörter des Epos wieder, sie bedeuten: «Als oben [der Himmel noch nicht benannt war]». Wie so viele andere Texte wurde auch dieser in der – im siebten Jahrhundert v. Chr. angelegten – großen Bibliothek des Assurbanipal entdeckt. Es handelt sich um die Abschrift eines Urtexts, der möglicherweise ins zweite Jahrtausend v. Chr. datiert.
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eingegliedert wird, dient sie dort als Rationalisierung für den Wegzug der Götter von der Erde: Selbst die Götter wurden von Entsetzen ergriffen angesichts der Flut. Sie flüchteten sich hinauf in den Himmel des Anu.9
Diese Verwandlung der ehemals erdbewohnenden Götter in Himmelsbürger wird bekräftigt durch eine bedeutsame Veränderung in der Bauweise der Zikkurat. Wir haben gesehen, daß die frühesten Zikkurat der mesopotamischen Geschichte als baulichen Kern eine große Halle, die sogenannte gigunu, enthielten, wo sich in den Ritualen der menschlichen Sklaven das «Leben» der göttlichen Statue abspielte. Doch bis zum Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. hatte sich offenbar die gesamte Konzeption der Zikkurat gewandelt. Sie enthält jetzt keinerlei Zentralraum mehr, und immer ferner rücken die Statuen der Hochgötter ihrer alten Rolle als Zentrum ausgefeilter Rituale. Denn der heilige Turm der Zikkurat war jetzt eine Landungsbrücke, deren sich die Götter bei der Herabkunft vom Himmel, in den sie entschwunden waren, auf die Erde bedienten. Dies ist die unumstößliche Bilanz aus Texten des ersten Jahrtausends v. Chr., in denen sogar von einem «Himmelsboot» die Rede ist. Den genauen Zeitpunkt dieser Veränderung zu bestimmen ist schwierig, weil die noch existierenden Zikkurat schwere Schäden aufweisen oder, noch schlimmer, in einigen Fällen «restauriert» sind. Doch meine ich, daß die zahlreichen von den Assyrern seit Beginn der Herrschaft Tukulti-Ninurtas I. gebauten Zikkurat allesamt zu diesem Typ gehörten: nicht mehr wie früher Behausungen irdischer Götter, sondern riesenhafte Trittschemel für den Abstieg der Himmlischen zur Erde. Die Zikkurat, die Sargon im achten Jahrhundert v. Chr. für seine neue Riesenstadt Horsabad errichten ließ, ragte mit ihren sieben Stufen, so hat man anhand neuerer Ausgrabungen 9
Gilgamesch, Tafel 2, Zeile 113 f. Nach Alexander Heidel, The Gilgamesh Epic and Old Testament Parallels, Chicago: University of Chicago Press 21949.
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errechnet, bis zur Höhe von 42 Metern über die umliegende Stadt hinaus; ganz oben erglänzte ein Tempel, der dem Assur geweiht war, der noch immer als der göttliche Eigentümer Assyriens verehrt wurde, auch wenn er sich nicht mehr hören ließ. Einen weiteren Aššur-Tempel gibt es in Horsabad nicht. Vom Tempel herab führte nicht, wie in früheren Zikkurat, eine gewöhnliche Treppe, sondern im Innern des Bauwerks eine lange, um die Zentralachse gewendelte Piste, auf der Assur hinabschreiten konnte, wann immer – oder falls überhaupt jemals – ihm danach war, oben anzulanden und die Stadt zu besuchen. Und ebenso war die Zikkurat im neubabylonischen Reich, der biblische Turm von Babel, keine göttliche Behausung wie die Bauten der ungeschwächt bikameralen Epoche, sondern eine himmlische Landungsbrücke für die ins Überirdische abgewanderten Götter. Im siebten und sechsten Jahrhundert v. Chr. gebaut, ragte sie in sieben Kolossalstufen 91,5 Meter hoch auf, gekrönt von einem funkelnden blauglasierten MardukTempel. Schon ihr Name verrät ihren Zweck: E-temen-an-ki, Tempel (E) des Empfangssteigs (temen) zwischen Himmel (an) und Erde (ki).10 Die einschlägige Passage im 1. Buch Mose (11, 2-9) bleibt sinnlos, solange man sie nicht als Umstilisierung einer neubabylonischen Legende von exakt einer solchen Landung Jahwes begreift, der zusammen mit anderen Göttern «hernieder(fuhr), daß er sähe die Stadt und den Turm», um alsdann «ihre Sprache daselbst (zu) verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe». Letzteres könnte das narrativierte Echo des Wirrwarrs von halluzinierten Stimmen sein, der das Niedergangsstadium der Bikameralität kennzeichnet. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot in seiner unersättlichen Neugier erklomm im fünften Jahrhundert v. Chr. die steilen Treppen und gewundenen Rampen von Etemenanki, um herauszufinden, ob sich ganz oben irgendwelche
10 Zu meiner Übersetzung von temen und möglichen Alternativen vgl. das Glossar in: James B. Nies, Ur Dynasty Tablets, Leipzig: Hinrichs 1920, S. 171.
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Götterbilder befänden: dem leeren Thron auf dem Altarbild des Tukulti-Ninurta vergleichbar, war da nichts als ein leeres Ruhebett.11 WEISSAGUNG Bisher haben wir uns ausschließlich nach Belegen für den Zusammenbruch der bikameralen Psyche umgesehen. Das beigebrachte Material ist von gewichtiger Aussagekraft, wie ich meine. Das Fehlen von Göttern auf Reliefs und Rollsiegeln, die Klagen um verlorene Götter, die aus den stummen Keilschriftzeichen dringen, die Hinwendung zum Gebet, das Auftreten eines neuen Typs von stummen Gottheiten – von Engeln und Dämonen –, die neue Vorstellung vom Himmel: das alles deutet mit Nachdruck darauf hin, daß die halluzinierten Stimmen, alias Götter, nicht mehr da sind, um die Menschen zu führen und zu geleiten. Aber was übernimmt jetzt ihre Funktion? Was wirkt als handlungsauslösendes Moment? Wenn Stimmhalluzinationen sich der davongaloppierenden Komplexität der Verhaltenswelt nicht mehr gewachsen zeigen, auf welchem Wege werden dann Entscheidungen gefunden? Die umfassendste Lösung, die Lösung von weltverändernder Bedeutung erfuhr dieses Dilemma bekanntlich mit dem subjektiven Bewußtsein, das heißt mit der in Sprachmetaphern gründenden Entwicklung eines Operationsraums, in dem ein «Ich» Handlungsalternativen mit ihren jeweiligen Konsequenzen narrativ zu entfalten vermag. Daneben gibt es eine primitivere Lösung, die dem Bewußtsein nicht nur zeitlich vorangeht, sondern es durch seine gesamte Geschichte auf paralleler Spur begleitet: es ist dies jener Verhaltenskomplex, den wir unter der Bezeichnung Mantik (Weissagung, Wahrsagerei, Sehertum, Divination und dergleichen) kennen. 11 Historien 1, 181. Eine weitere Szene mit einem leeren Thron zeigt Stele Nr. 91027 im Britischen Museum (mit Esarhaddon in einer Haltung, die der des TukultiNinurta ähnelt).
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Diese Bestrebungen, die Rede der nunmehr schweigenden Götter zu ermitteln, bringen es in der praktischen Ausformung zu erstaunlicher Vielfalt und Komplexität. Ich meine jedoch, daß man diese vielfältigen Formen am besten versteht, wenn man sie in vier Hauptklassen einteilt, deren Unterscheidungsmerkmale in den historischen Anfängen ihrer Elemente bestehen sowie darin, daß man diese Klassen als aufeinanderfolgende Schritte in Richtung auf das. Bewußtsein betrachten kann. Die vier Klassen sind: Omina, Losorakel, Augurienschau und spontane Divination. Omina und Omentexte Die primitivste, plumpste, aber auch beständigste Methode, den Willen der schweigenden Götter zu entdecken, besteht in der schlichten Aufzeichnung ungewöhnlicher oder bedeutsamer Ereignisfolgen. Im Gegensatz zu allen anderen Klassen der Weissagung handelt es sich hier um eine rein passive Vorgehensweise. Sie besteht einfach nur in der Ausweitung einer den Nervensystemen aller Säuger gemeinsamen Kapazität: wenn ein Organismus zuerst A und daraufhin B erlebt, bildet er im Ansatz die Tendenz aus, sich auf B einzustellen, sobald er wieder A erlebt. Da Omina im Grunde nichts weiter sind als ein Einzelfall dieses Zusammenhangsschemas in sprachlicher Abbildung, kann man sagen, daß die Omenbetrachtung sich nicht so sehr von einem spezifischen Faktum der zivilisierten Kultur, sondern vielmehr von Gegebenheiten der animalischen Natur herleitet. Omina – das heißt Aufeinanderfolgeverhältnisse zwischen je zwei Erscheinungen, mit deren Wiederauftreten in derselben Form zu rechnen war – kannte man als Beiläufigkeiten wohl schon während der gesamten bikameralen Epoche. Doch wurde ihnen kaum Bedeutung beigemessen. Es bestand ja auch keinerlei Nötigung, derlei Ereignisfolgen besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, da die halluzinierten Götterstimmen in allen ungewohnten Situationen die erforderlichen Entschei-
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dungen trafen. So gibt es beispielsweise überhaupt keine sumerischen Omentexte. Zwar finden sich die ersten Spuren der Omenbetrachtung schon bei den semitischen Akkadern, doch zur inneren und äußeren Wucherung derartiger Omentexte, die schließlich überall verbreitet sind und jeden nur vorstellbaren Lebensaspekt erfassen, kommt es genaugenommen erst gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. mit dem Absterben der bikameralen Psyche. Im ersten Jahrtausend v. Chr. entstehen riesige Sammlungen von solchen Texten. In der von König Aššurbanipal um 650 v. Chr. zu Ninive angelegten Bibliothek fallen mindestens 30 Prozent der zwanzig- bis dreißigtausend Tontafeln, die sie umfaßte, unter die Kategorie der Omenliteratur. Jede Texteinheit dieser ermüdenden Sammlungen irrationaler Logik besteht aus einem Bedingungs- und einem Folgesatz (Protasis und Apodosis) nach dem «Wenn ..., dann ...»-Schema. Es gab viele verschiedene Arten von Omina; so beschäftigten sich etwa die terrestrischen Omina mit Alltagsangelegenheiten: Wenn eine Stadt auf einer Anhöhe liegt, so bringt dies den Bewohnern dieser Stadt nichts Gutes. Wenn auf neuerrichteten Fundamenten schwarze Ameisen zu sehen sind, dann wird das betreffende Haus fertiggestellt werden; der Besitzer dieses Hauses wird ein hohes Alter erreichen. Wenn ein Pferd in eine menschliche Behausung eindringt und dort einen Esel oder einen Menschen beißt, dann wird der Besitzer des Hauses sterben und sein Anhang zerstreut werden. Wenn ein Fuchs auf einen öffentlichen Platz läuft, dann wird die betreffende Stadt verwüstet werden. Wenn ein Mann unabsichtlich auf eine Eidechse tritt und sie tötet, dann wird er über seinen Gegner obsiegen.12
Und so endlos weiter über all jene Aspekte des Lebens, die in der unmittelbar vorausgegangenen Epoche durch göttlichen Ratschluß geregelt worden wären. Man kann diese Omina als 12 Die zitierten Beispiele sämtlich aus: Saggs, a.a.O., S. 308f.
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ersten Schritt in Richtung Narrativierung betrachten, insofern sie mittels simpler Sprachformeln das gleiche Ziel anstreben wie das Bewußtsein mit seiner komplexeren Verfahrensweise. In den seltensten Fällen läßt sich irgendein logischer Zusammenhang zwischen dem ominösen und dem vorausgesagten Sachverhalt erkennen; häufig besteht die Verbindung in bloßen Klang- oder Bildassoziationen. Es gab Geburtsomina, die sich mit ungewöhnlichen Vorfällen und Erscheinungen während Schwangerschaft und Geburt bei Mensch und Tier, vor allem mit Mißgeburten aller Art, beschäftigten.13 Die medizinische Wissenschaft gründet de facto in den medizinischen Omina, einer Folge von Texten, die anheben mit den Worten: «Wenn der Seher das Haus eines Kranken betritt ...», um dann mit mehr oder weniger sinnvollen, aus den verschiedenen Symptomen abgeleiteten Prognosen fortzufahren.14 Daneben existieren physiognomisch-diagnostische Omina, die sich auf Gesichts- oder Körpermerkmale einer ratsuchenden oder zufällig begegnenden Person stützen; in ihnen besitzen wir, nebenbei gesagt, die zuverlässigsten Informationen über das Aussehen der Menschen jener Zeit.15 Weiterhin sind da die Omina auf kalendarischem Gebiet: die Menologien (Monatswählerei), die Aufschluß gewähren darüber, welche Monate des Jahrs für ein bestimmtes Unternehmen günstig oder ungünstig sind, und die Hemerologien (Tagewählerei), die das gleiche für die einzelnen Tage eines jeden Monats tun. Ferner Omina, in denen wir die Anfänge der Meteorologie und der Astronomie erblicken dürfen: Eine ganze Serie von Tontafeln widmet sich Beobachtungen an Sonne, Mond, Planeten und Sternen, liest Vorbedeutungen aus Zeiten und Umständen ihres Verschwindens, aus Verfinsterungen, aus Höfen und Ringen; ominös sind seltsame Wolkenbildungen, Donner und
13 Erle Leichty, Teratological Omens, La divination en Mésopotamie ancienne et dans les régions voisines, S.131-139. 14 J. V. Kinnier Wilson, Two Medical Texts from Nimrud, Iraq 18/1956, S. 130-146. 15 J. V. Kinnier Wilson, The Nimrud Catalog of Medical and Physiognomical Omina, Iraq 24/1962, S. 52-62.
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Regen sind Mitteilungen der Götter, Hagel und Erdbeben geben Auskunft über Krieg und Frieden, Ernten und Überflutungen; und ominös sind die Bewegungen der Planeten, insbesondere der Venus, im Verhältnis zu den Fixsternen. Bis zum fünften Jahrhundert v. Chr. hatte diese Beobachtung der Gestirne zu dem Zweck, den Willen der stummen Götter, die jetzt bei ihnen wohnten, zu erkunden, sich zu der uns vertrauten Horoskopstellung gemausert: Der Stand der Gestirne bei der Geburt eines Kindes verriet dessen künftiges Schicksal wie auch den Charakter, den es annehmen würde. Auch die Geschichtsschreibung nimmt, sei’s auch in nebelhafter Form, ihren Ausgang von den Omentexten, denn es ist nicht unwahrscheinlich, daß einige der ältesten Texte – als höchst eigenwillige und spezifisch mesopotamische Form der Historiographie – eine schwache Erinnerung an irgendwelche historischen Ereignisse aufbewahren.16 Wie ein der Mutter beraubtes Kind muß die ihrer Götter beraubte Menschheit sich in Furcht und Zittern an die Erkundung ihrer Welt machen. Traumomina wurden (wie sie es heute noch sind) zu einem Hauptzweig der Wahrsagekunst.17 Besonders während der spätassyrischen Periode im ersten Jahrtausend v. Chr. wurden sie gesammelt und in Traumbüchern wie dem «Ziqiqu» vereinigt; zwischen dem Traumgeschehen und seiner Vorbedeutung tritt schon ein gewisses Assoziationsprinzip in Erscheinung, so zum Beispiel, wenn der geträumte Verlust eines Rollsiegels als Vorausdeutung auf den Tod eines Sohnes gilt. Tragweite und Entscheidungskraft von Omina jeglicher Art sind jedoch prinzipiell eingeschränkt. Stets bleibt das Eintreten des ominösen Ereignisses abzuwarten. Ungewohnte Situationen pflegen indes mit ihrem Kommen nicht zu warten.
16 Vgl. J. J. Finkelstein, Mesopotamian Historiography, Proceedings of the American Philosophical Society, Jg. 1963, S. 461-472. 17 Vgl. A. Leo Oppenheim, Mantic Dreams in the Ancient Near East, The Dream and Human Societies, hg. von G. E. von Grunbaum u. Roger Caillois, Berkeley: University of California Press 1966, S. 341-350.
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Los-Orakel Das Los-Orakel (Sortilegium) unterscheidet sich in wichtiger Hinsicht von der Omenbetrachtung, insofern es ein aktives Verfahren darstellt, eine Antwort der Götter auf eine spezifische, durch eine ungewohnte Sachlage bedingte Frage zu provozieren. Man übte es aus, indem man mit Kerben, Löchern oder sonstwie markierte Stäbchen, Knochen oder Bohnen auf die Erde warf oder aus einer Urne mit mehreren solcher Lose eines herauszog oder indem man die Lose im Schoß der gerafften Tunika so lange schüttelte, bis eines heraussprang. Manchmal ging es bei der erwarteten Antwort um Ja oder Nein, bei anderen Gelegenheiten war eine Wahl zu treffen unter mehreren Männern, Grundstücken oder Handlungsoptionen. Die Einfachheit des Verfahrens – die sich in unseren Augen sogar wie Unbedarftheit ausnehmen mag – sollte uns nicht blind machen gegenüber der wichtigen psychologischen Dimension, die es besitzt, noch gegenüber seiner ebenfalls nicht unerheblichen historischen Bedeutung. Die Existenz einer riesigen Vielfalt von Glücksspielen – Würfeln, Roulette und dergleichen –, die allesamt Nachfahren der antiken Praxis des Los-Orakels sind, ist für uns eine solche Selbstverständlichkeit, daß es uns schwerfällt, den historischen Stellenwert dieser Praxis richtig einzuschätzen. Eine gewisse Verständnishilfe schafft man sich, wenn man sich klarmacht, daß es für das menschliche Denken bis in die allerjüngste Zeit hinein keinerlei Zufall (Undeterminiertheit) gab. Daher war die Entdeckung (wir finden es vielleicht schon seltsam, daß es sich hierbei um eine Entdeckung handeln soll!), daß man eine Zweifelsfrage entscheiden konnte, indem man Stäbe oder Bohnen auf den Boden warf, von höchst gravierender Bedeutung für die Zukunft der Menschheit. Denn da es keinen Zufall gab, mußte das Resultat von den Göttern bewirkt sein, deren Absichten auf diese Weise offenbart wurden. Was die psychologische Dimension des Los-Orakels angeht, möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers auf zwei bemerkenswerte Punkte lenken. Zum einen: Diese Praxis ist eine kul-
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turelle Hervorbringung mit dem sehr spezifischen Zweck, die rechtshemisphärische Funktion wahrzunehmen in einer Lage, wo diese Funktion infolge des Zusammenbruchs der bikameralen Psyche nicht mehr so umstandslos zuhanden ist wie zu der Zeit, als sie sprachlich kodiert wurde in den Stimmen der Götter. Aus Laboruntersuchungen wissen wir, daß Raum- und Gestaltinformationen vorrangig in der rechten Hirnhemisphäre verarbeitet werden. Die rechte Hemisphäre zeigt sich geschickter, wenn es darum geht, Teile zu einem Ganzen zusammenzufügen, wie beispielsweise im Kohsschen Würfel-Test; sie nimmt Lage und Zahl von Punkten, die ein Bildmuster ergeben, leichter wahr und ebenso Klangmuster, zum Beispiel eine Melodie.18 Das Problem nun, das mit Hilfe des Los-Orakels gelöst werden soll, ist ungefähr von gleicher Art: Es geht darum, eine Ordnung in die Teile eines Ganzen zu bringen, etwa um die Frage, welche Person welche Handlung ausführen oder welches Stück Land welcher Person zugeteilt werden soll. Ursprünglich, so meine ich, wurden derartige Entscheidungen in einfacher strukturierten Gesellschaften ohne weitere Umstände von den halluzinierten Stimmen, alias Göttern, getroffen, die ja primär eine Angelegenheit der rechten Hemisphäre waren. Und als – wahrscheinlich aufgrund der zunehmenden Kompliziertheit derartiger Entscheidungen – die Götter diese Funktion nicht mehr auszuüben vermochten, war dies die geschichtliche Stunde des Los-Orakels, das nunmehr ersatzweise die rechtshemisphärische Funktion wahrnahm. Der zweite aus psychologischer Sicht bemerkenswerte Sachverhalt liegt darin, daß die Operation des Losewerfens genau wie das Bewußtsein selbst auf der Metaphorik aufbaut. In der im Zweiten Kapitel des Ersten Buches entwickelten Terminologie läßt sich das so beschreiben: Der unausgesprochene Wille der Götter bildet den Metaphoranden, der lexikalisch erweitert werden soll; der Metaphorator besteht in dem verwende-
18 D. Kimura, Functional Asymmetry of the Brain in Dichotic Learning, Cortex 3/ 1967, S. 163. – Quarterly Journal of Experimental Psychology 23/1971, S. 46.
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ten Lospaar beziehungsweise dem Bündel oder der Menge von Losen, gleichviel, ob Stäbchen, Bohnen oder Steine. Paraphoratoren sind die unterschiedlichen Kennzeichnungen der einzelnen Lose oder aufgeschriebene Wörter: Sie spiegeln zurück in den Metaphoranden, wo sie als Befehl des jeweils angerufenen Gottes entziffert werden. Der wichtige Punkt, den es hier zu begreifen gilt, ist der, daß ein induziertes Orakel wie das Losewerfen mit der gleichen Art von Generierungsprozessen arbeitet, die auch das Bewußtsein konstituieren, nur daß diese Prozesse beim Los-Orakel außerpsychisch – nichtsubjektiv – ablaufen. Wie schon im Fall der Omentexte reichen die Wurzeln des Los-Orakels zurück bis ins bikamerale Zeitalter. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist die Praxis des Losewerfens erstmals auf Gesetzestafeln erwähnt, die um die Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr. datieren; doch erst gegen Ende dieses Jahrtausends wird sie zur Entscheidungsfindung in wichtigen Fragen allgemein gebräuchlich – so etwa, wenn es um die Aufteilung von Ländereien unter den Söhnen einer Familie geht (etwa in Susa) oder um die Höhe der Beteiligung einzelner Tempelbeamter an den Einkünften des Tempels oder um die Festsetzung einer für bestimmte Anlässe erforderlichen Rangfolge unter Personen von gleichem Status. Das Losverfahren wird nicht mit Rücksicht auf seine praktische Zweckmäßigkeit benutzt, wie das bei uns der Fall ist, sondern weil es die Befehle eines Gottes offenbar macht. Um 833 V. Chr. pflegte man jedes neue Jahr nach einem anderen hohen Würdenträger zu benennen. Der solchermaßen geehrte Würdenträger wurde jeweils mit Hilfe eines Tonwürfels bestimmt, auf dessen Seiten die Namen verschiedener Kandidaten aufgeschrieben waren, dazu Gebete an Assur: jedes einzelne davon eine Bitte, doch diese bestimmte Seite nach oben kommen zu lassen.19 Obgleich zahlreiche akkadische Texte aus dieser Zeit eine Reihe verschiedenartiger Losprozeduren erwähnen, ist schwer zu sagen, welchen Grad 19 Eine Illustration dazu in: Hallo & Simpson, a. a. O., S. 150; vgl. auch Oppenheim, S. 100.
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der Allgemeinheit das Los-Orakel als Entscheidungsfindungsverfahren bei den Assyrern erreicht hatte und ob es auch im gewöhnlichen Volk zur Regelung trivialerer Angelegenheiten herangezogen wurde. Wir wissen, daß es bei den Hethitern zur allgemein geübten Praxis wurde, und sein Vorkommen im Alten Testament gehört mit zu den Themen eines späteren Kapitels. Augurienschau Den dritten, dem Bewußtsein strukturell noch näher stehenden Typus der Mantik möchte ich als qualitative Augurienschau bezeichnen. Das Los-Orakel ist ein ordnendes Verfahren: Es bringt eine Ordnung nach Priorität in eine Menge gegebener Möglichkeiten. Die zahlreichen Methoden der qualitativen Augurienschau dagegen dienen dazu, ein sehr viel höheres Maß an Information aus den schweigsamen Göttern herauszulocken. Der Unterschied ist der gleiche wie zwischen einem Digital- und einem Analogcomputer. Das älteste Verfahren – in drei Keilschrifttexten beschrieben, die etwa von der Mitte des zweiten Jahrtausends v. Chr. stammen – bestand darin, daß Öl in eine im Schoß gehaltene Schale Wasser gegossen wurde: die Bewegungen des Öls im Verhältnis zur Wasseroberfläche oder zum Rand der Schale gaben Auskunft über die Absichten des Gottes in bezug auf Frieden und Wohlstand, Gesundheit und Krankheit. In diesem Fall ist der Metaphorand die Absicht oder sogar das Handeln eines Gottes, nicht lediglich seine Worte wie beim Los-Orakel. Metaphorator ist die Regsamkeit des Öls auf der Wasseroberfläche, der die Regungen und Befehle der Götter entsprechen. Paraphoratoren sind die spezifischen Formen und Abstände der Öllache, und deren Paraphoranden sind die Umrisse göttlicher Entscheidungen und Handlungen. Die Augurienschau war in Mesopotamien stets eine Angelegenheit kultischen Ranges. Ihre Ausübung oblag einem besonderen Priester, dem baru; sie war in Ritualformen eingekleidet
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und wurde eingeleitet von einem Bittgebet an den Gott, er möge seine Absicht im Öl (oder welchem Medium auch immer) offenbaren.20 Um die Wende vom zweiten zum ersten Jahrtausend v. Chr. blühen die Methoden und Techniken des baru zu einer erstaunlichen Vielfalt von Metaphoratoren für die göttlichen Absichten auf: Über das Öl hinaus beschaut der Seher jetzt die Bewegungen des Rauchs, der aus dem Weihrauchfaß in seinem Schoß aufsteigt,21 oder die Form des Wachses, das flüssig in ein Wassergefäß getropft wurde, oder das Muster einer willkürlich hingetupften Anzahl von Punkten oder die Formen und Muster von Aschenresten und schließlich auch die Eingeweide von Opfertieren. Die Eingeweideschau entwickelt sich im Lauf des ersten Jahrtausends v. Chr. zum wichtigsten Typus des induzierten Analog-Orakels. Die Idee des Opfers als solche hat, wie wir bereits sahen, ihre Wurzeln in der Praxis, die halluzinogenen Idole mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Mit dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche büßten die Idole ihre halluzinogene Eigenschaft ein und wurden zu bloßen Götterbildern, doch die Darreichungszeremonien, die nunmehr auf die abwesenden Götter zielten, überlebten in den verschiedenen Kulten als Opferhandlungen. Es ist daher nicht zu verwundern, daß Tiere an die Stelle von Öl, Wachs, Rauch und anderen Dingen als die bedeutendsten Medien der Kommunikation mit den Göttern traten. Die Eingeweideschau unterscheidet sich insofern von anderen Methoden der Augurienschau, als der Metaphorand bei ihr ausdrücklich nicht die Rede oder die Handlungen von Göttern sind, sondern deren Schrift. Vor der Tötung des Opfertieres betete der baru zu den Göttern Šamaš und Adad, daß sie ihre 20 Vgl. Oppenheim, S. 208 u. 212. 21 Da keine Erwähnungen von Öl-Orakeln auf jüngeren Keilschrifttafeln existieren, scheint diese Praxis vergleichsweise früh außer Gebrauch gekommen zu sein. Dazu stimmt allerdings nicht ganz die Stelle im Buch Genesis des Alten Testaments (44, 5), wo von Josephs silbernem Becher die Rede ist, aus dem sein Besitzer «trinkt und damit er weissagt»; der Zeitpunkt dafür ist auf ungefähr 600 v. Chr. zu veranschlagen.
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Botschaft auf dessen Eingeweide «schreiben» mögen, oder er flüsterte die Bitte dem Tier ins Ohr.22 Hiernach untersuchte er die Innereien in der durch Tradition festgelegten Reihenfolge – Luftröhre, Lunge, Leber, Gallenblase, die Darmwindungen – auf Abweichungen von der normalen Beschaffenheit, Form oder Färbung. Jede Atrophie, Hypertrophie, Lageveränderung, besondere Zeichnung oder sonstige Abnormität, insbesondere der Leber, war eine göttliche Botschaft, die in metaphorischer Beziehung zum göttlichen Handeln stand. Die erhaltenen Texte über Eingeweideschau übertreffen an Zahl und Umfang alle anderen Arten von Wahrsageliteratur und sind noch längst nicht gründlich genug untersucht. Von den ersten, ganz flüchtigen Erwähnungen im zweiten Jahrtausend bis zu den umfangreichen Textsammlungen der Seleukidenzeit um 250 v. Chr. liegt die Geschichte der Eingeweideschau als eines Mediums exopsychischen Denkens mitsamt ihren lokalen Sonderentwicklungen als ein offenes Forschungsfeld da, wo es zuallererst nur schlichtweg darauf ankäme, das vorhandene Tafelmaterial einmal methodisch-gründlich zu erfassen und zu klassifizieren. Besonders interessant ist, daß Zeichnungen und Verfärbungen in der Spätphase der Entwicklung in einem hermetischen Fachidiom beschrieben werden, das an die Praxis der mittelalterlichen Alchimisten gemahnt.23 Eingeweidepartien von Opfertieren tragen da Namen wie «das Palasttor», «der Pfad», «das Joch» oder «der Damm», und indem sie die betreffenden Örtlichkeiten und Dinge zugleich symbolisch repräsentieren, schaffen sie ein metaphorisches Universum, aus dem sich die gebotene Handlungsweise herauslesen läßt. Auf einigen Tontafeln aus der Spätphase sind sogar Diagramme von Darmwindungen zusammen mit Bedeutungserklärungen zu finden. Auf einer Reihe von Ausgrabungsstätten hat man – zuweilen höchst kunstreich ausgeführte, zuweilen grob gear22 Vgl. J. Nougayoral, Présages médicaux de l’haruspicine babylonienne, Semitica 6/1956, S. 5-14. 23 Vgl. Mary I. Hussey, Anatomical Nomenclature in an Akkadian Omen Text, Journal of Cuneiform Studies 1/1948, S. 21-32; zitiert nach Oppenheim, a.a.O., S. 216.
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beitete – Ton- oder Bronzemodelle von Lebern und Lungen gefunden. Zum Teil wurden sie wahrscheinlich zu Unterrichtszwecken benutzt. Da man jedoch manchmal die Organe der geschlachteten Tiere dem König zum Beleg für die korrekte Entzifferung der göttlichen Botschaft übersandte, mögen solche Modelle auch als eine geruchsärmere Methode der dokumentarischen Berichterstattung gedient haben.24 Ich bitte den Leser, sich stets den metaphorischen Charakter allen derartigen Tuns vor Augen zu halten: denn die realen Funktionszusammenhänge hierbei sind – wiewohl auf anderer Ebene – von ähnlicher Form wie die innerste Mechanik des Bewußtseins. Daß Form und Gestalt der Leber oder irgendeines anderen Organs den Metaphorator für Form und Gestalt eines göttlichen Wollens abgeben, ist auf der Ebene äußerster Simplizität das genaue Äquivalent zu dem, was wir im Bewußtsein tun, wenn wir einen metaphorischen Raum kreieren, der metaphorische Dinge und Aktionen «enthält».
Spontanes Divinieren Spontanes Divinieren unterscheidet sich von den bisher behandelten Orakeltypen nur in dem einzigen Punkt, daß es nicht an ein bestimmtes Medium gebunden ist. Es ist im Grunde eine Generalisierung aller drei Typen. Wie in den anderen Fällen sind göttliche Befehle, Absichten oder Ziele der Metaphorand; dagegen kann als Metaphorator alles mögliche dienen, das zufällig die Aufmerksamkeit des Sehers bindet und sich in Beziehung zu seinem Anliegen setzen läßt. Der Ausgang von Unternehmungen oder die Absichten eines Gottes werden dergestalt aus jeder beliebigen Erscheinung herausgelesen, 24 Robert H. Pfeiffer, a.a.O., Brief Nr. 335.
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die zufällig das Auge oder das Ohr des Sehers trifft. Der Leser kann das an sich selber ausprobieren. Denken Sie mit gewissermaßen freischwebender Aufmerksamkeit an irgendein Problem oder eine offene Frage. Dann blicken Sie rasch aus dem Fenster oder an Ihrem augenblicklichen Aufenthaltsort in die Runde: halten Sie das erste, worauf Ihr Blick fällt, in Gedanken fest, und versuchen Sie jetzt, etwas daraus «herauszulesen», das Ihre Angelegenheit betrifft. Es kann vorkommen, daß gar nichts passiert. Ebensogut jedoch kann es auch sein, daß die Botschaft ganz einfach schlagartig in Ihrer Vorstellung auftaucht. Ich habe den Versuch eben jetzt, während des Schreibens, ausgeführt und sehe beim Blick aus dem Fenster nach Norden eine Fernsehantenne, die sich in der hereinbrechenden Dämmerung vom Abendhimmel abhebt. Das könnte ich mir in dem Sinne auslegen, daß ich viel zu spekulativ verfahre, indem ich jeden schwachen Impuls aus der blauen Luft aufgreife – eine unerquickliche Wahrheit, falls ich mich darauf überhaupt einlassen will. Zum zweitenmal denke ich jetzt ohne krampfhafte Konzentration an die Fragen und Probleme, die mich beim Schreiben beschäftigen, und während ich dabei im Zimmer auf und ab gehe, fällt mein Blick mit einemmal durch eine offenstehende Tür auf den Fußboden des Nebenzimmers, wo ein Assistent kurz zuvor eine Versuchsapparatur zusammengebaut hat: Ich bemerke ein Kabel, an dessen Ende mehrere Adern gespreizt auseinanderstehen. Das nehme ich als Orakel dafür, daß mein Problem in diesem Kapitel darin besteht, verschiedene Stränge und lose Enden des Faktenmaterials miteinander zu verflechten. Dieses Spiel ist beliebig fortsetzbar. Dieser Typus des Orakels ist mir noch in keinem mesopotamischen Text begegnet. Trotzdem bin ich der festen Überzeugung, daß er sich zu einem allgemein gebräuchlichen Verfahren entwickelt haben muß, auch wenn ich mich dabei einzig auf den Umstand stützen kann, daß spontanes Divinieren – wie wir in einem späteren Kapitel noch genauer sehen werden – im Alten Testament als allgemeines Brauchtum erscheint, das dort zudem eine höchst wichtige Rolle spielt.
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Und allgemeines Brauchtum bleibt es bei vielerlei Sehern und Wahrsagern bis weit ins Mittelalter.25 Soweit also die vier Haupttypen der Orakeltechnik: Omina, LosOrakel, Augurienschau und spontanes Divinieren. Ich möchte nochmals in Erinnerung rufen, daß sie sich als exopsychische Methoden des Denkens und besonders der Entscheidungsfindung begreifen lassen und daß die einzelnen Typen ebenso viele aufeinanderfolgende Schritte zur Bewußtseinsstruktur hin bedeuten. Der Umstand, daß alle vier mit ihren Wurzeln bis weit in die bikamerale Epoche zurückreichen, sollte nicht taub machen für die kräftige Sprache des verallgemeinerten Befunds, daß sie erst nach dem zu Anfang dieses Kapitels geschilderten Zusammenbruch der bikameralen Psyche als Medien der Entscheidungsfindung wichtig wurden.
DIE GRENZSCHEIDE DER SUBJEKTIVITÄT Bisher hatten wir es in diesem heterogenen Kapitel mit dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche in Mesopotamien zu tun sowie mit den Reaktionen auf diese Veränderung in der menschlichen Mentalität: den Bemühungen, da sich keine halluzinatorischen Stimmen mehr hören lassen, auf anderem Weg herauszubekommen, was man tun soll. Daß zu diesen Entscheidungsfindungsverfahren auch das Bewußtsein gehört und daß dieses in der Geschichte unseres Planeten erstmals nirgendwo anders als gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. in Mesopotamien aufgetreten ist, ist eine sehr viel schwieriger zu beweisende Behauptung. Die Gründe dafür liegen
25 So z. B. war spontanes Divinieren um 1000 n. Chr. bei den Wahrsagern der Beduinen im Schwang. Vgl. Alfred Guillaume, Prophecy and Divination among the Hebrews and Other Semites, New York: Harper 1938, S. 127. Tatsächlich ist es ebensowohl Bestandteil alltäglicher Denkprozesse wie auch von herausragender Bedeutung in der kreativen geistigen Arbeit.
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hauptsächlich darin, daß wir nicht in der Lage sind, Keilschrifttexte ebenso akkurat in unserer Sprache wiederzugeben wie etwa Texte in Griechisch oder Hebräisch, und deshalb hier noch nicht die Form der Analyse anwenden können, an der ich mich im folgenden Kapitel versuchen werde. Größte Schwierigkeiten setzen einer akkuraten Übersetzung gerade diejenigen Wörter der Keilschrift entgegen, in denen wir Elemente der metaphorischen Konstruktion des Bewußtseins und seines «Innenraums» vermuten müssen. In diesem Zusammenhang ist kategorisch festzustellen, daß eine wirklich autoritative Untersuchung der Veränderungen, die sich im Lauf jenes zweiten Jahrtausends v. Chr. in der mesopotamischen Mentalität vollzogen haben, erst dann möglich sein wird, wenn ein höheres Niveau von Kenntnissen über Keilschrift und Keilschriftliteratur als das gegenwärtige die Voraussetzungen dafür bietet. Eine solche Untersuchung würde unter anderem Referentenverschiebungen und Wandlungen der Verwendungshäufigkeit bei Wörtern verfolgen müssen, die späterhin «Bewußtseinsakte» bezeichnen. Eines dieser Wörter ist beispielsweise Sa (in anderer Transliteration auch Šab oder Šag geschrieben), ein akkadischer Ausdruck, dessen Grundbedeutung «in» oder «drinnen» zu sein scheint. Dem Namen einer Stadt vorangestellt, bedeutet er «in dieser Stadt». Dem Namen eines Menschen vorangestellt, bedeutet er «in diesem Menschen» und ist in dieser Verwendung möglicherweise ein frühes Beispiel für die Verinnerlichung von Ereigniszuschreibungen. Ich hoffe auf Nachsicht, wenn ich im Hinblick auf diese wie so viele andere Fragen die etwas abgenützte Phrase bemühe, daß ihre endgültige Klärung zukünftigen Forschungen vorbehalten bleiben muß. In so rascher Folge werden derzeit neue Ruinenstätten entdeckt und neugefundene Texte übersetzt, daß wir bereits nach Ablauf der nächsten zehn Jahre hier sehr viel klarer sehen werden, insbesondere wenn die Auswertung der Daten aus der Perspektive des vorliegenden Kapitels erfolgt. Das Äußerste, was ich an dieser Stelle zum gegebenen Zeitpunkt zu leisten vermag, sind einige synoptische Vergleiche literarischer Materialien, aus denen erhellt, daß ein derar-
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tiger psychologischer Wandel wie das Aufkommen des subjektiven Bewußtseins tatsächlich stattgefunden hat. Für diese Synopse ziehe ich Briefe, Gebäude-Inschriften und unterschiedliche Überlieferungen der Gilgamesch-Geschichte heran. Vergleich zwischen assyrischen und altbabylonischen Briefen Einen ersten Vergleich, der den Wandel von der Bikameralität zur Subjektivität verdeutlichen soll, ziehe ich zwischen Keilschriftbriefen auf Tontafeln aus dem Assyrien des siebten Jahrhunderts v. Chr. und den um tausend Jahre älteren Briefen der altbabylonischen Könige. Die Briefe Hammurabis und seiner Zeit sind tatsachenorientiert, konkret, behavioristisch, formelhaft, befehlshaberisch und grußlos. Ihr Adressat ist nicht der Empfänger, sondern genau betrachtet die Tontafel als solche, denn stets werden sie von der Formel eingeleitet: Zu A sprich: so spricht B. Und darauf folgt dann, was der B dem A zu sagen hat. Wir sollten uns hierzu ins Gedächtnis zurückrufen, was ich andernorts über die Anfänge des Lesens ausgeführt habe, nämlich daß Lesen – als Fortentwicklung des Halluzinierens anhand von Idolen und späterhin Piktogrammen – in der spätbikameralen Epoche noch ein Hören der Keilschrift war. Das erklärt diese Eingangsformel der Tontafeln. In den altbabylonischen Briefen geht es stets um Sachzusammenhänge. Die Briefe Hammurabis zum Beispiel (möglicherweise sämtlich von Hammurabi selbst geschrieben, denn die Strichführung verrät in allen ein und dieselbe Schreiberhand) weisen einen Vasallenkönig oder einen Amtsträger in seinem Hegemonialreich an, diese oder jene Person zum König zu schicken, soundsoviel Bauholz nach Babylon zu expedieren, wobei in einem Fall noch genauer verfügt wird: «nur kräftige Stämme sind zu fällen», oder sie setzen die Tauschquote zwischen Getreide und Vieh fest oder ordern Arbeitskräfte nach irgendwohin ab. Ein Grund wird selten angegeben. Ein Zweck nie.
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Zu Sinidinnam sprich: so spricht Hammurabi. Ich schrieb dir und hieß dich, den Enubi-Marduk zu mir zu schicken. Warum hast du ihn also nicht geschickt? Wenn du diese Tafel siehst, schicke den EnubiMarduk vor mich. Sorge dafür, daß er Tag und Nacht unterwegs ist, damit er eilends eintrifft.26
Und über diesen Komplexitätsgrad im «Denken» und den Beziehungen gehen die Briefe selten hinaus. Interessanter ist ein Brief, in dem befohlen wird, mehrere erbeutete Idole nach Babylon zu bringen: Zu Sinidinnam sprich: so spricht Hammurabi. Ich schicke nun den Amtmann Zikirilisu und den Dugab-Amtmann Hammurabibani, die Göttinnen von Emutbalum zu holen. Laß die Göttinnen in einer Prozessionsbarke wie in einem Heiligtum nach Babylon reisen. Und das Tempelweib soll ihnen folgen. Zur Ernährung der Göttinnen wirst du Schafe bereitstellen (...). Sorge dafür, daß sie ohne Aufenthalt eilends in Babylon eintreffen.27
Der Brief ist interessant, weil er sowohl den Alltagscharakter der Gott-Mensch-Beziehung in Altbabylonien aufzeigt als auch die Erwartung bezeugt, die Götter würden auf ihrer Reise etwas zu sich nehmen wollen. Wechseln wir jetzt von den Briefen Hammurabis über zu den assyrischen Staatsbriefen des siebten Jahrhunderts v. Chr., so lassen wir das gedankenlose Einerlei von Direktiven, die keinerlei Ungehorsam dulden, hinter uns und betreten eine Welt reich an Abwechslungen, Empfindlichkeiten, Ängsten, Habgier, Widerborstigkeit und Bewußtheit – eine Welt, die sich nicht gar sehr von der unseren unterscheidet. Diese Briefe sind an Menschen, nicht an Tontafeln gerichtet und ließen sich wohl nicht mehr von selbst hören, sondern mußten laut vorgelesen werden. Die angesprochenen Themen sind im Lauf von tausend Jahren zu einem weit umfänglicheren Katalog menschlicher Tätigkeiten angewachsen. Zugleich aber auch sind sie eingebettet in ein Gespinst von Verstellung und Mißtrauen; von 26 Umschrift und Übersetzung in: L. W. King, Letters and Inscriptions of Hammurabi, London: Luzac 1900, Bd.3, Brief Nr. 46, S. 94f. 27 Ebd., Brief Nr. 2, S. 6f.
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polizeilichen Ermittlungen ist die Rede, von Nachlässigkeiten bei den Kultriten, paranoische Ängste machen sich bemerkbar, Bestechungsvorwürfe werden erhoben, über Gnadengesuche eingekerkerter Amtsleute wird befunden – alles Dinge, die in der Welt des Hammurabi ebenso unbekannt wie unmöglich waren. Sogar Sarkasmus zeigt sich, so etwa in dem Brief eines assyrischen Herrschers an seine ungebärdigen «babyionisierten» Statthalter im eroberten Babylonien aus der Zeit um 670 v. Chr.: Botschaft des Königs an die Pseudo-Babylonier. Ich bin wohlauf. (...) Ihr habt euch also – der Himmel helfe euch – in Babylonier verwandelt! Und fort und fort erhebt ihr gegen meine Diener Anschuldigungen – falsche Anschuldigungen –, die ihr euch zusammen mit eurem Meister ausgekocht habt. (...) Das Dokument, das ihr mir geschickt habt (nichts als zudringliches hohles Geschwätz!), sende ich euch neueingesiegelt wieder zurück. Jetzt werdet ihr natürlich sagen: «Was sendet er uns da zurück?» Von den Babyloniern schreiben mir meine Diener und Freunde: Wenn ich das Siegel erbreche und lese, o welche Wohlgeratenheit der Heiligtümer, Sündenvögel ...28
Der Rest der Tafel ist zerstört. Ein weiterer aufschlußreicher Unterschied liegt in dem Bild der assyrischen Könige, das diese Briefe zeichnen. Die babylonischen Könige vom Beginn des zweiten Jahrtausends v. Chr. waren selbstsicher und furchtlos und brauchten sich wohl auch nicht allzu militaristisch zu gebärden. Die grausamen assyrischen Herrscher dagegen, deren Paläste betont viril mit Darstellungen athletischer Löwenjagden und Handgemenge mit reißenden Bestien ausgeziert sind, zeigen sich in ihren Briefen als entschlußlose, geängstigte Kreaturen, die ihren Astrologen und Orakelpriestern in den Ohren liegen, daß sie doch ja mit den Göttern Kontakt aufnähmen, um dem Tyrannen dann sagen zu können, was er tun solle und wann er es tun solle. Diese Könige bekommen von ihren Orakelpriestern zu hören, daß sie Bettler sind oder daß sie mit ihrer Sündhaftigkeit die Götter erzürnen; man sagt ihnen, wie sie sich zu kleiden und 28 Pfeiffer, a.a.O., Brief Nr. 80.
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was sie zu essen oder auch bis auf weiteres nicht zu essen haben:29 «Es geht etwas vor am Himmel, ist es Ihnen aufgefallen? Was mich betrifft, so beobachte ich unverwandt. Ich sage: ‹Welche Erscheinung habe ich versehentlich nicht bemerkt oder versehentlich dem König nicht berichtet? Habe ich etwas übersehen, was ihm nicht zum Los fällt?› (...) Was die Sonnenfinsternis betrifft, von welcher der König sprach, so hat sie nicht stattgefunden. Am 27. werde ich wieder beschauen und einen Bericht einsenden. Von wem befürchtet mein Herr und König Mißgeschick? Ich habe keinerlei Anhaltspunkt.»30 Beweist der Vergleich dieser – durch eine Kluft von tausend Jahren voneinander getrennten – Briefe jene Veränderung der Mentalität, die Gegenstand dieses Buches ist? Zweifellos könnte man eine lange Diskussion an diese Frage knüpfen. Und Forschungen dazu: Inhaltsanalysen, Vergleiche von Syntax, Gebrauch von Pronomina, Verwendung des Futurs, auch Untersuchungen bestimmter Wörter, die in assyrischen Briefen, aber nicht in altbabylonischen vorkommen und die auf Subjektivität hinzudeuten scheinen. Aber so, wie unsere Kenntnisse der Keilschrift derzeit beschaffen sind, ist eine gründliche Analyse nicht möglich. Auch die Übersetzungen, die ich hier benutzt habe, sind geglättet und syntaktisch aufgefüllt und infolgedessen nicht ganz zuverlässig. Nur ein oberflächlicher Vergleich läßt sich also ziehen, mit klarem Ergebnis, wie ich finde: die Briefe aus dem siebten Jahrhundert v. Chr. ähneln unserem Bewußtsein weit mehr als die um eintausend Jahre älteren des Hammurabi. Die Spezialisierung der Zeit Ein weiterer Vergleich schriftlicher Materialien läßt sich im Hinblick auf das Zeitgefühl anstellen, wie es in Gebäude-
29 Ebd., Nr. 265, 439, 553. 30 Ebd., Nr. 315.
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Inschriften zutage tritt. Wie ich bereits erwähnte (Erstes Buch, Zweites Kapitel), zählt zu den wesentlichen Eigenheiten des Bewußtseins die Metapher der Zeit als Raum, der in Regionen unterteilt werden kann, in denen Menschen und Ereignisse angesiedelt werden; darin gründet der Sinn für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Voraussetzung des Narrativierungsvermögens. Die Anfänge dieses Bewußtseinscharakteristikums lassen sich mit zumindest einem Quentchen Sicherheit auf ungefähr 1300 v. Chr. datieren. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, daß die Entwicklung der Omina und Orakel dies als Schlußfolgerung nahelegt. Präzisere Anhaltspunkte liefern in dieser Hinsicht jedoch die Gebäude-Inschriften. Vor dem genannten Zeitpunkt verkündete die typische Inschrift Namen und Titel des königlichen Bauherrn, häufte reichlich Lobpreis auf dessen speziellen Gott oder seine Götter, erwähnte knapp die Zeitumstände des Baubeginns und ging dann noch auf die eine oder andere Einzelheit der Bautätigkeit selber ein. Nach 1300 v. Chr. wird nicht mehr nur das dem Baubeginn unmittelbar vorausgehende Ereignis genannt, sondern eine Zusammenfassung sämtlicher militärischer Glanzleistungen des Königs bis zum fraglichen Zeitpunkt gegeben. Und in den darauffolgenden Jahrhunderten werden diese Angaben immer systematischer katalogisiert nach jährlichen Feldzügen, bis sie sich schließlich zu der ausgefeilten Annalistik entfalten, die das nahezu universelle Kennzeichen der Aufzeichnungen assyrischer Herrscher des ersten Jahrtausends v. Chr. ist. Über das Herzählen kruder Fakten hinaus wächst diese Annalistik sich aus zur Angabe von Motiven, Kritik von Handlungsverläufen und Charakterzeichnung von Akteuren. Und weiter bis zur Berücksichtigung politischen Wandels und militärischer Strategien und zu historischen Anmerkungen über bestimmte Regionen: All diese Einzelheiten, so behaupte ich, sind ebenso viele Belege für die Erfindung des Bewußtseins. Keine von ihnen ist in den älteren Inschriften anzutreffen. Zugleich haben wir hier zweifellos auch die Erfindung der Geschichte vor uns, die eben mit der Entwicklung dieser
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königlichen Inschriften anhebt.31 Wie seltsam zu denken, daß die Idee der Geschichte erfunden werden mußte! Herodot, der den Ruf genießt, der «Vater der Geschichte» zu sein, hatte, bevor er seine «Historien» schrieb, im fünften Jahrhundert v. Chr. Mesopotamien bereist und sich vielleicht dort aus jenen assyrischen Quellen die Idee der Geschichte überhaupt erst angeeignet. Was diese Spekulation für mich interessant macht, ist der Gedanke, daß dem Bewußtsein auf seinem Entwicklungsweg von Anfang an wie geringfügig auch immer voneinander abweichende Routen offenstehen: Wie interessant wäre es, den Einfluß der Schriften Herodots auf die weitere Entwicklung des griechischen Bewußtseins zu erforschen. Der entscheidende Punkt ist an dieser Stelle jedoch, daß es keine Geschichte gäbe ohne die Spatialisierung der Zeit, die zu den Eigentümlichkeiten des Bewußtseins zählt. Gilgamesch Und abschließend noch ein vergleichender Blick in den Text dieses bekanntesten Beispiels der assyrischen Literatur. Das eigentliche Gilgamesch-Epos ist enthalten auf zwölf durchgezählten Tontafeln (daher auch als «Zwölftafel-Epos» bezeichnet), die in Ninive in den Ruinen der Tempelbibliothek des Gottes Nabu und der Palastbibliothek des Assyrerkönigs Aššurbanipal gefunden wurden. Diese sogenannte akkadischninivetische Fassung wurde um 650 v. Chr. für den König aus älteren Erzählungen angefertigt; ihr Held Gilgamesch ist zu zwei Dritteln göttlichen Wesens und nur zu einem Drittel Mensch, Sohn der Göttin Ninsun, die sein Vater Esarhaddon verehrt hatte. Die Überlieferung um die Gestalt des Gilgamesch reicht weit zurück in die mesopotamische Geschichte, und man kennt noch viele Tontafeln, die in näherer oder fernerer Beziehung zu der Zwölftafel-Serie stehen. 31 Vgl. Saggs, a. a. O., S. 472 f.
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Unter jenen anderen Tafeln fallen drei auf, die offenkundig älteren Datums als die ninivetischen sind und zu einigen von diesen in inhaltlicher Parallele stehen. Über ihren Fundort und archäologischen Kontext ist nichts bekannt: Sie wurden nicht bei archäologischen Ausgrabungen gefunden, sondern von privaten Käufern von einem Händler in Bagdad erworben. Mit ihrer ursprünglichen Herkunft bleibt auch ihre Datierung ungesichert. Aus inneren Gründen möchte ich sie in die gleiche Zeit wie einige hethitische und hurritische Bruchstücke von Gilgamesch-Erzählungen datieren, also ungefähr auf 1200 v. Chr. Geläufiger ist jedoch die Datierung auf ungefähr 1700 v. Chr. Doch gleichgültig, welches Datum das richtige ist: in keinem Fall ist die von manchen Popularisierern des Epos zu hörende Auffassung gerechtfertigt, die aus dem siebten Jahrhundert v. Chr. bekannte Fassung der Gilgamesch-Geschichte gehe unverändert auf die altbabylonische Epoche zurück. Was uns hier interessiert, sind die Abwandlungen des Erzählgeschehens, die zwischen der Version auf den wenigen älteren Tafeln und der ninivetischen Fassung von 650 v. Chr. vorgenommen wurden. Der interessanteste Vergleich ergibt sich mit Tafel 10 als Ausgangspunkt. In der älteren Fassung (auf der «Yale-Tafel», so genannt, weil sie sich im Besitz der gleichnamigen Universität befindet) hält der göttliche Gilgamesch in Trauer um seinen toten Freund Enkidu Zwiesprache mit dem Gott Šamaš und späterhin mit der Göttin Siduri. Letztere, die auch die göttliche «Schenkin» heißt, sagt Gilgamesch, daß der Tod für den Menschen unausweichlich sei. Diese Zwiegespräche sind nichtsubjektiv. In der jüngeren ninivetischen Fassung dagegen ist der Dialog mit Šamaš gar nicht mehr enthalten und die «Schenkin» mit sehr menschlich-irdischen Zügen ausgestattet: in Selbst-Bewußtheit befangen, trägt sie sogar einen Schleier. Unserem subjektiven Geist erscheint das als eine Vermenschlichung der Erzählung. An einer Stelle der jüngeren ninivetischen Tafel sieht die «Schenkin» Gilgamesch näherkommen. Der Text läßt sie den Blick in die Ferne richten und gleichzeitig «zu ihrem eigenen Herzen» – also unhörbar zu sich selber – sagen: «Dieser Mann ist gewiß ein
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Mörder! Wohin führt sein Weg?» Dies ist subjektives Denken. Nichts dergleichen ist auf der älteren Tafel zu finden. Mit großer Kunstfertigkeit (und ebenso großer Schönheit) gestaltet die ninivetische Tafel in der Folge die subjektive Traurigkeit aus, die Gilgamesch angesichts des Verlusts seines Freundes «in seinem Herzen» empfindet. Einer der poetischen Kunstgriffe besteht hier (wenn der von den Übersetzern vorgenommenen Emendation einer zerstörten Stelle zu trauen ist) in einer Folge rhetorischer Fragen, die ein Bild von Gilgameschs äußerem Habitus geben, um dann zu fragen, warum er dieses Aussehen trage und jenes Verhalten zeige, so daß der Leser fortwährend angeregt wird, sich den «inneren Raum» und das analoge «Ich» des Helden vorzustellen. Warum ist dein Herz so traurig, und warum sind deine Züge so verzerrt? Warum ist da Weh in deinem Herzen? Und warum ist dein Gesicht gleich dem Gesicht eines, der eine weite Reise gemacht hat?
Von dieser an die biblischen Psalmen gemahnenden Besorgnis findet sich auf der älteren Tafel keine Spur. Eine andere Gestalt des Epos ist der göttliche Utnapischtim, «der Ferne», der in der älteren Fassung nur kurz erwähnt ist. In der Version von 650 v. Chr. jedoch spricht er, während er in die Ferne blickt, Worte zu seinem «Herzen», legt ihm Fragen vor und bildet sich so seine eigenen, privaten Ansichten. Zusammenfassung Das Material, das wir im vorigen untersuchten, ist teils von starker, teils von schwacher Beweiskraft. Das literarische Thema vom Verlust der Götter ist eine unbezweifelbare Neuerung in der mesopotamischen Geschichte, die sich mit nichts Vorausgegangenem vergleichen läßt. Es bezeichnet in der Tat die Geburtsstunde der modernen Religiosität: Noch wir selber vermögen uns in diesem psalmistischen Verlangen nach religiöser Gewißheit wiederzuerkennen, das seit der Zeit des
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Tukulti-Ninurta bis weit in das erste Jahrtausend v. Chr. die akkadische Literatur durchzieht. Das jähe Emporwuchern aller Arten von Orakel-Techniken und deren enormer Einfluß auf das politische wie das private Leben ist ebenfalls ein unumstößliches historisches Faktum. Und wenngleich der Ursprung dieser Praktiken in früheren Zeiten liegt – was sich vielleicht sogar so interpretieren ließe, daß mit steigendem Komplexitätsgrad der Zivilisation gegen Ende des dritten Jahrtausends v. Chr. schon die bikameralen Götter irgendwelche Zusatzverfahren der Entscheidungsfindung benötigten –, ist unübersehbar, daß diese Techniken erst nach dem Untergang der Götter zu beherrschender Stellung und universaler Geltung im zivilisatorischen Lebenszusammenhang gelangen. Desgleichen steht außer Zweifel, daß die Gottnatur selbst zur fraglichen Zeit einem Wandel unterlag und daß der Glaube, in einer von feindseligen, Krankheit und Unheil bringenden Dämonen überschatteten Welt zu leben, sich nur begreifen läßt als Ausdruck der tiefgreifenden und irreversiblen Ungewißheit im Anschluß an den Verlust der halluzinierten Entscheidungen der bikameralen Psyche. Die Schwachstelle in unserer Tour d’horizon bilden ausgerechnet die direkten Zeugnisse für das Vorhandensein von subjektiver Bewußtheit selbst. Es liegt etwas Unbefriedigendes in meinem vergleichenden Hin und Her zwischen fragwürdigen Übersetzungen von Keilschrifttafeln aus unterschiedlichen Epochen. Was wir gern mit einem Blick überschaubar vor uns hätten, ist eine zusammenhängende literarische Tradition, innerhalb deren wir die Entfaltungsschritte des subjektiven «Seelenraums» und seine operative Funktion sorgsamer studieren können. Aber genau dies bietet sich einige Jahrhunderte später in Griechenland, und im folgenden Kapitel werden wir uns mit unserer Analyse in diese Richtung wenden.
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FÜNFTES KAPITEL Das intellektuelle Bewußtsein der Griechen
M
die «Dorische Wanderung» getauft. Aber der Name ist in Wahrheit Schall und Rauch, so erfährt man von den Altertumsforschern, nicht weniger als jeder x-beliebige andere, der genausogut an seine Stelle treten könnte: so tief ist in diesem speziellen Fall das Dunkel der Vergangenheit. Immerhin bringen Abhängigkeiten im Töpfereistil zwischen einzelnen Fundstätten ein wenig Licht in diese unermeßliche, schweigsame Nacht, und in solch flackernder Beleuchtung zeigt sich unscharf der gewaltige Umriß eines komplizierten Wellenmusters von Wanderungsbewegungen und Vertreibungen, das den Zeitraum von 1200 bis 1000 v. Chr. überdeckt.1 Soviel ist Tatsache. Der Rest ist Vermutung. Unklar ist sogar, wer diese sogenannten Dorer waren. In einem früheren Kapitel habe ich die These zur Diskussion gestellt, daß dieses ganze Chaos von dem Vulkanausbruch auf Thera und seinen Folgen eingeleitet wurde. Es ist die Lage, die Thukydides, den Schlußstrich unter eine orale Überlieferung ziehend, so beschreibt: «Wanderungen waren ein häufiges Vorkommnis, denn unter dem Druck zahlenmäßiger Überlegenheit gaben die einzelnen Stämme ihre Heimat schnell verloren.» Paläste und Siedlungen, die einmal dem Agamemnon und seinen Göttern Lehnstreue gehalten hatten, wurden geplündert und niedergebrannt von fremden Völkerschaften, die zwar ebenfalls bikameral organisiert waren, jedoch ihren eigenen gebieterischen Visionen folgten, so daß sie sich mit den Ureinwohnern weder verständigen konnten noch Mitleid für sie empfanden. Überlebende wurden versklavt oder ins Flüchtlingsdasein geworfen, und Flüchtlinge mußten ihrerseits erobern oder untergehen. Was wir am gewisAN HAT ES
1
V. R. d’A. Desborough, The Last Mycenaeans and Their Successors: An Archaeological Survey, c. 1200-c. 1000 B. C, Oxford: Clarendon Press 1964.
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sesten von damals wissen, ist negativer Art: alles, was die mykenische Welt in so erstaunlich durchgängiger Gleichförmigkeit hervorgebracht hatte – die wuchtige Steinarchitektur ihrer gottgeordneten Paläste und Befestigungswerke, ihre wogenden Mauerfresken mit ihrer delikaten Klarheit, ihre Schachtgräber mit ihren kunsthandwerklichen Beigaben, ihre Megaronhäuser, die Terrakotta-Idole und -Statuetten, die Totenmasken aus gehämmertem Gold, die Bronze- und Elfenbeinarbeiten und die charakteristische Keramik –, mit alldem war es jäh und für immer zu Ende. Diese Ruinenlandschaft ist der leidgetränkte Ackerboden, auf dem in Griechenland das Bewußtsein erwächst. Ein wesentlicher Faktor hierbei ist die ganz andere Lage im Vergleich zu den assyrischen Riesenstädten, die, von der Schwerkraft der Verhältnisse geschoben, in eine dämonenbesessene tappende Bewußtheit hineintaumeln. Im Gegensatz dazu war die mykenische Kultur ein weitmaschiges und weiträumiges Netz von göttlich befehligten kleineren Stadtkulturen gewesen. Der Zusammenbruch der bikameralen Psyche, mit dem der gesamte Gesellschaftsverband auseinanderbrach, hatte eine noch weiter gehende Zerstreuung zur Folge. Es hat sogar etwas für sich, wenn man annimmt, daß eben diese ganze politische Verheerung die Herausforderung darstellte, welche die großen Epen als trotzige Antwort provozierte, und daß die von Flüchtlingslager zu Flüchtlingslager getragenen langen Erzählgesänge der aoidoi einem frischgebackenen Nomadenvolk in seinem Bemühen, die verlorengegangenen Gewißheiten wiederzuerlangen, das freudig begrüßte Gefühl der Einheit mit einer in Bindungen ruhenden Vergangenheit bescherten. Dichtungen sind Flöße, an die sich die Menschen klammern, um nicht in der Unzulänglichkeit ihrer Seelenausstattung zu ertrinken. Und dieses einzigartige Moment – die vitale Bedeutung der Dichtung inmitten eines verheerenden gesellschaftlichen Chaos – ist der Grund, warum das griechische Bewußtsein zu jener strahlenden intellektuellen Helle aufgleißt, die noch heute unsere Welt erleuchtet. Im vorliegenden Kapitel werde ich den Leser gewissermaßen
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auf eine Besichtigungsreise durch die erhaltene frühgriechische Literatur führen. Die Liste der Texte ist leider nur kurz. Ausgehend von der «Ilias,» werden wir nacheinander die «Odyssee» und die dem Hesiod zugeschriebenen böotischen Gedichte ansteuern, um dann weiterzureisen zu den Fragmenten der Lyriker und Elegiker des siebten Jahrhunderts v. Chr. und noch eine kurze Strecke darüber hinaus. Auf eine fortlaufende Kommentierung der Landschaft, durch die wir uns bewegen, werde ich verzichten. Die findet der Leser besser ausgeführt, als ich es könnte, in einer Reihe bereits vorhandener guter Darstellungen der frühgriechischen Literaturgeschichte. Statt dessen werde ich mich darauf beschränken, die Aufmerksamkeit des Lesers auf ausgewählte Details zu lenken, die sich im Lichte unserer Theorie des Bewußtseins als besonders interessant erweisen. Bevor wir jedoch aufbrechen, sind noch einige vorbereitende Erkundungsausflüge vonnöten, so insbesondere einer mit dem Zweck der gründlichen Analyse von «psychologischen» Ausdrücken in der «Ilias».
EIN BLICK IN DIE ZUKUNFT DURCH DIE «ILIAS» In einem früheren Kapitel machte ich die Bemerkung, die «Ilias» sei das Fenster, das uns den Durchblick auf die unmittelbar vorausliegende bikamerale Vergangenheit eröffnet. Hier nun wollen wir uns einmal auf der anderen Seite vor diesem Fenster postieren, um vorwärts und hinüber zu spähen in die ferne selbstbewußte Zukunft; das heißt: wir wollen diesen geheimnisvollen großen Päan auf den Zorn nicht als den Endpunkt der vorausliegenden oralen Tradition betrachten, sondern förmlich als Ansatz und Beginn der neu heraufkommenden Mentalität. Im Dritten Kapitel des Ersten Buches sahen wir, daß die Wörter, die später im Griechischen auf Aspekte der Bewußtseinsfunktion verweisen, in der «Ilias» noch konkretere,
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körperliche Bedeutungen haben. Aber gerade der Umstand, daß diese Wörter dann mentale Bedeutungen annahmen, legt die Vermutung nahe, daß sie für das Vorhaben, die Entwicklungsweise des griechischen Bewußtseins zu begreifen, Schlüsselwert haben könnten. Insgesamt sieben solcher Wörter sind es, die wir hier in Augenschein nehmen wollen: thytnos, phrenes, noos und psyche, die allesamt abwechselnd mit «(innerer) Sinn», «Gemüt», «Seele» oder «Geist» übersetzt werden, sowie kradie, ker und etor, häufig mit «Herz» übersetzt und manchmal auch mit «Gemüt» oder «Geist». Aber es ist völlig falsch und durch nichts in der «Ilias» gerechtfertigt, irgendeines dieser sieben Wörter mit «Geist» oder einem vergleichbaren Ausdruck zu übersetzen. Sie bezeichnen schlicht und geradewegs und ohne die mindeste Doppeldeutigkeit einen Ausschnitt der Dingwelt, der Leiblichkeit. Auf diesen Sachverhalt werden wir im Zuge einer ausführlichen Erörterung in Kürze zurückkommen. Zuvor stellt sich jedoch die Frage, weshalb die so bezeichneten Dinge in der Dichtung überhaupt vorkommen. Ich habe ja in vorangegangenen Partien dieses Buches sehr nachdrücklich herausgestellt, daß hauptsächlicher Handlungsantrieb hier die Stimmen der Götter sind und nicht der thymos, die phrenes, das etor und so weiter. Diese letzteren sind völlig redundant. Ja, häufig scheinen sie sogar – wie ein Keil zwischen den zwei Seiten der bikameralen Psyche – die einfache Befehl-Gehorsam-Verbindung zwischen Gott und Mensch zu blockieren. Weswegen also sind sie überhaupt da? Überlegen wir etwas genauer, was sich mit Beginn des Zusammenbruchs der bikameralen Psyche zugetragen haben muß. Im Vierten Kapitel des Ersten Buches stellten wir fest, daß der physiologische Hinweisreiz, der – sei’s beim bikameralen Menschen, sei’s beim heutigen Schizophrenen – das Auftreten einer halluzinierten Stimme nach sich zieht, in irgendeiner Form von Entscheidungs- oder Konfliktstreß besteht. Wenn nun unter den Bedingungen einer chaotischen sozialen Lage die Götterstimmen zusehends erfolgsuntauglich und mithin unterdrückt wurden, so dürfen wir davon ausgehen, daß jetzt
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ein höheres Maß an Streß erforderlich war, um eine Stimmhalluzination zu bewirken. Es ist also durchaus wahrscheinlich, daß mit der Schwächung der bikameralen Psychoorganisation der Entscheidungsstreß in ungewohnten Situationen beträchtlich anstieg und daß er jetzt sowohl der Stärke wie der Dauer nach fortschreitend zunehmen muß, ehe die Schwelle erreicht ist, die das halluzinierte Erscheinen eines Gottes bedeutet. Ein derart vermehrter Streß bringt vielfältige physiologische Begleiterscheinungen mit sich: Gefäßveränderungen, die als Hitzewallungen empfunden werden, jähe Veränderungen der Atmung, Herzklopfen oder Herzflattern und so weiter – und diese Reaktionen sind es, die in der «Ilias» als thymos, phrenes oder kradie bezeichnet werden. Dies – und nicht Geist oder sonst etwas dergleichen – ist die Bedeutung dieser Wörter. Während die Götter sich mit fortschreitender Zeit seltener und seltener hören lassen, werden diese inneren Reize als Reaktionen auf fortschreitend wachsenden Streß mehr und mehr mit den darauffolgenden menschlichen Handlungen gleich welcher Art assoziiert, bis ihnen sogar die göttliche Funktion zuwächst und sie sich im phänomenalen Bereich als das alleinige handlungsauslösende Moment darstellen. Belege dafür, daß wir uns mit diesen Annahmen auf der richtigen Spur befinden, lassen sich in der «Ilias» selbst entdecken. Gleich zu Anfang wird Agamemnon, der König der Mannen (doch Sklave von Göttern), von seinen Stimmen geheißen, dem Achilleus, dem sie zur Beute gefallen war, die zartwangige Briseïs wegzunehmen. Die Reaktion des Achilleus setzt in seinem etor ein (also mit einem Krampf in den Gedärmen, wie ich meine): Dort erlebt er den Konflikt, er ist «zwiegespalten» (mermerizo), ob er seinem thymos (der unmittelbaren inneren Empfindung des Zorns) folgen und den anmaßenden König umbringen soll oder nicht. Erst nach dieser Zwischenphase des Schwankens unter wachsendem Bauchgrimmen und Blutwallungen und während Achilleus bereits sein mächtiges Schwert zieht, ist der Streß so weit aufgebaut, daß die Halluzination der gewaltig glänzenden Göttin Athene eintritt, die von nun an (1,
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188ff) das Kommando übernimmt und Achilleus sagt, was er tun soll. Ich möchte hier die These aufstellen, daß solche Leibempfindungen in rein bikameraler Zeit sich weder intensiv noch extensiv so deutlich bemerkbar machten und daß es auch die Namen für sie noch nicht gab. Wenn wir einmal annehmen wollen, daß es so etwas wie eine «Ur-Ilias» gab – die orale Version der Dichtung, wie sie von den Lippen der frühesten Generation von aoidoi kam –, dann dürfen wir davon ausgehen, daß diese «Ur-Ilias» von einer solchen Zwischenphase – von einem etor und einem thymos, die der Stimme des Gottes vorausgingen – nichts wußte: Die – wie wir noch sehen werden: zunehmende – Verwendung dieser Ausdrücke in der bezeichneten Weise spiegelt den Wandel in der Mentalität wieder – den Keil zwischen Gott und Mensch, dessen Folge das Bewußtsein ist. Vorbewußte Hypostasen Wir können diese «psychologischen» Ausdrücke, die später so etwas wie Bewußtseinsfunktionen bezeichnen, vorbewußte Hypostasen nennen. Die zweite Komponente des Terminus ist die griechische Bezeichnung für alles, was einer anderen Sache unter-(ge)-stellt wird (etwa als Grundlage, Fundament). Die vorbewußten Hypostasen werden als Handlungsursachen unterstellt, sobald andere Ursachen nicht mehr in Erscheinung treten. In ungewohnten Situationen handelt der Mensch nicht von sich aus, sondern es sind, wenn kein Gott auftritt, die vorbewußten Hypostasen, die sein Handeln veranlassen. Sie sind demnach der Grund für Reaktivität und Zurechnungsfähigkeit, wie er im Übergang von der bikameralen Psyche zum subjektiven Bewußtsein auftritt. Auf unserer Reise von Text zu Text werden wir bemerken, daß die Bedeutung dieser Ausdrücke und die Häufigkeit ihres Vorkommens sich in der Zeit von ungefähr 850 bis 600 v. Chr. allmählich ändert, nämlich zunimmt, bis sich ihre Einzelbedeutungen im sechsten Jahrhundert v. Chr. zu der Einheit zusammenschließen,
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die wir heute als den subjektiv bewußten Geist bezeichnen.2 Ich möchte das eben Gesagte erweitern und präzisieren, indem ich die zeitliche Entwicklung der vorbewußten Hypostasen in ein grobes Detailschema von vier aufeinanderfolgenden Phasen bringe: Phase I:
Objektiv: Fällt in die bikamerale Epoche: die fraglichen Ausdrücke bezeichnen einfach nur in der Außenwelt beobachtbare Dinge.
Phase II:
Intern: Die Ausdrücke beziehen sich jetzt auf körperinnere Entsprechungen, insbesondere auf bestimmte innere Empfindungen.
Phase III:
Subjektiv: Die Ausdrücke beziehen sich auf Vorgänge, die wir als «mentale» bezeichnen würden; Entsprechungen sind nicht mehr Innenreize, denen die Verursachung von Handlungen zugeschrieben wird, sondern nunmehr innere Räume, in denen es zu metaphorischem Handeln kommen kann.
Phase IV:
Synthetisch: Die einzelnen Hypostasen schließen sich zusam men zur Einheit des bewußten Selbst, das Introspektion halten kann.
Der Grund, warum ich diese vier Phasen in vielleicht übertrieben klarer Abgrenzung ins Spiel bringe, ist der, daß ich dem Leser auf diese Weise die wichtigen psychologischen Unterschiede in den Übergängen von Phase zu Phase besser verdeutlichen kann. Der Übergang von der ersten zur zweiten Phase fand zu Beginn der Zeitspanne statt, in der sich der Zusammenbruch der bikameralen Psyche ereignet. Veranlaßt ist er durch das Ausbleiben oder die Inkompetenz der Götter und ihrer halluzinierten Direktiven. In Ermangelung zureichender göttlicher Entscheidungen verstärkt sich der Streß und mit ihm die
2
Professor A. D. H. Adkins hat diese Zusammenziehung der verschiedenen Ausdrücke für «Geistiges» dargestellt in seinem Buch From the Many to the One, Ithaca: Cornell University Press 1970.
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physiologischen Begleiterscheinungen, bis diese schließlich namentlich bezeichnet werden mit Ausdrücken, die zuvor nur in bezug auf Außenweltwahrnehmungen gebraucht wurden. Der Übergang von der zweiten zur dritten Phase ist eine sehr viel komplexere Angelegenheit. Und auch eine sehr viel interessantere. Er verdankt sich dem im Zweiten Kapitel des Ersten Buches beschriebenen Paraphorand-Generieren der Metapher. In jenem Kapitel habe ich den vierstufigen Prozeß der Metaphernbildung skizziert, bei dem wir zunächst einen weniger bekannten Term (den Metaphoranden) haben, der beschrieben werden soll; diesen beschreiben wir dann, indem wir einen besser bekannten Metaphorator, der ihm in irgendeiner Hinsicht ähnelt, in Beziehung zu ihm setzen. In der Regel hat der Metaphorator einfache Assoziationen (Paraphoratoren), die sich dann projektiv in den ursprünglichen Metaphoranden hinein verlängern als neu zu ihm hinzutretende Assoziate (Paraphoranden). Paraphoranden sind generativ in dem Sinn, daß ihre Assoziation mit dem Metaphoranden eine Neuheit ist. Und es ist dieses Verfahren, das uns in den Stand setzt, jene Art «Raum» zu erzeugen, der sich unserer Introspektion darbietet und das unerläßliche Substrat des Bewußtseins ist. Ein im Grunde ganz einfacher Zusammenhang, wie wir in Kürze sehen werden. Und wiederum ein anderer Vorgang ist schließlich die Synthese der einzelnen Hypostasen zum einheitlichen Bewußtsein der Phase IV. Nach meinem Dafürhalten hat man sich diesen Vorgang folgendermaßen vorzustellen: Mit zunehmender Festigung der subjektiven Bedeutungen von thymos, phrenes und so weiter während der Phase III lösen sich diese nach und nach aus ihrer Verwurzelung in voneinander verschiedenen inneren Empfindungen, so daß sie auf der Basis ihrer gemeinsamen Metaphoratoren – zum Beispiel als «Behälter» oder «Personen» – gegeneinander austauschbar werden und schließlich miteinander verschmelzen. Freilich mag zur synthetischen Einheit des Bewußtseins auch ein Vorgang beigetragen haben, den man die «Profanisierung der Aufmerksamkeit» im siebten Jahrhundert v. Chr. nennen könnte: mit um sich grei-
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fendem Wiedererkennen individueller Unterschiede einhergehend, führte er im Ergebnis zu einem neuen Konzept vom Selbst. Bevor wir uns den faktischen Belegen für diese Dinge zuwenden, wollen wir uns zunächst an eine detailliertere Untersuchung der vorbewußten Hypostasen und ihrer Semantik machen, so wie sie in den verschiedenen Phasen in der «Ilias» vorkommen. Die Reihenfolge lassen wir uns dabei von der allgemeinen Bedeutsamkeit dieser Wörter im Text der Dichtung vorgeben. Thymos Dies ist der bei weitem meistgebrauchte und wichtigste hypostatische Ausdruck in der ganzen Dichtung. Er kommt dreimal so oft vor wie jeder andere. Ursprünglich – in der objektiven Phase – bezeichnete er nach meinem Dafürhalten einfach nur die der Außenwahrnehmung zugängliche Aktivität. Ohne irgendeinen «Innenaspekt» mitzumeinen! Dieser Sprachgebrauch der mykenischen Zeit läßt sich in der «Ilias» vielfach nachweisen, zumal in den Schlachtszenen, wo ein Krieger den thymos, also die Aktivität eines anderen zum Erliegen bringt, indem er mit dem Speer die richtige Körperstelle trifft. Die zweite (interne) Phase ergibt sich, wie wir am Beispiel vom Zorn des Achilleus gesehen haben, in ungewohnter, streßgeladener Situation während der Zusammenbruchsperiode, da jetzt die Streßschwelle für das Auftreten der halluzinierten Stimme höher liegt. Thymos bezeichnet dann ein Aufwallen von inneren Empfindungen, die als Reaktion auf eine kritische Umweltlage eintreten. Es handelte sich, wie ich meine, um ein Reizmuster, das auch der modernen Physiologie vertraut ist: die sogenannte Streß- oder Notfallfunktion des sympathischen Nervensystems mit Ausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin aus den Nebennieren (Cannon-Syndrom). Dazu gehört die Erweiterung der Blutgefäße in der
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Skelett- und Herzmuskulatur, erhöhter Tremor in der quergestreiften Muskulatur, jäh ansteigender Blutdruck, Kontraktion der Blutgefäße in den Bauchhöhleneingeweiden und der Haut, Entspannung der glatten Muskulatur, vermehrte Energie durch erhöhten Blutzucker infolge gesteigerter Glykogenolyse in der Leber und gegebenenfalls eine veränderte Wahrnehmungsfähigkeit, bedingt durch eine Erweiterung der Pupillen. Dieses Syndrom also bildete das innere Reizmuster, das in kritischen Situationen einer besonders heftigen oder gewaltsamen Handlung voranging. Und durch häufige Wiederkehr dieser Konstellation bahnt sich allmählich ein Designationsverhältnis zwischen dem Gesamtbild dieser Leibreize und dem Folgehandeln als solchem an. Danach ist es dann der thymos, der einem Krieger im Streit Stärke verleiht und dergleichen mehr. Sämtliche Fälle, in denen der thymos in der «Ilias» eine innere Empfindung bezeichnet, stimmen mit dieser Interpretation überein. Indes macht sich in der «Ilias» sogar schon der bedeutsame Übergang zur dritten (subjektiven) Phase bemerkbar, wenngleich noch nicht in sonderlich augenfälliger Weise. Wir erkennen ihn in der unausdrücklichen Metapher vom thymos als einem Behälter: An mehreren Stellen wird menos (Mut oder Stärke) in jemandes thymos «gelegt» (eingegeben) (16, 529; 17, 451; 22, 312). Implizit wird der thymos auch einer Person gleichgestellt: nicht Aias, sondern sein thymos ist von Kampfeseifer entbrannt (13, 73); nicht Aineias freut sich, sondern sein thymos (13, 494; vgl. auch 14, 156). Wenn nicht ein Gott, so ist es meistenteils der thymos, der den Menschen zum Handeln «drängt». Und als ob jener eine Person für sich wäre, können die Menschen mit ihrem thymos sprechen (11, 403), hören, was er zu sagen hat (7, 68), oder auf seine Antwort wie auf die eines Gottes warten (9, 702). Das alles sind äußerst wichtige Metaphern. Die inneren Empfindungen von Veränderungen im Körperkreislauf und in den Muskeln sprachlich als ein Ding zu behandeln, in das Mut oder Stärke hineingetan (eingegeben) werden kann, heißt einen (im vorliegenden Fall stets in der Brust lokalisierten) vor-
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gestellten «Raum» erzeugen, in dem wir den Vorläufer unseres zeitgenössischen Bewußtseinsraums vor uns haben. Und die Funktion jener Empfindung der einer zweiten Person oder sogar derjenigen der nunmehr seltener auftretenden Götter zu vergleichen, heißt jene Metaphernprozesse in Gang setzen, aus denen später das Analogon «Ich» werden wird. Phrenes Die in der «Ilias» am zweithäufigsten gebrauchte Hypostase sind die phrenes. Deren ursprüngliche Entsprechung während der objektiven Phase läßt sich nicht mit gleicher Zweifelsfreiheit angeben. Der Umstand jedoch, daß der Ausdruck fast immer im Plural erscheint, könnte darauf hindeuten, daß die dingliche Entsprechung der phrenes ursprünglich die Lunge (mit ihren zwei Flügeln) war; möglicherweise wurden sie auch mit phrasis, der artikulierten Rede, in Verbindung gebracht. In der internen Phase werden die phrenes zur Bezeichnung für das zeitliche Empfindungsmuster, das in Verbindung mit Veränderungen der Atmung auftritt. Letztere gehen vom Zwerchfell aus sowie von den Interkostalmuskeln des Thorax und der glatten Muskulatur der Atemwege (Luftröhre mit Bronchien), die deren Querschnitt und damit ihre Durchlässigkeit für den Luftstrom regeln. Dieser ganze Apparat wird vom sympathischen Nervensystem gesteuert. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang daran erinnern, wie extrem empfindlich unsere Atmung auf verschiedene Arten von Umweltreizen reagiert. Ein jäher Reiz läßt uns «den Atem anhalten» oder «verschlägt uns den Atem». Schluchzen und Lachen sind mit je verschiedener deutlich empfundener Innenreizung von seiten des Zwerchfells und der Interkostalmuskeln verbunden. Bei körperlicher Anstrengung oder heftiger Erregung nimmt – mit den entsprechenden Leibreizen im Gefolge – sowohl die Frequenz wie die Tiefe der Atmung zu. Lustwie Unlustgefühle treten gewöhnlich im Verein mit gesteigerter Atemtätigkeit auf. Eine vorübergehende Konzentration
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der Aufmerksamkeit geht erkennbar Hand in Hand mit teilweiser oder vollständiger Hemmung der Atemtätigkeit. Auf ein Überraschungserlebnis reagieren wir mit gesteigerter und unregelmäßiger Atemfrequenz. Abgesehen von der Frequenz, treten höchst charakteristische Verschiebungen auch in den Zeitanteilen von Einatmung und Ausatmung innerhalb des einzelnen Atemzyklus auf. Die Messung wird hier am zweckmäßigsten durch Bestimmung des prozentualen Anteils vorgenommen, den der Einatmungsvorgang in der Gesamtdauer des Atemzyklus einnimmt. Dieser Anteil beträgt ungefähr 16 Prozent beim Reden, 23 Prozent beim Lachen, 30 Prozent bei konzentrierter geistiger Arbeit, 43 Prozent in Ruhehaltung, 60 Prozent und mehr in Erregungszuständen, 71 Prozent bei Versuchspersonen, die sich eine beglückende oder überraschende Situation vorstellen, und 75 Prozent bei einem plötzlichen heftigen Schreck.3 Mit alldem will ich sagen, daß unsere phrenes oder Atmungsorgane sich als eine Art seismographischer Apparat betrachten lassen, der alles, was wir tun, genau und differenziert registriert. Es ist zum mindesten denkbar, daß dieser innere Spiegel des Verhaltens im Reizuniversum der vorbewußten Psyche eine weit beherrschendere Position einnahm, als er es für uns heute tut. Jedenfalls läßt uns sein abwechslungsreiches Muster interner Reizung verstehen, warum die phrenes während der Übergangszeit zum Bewußtsein eine so wichtige Rolle spielten und warum der Ausdruck in den Dichtungen, die wir in diesem Kapitel betrachten, auf so vielerlei funktional unterschiedliche Weisen gebraucht wird. An vielen Stellen der «Ilias» ist er einfach nur mit «Lunge» zu übersetzen. Agamemnons schwarze phrenes füllen sich mit Wut (1, 103), und wir können uns gut das Bild des in steigender Erregung schwer atmenden («wutschnaubenden») Königs 3
Einatmung bezeichnet hier die Phase vom Beginn des Atemholens bis zum Beginn des Ausstoßens der Luft, schließt also die Zeit, während welcher die Luft einbehalten wird, mit ein. Die angegebenen Werte sind aus verschiedenen Quellen kompiliert. Vgl. Robert S. Woodworth, a. a. O., S. 264.
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vorstellen. Automedon füllt seine dunklen phrenes mit Kraft und Stärke (17, 499): Er atmet tief durch. Erschrockene Rehe haben nach langem Lauf keine Kraft mehr in ihren phrenes (4, 243-245): Sie sind außer Atem. Beim Weinen werden die phrenes vom Kummer «heimgesucht» (1, 362; 8, 124); und diese Atmungsorgane können Bangen (10, 10) oder Ergötzen (9, 186) «fassen». Bereits diese Aussagen sind zum Teil metaphorischer Natur, indem sie eine Art Fassungsraum in den phrenes ansetzen. Vereinzelte Fälle zeugen deutlicher von der dritten Phase im Sinne eines inneren Seelenraums. Es sind die, in denen von den phrenes gesagt wird, daß sie eine Information «enthalten» und unter Umständen «behalten». Solche Informationen stammen zuweilen von einem Gott (1, 55), zuweilen von einem anderen Menschen (1, 297). Laboruntersuchungen haben gezeigt, daß bereits die einfache sinnliche Erfahrung eines Gegenstands, sein Wiedererkennen und das Erinnern des mit ihm assoziierten Namens sich allesamt in gleichzeitig vorgenommenen Monitoraufzeichnungen der Atemtätigkeit nachweisen lassen.4 Es kann daher nicht verwundern, daß, wenn bestimmte Ausschnitte des inneren Empfindens erstmals in der Geschichte mit Funktionen wie Wiedererkennen und Erinnern in Verbindung gebracht werden, sie in den phrenes lokalisiert werden. Einmal heißt es von den phrenes, daß sie Geschehnisse zu erkennen vermögen (22, 296): Das bedeutet, daß sie hier metaphorisiert sind auf der Grundlage des Metaphorators «Person»; die Paraphoranden von «Person» – von einem Etwas, das im Raum zu agieren vermag – gelangen dergestalt projektiv in die phrenes und verleihen ihnen die metaphorischen Eigenschaften von Räumlichkeit und menschlicher Handlungsfähigkeit allgemein. So stellen wir auch fest, daß die phrenes eines Menschen gelegentlich «überredet» werden wie eine Person, sei’s von
4
Mario Ponzo, La misura del decorso di processi psichici esequita per mezzo delle grafiche del respiro, Archives Italiennes de Psicologia 1/1920-1911, S. 214-238.
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einem anderen Menschen (7, 120), sei’s von einem Gott (4, 104). Möglicherweise können die phrenes sogar imperativ «sprechen» wie ein Gott, wie etwa in dem Fall, wo Agamemnon bekennt, er habe seinen verderblichen phrenes gehorcht (9, 119). Fälle wie die zuletzt zitierten sind in der «Ilias» durchaus noch seltene Ausnahmen, nichtsdestoweniger kündigt sich in ihnen bereits die Entwicklung zum Bewußtsein an, die im Lauf der nächsten zwei Jahrhunderte stattfinden wird. Kradie Dieses Wort, das später die Form kardia annimmt (in der es heute in Zusammensetzungen wie Kardiogramm, Kardiologe erscheint), ist nicht ganz so wichtig und gibt auch nicht so viele Fragen auf wie die anderen Hypostasen. Es bezeichnet das Herz. In der Tat ist es die am weitesten verbreitete heute noch gebräuchliche Hypostase. Wenn wir Zeitgenossen des zwanzigsten Jahrhunderts Aufrichtigkeit zum Ausdruck bringen wollen, lassen wir immer noch unser Herz und nicht unser Bewußtsein sprechen. Die tiefsten von unseren Gedanken und die innigsten von unseren Überzeugungen hegen wir im Herzen. Und wir lieben «von Herzen». Sonderbarerweise haben sich die Lungen, die phrenes, ihre hypostatische Rolle niemals so bewahren können wie die kradie. Von dem Verb kroteo (schlagen, klopfen) abgeleitet, bedeutete kradie nach meinem Dafürhalten ursprünglich einfach eine zitternde oder zuckende Bewegung. An manchen frühgriechischen Textstellen bezeichnet das Wort sogar einen zitternden Zweig. In der Internalisierungsphase (zweiten Phase) während der Dorischen Wanderung wurde das äußerlich wahrnehmbare – für das Auge sichtbare und für die Hand fühlbare – Zucken dann zum Namen für die innere Empfindung des Herzklopfens, wie es sich als Reaktion auf bestimmte äußere Situationen einstellte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist dies die Bedeutung des Wortes in der «Ilias». Noch ist da niemand, der irgendeine Überzeugung im Herzen hegt.
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Auch hier möchte ich den Leser wieder an die umfangreiche Literatur zum Thema erinnern: in diesem Fall zur Reaktionsbereitschaft unseres Herzens auf unsere Wahrnehmungen in der Außenwelt. Wie die Atmung oder die Arbeit des sympathischen Nervensystems reagiert auch das kardiale System extrem empfindlich auf bestimmte Aspekte der Umwelt. So hat beispielsweise einer der neueren Forscher auf diesem Gebiet von einer «Seele des Herzkranken» und vom Herzen als dem spezifischen Empfindungsorgan der Angst gesprochen (wie das Auge das Organ der visuellen Empfindungen ist).5 Angst ist in dieser Perspektive nicht das, was die poetischen Paraphrasen meinen, mit denen wir dieses Gefühl in unserem Bewußtsein wiedergeben mögen. Angst ist vielmehr eine innere taktile Empfindung in den sensorischen Nervenenden im kardialen Gewebe, die die Umgebung auf ihr Angstpotential hin entziffert. Zwar ist diese Auffassung im Hinblick auf heutige Gegebenheiten so nicht haltbar, doch entspricht sie genau der homerischen Psychologie. Ein Feigling hat in der «Ilias» nicht Angst, sondern es klopft ihm laut die kradie (13, 182). Hier hilft nur, daß Athene Stärke (2, 452) oder Apoll Kühnheit (21, 547) in die kradie «eingibt». Das metaphorische Substrat des Behältnisses installiert im Herzen einen «Raum», in dem die Nachgeborenen ihre tiefsten Überzeugungen, Gedanken und Gefühle bewahren und bewegen können. Etor Die Philologen übersetzen gewöhnlich sowohl kradie wie etor mit «Herz». Und zweifellos kann es sein, daß ein Wort Synonyme hat. Aber sobald es um so wichtige Dinge geht wie um die Zuschreibung eines speziellen Sitzes für Empfindungen und Handlungsantriebe, erscheint mir eine solche Bedeu5
Ludwig Braun, Herz und Angst, Wien: Deuticke 1932, S. 14 und passim.
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tungsgleichsetzung a priori illegitim; statt dessen halte ich für gewiß, daß diese Ausdrücke im antiken Sprachgebrauch für unterschiedliche Lokalisierungen und Empfindungen gestanden haben müssen. Zuweilen werden sie im Text der «Ilias» bereits durch die Syntax klar gegeneinander abgehoben (20, 169). Ich wage daher die These, daß etor in der ersten Phase eine Ableitungsform zu dem Substantiv etron, Bauch, darstellt und daß der Ausdruck in der zweiten Phase verinnerlicht wurde zur Bezeichnung von Empfindungen im Magen-DarmTrakt, und zwar vor allem von solchen im Magen oder in der Magenregion. Tatsächlich läßt sich das sogar aus der «Ilias» belegen, wo klipp und klar gesagt wird, daß Speis und Trank dazu da sind, das etor zu erlaben (19, 307; vgl. auch Hesiod, «Werke und Tage», 593). Diese Übersetzung ist auch in anderen Zusammenhängen die passendere, so zum Beispiel, wenn einem Krieger in vorderster Schlachtreihe das etor, mit anderem Wort: das Gedärm, entfällt, weil ihm der Bauch aufgeschlitzt wurde. Von größerer Bedeutung ist das etor jedoch als Reizfeld für die Seelentätigkeit. Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Magen-Darm-Trakt über ein weitgespanntes Repertoire von Reaktionen auf menschliche Befindlichkeiten verfügt. Jeder von uns kennt das flaue Gefühl beim Eintreffen einer schlechten Nachricht oder den Krampf in der Magengrube, kurz bevor es zum Autounfall kommt. Ebenso empfindlich reagieren die Därme schon auf emotionale Reize von vergleichsweise geringer Intensität, und dieses Verhalten läßt sich mit dem Durchleuchtungsgerät mühelos sichtbar machen.6 Magenund Darmmotorik setzen beim Auftreten eines unangenehmen Reizes aus und können sogar ihre Funktionsrichtung ändern, wenn die Unlustkomponente erhöht wird. Die sekretorische Tätigkeit des Magens ist ebenfalls ein höchst genauer Spiegel des Gefühlslebens. In der Tat ist der Magen eines der reiz-
6
Howard E. Ruggles, Emotional Influence on the Gastro-Intestinal Tract, California and Western Medicine 29/1928, S. 221-223.
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barsten Körperorgane, das mit Krämpfen und Entleerung, mit Veränderungen der Motorik und der Sekretion auf nahezu alle Emotionen und Empfindungen reagiert. Deshalb auch waren Magen-Darm-Erkrankungen der historische Ausgangspunkt für die psychosomatische Betrachtungsweise. Von daher hat es seinen Sinn, wenn ich meine, daß es dieses Spektrum gastrointestinaler Empfindungen war, was mit dem Ausdruck etor bezeichnet wurde. Als Andromache die klagende Hekuba hört, wogt ihr etor bis zum Hals hinauf: Sie ist nahe daran, sich zu übergeben (22, 452.).7 Als Achilleus Lykaons Bitte um Schonung höhnisch verwirft, ist es Lykaons etor, das zusammen mit den Knien «sich lockert» und kraftlos wird (21, 114). Wir würden heute sagen: er hat ein flaues Gefühl in der Magengrube. Und während Zeus vom Olymp aus zuschaut, wie die Götter selbst am Kampfgetümmel teilnehmen, lacht sein etor vor Freude (21, 389): die englische Sprache hat dafür den speziellen Ausdruck «belly-laugh», ein Lachen aus dem Bauch. Anders als die anderen Hypostasen wird das etor nicht zum metaphorischen Behältnis gemacht, was daran liegen mag, daß der Magen faktisch bereits Nahrungsbehältnis ist. Aus eben diesem Grund erlangt es in der nachfolgenden Literatur, wie wir noch sehen werden, auch keine sonderliche Bedeutung als Komponente irgendeiner Form von subjektivem Bewußtsein. Ich glaube, die medizinisch vorgebildeten unter meinen Lesern werden ohne weiteres einsehen, daß die Fragen, die wir hier unter das Rubrum «vorbewußte Hypostasen» gebracht haben, von erheblicher Tragweite für jede Theorie der psychosomatischen Krankheiten sind. Mit unseren Ausführungen über thymos, phrenes, kardie und etor haben wir ja beiläufig die vier Organsysteme umschrieben, welche die Hauptangriffsziele jener Leiden bilden. Und daß sie zugleich den eigentlichen Unterbau des Bewußtseins bilden – einen Ur- und Parti7
Und da der Magen rhythmische Bewegungen ähnlich wie das Herz ausführt, werden beide manchmal miteinander verwechselt, so wenn in des verwundeten Löwen kradie sein starkes etor stöhnt (Ilias 20, 169).
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altyp von Bewußtseinsfunktion –, hat bedeutende Konsequenzen für die medizinische Theorie. Die ker erwähne ich hier lediglich im Vorübergehen – einesteils weil sie für unsere Geschichte des Bewußtseins eine schwindende Rolle spielt, zum andern aber auch, weil Herkunft und Bedeutung des Ausdrucks in Unklarheit gehüllt sind. Zwar ist es nicht auszuschließen, daß er sich von cheir herleitet und in somatisierter Bedeutung einmal zitternde Hände und Glieder bezeichnete; mit größerer Wahrscheinlichkeit jedoch könnte er aus der gleichen Wurzel wie kardia in einem anderen Dialekt gebildet sein. Und eigentlich läßt die «Ilias» in dieser Hinsicht wenig Zweifel, wenn sie verzeichnet, wie ein Krieger vom Speer an der Stelle getroffen wird, wo die phrenes (die Lungen) sich der pulsierenden ker nähern (16, 481). Die ker wird fast ausnahmslos als das Organ des Kummers erwähnt und ist aufs Ganze gesehen von eingeschränkter Bedeutung. Von allerhöchster Bedeutung ist dagegen die folgende Hypostase. Sagen wir gleich dazu, daß es sich um einen Ausdruck handelt, der in der «Ilias» selten vorkommt – so selten, daß der Verdacht gerechtfertigt ist, wir könnten es hier mit einer Hinzufügung späterer Generationen von aoidoi zu tun haben. Aber auf die kleinen Anfänge in der «Ilias» folgt eine rapide Entwicklung, und es dauert nicht lange, bis der Ausdruck ins beherrschende Zentrum unseres Sachbereichs vorgerückt ist. Die Rede ist vom Noos Bis hierher hatten wir es mit plastischen, unverkennbaren inneren Empfindungen zu tun, die in einer Zeit des Umbruchs und der Krise nur mehr benannt zu werden brauchten und dabei nach objektiven äußeren Wahrnehmungen benannt wurden. Der noos, von dem Verb noeo = «sehen» abgeleitet, ist die Wahrnehmung selbst. Mit ihm gelangen wir auf unserer Geistesreise in eine Sphäre, wo es um sehr viel stärkere Potenzen geht.
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Denn wie wir in einem früheren Kapitel gesehen haben, stammt die große Mehrzahl der Ausdrücke, in denen wir unser Bewußtseinsleben beschreiben, aus dem visuellen Bereich. Vor unserem geistigen «Auge» «sehen» wir Problemlösungen, die ihrerseits «glänzend» oder «schattenhaft» sein können. Das Gesicht ist für uns der Fernsinn par excellence. Es ist unser Raumsinn in einem Maße, an das keine andere Sinnesmodalität auch nur annähernd heranreicht. Und wie wir bereits gesehen haben, ist die Eigenschaft der Räumlichkeit die eigentliche Matrix und Textur des Bewußtseins. Als interessante Beobachtung sei hier in Parenthese vermerkt, daß eine Parallele zur Hypostase des Gesichtssinnes im Bereich des Gehörs nicht existiert. Auch heute noch sieht man zwar mit dem geistigen Auge, hört aber nicht etwa mit einem geistigen Ohr. Und wir sprechen zwar von einem hellen, dagegen nicht – obwohl es im Prinzip das gleiche wäre – von einem lauten Kopf, wenn wir dem Besitzer des betreffenden Körperteils Intelligenz bescheinigen wollen. Der Grund dafür mag darin liegen, daß das Gehör das eigentliche Wesen der bikameralen Psyche ausmachte, was seinerseits durch eben jene im Vergleich mit dem Gesicht ganz andersartigen Merkmale bedingt war, die ich im Vierten Kapitel des Ersten Buches beschrieben habe. Die Heraufkunft des Bewußtseins läßt sich in einem gewissen unspezifischen Sinn als Wechsel von einer auditiven zu einer visuellen Psyche begreifen. Dieser Wechsel ist, einigermaßen sporadisch, erstmals in der «Ilias» zu erkennen. Der mykenische Wortursprung aus der objektiven Phase zeigt sich noch im objektiven Gebrauch der Verbform und an den Stellen, wo noos soviel wie «Blick(feld)», «Anblick» oder «Schauspiel» bedeutet. Seine Mannen zum Kampf anstachelnd, mag da ein Fürst sagen, es sei kein besserer noos als das Handgemenge mit dem Feind (15, 510). Und Zeus behält Hektor in seinem noos (15, 461). Aber auch die Internalisierungsphase des noos wird in der «Ilias» sichtbar. Der verinnerlichte noos sitzt in der Brust (3, 63). Wie sonderbar für uns, daß er nicht in die Augen verlegt wurde! Das mag daran gelegen haben, daß er in seiner neuen
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Rolle mit dem thymos vermengt zu werden begann. Tatsächlich nimmt der noos jetzt Attribute an, die eigentlich besser zum thymos passen würden, zum Beispiel Unerschrockenheit (3, 63) oder Stärke (16, 688). Und Odysseus redet den Achaiern, die zur Heimfahrt in See stechen wollen, ihr Vorhaben aus, indem er ihnen sagt, sie wüßten ja noch gar nicht, welchen noos Agamemnon in sich trüge (2, 192). Für die am modernsten anmutende Verwendungsweise findet sich ein Beispiel schon in der allerersten Episode, wo Thetis den weinenden Achilleus tröstet und ihn fragt: «Warum ist Kummer über deine phrenes gekommen? Sprich, verbirg’s nicht im noos, damit wir zusammen es wissen» (1, 363).8 Von solchen Fällen abgesehen, gibt es in der «Ilias» keine weitere Subjektivierung. Niemand trifft in seinem noos irgendwelche Entscheidungen. Im noos findet kein Denken statt und noch nicht einmal ein Erinnern. Diese Dinge sind immer noch Sache jener Stimmen der rechtshemisphärischen Organisation, die Götter heißen. Die genaue Bestimmung der Ursachen für diese Verinnerlichung des Sehvermögens zu einem Behältnis, in dem das Sehen «geborgen» sein kann, erfordert eine detailliertere Betrachtung, als sie im gegebenen Rahmen möglich ist. Vielleicht handelte es sich einfach nur um die Generalisierung von Internalisierung als solcher, eine Generalisierung, die, wie ich meine, mit den Internalisierungen im Zusammenhang mit den erwähnten plastischen inneren Empfindungen in die Wege geleitet wurde. Denkbar wäre auch, daß die Beobachtung äußerlicher Unterschiede in dem Völkergemenge, von dem ich im Dritten Kapitel des Zweiten Buches sprach, sich als Axiom diese visuelle Hypostase schuf, die in unterschiedlichen Menschen unterschiedlich war und so ursächlich erklärte, warum diese Menschen unterschiedliche Dinge sahen. 8
Im Gegensatz zu meiner These steht ferner die Stelle 15, 80f, wo Heras Schnelligkeit verglichen wird mit der Schnelligkeit von eines Mannes nous, der sich in seinen phrenes an Orte wünscht, die er vor langer Zeit auf seinen Wanderungen Besucht hat. Zur Ausgefallenheit einer derartigen Wendung bei Homer vgl. Walter Leaf, a. a. O., S. 257. Es handelt sich hier ganz offenkundig um eine nachträgliche Interpolation.
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Psyche Und damit abschließend zu dem Wort, von dem die Psychologie ihren Namen hat. Es ist vermutlich von dem Verb psycho (atmen) abgeleitet und wurde, so wie es in der «Ilias» hauptsächlich gebraucht ist, zur Bezeichnung von Lebenssubstanzen verinnerlicht. In den meisten Fällen scheint unser Wort Leben der Bedeutung von psyche am genauesten zu entsprechen. In der Konsequenz kann dies jedoch zu einem schwerwiegenden Mißverständnis führen. Denn «Leben» bedeutet für uns auch soviel wie eine strukturierte Zeitspanne zwischen Geburt und Tod, ausgefüllt von einer schematischen Ereignisfolge und der Entwicklung eines bestimmten Charakters. Die «Ilias» weiß von absolut nichts dergleichen. Wird ein Krieger vom Speer tödlich getroffen, so daß seine psyche sich auflöst (5, 296), vernichtet wird (22, 325) oder ihn einfach verläßt (16, 453); oder wenn sie aus dem Mund verröchelt (9, 409) oder aus einer Wunde verblutet (14, 518; 16, 505): so hat das mit Zeit oder dem Ende von irgend etwas nicht das geringste zu tun. Im Dreiundzwanzigsten Gesang gibt es eine Stelle, an der psyche mit abweichender Bedeutung vorkommt; die Erörterung darüber verschiebe ich auf den Schluß des vorliegenden Kapitels. Im allgemeinen jedoch meint der Ausdruck eine ablösbare Eigenschaft (Belebtheit), vergleichbar dem unter gleichen Bedingungen gleichermaßen ablösbaren thymos (Aktivität), der zusammen mit der psyche eine häufig benutzte Wortkoppelung eingeht. Wenn wir diese Ausdrücke verstehen wollen, müssen wir uns unserer Bewußtseinsgewohnheit entschlagen, Räumlichkeit in sie einzupflanzen, noch bevor das historisch geschehen ist. In gewissem Sinn ist die psyche die primitivste von allen vorbewußten Hypostasen: Es ist schlicht die Eigenschaft, das Eigentümliche dieses physischen Objekts da drüben – eines Objekts, das Mensch oder Tier genannt wird –, daß es atmet und bluten kann und noch einiges andere mehr: ein Eigentum, das ihm entrissen werden kann wie eine Trophäe (22,
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160f), wenn man eine Speerspitze an die richtige Stelle placiert. Und im allgemeinen (abgesehen von den Ausnahmen, auf die ich im letzten Teil dieses Kapitels eingehen werde) geht die hauptsächliche Verwendungsweise von psyche in der «Ilias» über diese Bedeutung nicht hinaus. Niemals und von niemandem wird hier in der psyche auch nur im allergeringsten gesehen, entschieden, gedacht, gewußt, gefürchtet oder irgend etwas erinnert. Dies also sind die im Körperinneren angenommenen Substantive, denen via poetische Metapher, durch Gleichsetzung mit Behältnissen und Personen, räumliche und Verhaltensqualitäten zuwachsen, Qualitäten, die in der späteren Literatur zu einem einheitlichen Seelenraum mit seinem Analogon-«Ich» zusammenwachsen, den wir heute Bewußtsein nennen. Die Anfänge dieses Entwicklungsprozesses lassen sich in der «Ilias» aufzeigen: doch ungeachtet dessen ist nachdrücklich daran zu erinnern, daß die Haupthandlungsschemata der Dichtung nichtbewußten Ursprungs und göttlichem Diktat entsprungen sind. Die erwähnten vorbewußten Hypostasen wirken bei keiner wichtigen Entscheidung mit. Gleichwohl sind sie in der Dichtung unzweifelhaft präsent: gewissermaßen in Statistenrollen. Es ist in der Tat so, als ob der eine bewußte Geist hier in seinen Anfängen in der «Ilias» noch in siebenerlei Wesenheit aufträte, in jeder von ihnen mit geringfügig anderer Funktion ausgestattet und mit Unterscheidungsmerkmalen gegenüber den anderen, die nachzukonstruieren wir heute fast unmöglich finden. DER LISTENREICHTUM DER «ODYSSEE» Nach der «Ilias» die «Odyssee»: wer diese Dichtungen mit unbefangenem Blick hintereinander liest, sieht auf Anhieb, welch gewaltiger Abstand der Mentalitätsstadien hier überspannt wird! Natürlich gibt es noch immer Gelehrte, die sich an der Vorstellung erbauen, ein einzelner Mensch namens Homeros habe die beiden Kolossalepen aufgezeichnet oder sogar
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selbst verfaßt: das eine in jugendlichem, das zweite in reiferem Alter. Besser begründet scheint mir dagegen die Ansicht, daß ein Altersabstand von wenigstens hundert Jahren und wahrscheinlich mehr die «Odyssee» von der «Ilias» trennt und daß die jüngere Dichtung, genau wie die ältere, nicht das Werk eines einzelnen, sondern einer Generationenfolge von aoidoi ist. Im Gegensatz zur «Ilias» jedoch ist die «Odyssee» kein Epos aus einem Guß, sondern aus mehreren Stoffkreisen zusammengesetzt. Die ursprünglichen Erzählteile handelten wahrscheinlich von ganz verschiedenen Helden und wurden dann in späterer Zeit um die Mittelpunktsfigur des Odysseus herum zusammengezogen. Wie das kam, ist nicht schwer zu erraten. Odysseus war zumindest in Teilen Griechenlands zum Mittelpunkt eines Kults geworden, mit dem sich unterworfene Völkerschaften ihrer Überlebensfähigkeit versicherten. Er ist jetzt der «listenreiche Odysseus», und vermutlich haben spätere aoidoi dieses Epitheton nachträglich in die «Ilias» eingefügt, um ihre Zuhörer damit an die «Odyssee» zu erinnern. Archäologische Materialien geben zu erkennen, daß dem Odysseus zu irgendeiner Zeit nach 1000 v. Chr., mit Sicherheit jedoch vor 800 v. Chr. in bedeutendem Umfang Weihegaben dargebracht wurden.9 Zuweilen waren dies dreifüßige Bronzekessel, die in eigenartigem Zusammenhang mit dem Kult standen. Es waren Weihegaben, wie man sie in älterer Zeit einem Gott dargebracht hätte. Spätestens vom neunten Jahrhundert v. Chr. an und damit just zu einem Zeitpunkt, da die Insel im Begriff stand, von einer neuen Invasionswelle aus Korinth überrannt zu werden, wurden auf Ithaka Kampfspiele zu Ehren des Odysseus abgehalten. Mit einem Wort: Odysseus, der Listenreiche, ist der Held der neuen Mentalität, mit der man sich in einer zertrümmerten Welt und im Zustand der Götterferne forthilft. Die «Odyssee» signalisiert dies schon im allerersten Vers 9
S. Benton, zitiert nach T. B. L. Webster, a. a. O., S. 138.
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mit dem Wort polytropon (vielverschlagen). Sie ist das Epos des gewundenen Wegs zum Ziel. Ihr Thema ist die «Verschlagenheit»: Sie wird hier entdeckt, erfunden und gefeiert. Die «Odyssee» singt von indirekten Strategien, Verkleidungen und Täuschungen, von Verwandlungen und vom Wiedererkennen, von Zauberkräutern und Gedächtnisverlust, sie handelt von Menschen in anderer Menschen Rolle, von Geschichten in Geschichten, vom Menschen im Menschen. Der Gegensatz zur «Ilias» ist erstaunlich. In Reden und Taten wie in den Charakteren der Akteure kommt in der «Odyssee» eine neue und andere Welt zur Anschauung, eine Welt, die neue und andere Wesen beherbergt. Die bikameralen Götter der «Ilias» sind auf dem Weg in die «Odyssee» verunsichert und kraftlos geworden. Immer öfter legen sie jetzt Verkleidungen an und finden sogar an Hexereien Gefallen. Bikameralität ist per definitionem nur mehr in stark verringertem Maß am Handlungsablauf beteiligt. Die Götter haben gegenüber früher nicht mehr soviel zu tun, und gleichsam wie pensionierte Gespenster reden sie jetzt mehr miteinander – und das mit ermüdender Weitschweifigkeit! Die Geschehensinitiative geht ihnen verloren, ja richtet sich oftmals gegen sie und wandert mehr und mehr in die Hände der bewußten menschlichen Akteure, wenngleich diese noch der Aufsicht eines Zeus unterliegen, der sich mit Einbuße seiner absoluten Macht zum König-Lear-gleichen Advokaten der Gerechtigkeit gewandelt hat. Seher und Omina, diese Erkennungszeichen des Zusammenbruchs der bikameralen Psyche, sind weitverbreitete Erscheinungen. Halbgottheiten, entmenschende Zauberinnen, Kyklopen und Sirenen – Wesen, vergleichbar jenen Genien, die, wie wir gesehen haben, einige Jahrhunderte früher auf den Basreliefs der Assyrer den Zusammenbruch der Bikameralität signalisierten – bezeugen einen tiefgreifenden Wandel der Mentalität. Und in den großen thematischen Motiven der «Odyssee» – den Motiven von Irrfahrten fern der Heimat, vom Gefangen- und Versklavtsein, von verborgenen und wiedergefundenen Dingen – hören wir zweifellos den Widerhall des Zusammenbruchs der Gesellschaft unter
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dem Ansturm der dorischen Invasoren, als das subjektive Bewußtsein sein Debüt auf der griechischen Geschichtsbühne gab. Auf statistischer Ebene ist zunächst der Wandel in der Häufigkeit benutzter vorbewußter Hypostasen zu vermerken. Einschlägige Befunde ergeben sich leicht aus dem Vergleich von Wortkonkordanzen zur «Ilias» und zur «Odyssee». Als eindrucksvolles Ergebnis zeigt sich eine nachhaltige Zunahme im Gebrauch von phrenes, noos und psyche sowie ein deutlicher Rückgang im Gebrauch von thymos. Natürlich könnte man hier nun einwerfen, daß sich der verminderte Gebrauch von thymos in der «Odyssee» im Vergleich mit der «Ilias» ganz von selbst aus der andersgearteten Thematik jener Dichtung erklärt. Doch das hieße an der eigentlichen Frage vorbeigehen. Denn der Themenwandel selbst ist ja Teil dieses ganzen Umbruchs in der ureigensten Menschennatur. Die zuerst genannten Hypostasen sind passiv. Thymos dagegen, die adrenalinerzeugte Notfallreaktion des sympathischen Nervensystems auf ungewohnte Situationen, ist alles andere als passiv. Um dieses jäh anschwellende Energiepotential als Metaphoranden herum läßt sich nicht jenes Feld von passiv-visuellen Metaphern aufbauen, das sich als geeignet für die Aufgabe des Problemlösens erweist. Demgegenüber verdoppelt sich der Gebrauch von phrenes in der Zeitspanne zwischen «Ilias» und «Odyssee», während er sich für noos wie psyche verdreifacht. Auch hier könnte man einwenden, daß sich im vermehrten Gebrauch dieser Wörter lediglich der Themenwandel widerspiegelt. Und wiederum müßte man entgegnen: eben das ist der springende Punkt. Aus der Dichtung als objektiver Schilderung eines äußeren Geschehens wird auf dem Weg der Subjektivierung eine Dichtung des selbstbewußten Persönlichkeitsausdrucks. Aber nicht allein, wie häufig diese Ausdrücke vorkommen, interessiert uns hier, sondern auch ihr veränderter Sinn und die zu seiner Verdeutlichung benutzten Metaphoratoren. Während
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die Bedeutung der Götter als Lenker der menschlichen Angelegenheiten zurückgeht, übernehmen die vorbewußten Hypostasen einen Teil der göttlichen Funktion und bringen diese damit dem Bewußtseinszustand näher. Thymos, wenngleich nicht mehr so häufig wie früher, ist immer noch der meistgebrauchte hypostatische Ausdruck. Und seine Funktion ist eine andere geworden. Er ist in die subjektive Phase eingetreten und ähnelt jetzt einer Person für sich. Sein thymos «befiehlt» dem Sauhirten, zu Telemachos zurückzukehren (16, 466). In der «Ilias» hätte in gleicher Lage ein Gott das Wort ergriffen. In dem älteren Epos kann ein Gott menos, Heldenkraft, in das «Behältnis» thymos «eingeben»; aber in der «Odyssee» kann ein ganzer Wiedererkennensakt darein «gegeben» werden. Eurykleia erkennt Odysseus unter seiner Verkleidung an der Narbe, weil ein Gott diese Erkenntnis in ihren thymos «gelegt» hat (19, 485). (Man beachte, daß sie Wiedererkennen zeigt, doch kein Erinnern.) Und die Mägde der Penelope tragen das Wissen von der Abfahrt ihres Sohnes im thymos (4, 730). Auch die phrenes besitzen jetzt die räumliche Qualität der dritten Phase. Sogar die Schilderung eines möglichen Zukunftsereignisses kann in die phrenes gelegt werden, so etwa, wenn Telemachos geheißen wird, auf die Frage, warum er die Waffen vor den Freiern verwahrt habe, als Vorwand anzugeben, ein daimon (in der «Ilias» hätte es wenigstens ein Gott sein müssen) habe ihm in die phrenes gelegt: «daß ihr nicht etwa, wenn ihr vom Wein berauscht seid und unter euch einen Streit anhebt, einander verwundet» (19, 10). In der «Ilias» gibt es keine Geheimnisse, dagegen viele in der «Odyssee», und diese werden in den phrenes «bewahrt» (16, 459). Während die vorbewußten Hypostasen in der «Ilias» fast immer unzweideutig lokalisiert waren, verwischt ihr zunehmend metaphorischer Charakter in der «Odyssee» ihre anatomischen Kennungen. Einmal wird sogar der thymos in der Lunge – den phrenes – angesiedelt (22, 38). Aber es gibt noch eine andere und sogar noch wichtigere Verwendungsweise von phrenes, des Wortes, das ursprünglich die Lunge und später die komplexen Empfindungen beim Atmen
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bezeichnete. Sie indiziert die ersten Anfänge der Moralität. Von den göttlich gesteuerten Marionetten der «Ilias» besitzt keine so etwas wie Moral. Gut und Böse existiert für sie nicht. In der «Odyssee» dagegen kann Klytaimnestra sich dem Aigisthos widersetzen, weil ihre phrenes «agathai» sind: ein Wort, das möglicherweise aus einer Wurzel abgeleitet ist, von der es die Bedeutung «gottähnlich» haben könnte. An anderer Stelle sind es die agathai – die göttlichen oder guten – phrenes des Sauhirten Eumaios, die ihn daran erinnern, den Göttern eine Weihegabe darzubringen (14, 421). Und gleicherweise sind die agathai – die guten – phrenes der Penelope für ihre Keuschheit und ihre Treue zu Odysseus verantwortlich (19, 124). Noch ist nicht Penelope selber gut, sondern lediglich der metaphorische Raum in ihrer Lunge. Ähnlich verhält es sich mit den anderen Hypostasen. Während Odysseus schiffbrüchig auf der stürmischen See umhertreibt, «hört» er Untergangsahnungen aus seiner kradie: aus dem pochenden Herzen (5, 389). Und es ist seine ker, also wiederum das bebende Herz oder vielleicht die bebenden Hände, die Pläne für die Vernichtung der Freier schmiedet (18, 344). In der «Ilias» hätte sich in dieser Situation ein Gott zu Wort gemeldet. Der noos wird zwar häufiger angeführt, manchmal jedoch mit unveränderter Bedeutung. Aber meistenteils befindet er sich ebenfalls in der dritten (subjektiven) Phase. Einmal versucht Odysseus, Athene hinters Licht zu führen (in der «Ilias» eine unvorstellbare Situation!), indem er ihr mit treuherzigem Blick ein Lügenmärchen erzählt und zugleich in seinem noos viellistige Gedanken wälzt (13, 255). Oder der noos ist wie eine Person: erfreut (8, 78) oder gewalttätig (18, 381), nicht zu hintergehen (10, 329) oder ein Wesen zum Kennenlernen (1, 3). Psyche bedeutet auch hier wieder Leben, diesmal jedoch womöglich etwas mehr als abgegrenzte Strecke in der Zeit empfunden. Auf einige hochbedeutsame Ausnahmefälle wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Das Fortschreiten in Richtung auf das subjektive Bewußtsein ist in der «Odyssee» nicht nur an der zunehmenden Verwen-
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dung, räumlich dimensionierten Innerlichkeit und Personifikation der vorbewußten Hypostasen abzulesen, sondern ebensowohl und sogar noch deutlicher an den Ereignissen und den sozialen Beziehungen. Hierzu gehört die bereits erwähnte Hauptrolle, die Betrug und Hinterlist in dieser Dichtung spielen. In der «Ilias» gibt es allenfalls verwaschene und ungenaue Zeitbezüge. Dagegen findet sich in der «Odyssee» eine zunehmende Spatialisierung der Zeit im Gebrauch solcher zeitliche Modalität ausdrückenden Wörter wie «beginnen», «zögern», «rasch», «dulden» und so weiter sowie im nunmehr häufiger vorkommenden Zukunftsbezug. Außerdem hat sich das Zahlenverhältnis zwischen abstrakten und konkreten Ausdrücken zugunsten der ersteren verschoben, und zwar vor allem dank Wörtern, denen im Deutschen Nominalbildungen mit der Endsilbe «-heit» entsprechen würden. Hand in Hand damit geht, wie nicht anders zu erwarten, eine merkliche Abnahme der ausgeführten Vergleiche: sie werden weniger stark benötigt. Sowohl die Häufigkeit, mit der Odysseus von sich selbst spricht, als auch die Art, wie er es tut, liegen auf einer ganz anderen Ebene als die Fälle von Selbstbezüglichkeit in der «Ilias». Das alles steht im Zusammenhang mit der Herausbildung einer neuen Mentalität. Ich beschließe diese notgedrungen kurzen Bemerkungen über ein Gedicht von überragender Bedeutung mit dem Hinweis auf ein Rätsel. Es liegt in dem Umstand, daß die Geschichte, die in der «Odyssee» erzählt wird, ihrem Schema nach die mythische Version des Geschehens ist, das ich in diesem Buch nachzuzeichnen versuche. Die «Odyssee» handelt von der werdenden Identität, von einer Reise zum Selbst, wie es beim Zusammenbruch der bikameralen Psyche geschaffen wird. Ich gebe nicht vor, die Antwort auf die tiefgründige Frage zu kennen, wie man das zu erklären habe: warum die Musen, diese Organisationsmuster des rechten Schläfenlappens, die durch den Mund der aoidoi dieses Epos singen, ihren eigenen Sturz, ihr Verklingen und Verschwinden im subjektiven Denken narrativieren und die Heraufkunft einer neuen Mentalität feiern, die just ihren Gesang überwinden und abstellen wird.
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Denn dies ist es doch offenbar, worum die Handlung sich dreht. Ich meine nämlich – und muß mich anstrengen, mir selbst zu glauben –, daß diese ganze Sagengeschichte mit ihrer gründlich durchkomponierten Anlage, in der sich unverkennbar die metaphorische Abbildung des gewaltigen Umschwungs zum Bewußtsein entdecken läßt, weder in ihren Einzelelementen verfaßt noch im Großen geplant und kompiliert wurde von Dichtern, die sich ihres Tuns bewußt gewesen wären. Es ist, als hätte sich die Gott-Komponente des bikameralen Menschen früher als die Mensch-Komponente dem Bewußtseinszustand genähert, die rechte Hemisphäre früher als die linke. Aber wie, wenn uns der Glaube hier verläßt und wir uns bemüßigt fühlen, so spöttisch wie theatralisch einzuwerfen: Wie kann ein Epos, das in sich selbst vielleicht eine Art Impulsgeber für das Bewußtsein war, von nichtbewußten Menschen verfaßt worden sein? Dann läßt sich demgegenüber mit der gleichen Theatralik fragen: Wie kann es von bewußten Menschen verfaßt worden sein? Und Schweigen wäre hier wie da die Antwort. Beides ist für uns gleichermaßen unerklärlich. Aber so stehen nun einmal die Dinge. Und im Schwung der Episodenfolge, die ihren Ausgang nimmt von dem in bikameraler Hörigkeit zu seiner schönen Nymphe Kalypso schmachtenden und am fremden Gestade hilflos schluchzenden Helden, durch eine Welt von Halbgöttern, Prüfungen, Lug und Trug mäandert, um jenen schließlich heimzuführen zu lautem, blutigem Triumph über die schmarotzende Bande der Rivalen; in seiner Bewegung vom Trancezustand über Maskeraden zum Sich-zu-erkennen-Geben, vom Meer aufs Festland, von Ost nach West, aus der Botmäßigkeit zum Seigneurstatus ist das ganze Gedicht nur eine einzige lange Odyssee zum Ziel der subjektiven Identität und zum triumphierenden Ausrufen ihrer Befreiung aus den halluzinatorischen Sklavenbanden der Vergangenheit. Auf dem Weg vom willenlosen Gigolo einer Göttin zum blutbefleckten Löwen auf eigenem Grund und Boden verwandelt sich Odysseus in «Odysseus».
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DER TÖRICHTE PERSES Einige der in zeitlicher Reihenfolge hier anschließenden Dichtungen will ich lediglich im Vorbeigehen streifen. Hierzu gehören die sogenannten «Homerischen Hymnen», die größtenteils nachweislich aus sehr viel späterer als homerischer Zeit stammen. Daneben existieren die im achten Jahrhundert v. Chr. im nordöstlich von Athen gelegenen Boiotien entstandenen und ehemals einer Kultfigur namens Hesiod zugeschriebenen Dichtungen. Leider handelt es sich bei den erhaltenen Texten häufig um Zusammenschnitte schlecht emendierter Gedichtbruchstücke offenkundig unterschiedlicher Herkunft. Die meisten von ihnen geben für unsere Zwecke wenig her. Die «Theogonie», eine häufig umstandskrämerische Aufzählung der Geschlechter- und sonstigen Beziehungen unter den Göttern, wird gewöhnlich auf einen Zeitpunkt kurz nach der «Odyssee» datiert, doch sind hypostatische Wörter hier seltener gebraucht und zeigen keine Weiterentwicklung. Für uns das Interessanteste an der «Theogonie» ist, daß ihre Beschäftigung mit dem Intimleben der Götter möglicherweise als eine Folge von deren Verstummen aufzufassen ist: als ein weiterer Ausdruck der Sehnsucht nach dem Goldenen Zeitalter vor der Dorischen Wanderung. Weitaus interessanter ist das faszinierende Problem, vor das ein anderer dem Hesiod zugeschriebener Text mit dem Titel «Werke und Tage» uns stellt. Es handelt sich offenbar um ein Ragout aus verschiedenen Ingredienzien, eine Art Bauernkalender für den boiotischen Landmann – einen ärmlichen und darbenden Vertreter seines Standes obendrein. Die Welt der «Werke und Tage» ist weltenweit entfernt von der Welt der großen homerischen Epen. Statt eines Helden, der in Botmäßigkeit zu seinen Göttern ein erhabenes Erzählgeschehen hinter sich bringt, finden wir hier Unterweisungen für den Landmann, mit dessen Gehorsam gegenüber den Göttern es bestellt sein mag, wie es will: praktische Lehren, wie er seine Arbeit verrichten solle, und Auskunft über die vom Glück gesegneten Tage; und wir finden außerdem ein
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hochinteressantes neues Gerechtigkeitsgefühl. Oberflächlich betrachtet, scheint diese Mixtur aus ungeordneten Einzelheiten des ländlichen Alltags und sehnsüchtigen Rückblicken in das dahingegangene Goldene Zeitalter das Werk eines bäuerlichen Verfassers zu sein, und dieser war nach Meinung der Gelehrten Hesiod. Er hadert, so wird gemeint, erbost mit seinem Bruder Perses über die Ungerechtigkeit eines Urteilsspruchs, nach dem ihres Vaters Besitz geteilt wurde, und erteilt dabei kurioserweise dem Perses Ratschläge über alles und jedes von der Ethik bis zur Ehe, von der richtigen Behandlung der Sklaven bis zu den Problemen der Aussaat und der Abwasserbeseitigung. Der Text wimmelt von Stellen wie der folgenden: Törichter Perses! Verrichte die Arbeit, die dem Menschen von den Göttern bestimmt ist, damit du nicht mitsamt Weib und Kindern in bitterer Qual des thymos dein Brot bei den Nachbarn erbetteln mußt (397ff).
So jedenfalls lesen die meisten Gelehrten diese Dichtung. Doch eine andere Lesart ist zumindest denkbar. Sie geht von der Möglichkeit aus, daß die älteren Partien des Werks in Wirklichkeit nicht von Hesiod – der im Text nirgends erwähnt wird –, sondern von niemand anderem als dem törichten Perses selbst geschrieben wurden und daß es sich bei diesen Hauptteilen der Dichtung um die Gebote seiner bikameralen göttlichen Stimme handelt, mit denen sie ihn anweist, was er tun soll. Sollte das dem Leser von der Sache her unmöglich vorkommen, möchte ich ihn an zeitgenössische Schizophreniekranke erinnern, bei denen es vorkommen kann, daß sie den ganzen Tag über ähnlich herrische Stimmen hören, die an ihnen herumkritteln und sie fortgesetzt in ähnlicher Manier ermahnen. Vielleicht sollte ich im vorigen den Ausdruck «geschrieben» zurücknehmen. Höchstwahrscheinlich wurde das Gedicht einem Schreiber zur Niederschrift diktiert, wie das ja auch mit den bikameralen Mahnworten von Perses’ Zeitgenossen Amos, dem israelitischen Hirten, der Fall war. Und ich hätte wohl auch gleich präzisieren sollen, daß die Urfassung der erwähnten Hauptteile gemeint ist und daß es sich bei dem
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in den Schlüsselzeilen 37-39 vorgetragenen Protest um eine nachträglich eingefügte Passage handelt (wie gleicherweise auch bei den Zeilen 654-662, worüber seit Plutarch allgemeine Übereinstimmung herrscht). Andererseits wäre es auch denkbar, daß sich diese Zeilen ursprünglich auf eine Art bikameralen Kampf um die Zügelung von Perses’ bereits zu subjektivem und damit (zur fraglichen Zeit) unzweckmäßigem Verhalten bezogen. Die vorbewußten Hypostasen treten in den «Werken und Tagen» jeweils mit annähernd gleicher Häufigkeit auf wie in der «Odyssee». Die meistbenutzte ist der thymos, der insgesamt achtzehnmal vorkommt und etwa in der Hälfte dieser Fälle einfach nur einen der Phase II entsprechenden inneren Handlungsimpuls meint, beziehungsweise den inneren Ort von Freude oder Traurigkeit angibt. Die anderen Male jedoch ist es ein der Phase III entsprechender Raum, in den oder in dem Informationen (27), Rat (297, 491), Anblicke (296) oder Ränke (499) «gelegt», «behalten» oder «bewahrt» werden können. Auch die phrenes sind wie ein Schrank, in dem der in dem Gedicht fortgesetzt erteilte Rat (107, 274) gestapelt werden und wo ihn der törichte Perses sorgsam «betrachten» soll. Zur kradie tritt eher der Metaphorator «Person» als «Behältnis» hinzu: Sie kann anmutig (340) oder aufgebracht (451) sein, kann etwas mögen oder nicht mögen (681). Psyche (686) und etor (360, 593) dagegen lassen keine Weiterentwicklung erkennen und bedeuten einfach nur Belebtheit oder Bauch. Der noos erweist sich in den «Werken und Tagen» insofern als interessant, als er in allen vier Fällen seines Vorkommens einer Person in ihrer moralischen Dimension gleicht. Zweimal (67, 714) zeigt er Scham oder läßt sie vermissen, und ein andermal ist er adikos, ohne die rechte Lenkung (260). Eine eingehendere Untersuchung würde die speziellen Details in der Entwicklung des Ausdrucks dike herauszuarbeiten haben. Die ursprüngliche Bedeutung war «zeigen» (sie ist in Resten erhalten im lat. digitus, engl. digit, Finger), und wo das Wort dike in der «Ilias» vorkommt, ließe es sich am zurückhaltendsten
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mit «Lenkung», «Direktive» im Sinn von «zeigen, was zu tun ist», übersetzen. Sarpedon schirmt Lykien mittels seiner dike («Ilias» 16, 542). In den «Werken und Tagen» dagegen hat das Wort die Bedeutung von gottgegebenen Direktiven oder Recht angenommen, und darin ist möglicherweise ein Ersatz für die Götterstimmen zu sehen.10 Ein stummer Zeus, der Sohn einer mittlerweile spatialisierten Zeit, setzt hier erstmals dike oder Recht annähernd in der Form, wie wir sie aus der späteren griechischen Literatur kennen (etwa in Vers 267ff). Wie unendlich fremd ist der amoralischen Welt der «Ilias» der Gedanke, daß eine ganze Stadt für die Bosheit eines einzelnen zu büßen haben könnte (240)! Unser Rechtsempfinden hängt von unserem Zeitempfinden ab. Recht ist nur als Phänomen einer Bewußtseinswelt möglich, denn eine als räumliche Erstreckung verbildlichte Zeit ist sein allerwesentlichstes Konstituens. Recht erwächst also nur auf der Grundlage der Metaphorisierung von Zeit mittels Raumkategorien. Beispiele für diese zunehmende Spatialisierung der Zeit finden sich in den «Werken und Tagen» allenthalben. Ein Gewaltakt zu einem gegebenen Zeitpunkt zieht seine Bestrafung zu irgendeinem späteren Zeitpunkt nach sich (245f). Weit und steil ist der Weg zur Rechtschaffenheit (290). Rechtschaffen ist der Mensch, der sieht, was hinterher das Bessere ist (294). Füge Kleines zu Kleinem, und es wird Großes daraus (362). Wirke mit einmal Gewirktem neues Werk, um Reichtum zu erlangen (382). All diese Vorstellungen sind unmöglich, solange das Davor und Danach der Zeit nicht zu einer räumlichen Erstreckung metaphorisiert ist. Diese Grundkomponente des Bewußtseins, die sich in den assyrischen Gebäudeinschriften um 1300 v. Chr. zu zeigen begann, ist mittlerweile recht weit gediehen. 10 Daß freilich der Ursprung dieser neuen Vorstellung von einem gottgesandten Recht eine halluzinierte Sendbotin des Zeus sein könnte, deutet sich an, wenn es von Dike heißt, daß sie weint und klagt, wenn Menschen sich bestechlich zeigen und übeltun (220 f). Meine Etymologie des Wortes dike weicht von der geläufigen ab.
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Es kommt hier entscheidend darauf an zu sehen, wie eng dieses neue Rechts- und Zeitempfinden mit etwas gekoppelt ist, das man die Profanisierung der Aufmerksamkeit nennen könnte. Darunter verstehe ich die Verschiebung der Aufmerksamkeit auf die Alltagsprobleme der Daseinsvorsorge – etwas, das den gewaltigen, von Göttern entworfenen Epen der vorausliegenden Zeit vollkommen fremd ist. Ob die «Werke und Tage» nun ihrerseits noch göttlicher Inspiration entsprungen oder ob sie, der Mehrheitsmeinung der Gelehrten zufolge, bloß mürrische Ermahnungen von Perses’ Bruder Hesiod sind: gleichviel – in jedem Fall bezeichnen sie einen dramatischen Wendepunkt in der Interessenrichtung der Menschen. Anstelle des grandios-unpersönlichen Berichts finden wir hier den detaillierten Persönlichkeitsausdruck. Anstelle einer alterslosen Vergangenheit finden wir eine lebhaft dargestellte Gegenwart, die eingespannt ist zwischen Vergangenheit und Zukunft. Und es ist eine rauhe und dürftige Gegenwart, die bäuerliche Realität der nachdorischen Zeit, gezeichnet von elementarer Not und der Mühsal, dem Boden ein Auskommen abzuringen; und an der Peripherie dieser Sphäre lagert noch sehnsüchtiges Heimweh nach dem großartigen Goldglanz der bikameralen mykenischen Welt, besiedelt von einem gerechteren und edleren Geschlecht, einem göttlichen Heldengeschlecht von Menschen, die Halbgötter genannt werden, dem Geschlecht vor dem unseren allüberall auf der grenzenlosen Erde (158 ff).
LYRIK UND ELEGIK 700-600 v. Chr. Beinahe hätte ich hingeschrieben, daß sich das griechische Bewußtsein in den «Werken und Tagen» seiner Vollendung nähert. Es wäre jedoch eine sehr irreführende Metapher gewesen, das Bewußtsein mit einer Sache gleichzusetzen, die auf dem Weg des Aufbaus, der Heranbildung oder der Formung zur Vollendung oder in einen Fertigzustand gebracht wird. So etwas wie ein fertiges Bewußtsein gibt es nicht.
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Der Sachverhalt, den ich so bezeichnet hätte, ist der, daß die grundlegenden Metaphorisierungen: der Zeit mittels des Raums, innerer Hypostasen als Personen in einem mentalen Raum begonnen haben, sich zu Leit- und Kontrollinstanzen des Alltagslebens herauszupräparieren. Gegenüber dieser Entwicklung scheint die griechische Poesie des siebten Jahrhunderts v. Chr., die chronologisch hier anschließt, fast einen Abstieg zu bezeichnen. Doch liegt dies daran, daß von dem, was die Lyriker und Elegiker dieser Epoche hervorbrachten, nur bitter wenig dem Zerstörungswerk der Zeit entronnen ist. Wenn wir uns hier sinnvollerweise auf diejenigen beschränken, von denen sich mindestens ein rundes Dutzend Gedichtzeilen erhalten hat, haben wir es mit nicht mehr als sieben Dichtern zu tun. Bei diesen handelt es sich – das verdient zuallererst Erwähnung – nicht um Dichter im heutigen Wortsinn. Ihre soziale Rolle ähnelte vielmehr der der Propheten im zeitgenössischen Israel: Sie waren heilige Lehrer der Menschen, die von den Königen im Bedarfsfall zu Schiedsrichtern in Rechtsstreitigkeiten oder zu Heerführern berufen wurden; mit manchen ihrer Funktionen rücken sie in die Nähe von Schamanen, wie wir sie bei den heute noch existierenden Stammeskulturen kennen. Zu Anfang des Jahrhunderts war ihre Aufgabe vermutlich noch mit den kultischen Tänzen verknüpft. Doch nach und nach verselbständigte sich ihr Dichten gegenüber dem Tanz und seiner religiösen Aura zu profaneren Gesängen, die zur Leier oder mit Flötenbegleitung vorgetragen wurden. Dieser künstlerische Wandel ist jedoch lediglich eine Nebenerscheinung von Wandlungen sehr viel bedeutenderer Art. Die «Werke und Tage» waren Ausdruck der Gegenwart. Die neue Poesie ist Ausdruck der Person in dieser Gegenwart – dieses bestimmten Individuums in seinen Unterschieden zu anderen. Und sie ist zugleich Feier des individuellen Unterschieds. Und in den Verfahrensweisen, die sie dabei anwendet, können wir den fortschreitenden Ausbau der älteren Hypostasen zum Seelenraum des Bewußtseins beobachten.
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In die erste Jahrhunderthälfte fällt die Lebenszeit des Terpandros, des Erfinders des Trinklieds, wenn man Pindar glauben darf. Insgesamt dreizehn Gedichtzeilen haben sich von ihm erhalten, und eine von ihnen schickt über die Jahrhunderte hinweg den Ruf: Vom fernhintreffenden Gebieter singt mir, o phrenes!11
Das ist interessant. Mit dem «Gebieter» ist Apollon gemeint. Man beachte jedoch, daß dem nun zwar ein nostalgisches Gedicht auf einen verlorenen Gott folgen soll, daß aber kein Gott und keine Muse angerufen wird, es zu erdichten. In der «Odyssee» legt ein Gott dem Sänger die Gesänge in die phrenes, die er dann vorträgt, wie wenn er sie dort gleichsam vom Blatt läse (22, 347). Terpandros hingegen, der keine Götter mehr hört, bittet seine eigenen phrenes, ein Lied für ihn zu erdichten, geradeso als ob sie ein Gott wären. Und diese implizite Gleichsetzung zusammen mit den assoziierten Paraphoranden eines Existenzraums der gottgestaltigen phrenes ist, so meine ich, auf dem besten Wege, den Seelenraum plus Analogon «Ich» des Bewußtseins zu erschaffen. Aber nicht nur im Wortgebrauch, sondern auch in den Themen der Dichtung wird der Wandlungsprozeß während des siebten Jahrhunderts greifbar. Profanisierung und Personalisierung der Inhalte, die mit den «Werken und Tagen» eingesetzt hatten, überschwemmten gegen die Mitte des Jahrhunderts in den zornigen Jamben des fahrenden Söldners und Poeten Archilochos aus Paros springflutartig alle Deiche. Seinem Epitaph zufolge hat er «als erster eine gallige Muse mit Schlangengift benetzt und den sanften Helikon mit Blut befleckt» – letzteres eine Anspielung auf die Anekdote, derzufolge er zwei Men11 Fr. 2 in der Loeb-Ausgabe (Lyra Graeca, hg. von J. M. Edmonds, London: Heinemann 1928). Alle Quellenangaben bis zum Kapitelende beziehen sich auf diese Ausgabe, und zwar entweder auf den erwähnten Band Lyra Graeca oder die Parallelbände Elegy and Iambus 1 u. 2 (ebenfalls hg. von J. M. Edmonds, London: Heinemann 1931).
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schen durch die Gewalt seiner Schmähgedichte zum Selbstmord getrieben hat.12 Schon dieser Gebrauch der Dichtung für persönliche Rachefeldzüge und zum Ausdruck persönlicher Vorlieben und Abneigungen war etwas in der Welt bis dahin Unerhörtes. Und einige der erhaltenen Fragmente kommen dem modernen reflexiven Bewußtsein so nahe, daß der Untergang des größten Teils von Archilochos’ Gedichten als einer der schwerwiegendsten Verluste für die alte Literaturgeschichte betrachtet werden muß. Doch die von Archilochos nie gehörten Götter herrschen noch immer über die Welt. «Der siegreiche Ausgang liegt bei den Göttern» (Fragment 55). Und die Hypostasen bleiben. Die schädlichen Auswirkungen des Trinkens (Fr. 77) und des Alters (Fr. 94) treten in den phrenes auf; und wenn Archilochos bekümmert ist, dann ist es sein thymos, der niedergeschlagen wurde wie ein kraftloser Krieger und nun ermahnt wird: «erhebe deinen Blick und verteidige dich gegen deine Gegner» (Fr. 66). Archilochos redet seinen thymos an, als sei er eine Person für sich, und diese implizite Gleichsetzung, in der als Paraphoranden ein Raum und ein vom Selbst «beobachtetes» «Selbst» mitspielen, bedeutet einen weiteren Schritt in Richtung auf das dem folgenden Jahrhundert zugehörige Bewußtsein. Als nächste in der chronologischen Reihenfolge kommen Kallinos und Tyrtaios, zwei andere Soldatendichter, deren erhaltene Fragmente uns wenig Aufschluß bringen. Die meistgebrauchte Hypostase ist bei ihnen der thymos, und meistenteils schärfen sie dem Hörer ein, im Kampf einen festen thymos zu bewahren. Und dann, um 630 v. Chr., zwei Poeten anderen Schlags: Alkman und Mimnermos. Sie wollen niemandem etwas einschärfen, sondern zelebrieren in nie zuvor gekannter Weise 12 Nach der (um 920 n. Chr. aus älteren Quellen kompilierten) Anthologia Palatina. Vgl. Edmonds’ Elegy and Iambus 2, S. 97.
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ihr eigenes subjektives Empfinden. «Wer vermag vom noos eines anderen Bericht zu geben?» (Fr. 55), fragt der erste, wobei er den noos metaphorisch zu einem Geschehen macht – mit allem, was dies an paraphorischen Konsequenzen nach sich zieht. Und Mimnermos klagt über Lieblosigkeiten, die seine phrenes aufreiben (Fr. 1), und über die «Sorgen, die im thymos aufsteigen» (Fr. 2.). Die schlichten Hypostasen der homerischen Epen liegen weit zurück. Am Ende dieses zukunftsweisenden Jahrhunderts stehen die Gedichte des Alkaios und – beachtenswert sie vor allem – die schmachtende Leidenschaft der mannhaften Sappho, der zehnten Muse, wie Platon sie genannt hat. Über ihren thymos und ihre phrenes sagen diese beiden Dichter aus Lesbos die üblichen Dinge, wobei sie die beiden Ausdrücke ungefähr mit der gleichen Häufigkeit benutzen. Sappho besingt sogar die theloi, die Zurüstungen, ihres thymos, aus denen dann späterhin unser Wünschen und Wollen wird (Fr. 36, 3). Und sie ist praktisch die Erfinderin der Liebe im romantisch-modernen Sinn. Die Liebe drückt qualvoll auf ihren thymos (Fr. 43) und wühlt in ihren phrenes wie ein Sturmwind in einem Eichbaum (Fr. 54). Von größerer Bedeutung ist jedoch die Entwicklung des Ausdrucks noema. Gegen Ende des siebten Jahrhunderts hat sich für das noema eine Bedeutung herauskristallisiert, die sich als ein Zusammenfluß dessen darstellt, was wir von Fall zu Fall differenzierend als Gedanke, Wunsch, Absicht und ähnliches bezeichnen würden; das noema in diesem Sinn fließt zusammen mit den theloi des thymos. «Wenn Zeus erfüllen will, was unser noema ist», sagt Alkaios (Fr. 43). Von einem, den er reden hört, meint er, daß er «sein noema nicht im geringsten verheimlicht (oder entschuldigt)» (Fr. 144). In den erhaltenen Bruchstücken der Sappho wird das Wort dreimal gebraucht: gegenüber denjenigen, die sie liebt, «kann mein noema sich niemals wandeln» (Fr. 14); ihr «noema ist nicht so nachgiebig gegenüber dem Zorn eines Kindes» (Fr. 35); und sie klagt: «ich weiß nicht, was tun, meine noemata sind entzweit ...» (Fr. 52). Damit verschiebt sich das Aufmerksamkeitszentrum auf das
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vorgestellte innere Metapher-Ding, das zu einem Gedanken hypostasiert wird. Die Liebe ist es, die die Menschheit das Introspizieren, die Selbst-Beobachtung, lehrt. Und bei Sappho findet sich sogar schon ein Wort, das synoida lautet (Fr. 15), «mit(jemandem gemeinsam um etwas)-wissen», dem dann das lateinische Wort für Bewußtsein nachgebildet wird: conscius bzw. conscientia. Bei diesen sieben Dichtern des siebten Jahrhunderts haben wir also die bemerkenswerte Entwicklung zu verzeichnen, daß mit dem Wechsel des Sujets von der kriegerischen Anfeuerung zum persönlichen Gefühlsausdruck, zumal dem von Liebe, die Verwendungsweise der mentalen Hypostasen und deren Kontext sich mehr und mehr dem annähern, was für uns das subjektive Bewußtsein ist. Es sind jedoch trübe historische Gewässer, in denen wir uns hier bewegen, und wir dürfen überzeugt sein, daß diese sieben Poeten, von deren Gedichten ein paar Bruchstücke auf der für uns sichtbaren Oberfläche des siebten Jahrhunderts treiben, nur Zufallsrepräsentanten von vielen sind, die neben ihnen existierten und ebenso wie sie ihren Teil zur Entwicklung jener neuen Mentalität beitrugen, die wir Bewußtsein nennen. SOLONS GEIST Ich für meinen Teil bin der Ansicht, daß jene sieben ihre Zeitgenossen auf keinen Fall erschöpfend repräsentieren können, da bereits der zeitlich nächste uns bekannte Dichter sich spektakulär von ihnen allen unterscheidet. Er ist der Morgenstern des griechischen Geistes und der Mann, der nach unserer Kenntnis ganz allein der Idee der Rechtsordnung menschlicher Verhältnisse zu wirklich präziser Bedeutung verhalf. Die Rede ist von dem Athener Solon, dessen öffentliche Erscheinung sich am Eingang des grandiosen sechsten Jahrhunderts v. Chr. – des Jahrhunderts der Thales, Anaximander und Pythagoras – abzeichnet. Es ist das Jahrhundert, in dem wir uns zum erstenmal geistig zu Hause fühlen können in der Gesell-
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schaft von Menschen, deren Denkweise in etwa der unseren entspricht. Das Tempo, in dem sich die griechische Kultur jetzt zur Hochblüte entfaltet, ist erstaunlich. Und an Solon, der am Anfang von alledem steht, ist erstaunlich allein schon sein Gebrauch des Wortes noos. Bei den Dichtern, die wir eben betrachtet haben, kommt es selten vor. Dagegen wird es in den (rund) 280 Zeilen, die uns von Solon überliefert sind, achtmal verwendet. Das entspricht der extrem hohen Wortfrequenz von 4,4 Promille. Der Befund läßt erkennen, daß wir es mit der vierten (subjektiven) Phase zu tun haben, in der die verschiedenen Hypostasen sich zur Einheit zusammenschließen. Thymos kommt bei Solon nur zweimal, phrenes und etor nur je einmal vor. Aber auch das, was er inhaltlich über den noos zu sagen hat, ist die erste echte Aussage über den subjektiv bewußten Geist. Er spricht von solchen, deren noos nicht artios, das heißt intakt oder ein Ganzes, sei (Fr. 6). In bezug auf einen Wiedererkennungsakt eine völlig unmögliche Aussage! Fehlerhaft an einem schlechten Führer ist sein noos (Fr. 4): In seiner homerischen Bedeutung ließ das Wort keine moralischen Epitheta zu. Etwa mit 42 Jahren ist «eines Mannes noos in allem ausgebildet»: Mit Sicherheit betrifft dies nicht sein visuelles Wahrnehmungsvermögen. Und in den Fünfzigern sind «noos und Redegabe auf der Höhe ihrer Kraft» (Fr. 27). Ein anderes Fragment bezeichnet den Anfang eines echten Begriffs von persönlicher Verantwortlichkeit: Hier rät Solon den Athenern, die Schuld am eigenen Unglück nicht bei den Göttern, sondern bei sich selber zu suchen. Das steht in diametralem Gegensatz zum Geist der «Ilias». Und er fährt fort: «Jeder von euch geht mit den Schritten eines Fuchses; euer aller noos ist chaunos [das heißt: porös oder schwammig oder zerfasert]: denn ihr achtet auf eines Menschen Zunge und wechselhafte Rede und niemals auf seine Taten» (Fr. 10).
Weder Achilleus noch der erfindungsreiche Odysseus, und selbst der törichte Perses nicht (oder sein Bruder), hätten diese Ermahnung «verstanden».
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Bewußtsein und Moralität wachsen auf einem Holz. Denn in Ermangelung von Göttern muß eine im Bewußtsein der Folgen seines Handelns gründende Moralität dem Menschen sagen, was er tun soll. Die dike oder Rechtssatzung der «Werke und Tage» ist bei Solon noch weiterentwickelt. Es ist nun das moralisch Richtige, das beim Ausüben der Regierungsmacht getroffen werden muß und das die Ausgangsbasis des Rechts und des rechtmäßigen Handelns abgibt. Zuweilen wird Solon noch eine Reihe von Aussprüchen zugeschrieben, die auch die bekannte Ermahnung zum «Maßhalten in allen Dingen» (meden agan) umfaßt. Passender zum vorliegenden Thema ist das noch berühmtere «Kenne dich selbst!» (gnothi seauton), für das manchmal Solon als Autor angegeben wird, das aber möglicherweise von einem seiner Zeitgenossen stammt. Auch dies wäre für den homerischen Helden etwas Unvorstellbares gewesen. Wie macht man das, sich selber kennen? Indem man einsam für sich Erinnerungen an die eigenen Handlungen und Gefühle in Gang setzt und sie zusammen mit einem Analogon «Ich» betrachtet, sie konzeptualisiert, in Charaktereigenschaften einteilt und einen narrativen Zusammenhang schafft, aus dem hervorgeht, wie man sich in dieser oder jener Situation wahrscheinlich verhalten wird. Man muß «sich selbst» wie ein Ding in einem imaginären «Raum» «sehen» – dies sind faktisch die autoskopischen Illusionen, wie wir sie in einem der Anfangskapitel genannt haben. Mit einem Schlag sehen wir uns also ins moderne Zeitalter der Subjektivität versetzt. Wir können nur bedauern, daß die Literatur des siebten Jahrhunderts v. Chr. in solch spärlichem Umfang und so bruchstückhafter Form auf uns gekommen ist: das Auftauchen des subjektiven Bewußtseins in nahezu voll entfalteter Form bei Solon wirkt dadurch fast unverständlich, solange wir diesen Staatsmann und Dichter lediglich als Glied der griechischen Traditionskette begreifen. Doch um Solons Leben rankt sich eine Vielzahl von Legenden. Und mehrere von ihnen wollen wissen, er sei ein weitgereister Mann gewesen und habe sich, bevor er sich für den Rest seines Lebens in Athen niederließ, wo er den größten Teil seiner Gedichte
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verfaßte, in den Ländern Kleinasiens umgetan. So ist zum mindesten die Mutmaßung gerechtfertigt, daß sein eigentümlicher Gebrauch des Wortes noos und die Verdinglichung von dessen Sinn zum imaginären Innenraum des Bewußtseins sich dem Einfluß der höherentwickelten Kulturvölker des Vorderen Orients verdanken. Nicht zuletzt dank seinem Einfluß als überragender politischer Führer ist mit Solon der Operator Bewußtsein in Griechenland fest etabliert. Solon verfügt über einen inneren Raum, der noos heißt und in dem ein Analogon seiner selbst narrativiert, welches Handeln für das Volk dike oder rechtmäßig ist. Ist die Entwicklung erst einmal so weit gediehen, ist der Mensch erst einmal imstande, «sich selbst zu kennen», wie Solons Ratschlag lautet, imstande, in der linearen Dimension des Innenraums «Zeiten» zu addieren oder aneinanderzureihen, in sich selber «hineinzublicken» und seine Welt vor das «Auge» des noos zu stellen: dann sind die Götterstimmen – zum wenigsten im Alltagsleben – überflüssig. Sie sind an besondere Orte, die Tempel, und in besondere Personen, die Orakel heißen, abgeschoben worden. Und daß der neue einheitliche nous (so die endgültige Schreibweise), der sich die Funktionen der anderen Hypostasen einverleibt hatte, auf Erfolgskurs lag, wird nicht nur durch die gesamte nachfolgende Literatur, sondern auch durch die Neuorganisation des menschlichen Verhaltens und der Gesellschaft bezeugt. Aber wir sind dem Gang unserer Geschichte vorausgeeilt. Denn in diesem hochbedeutenden sechsten Jahrhundert findet noch eine andere Entwicklung statt, und zwar eine, die an die weitere Zukunft eine gewaltige Hypothek an Komplikationen vererben wird. Sie betrifft den altbekannten Ausdruck psyche, der bald auf unvorhersehbar neue Weise verwendet wird. Mit der Zeit beginnt er sich in Parallele zu nous zu setzen, bis psyche und nous dann beliebig miteinander vertauschbar gebraucht werden; gleichzeitig jedoch zeugt eine bestimmte Verwendungsweise von psyche jenes Bewußtsein des Bewußtseins, das hier am Anfang des Ersten Buches als
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falsches Bewußtsein vorgestellt wurde. Hinzu kommt noch, wie ich gleich plausibel zu machen versuchen werde, daß dieses neue Konzept ein fast kunstmäßiges Produkt der Begegnung zwischen griechischer und ägyptischer Kultur darstellt. DIE ERFINDUNG DER SEELE Von den hypostatischen Wörtern hat psyche als letztes die Komponente «innerer Raum» in seine Bedeutung aufgenommen. Das liegt, wie ich meine, an dem Umstand, daß psyche = Belebtheit sich für eine Metaphorisierung vom Behältnis-Typ erst anbot, nachdem die bewußte Spatialisierung der Zeit so weit fortgeschritten war, daß der Mensch jetzt ein Leben im Sinne einer Zeitspanne und nicht mehr nur Leben im Sinne von Atem und Blutstrom hatte. Was freilich die Weiterentwicklung von psyche zum Konzept der Seele angeht, so liegt sie durchaus nicht so klar auf der Hand. Denn mehr als bei den anderen Hypostasen trifft man bei psyche auf verwirrend unterschiedliche Verwendungsweisen, die sich auf den ersten Blick gegen eine chronologische Ordnung sperren. In der überwiegenden Zahl der Fälle bedeutet das Wort, wie erwähnt, Belebtheit. Nach den homerischen Epen gebraucht beispielsweise Tyrtaios es in diesem Sinn (Fr. 10. 11) und ebenso Alkaios (Fr. 77B). Und noch Euripides verwendet im fünften Jahrhundert v. Chr. den Ausdruck «seiner psyche zugetan sein» in der Bedeutung «am Leben hängen» («Iphigenie in Aulis», Vers 1385). In manchen aristotelischen Schriften kommt psyche ebenfalls mit der Bedeutung «Belebtheit» vor, und dieser Wortgebrauch setzt sich fort bis in viele Stellen des Neuen Testaments. «Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt seine psyche für die Schafe», heißt es im Johannesevangelium (10, 11). Jesus meinte hier nicht seinen Geist oder seine Seele. Nun aber der Dreiundzwanzigste Gesang der «Ilias»: Hier erscheint gleich zu Anfang (65 ff) dem Achilleus die psyche des toten Patroklos im Traum, und als der Träumer die Arme
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nach ihr ausstreckt, versinkt sie schwirrend in die Erde. In den gespenstischen Hadesszenen des Elften und Vierundzwanzigsten Gesangs der «Odyssee» ist psyche im gleichen Sinn gebraucht. Der Ausdruck meint in diesen Fällen fast das genaue Gegenteil von dem, was er in «Ilias» und «Odyssee» sonst bedeutet: nicht Leben, sondern was da ist, nachdem das Leben gewichen ist. Nicht was im Kampf als Blut aus den Wunden verströmt, sondern die Geist-Seele, die in den Hades einzieht – eine Auffassung, die der griechischen Literatur vor Pindar, also bis etwa um 500 v. Chr., sonst gänzlich unbekannt ist. Für sämtliche Autoren des achten und siebten Jahrhunderts v. Chr., die wir bisher erwähnten, ist die psyche niemals die Geistseele, sondern hat stets die ursprüngliche Bedeutung von Leben oder besser: Belebtheit. Wir könnten die Etymologie des Wortes psyche drehen und wenden, wie wir wollen, es würde nicht helfen, die zwei grell dissonanten Bedeutungen – eine mit Grundbezug auf den Zustand der Lebendigkeit, die andere mit Bezug auf den Zustand des Todes – miteinander in Einklang zu bringen. Als naheliegender Schluß bietet sich an, die von der ursprünglicheren und geläufigeren Bedeutung so unvermittelt abweichende Verwendungsweise bei Homer auf das Konto von Interpolationen aus sehr viel späterer als der Entstehungszeit des eigentlichen Rahmengedichts zu schreiben. Und in der Tat deckt sich dies mit der innerhalb der Homerforschung mehrheitlich akzeptierten und mit ausgiebigerem Beweismaterial, als wir hier zitieren könnten, abgestützten Meinung. Da die fragliche Bedeutung von psyche hernach erst wieder bei Pindar auftaucht, dürfen wir ziemlich sicher davon ausgehen, daß die vom Hades und den in seinem Schatten weilenden Seelen handelnden Stellen zu irgendeinem Zeitpunkt im sechsten Jahrhundert nicht allzu lange vor der Blüte Pindars in die homerischen Epen interpoliert wurden. Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet: Woher dieses dramatisch veränderte Konzept von psyche, und auf welchem Weg hat es sich eingeführt? Wir wollen sofort klarstellen, daß hier einzig und allein von der Anwendung der alten Bezeichnung
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für Leben auf das, was nach dem Tod weiterlebt, und sein Für-sich-Sein gegenüber dem Körper die Rede ist. Der Tatbestand des Weiterlebens als solcher steht nach allem, was wir in vorausgegangenen Kapiteln erfahren haben, nicht in Frage. Nach der Theorie der bikameralen Psyche konnte die halluzinierte Erscheinung eines Menschen, der irgendeine Autoritätsposition genoß, dessen Tod überdauern: ein alltäglicher Vorgang. Daher rührt ja auch der nahezu universell verbreitete Brauch, die Toten mit Nahrung zu versorgen und ihnen Lebenszubehör mit ins Grab zu geben. Ich sehe mich nicht in der Lage, für die aufgeworfene Frage eine restlos zufriedenstellende Antwort anzubieten. Mit Sicherheit jedoch ist wenigstens ein Teil der Antwort im Einfluß jener sagenumwobenen Monumentalgestalt der Antike mit Namen Pythagoras zu suchen. Von Pythagoras, dessen Blütezeit in die Mitte des sechsten Jahrhunderts v. Chr. fällt, nimmt man an, daß er wie Solon verschiedene Länder Kleinasiens und vor allem Ägypten bereist habe. Danach gründete er in der griechischen Pflanzstadt Kroton in Unteritalien eine Art mystischer Geheimgesellschaft. Ihre Angehörigen verschrieben sich dem Studium der Mathematik, einer vegetarischen Lebensweise und einem unbeirrbaren Analphabetismus: Eine Sache aufzuschreiben galt bereits als der erste Schritt zu ihrer Verfälschung. Unter den Lehren dieser Gruppe oder jedenfalls dem, was uns davon aus dritter Hand von späteren Autoren überliefert ist, befand sich auch die von der Seelenwanderung. Nach dem Tod geht die Seele des Menschen in den Körper eines neugeborenen Kindes oder Tieres über und lebt solchermaßen ein neues Leben. Herodot ist bespöttelt worden für seinen Kommentar, Pythagoras habe diese Lehre in Ägypten aufgelesen. Akzeptiert man jedoch die Theorie der bikameralen Psyche, so hat man keine Schwierigkeiten, den Ursprung der Seelenwanderung in den Vorstellungen der Ägypter auszumachen. Nach meiner Meinung handelt es sich um eine griechische Fehlinterpretation der Funktionen des ba, der, wie wir im Zweiten Kapitel des
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Zweiten Buches gesehen haben, oftmals den Anschein einer leiblichen Materialisation des ka, das heißt der nach dem Tod halluzinierten Stimme, hat. Der ba wies häufig Vogelgestalt auf. Nun hatte aber das Griechische keine Wörter für ka (außer Gott – im gegebenen Zusammenhang eindeutig unpassend) und ba, ja überhaupt keine Bezeichnung für ein «Leben», das aus einem stofflichen Körper in einen anderen übergehen konnte. Also wurde psyche in diesen Dienst gepreßt. Alle Erwähnungen der pythagoreischen Lehre von der Seelenwanderung gebrauchen psyche in dieser neuen Bedeutung: als fürsich-seiende Entität, die von einem Körper in einen anderen überzuwechseln vermag, wie es in Ägypten den halluzinierten Stimmen gegeben war. Genaugenommen ist aber damit die aufgeworfene Frage nicht beantwortet. Denn was wir hier haben, sind ja keine kraftlosen abgeschiedenen Seelen, die klagend in einer Unterwelt umherschweifen und dampfendes Blut aufsaugen, um wieder zu Kräften zu kommen – wie es die ausdrucksstarke Episode schildert, die als Elfter Gesang nachträglich in die «Odyssee» interpoliert wurde. Aber immerhin gleichen sich pythagoreische und odysseische psyche insofern, als sie beide ein Etwas am Menschen sind, das sich beim Tod verselbständigt und vom Körper trennt. Bei der Auffassung von den psychai im Hades könnte es sich um eine Kombination der pythagoreischen Lehre mit der dem griechischen Altertum zugehörigen Auffassung von den Toten in ihren Gräbern handeln. Diese ganze eigenartige Entwicklung, die da im sechsten Jahrhundert v. Chr. stattfand, ist von äußerster Wichtigkeit für alle spätere Psychologie. Denn dieses Umbiegen der Bedeutung von psyche = Belebtheit zu psyche – Seele ging mit kompensatorischen Veränderungen in anderen lexikalischen Bereichen Hand in Hand, wie das infolge der enormen Kräftespannung, die innerhalb des Ausdrucksrepertoires einer gesprochenen Sprache herrscht, immer unvermeidlich ist. Das Wort soma hatte zuvor Leichnam oder Leblosigkeit bedeutet, strukturell-funktional also den Gegensatz zu psyche qua Belebtheit. Während aus psyche jetzt die Seele wird, bleibt die struktu-
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relle Relation erhalten, so daß soma die Bedeutung von Körper annimmt. Und damit ist der Leib-Seele-Dualismus, die vorgeblich separaten Daseinsformen von Geist und Körper, institutionalisiert. Aber damit ist die Sache nicht zu Ende. Bei Pindar, Heraklit und anderen Autoren um die Wende des sechsten zum fünften Jahrhundert v. Chr. beginnen psyche und nous ineinander überzugehen. Der Seelenraum des subjektiven Bewußtseins und sein Bewohner, das Selbst, bilden jetzt den Gegensatz zum stofflichen Körper. Kulte um diese staunenerregende Geschiedenheit von psyche und soma schießen wie Pilze aus dem Boden. Sie stimuliert die neue Bewußtheitserfahrung und dient zugleich als deren Erklärung, was wiederum darauf hinausläuft, diese Bewußtheitserfahrung in ihrer Existenz zu bekräftigen. Die ihrer selbst bewußte psyche findet sich im Körper eingekerkert wie in einem Grab. Sie wird zum Gegenstand blauäugiger Wortgefechte. Wo haust sie? Die einen weisen ihr diesen, die anderen jenen Ort im Körper oder außerhalb als Wohnsitz zu. Woraus besteht sie? Der eine sagt Wasser (Thales), der andere Blut, Luft (Anaximenes), Atem (Xenophanes), Feuer (Heraklit) oder was auch immer: jedenfalls ist zu sehen, daß die Wissenschaft der Psychologie ihre ältesten Wurzeln in einem Morast von Pseudoproblematik hat. Damit also hat der Leib-Seele-Dualismus, die zentrale Denkschwierigkeit in der gesamten Bewußtseinsproblematik, zu seiner langen gespenstischen Laufbahn durch die Geschichte angesetzt: Platon wird ihn demnächst fest am Ideenhimmel verankern, dann wird er in die Gnostik und die großen Religionen eingehen und auch vor der angemaßten Gewißheit eines Descartes nicht haltmachen, um schließlich die moderne Psychologie mit einem ihrer großen Scheinprobleme heimzusuchen. Dieses Kapitel ist lang und diffizil geraten. Das Resümee läßt sich am besten in einer Metapher geben. Eingangs stellten wir fest, daß die Archäologen, nachdem sie den Staub der Jahrhunderte von den Keramikscherben aus der Epoche der Dori-
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schen Wanderung gebürstet hatten, anhand des Wechselspiels von Kontinuität und Varianz ein Dependenzschema zwischen den einzelnen Fundstätten aufzustellen und damit zugleich ein kompliziertes Muster von Wanderungswellen dingfest zu machen vermochten. In gewissem Sinn haben wir im Lauf dieses Kapitels das gleiche im Sprachbereich getan. Wir haben die Bruchstücke aus dem Wortschatz der Zeit, die nach und nach zur Bezeichnung dieser oder jener Mentalfunktion dienten, aufgenommen und durch Vergleich ihrer von Text zu Text variierenden Bedeutungsfelder nachzuweisen versucht, daß in jener in historisches Dunkel gehüllten Zeit, die auf den Einfall der Dorer in Griechenland folgte, ein komplizierter Wandel der Mentalität stattfand. Man glaube nun aber ja nicht, es habe sich lediglich um einen Sprachwandel gehandelt. Sprachwandel ist Begriffswandel, und Begriffswandel ist Verhaltenswandel. Die gesamte Geschichte der Religionen, der Politik, ja sogar der Wissenschaft gibt lauthals Zeugnis davon. Ohne solche Wörter wie «Seele», «Freiheit» oder «Wahrheit» würde das Schauspiel der menschlichen Geschichte andere Rollen und andere Höhepunkte aufweisen. Und dies gilt nicht minder auch für jene Wörter, die wir als vorbewußte Hypostasen bezeichneten und die im Lauf jener wenigen Jahrhunderte durch Vermittlung des generativen Prozesses der Metaphernbildung zu dem einen Operator «Bewußtsein» zusammentreten. Hier endet meine Darstellung der Geschichte des griechischen Bewußtseins, soweit sie in diesem Buch vorzutragen war. Zu dem Thema ließe sich noch mehr ausführen, etwa wieso die zwei nicht-stimulusgebundenen Hypostasen die anderen überflügelten oder wieso nous und psyche von späteren Autoren, wie Parmenides und Demokritos, fast synonym gebraucht werden konnten und dann mit der Erfindung des logos sogar neuen metaphorischen Tiefsinn hinzugewannen; auch über die Formen des Wahren, Guten, Schönen wäre manches zu sagen. Doch das soll einer anderen Studie vorbehalten bleiben. Ungeachtet des Scheingebildes der Seele ist das subjektive
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Bewußtsein der Griechen aus Gesang und Dichtung geboren. Von diesem Ursprung aus geht es seinen eigenen historischen Weg: zu den narrativierenden Introspektionen eines Sokrates und den spatialisierten Klassifikationen und Analysen eines Aristoteles, um von hier aus in das hebräische, alexandrinische und römische Denken zu gelangen. Und von dort aus weiter in die Geschichte einer Welt, die seinethalben eine irreversible Wandlung erfuhr.
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SECHSTES KAPITEL Das moralische Bewußtsein der Habiru
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BEREICH, in dem wir die Entwicklung des Bewußtseins beobachten können, ist zweifellos der interessanteste und tiefgründigste. Überall im Mittleren Osten existierten gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. große, unzusammenhängende Massen halbnomadischen Volks ohne feste dira, das heißt Weideland. Bei Teilen davon handelte es sich um im Zuge der von Thera ausgehenden Katastrophe und der anschließenden Dorischen Wanderung entwurzelte Völkerschaften. Aus einer Keilschrifttafel wissen wir speziell von Wanderzügen, die sich von Nord nach Süd durch den ganzen Libanon wälzten. Die Eroberungsfeldzüge der Assyrer hatten ebenfalls Flüchtlinge geschaffen, und diese bildeten wahrscheinlich einen weiteren Teil jener Masse von Nichtseßhaften; hinzu kamen dann noch die Flüchtlinge aus dem Hethiterreich, als dieses unter dem Ansturm der vom Nordwesten her einfallenden Völker zusammenbrach. Und wieder ein anderer Teil mögen jene vereinzelten resistent bikameralen Städtebewohner gewesen sein, die sich schwer damit taten, die Götter zum Verstummen zu bringen, und die, sofern man sie nicht gleich umbrachte, mit fortschreitender Zeit immer unnachgiebiger ausgesondert und buchstäblich «in die Wüste geschickt» wurden. Ein Gemisch von Menschen unterschiedlichster Herkunft also, die sich unter Extrembedingungen vorübergehend zusammengewürfelt fanden, um alsbald wieder auseinanderzulaufen: die einen geradewegs in den Untergang, andere, um sich in unsicheren Stammesorganisationen zusammenzuschließen; manche veranstalteten Raubzüge in Siedlungsgebieten oder kämpften untereinander um die Wasserlöcher in der Wüste; zuweilen wurden sie wohl auch gejagt und gefangen wie ermattete Tiere und von ihren Jägern zu Sklaven gemacht, oder aber sie begaben sich in verzweifelter Hungersnot für Brot ER DRITTE GROSSE
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und Saatgut freiwillig in die Leibeigenschaft, wie es etwa auf einigen in Nuzi ausgegrabenen Tontafeln aus dem fünfzehnten Jahrhundert v. Chr. und übrigens auch in 1. Mose 47, 18-26 geschildert ist. Manche bemühten sich vielleicht noch immer um Gehorsam gegenüber einer ihrer Aufgabe nicht mehr gewachsenen bikameralen Stimme, manche werden aus Furcht vor der freien Wildnis als Schaf- und Kamelzüchter ihren Lebensraum in unmittelbarer Nähe der Siedlungsgebiete gesucht haben, während andere nach vergeblichem Bemühen, unter seßhafteren Menschen Fuß zu fassen, in die offenen Wüsten hinauszogen, wo nur die Härtesten und Skrupellosesten überlebten; und zogen auf diesem gefahrvollen Weg vielleicht irgendeiner halluzinierten Vision von einem Gott, einer neuen Stadt oder dem Gelobten Land «hinten-nach» (2. Mose 33, 23). In den bestehenden Stadtstaaten sah man in diesen Entwurzelten die Desperados der Wüstenei. Für die Stadtbewohner waren sie durch die Bank Räuber, Strauchdiebe und Vagabunden. Und in der Tat traf dies auch häufig zu: entweder auf einzelne obdachlose arme Luder, die nachts die Trauben von den Stöcken stahlen, die den Beerenlesern zu schlecht zum Pflücken gewesen waren, oder auf ganze Stämme, die Stadtrandsiedlungen überfielen, um das Vieh und die Ernten zu rauben (wie das nomadisierende Beduinen sogar heute noch manchmal tun). Im Akkadischen, der Sprache Babyloniens, lautet der Ausdruck für Vagabunden habiru, und so heißen diese Wüstenflüchtlinge auf den Keilschrifttafeln.1 Unter dem mouillierenden Einfluß der Wüstenluft werden aus den habiru die Hebräer. Die Geschichte oder besser: die imaginierte Geschichte der nachmaligen Habiru oder Hebräer ist in Schriften niedergelegt, die uns als das Alte Testament der Bibel überliefert sind. Die These, auf die wir uns mit diesem Kapitel verpflichten 1
Vieles des hier Gesagten findet der Leser breiter ausgeführt in Alfred Guillaumes «Bampton Lectures» Prophecy and Divination among the Hebrews and Other Semites, New York: Harper 1938. Guillaumes facettenreicher Darstellung hat das vorliegende Kapitel viel zu verdanken.
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wollen, besagt, daß diese herrliche Sammlung von Geschichten und Gedichten, Gelehrsamkeit und Beredsamkeit, Predigt und Poesie im groben Umriß nichts anderes darstellt als die Geschichte vom Verlust der bikameralen Psyche und ihrer Ersetzung durch die Subjektivität im Lauf des ersten Jahrtausends v. Chr. Damit sehen wir uns jedoch sofort einem textkritischen Problem von immenser Bedeutung gegenüber. Denn ein Großteil des Alten Testaments, darunter die für unsere These so wichtigen ersten Bücher, ist bekanntlich das Werk von Fälschern des siebenten, sechsten und fünften Jahrhunderts v. Chr.: eine brillante Webarbeit aus unzähligen an entlegensten Orten aus allen möglichen Zeiten zusammengelesenen bunten Fäden.2 Im 1. Buch Mose zum Beispiel wird im ersten und zweiten Kapitel jeweils eine andere Schöpfungsgeschichte erzählt; die Geschichte von der Sintflut ist eine monotheistische Überarbeitung alter sumerischer Inschriften;3 und die Geschichte Jakobs mag zwar durchaus in eine Zeit vor 1000 v. Chr. datieren, doch die unmittelbar daran anschließende seines vorgeblichen Sohnes Joseph ist um mindestens fünfhundert Jahre jüngeren Datums.4 Das alles hatte damit angefangen, daß nach König Josias Reform, die eine Säuberung und Reinigung des Tempels von allen Restbeständen bikameraler Riten einschloß, im Jahr 621 v. Chr. in Jerusalem die Handschrift des jetzigen 5. Buchs Mose aufgefunden wurde. Und gleich einem Nomaden, der unvermutet ein riesiges Vermögen erbt, schlüpfte die habirische Geschichte in diese Luxusgewänder, von denen ein Teil ihr nicht gerade auf den Leib geschneidert war, aber mit Hilfe von Abnähern, Gürteln und Spangen – sprich: einer hinzuerfundenen Vorgeschichte – wurden die Sachen dann gerafft und passend gemacht. Es stellt sich uns 2
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In den das Alte Testament betreffenden Fragen der Datierung sowie von Verfasserschaften und sonstigen exegetischen Gesichtspunkten stütze ich mich in diesem Kapitel auf verschiedene Standardwerke, in erster Linie jedoch auf die einschlägigen Artikel der Encyclopaedia Britannica. Heidel, a.a.O., S. 224 ff. Donald B. Redford, A Study of the Biblical Story of Joseph, Genesis 37-50, Leiden: Brill 1970. Die ursprüngliche Quelle könnte eine Profanerzählung aus Mesopotamien über Wahrsagerei gewesen sein.
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also die Frage, ob derart buntscheckige und gebosselte Materialien als Beleg für eine Theorie von der Psyche – gleich welcher Art – überhaupt in Frage kommen. Vergleich zwischen dem Buch Amos und dem Frediger Salomo Zuallererst möchte ich auf jene Skepsis antworten. Wie erwähnt, sind die Bücher des Alten Testaments zum größten Teil aus Elementen zusammengewirkt, die aus unterschiedlichsten Quellen aus entlegensten Zeiten geschöpft wurden. Einige Bücher jedoch gelten als unverfälscht in dem Sinn, daß sie keine Kompilationen, sondern praktisch vollständig Originalwerke aus einem Guß und eben das sind, was zu sein sie vorgeben: und diese Bücher lassen sich überaus präzise datieren. Beschränken wir uns also für den Augenblick auf diesen Bereich und vergleichen wir hier das älteste mit dem jüngsten Buch, dann wird uns diese Gegenüberstellung ein einigermaßen echtes und, gleichgültig wie es ausfällt, zuverlässiges Ergebnis liefern. Das älteste der unverfälschten Bücher ist das Buch Amos (8. Jahrhundert v. Chr.), das jüngste der Prediger Salomo (2. Jahrhundert v. Chr.). Beide sind nicht sonderlich umfangreich, und es wäre zu hoffen, daß der Leser, bevor er in meinem Text fortfährt, sich jetzt zuerst diese zwei biblischen Bücher vornimmt, um sich aus eigener Anschauung einen Eindruck von dem Unterschied zwischen einem noch nahezu bikameralen Menschen und einem Menschen mit subjektivem Bewußtsein zu verschaffen. Denn der Augenschein deckt sich verblüffend genau mit unserer Hypothese. Das Buch Amos ist fast noch unverfälschte bikamerale Rede, von einem analphabetischen Wüstenhirten vernommen und einem Schreiber zur Niederschrift diktiert. Beim Prediger Salomo dagegen ist höchst selten von Gott die Rede, ganz zu schweigen davon, daß der gebildete Autor jemals Gottes höchsteigene Stimme vernähme. Und es gibt sogar Alttestamentier genug, die meinen, jene spärlichen Erwähnungen Gottes seien nachträglich in das Buch vom Prediger interpoliert worden, um dieses großartige Werk so mit dem Entreebillet für die Auf-
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nahme unter die kanonischen Schriften auszustatten. Wörter wie «Seele», «denken», «glauben», «verstehen» oder auch nur im entferntesten mit diesen verwandte Wörter gibt es im Buch Amos nicht. Amos erwägt niemals etwas in seinem Herzen: Dazu ist er nicht in der Lage, mehr noch: Er wüßte einfach nicht zu sagen, was das überhaupt ist. In den wenigen Fällen, wo er von sich selber spricht, tut er das kurz angebunden und sachlich ohne Ausschmückung; er ist kein Prophet, sondern nur «ein Hirt, der Maulbeeren abliest» (7, 14). Er denkt nicht bewußt über etwas nach, bevor er spricht; ja, er denkt überhaupt nicht in dem Sinn, den wir mit dem Wort verbinden: Sein Denken wird anderwärts für ihn erledigt. Er spürt, daß seine bikamerale Stimme sich zum Sprechen rüstet, gebietet den Anwesenden mit einem «So spricht der Herr» Schweigen und läßt eine zornige Tirade folgen, die er vielleicht selbst nicht recht versteht. Der Prediger ist in allem das genaue Gegenteil. So tief und innig wie nur möglich erwägt er die Dinge in den Paraphoranden seines hypostatischen Herzens. Wer anders als ein höchst subjektiver Mensch vermöchte zu sagen: «Eitelkeit der Eitelkeiten, und alles ist Eitelkeit» (1, 2.), oder zu sagen, er sehe, daß die Weisheit die Torheit übertrifft (2, 13). Man braucht ein Analogon «Ich», das einen Seelenraum überblickt, um so sehen zu können. Und in den berühmten Versen des 3. Kapitels: «Alles hat seine Zeit, und alles unter dem Himmel geht vorüber nach seiner Zeit ...» haben wir exakt die bewußtseinstypische Spatialisierung der Zeit, ihre lineare Projektion in den inneren Raum vor uns. Der Prediger denkt, überlegt und vergleicht in einem fort eins mit dem andern und verfertigt dabei hinreißende Metaphern. Amos betätigt sich gelegentlich als Zeichendeuter, der Prediger hingegen nie. Amos ist von leidenschaftlicher Rechtschaffenheit und unbeugsamer Überzeugungsfestigkeit – ein erhabener Grobian, der mit der unbewußten Eloquenz eines Achilleus oder Hammurabi ein Donnergepolter von Gottesworten losläßt. Der Prediger Salomo wäre ein ausgezeichneter Gesellschafter für einen soignierten Plausch am Kaminfeuer: Kultiviert und warmherzig, teilnahmsvoll und zugleich diskret, mit einem Sinn für das
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Leben als Ganzes, der für Amos unerreichbar gewesen wäre. Hier haben wir also die Extrempositionen im Alten Testament vor uns. Ähnliche Gegenüberstellungen ließen sich noch mit anderen frühen und späten Büchern oder mit frühen und späten Textpassagen ein und desselben Buches vornehmen, und immer wieder käme das gleiche Verhältnismuster heraus, für das sich außerhalb der Theorie der bikameralen Psyche kaum eine Erklärung findet. Einige Anmerkungen zum Pentateuch Zumal die wunderbaren Geschichten der fünf Bücher Mose sind uns durch Gewöhnung so vertraut, daß es uns fast unmöglich ist, sie mit unbefangenem Blick als das zu sehen, was sie sind. Ja, schon der Versuch mutet uns, unabhängig von unserer religiösen Einstellung, wenn nicht wie ein Sakrileg, so doch als Respektlosigkeit gegenüber dem tiefsten Sinnerleben anderer an. Respektlos zu sein liegt bestimmt nicht in meiner Absicht, aber andererseits können wir nur durch eine Lektüre ohne Andacht und Gefühl das volle Ausmaß des psychischen Ringens ermessen, das sich im Anschluß an den Zusammenbruch der bikameralen Psyche einstellte. Was war der Grund, diese Bücher zu kompilieren? Als allererstes gilt es zu begreifen, daß seinerzeit nichts anderes dazu bewog, das vorhandene Deuteronomium (das ist: das 5. Buch Mose) an eine hinzukonstruierte Vorgeschichte anzubinden, als die quälende Sehnsucht eines subjektiv bewußten Volkes nach der verlorenen Bikameralität: Nichts anderes ist Religion. Und ausgeführt wurde die Sache zu eben der Zeit, als sich zumal Jahwe nicht mehr sonderlich häufig und deutlich vernehmen ließ. Aus welchen Quellen sie auch immer stammen mögen – in den Geschichten, so wie sie letztlich gefaßt und arrangiert wurden, spiegeln sich menschliche Seelenlagen des neunten bis fünften Jahrhunderts v. Chr., also der Ära des beschleunigten Dahinschwindens von Bikameralität. Die elohim. – Die nächste Anmerkung betrifft jenes höchstwichtige Wort, um das der gesamte Text von Genesis 1 (das ist:
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das 1. Kapitel im 1. Buch Mose) sich dreht: «elohim». Gemeinhin wird es fälschlich mit dem Singular Gott übersetzt. Elohim ist jedoch eine Pluralform, die als Kollektivum gebraucht wird und entsprechend die Singularform des Verbs regieren kann oder aber als regulärer Plural den Plural des Verbs regiert. Das Wort leitet sich von einer Wurzel her, die «mächtig sein» bedeutet, und am besten wäre es wohl mit «die Großen», «die Mächtigen», «die Erhabenen», «die Majestäten», «die Richter» oder ähnlichem zu übersetzen. Vom Standpunkt der hier vertretenen Theorie ist ohne weiteres ersichtlich, daß elohim der Allgemeinbegriff zur Bezeichnung der Stimmvisionen der bikameralen Psyche ist. Die Schöpfungsgeschichte, wie sie in Genesis 1 erzählt wird, ist mithin eine im Übergang zur Subjektivität getroffene Rationalisierung der bikameralen Stimmen. «Im Anfang schufen die Stimmen Himmel und Erde.» So gefaßt, wird daraus ein mythischer Archetyp, der in allen bikameralen Kulturen der Antike gleichursprünglich zu Hause ist. Der Seiende. – Zu dem speziellen historischen Zeitpunkt, der mit der Geschichtsdarstellung in der Fassung des Pentateuch (der fünf Bücher Mose) korreliert, sind nur noch einige wenige elohim übrig – im Gegensatz zu früher, als es wahrscheinlich Mengen von ihnen gab. Der bedeutendste unter ihnen wird als Jahwe identifiziert, was unterschiedliche Übersetzungen zuläßt; die gebräuchlichste ist «der Seiende».5 Als das subjektive Zeitalter der Propheten heraufzog, folgte offenbar eine 5
Die im Buch Exodus (3, 14) gegebene Deutung des Namens Jahwe als «Ich bin, der ich bin» halten die meisten Fachgelehrten für Volksetymologie – so als würde heute jemand behaupten, der Name Manhattan leite sich von einem Mann auf der Halbinsel ab, der einen Hut auf dem Kopf trug: «man-hat-on». Ernster zu nehmen sind wissenschaftliche Versuche, den Namen auf ein Epitheton zurückzuführen, das soviel wie «der Niederschmetterer» bedeutete. Die meisten Belege, einschließlich der Septuaginta und der lateinischen Vulgata, stimmen jedoch eher mit einer Deutung im Sinn von «der Seiende» zusammen. Vgl. William Gesenius, Hebrew and English Lexicon of the Old Testament, übs. von E. Robinson, hg. von R Brown, Oxford: Clarendon Press 1952, S. 218. Ich bitte um Nachsicht für die formale Inkonsequenz, die darin liegt, daß der Name Jahwe im Text in übersetzter Form erscheint, während andere Ausdrücke, wie elohim oder nabi, in Hebräisch belassen wurden. Mir ging es dabei um eine für das Verständnis meines Hauptpunktes wesentliche Defamiliarisierung.
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bestimmte Gruppe unter den Habiru nur mehr der Stimme des Seienden und überarbeitete die alte Schöpfungsgeschichte von den elohim in sehr viel gefühlswärmerem und menschlicherem Ton, wobei der Seiende zum einzigen wahrhaften eloha avancierte: und das ist dann die Schöpfungsgeschichte gemäß Genesis 2, 4 ff. Die beiden Geschichten werden alsdann mit anderen Elementen aus anderen Quellen zu den biblischen Büchern Mose verwebt. In sämtlichen älteren Partien des Alten Testaments tauchen gelegentlich noch andere elohim außer Jahwe auf. Der wichtigste von ihnen ist Baal oder ba’l, was soviel wie «Eigentümer» bedeutet. Im Kanaan damaliger Zeit gab es viele «Eigentümer»: Jede Ansiedlung hatte ihren eigenen Baal, so wie noch heute viele katholische Gemeinden jeweils ihre eigene Jungfrau Maria haben, die gleichwohl alle ein und dieselbe sind. Das verlorene Paradies. – Eine weitere Anmerkung betrifft die Geschichte vom Sündenfall und die Möglichkeit, sie als einen Mythos vom Zusammenbruch der bikameralen Psyche zu verstehen. Arum, das hebräische Wort für «verschlagen» und «hinterlistig» – und mit Sicherheit ein subjektiv-bewußten Geschichtszeiten zuzurechnender Ausdruck –, wird im gesamten Alten Testament nicht mehr als drei- oder viermal gebraucht. In der Sündenfallgeschichte dient es dazu, die Urheberin der Versuchung zu charakterisieren. Die Fähigkeit zu Verstellung, Täuschung und Betrug ist, wie wir uns erinnern, ein Kennzeichen des Bewußtseins. Die Schlange verspricht: ihr «werdet sein wie die elohim und wissen, was gut und böse ist» (1. Mose 3,5) – eine Eigenschaft, deren nur Menschen mit subjektivem Bewußtsein teilhaftig werden können. Und als die ersten Menschen dann vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, «da wurden ihrer beider Augen aufgetan» – nämlich ihre Analog-Augen in ihrem metaphorischen Innerlichkeitsraum –, «und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren» (1. Mose 3, 7), das heißt, sie hatten autoskopische Visionen: Narrativierend sahen sie sich selbst, wie ein anderer einen
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sieht.6 Und also wird ihre Beschwer «vervielfältigt» (1. Mose 3, 16), und sie werden aus dem Garten verstoßen, wo man den Seienden sehen und mit ihm sprechen konnte, als sei er ein Mitmensch. Als eine Narrativierung des Zusammenbruchs der bikameralen Psyche und der Heraufkunft des Bewußtseins empfiehlt sich die Sündenfallgeschichte zum entmythologisierenden kontrastiven Vergleich mit der «Odyssee», so wie wir diese im vorigen Kapitel dargelegt haben. Die Problematik ist freilich hier wie dort die gleiche, und hier wie dort sollten wir die gleiche Ehrfurcht verspüren, wenn wir an das anonyme Zustandekommen dieser Geschichten denken. Die nebi’im. – Das hebräische Wort nabi7, das in irreführender Weise mit einer Lehnbezeichnung aus dem Griechischen als «Prophet» eingedeutscht wurde, führt eine überaus aufschlußreiche Verständnisschwierigkeit mit sich. Prophezeien im neuzeitlichen Sinn heißt «die Zukunft voraussagen», aber das ist ganz und gar nicht, was mit dem Verb naba gemeint ist, welches eben die Tätigkeit bezeichnet, deren Ausübende die nebi’im (Plural des Singulars nabi) waren. Diese Ausdrücke gehören zu einer Wortfamilie, deren Semantik mit «Zeit» nichts zu tun hat, sondern mit «fließen» und «aufleuchten». Wir können uns also einen nabi als jemanden vorstellen, der, metaphorisch gesprochen, von Worten und Visionen überfloß oder -sprudelte. Sie waren Menschen in einer Übergangsphase, halb subjektiv und halb noch bikameral. Und sobald der Anruf kam und der leuchtende Strom entfesselt war, mußte der nabi sich seiner bikameralen Botschaft entledigen, mochte er sich auch noch so unvorbereitet (Amos 7, 14 f) oder unwürdig fühlen (2.
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Höchst aufschlußreich ist es, in diesem Zusammenhang Maimonides’ Führer der Unschlüssigen (Moreh newuchim, dt. Ausg. in 3 Bdn., Leipzig 1923 f) zu lesen. Transliterationen aus dem Hebräischen haben immer etwas Mißliches. Im vorliegenden Fall ließen sich vielleicht bessere Argumente für die Form nbi oder nvi vorbringen. Daß die Bedeutung des Worts schon zur fraglichen Zeit schwankend war, scheint aus 1. Samuel 9, 9 hervorzugehen. Vgl. auch John L. McKenzie, A Theology of the Old Testament, New York: Doubleday 1974, S. 85.
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Mose 3, 11; Jesaja 6; Jeremia 1, 6) oder zuzeiten seinen eigenen Sinnen nicht trauen (Jeremia 20, 7-10). Wie fühlte sich ein nabi, wenn einer seiner bikameralen Anfälle einsetzte? So als habe er ein Stück glühende Kohle im Mund (Jesaja 6, 6f) oder als sei ein verzehrendes Feuer in seinen Gebeinen eingeschlossen (Jeremia 20, 9), nicht auszuhalten und nur durch das Hervorquellen des göttlichen Wortes zum Verlöschen zu bringen. Die Geschichte der nebi’im läßt sich auf zweierlei Weise wiedergeben. Einmal von außen, indem man den Entwicklungsgang von ihrem Aufkommen und der Anerkennung ihrer Führerrolle bis hin zu ihrer Abschlachtung und totalen Ausmerzung ungefähr im vierten Jahrhundert v. Chr. nachzeichnet. Zum Beleg der hier vertretenen Theorie ist es jedoch aufschlußreicher, die Sache aus der Binnenperspektive zu behandeln, das heißt die Wandlungen im bikameralen Erleben selbst zu untersuchen. Diese Wandlungen bestehen in: schrittweisem Dahinschwinden der visuellen Komponente; zunehmender Widersprüchlichkeit unter den Stimmen verschiedener Personen; sich häufenden Widersprüchen der Stimme ein und derselben Person – bis schließlich die Stimmen der elohim ganz von der historischen Bildfläche verschwinden. Im folgenden werde ich der Reihe nach auf die erwähnten Faktoren eingehen. Dahinschwinden der visuellen Komponente In ungemindert bikameraler Zeit schloß die Stimmhalluzination in der Regel auch eine visuelle Komponente mit ein, die entweder ihrerseits eine Halluzination oder aber ein Standbild im Wahrnehmungsbereich des Hörenden war. Art und Verbreitung der visuellen Komponente waren zweifellos von Kultur zu Kultur verschieden, wie aus dem Umstand zu erschließen ist, daß in manchen Kulturen halluzinogene Bildwerke anzutreffen sind, in anderen dagegen nicht. Nicht zuletzt, weil er aus zeitlich so weit auseinanderliegenden Quellen gearbeitet ist, überrascht es am Pentateuch, daß
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er Schritt für Schritt in konsequenter Folge das Schwinden der visuellen Komponente beschreibt. Im Anfang ist der Seiende ein sichtbares und körperliches Dasein – ein Duplikat seiner Schöpfung. Er wandelt im Garten bei der Kühle nach Mittag und unterhält sich mit Adam, seiner jüngsten Kreatur. Wenn Kain und Abel ihre Opfer bringen, ist er sichtbarlich zugegen, er verschließt eigenhändig die Tür der Arche Noah, er redet mit Abraham zu Sichern, zu Bethel und zu Hebron, und er rauft mit Jakob eine ganze Nacht lang wie ein Schläger. Zur Zeit von Mose präsentiert sich die visuelle Komponente dann schon ganz anders. Nur ein einziges Mal redet der Seiende mit Mose «von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet» (2. Mose 33, 11). Ein andermal kommt es zu einer Massenhalluzination, bei der Mose, Aaron, Nadab, Abihu und siebzig von den Ältesten Israels den Seienden in der Ferne auf einem saphirnen Untergrund stehen sehen (2. Mose 24, 9f). Ansonsten gestalten sich die halluzinierten Begegnungen weniger persönlich-vertraulich. Visuell zeigt sich der Seiende als brennender Dornbusch, als finstere Wolke oder als gewaltige Feuersäule. Und je weiter sich die visuelle Komponente des bikameralen Erlebnisses in dichte Finsternis zurückzieht, um mit Blitz und Donnerwetter und sturmgepeitschten schwarzen Wolkenungetümen die unerreichbar fernen Gipfel des Sinai zu umlagern, desto klarer tritt uns die zentrale Botschaft des gesamten Alten Testaments vor Augen, die besagt: Indem dieser Letzte der elohim seine halluzinatorischen Qualitäten ablegt und nicht länger die Form einer für andere unzugänglichen Stimme im Nervensystem einiger weniger semi-bikameraler Menschen behält, sondern zur Schrift auf steinernen Tafeln wird, verwandelt er sich in Gesetz und Recht – in etwas Unwandelbares und allen Zugängliches, etwas für alle Menschen – ob König oder Viehhirt – gleichermaßen Verbindliches, etwas Universelles und Transzendentes. Mose selbst reagiert auf das Verschwinden der visuellen Qualität, indem er sein Angesicht vor einem vermeinten übermächtigen Strahlenglanz verhüllt. Bei anderer Gelegen-
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heit rationalisiert Moses bikamerale Stimme selbst den Verlust der visuellen halluzinatorischen Komponente, indem sie zu Mose sagt: «... kein Mensch wird leben, der mich sieht ... Wenn denn nun meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in der Felskluft lassen stehen und meine Hand ob dir halten, bis ich vorübergehe. Und wenn ich meine Hand von dir tue, wirst du mir hintennach sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen» (2. Mose 33, 20-23). Im gleichen Zusammenhang steht auch die Schaffung eines (Bundeslade genannten) Schreins für eine Anzahl beschriebener Tafeln als Ersatz für halluzinogene Bildwerke der herkömmlicheren Art, wie etwa das Goldene Kalb. Während einerseits der Untergang der bikameralen Stimmen eingesetzt hat, rückt andererseits die Schrift zu überwältigender Bedeutung auf. Was jetzt mitgeteilt werden muß, wird schweigend mitgeteilt, indem es in Stein gemeißelt und vom Rezipienten visuell aufgenommen wird. Nach der Periode, von der der Pentateuch handelt, ist die bikamerale Stimme weiter auf dem Rückmarsch. Wenn der Verfasser des 5. Buchs Mose erklärt: «Und es stand hinfort kein nabi in Israel auf wie Mose, den der Herr erkannt hätte von Angesicht zu Angesicht» (34, 10), so zeigt dies das Verschwinden der bikameralen Psyche an. Die Stimmen sind jetzt weniger oft zu hören, und die Wechselreden hören auf. Josua spricht weniger mit seiner Stimme, als daß er Gebote von ihr zudiktiert erhält; und als einer, der halbwegs zwischen Bikameralität und Subjektivität steht, muß er auch schon mal zum Los-Orakel greifen, um eine Entscheidung treffen zu können. Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Personen Eine strikt hierarchische Gliederung, eine fest etablierte Grenzgeographie, Zikkurat, Tempel und Plastiken, dazu die allgemeinen Erziehungsbedingungen – alles zusammen wirkte in den Gesellschaften der rein bikameralen Epoche darauf hin,
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eine unverrückbare Rangordnung zwischen den bikameralen Stimmen der einzelnen Individuen zu stiften. Wessen bikamerale Stimme in diesem oder jenem Fall das Richtige gesagt hatte, war aufgrund dieser Rangordnung ohne weiteres entschieden; die Erkennungssignale, nach denen die Götterstimmen zu identifizieren waren, waren jedermann bekannt, und die Vertrautheit mit ihnen noch weiter einzuschärfen, zählte mit zu den Aufgaben der Priesterschaft. Aber sobald der Verfall der Bikameralität eingesetzt hat, und insbesondere sobald ein vordem bikamerales Volk nomadisch wird – wie im Fall der Kinder Israel nach dem Auszug aus Ägypten –, lassen sich die Stimmen je verschiedenen Menschen gegenüber je verschieden vernehmen, und die Autoritätsfrage wird zu einem erheblichen Problem. Etwas dergleichen könnte der Tatsachenhintergrund für jene Stelle im Buch Numeri (das ist das 4. Buch Mose) sein, wo Mirjam, Aaron und Mose alle zusammen die Stimme des Seienden gehört haben, aber sich nicht darauf einigen können, wer von ihnen die echte Stimme gehört hat (4. Mose 12, 1-2). In späteren Büchern des Alten Testaments tritt dieses Problem noch viel schärfer hervor, und zwar vor allen Dingen in der Konkurrenz zwischen den noch verbliebenen bikameralen Stimmen. Joas hört eine bikamerale Stimme, in der er die des Eigentümers erkennt, und so errichtet er dem Eigentümer (Baal) einen Altar; doch sein Sohn Gideon hört eine Stimme, in der er die des Seienden erkennt, und sie heißt ihn seines Vaters Baal-Altar niederreißen und statt dessen ihm, dem Seienden, einen Altar errichten (Buch der Richter 6, 25 f). Derlei Eifersüchteleien unter den übriggebliebenen elohim sind die unmittelbare und unvermeidliche Folge der sozialen Desorganisation. Derartige Unstimmigkeiten zwischen bikameralen Stimmen, wie sie in der durch schwache Organisationsgrade gekennzeichneten Zusammenbruchsperiode auftreten, begründen die wichtige Rolle von Zeichen und Wundern als Beweismitteln für die Echtheit beziehungsweise Vorrangigkeit dieser oder jener Stimme. So sieht sich Mose in einem fort genötigt, mittels
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Zauberkräften seine Berufung unter Beweis zu stellen. Solche Zeichen und Wunder haben nicht nur das ganze erste Jahrtausend v. Chr., sondern sogar bis in unsere Gegenwart hinein überdauert. Was heute zum Nachweis der Heiligkeit an Wundern verlangt wird, ist vom gleichen Schlag wie Moses halluzinatorische Verwandlungen seines Stabs in eine Schlange und wieder zurück oder seiner gesunden in eine aussätzige Hand und wieder zurück (2. Mose 4, 1-7). Das Vergnügen, das wir auch heute noch beim Anblick von Zaubertricks und Taschenspielerkünsten empfinden, ist zu einem gewissen Teil vielleicht ein Abkömmling jenes archaischen Verlangens nach übernatürlicher Beglaubigung: Vielleicht genießen wir dabei in irgendeinem Winkel unseres Selbst den Schauer, in dem Zauberer oder Illusionisten eine mögliche bikamerale Autorität zu erkennen. Aber wenn die Zeichen ausbleiben, was dann? Im siebten Jahrhundert v. Chr. ist dies das Problem zumal von Jeremia, dem analphabetischen Bußprediger gegen Israels Bosheit und Verderbtheit. Obschon er das Zeichen erfahren hat, daß die Hand des Seienden auf ihm ruht (1, 9; 25, 17), und obschon er beständig das Wort des Seienden hört, das wie ein Feuer in seinem Herzen ist (20, 9), und obschon er gesandt wurde (11, 6 und öfter), ist er sich dennoch seiner Sache nicht ganz sicher: wer hört die richtige Stimme? «Du bist mir worden wie ein Born, der nicht mehr quellen will», kontert Jeremia seine bikamerale Stimme (15, 18). Doch in diesem Fall kann sie überlegen parieren. Was immer Jeremias rationales Bewußtsein an Widerständen aufgebaut haben mag, wird niedergewalzt, und er erhält den Befehl, allen anderen Stimmen öffentlich entgegenzutreten. Ein besonders prägnantes Beispiel ist das 28. Kapitel mit dem ein bißchen komisch wirkenden Wettstreit zwischen Hananja und Jeremia, wer von beiden denn nun die wahre Stimme höre. Und erst Hananjas zwei Monate später eintretender Tod liefert das Zeichen, das den Überlebenden beglaubigt. Wäre statt seiner Jeremia gestorben, hätten wir jetzt wahrscheinlich im Alten Testament ein Buch Hananja anstelle des Buches seines siegreichen Konkurrenten.
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Widersprüche in ein und derselben Person Nach Wegfall der Sozialhierarchie, die für stabile Verhältnisse und zuverlässige Orientierung sorgt, geraten die bikameralen Stimmen nicht nur von Person zu Person, sondern auch innerhalb ein und derselben Person in Widersprüche. Besonders im Pentateuch zeigt sich die bikamerale Stimme häufig von der gleichen Starrsinnigkeit und aufbrausenden Launenhaftigkeit wie ein in die Enge getriebener menschlicher Tyrann: «Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wes ich mich erbarme, des erbarme ich mich» (2. Mose 33, 19). Von Tugendhaftigkeit oder Gerechtigkeit ist keine Rede. So findet der Seiende Gefallen an Abel, doch nicht an Kain; er tötet Ger, den Erstgeborenen Judas, weil er ihm unsympathisch ist; und erst heißt er Abraham einen Sohn zeugen, später jedoch trägt er ihm auf, diesen Sohn umzubringen: Das alles erinnert fatal an die Unberechenbarkeiten und Affekthandlungen von delinquenten Psychotikern unserer Tage. Ganz ähnlich der Fall in 2. Mose 4, 24, wo Moses bikamerale Stimme möglicherweise den jähen Impuls verrät, ihn umzubringen – ohne den geringsten Grund. Die gleiche Inkonsequenz zeigt das Beispiel des nichtjüdischen Propheten Bileam. Seine bikamerale Stimme untersagt ihm zuerst, mit den Fürsten der Moabiter zu ziehen (4. Mose 22, 12), kurz darauf jedoch gibt sie ihm den gegenteiligen Auftrag (22, 20). Und als Bileam gehorcht, ergrimmt sie in Zorn. Eine Gesichts-Gehörshalluzination, willens, den Propheten zu «erwürgen», tritt Bileam in den Weg, aber auch sie ändert schließlich ihren Auftrag ins Gegenteil um (22, 35). In die Kategorie der Selbstanklage gehört auch die selbstquälerische Stimme des nabi mit dem aschebestreuten Gesicht, der Vorbeigehende auffordert, ihn zu schlagen, weil seine Stimme es ihm so befiehlt (1. Könige 20, 35-38). Und gleicherweise der «nabi aus Juda», dessen bikamerale Stimme ihn den Ort verlassen heißt, um ihn dem Hungertod auszusetzen (1. Könige 13, 9-17). Alle diese widerspruchsvollen Stimmen ähneln stark den Stimmen der Schizophrenen, die wir im Vierten Kapitel des Ersten Buches kennengelernt haben.
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Götter als Wahrsager Daß Angelegenheiten durch das Los – vermutlich das Werfen von Würfeln, Knochen oder Bohnen – entschieden wurden, liest man an vielen Stellen des Alten Testaments. Wie wir im Vierten Kapitel des Zweiten Buches gesehen haben, bedeutet das Losewerfen im Prinzip, sich ein Analogon der Gottfunktion zu schaffen. Das Los (hebräisch goral) wird auf metaphorischem Weg zum Wort Gottes, das über Stammeseinteilungen oder die Teilung von Grund und Boden entscheidet, sagt, was zu tun oder wer zu vernichten ist, und das dabei die Rolle der älteren bikameralen Autoritätsinstanz übernimmt. Wie schon erwähnt, erleichtert es die richtige Einschätzung des autoritativen Ranges solcher Praktiken, wenn man sich klarmacht, daß bis weit ins subjektive Zeitalter hinein keinerlei Konzept des Zufalls existierte. Sehr viel interessanter als die Los-Orakel indes sind für uns im Alten Testament die Fälle von spontaner Divination aus unmittelbaren Sinneserlebnissen – jene Orakelform, die nur noch einen Entwicklungsschritt vom subjektiven Bewußtsein entfernt ist. Interessant ist sie, weil im gegebenen Zusammenhang die spontane Divination nicht von der menschlichen Seite der bikameralen Psyche, sondern von den bikameralen Stimmen selbst ausgeht. Auf andere Weise zeigt sich auch hierin wieder die Ungewißheit der bikameralen Stimmen, wenn sie jetzt wie die Menschen zur Divination greifen und einer Art Initialzündung, einer Vorgabe oder Anregung bedürfen, um zu einer Entscheidung zu kommen. Im neunten Jahrhundert v. Chr. weissagt die Stimme eines der nebi’im vor Ahab aus einem Paar eiserner Hörner durch Metaphorisierung, wie eine feindliche Armee zu schlagen sei (1. Könige 22, 11). Aus den Dingen, auf die zufällig sein Blick fällt, leitet Jeremias bikamerale Stimme zu wiederholten Malen ab, was er predigen solle. Sieht er einen siedenden Topf im blasenden Wind von Norden her, so macht der Seiende daraus das metaphorische Bild eines von Norden hereinbrechenden Unglücks, das alles, was auf seinem Weg liegt, auf-
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zehrt wie ein Feuer vor dem Wind (Jeremia 1, 13-15). Sieht er zwei Feigenkörbe, der eine voll guter, der andre voll schlechter Feigen, so läßt seine rechte Hemisphäre den Seienden über die unterschiedliche Behandlung guter und schlechter Menschen sprechen (Jeremia 24, 1-10). Und erblickt Amos einen Maurer, der das Lot an sein Mauerwerk hält, so halluziniert seine Psyche statt des Maurers den Seienden auf der Mauer, der dann den Vorgang metaphorisch umdeutet zu einem Richten der Menschen nach ihrer Rechtschaffenheit (Amos 7, 8). Zumal in den spontanen Divinationen der Götter (deren Weissagung ja stets eine spontane ist) kommt es häufiger vor, daß Wortspiele den Analogie-«Keim» bilden. Ein Beispiel dafür ist Amos (8, 1 f), der einen Korb mit reifendem Obst betrachtet, woraufhin seine bikamerale Stimme kalauernd von qajits (Obst) zu qets (Ende) überleitet und über das Ende des Volks Israel zu reden beginnt. Ein anderes Beispiel: Jeremia sieht einen Mandelbaumzweig (šaqed), und seine bikamerale Stimme macht daraus, die Klangähnlichkeit der beiden hebräischen Wörter nutzend, die Versicherung, daß sie über ihn wachen (šaqad) werde (Jeremia 1, 11 f). Das 1. Buch Samuel Das 1. Buch Samuel ist gewissermaßen ein Musterkatalog, in dem all diese Dinge in informativer Übersichtlichkeit versammelt sind: Die Lektüre vermittelt eine Anschauung davon, wie es in dieser halb bikameralen, halb subjektiven Welt des zum Bewußtseinszustand überwechselnden ersten Jahrtausends v. Chr. zugegangen sein muß. Im Handlungsabriß dieses faszinierenden Dramas, das man als die älteste Tragödie der geschriebenen Literatur bezeichnen könnte, enthüllt sich nahezu das gesamte Formenspektrum der Übergangsmentalität. Die Bikameralität im Niedergang verkörpern die wilden Haufen der nebi’im, die ausgesiebte bikamerale Spreu der Habiru, wie eingangs dieses Kapitels geschildert: Draußen vor den Stadtmauern durchstreifen sie das Hügelland und geben den Stim-
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men Laut, die sie in ihrem Inneren hören, die ihrer eigenen Meinung nach jedoch von außen kommen; sie stehen den Stimmen Rede und Antwort, mit Musik und Trommelklängen steigern sie sich in Ekstase. Teilweise bikameral ist der Knabe Samuel: Eine Stimme reißt ihn aus dem Schlaf, von der ihm gesagt wird, daß es die des Seienden ist; im kritischen Alter wird er von dem alten Priester Eli unterstützt und in die bikamerale Existenz eingewiesen, bis schließlich «ganz Israel von Dan bis Beer-Seba» ihn als das Medium des Seienden anerkennt. Aber auch ein Samuel muß sich mitunter zur Divination aus objektiven Zeichen herablassen, so zum Beispiel, wenn er aus seinem zerrissenen Gewand weissagt (15, 27-29). Ihm in der Bikameralität am nächsten steht David, den Samuel in bikameraler Manier aus den Söhnen Isais erwählt. Davids Bikameralität reicht gerade noch so weit, daß ihm ein paar knappe Anrufe des Seienden («Gehe hin!», «Auf, ziehe hinab!») zuteil werden. Subjektives Bewußtsein zeigt sich in seiner Fähigkeit, den König Achis durch Verstellung hinters Licht zu führen (21, 13). Als nächster kommt Jonathan, einerseits subjektiv genug, um seinen Vater täuschen zu können, andererseits auf Kledonomantik – die Deutung eines Anrufs als Omen – angewiesen, wenn es um eine militärische Entscheidung geht (14, 8-13). Daß zur fraglichen Zeit allgemein Idole in Gebrauch waren, geht aus der beiläufigen Erwähnung eines «Bildes» offenbar von menschlicher Gestalt hervor, das ins Bett gelegt wird und dort, mit Ziegenfell drapiert, die Gestalt Davids simulieren soll (19, 13). Das anscheinend für selbstverständlich gehaltene Vorhandensein eines solchen Idols in Davids Haus könnte auf eine seinerzeit verbreitete halluzinogene Praxis hindeuten, die bei der Textredaktion unterschlagen wurde. Den Abschluß der Reihe bildet der subjektive Saul, der hagere verdatterte Jüngling vom Lande, dem eine irrationale Regung von Samuels bikameraler Stimme die politische Führerrolle zuspielt und der sich seinerseits um Bikameralität bemüht, indem er sich zu einer Rotte ekstatischer nebi’im gesellt, um unter der Einwirkung von Psalterklang und Pau-
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kenschall schließlich selbst zu glauben, daß er die göttlichen Stimmen höre (10, 5). Aber auf sein subjektives Bewußtsein wirken sie so wenig überzeugend, daß er sogar, nachdem die drei beglaubigenden Zeichen eingetroffen sind, davonzulaufen und sich vor seinem Schicksal zu verstecken sucht. Der subjektive Saul sucht wie wild in seiner Umgebung nach Hinweisen, was er tun soll. Kaum tritt eine ungewohnte Situation ein – etwa wenn der verantwortungslose Samuel eine Verabredung versäumt, während die Männer Israels sich in Höhlen und Klüften verkrochen haben und die Philister sich gegen Saul zusammenrotten –, schon will Saul mit einem Brandopfer eine Stimme herbeizwingen (13, 12) und muß sich dafür von dem säumigen Samuel einen Toren heißen lassen. Und dann der Saul, der dem Seienden, den er nie gehört hat, einen Altar baut, um ihn, vergebens, zu befragen (14, 37). Warum spricht der Gott nicht zu ihm? Jetzt Saul, wie er durch Los den vermeintlichen Sünder ermittelt, der schuld ist am Schweigen des Gottes; und Saul, der, sich beugend unter das Orakel, das Todesurteil über den Erlosten ausspricht, auch wenn es sein eigener Sohn ist. Doch selbst das kann nicht richtig sein, denn das Volk lehnt sich auf und weigert sich, die Hinrichtung zu dulden – ein Verhalten, das in bikameraler Zeit unmöglich gewesen wäre. Und da ist der Saul, der für Samuels archaisches Halluzinieren allzu bewußt-nachsichtig mit seinen Feinden umgeht. Und dann, als Sauls Eifersucht auf David und seines Sohnes Zuneigung zu David ins Extrem gerät, kommt ihm mit einemmal seine Subjektivität abhanden, seine Seelenverfassung schlägt in Bikameralität um, er zieht seine Kleider aus und wird zum nabi unter den nebi’im: «Daher spricht man: Ist Saul auch unter den nebi’im?» (19, 23 f). Aber als diese nebi’im ihm auch nicht sagen können, was er tun soll, vertreibt er sie zusammen mit anderen bikameralen Magiern aus dem Land (28, 3), um im Traumorakel und in der Kristallschau (wenn wir das Wort urim so verstehen dürfen) nach einiger Gewißheit über den göttlichen Willen zu suchen (28, 6). Und als auch das nichts fruchtet, greift er, am Ende mit seinem Bewußtseins-Latein, verzweifelt zum letzten Mittel: In Verklei-
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dung (eine Maßnahme, wie sie nur ein subjektiv bewußter Mensch zu treffen vermag) sucht er nächtens Rat bei der Hexe zu Endor oder vielmehr bei der bikameralen Stimme, die von dem Weib Besitz ergreift, während der in seinem Bewußtsein ratlose Saul sich vor ihm demütigt, indem er ihm seine Unschlüssigkeit eingesteht, um dann von den Lippen der Zauberin Worte zu vernehmen, die er für Worte des toten Samuel hält und die ihm seinen nahen Tod und Israels Niederlage ankündigen (28, 19). Und dann, als die Philister die letzten Reste der israelischen Streitmacht fast aufgerieben haben, als Sauls Söhne alle erschlagen und seine Hoffnungen alle dahin sind, kommt die grauenhafteste unter allen subjektiven Taten zur Ausführung – der Selbstmord: der erste historisch belegte, dem jedoch der zweite, der von Sauls Waffenträger, unmittelbar auf dem Fuße folgt. Die Zeit des berichteten Geschehens ist das elfte Jahrhundert v. Chr., die Zeit der Niederschrift des Berichts das sechste Jahrhundert v. Chr.: mithin dürfte die Psychologie des Ganzen etwa dem Stand des achten Jahrhunderts v. Chr. entsprechen. Die Idole der Habiru Wie Überbleibsel aus der bikameralen Epoche wirken die halluzinogenen Plastiken, die allenthalben im Alten Testament vorkommen. Wie in diesem Spätstadium der Zivilisation nicht anders zu erwarten, gibt es sie in vielen Spielarten. Es existieren einige generelle Termini zur Bezeichnung der Idole, wie etwa das von Jesaja verwendete elil oder der Begriff mazzeba für alle Idole, die auf Säulen oder Altären postiert waren, mehr als diese Gattungs- haben uns jedoch die Artbezeichnungen zu sagen. Der wichtigste Typ des Idols war der zelem, eine geschmiedete oder gegossene und in der Regel mit dem Meißel feinbearbeitete Metallplastik, häufig aus Gold oder Silber, aus dem eingeschmolzenen Geld (Richter 17, 4) oder dem eingeschmolzenen Schmuck (1. Mose 32, 4) von Stiftern gewonnen, und
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manchmal in teure Kleider gewandet (Hesekiel 16, 18). Die Verfertigung solcher Idole in Juda um 700 v. Chr. schildert Jesaja mit Mißbilligung (44, 12). Der zelem konnte sowohl Tier- als auch Menschengestalt haben. Zuweilen bestand er in nichts weiter als einem erhöht – auf einem Sockel oder Altar – aufgestellten Kopf (2. Chronik 14, 3), oder er glich der riesigen goldenen Bildsäule, «sechzig Ellen hoch und sechs Ellen breit», die Nebukadnezar aufstellen ließ (Daniel 3, 1). Häufiger scheint man ihn in einem «Aschera» aufgestellt zu haben: in einem jener mit exquisiten Wandteppichen ausgekleideten hölzernen Schreine, die sich in manchen Bibelübersetzungen als «Hain» bezeichnet finden. An Bedeutung am nächsten scheint ihm der pesel zu kommen, ein Meißelstandbild, über das wenig bekannt ist. Wahrscheinlich bestand der pesel aus Holz und war identisch mit dem azzab der Philister: Nach Sauls Tod und der Niederlage Israels laufen die Philister los, um ihren Sieg zuerst den azzabim und dann unterm Volk zu verkünden (1. Samuel 31, 9; 1. Chronik 10, 9). Daß diese Idole mit Gold- oder Silberfarbe bestrichen waren, geht aus einer Reihe von Psalmenstellen hervor; daß sie aus Holz waren, erhellt aus dem Umstand, daß David einen Scheiterhaufen mit ihnen errichtet, als er seine Rache an den Philistern nimmt (2. Samuel 5, 21). Außerdem gab es noch eine Art Sonnenidol namens hammanim, dessen Form nicht bekannt ist; es scheint jedoch ebenfalls auf Piedestalen aufgestellt worden zu sein, denn sowohl im 3. Buch Mose (26, 30) wie bei Jesaja (27, 9) und Hesekiel (6, 6) wird befohlen, es abzubrechen. Wenngleich nicht das bedeutendste, so doch das verbreitetste halluzinogene Idol war der terap. Daß ein terap dem Anschein nach reden konnte, wird direkt ausgesprochen in Hesekiel 21, 21, wo der König von Babylon sich mit mehreren von ihnen an der Wegscheide berät. Zuweilen muß es sich bei ihnen um kleinere Statuetten gehandelt haben, denn anders hätte Rachel wohl kaum ihres Vaters teraphim – also mehrere – entwenden und verstecken können (1. Mose 31, 19). Es muß sie aber auch in Menschengröße gegeben haben, denn es ist
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ein terap, der ins Bett gesteckt wird, um einen schlafenden David vorzutäuschen (1. Samuel 19, 13). Wie wir bereits feststellten, deutet die Beiläufigkeit, mit der das an der betreffenden Stelle behandelt wird, darauf hin, daß es für die israelischen Volksführer offenbar nichts Besonderes war, ihre teraphim im Haus zu haben. Doch im offenen Bergland müssen solche Idole Seltenheitswert gehabt haben und sehr begehrt gewesen sein. Im Buch der Richter hören wir von Micha, der sich ein Haus der elohim einrichtet: mit einem zelem, einem pesel, einem terap und einem ephod – letzteres normalerweise ein verziertes Ritualgewand, das (vermutlich durch Aufspannen über einem Rahmen) zum Idol gemacht werden konnte. Und diese Idole sind für ihn seine elohim, die den Kindern Dan so sehr in die Augen stechen, daß sie sie ihm wegnehmen (Richter 17 und 18). Wahrscheinlich wären unsere archäologischen Kenntnisse von den Idolen der Hebräer heute besser, als sie tatsächlich sind, hätte König Josia sie nicht 641 v. Chr. alle zerstören lassen (2. Chronik 34, 3-7). Ein weiteres Residuum aus bikameraler Zeit ist mit dem Wörtchen ob bezeichnet, das häufig mit «Hausgeist» übersetzt wird. «Wenn ein Mann oder Weib einen ob haben, die sollen des Todes sterben», heißt es im 3. Buch Mose (20, 27). Gleicherweise vertreibt Saul alle, die einen ob haben (1. Samuel 28,3). Obzwar ein ob etwas ist, von dem man Rat einholt (5. Mose 18, 11), dürfte das Wort sich nicht auf eine stoffliche Präsenz bezogen haben. Seine Erwähnung ist stets an die von Zauberern oder Hexen gekoppelt, so daß es wahrscheinlich eine bikamerale Stimme bezeichnete, die von den Verfassern des Alten Testaments nicht als eine religiöse anerkannt war. Das Wort hat den Übersetzern solche Rätsel aufgegeben, daß es in einem Fall unsinnigerweise sogar mit «Schlauch» wiedergegeben wurde, und zwar an einer Stelle (Hiob 32, 19), wo aus dem Kontext hervorgeht, daß der verärgerte junge Elihu spürt, wie eine bikamerale Stimme in ihm mit ungeduldigen Worten herauszuplatzen droht wie ein übervoller Weinschlauch.
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Der letzte nabi Wir haben dieses Kapitel eingeleitet mit Betrachtungen über die Flüchtlingsströme im Nahen Osten des ausgehenden zweiten Jahrtausends v. Chr. und über die Stämme, die – durch Katastrophen dieser oder jener Art landlos gemacht – ein unstetes Wanderleben führten. Ein Teil dieser Stämme war zweifellos bikameral und nicht in der Lage, den Weg zum subjektiven Bewußtsein zu beschreiten. Wahrscheinlich wurde bei der im sechsten oder fünften Jahrhundert v. Chr. stattfindenden Redaktion der Geschichtsbücher des Alten Testaments und ihrer Harmonisierung zu einem durchlaufenden Berichtszusammenhang historisches Material in großem Umfang unterschlagen. Zu den Dingen, die wir heute vergeblich in der Bibel suchen, gehört auch die klare Information darüber, was aus jenen letzten bikameralen Menschengemeinschaften geworden ist. An vereinzelten, über den ganzen Text verstreuten Stellen des Alten Testaments tauchen sie sporadisch auf und eröffnen dann jeweils einen blitzhaften Einblick in eine zur damaligen Zeit bestehende fremdartige Zweitwelt, der die Historiker bisher viel zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Man darf wohl davon ausgehen, daß in Gruppen lebende bikamerale Menschen bis zum Sturz des Reichs Juda existierten, doch bleibt fraglich, ob mit irgendeiner theokratischen Organisationsform ihrer halluzinierten Stimmen und ob in irgendeiner organisatorischen Anbindung an andere Stammesgemeinschaften. Häufig werden sie «Söhne der nebi’im» genannt, was den Schluß zuläßt, daß wohl eine starke Erbanlage die Basis für diesen Typus überdauernder Bikameralität abgab. Es handelt sich, wie ich meine, um die gleiche genetische Anlage, mit der wir als Teilursache in der Ätiologie schizophrener Erkrankungen noch heute zu rechnen haben. Mancher König, unschlüssig und reizbar, suchte Rat bei diesen Menschen. Ahab, im Jahr 835 V. Chr. König von Israel, ließ vierhundert von ihnen wie Vieh zusammentreiben, um ihren Rasereien zuzuhören (1. Könige 22, 6). Später sitzen er und der König von Juda feierlich gewandet auf ihren Thronses-
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seln auf dem Platz vor den Toren Samarias, um einem Auftrieb von Hunderten dieser armen bikameralen Kreaturen beizuwohnen, die delirieren und einander nachäffen, nicht anders, als wir es heute von den Schizophrenen in den «geschlossenen Abteilungen» kennen (1. Könige 22, 10). Was geschah mit diesen Menschen? Von Zeit zu Zeit wurden sie wie Schadwild gehetzt und zur Strecke gebracht. Ein solches Massaker ist offenbar der Hintergrund jener Stelle im 1. Buch der Könige (18, 4), wo Obadja sich eines Hunderts von nebi’im – aus einer unbekannten, aber jedenfalls weitaus größeren Zahl – annimmt, sie in Höhlen versteckt und sie mit Brot und Wasser versorgt, bis das Gemetzel vorüber ist. Ein weiteres derartiges Massaker wird wenige Jahre später von Elia durchgeführt (1. Könige 18, 40). Danach hören wir nichts mehr von diesen bikameralen Menschengruppen. Einige Jahrhunderte länger vermochten sich die einzelgängerischen nebi’im zu halten – die Männer, deren bikamerale Stimmen keinen Chor als Hintergrund, keinen Gruppenverband von anderen Halluzinierenden als Rückhalt benötigten, Männer, die halb schon subjektiv waren, zuzeiten aber immer noch die bikamerale Stimme hörten. Es sind jene berühmten nebi’im, deren bikamerale Botschaften wir im vorstehenden auszugsweise kennengelernt haben: Amos, der Maulbeerensammler; Jeremia, der unter der Last seines Joches von Ansiedlung zu Ansiedlung wankt; Hesekiel, der die Engel auf Rädern durch die Wolken ziehen sieht; die verschiedenen nebi’im, deren religiös verzückte Reden im Buch Jesaja gesammelt sind. Und diese Handvoll steht hier natürlich nur stellvertretend für jene umfänglichere Zahl von Menschen, deren bikamerale Stimmen zu ihrer Zeit am ehesten den Anspruch erheben durften, in der Tradition des 5. Buchs Mose zu stehen. Nach ihnen spielen aktual vernehmbare bikamerale Stimmen in aller Regel keine Rolle mehr. An ihre Stelle ist das überlegte subjektive Denken von Morallehrern getreten. Die Menschen hatten in Traumzuständen wohl immer noch Gesichte und vernahmen geheimnisvolle Reden. Aber der Prediger Salomo und Esra sind Weisheitssu-
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cher, keine Gottsucher mehr. Sie ziehen nicht in die Wildnis hinaus, um «von Jahwe zu erfragen». Spätestens um 400 v. Chr. ist das bikamerale Prophetentum erledigt. «Die nebi’im werden sich schämen jeder seines Gesichts.» Eltern, die ihre Kinder beim «Nabiisieren» oder in Zwiesprache mit einer bikameralen Stimme überraschen, sollen diese auf der Stelle umbringen (Sacharja 13,3 f).8 Ein hartes Gebot. Wenn es wirklich befolgt wurde, hat es als evolutionärer Auslesemechanismus gewirkt, der mit dazu beitrug, den Genpool der Menschheit in Richtung «Subjektivität» zu verändern. Über die Ursachen für Verfall und Untergang des Prophetentums im nachexilischen Judentum wird in der Wissenschaft seit langem kontrovers diskutiert. Die einen vertreten die Ansicht, daß die nebi’im ihre historische Aufgabe erfüllt und damit ausgedient hatten. Andere meinen, es habe sich die Gefahr einer Kultbildung um das Prophetentum ergeben. Für wieder andere wurde das Prophetentum unterdrückt, weil es durch die Berührung mit den Babyloniern – dem von der Wiege bis zur Bahre omenseligsten Volk jener Zeit – infiziert und entartet war. Ein Körnchen Wahrheit steckt in jeder dieser Ansichten; die einfachste Erklärung scheint mir jedoch, daß der Niedergang des Prophetentums nur ein einzelnes Moment in einem übergreifenden Geschehen globalen Ausmaßes war – im Absterben der bikameralen Psyche. Liest man das Alte Testament aus dieser Perspektive von vorn bis hinten durch, so enthüllt sich in der Abfolge der einzelnen Bücher mit wunderbarer und überwältigender Klarheit ein Sinnmuster, das auf nichts anderes als die langwierige, schmerzhafte Geburt unseres subjektiven Bewußtseins zurückverweist. Keine andere Nationalliteratur hat diesen unüberbietbar wichtigen Vorgang vergleichbar ausführlich und umfassend festgehalten. Das chinesische Schrifttum springt 8
Das Buch Sacharja ist auf ungefähr 520 v. Chr. zu datieren, doch sind sich die Gelehrten darin einig, daß es sich bei den letzten Kapiteln um spätere Hinzufügungen aus anderen Quellen handelt. Die Anstückelung wurde möglicherweise im vierten oder dritten Jahrhundert v. Chr. vorgenommen.
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mit Konfuzius, ohne vorher einen sonderlich langen Anlauf genommen zu haben, gleichsam mit einem Satz mitten hinein in die Subjektivität. Die indische Literatur gelangt in einer Art Volte fast übergangslos von den bikameralen Weden zu den ultrasubjektiven Upanischaden, und keines dieser beiden Werke kommt an dokumentarischem Wert den Texten des Alten Testaments gleich. Ihnen am nächsten steht, was den historischen Zeugniswert angeht, die Literatur der Griechen, deren Überreste, obzwar nicht in kontinuierlicher Linie, so doch immerhin punktuell die Entwicklung von der «Ilias» zur «Odyssee» und weiter über die Fragmente der Sappho und des Solon bis hin zu Platon nachzeichnen – freilich in viel zu großer Lückenhaftigkeit. Aus Ägypten hören wir zu den Problemen der Übergangsmentalität so gut wie nichts. Dem allen gegenüber erweist sich das Alte Testament, ungeachtet des sicherlich nicht zu unterschätzenden Problems seiner historischen Faktentreue, für uns als die immer noch am reichhaltigsten fließende Quelle der Information über die Einzelheiten des Lebens während jener Übergangszeit. Das Alte Testament ist im wesentlichen die Geschichte vom Absterben der bikameralen Psyche, vom allmählichen Rückzug der noch übriggebliebenen elohim ins Schweigen, von darauffolgender Desorientiertheit und tragischer Gewaltsamkeit, von dem letztlich vergeblichen Versuch, der elohim in ihren Propheten wieder habhaft zu werden, bis sich schließlich in der Idee des Handelns nach Gesetz und Recht ein Ersatz auftut. Aber wie ein Gespenst geht das uranfängliche unbewußte Wesen noch immer in der Seele um; sie zergrübelt sich in dem Bemühen, die verlorengegangene Einheit mit der autoritativen Instanz wiederzufinden; und das Verlangen – das tiefe und auszehrende Verlangen – nach göttlichem Willen und Zuwillensein dem Göttlichen läßt noch uns Heutige nicht los. «Gleichwie der Hirsch lechzt nach den Wasserquellen, Also lechzt meine Seele nach euch, ihr Götter! Meine Seele dürstet nach Göttern, nach starken lebendigen Göttern! Wann werd’ ich dahinkommen, daß ich der Götter Angesicht schaue? Psalm 42, 2f
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DRITTES BUCH Gegenwart: Relikte der bikameralen Psyche in der modernen Welt
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ERSTES KAPITEL Das Streben nach Autorisierung
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in der Lage, im Rückblick auf die Universalgeschichte der Menschheit diesen Gegenstand erstmals in seiner natürlichen Form, Farbe und Beleuchtung wahrzunehmen und einige der charakteristischsten Züge in der Physiognomie der letzten drei Jahrtausende als Rudimente einer historisch älteren Mentalität zu begreifen. Freilich müssen wir dabei die Menschheitsgeschichte von der höchsten nur denkbaren Warte aus betrachten. Wir müssen das Menschliche zu diesem Zweck vor den Hintergrund seiner gesamten Evolution rücken: in eine Perspektive, in der die verschiedenen Zivilisationen, einschließlich der unseren, nichts weiter sind als die im Himmelsblau sich abzeichnenden Gipfel eines einzigen Gebirgsmassivs, zu dem wir uns in gebührendem Abstand halten müssen, um seine Umrisse präzise wahrzunehmen. Und aus dieser Perspektive betrachtet, ist ein Jahrtausend eine verschwindend kurze Zeitspanne für einen so tiefgreifenden Wandel wie den Übergang von der Bikameralität zum Bewußtsein. Auch heute, am Ende des zweiten Jahrtausends n. Chr., stecken wir in gewisser Hinsicht noch tief drinnen in diesem Übergang zu einer neuen Mentalität. Und rund um uns her verstreut liegen die Überreste unserer bikameralen jüngsten Vergangenheit. Wir haben Gottes-Häuser, die unsere Geburt registrieren, unsere Identität bestimmen, unsere Ehe schließen, uns die Beichte abnehmen und als Mittler bei den Göttern die Vergebung unserer Sünden erwirken. Unser Recht gründet in Wertbegriffen, die ohne Bezug auf göttliche Satzung inhaltslos und nicht durchsetzbar wären. Unsere Nationalhymnen («God Bless The Queen») und staatlich verordneten Devisen («Gott mit uns», «In God We Trust») appellieren in aller Regel an die göttliche Vorsehung. Unsere Staatsoberhäupter, Minister, Richter und Beamten beginnen ihre Amtslaufbahn mit einer den IR SIND NUNMEHR
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heute schweigenden Göttern gegenüber abgegebenen Eidesverpflichtung, die auf den Text des göttlichen Wortes abgelegt wird, so wie es von jenen hinterlassen wurde, die es als letzte mit eigenen Ohren gehört haben. Das augenfälligste und bedeutendste Relikt jener älteren Mentalität ist demnach unser religiöses Erbe in all seiner labyrinthischen Schönheit und Formenvielfalt. Die überragende Bedeutung, die der Religion sowohl in der allgemeinen Weltgeschichte als auch in der Lebensgeschichte des Durchschnittserdenbürgers zukommt, liegt für jeden halbwegs objektiven Betrachter klar auf der Hand und bräuchte nicht eigens betont zu werden, wären da nicht bestimmte wissenschaftliche Auffassungen vom Menschen, die sich schwer damit tun, diese in ihrer Offenkundigkeit fast schon banale Tatsache gelten zu lassen. Denn allem zum Trotz, was rationalistisch-materialistische Wissenschaft seit der Wissenschaftlichen Revolution als Konsequenz ihrer Entdeckungen ausgibt, hat die Menschheit als ganze niemals aufgehört, ist nicht im Begriff aufzuhören und wird vielleicht auch niemals aufhören können, fasziniert zu sein von irgendeinem Verhältnis zwischen dem Menschen und einem «Umgreifenden» und «Ganz Anderen», einem «mysterium tremendum et fascinosum» voller Kräfte und Einsichten, die alle linkshemisphärischen Kategorien sprengen, zu einer zwangsläufig unbegreiflich dunklen Wesenheit, der man sich nicht in der Atmosphäre klarer Begriffsbildung nähert, sondern mit der man ehrfurchtsvoll staunend und namenlos ergriffen kommuniziert, einer Wesenheit, die sich für den modernen Gläubigen nicht so sehr in linkshemisphärisch-verbalen Ausdrucksformen als vielmehr in Gefühlswahrheiten mitteilt, so daß sie in unserer Zeit um so wahrhaftiger erlebt wird, je weniger sie in Worte zu fassen ist: die Empfindungskonfiguration eines «Selbst» in Relation zu einem numinosen «Anderen», der in Augenblicken schwärzesten Kummers keiner von uns entgeht – wie ja auch schon der unendlich viel geringfügigere Kummer, eine Entscheidung treffen zu müssen, diese Konfiguration überhaupt erst zuwege brachte. Dazu wäre noch manches – noch vieles – zu sagen. Wollte
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man das Thema in aller Ausführlichkeit erörtern, müßte man beispielsweise mit Einzelheiten belegen, wie die von Jesus angestrebte Reform des Judentums sich begrifflich rekonstruieren läßt als Entwurf einer Religion für subjektiv bewußte Menschen, die eine bikameral verwurzelte Religion ersetzen sollte und damit zwangsläufig zur Neustiftung geriet. Verhaltensmodifikationen müssen nun von drinnen, aus dem neuen Bewußtsein heraus, kommen und nicht mehr durch die Außenleitung mosaischer Gesetze bewirkt werden. Sünde und Buße bestehen nun in bewußter Gier und bewußter Reue, nicht mehr im Verstoß gegen die äußeren Verhaltensgebote der Zehn Gebote und in Tempelopfern und öffentlicher Bestrafung. Das Reich Gottes, das gewonnen werden soll, ist ein psychologisches, kein materielles Reich. Es ist metaphorisch, nicht buchstäblich zu nehmen. «In euch» und «nicht von dieser Welt», der Welt des Raum-Zeit-Koordinatensystems. Doch auch das Christentum hält im Lauf seiner Geschichte seinem Stifter nicht die Treue – kann sie ihm nicht halten. Wieder und wieder kehrt die Entwicklung der christlichen Kirche zurück zum alten, wohlbekannten Verlangen nach den absoluten Gewißheiten der Bikameralität: verzichtend auf das schwer zu erlangende innere Reich der agape, bindet sie sich an eine äußere Hierarchie, die durch ein Wolkenmeer von Wundern und Unfehlbarkeit hindurch hinaufreicht bis zur archaischen Autorisierungsinstanz in den fernen Himmeln. In den vorausgegangenen Abschnitten dieses Buchs habe ich mehrfach auf diese und jene Parallele zwischen antik-bikameralen und modern-religiösen Praktiken hingewiesen, und diese Gegenüberstellung noch weiter auszubauen gehört hier nicht zu meiner Sache. Desgleichen würde es den Rahmen dieses Buches sprengen, hier nun in aller Ausführlichkeit erkunden zu wollen, welcher Zusammenhang zwischen bestimmten Entwicklungen im Profanbereich und ihrer Herkunft aus einer andersgearteten Mentalität besteht. Ich denke da zum ersten an die Geschichte der Logik und des rationalen Denkens von der Bildung des
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Logosbegriffs im antiken Griechenland bis hin den Computern und der Computerwissenschaft unserer Tage, aber auch an den historischen Prunkzug der philosophischen Systeme mit ihrem Bemühen, eine allumfassende Seinsmetapher zu finden, in der wir unserem Bewußtsein Vertrautes wiederzuentdecken vermögen und die es uns damit ermöglicht, uns im Universum heimisch zu fühlen. Ich denke ferner an unsere Anstrengungen, moralische Systemgebäude zu errichten: Versuche, mit Hilfe bewußter Rationalität Ersatz zu schaffen für die frühere Gottgewolltheit unseres Tuns – Ersatz, der normative Verbindlichkeit solchen Grades besäße, daß wenigstens noch ein Abglanz unserer früheren Hörigkeit gegenüber den halluzinierten Stimmen in ihr wiederzuerkennen wäre. Und ich denke an die Zyklen der politischen Geschichte, an corso und ricorso unserer unsicheren Bemühungen, menschliche Regierungsgewalt zu instituieren anstelle der göttlichen und weltliche Rechtsordnungen aufzustellen, welche die ehemals göttliche Funktion erfüllen, uns zu einem in sich gegliederten, stabilen und gemeinwohlorientierten Sozialkörper zu verbinden. Diese weitausgreifenden Fragestellungen sind zugleich die wichtigsten. Doch hier, im vorliegenden Kapitel, möchte ich in die Thematik dieses Dritten Buches zunächst in der Weise einführen, daß ich mich mit etwa einem halben Dutzend nicht ganz so bedeutsamer Eigentümlichkeiten der Antike beschäftige, die sich klar und eindeutig als Relikte der älteren Mentalität zu erkennen geben. Ich wähle diese Vorgehensweise, weil von den betreffenden geschichtlichen Erscheinungen Licht auch auf einige noch klärungsbedürftige Punkte des Ersten und Zweiten Buches fällt. Kennzeichnend für derlei Relikte der älteren Mentalität ist es, daß sie sich als solche in der komplexen Gesamtheit der historischen Erscheinungen um so eindeutiger abzeichnen, je näher wir uns noch dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche befinden. Das ist leicht zu erklären: Während die universellen Merkmale des neuen Bewußtseins, wie etwa Selbstreferenz, «innerer» Raum oder Narrativität, im Schlepptau sprachli-
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cher Innovation ein rasches Entwicklungstempo erreichen, verändert sich demgegenüber der umfassende zivilisatorische Rahmen, die allgemeine Kulturlandschaft nur mit geologischen Entwicklungstempi vergleichbarer Langsamkeit. Inhalte und Formen früherer Zivilisationsalter wandern ungeschwächt in neue Epochen ein und mit ihnen die alten Schläuche überholten Brauchtums, in die der Wein der neuen Mentalität sich vorerst noch fassen lassen muß. Doch mit in diese Schläuche gefaßt ist eine verbissene Suche nach, wie ich es nennen möchte, archaischer Autorität. Auch nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche wird die Welt in gewissem Sinn noch von Göttern regiert: von Proklamationen, und Gesetzen und Verordnungen aus bikameralen Zeiten, die auf Stelen gemeißelt oder auf Papyrus geschrieben sind oder im Gedächtnis alter Menschen überdauern. Doch die Dissonanz ist bereits da. Wieso lassen sich die Götter nicht mehr hören und sehen? Das Verlangen, in dieser Frage beschwichtigt zu werden, äußert sich in den Psalmen mit unüberhörbarer Lautstärke. Zu seiner Befriedigung wird mehr gefordert als historische Überlieferungen und die wohlfeilen Beteuerungen der Priester, die mit derlei Zusicherungen ja schließlich ihren Lebensunterhalt verdienen. Nämlich Handfestes, Greifbares, unvermittelt Daseiendes, direkt Erfahrbares und als solches die Gewähr dafür, daß die Götter nur verstummt und nicht tot sind, daß hinter all diesem schwankenden Herumtappen nach den Zeichen absoluter Gewißheit auch wirklich ein absolut Gewisses steckt, dessen man innewerden kann. Während also die langsam absinkende Flut der Götterstimmen und Göttererscheinungen wachsende Bevölkerungsteile auf den Sandbänken der subjektiven Ungewißheit absetzt, wächst zugleich die Vielfalt der Techniken, mit deren Hilfe der Mensch die unterbrochene Verbindung zum Ozean der Gewißheit wiederherzustellen versucht. Propheten, Poeten, Orakel, Mantiker, Götzendienst, Astrologen, inspirierte Heilige und Dämonenbesessene, Tarotkarten, Alphabettafeln, Päpste und Peyote – das alles ist Rückstand der Bikameralität,
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der mit fortschreitender Zeit, während Ungewißheit sich auf Ungewißheit türmt, mehr und mehr zusammenschmilzt. In diesem und dem folgenden Kapitel werden wir uns einige mehr archaische Rudimentformen der bikameralen Psyche aus der Nähe ansehen. ORAKEL Die ungebrochenste Form rudimentärer Bikameralität ist schlicht deren Weiterleben in bestimmten Menschen, namentlich Wanderpropheten, wie sie im Sechsten Kapitel des Zweiten Buches besprochen wurden, oder institutionalisierten Orakeln, denen wir uns im folgenden zuwenden wollen. Zwar existiert eine Reihe von Tontafeln aus dem siebten Jahrhundert v. Chr., auf denen assyrische Orakel beschrieben sind;1 ein noch älteres Orakel des Amun befand sich im ägyptischen Theben; doch sind es die griechischen Orakel, denen sich unsere zuverlässigsten Kenntnisse dieser Einrichtung verdanken. Nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche blieb die Befragung des Orakels in Griechenland über ein Jahrtausend lang der Königsweg, um in wichtigen Fragen zu einer Entscheidung zu kommen – ein Umstand, dem infolge des plakativen Rationalismus moderner Historiker in der Regel die gebührende Beachtung versagt wird. Orakel sind so etwas wie die Nabelschnur, mit der die Subjektivität dem mütterlichen Nährboden der subjektlosen Vergangenheit verhaftet bleibt. Das Delphische Orakel Mit dem eben gebrauchten Bild stimmt überein, daß sich an der Stätte des berühmtesten Orakels – des Apollon-Orakels zu Delphi – ein seltsamer konisch geformter Stein, genannt 1
Alfred Guillaume, a. a. O., S. 42 ff.
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der omphalos, der «Nabel», befand. Er bezeichnete den Mittelpunkt der Erde. Hier waltete an bestimmten Tagen des Jahres – während einiger Jahrhunderte sogar tagtäglich – eine Hohepriesterin ihres Amtes, zuweilen auch zwei oder drei in zyklischem Turnus, für deren Auswahl und Ernennung, soweit wir von diesen Dingen Kenntnis haben, keinerlei besondere Kriterien maßgebend waren (zur Zeit Plutarchs, im ersten Jahrhundert v. Chr., war die «Pythia» ein einfaches Bauernmädchen).2 Nach einem Reinigungsbad und einem Trunk aus einem geweihten Bach nahm sie vermittels des ihm heiligen Baumes, des Lorbeers, Fühlung mit dem Gott auf (was an die Pinienzapfen erinnert, mit denen auf assyrischen Reliefbildern die Genien den schon subjektiv-bewußten König bestreichen). Die Prozedur bestand entweder darin, daß sie einfach nur einen Lorbeerzweig in Händen hielt oder (wie Plutarch meint) den Rauch verbrannter Lorbeerblätter einatmete und sich mit ihm beräucherte, möglicherweise aber auch (wie Lukian behauptet) im Kauen von Lorbeerblättern. Die Fragen, die ihr vorgelegt wurden, beantwortete sie spontan, ohne Nachdenken und Intervall. Die genauen Umstände, unter denen sie ihre Auskünfte erteilte – ob vom Dreifuß (einem, so nimmt man an, zum Apollonkult gehörenden Inventarstück) herunter oder einfach in einem Höhleneingang postiert –, sind bis heute umstritten.3 Einig jedoch sind sich alle antiken Quellen vom fünften Jahrhundert v. Chr. an, daß sie, um Heraklit zu zitieren (Fr. 92), «mit rasendem Munde Ungelachtes und Ungeschminktes und Ungesalbtes redet und mit ihrer Stimme durch tausend Jahre reicht»: sie war entheos, plena deo. Mit der Zunge seiner Priesterin – doch stets in der ersten grammatischen Person – sprechend, stand «Apollon», sei’s König, sei’s Freigelassenem, Rede und Antwort, bestimmte die Gründungsstätten neuer Kolonien (wie zum Beispiel des heutigen Istanbul), entschied, welche fremden Völker als Freunde 2 3
Plutarch, De Pythiae oraculis 22, 405 c. Eine faszinierende Darstellung des gesamten Fragenkomplexes gibt Dodds, a.a.O.
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oder Feinde zu gelten hatten, welche Herrscher ein gutes Regiment führten, welche Gesetze zu erlassen seien, machte die Ursachen von Seuchen und Hungersnöten namhaft, nannte die besten Handelsrouten und gab bekannt, was aus der Flut neuer Kulte, Musik- und Kunstformen als dem Apollon wohlgefällig zu betrachten sei – das alles lag in der Entscheidung dieser Mädchen mit dem «rasenden Munde». Das ist nun wahrhaftig eine erstaunliche Sache! Uns ist das Delphische Orakel aus den Schulbüchern so geläufig, daß wir nur mehr mit achselzuckender Gleichgültigkeit von ihm hören – während in Wahrheit hier höchstes Interesse am Platze wäre. Wie reimt man es sich zusammen, daß irgendeine Unschuld vom Lande, die keine besonderen Voraussetzungen mitbringen mußte, dazu ausgebildet werden konnte, sich in einen psychischen Zustand zu versetzen, in dem sie spontan weltbewegende Entscheidungen zu treffen vermochte? Der verstockte Rationalist rümpft hier nur die Nase: «plena deo – wer’s glaubt, wird selig.» So wie es ihm immer wieder gelingt, die «Medien» unserer Zeiten als Betrüger zu entlarven, genauso ist er auch überzeugt, daß diese sogenannten Orakel nichts weiter waren als eine Form des Priestertrugs, ein von Drahtziehern im Hintergrund für ungebildete Bauerntölpel zwecks Macht- oder Geldgewinn manipuliertes Illusionstheater. Aber diese «Realpolitiker»-Attitüde ist im allerbesten Fall nur ein Beispiel doktrinären Dogmatismus. Zugegeben, in der Endphase des Orakelkults könnte mitunter Manipulation im Spiel gewesen sein, etwa in Form von Bestechung der prophetai, der Unterpriester und -priesterinnen, die das Gestammel des Orakels auslegten und verkündeten. Was jedoch die davorliegende Geschichte des Orakels betrifft, so ist es schlicht und einfach undenkbar, daß es möglich gewesen sein sollte, einen derart frechen Betrug vor der geistig hellsten Nation, die bis dahin in der Geschichte aufgetreten war, über tausend Jahre lang aufrechtzuerhalten. Auch bliebe in diesem Fall die Tatsache unerklärlich, daß vor Beginn der Römerherrschaft nie-
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mals auch nur der geringste Zweifel an dem Orakel laut wurde. Und ebenso unerklärlich wäre, wieso ausgerechnet der in politischen Dingen abgeklärt und bisweilen sogar zynisch urteilende Platon das Delphische Orakel als den «angestammten Ratgeber (in Religionsfragen) für alle Menschen» bezeichnet.4 In der volkstümlichen und gelegentlich auch noch in der Fachliteratur spukt eine Erklärung anderer Art – genaugenommen eine Quasi-Erklärung – herum, die das Phänomen auf einen biochemischen Vorgang reduzieren möchte. Ihr zufolge war der Trancezustand durchaus echt, allerdings durch irgendwelche Dämpfe verursacht, die aus einem chasma, einem Erdspalt, im Boden der Höhle drangen. Durch die französischen Ausgrabungen des Jahres 1903 sowie neuere Ausgrabungen ist jedoch klar erwiesen, daß ein solches chasma nicht existiert hat.5 Nun könnte ja aber auch ein im Lorbeer enthaltenes Rauschmittel diese appollinischen Zustände bewirkt haben. Um diese Möglichkeit zu überprüfen, habe ich massenweise zerstoßene Lorbeerblätter in meiner Pfeife geraucht, mit dem Ergebnis, daß mir ein bißchen übel wurde, ohne daß ich mich freilich erhobener gefühlt hätte als sonst. Auch gekaut habe ich die Blätter über eine Stunde lang und muß in betreff meines anschließenden Gemütszustands sagen, er war Jaynesischer als je – von apollinisch, leider!, keine Spur.6 Die Begeisterung, mit der man hinter Erklärungen herjagt, die das Phänomen in Äußerlichkeiten aufzulösen vorgeben, ist einfach nur ein Ausdruck des in bestimmten Kreisen vorhandenen Sichsträubens, die Existenz von psychologischen Phänomenen dieses Typs überhaupt zuzugeben. 4 5 6
Platon, Politeia 427 B. Wir sollten uns auch daran erinnern, daß Sokrates seine «archaische Autorisierung» (ein Begriff, den ich hier neu einführen möchte) zum Teil von dem Orakel zu Delphi bezog. Vgl. Apologie 20 E – 21 A. A. P. Oppe, The Chasm at Delphi, Journal of Historical Studies 24/1904, S. 214 f. EveLynn McGuiness habe ich für vieles in meinem Leben zu danken: hier dafür, daß sie die Rolle des Beobachters übernommen hat (wenngleich sie darin ein wenig beeinträchtigt war ebensowohl durch persönliche Anteilnahme wie durch einen Restbestand an Ehrerbietung). Unsere Negativbefunde stimmen überein mit T. K. Oesterreich, Possession, Demoniacal and Other, engl. Übs. 1930, S. 319, Anm. 3.
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Demgegenüber möchte ich für meinen Teil eine ganz anders geartete Erklärung vorschlagen. Zu diesem Zweck ist es zunächst erforderlich, den Begriff des «allgemeinen bikameralen Paradigmas» einzuführen. Das allgemeine bikamerale Paradigma Mit diesem Ausdruck bezeichne ich die hypothetische Tiefenstruktur einer umfangreichen Klasse von Erscheinungen des verminderten Bewußtseins, die nach meiner Interpretation als partielle Relikte unserer früheren Mentalität zu begreifen sind. Folgende vier Einzelmomente machen das Paradigma aus: - der kollektive kognitive Imperativ: ein System von kollektiven Glaubensüberzeugungen oder von auf kultureller Übereinkunft beruhenden Erwartungen und Vorschriften, das durch Vorgabe eines Rollenkatalogs und eines Szenarios über die bestimmte Form des jeweiligen Phänomens entscheidet; - die Induktion: ein als formelles Ritual ausgebildetes Verfahren zur Verengung des Bewußtseins durch Fokussieren der Aufmerksamkeit auf einen stark eingeschränkten Feldausschnitt; - der eigentliche Trancezustand als Reaktion auf die zwei zuvor genannten Momente; seine Kennzeichen sind: Minderung des Bewußtseins, gegebenenfalls bis zum vollständigen Schwund, sowie Schwächung des Analogons «Ich», gegebenenfalls bis zum vollständigen Verlust, mit daraus resultierender Offenheit für eine von der Bezugsgruppe akzeptierte, tolerierte oder beifällig unterstützte Rolle; - die archaische Autorisierungsinstanz, die in der Trance angepeilt wird beziehungsweise deren Raison d’être ist; meist ist es ein Gott, mitunter jedoch auch ein Mensch, dem von dem Individuum und seiner Kultur Autorität über das Individuum eingeräumt wird und dem der kollektive kognitive Imperativ die Verantwortung für alles, was in der Trance geschieht, in normativer Form überschrieben hat.
Diese Aufzählung sollte nun allerdings nicht zu dem Schluß verleiten, daß die einzelnen Momente des allgemeinen bikameralen Paradigmas zeitlich nacheinander auftreten. Zwar ist es bei Induktion und Trance so, daß sie im Regelfall zeitlich aufeinanderfolgen, doch der kognitive Imperativ und die archaische Autorität sind von Anfang bis Ende durchgängig an dem
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Geschehen beteiligt. Überdies herrscht zwischen den einzelnen Momenten eine Art Gleichgewichtsverhältnis oder so etwas wie Summenkonstanz: je schwächer das eine, desto stärker müssen die drei anderen zusammen sein, damit es zu dem fraglichen bikameralen Phänomen kommt. Das erklärt, warum mit fortschreitender Zeit und insbesondere im Lauf des ersten Jahrtausends nach Erscheinen des Bewußtseins (parallel zur Abschwächung des kollektiven kognitiven Imperativs oder – anders ausgedrückt – zur wachsenden Skepsis gegenüber archaischer Autorität beim Durchschnittsmenschen) die Induktionsprozeduren zusehends wichtiger und komplizierter werden und die Trancezustände immer tiefer. Das allgemeine bikamerale Paradigma ist eine Struktur nicht nur im Sinn einer logischen Struktur, die sich analytisch in den fraglichen Phänomenen auffinden läßt, sondern auch in dem Sinn, daß es eine – derzeit noch nicht spezifizierbare – neurologische Struktur bezeichnet: ein Vernetzungsschema zwischen bestimmten Gehirnzentren, das man sich vielleicht ähnlich wie das im Fünften Kapitel des Ersten Buchs ausgeführte Modell der bikameralen Psyche vorzustellen hat. Wir dürfen also damit rechnen, daß an allen in diesem Dritten Buch behandelten Phänomenen rechtshemisphärische Funktionen in einer Weise beteiligt sind, die mehr oder minder von der Funktionsweise des alltäglichen Bewußtseinslebens abweicht. Denkbar wäre sogar, daß wir es bei einem Teil dieser Phänomene mit einer zeitweiligen partiellen Dominanz der rechten Hemisphäre zu tun haben, die wir als das neurologische Residuum der neuntausend Jahre umspannenden Selektion zur Bikameralität betrachten dürfen. Die Übereinstimmung zwischen diesem allgemeinen bikameralen Paradigma und dem Delphischen Orakel ist in den ausgefeilten Induktionsprozeduren, dem Trancezustand mit vollständigem Bewußtseinsschwund und dem inbrünstigen Verlangen nach der Autorität des Apollon mit Händen zu greifen. Was ich jedoch in diesem Fall besonders hervorheben möchte, ist der kollektive kognitive Imperativ oder der Gruppenglaube oder die kulturelle Vorgabe oder Erwartung (alle
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diese Ausdrücke umschreiben das Gemeinte auf je verschiedene Weise). Das volle Gewicht der gewaltigen Kulturforderung, die auf der verzückten Priesterin lastete, können wir uns kaum übertrieben vorstellen. Die gesamte griechische Welt glaubte – glaubte mit dem Glauben, der nahezu ein Jahrtausend währte. Bis zu 35000 Menschen, zu Schiff aus allen Gegenden des Mittelmeerraums angereist, zwängten sich täglich durch den winzigen Hafen von Itéa, der sich in die einladende Bucht genau unterhalb von Delphi schmiegt. Auch sie unterzogen sich Induktionsprozeduren, indem sie im Wasser der Kastalischen Quelle badeten und anschließend auf dem Heiligen Weg dem Apollon und anderen Göttern opferten. In den letzten Jahrhunderten des Orakelkults war dieser rund zweihundert Meter lange Kletterpfad über den Hang des Parnassos hinauf zum Heiligtum von mehr als viertausend Votivstatuen gesäumt. In diesem mächtigen Strom konkretisierter sozialer Norm und Erwartung – diese Begriffe kommen der gemeinten Sache näher als etwa der des bloßen Überzeugtseins im Sinne von «für wahr halten» – liegen nach meiner Meinung die Erklärungsgründe für die Psychologie der Sibylle, zumal für das Wie-aus-der-Pistole-Geschossen ihrer Antworten. Hier handelte es sich um etwas, demgegenüber auch nur die leisteste Skepsis ebenso unmöglich war, wie es für uns unmöglich ist zu bezweifeln, daß die Worte, die wir im Radio hören, in einem für uns momentan unsichtbaren Studio erzeugt werden. Und es handelt sich um etwas, das die moderne Psychologie nur mit ehrfürchtigem Staunen quittieren kann. Neben jener ursächlich wirkenden Erwartung ist noch die natürliche Szenerie zu bedenken. Orakelkulte haben ihren Ursprung an Orten, wo ganz bestimmte natürliche Bedingungen vorherrschen, Gebirgsformationen oder Schluchten, oder was dergleichen sonst eine eigenartig ehrfurchteinflößende Wirkung ausübt, mit halluzinogenem Windgeräusch oder Wellenspiel, symbolträchtigen Lichteffekten und Fernblicken – Gegebenheiten, die, wie ich meine, jede für sich und erst recht im Zusammenspiel weit mehr dazu angetan sind, Aktivitäten der rechten Hirnhemisphäre zu entbinden, als die analytischen
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Funktionsbereiche des Alltagslebens anzusprechen. Man darf vielleicht sagen, daß die Geographie der bikameralen Psyche zu Beginn des ersten Jahrtausends v. Chr. zusammenschrumpfte auf solche Plätze von ehrfurchtgebietender Schönheit und Erhabenheit, wo sich die Stimmen der Götter noch immer vernehmen ließen. Zweifellos passen die gewaltigen Steilwände von Delphi in jeder Hinsicht zu dieser These, wie man es sich besser nicht wünschen kann: ein Kessel aus nacktem Gestein hoch über dem Meeresspiegel, auf dessen Rand der Seewind orgelt, an dessen Wänden Salzdunst haftet, als ob die Natur, sich rekkend und streckend, aus einem Traum aufwache, das Ganze nach einer Seite hin sich öffnend dem Blick, der über eine ihm entgegenbrandende blaue Woge von flirrenden Olivenblättern hinabstürzt in die unsterbliche graue See. (Allerdings ist es für uns heute schwierig, das ehrfurchteinflößende Moment solcher Szenerien richtig einzuschätzen, denn die Unverfälschtheit unserer Reaktion auf Landschaften wird durch die vorhandene «Innenwelt» des Bewußtseins ebenso getrübt wie durch unsere Erlebnisse mit raschen geographischen Ortswechseln. Zudem ist Delphi auch nicht mehr ganz das, was es einmal war. Was sich da auf zwanzigtausend Quadratmetern Boden an Säulenstümpfen, munteren Kritzeleien, kameraschwenkenden Touristen und von scheinbar kopflos hin und her rennenden ameisenartigen Menschenmassen, die zwischen weißen Marmorbrocken umherwimmeln, präsentiert, ist nicht gerade der Stoff, aus dem die göttlichen Inspirationen sind.) Andere Orakel Für eine kulturelle Erklärung des Orakels von Delphi spricht insbesondere auch der Umstand, daß ähnliche, wenn auch minder bedeutende Orakel damals überall in der zivilisierten Welt anzutreffen waren. Apollon hatte noch andere Orakel: zu Aidepsos in Euboia, am Berge Ptoon, zu Hysiai in Boiotien, in
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Argos sowie zu Didyma und Patara in Kleinasien. Bei letzterem gehörte es mit zur Induktionsprozedur, daß die Oberpriesterin während der Nacht vor dem Orakeltag im Tempel eingeschlossen wurde, damit der halluzinierte Gott ihr beiwohnen und sie hinterher um so besser als sein Medium fungieren konnte.7 Dem Apollon von Klaros dienten männliche Priester als Orakel.8 Ein Orakel des Pan, das zu Akazesion bestanden hatte, war schon frühzeitig wieder eingeschlafen.9 Zu Ephesos, dessen goldenes Orakel wegen seines enormen Reichtums berühmt war, offenbarte sich die Göttin Artemis durch den Mund verzückter Eunuchen10 (deren Kleidungsstil, wie nebenbei vermerkt sei, in der griechisch-orthodoxen Kirche noch heute in Gebrauch ist). Und der unnatürliche Spitzentanz moderner Ballerinen wird auf die Tänze, die man vor dem Altar dieser Göttin aufführte, zurückgeführt.11 Alles, was aus dem Rahmen des Alltäglichen herausfällt, kann als Hinweisreiz für die Aktivierung des allgemeinen bikameralen Paradigmas dienen. Die Stimme des Zeus zu Dodona muß eines der ältesten Orakel gewesen sein, denn Homer berichtet, daß Odysseus es aufgesucht habe, «damit er aus der hochbelaubten Eiche des Gottes den Rat ... vernähme: auf welche Weise er in den fetten Gau von Ithaka heimkehren möchte ... ob offen oder heimlich».12 Es scheint sich demnach zur fraglichen Zeit um nichts weiter gehandelt zu haben als um einen mächtigen heiligen Eichbaum, in dessen Nähe aus dem Rascheln des Windes in den Blättern die Stimme des Olympiers halluziniert wurde – was einen zu der Frage führt, ob nicht vielleicht etwas Ähnliches auch bei den Druiden Brauch und der Grund dafür war, daß sie den Eichbaum heilig hielten. Erst vom fünften 7 8 9 10 11
Herodot, Historien 1, 182. Tacitus, Annalen 1, 54. Pausanias, Beschreibung Griechenlands 37, 8. Charles Picard, Ephése et Claros, Paris: de Bocard 1922. Louis Sechan, La danse grecque antique, Paris: de Bocard 1930; ferner Lincoln Kirstein, The Book of the Dance, Garden City: Garden City Publishing Co. 1942. 12 Odyssee 14, 327; 19, 296.
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Jahrhundert v. Chr. an ist die Stimme des Zeus nicht mehr unvermittelt zu hören, woraufhin Dodona einen Tempel erhält und eine Priesterin, die in bewußtloser Ekstase anstelle des Gottes spricht13: auch dies entspricht wieder dem aus der Theorie der Bikameralität ableitbaren chronologischen Etappenschema. Nicht nur die Stimmen von Göttern, sondern auch die verstorbener Könige waren im bikameralen Modus zu hören (wir haben ja an früherer Stelle bereits ausgeführt, wie die Götter überhaupt erst aus den letzteren erwuchsen). Amphiaraos, sagenhafter Fürst von Argos während des heroischen Zeitalters, findet, nicht ohne Zutun eines ergrimmten Zeus, den Tod in einem jäh sich auftuenden Erdspalt, der ihn samt Rossen und Wagen verschlingt. Seine Stimme war jahrhundertelang mit Antworten auf die Fragen von Ratsuchenden aus jener Kluft zu hören. Aber auch hier ergab sich im Lauf der Jahrhunderte wieder die Situation, daß es nur noch bestimmten, an Ort und Stelle lebenden Priesterinnen gelang, in Verzückung die «Stimme» zu halluzinieren. In dieser späteren Phase beantwortete das Orakel nicht mehr Fragen, sondern deutete die Träume der Ratsuchenden.14 Der aus der Perspektive der Bikameralitätshypothese in mancher Hinsicht interessanteste Fall ist jedoch die halluzinierte Stimme des Trophonios zu Lebadeia, einem rund dreißig Kilometer östlich von Delphi gelegenen Ort. Es ist nämlich von allen «Stimmen» diejenige, die am längsten direkt, ohne Vermittlung von Priestern oder Priesterinnen, zu hören war. Der Lageplatz des Orakels gibt auch heute noch etwas von dem ehrfurchtgebietenden Charakter zu erkennen, den er einmal im Altertum besaß: drei hochragende Steilhänge treffen hier zusammen, murmelnde Gewässer quellen aus dem Boden des weihevollen Ortes, um sich bescheiden in Steinschluchten zu verlaufen, und ein Stück weiter oben, wo eine der Schluchten in Windungen ins Innere des Bergmassivs vorzudringen beginnt, 13 Aelius Aristeides, Orationes 45, 11. 14 Pausanias, Beschreibung Griechenlands 1, 34, 5.
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befand sich in dem Gestein ehemals eine kammerähnliche Vertiefung, von der eine Art Kamin abwärts in das Heiligtum, eine backofenähnliche Höhlung über einem unterirdischen Wasserlauf, führte. Erleidet der kollektive kognitive Imperativ im Rahmen des allgemeinen bikameralen Paradigmas eine Schwächung, anders ausgedrückt: sind Gläubigkeit und Vertrauen gegenüber den erwähnten Phänomenen infolge zunehmender Rationalität im Schwinden begriffen, so wird zum Ausgleich dafür das Induktionsverfahren langwieriger und komplizierter, zumal wenn es keine geschulte Priesterin, sondern irgendein Laie ist, der sich ihm unterzieht. Genau dieser Fall trat in Lebadeia ein. Der römische Reisende Pausanias schildert die ausgeklügelte Induktionsprozedur, mit der er es dort im Jahr 150 n. Chr. zu tun bekam.15 Nach langen, in steigender Erwartung mit Läuterungsriten und Omenschau hingebrachten Tagen des Ausharrens, so berichtet er, wurde er eines Nachts ohne Vorankündigung von zwei geweihten Jünglingen gepackt, gebadet und gesalbt; dann gab man ihm zunächst Wasser aus dem Lethefluß zu trinken, damit er vergäße, wer er sei (Auslöschung des «Ich-qua-Analogon»), und im Anschluß daran einen Schluck aus dem Quell der Mnemosyne, damit er sich später dessen entsinne, was ihm offenbart werden würde (ein der posthypnotischen Suggestion vergleichbarer Akt). Dann ließ man ihn ein geheimes Götterbild anbeten, hüllte ihn in geweihte Wäsche, gürtete ihn mit geweihten Bändern und legte ihm spezielles Schuhwerk an, und erst nachdem weitere Omenbefragungen günstige Vorzeichen erbracht hatten, wurde er zu guter Letzt über eine profane Leiter in die Höhle der Heiligkeit hinabgelassen, wo der schwarze Gießbach schäumte und das Orakel alsbald seine göttliche Botschaft verlauten ließ.
15 Ebd., 9, 39, 11.
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Die sechs Stadien des Orakulierens Im Rahmen der Entwicklung des Griechentums von universeller psychischer Bikameralität zur universellen Ausbreitung des Bewußtseins unterliegen die als Relikte der bikameralen Welt zu verstehenden Orakel und ihre Autorität über die Menschen einem Wandel, der jene immer fragwürdiger und diese immer schwieriger zu erlangen macht. In dem Vorgang ist ein grobes Schema zu erkennen, das etwa so zu umschreiben wäre: Während der tausend Jahre ihres Bestehens befanden sich die Orakel in stetigem Niedergang, der sich in sechs Stadien unterteilen läßt. Diese sechs Stadien kann man als ebenso viele Etappen im Verfall des kollektiven kognitiven Imperativs der bikameralen Psyche betrachten. 1. Orakel durch die Ortsbeschaffenheit. Die Urformen des Orakels sind einfach nur bestimmte Örtlichkeiten, die ein feierliches, eine ehrfürchtige Stimmung erweckendes Ansehen hatten und/oder als Schauplatz eines bedeutsamen Ereignisses galten und/oder wo Lichteffekte, Geräuschkulisse, der Wind, die Meereswellen, Wasserläufe und ähnliches halluzinogene Bedingungen schufen, so daß Ratsuchende – und zwar x-beliebige laienhafte Ratsuchende – dort nach wie vor unmittelbar eine bikamerale Stimme «hören» konnten. 2. Orakel durch Propheten. In der Regel folgte auf das eben beschriebene Stadium eines, in dem nur noch bestimmte Personen, Priester oder Priesterinnen, die göttliche Stimme an dem betreffenden Ort zu «hören» vermochten. 3. Orakel durch geschulte Propheten. Im dritten Stadium vermochten diese Personen – Priester oder Priesterinnen – ihrerseits die Stimme erst nach langer Schulung und, im konkreten Fall, umständlicher Induktion zu «hören». Bis in dieses Stadium war die Seher-Person noch «bei sich» und übermittelte selbst die Rede des Gottes ans allgemeine Publikum. 4. Orakulieren im Zustand der Besessenheit. Spätestens im fünften Jahrhundert v. Chr. tritt als nächstes in der Reihe das Stadium des besessenen Orakulierens ein: das Stadium des «rasenden Mundes» und der Körperverrenkungen, die noch weitergehende Schulung und noch aufwendigere Induktionsprozeduren zur Voraussetzung haben. 5. Gedolmetschtes besessenes Orakulieren. Mit zunehmender Abschwächung des kognitiven Imperativs wurde die Sprache des Mediums stammelnd
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und verworren und mußte von Unterpriestern oder -priesterinnen in verständlichen Ausdruck übersetzt und gegebenenfalls auch interpretiert werden; auch diese assistierenden Priester mußten sich zur Ausübung ihrer Funktion einer Induktion unterziehen. 6. Das inkohärente Orakel. Doch damit der Schwierigkeiten nicht genug: Die Stimmen wurden unberechenbar, der Ausdruck des Mediums inkohärent bis zur Undeutbarkeit – und damit erlosch die Institution.
Das Delphische Orakel bestand am längsten. Seine lange Lebensdauer ist der schlagende Beweis dafür, welch überragende Bedeutung es für die gottessehnsüchtige Subjektivität im Griechenland des Goldenen Zeitalters gehabt haben muß, eine Bedeutung, die zu ermessen man erst dann in der Lage ist, wenn man sich klarmacht, daß dieses Orakel fast jedesmal, wenn fremde Eroberer in Griechenland einfielen, die Partei der Invasoren ergriff: So sprach es im frühen fünften Jahrhundert v. Chr. für Xerxes I., im vierten Jahrhundert v. Chr. für Philipp II. von Makedonien, und noch im Peloponnesischen Krieg schlug es sich auf die Seite der Spartaner. Vor diesem Hintergrund wird ablesbar, welchen Rang das Orakel unter den geschichtsformenden Kräften einnahm. Sogar der quicke Spott, den ein patriotisch verbitterter Euripides im Theater über es ausgoß, vermochte ihm nichts anzuhaben. Doch mit dem ersten Jahrhundert n. Chr. war das Delphische Orakel in sein letztes Stadium eingetreten. Während die Bikameralität immer tiefer in einer von der Erinnerung abgeschnittenen Vergangenheit versank, hatte der Skeptizismus den Glauben überrundet. Der ehemals machtvolle kulturelle kognitive Imperativ, der das Orakelwesen gestützt hatte, zog nicht mehr und versagte, und immer öfter endete die ganze Veranstaltung in einer Panne. Ein derartiger Fall aus dem Jahr 60 n. Chr. ist bei Plutarch überliefert. Die Seherin versuchte widerwillig, sich in Trance zu versetzen, obgleich die Auspizien Unheil verkündet hatten. Wie in tiefer Verstörung hob sie mit heiserer Stimme an zu sprechen, erschien dann jedoch wie von einem «stummen und bösen Geist» erfüllt und lief schreiend zum Eingang, wo sie niederstürzte. Sämtliche Anwesen-
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den, die prophetai eingeschlossen, rannten von Panik ergriffen davon. Der Bericht erzählt weiter, daß man die Seherin bei der Rückkehr halb erholt wiederfand, daß sie jedoch innerhalb weniger Tage verschied.16 Da Plutarch den Vorfall vermutlich so wiedergibt, wie er ihm von einem der dabei anwesenden prophetai geschildert wurde, haben wir keinen Grund, an der Wahrheit der Geschichte zu zweifeln.17 Doch derlei neurotischen Ausrutschern zum Trotz blieb der Rat des Delphischen Orakels bei den traditionshungrigen, an einem intellektuellen Griechen-Trauma leidenden Römern weiterhin geschätzt. Der letzte, der dort vorstellig wurde, war mein kaiserlicher Namensvetter Julian («Apostata»), der im Anschluß an einen weiteren Namensvetter (den Autor eines nach dem Diktat halluzinierter Götter verfaßten Texts über die «Orakel der Chaldäer») die alten Götter wiederzuerwecken versuchte. Im Zuge seiner persönlichen Suche nach Autorität unternahm er es im Jahr 3 63 n. Chr., drei Jahre nachdem der Ort von Kaiser Konstantin geplündert worden war, das Delphische Orakel wieder zu Glanz und Ehren zu bringen. Durch den Mund der noch verbliebenen Priesterin prophezeite Apollon, daß er fortan nie wieder prophezeien werde. Und diese Prophezeiung hat sich erfüllt. Wieder einmal war für die bikamerale Psyche das Ende – eines von ihren zahlreichen Enden – gekommen ... Sibyllen Das Zeitalter des Orakulierens erstreckt sich über das gesamte Jahrtausend nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche. Und während es langsam ausklingt, tauchen da und dort Amateurorakel auf (wie man sie etwas salopp bezeichnen könnte): Menschen, die sich in spontanem Erleben, ohne Schulung und institutionellen Hintergrund, von Göttern ergriffen 16 Plutarch, De defectu oraculorum 51, 438 c. 17 Dodds, a. a. O., S. 72.
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fühlten. Kein Zweifel, daß manche von ihnen nur schizophrene Abstrusitäten daherschwatzten. Wahrscheinlich waren es sogar die meisten, die das taten. Andere dagegen traten mit einer Überzeugungskraft auf, die Glauben erzwang. Zu diesen rechnet auch jene kleine, mit letzter Genauigkeit nicht zu beziffernde Zahl von absonderlichen, wundersamen Frauen, die als «Sibyllen» (von aiolisch sios = Gott + bule = Rat) in die Geschichte eingegangen sind. Nach Varros Zählung lebten zu einem bestimmten Zeitpunkt während des ersten Jahrhunderts v. Chr. mindestens zehn solcher Sibyllen über den gesamten Mittelmeerraum verteilt. Aber zweifellos gab es in entlegeneren Regionen noch mehr von ihnen. Sie führten ihr einsames Leben bisweilen hoch verehrt in Bergheiligtümern, die man eigens für sie angelegt hatte, bisweilen – wie die überragende cumäische Sibylle – in unterirdischen Kalktuffhöhlen nahe dem ächzenden Ozean. Der Sibylle von Cumae hat wahrscheinlich Vergil um 40 v. Chr. einen persönlichen Besuch abgestattet, bevor er das Sechste Buch seiner «Aeneis» niederschrieb, in dem er das Rasen der Seherin unter dem Ansturm des göttlichen Phoebus schildert. Ähnlich wie die Orakel wurden auch die Sibyllen von hoch und niedrig um Entscheidungen in problematischen Angelegenheiten angegangen, und das noch im dritten Jahrhundert n. Chr. Ihre Auskünfte waren von solch moralischer Inbrunst durchsetzt, daß selbst die frühen christlichen Kirchenväter und das hellenistische Judentum sie als gleichrangig mit den alttestamentarischen Propheten gelten ließen. Insbesondere bediente sich die frühchristliche Kirche (nicht selten gefälschter) sibyllinischer Orakel, um ihre eigene göttliche Sendung unter Beweis zu stellen. Noch über ein Jahrtausend später fanden vier Sibyllen (ich zähle die «Delphische» nicht dazu), von Michelangelo gemalt, auf der Decke der Sixtinischen Kapelle im Vatikan ein Unterkommen. Und nochmals ein paar Jahrhunderte später blickten Kopien der gleichen athletischen Damen mit den aufgeschlagenen Orakelbüchern in den Händen den verschüchterten Schreiber dieser Zeilen in einer unitarischen Sonntagsschule Neuenglands von oben
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herab an. Was zeigt, wie sehr unsere Institutionen hungern und dürsten nach Beglaubigung durch autoritative Instanzen. Und als auch die Zeit der Sibyllen um war und die Götter nicht länger in menschlichen Leibern Wohnung nehmen und aus ihnen heraus prophezeien und orakeln wollten – da begibt sich die Menschheit auf die Suche nach neuen Mitteln und Wegen, die «Störungen» (so könnte man sagen) aus den Beziehungen zwischen Himmel und Erde herauszubringen. Neue Religionen treten auf: das Christentum, die Gnosis, der Neuplatonismus. Neue Verhaltensmaßregeln werden ausgegeben, so etwa von der stoischen und der epikureischen Philosophie, um ihrer Götter beraubte Menschen in ein Verhältnis zur endlosen Bewußtseinslandschaft der neuerdings spatialisierten Zeit einzugewöhnen. In ungeahntem Maßstab greifen Institutionalisierung, Verfeinerung und Differenzierung mantischer Techniken in Assyrien um sich: Die Mantik wird zu einem Bestandteil der Staatsverfassung, das die offizielle Entscheidung wichtiger Fragen besorgt. Wie zuvor die griechische Zivilisation in den Orakeln einen göttlichen Rückhalt besessen hatte, so findet ihn jetzt die römische in Auspizien und Augurien.
Renaissance der Idolatrie Aber selbst diese können das Verlangen des gemeinen Mannes nach Transzendenzerfahrung nicht vollauf stillen. Nachdem Orakel und Propheten den Dienst versagt haben, stellt sich gleichsam zum Ersatz eine neubelebte Idolatrie ähnlich derjenigen der bikameralen Zeiten ein. In den bikameralen Hochkulturen war, wie wir gesehen haben, eine Vielfalt von Groß- und Kleinplastiken als Halluzinationshilfen in Gebrauch. Doch als im Zuge der Umstellung auf das subjektive Bewußtsein die halluzinierten Stimmen verstummten, geriet damit auch der Bilderdienst ins Abseits. Die Idole wurden größtenteils zerstört. Spätbikamerale Reiche
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hatten auf Geheiß ihrer eifersüchtigen Götter stets die Idole gegnerischer Götter oder Herrscher zertrümmert. Und diese Praxis geriet erst recht auf Touren, als die Idole nichts mehr von sich hören ließen und daher die andachtsvolle Verehrung einbüßten. Im siebten Jahrhundert v. Chr. ließ König Josia alle Idole in seinem Herrschaftsbereich vernichten. Unentwegt werden im Alten Testament «Götzenbilder» zerstört und Flüche auf die Häupter derjenigen gehäuft, die neue anfertigen. Um die Mitte des ersten Jahrtausends v. Chr. ist der Bilderdienst ein nur noch vereinzelt und sporadisch auftretendes und aufs Ganze gesehen bedeutungsloses Phänomen. Merkwürdigerweise stößt man um die gleiche Zeit auf den durchaus abseitigen Kultgebrauch des Halluzinierens unter Zuhilfenahme abgetrennter Menschenhäupter. Herodot berichtet (4, 2.6) von der Sitte des obskuren Volks der Issedonen, die Schädel von Toten zu vergolden und ihnen zu opfern. Kleomenes von Sparta soll das Haupt des Archonides in Honig konserviert und es vor jedem wichtigen Schritt um Rat gefragt haben. Auf mehreren etruskischen Vasen aus dem vierten Jahrhundert v. Chr. ist die Befragung orakelnder Menschenköpfe dargestellt.18 Und Aristoteles erwähnt spöttisch den abgetrennten Kopf bei ländlichen Kariern, der noch im Tode zu «sprechen» fortfuhr.19 Damit ist dieses Thema praktisch schon erschöpft. Seitdem das subjektive Bewußtsein im allgemeinen Dasein fest verankert ist, ist eben für die Praxis des Halluzinierens unter Verwendung von Idolen nur mehr versprengt ein äußerst knapper Spielraum übrig. Doch mit dem Anbruch der christlichen Ära, in der die Orakel durch Verspottung und Lächerlichmachen zum Verstummen gebracht werden, kommt es zu einer wahren Renaissance der Idolatrie. Die Tempel, die Hügel und Städte im niedergehenden Griechenland und im aufsteigenden Rom weiß färbten, wurden jetzt mit Götterstandbildern über Götterstandbildern 18 Vgl. John Cohen, Human Robots and Computer Art, History Today 8/1970, S. 561. 19 De partibus animalium 3, 10, 9-12.
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vollgestopft. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert sah dann der Apostel Paulus, als er nach Athen kam, voller Grimm «die Stadt voller Götzenbilder» (Apostelgeschichte 17, 16), und Pausanias, dem wir vor wenigen Seiten in Lebadeia begegnet sind, stolpert auf seinen Reisen förmlich an allen Ecken und Enden über Idole von jeder nur denkbaren Art: aus Marmor oder Elfenbein, vergoldet oder bemalt, mannshoch oder, wie es zuweilen vorkam, bis zur Höhe von zwei- oder dreistöckigen Häusern aufragend. «Sprachen» diese Idole zu ihren Anbetern? Ohne Frage kam das in der Weise wie in den bikameralen Zeiten noch gelegentlich vor. Aber im ganzen genommen ist es für die Zeit nach Anbruch der subjektiven Ära sehr zu bezweifeln, daß derlei Stimmphänomene noch besonders häufig spontan (nicht induziert) aufgetreten wären. Sonst wäre nämlich kein so großes und immer größeres Aufheben gemacht worden um die künstlichen – magischen oder chemischen – Mittel und Wege, auf denen von den steinernen oder elfenbeinernen Göttern halluzinierte Botschaften zu erlangen waren. Und auch hier läßt sich wieder der Eintritt des allgemeinen bikameralen Paradigmas in die Geschichte beobachten: der kollektive kognitive Imperativ, die Induktion, die Trance und die archaische Autorität. In Ägypten, wo die Bruchstelle zwischen Bikameralität und Subjektivität nicht so scharfkantig ausgefallen ist wie bei regsameren und bewegteren Völkerschaften, entwickelt sich das sogenannte hermetische Schrifttum. Es umfaßt eine Reihe von Papyri mit Schilderungen der verschiedenartigen Induktionsprozeduren, die angesichts versiegender bikameraler Gewißheit aufgekommen waren und in der neuen Welt des Bewußtseins Verbreitung gefunden hatten. Auf einem davon findet sich ein Dialog, der (nach dem griechischen Gott der Heilkunst) als «Asklepios» bezeichnet wird und in dem eine Technik angegeben ist, wie man unter Verwendung von Kräutern, Edelsteinen und Düften die Seelen von Dämonen und Engeln in Statuen bannen kann, so daß die Statuen hinterher reden und weissagen können.20 Andere Papyri enthalten
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weitere Rezepte für die Verfertigung und Belebung von Statuen, so etwa Hinweise, wann sie hohl zu lassen sind, um einen auf Blattgold geschriebenen magischen Namen aufnehmen zu können. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert sind derlei Praktiken so gut wie in der gesamten zivilisierten Welt verbreitet. Klatschgeschichten über Wunderleistungen öffentlicher Kultstandbilder wuchsen sich in Griechenland zur Legende aus. In Rom verehrte Nero eine Statuette, die Verschwörungen aufdeckte.21 Dem Apuleius wurde vorgeworfen, ein solches Wunderbild im Privatbesitz zu haben.22 Bis zum zweiten Jahrhundert n. Chr. war die Verbreitung halluzinogener Idole dann so allgemein geworden, daß Lukian sich veranlaßt sah, in seinem «Philopseudes» die Statuengläubigkeit seiner Zeitgenossen der satirischen Verspottung preiszugeben. Und Iamblichos aus Chalkis, der neuplatonische Apostel der «Theurgie» (wie er das in seiner Schrift «Peri agalmaton» nannte), bemühte sich nachzuweisen, «daß die Idole göttlich und von der Gegenwart Gottes erfüllt sind», womit er den wütenden Verdammungsurteilen christlicher Kritiker zum Trotz dem Feuer der Begeisterung für diese Statuen neue Nahrung zuführte. Die Schüler des Iamblichos gewannen ihren Götterbildern Orakel jeglicher Art und Couleur ab. Einer dieser halluzinierenden Geisterseher brüstete sich, er sei in der Lage, ein Standbild der Hekate zum Lachen und die Fackel in ihrer Hand zur Selbstentzündung zu bringen. Noch Cyprianus, der in Ehren ergraute Bischof von Karthago, beklagte sich im dritten Jahrhundert über die «Geister, die unter Statuen und geweihten Bildern lauern».23 Dank der Anstrengung, nach dem Scheitern von Orakeln und Propheten die bikamerale Psyche neu 20 Die Bücher der verschiedenen Asklepios-Tempel verzeichnen eine Fülle von Diagnosen und Heilverordnungen, die den Kranken dort angeblich im Schlaf zuteil wurden. Gesammelt und übersetzt wurde dieses Material von E. J. u. L. Edelstein in: Asclepius: A Collection and Interpretation of the Testimonies, 2 Bde., 1945. 21 Sueton, Nero 56. 22 Apuleius, Apologia sive de magia 63. 23 Weitere Beispiele bei Dodds, a.a.O.
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zu beleben, war die gesamte zivilisierte Welt im Rahmen einer bemerkenswerten Renaissance der Idolatrie Schauplatz einer Epiphanie des Göttlichen in Statuen jeglicher Art und Gestalt. Wie hat man sich den Glauben an diese Dinge zu erklären? Wir befinden uns doch bereits weit im subjektiven Zeitalter, die Menschen rühmten sich seit langem ihrer Vernünftigkeit und ihres klaren Verstandes und hatten immerhin auch schon begriffen, daß es so etwas wie halluzinatorische Trugbilder gab – wie konnten sie da allen Ernstes glauben, daß ihren Statuen reale Gottheiten innewohnten? Und daß sie wirklich und wahrhaftig sprachen? Um das zu verstehen, müssen wir uns den nahezu universellen Glauben jener Jahrhunderte an den absoluten Dualismus von Geist und Materie in Erinnerung rufen. Geist oder Seele oder Bewußtsein (man traf da keine klaren Unterscheidungen) war etwas, das vom Himmel herab in den stofflichen Körper eingegossen war, um ihn zu beleben. In diesem Punkt waren sich sämtliche neuen Religionen jener Epoche einig. Und wenn eine Seele in eine so hinfällige Sache, wie das Fleisch es ist, eingehen und sie beleben kann – in einen verwundbaren Madensack, in den zu seiner Erhaltung am einen Ende pflanzliche und tierische Stoffe hineingestopft werden müssen, die dann am anderen Ende unter Entwicklung von üblen Gerüchen wieder ausgeschieden werden; ein von Sinnlichkeit zerfressenes Gefäß der Sünde, das mit den Jahren Runzeln zieht, von Blähungen geplagt und von grausamen Krankheiten heimgesucht wird und mit dem gleichen Akt, der auch eine Zwiebel spaltet, im Handumdrehen von der ihm einwohnenden Seele zu trennen ist – um wieviel eher läßt sich dann Leben, göttliches Leben, vom Himmel herab eingießen in ein Standbild von unverwundbarer Schönheit mit seinem makellosen Körper aus nichtwelkendem Marmor oder für Krankheiten unangreifbarem Gold! So schreibt zum Beispiel Kallistratos im vierten Jahrhundert n. Chr. über ein Asklepios-Standbild aus Elfenbein und Gold:
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Sollen wir zugeben, daß der göttliche Geist herabsteigt in Menschenkörper, um dort sogar von Leidenschaften befleckt zu werden, das gleiche jedoch abstreiten in einem Fall, wo durchaus kein Zeugen von Übel damit verbunden ist? ... denn seht, wie eine Statue, nachdem die Kunst einen Gott in ihr abgebildet hat, sogar in den Gott selbst übergeht! Obzwar Materie, tut sie doch göttliches Wissen kund.24
Und sowohl der Autor wie auch der größte Teil seiner Zeitgenossen glaubten daran. All das ließe sich heute sehr viel anschaulicher demonstrieren, hätte nicht Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert n. Chr. – hierin ganz ähnlich wie tausend Jahre früher König Josia in Israel vorgehend – seine Armeen von neugetauften Christen mit Hämmern in die vormals bikamerale Welt ausgesandt, damit sie jeglichen materiellen Überrest von Bikameralität, den sie entdecken würden, zertrümmerten. Nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche ist jeder Gott ein eifersüchtiger Gott. Doch selbst dieses Zerstörungswerk vermochte mit der Idolatrie nicht vollständig aufzuräumen: so essentiell ist dem Menschen das Verlangen nach irgendeiner autoritativen Beglaubigung seines Verhaltens. Im Italien und Byzanz des Mittelalters glaubte man an die Macht magischer Standbilder, Unheil zu bannen. Gegen die berühmt-berüchtigten Tempelherren wurde immerhin die Anschuldigung erhoben, sie nähmen Befehle von einem goldenen Kopf entgegen, der Baphomet heiße. Im ausgehenden Mittelalter erfreuten sich halluzinogene Idole solcher Beliebtheit, daß Papst Johannes XXII. in einer Bulle aus dem Jahr 1326 seinen Bannfluch gegen jedermann richtete, der mittels Zauberei Dämonen in ein Bildwerk oder sonstigen Gegenstand banne, um sich von ihnen Fragen beantworten zu lassen. Noch bis zur Reformationszeit konkurrierten Klöster und Wallfahrtskirchen mittels wunderwirkender Statuen miteinander um die Pilger (und ihre Opfergaben). 24 Beschreibungen 10, übs. von A. Fairbanks, 1902 (Loeb Classical Library).
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Zu manchen Zeiten – wahrscheinlich immer dann, wenn die kognitiven Imperative hinter derartigen neobikameralen Erlebnissen unter dem Druck aufklärerisch-rationalistischer Tendenzen ins Wanken gerieten – wurde dem Glauben an lebende Statuen von Fall zu Fall mit betrügerischen Machenschaften nachgeholfen.25 Um nur eines von zahlreichen Beispielen zu zitieren: Zu Boxley wurden an einem mannshohen mittelalterlichen Crucifixus, der in der Gegenwart von Büßern die Augen rollte, Tränen vergoß und Schaum vorm Mund trug, im sechzehnten Jahrhundert «gewisse Maschinerien und alte Drähte zusammen mit alten, verfaulten Stöcken im Rücken desselben»26 entdeckt. Doch sollten wir derlei nicht nur durch die Brille des Zynikers betrachten. Zwar ist es sicher nicht zu leugnen, daß diese artifiziell belebten Statuen häufig keinen anderen Zweck hatten, als den wundergeilen Pilger hinters Licht zu führen; andererseits mag es durchaus auch Fälle gegeben haben, wo die Absicht darin bestand, den Gott mit einer lebensechteren Statue um so eher zur Herniederkunft und Verkörperung zu bewegen. Ein Traktat aus dem vierzehnten Jahrhundert erklärt zu diesem Thema: «Gottes Wunderkraft erfüllt mit ihrem Leuchten manche Bildwerke mehr als andere.»27 Nicht anders begründen noch heute manche Stammeskulturen, warum sie ihre Idole mechanisch beleben. Idolatrie ist bis auf den heutigen Tag wirksam geblieben als soziale Bindekraft – was ja von allem Anfang an ihre eigentliche Funktion war. In unseren Volksgärten und öffentlichen Anlagen haben die Denkmäler verflossener Führerfiguren noch heute eine blumenreiche Heimstatt. Zwar sind wohl nur wenige von uns noch in der Lage, sie sprechend zu halluzinieren, doch hat der Brauch sich kaum verändert, ihnen bei passenden 25 Vgl. F. Paulsen, Talking, Weeping, and Bleeding Sculptures, Acta Archeologica 16/1945, S. 178f. 26 Vgl. Jonathan Sumption, Pilgrimage: An Image of Medieval Religion, Totawa, N. J.: Roeman & Littlefield 1975; ferner Julia Halloway, The Pilgrim, Berne: Peter Lang, im Druck. 27 Aus einer Lollardenhandschrift zitiert bei Sumption, S. 270.
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Gelegenheiten Spenden (in Form von Kränzen) darzubringen gleich den Spenden, die (wenn auch in bedeutend größerem Umfang) in den gigunu von Ur geopfert wurden. In Kirchen, Tempeln und Heiligtümern allüberall auf der Welt werden bis auf den heutigen Tag aus Stein gehauene oder aus Holz geschnitzte oder aus Gips geformte, bemalte oder unbemalte religiöse Bildwerke aufgestellt und verehrt. Püppchen, die die Himmelskönigin darstellen, baumeln schutzgewährend an den Rückspiegeln vieler Autos. Weibliche Teenager, Zöglinge tiefreligiöser Klosterschulen, haben dem Autor in persönlichen Unterredungen gestanden, daß sie nicht selten in tiefer Nacht sich heimlich in die Kapelle hinabstehlen, und sie verschwiegen dabei auch nicht, wie freudig erregt sie sich fühlen, die Statue der Jungfrau Maria sprechen zu «hören» und zu «sehen», wie sie die Lippen bewegt oder das Antlitz neigt oder – was gelegentlich ebenfalls vorkommt – Tränen vergießt. In weiten Teilen der katholischen Welt werden noch heute an bestimmten Festtagen milde dreinblickende Idole von Jesus, Maria oder einem Heiligen gewaschen und eingekleidet und beweihräuchert und mit Blumen bekränzt und mit Edelsteinen geschmückt, um alsdann mit großem Pomp auf Schultern aus glockentönenden Kirchen hinaus und in Prozession durch die Straßen oder über die Felder getragen zu werden. Besondere Speisen als Opfergaben vor diesen Bildern abzulegen, vor ihnen zu tanzen oder sich zu verneigen verfehlt noch heute nicht, eine Stimmung numinoser Erregtheit hervorzubringen.28 Derlei Andachtshandlungen unterscheiden sich von ähnlichen Ausflügen der Gottheiten ins Freie, wie sie vor viertausend Jahren im bikameralen Zweistromland stattgefunden haben, hauptsächlich darin, daß die Idole von heute sich verhältnismäßig schweigsam zeigen.
28 Wie z. B. in Flauberts schöner Erzählung Un coeur simple (Ein einfaches Herz, in: Drei Erzählungen).
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ZWEITES KAPITEL Von Propheten und Besessenheit
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LESER DÜRFTE die große Lücke in der hier vorgetragenen Theorie der Orakel, über die ich im vorigen nonchalant hinweggeglitten bin, nicht entgangen sein. Ich habe das allgemeine bikamerale Paradigma als Relikt der bikameralen Psyche bezeichnet. Gleichwohl handelt es sich bei dem durch Bewußtseinsverengung oder Bewußtseinsverlust gekennzeichneten Entrückungszustand nicht um ein Replikat der bikameralen Psyche (jedenfalls gilt dies für das vierte und spätere Stadien des Orakulierens). Vielmehr haben wir es (vom vierten Stadium an bis zum Verschwinden der Orakel) mit einem vollständigen Dominieren der Gott-Komponente über die Person und ihr Sprechen zu tun – einem Dominieren, das zwar die Person als Resonanzboden benutzt, ihr aber nicht gestattet, sich hinterher an das Vorgefallene zu erinnern. Dieses Phänomen kennt man unter dem Namen Besessenheit. Ein Phänomen, das uns Fragen aufgibt. Fragen, die sich nicht nur auf die längst vergangenen Orakel des Altertums beziehen. Besessenheit tritt auch heute noch auf und ist über lange historische Zeiten hin immer wieder aufgetreten. Sie kommt in einer Negativform vor, die im neutestamentarischen Galiläa eine der verbreitetsten Krankheiten gewesen zu sein scheint. Und mit guten Gründen ließe sich behaupten, daß zumindest ein Teil der Wanderpropheten in Mesopotamien, Israel, Griechenland und anderswo nicht einfach irgend etwas an die Zuhörer weitergab, was zuvor halluzinativ gehört worden war, sondern daß die göttliche Botschaft unmittelbar vom Stimmapparat des Propheten ausging, ohne daß dieser Kenntnis von dem Vorgang gehabt oder sich hinterher hätte daran erinnern können. Wer wie ich den damit verbundenen Zustand als Bewußtlosigkeit bezeichnet, schuldet dafür einige Erklärungen. Denn könnte man nicht ebensogut auch sagen, daß es sich nicht um einen «Verlust» des Bewußtseins, sonEM
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dern um seinen Austausch gegen eine neue, andersgeartete Form von Bewußtsein handelt? Doch was könnte das konkret bedeuten? Oder ist es vielleicht so, daß jene Sprachorganisation des Nervensystems, die aus dem vermeintlich besessenen Menschen spricht, Bewußtsein im Sinn des (hier im Zweiten Kapitel des Ersten Buches dargelegten) Narrativierens in einem «Innenraum» gar nicht kennt? Auf diese Fragen gibt es keine kurzen und bündigen Antworten. Der Umstand, daß wir den Sachverhalt des Besessenseins von metaphysischen Wesenheiten als ontologischen Unfug abtun dürfen, sollte uns nicht blind machen für die psychologischen und historischen Einsichten, die sich aus der genauen Untersuchung solcher Auswüchse der Geschichte und des Glaubens gewinnen lassen. In der Tat muß jede Theorie über das Bewußtsein und seinen Ursprung in der Zeit sich auch diesen rätselhaften Abseitigkeiten stellen. Und ich behaupte nachdrücklich, daß die hier vertretene Theorie besser als jede andere in der Lage ist, in diese dunklen Ecken und Winkel der Psychohistorie hineinzuleuchten. Denn solange wir an der rein biologischen Evolution des Bewußtseins im Rahmen der Entwicklungsgeschichte der niederen Wirbeltiere festhalten, sind die erwähnten Phänomene für uns unzugänglich und in ihrer historisch wie kulturell abseitigen Natur nicht einmal ansatzweise zu begreifen. Allein die Voraussetzung, daß Bewußtsein unter dem Diktat eines kollektiven kognitiven Imperativs erlernt wird, ermöglicht uns überhaupt erst einen rationalen Zugriff auf die erwähnten Fragen. Der erste Schritt zum Verständnis eines psychischen Phänomens besteht darin, seine historische Zeitdauer einzugrenzen. Wann ist es erstmals aufgetreten? Die Antwort darauf braucht man, jedenfalls soweit es um Griechenland geht, nicht lange zu suchen. Nirgendwo in der «Ilias» oder der «Odyssee» oder sonst einer frühgriechischen Dichtung findet sich auch nur der leiseste Hinweis auf Besessenheit oder sonst etwas dergleichen. Während des eigentlich bikameralen Zeitalters kommt es niemals vor, daß ein «Gott»
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durch den Mund eines Menschen spricht. Dagegen ist diese Erscheinung allen Anzeichen nach bis um 400 v. Chr. genauso selbstverständlich geworden, wie es heute etwa Kirchenbauten sind: Nicht nur in den zahlreichen öffentlichen Orakeln, sondern auch in einzelnen Privatleuten ist sie über ganz Griechenland verbreitet. Die bikamerale Psyche ist verschwunden und hat die Besessenheit als Rückstand hinterlassen. Im vierten Jahrhundert v. Chr. läßt Platon den Sokrates mitten in einem Dialog über politische Fragen beiläufig hinwerfen: «Gottbesessene Menschen sagen viel Wahres, wissen aber nichts von dem, was sie sagen»1 – so beiläufig, als könne man solchen Propheten an jeder Straßenecke von Athen begegnen. Und was die Bewußtlosigkeit der zeitgenössischen Orakel betrifft, so läßt er daran keinen Zweifel: ... denn die Prophetie ist ein Wahnsinn, und die Prophetin zu Delphi und die Priesterinnen zu Dodona haben im Wahnsinn vieles Gute in privaten und öffentlichen Angelegenheiten unserer Hellas zugewendet, bei Verstande aber Kümmerliches oder gar nichts.2
Und gleichermaßen bedeutet in der Folgezeit die vermeintliche Besessenheit stets die Auslöschung des gewöhnlichen Bewußtseins. Vierhundert Jahre nach Platon, im ersten nachchristlichen Jahrhundert, stellt Philon aus Alexandria kategorisch fest: Wenn ihn [einen Propheten] die Begeisterung ankommt, verliert er das Bewußtsein, sein Denken schwindet dahin und verläßt die Festung seiner Seele, wo hingegen nun der göttliche Geist eingezogen ist und Wohnung genommen hat, und dieser bringt alle Organe zum Klingen, so daß der Mensch allem, was der Geist ihm eingibt, klaren Ausdruck verleiht.3
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Menon 99 C. Vgl. auch Timaios 71E-72A, wo es u.a. heißt: «Niemand übt mit Überlegung die gottbegeisterte und wahrhafte Seherkraft, sondern ... vermöge eines Fiebers oder einer durch Verzückung erzeugten Umwandlung.» Phaidros 244A-B. Philo Alexandrinus, De specialibus legibus 4, 343 m (hg. von L. Cohn u. P. Wendland im Rahmen der Werkausgabe, Berlin 1896 ff). In der gleichen Schrift heißt es an anderer Stelle (222m): «Der wahrhaft Begeisterte und des Gottes Volle faßt mit seinem Verstand nicht, was er spricht, er spricht bloß nach, was ihm eingegeben wird, wie wenn ein anderer es ihm vorsagt.»
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Das gilt auch noch im folgenden Jahrhundert, wo Aristides über die Orakelpriesterinnen zu Dodona schreibt, daß sie solange sie noch nicht von Begeisterung ergriffen sind, nicht wissen, was sie sagen werden, ebensowenig wie sie sich, sobald sie wieder zu Verstand gekommen sind, erinnern können, was sie gesagt haben, also daß jedermann von dem weiß, was sie sagen, nur sie selber nicht.4
Und Iamblichos aus Chalkis, der führende Kopf des Neuplatonismus zu Beginn des dritten Jahrhunderts, behauptete, daß die göttliche Besessenheit eine «Teilhabe» am Göttlichen sei, daß sie in einer «Vergemeinschaftung von Energie» zwischen Gott und Mensch bestehe und «in der Tat alles, was in uns vorgeht, begreift, jedoch unser eigentliches Eigenbewußtsein und unsere Eigenbewegung auslöscht».5 Besessenheit dieser Art bedeutet also nicht die Rückkehr zur bikameralen Psyche im ursprünglichen Sinn. Denn wenn tausend Jahre früher ein Achilleus die Göttin Athene hörte, dann wußte er hinterher bestimmt, was sie ihm gesagt hatte: Das war nämlich die Funktion der bikameralen Psyche. Damit sind wir beim springenden Punkt des Problems angelangt. Was ein besessener Prophet redet, ist nicht eigentlich halluziniert, nicht etwas von einem bewußten, halbbewußten oder – wie im Fall der eigentlichen bikameralen Psyche – nichtbewußten Menschen Gehörtes. Die besessene Rede wird äußerlich artikuliert und von anderen gehört. Sie tritt nur bei normalerweise bewußten Menschen auf, und zwar korrelativ mit Bewußtseinsschwund. Was berechtigt uns also dazu, zwischen diesen beiden Phänomenen – den Halluzinationen der bikameralen Psyche und der Rede von Besessenen – eine Verwandtschaft zu behaupten? Darauf habe ich keine wirklich hieb- und stichfeste Antwort parat. Zugunsten der behaupteten Verwandtschaftsbeziehung kann ich nur zaghaft vorbringen, daß beide (1) die gleiche sozi4 5
Aristeides, Opera 213. Iamblichos, De mysteriis 3, 8 (dt. Übs. von T. Hopfner 1922.).
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ale Funktion erfüllen, (2) sich auch darin ähneln, daß sie autoritativ Handlungsermächtigungen ausstellen, und daß (3) das wenige, was wir an Faktenmaterial über die Frühgeschichte der Orakel besitzen, darauf hindeutet, daß die Institutionalisierung von Besessenheit in ausgesuchten Personen an bestimmten Orten in allmählichem Übergang aus dem Halluzinieren von Gottheiten erwachsen ist, das jeder Beliebige an diesen Orten erleben konnte. Berechtigt ist demnach zumindest die hypothetische Vermutung, daß die Besessenheit über Transformationsschritte eigener Art einen Abkömmling von Bikameralität darstellt, bei dem die Induktionsrituale, veränderten kollektiven kognitiven Imperative und eingeübten Erwartungen in jener expressiven «Besessenheit», das heißt im Übermanntwerden des betreffenden Menschen durch die Gott-Komponente der bikameralen Psyche resultieren. Vielleicht kann man die Sache so formulieren: Um die ältere Mentalität zu restituieren, war es nötig, das sich entwickelnde Bewußtsein immer nachhaltiger auszuschalten, so daß im selben Zug schließlich die gesamte Mensch-Komponente als solche unterdrückt wurde und die Gott-Komponente allein die Kontrolle über den Sprachapparat ausübte. Und wie hat man sich die neurologische Seite dieser Mentalität vorzustellen? Aus dem im Fünften Kapitel des Ersten Buches ausgeführten Modell ergibt sich praktisch von selbst die Hypothese, daß mit dem Besessensein irgendeine Störung des normalen Dominanzverhältnisses zwischen den beiden Hirnhemisphären einhergehen muß, dergestalt, daß die Aktivität der rechten Hemisphäre um etliches stärker ist als im Normalzustand. Mit anderen Worten und als Frage formuliert: Hätten wir auf der Kopfhaut einer der rasenden Orakelpriesterinnen von Delphi Elektroden anbringen können, hätten wir dann über der rechten Hemisphäre – insbesondere über dem Schläfenlappen – ein in direkter Abhängigkeit vom Grad ihrer Besessenheit beschleunigtes EEG (mithin verstärkte Aktivität) zu verzeichnen gehabt? Ich meine: ja. Zum wenigsten ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß in dem
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Dominanzverhältnis zwischen den beiden Hemisphären eine Veränderung eintrat und daß die propädeutische Schulung der Orakel in nichts anderem bestand als darin, die Beantwortung des komplexen Induktionsreizes mit einer im Verhältnis zur linken verstärkten Aktivität der rechten Hemisphäre per Bahnung als festes Reaktionsmuster zu etablieren. Diese Hypothese würde auch die verzerrten Züge, die äußeren Anzeichen von Raserei und den Nystagmus der Augen erklären, indem sie diese Dinge auf die abnorme Interferenz der rechten Hemisphäre oder den Wegfall linkshemisphärischer Hemmung zurückzuführen erlaubt.6 Hier ist noch eine Anmerkung zum Geschlechterunterschied zu machen. Wie inzwischen allgemein bekannt, sind Frauen in puncto Gehirnfunktionen biologisch weniger lateralisiert als Männer. In schlichtes Deutsch übertragen, bedeutet dies, daß die psychischen Funktionen bei Frauen nicht im gleichen Grad wie bei Männern überwiegend in der einen oder der anderen Gehirnhälfte lokalisiert sind. Die mentalen Fähigkeiten sind bei Frauen gleichmäßiger über die beiden Hemisphären verteilt. Bereits im Alter von sechs Jahren vermag ein Junge die Aufgabe, Gegenstände allein durch Betasten zu identifizieren, mit der linken Hand besser zu lösen als mit der rechten. Bei Mädchen funktioniert das mit beiden Händen gleich gut. Daran zeigt sich, daß die Funktion des haptischen Wiedererkennens (wie sie genannt wird) bei Jungen dieses Alters bereits überwiegend rechtshemisphärisch lokalisiert ist, nicht jedoch bei Mädchen.7 Und ebenso allgemein bekannt ist, daß ältere Männer mit einem Schlaganfall oder einer Blutung in der 6
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Wahrscheinlich ist es nicht so, daß der rechtshemisphärische motorische Rindenbereich das Grimassieren steuert, sondern vielmehr so, daß die ungewöhnlich starke Aktivität im rechten Schläfen-Scheitel-Bereich die Symmetrie des Inputs der Basalganglien zum Gesichtsausdruck verzerrt. Sandra F. Witelson, Sex and the Single Hemisphere, Science 193/1976, S. 425-427. Eine Auswertung von rund dreißig weiteren Untersuchungen zum gleichen Thema unternehmen Richard A. Harshman und Roger Remington in: Sex, Language, and the Brain, Part I: A Review of the Literature on Adult Sexual Differences in Lateralization (1975, noch ungedruckt); vgl. auch Stevan Harnad, On Gender Differences in Language, Contemporary Anthropology 17/1976, S. 327 f.
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linken Hemisphäre in größerem Umfang von Sprachstörungen betroffen sind als Frauen in den gleichen Umständen. Demnach dürfen wir davon ausgehen, daß Residuen der rechtshemisphärischen Sprachfunktion bei Frauen stärker vertreten sind, so daß es ihnen leichter fallen müßte, das Orakulieren zu erlernen. Und in der Tat bestand die Zunft der Orakel und Sibyllen zumindest im europäischen Kulturbereich seit jeher zum überwiegenden Teil aus Frauen. Induzierte Besessenheit Wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, wird das wie unter göttlichem Einfluß stehende institutionalisierte bewußtlose Reden der Orakelpropheten im Lauf der ersten Jahrhunderte der christlichen Ära zusehends inkohärenter, bis sich ihm schließlich überhaupt kein Sinn mehr zuordnen läßt und die Orakel ganz verstummen. Sie geraten unter Beschuß von Seiten eines rationalistischeren Denkstils; auf den Komödienbühnen und in der Literatur werden Breitseiten von Kritik und vernichtenden Respektlosigkeiten auf sie abgefeuert. Eine derartige Unterdrückung eines allgemeinen kulturellen Paradigmas in der Öffentlichkeit (genaugenommen: in der städtischurbanen Öffentlichkeit) endet erfahrungsgemäß häufig mit der Abwanderung dieses Paradigmas in den Privatbereich, in den Untergrund des Sektierertums und der esoterischen Kulte, wo der zugrundeliegende kognitive Imperativ vor Kritik geschützt ist. Nicht anders verhält es sich im Fall der induzierten Besessenheit. Zwar sind die öffentlichen Orakel durch Verspottung zum Schweigen gebracht, doch bleibt das Autoritätsverlangen nach wie vor so groß, daß jetzt auf breiter Front die Privatbemühungen losbrechen, die Götter zurückzuholen und sie im Mund fast x-beliebiger Menschen wieder zum Reden zu bringen. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. ist eine wachsende Zahl solcher «theurgischer» Kulte zu verzeichnen. Ihre Séancen hielten sie zuweilen in den offiziellen Heiligtümern ab, mit zuneh-
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mender Häufigkeit jedoch als Konventikel in privater Umgebung. In der Regel versuchte eine pelestike genannte Person, die das Ganze leitete, den Gott zur zeitweiligen Inkarnation in einer anderen Person zu bewegen; diese zweite Person – katochos oder, in speziellerem Sinn, docheus geheißen – war das, was man heutigentags in einschlägigen Kreisen als ein «Medium» bezeichnen würde.8 Es stellte sich bald heraus, daß die Sache mit einem katochos aus einfachen Verhältnissen, ohne große Bildung, am besten klappte – entsprechende Empfehlungen ziehen sich wie ein Generalbaß durch die gesamte einschlägige Literatur. Iamblichos aus Chalkis, der wahre Apostel dieses Treibens, vermerkt zu Beginn des dritten Jahrhunderts, die besten Medien seien «schlichte junge Leute». Und das waren ja auch, wie wir uns erinnern, die ungebildeten Bauernmädchen, die man sich aussuchte, um sie als Priesterinnen für das Delphische Orakel zu schulen. In anderen Schriften ist von Heranwachsenden wie dem Knaben Aidesios die Rede, «der nur den Kranz aufzusetzen und in die Sonne zu blicken brauchte, um auf der Stelle in unübertroffener Inspiriertheit ein zuverlässiges Orakel von sich zu geben». Mit Sicherheit war dies das Ergebnis sorgfältiger Schulung. Daß die induzierte bikamerale Besessenheit erlernt werden mußte, erhellt aus der Tatsache, daß die Orakel geschult wurden, wie auch aus einer Bemerkung des Pythagoras von Rhodos, derzufolge die Götter sich zuerst nur widerstrebend einstellen, später jedoch – wenn sie es gewohnt sind, in ein und dieselbe Person einzukehren – mit größerer Bereitwilligkeit. Das Lernziel bestand nach meiner Theorie darin, die Hervorbringung eines der bikameralen Psyche nahekommenden Zustandes zum konditionierten, durch die Induktionsprozedur abrufbaren Reflex zu machen. Dies ist ein Punkt, der Beachtung verdient: Normalerweise kommt es uns nämlich nicht 8
Für die Fakten in diesem Abschnitt bin ich der materialreichen Darstellung von Dodds in «Appendix II: Theurgy» seines bereits mehrfach zitierten Werkes verpflichtet. Dort findet der interessierte Leser auch weiterführende Hinweise.
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in den Sinn, wir könnten eine neue, bewußtlose Mentalität und womöglich ein völlig neues Verhältnis zwischen unseren Hirnhemisphären erlernen wie das Fahrradfahren. Da es dabei um das Erlernen eines inzwischen zum praktischen Problem gewordenen neurologischen Zustands ging – eines vom Alltagsleben himmelweit unterschiedenen Zustands –, ist es nicht weiter verwunderlich, daß die per Induktion vermittelten Hinweisreize ausgefallen um jeden Preis und vom Alltag denkbar weit entfernt zu sein hatten. Und das waren sie ohne Frage: Seltsames und Abwegiges in jeglicher Form: Rauchbäder oder Bäder in heiligen Gewässern, sakrale Gewänder und magische Gürtel, bombastische Kränze und geheimsymbolische Abzeichen; man postierte sich in einem Zauberkreis, wie die mittelalterlichen Magier es taten, oder auf characteres, wie Doktor Faustus, als er den Mephistopheles herbeihalluzinierte; man rieb sich Strychnin in die Augen, um Visionen hervorzurufen, wie es in Ägypten Brauch war, oder man wusch sich mit Schwefel und Meerwasser, nach Porphyrios (3. Jh. n. Chr.) ein sehr altes, in Griechenland aufgekommenes Verfahren zur Läuterung der Geistseele, auf daß sie um so eher ein höheres Wesen in sich zu empfangen in der Lage sei. All diese Dinge bewirkten natürlich nur insoweit etwas, als man glaubte, sie bewirkten etwas – so wie auch wir Zeitgenossen einer Spätzeit keinen «freien Willen» haben, es sei denn, wir glauben, wir hätten einen. Und was dabei bewerkstelligt wurde, die «Gottesempfängnis», unterschied sich psychologisch nicht von den anderen Formen der Besessenheit, die wir bereits kennengelernt haben. Bewußtsein und normale Reaktivität des katochos waren gewöhnlich völlig ausgelöscht, so daß er auf fremde Hilfe angewiesen war. Und in diesem Zustand tiefer Trance offenbarte dann vermeintlich der «Gott» Vergangenes und Zukünftiges, beantwortete Fragen oder traf Entscheidungen genau wie in den alten griechischen Orakeln. Welche Erklärung hatte man dafür, wenn die Auskünfte der Götter sich als irrig erwiesen? Nun, dann hatte man wohl versehentlich böse Geister herbeizitiert statt einen echten Gott,
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oder irgendwelche anderen Geister hatten sich ungebeten in dem Medium breitgemacht. Iamblichos persönlich will einmal in seinem Medium einen Geist demaskiert haben, der sich für Apollon ausgab, aber nichts weiter war als der Geist eines Gladiators. Mit Apologien dieser Art ist die gesamte spiritualistische Dekadenzliteratur der Folgezeit gespickt. Und wenn die Séance nicht zum Erfolg zu führen schien, unterzog sich häufig der Versammlungsleiter seinerseits einer Induktion durch Läuterungsriten, die ihn in einen halluzinatorischen Zustand versetzte, in dem er dann klarer «sah» oder auch von dem bewußtlosen Medium etwas «hörte», was dieses womöglich gar nicht gesagt hatte. Dieses «Doubeln» der medialen Rolle, das dem Zusammenspiel zwischen den prophetai und den eigentlichen Orakeln ähnelt, ist die Erklärung für die vielfach berichteten Levitationen des Mediums oder die Größen- und Formveränderungen an dessen Körper.9 Zum Ende des dritten Jahrhunderts hatte unversehens das Christentum die heidnische Welt mit eigenen Autorisiertheitsansprüchen überschwemmt und begann jetzt, sich viele der damals existierenden heidnischen Praktiken zu assimilieren. Zu diesen gehörte auch die Gedankenfigur der Besessenheit, die jedoch im Zuge ihrer Einverleibung in das Christentum ins Transzendentale gewendet wurde. Fast zur gleichen Zeit, als Iamblichos die Herablassung des Göttlichen in Standbilder und analphabetische junge katochoi lehrte, die dergestalt auf dem Weg «energetischer Gemeinschaft» mit einem Gott am göttlichen Wesen «partizipierten», begann der Vertreter eines Konkurrenzunternehmens, nämlich Athanasius, der Bischof von Alexandria, das gleiche für den Analphabeten Jesus zu reklamieren. Der Messias der Christen hatte bis dahin für gott-ähnlich gegolten, allenfalls für einen Halbgott, in dessen Natur sich seine vorgeblich gemischte Abkunft wider9
Man darf getrost davon ausgehen, daß ein Großteil der Zaubertricks berufsmäßiger Illusionisten aus dem Kopieren dieser «Beweise» göttlicher Eingriffe entstanden ist.
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spiegelte. Doch Athanasius gelang es, Kaiser Konstantin, die Konzilsväter zu Nicaea und später den größten Teil der Christenheit davon zu überzeugen, daß Jesus an Jahwe partizipierte, einerlei Wesens mit ihm war: DAS FLEISCHGEWORDENE BIKAMERALE WORT. Wir dürfen, glaube ich, sagen, daß die sich ausbreitende Kirche unter der Bedrohung, in Sekten zu zersplittern, das subjektive Phänomen der Besessenheit zum objektiven theologischen Dogma übersteigerte. Der Zweck, den sie dabei verfolgte, war der, ihren noch weitergehenden Anspruch auf absolute Autorisiertheit zu substantiieren. Für die athanasischen Christen waren die realen Götter wirklich auf die Erde zurückgekehrt und würden abermals wiederkehren. Merkwürdigerweise hat die erstarkende frühchristliche Kirche weder im Fall des Delphischen Orakels noch im Fall der Sibyllen bestritten, daß hier Verbindung mit überirdischen Realitäten aufgenommen werde. Doch heidnische Séancen mit einfachen Bürschlein als gotterfüllten Medien wurden als theologische Randale behandelt, als boshafter Unfug des Teufels und zwielichtiger Geister. Also daß im selben Zuge, wie sich die Kirche zur politischen Autorität des Mittelalters aufschwingt, die willentlich induzierte Besessenheit verschwindet – zumindest aus der öffentlichen Wahrnehmung. Sie wandert jetzt noch tiefer in den subkulturellen Untergrund, ins Hexenwesen und diverse Formen der Nekromantik ab und taucht von dort nur mehr zeitweilig ins öffentliche Bewußtsein auf. Auf die gegenwärtige Bedeutung dieser Praxis komme ich alsbald zu sprechen. Zuvor sollten wir jedoch unsere Aufmerksamkeit auf einen kulturellen Nebeneffekt der induzierten Besessenheit richten, ihre eher besorgniserregende Negativform, die ich hier bezeichnen möchte als Schwarze Besessenheit Jenes ausgesprochen sonderbare Relikt der bikameralen Psyche hat nämlich auch eine Kehrseite – seine Nachtseite gewissermaßen. Und sie unterscheidet sich wesentlich von den
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anderen im vorliegenden Kapitel behandelten Phänomenen. Es ist nämlich keine Reaktion auf eine rituelle Induktion, die zu dem Zweck durchgeführt wird, die bikamerale Psyche wiederzuerlangen. Es ist eine krankhafte Störung, die als Reaktion auf Streß auftritt. Praktisch tritt hier emotionaler Streß an die Stelle der Induktion im allgemeinen bikameralen Paradigma, das im übrigen genau wie im Altertum funktioniert. Und wenn das geschieht, dann fallen allerdings Autorisierung und autorisierende Instanz ganz anders aus. Diese Andersartigkeit gibt hochinteressante Rätsel auf. Im Neuen Testament, wo erstmals in der Geschichte von solch spontanem Besessensein die Rede ist, heißt es (auf griechisch) daimonizomai, «zum Dämon werden».10 Und von damals bis heute eignet Phänomen, wann immer es auftaucht, meistenteils jener Negativcharakter, der dem neutestamentlichen Namen anhaftet. Das Woher dieses Negativcharakters ist derzeit noch ungeklärt. In einem früheren Kapitel (Zweites Buch, Viertes Kapitel) habe ich den Ursprung des «Bösen» hypothetisch in das Willensvakuum verlegt, das aus dem Verstummen der bikameralen Stimmen resultiert. Daß der Schauplatz, wo sich das abspielte, Mesopotamien war und insbesondere Babylonien, wohin die Juden im sechsten Jahrhundert v. Chr. ins Exil verschleppt wurden, mag die Erklärung dafür sein, warum beim Einsetzen dieses Syndroms in der Welt, die das Neue Testament beschreibt, der Negativcharakter überwog. Doch wo immer die eigentlichen Ursachen des Phänomens zu suchen sein mögen: auf der individuellen Ebene müssen sie denjenigen verwandt sein, die für den überwiegend düsternegativen Charakter der Halluzinationen Schizophrener verantwortlich sind. In der Tat springt diese Verwandtschaft zwischen Schwarzer Besessenheit und Schizophrenie bei näherem Hinsehen förmlich in die Augen. 10 Überdies sind die meisten Fälle derartiger Besessenheit in den ältesten und authentischsten Evangelien überliefert, nämlich Markus 1, 32 und 5, 15-18 sowie Matthäus 4, 24; 8, 16, 28-33; 9, 32; 12, 22 (das Matthäusevangelium basiert nach Ansicht der Fachwelt einesteils auf Markus, zum andern auf einem unbekannten älteren Evangelientext).
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Wie der schizophrene Schub beginnt die Schwarze Besessenheit gewöhnlich mit irgendeiner Art von Halluzination.11 Oft besteht diese in der tadelnden «Stimme» eines «Dämons» oder ähnlichen Wesens, die sich nach einer Periode starker Streßbelastung «hören» läßt. Doch anders als bei der Schizophrenie entwickelt sich die Stimme dann zu einem sekundären Persönlichkeitssystem: Das Subjekt verliert die Selbstkontrolle und verfällt in periodisch auftretende Trancezustände mit Bewußtseinsschwund, während deren der «dämonische» Persönlichkeitsaspekt das Regiment führt. Diese Entwicklung ist wahrscheinlich im Vorliegen eines – durch Gruppen- oder Religionszugehörigkeit bedingten – starken kollektiven kognitiven Imperativs begründet. Bei den Betroffenen handelt es sich ausnahmslos um Personen ohne nennenswerte Bildung – in der Regel um Analphabeten –, die allesamt aus tiefster Seele an die Existenz von Geistern oder Dämonen oder ähnlichen Wesen glauben und in deren gesellschaftlichem Umfeld dieser Glaube fest verankert ist. Die gewöhnliche Dauer der Anfälle schwankt zwischen mehreren Minuten und ein, zwei Stunden; in der Zeit zwischen den Anfällen ist das Erscheinungsbild des Patienten vergleichsweise normal und erinnert wenig an sein Leiden. Im Gegensatz zu dem, was Schauerromane uns glauben machen wollen, ist die Schwarze Besessenheit hauptsächlich ein sprachliches Phänomen, keine Angelegenheit des faktischen Verhaltens. Unter allen von mir untersuchten Fällen war Delinquenzverhalten gegenüber anderen Menschen die Ausnahme. Der Besessene schießt nicht los und führt sich auf wie ein Dämon: Er redet nur wie einer. Die Anfallsepisoden sind in der Regel von Leib- und Gliederverrenkungen und -windungen begleitet, wie sie auch bei der induzierten Besessenheit auftreten. Die Stimme ist entstellt, häufig ins Gutturale verschoben, voller Schreie, Seufzer 11 Ich resümiere hier Fallgeschichten aus der einschlägigen Literatur. Der Leser findet den Gegenstand ausführlicher behandelt und mit weiteren (nicht sonderlich vollständigen) Fallgeschichten dokumentiert bei Oesterreich, a. a. O. sowie in: J. L. Nevius, Demon Possession and Allied Themes, Chicago: Revell 1896.
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und Vulgarismen, und gewöhnlich lästert und beschimpft sie die anerkannten Gottheiten der jeweiligen Epoche. Fast ausnahmslos herrscht totaler Bewußtseinsverlust, und die betroffene Person scheint währenddem in das Gegenteil ihres normalen Selbst verwandelt. «Er» bezeichnet sich unter Umständen als Gott, Dämon, Geist, Gespenst oder auch als ein Tier (im Orient ist es meist «der Fuchs»), fordert ein Heiligtum oder Anbetung und jagt Krämpfe in den Leib des Patienten, wenn ihm die Erfüllung seiner Forderungen verweigert wird. Von seinem natürlichen Selbst redet «er» gemeinhin in der dritten Person und verächtlich wie von einem nichtsnutzigen Fremden, so wie Jahwe zuweilen seine Propheten wegwerfend behandelt oder die Musen ihre Dichter höhnten.12 Und häufig zeigt «er» sich sehr viel intelligenter und wacher als der Patient im Normalzustand, so wie auch Jahwe und die Musen intelligenter und wacher als ihre Propheten und Dichter waren. Wie bei der Schizophrenie kommt der Fall vor, daß der Patient ausführt, was er geheißen wird, und – was noch merkwürdiger ist – daß er sich interessiert zeigt am Zustandekommen von Verträgen oder Abmachungen mit seinen Beobachtern, etwa in Gestalt des Versprechens, daß «er» aus seinem Wirt weichen wird, sobald die oder jene Bedingung erfüllt ist; kommen derartige Vereinbarungen zustande, werden sie von dem «Dämon» so getreu und pünktlich erfüllt wie im Alten Testament die zuweilen ähnlichen Bündnisse seitens Jahwes. In gewisser Weise verwandt mit jener Ansprechbarkeit und dem Interesse an Verträgen ist der Umstand, daß die Kur für die spontane, streßbedingte Besessenheit, nämlich der Exorzismus, von den Tagen des Neuen Testaments bis heute stets die gleiche geblieben ist. Sie besteht einfach darin, daß eine Autoritätsperson, die im Namen einer mächtigeren Gottheit auftritt, die Befehls12 Wahrscheinlich wird man mir diese Parallelisierung «aus methodischen Gründen» verübeln. Immerhin mache ich aus meinem Denken keine Mördergrube. Kann man vielleicht davon ausgehen, daß die rechtshemisphärische Entsprechung zum Wernicke-Zentrum mit dem linksseitigen Wernicke-Zentrum prinzipiell «von oben herab» verfährt? Bezug genommen wird im Text auf 2. Mose 4, 24 und Hesiod, Theogonie, Vers 26.
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gewalt an sich reißt und ausübt; häufig erfolgt dies im Anschluß an ein Induktionsritual. Die Rolle des Exorzisten läßt sich im Rahmen des allgemeinen bikameralen Paradigmas als die Funktion der Autorisierungsinstanz interpretieren, aus der nun der «Dämon» seinerseits verdrängt wird. Die kognitiven Imperative des Glaubenssystems, das überhaupt die Form des Leidens bedingt, bedingen auch die Kur. Das Phänomen ist unabhängig vom Lebensalter, dagegen zeigt es ausgeprägte Geschlechtsspezifik, variierend je nach der historischen Epoche, worin sich seine Verwurzelung in kulturell bedingten Erwartungshaltungen erweist. Die Besessenen, die im Neuen Testament von Jesus oder seinen Jüngern geheilt werden, sind in der überwältigenden Mehrzahl Männer. Vom Mittelalter an ist das Zahlenverhältnis zugunsten der Weiblichkeit verkehrt. Als weiteres Indiz dafür, daß es seine Basis in einem kollektiven kognitiven Imperativ hat, sind die gelegentlich auftretenden Epidemien zu werten, so etwa die epidemische Besessenheit in mittelalterlichen Frauenklöstern oder in Salem (Massachusetts) im achtzehnten Jahrhundert. Oder die epidemischen Fälle, wie sie nach vorliegenden Berichten im neunzehnten Jahrhundert in den Savoyer Alpen vorgekommen sein und manchmal auch heute noch da und dort vorkommen sollen. Nochmals: bei so frappierenden Veränderungen der Geistesverfassung wie im vorliegenden Fall kommt man um die Frage nach der neurologischen Komponente nicht herum. Was geht da vor? Werden die Sprachzentren der rechten (nichtdominanten) Hemisphäre bei der spontanen Besessenheit ebenso aktiviert wie, nach meiner bereits vorgetragenen Auffassung, bei der induzierten Besessenheit der Orakel? Und sind Verrenkungen und verzerrte Gesichtszüge darauf zurückzuführen, daß die rechte Hemisphäre in die Verhaltenskontrolle eingreift? Der Umstand, daß es sich bei der Mehrzahl der Betroffenen (wie ja auch generell bei den Sibyllen und bei den meisten Orakeln) um Frauen handelt, sowie der weitere Umstand, daß Frauen (zur Zeit und in unserer Kultur) weniger lateralisiert sind als Männer, deuten zusammengenommen in diese Richtung.
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Zumindest in einem Teil der Fälle setzt die Besessenheit mit linksseitigen Körperverrenkungen ein, was auf die Stichhaltigkeit der vorgetragenen Vermutungen hindeutet. Betrachten wir einen Fall, der aus der Zeit kurz nach der Jahrhundertwende berichtet wird. Es handelt sich um eine siebenundvierzigjährige Japanerin ohne Schulbildung, die sechs-, siebenmal täglich vom «Fuchsgeist» (wie sie selber sagte) besessen wurde, und zwar stets mit der gleichen Lateralsymptomatik. Ihr Arzt berichtet darüber: Zuerst zeigten sich leichte, dann stärkere Zuckungen links um den Mund und im linken Arme. Sie schlug sich mit der geballten rechten Faust wiederholt heftig auf die linke Brust, die von früheren solchen Anlässen her ganz geschwollen und blutrünstig war, und sagte zu mir: «Ach Herr, jetzt regt er sich hier wieder, hier in meiner Brust.» Da kam plötzlich aus ihrem Munde eine fremde scharfe Stimme in schnarrendem Ton: «Ja, freilich bin ich da, und glaubst du dumme Gans etwa, daß du mich hindern kannst?» Darauf die Frau zu uns: «Ach Gott, ihr Herren, verzeiht, ich kann gewiß nichts dafür.» Dann sich immer wieder auf die Brust schlagend und mit dem linken Gesicht zuckend zum Fuchs: «Sei still, Bestie, schämst du dich denn gar nicht vor diesem Herrn?» ... Die Frau droht ihm, beschwört ihn, ruhig zu sein. Er unterbricht sie, und nach kurzer Zeit ist er im Alleinbesitz des Denkens und der Sprache. Mit einer unfaßlichen Schlagfertigkeit antwortet er auf alle Fragen, hat sofort für alles eine Erklärung bereit. Die Frau ist jetzt passiv wie ein Automat, versteht offenbar nicht mehr deutlich, was man ihr sagt, an ihrer Stelle erwidert immer hämisch der Fuchs ... Nach zehn Minuten spricht der Fuchs undeutlicher ... nach einiger Zeit ist [die Frau] wieder ganz normal. Sie kennt die Vorgänge im ersten Teile des Anfalles genau, während sie über die Zeit der Alleinherrschaft des Fuchses keine genaue Auskunft geben kann ... Sie bittet weinend um Entschuldigung und Vergebung wegen des abscheulichen Benehmens des Fuchses.13
Aber das ist ein Einzelfall. Ein Patient mit derart ausgeprägter Lateralsymptomatik ist mir kein zweites Mal untergekommen. Beim Rätselraten über die Neurologie der Schwarzen Besessenheit kann, wie ich meine, ein Blick auf ein modernes Leiden, 13 E. Baelz, Über Besessenheit und verwandte Zustände. Auf Grund eigener Beobachtungen, Wien: Moritz Perles 1907, S. 26f. Die behandelnden Ärzte staunten über die Redegewandtheit, den Witz und die Ironie, die der «Fuchs» an den Tag legte und die weit aus dem Rahmen dessen herausstachen, was sonst das Sprachgebaren der Patientin ausmachte.
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das sogenannte «Gilles-de-la-Tourette-Syndrom»14 (zuweilen auch als Koprolalie und «Zotenreißerkrankheit» [foul-mouth disease] bezeichnet), nützliche Hinweise vermitteln. Die ausgefallene Symptomatik setzt gewöhnlich im Kindheitsalter – mit fünf Jahren, in manchen Fällen früher – ein; sie besteht dann unter Umständen lediglich in wiederholten Gesichtszuckungen oder in einem zusammenhanglos gebrauchten verpönten Wort. Im Lauf der Zeit wird daraus der unbeherrschbare Zwang, mitten in einem sonst normal verlaufenden Gespräch krasse Unflätigkeiten, Grunzer, Blaffer oder Flüche hervorzustoßen; daneben entwickeln sich allerlei Gesichtstics, zwanghaftes Zungeherausstrecken und dergleichen. Das alles setzt sich dann, sehr zum Kummer des Patienten, im Erwachsenenleben fort. Selber am meisten entsetzt und verlegen über ihre unkontrollierbaren Ausbrüche von Vulgarität, wissen sich diese Menschen in ihrer Angst vor der Blamage oftmals keinen anderen Rat, als überhaupt nicht mehr aus den eigenen vier Wänden hinaus und unter Menschen zu gehen. In einem mir bekannten Fall aus jüngerer Zeit erfand sich ein Mann als Schutz vor dem Entdecktwerden ein schweres Blasenleiden, das ihn zu häufigem Wasserlassen zwinge. In Wirklichkeit spürte er jedesmal, wenn er im Restaurant oder in der Wohnung seiner Gastgeber auf die Toilette stürzte, die verbalen Gemeinheiten in sich aufsteigen, die er dann in der Abgeschiedenheit des stillen Örtchens herausließ, um sich Erleichterung zu verschaffen.15 Was dieser Mann da in sich spürte, dürfte nicht unähnlich gewesen sein dem Feuer, das in den Gebeinen des Propheten Jeremia verschlossen war (Jeremia 20, 9; vgl. hier Zweites
14 Wer neuere Arbeiten zu diesem Gegenstand und seiner Geschichte sucht, findet sie in den Quellenverweisen und Belegen in: A. K. Shapiro, E. Shapiro, H. L. Wayne, J. Clarkin u. R. D. Bruun, Tourette’s Syndrome: Summary of Data on 34 Patients, Psychosomatic Medicine 35/1973, S. 419-435. 15 Das Tourette-Syndrom wird häufig, wenn nicht sogar regelmäßig als eine Form von Geistesgestörtheit fehldiagnostiziert – was es ganz bestimmt nicht ist. Glücklicher- und interessanterweise jedoch, so hat man herausgefunden, lassen sich mittels eines neuen Antipsychotikurris (Haioperidol) die Symptome beseitigen – was bei den im Text erwähnten Fällen auch geschehen ist.
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Buch, Sechstes Kapitel), wenngleich das semantische Ergebnis davon ein (indes durchaus nicht absolut) anderes war. Was das Tourette-Syndrom für uns interessant macht, ist seine unverkennbare Ähnlichkeit mit der Anfangsphase der streßbedingten Besessenheit – eine Ähnlichkeit, die so weit geht, daß sich die Vermutung, ein und derselbe physiologische Mechanismus bilde die Basis beider Phänomene, förmlich aufdrängt. Und dieser Mechanismus könnte sehr wohl eine unvollständige Dominanzlateralisierung sein, die sich in der Weise auswirkt, daß sich die Sprachzentren der rechten Hemisphäre (möglicherweise stimuliert durch Impulse aus den Basalganglien) unter Bedingungen, wie sie beim bikameralen Menschen zu Halluzinationen geführt hätten, periodisch in das Sprachverhalten einmischen. Demnach überrascht es nicht, daß nahezu alle unter dem Tourette-Syndrom leidenden Personen ein anomales Gehirnwellenbild aufweisen, daß bei einem Teil von ihnen das Zentralnervensystem geschädigt ist, daß sie in der Regel Linkshänder sind (bei der Mehrzahl der Linkshänder ist die Dominanz nicht einseitig, sondern gemischt lateralisiert) und daß die Symptome ungefähr im fünften Lebensjahr einsetzen, also zu der Zeit, da die neurologische Entwicklung der Hemisphärendominanz in bezug auf die Sprachfunktion ihren Abschluß erfährt. Als Aussage über unser Nervensystem ist all das höchst wichtig, andererseits aber auch wieder Anlaß für Unbehagen. Denn obschon ich von der grundsätzlichen Richtigkeit des im Fünften Kapitel des Ersten Buches vorgestellten neurologischen Modells überzeugt bin, sind wir augenblicklich dabei, uns immer weiter von ihm zu entfernen. Es ist ganz unwahrscheinlich, daß bei den Fällen von neuzeitlicher Geistbesessenheit die rechtshemisphärischen Sprachzentren direkt an der Artikulation der Rede als solcher beteiligt sind. Eine dahingehende Hypothese stünde im Widerspruch zu so vielen klinischen Befunden, daß sie – von ganz abartigen Ausnahmefällen abgesehen – von vornherein als unhaltbar ausscheidet. Größere Wahrscheinlichkeit hat die Möglichkeit für sich, daß der Unter-
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schied zwischen der bikameralen Psyche und den modernen Besessenheitszuständen darauf beruht, daß im Fall der ersteren die Halluzinationen de facto in der rechten Hemisphäre organisiert und von dort ins Gehör übermittelt wurden; bei der Besessenheit dagegen fällt die Artikulation der Rede in den Bereich der normalen linkshemisphärischen Sprachfunktion, die jedoch unter Kontrolle oder Lenkung von Seiten der rechten Hemisphäre steht. Mit anderen Worten: das Pendant zum Wernicke-Zentrum in der rechten Hemisphäre bedient sich des Broca-Zentrums in der linken Hemisphäre als Instruments, woraus eben deren Trancezustand und Depersonalisierung resultiert. Ein solchermaßen überkreuztes Steuerungsverhältnis ist möglicherweise das neurologische Substrat für das Schwinden des normalen Bewußtseins. Besessenheit in der Welt der Gegenwart Anhand einer zeitgenössischen Form von induzierter Besessenheit möchte ich im folgenden den einigermaßen schlüssigen Beweis dafür liefern, daß es sich bei dem Phänomen um das Ergebnis eines Lernprozesses handelt. Das geeignetste Demonstrationsbeispiel, das ich finden konnte, ist die Umbanda-Religion, wie sie heute in Brasilien praktiziert wird: Es ist die zahlenmäßig bei weitem stärkste der afroamerikanisch-synkretistischen Religionen, denen heute mehr als die Hälfte der brasilianischen Bevölkerung anhängt. Menschen mit jedem nur erdenklichen ethnischen Hintergrund glauben an sie als eine Quelle verbindlicher Entscheidungen, und ganz bestimmt haben wir es in ihr mit dem ausgedehntesten Vorkommen von induzierter Besessenheit seit dem dritten nachchristlichen Jahrhundert zu tun. Spielen wir also einmal Zuschauer bei einer typischen gira, einer «Rundreise», wie die UmbandaZusammenkünfte treffend genannt werden.16 Der Schauplatz, 16 Der gesamte Abschnitt über Umbanda basiert auf der maßgeblichen, äußerst faktenreichen Untersuchung von Esther Pressel: Umbanda Trance and Possession, in: Trance, Healing, and Hallucination, hg. von Felicitas Goodman u. a., New York: Wiley 1974.
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wo dergleichen heute stattfindet, ist vielleicht der Oberstock eines Lagerhauses oder eine leerstehende Autowerkstatt. Ein knappes Dutzend Medien (zu zwei Dritteln Frauen), feierlich in Weiß gekleidet, tritt aus einem Umkleideraum vor den weißdrapierten, mit Blumen, Kerzen und christlichen Heiligenbildern und -statuen überladenen Altar, erwartet von einem etwa hundertköpfigen Teilnehmerpublikum, das, durch eine Schranke vom Ort des Rituals abgetrennt, den Rest des Raumes füllt. Unter dem Getrommel der Musikanten und dem Gesang des Publikums beginnen die Medien, ihre Körper in schwingende Bewegung zu versetzen oder zu tanzen. Die Bewegung erfolgt dabei stets gegen den Uhrzeigersinn, das heißt ausgehend von motorischen Impulsen aus der rechten Hirnhemisphäre. Daran anschließend findet eine Art Gottesdienst nach christlichem Vorbild statt. Danach erneut frenetisches Getrommel, alles singt, und die Medien beginnen ihre Geister zu rufen; manche kreiseln dabei linksrum wie wirbelnde Derwische, womit sie neuerlich die rechte Hemisphäre erregen. Jetzt wird deutlich, warum das Medium mit einer expliziten Metapher als cavalo, Pferd, bezeichnet wird. Von dem Geist – um welchen auch immer es sich im Einzelfall handeln mag – wird angenommen, daß er sich in sein cavalo hinabläßt, und während das geschieht, wirft das Medium Kopf und Brustkorb gegenstrebig vor und zurück wie ein Wildpferd beim Eingerittenwerden. Dabei fliegen die Haare wild um den Kopf. Das Gesicht nimmt einen verzerrten Ausdruck an wie bei den bereits erwähnten Besessenheitsformen der Antike. Die Körperhaltung verändert sich zum Abbild irgendeines der verschiedenen Geister, die nach allgemeiner Überzeugung im Ritual von ihrem Medium Besitz ergreifen. Ist diese Besitzergreifung abgeschlossen, das Medium also vollständig «besessen», tanzen die «Geister» vielleicht noch für eine Weile oder tauschen in diesem Besessenheitsstadium untereinander Grußformalitäten aus oder treiben sonst etwas, das zum Bild dieses oder jenes speziellen Geistes paßt, um dann, sobald das Trommeln aussetzt, jeder seinen vorbestimmten Platz einzunehmen, wo sie in absonderlicher Haltung – die Hände mit
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auswärts gekehrten Handflächen seitlich herabhängend – und unter ebenso absonderlichem fortwährendem Fingerschnikken darauf warten, daß einzelne Teilnehmer aus dem Publikum zur consulta an sie herantreten. Bei der consulta erteilt das besessene Medium auf die entsprechende Bitte hin eine konkrete Anweisung, wie in der oder jener Angelegenheit praktisch zu verfahren sei; die angesprochenen Probleme können aus allen möglichen Lebensbereichen stammen – sie können zum Beispiel die Frage betreffen, wie man Arbeit findet oder behält oder wie man ein Geldgeschäft abwickeln soll, oder sie betreffen Familienstreitigkeiten, eine Liebesaffäre und unter Umständen, wenn die Ratsuchenden Schüler oder Studenten sind, sogar die Frage, wie man sich am zweckmäßigsten auf eine bevorstehende Prüfung vorbereitet. Der Beweis dafür, daß die Besessenheit eine erlernte Geistesverfassung darstellt, ist nun allerdings in diesem brasilianischen Kult mit Händen zu greifen. Auf einem bairro-Spielplatz kann man gelegentlich Kinder beobachten, wie sie im Spiel die charakteristischen Ruckbewegungen von Kopf und Brustkorb nachahmen, die im Ritual zur Herbeiführung und Beendigung des Besessenheitszustands eingesetzt werden. Sobald ein Kind den Wunsch bekundet, Medium zu werden, wird es darin bestärkt und erhält die entsprechende Spezialausbildung- so wie die Bauernmädchen, die in Delphi oder wo auch immer im griechischen Kulturbereich als Orakel rekrutiert wurden. Ja, manche der zahlreichen Umbanda-Zentren (allein in São Paulo gibt es 4000) halten regelmäßig Schulungskurse ab, und die dabei angewandten Unterrichtsmethoden umfassen verschiedene Techniken, die Neophyten in einen Zustand der Bewußtseinstrübung zu versetzen, um ihnen alsdann den Eintritt in den Trancezustand wie auch hypnoseähnliche Techniken beizubringen. Und im Trancezustand wird den Novizen oder Novizinnen dann weiter beigebracht, wie jeder einzelne der in Frage kommenden Geister sich aufführt. Diese Differenzierung unter den in der Besessenheit auftretenden Geistern ist ein wichtiger Umstand, bei dem ich noch etwas länger verweilen möchte, um seine kulturelle Funktion
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zu verdeutlichen. Relikte der bikameralen Psyche existieren nicht in irgendeinem luftleeren psychologischen Raum. Das bedeutet: sie sind nicht als isolierte Erscheinungen aufzufassen, die einfach innerhalb einer Kultur auftauchen, um es sich dort auf ihren Lorbeeren von Anno dunnemals bequem zu machen und/oder ein müßiggängerisches Eckensteherdasein zu führen, sondern ihr Lebensraum ist stets die vitale Mitte einer Kultur oder Subkultur: Sie sind die Energie und Antriebskraft des Unausgesprochenen und Subrationalen. In der Tat bilden sie den irrationalen und nichthinterfragbaren Quell- und strukturellen Vereinigungspunkt der fraglichen Kultur. Und die Kultur ist ihrerseits wieder Substrat des Bewußtseinstyps ihrer Individuen, der Art und Weise, wie das «Ich-qua-Metapher» vom «Ich-qua-Analogon» «wahrgenommen» und wie exzerpiert wird, sowie der Zwänge, die für Narrativierung und Kompatibilisierung gelten. Und die Relikte der bikameralen Psyche, um die es augenblicklich geht, bilden durchaus keine Ausnahme davon. Ein Besessenheitskult wie der der Umbanda funktioniert als mächtiger psychologischer Rückhalt für die Massen seiner armen, unterprivilegierten, hungernden Anhänger. Er ist durchsetzt mit dem Grundgefühl der caridade, der Nächstenliebe, in dem dieses bunte Gemisch politisch Machtloser, durch Verstädterung und ethnische Ungleichheit Entwurzelter Trost und Zusammenhalt findet. Und betrachten wir die einzelnen Formen neurologischer Organisation, wie sie in den von den Medien Besitz ergreifenden Geistern repräsentiert erscheinen. Sie erinnern an die privaten Fürsprechergottheiten der Sumerer und Babylonier, die als Vermittler zu den Obergöttern auftraten. Jedes Medium kann am jeweiligen Abend von einem einzelnen der namentlich bekannten Geister aus irgendeiner der vier Hauptklassen von Geistern besessen sein. Diese Klassen sind, nach der Häufigkeit des Auftretens ihrer Mitglieder geordnet: - die caboclos, Geister brasil-indianischer Krieger, deren Rat in Situationen gefragt ist, die schnelles und entschlossenes Handeln verlangen, so etwa, wenn es darum geht, einen Arbeitsplatz zu finden oder zu behalten.
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- die pretos velhos, Geister der alten afrobrasilianischen Sklaven, deren Geschick sich beim Lösen lange verschleppter persönlicher Probleme bewährt. - die criaçnas, Geister verstorbener Kinder, deren Medien ausgelassen-heitere Ratschläge geben. - die exus (Dämonen) und – in der weiblichen Spielart – pombagiras (Ringeltauben), Geister böswilliger Landesfremder, deren Medien niederträchtige und aggressive Ratschläge geben.
In jedem dieser vier Haupttypen von Geistern ist jeweils eine ethnische Gruppe aus dem Völkergemisch der Anhängerschaft repräsentiert: Indios, Afrikaner, Brasilianer (die crianças sind «unseresgleichen») und Europäer. Und jeder verkörpert ein anderes Familienverhältnis des Ratsuchenden: das zu Vater, Großvater oder Geschwistern, oder er verkörpert das Verhältnis zu Familienfremden. Dazu repräsentiert jeder einen anderen Entscheidungsbereich: rasche Entschlüsse angesichts konkreter Handlungsalternativen, Trost und Zuspruch bei persönlichen Problemen, Ratschläge, die auf Ausgelassenheit und Zeitvertreib zielen, und Entscheidungen in Angelegenheiten, bei denen Aggressionen im Spiel sind. Auch für die griechischen Götter war das Unterscheidungsmerkmal ursprünglich die Zuständigkeit für einen bestimmten Entscheidungsbereich: Die Geister der Umbanda weisen also in diesem Punkt direkte Ähnlichkeit mit ihnen auf. Und das Ganze ähnelt einer in sich vierdimensionalen Struktur oder Metaphernmatrix, die zwischenmenschliche Bindungen und kulturellen Zusammenhalt stiftet. Und das alles ist, wie ich meine, ein Überbleibsel der bikameralen Psyche in dem nunmehr jahrtausendealten Prozeß der Anpassung an eine neue Mentalität. Die echte Besessenheit, so wie sie von Platon und anderen geschildert wird, findet nach einhelliger Meinung nur im bewußtlosen Zustand statt, und eben darin liegt der Unterschied zwischen ihr und der Schauspielerei, dem Nur-so-tunals-ob. Bei der Ausbildung der Orakel muß jedoch mit Abstufung und Zwischenschritten gearbeitet worden sein, bis jener Zustand erreicht war. Und genau das ist, nach allem, was wir
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wissen, auch bei den brasilianischen Besessenheitskulten der Fall. Für den jugendlichen Initianden beginnt die Sache vielleicht damit, daß er/sie Besessenheit schauspielerisch darstellt, und die nächsten Schritte der Ausbildung führen dann zu dem Ziel, daß er/sie zwischen der Redeweise der Geister und dem, was er/sie selber normalerweise sagen würde, zu unterscheiden vermag. Das nächste Ausbildungsstadium bringt ein Oszillieren zwischen Bewußtsein und Bewußtlosigkeit. Und dann schließlich ist die vollendete Besessenheit erreicht – das heißt, wenn ich oben richtig vermutet habe, der Brückenschlag zwischen Wernicke-Zentrum rechts und Broca-Zentrum links geschafft – und damit jener heißbegehrte Zustand von Bewußtlosigkeit ohne alle Erinnerung an das, was geschieht. Davon kann freilich nicht bei allen Medien die Rede sein. Und bei einer derart verbreiteten pseudobikameralen Praxis wie dem Umbandakult darf man nichts anderes erwarten, als daß Schauspielerei und Trance von unterschiedlicher Qualität oder unterschiedlichen Echtheitsgraden in wechselndem Mischungsverhältnis miteinander verbunden sind – und das mitunter sogar in ein und demselben Medium. Glossolalie Zum Abschluß sei noch auf ein Phänomen eingegangen, das eine schwache Ähnlichkeit mit der induzierten Besessenheit aufweist: die Glossolalie, in der Apostelgeschichte (10, 46; 19, 6) als das «Reden in Zungen» erwähnt. Glossolalie ist das fließende Reden in artikulierten Lauten, die sich wie Laute einer unbekannten Sprache anhören; ein Reden, dem sogar der Sprecher selbst keinen Sinn abzugewinnen vermag, ja an das er sich hinterher in den seltensten Fällen überhaupt noch erinnert. Das Phänomen scheint erstmals innerhalb der urchristlichen Gemeinde aufgetreten zu sein,17 nämlich als 17 Gewisse Stellen, an denen davon die Rede ist, daß Jahwe seinen Geist ausgießt, werden zuweilen als Belege für das Vorkommen von Glossolalie im Alten Testament ins Treffen geführt. Das entbehrt m.E. jeglicher Stichhaltigkeit. Man kann berechtigter Weise sagen, daß es sich um ein Phänomen spezifisch christlichen Ursprungs handelt, das vor allen in den paulinischen Schriften zu finden ist.
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das sogenannte Pfingstwunder, das als Ausgießung des Heiligen Geistes über die versammelten Apostel oder als deren Erfüllung mit dem Heiligen Geist beschrieben wird. Das Ereignis wurde bald als die Geburtsstunde der christlichen Kirche angesehen und im Pfingstfest – am fünfzigsten Tag nach Ostern – gefeiert.18 Im 2. Kapitel der Apostelgeschichte wird es geschildert als «ein Brausen vom Himmel wie eines gewaltigen Windes», der zerteilte Zungen «wie von Feuer» mit sich führt und unter dessen Einfluß die Apostel wie betrunken in fremden Sprachen zu predigen beginnen, die sie nie gelernt haben. Der veränderte Geisteszustand, wie er den Aposteln und ihresgleichen widerfuhr, fand seine Autorisierung in sich selbst. Die Praxis breitete sich aus. Bald redeten die Frühchristen allerorten in Zungen. Paulus erhob die Glossolalie in gleichen Rang mit der Prophetie (1. Korinther 14). Und in der nachpaulinischen Geschichte gab es immer wieder Perioden, in denen das Zungenreden als Ersatz für die verlorengegangene Autorität der bikameralen Psyche in Mode war. Die Formen, in denen es bis in die jüngste Zeit hinein praktiziert wird – und zwar nicht nur von theologisch extrem konservativen Sekten, sondern auch im Umkreis von Kirchen, die der Hauptlinie des Protestantismus zuzurechnen sind –, haben dem Phänomen die Aufmerksamkeit der Wissenschaft zugezogen, die ihrerseits einige interessante Ergebnisse produzierte. Die Glossolalie des Individuums manifestiert sich beim erstenmal stets im Gruppenzusammenhang und stets im Rahmen einer gottesdienstlichen Veranstaltung. Den Faktor Gruppe habe ich hervorgehoben, weil ich glaube, daß diese Bekräftigung des kollektiven kognitiven Imperativs unerläßlich ist für eine besonders tiefe Art von Trance. Häufig trifft man auch auf eine Phase, die einer Induktion entspricht, so insbesondere aufputschenden Gesang, gefolgt von den Zurufen 18 Zum Pfingstfest ist im Vatikan heute Rot die liturgische Farbe; sie vertritt symbolisch die Feuerzungen. In protestantischen Kirchen wird die Pfingstfeier in Weiß – Symbol des Heiligen Geistes – begangen; daher das englische Wort «Whitsuntide» (= Zeit um den Weißen Sonntag) für die Pfingstzeit.
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eines charismatischen Führers: «Wenn ihr merkt, daß irgend etwas mit eurem Sprechen vorgeht, dann sperrt euch nicht dagegen – laßt es einfach geschehen!»19 Bei wiederholter Teilnahme an derartigen Zusammenkünften lernen die Gläubigen durch die Beobachtung der Glossolalie anderer Teilnehmer zunächst einmal, in einen Zustand tiefer Trance einzutreten, in dem sie – bei stark vermindertem oder völlig ausgelöschtem Bewußtsein – auf exterozeptive Reize nicht mehr reagieren. Die Trance ist in diesem Fall eine nahezu autonome: mit Schütteln, Schauern, Schweißbildung, Zuckungen und Tränenfluß verbunden. Daraufhin lernt der oder die Betreffende auf irgendeine Weise, «es geschehen zu lassen». Und dann geschieht es auch, laut und deutlich, am Ende jedes Satzes in Stöhnen ausklingend: aria ariari isa, vena amiria asaria!20 Es ist ein stampfender Rhythmus, und so ähnlich mögen die hexametrischen Daktylen auf die Zuhörer der aoidoi gewirkt haben. Das Erstaunliche dabei ist: dieser regelmäßige Wechsel von betonten und unbetonten Silben, der so sehr an das Versmaß der homerischen Epen erinnert, ändert sich mit der Muttersprache des Sprechers ebensowenig wie die steigende und zum Satzende hin abfallende Intonationskurve. Gleichgültig, ob der «in Zungen Stammelnde» Brite, Portugiese, Spanier, Indonesier, Schwarzafrikaner oder Maya ist, gleichgültig auch, an welchem Schauplatz das Geschehen stattfindet – das Schema der Glossolalie ist immer das gleiche.21 Nach der Glossolalie schlägt der Betreffende die Augen auf und kehrt von seinem bewußtlosen Höhenflug langsam in die staubigen Niederungen der Realität zurück. Er erinnert sich kaum an das, was mit ihm vorgegangen ist. Aber man erzählt 19 Felicitas D. Goodman, Disturbances in the Apostolic Church: A Trance-Based Upheaval in Yucatan, Trance, Healing, and Hallucination, S. 227-364. 20 So ein Glossolalierender indianischer (Maya-)Abstammung in Yucatàn. Nach einer Tonbandaufzeichnung von Dr. Goodman, ebd., S. 262f. 21 Dies ist das bedeutsame Ergebnis von Dr. Goodmans früherer Studie Speaking in Tongues: A Cross-Cultural Study of Glossolalia, Chicago: University of Chicago Press 1972.
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es ihm. Er war vom Heiligen Geist besessen. Gott hatte sich ihn zur Marionette auserkoren. Seine Sorgen lösen sich in Hoffnung auf, und sein Kummer schlägt in Freude um. Das ist die höchstmögliche Autorisierung, die man erfahren kann, denn der Heilige Geist ist ja eins mit dem letzten Ursprung allen Seins. Gott hat sich herabgelassen, in seinem nichtswürdigen Diener Quartier zu nehmen, und hat mit des Dieners eigener Zunge göttliche Worte gesprochen. Der Mensch ist zum Gott geworden – für wenige Augenblicke. Aus mystischem Halbdämmer ins nüchterne Tageslicht gerückt, sieht die Sache nicht mehr ganz so erhebend aus. Zwar besteht das Phänomen nicht im simplen Hervorstoßen sinnloser Laute, und der Normalmensch wäre kaum imstande, derlei mit gleicher Flüssigkeit und Durchgebildetheit zu imitieren; doch steckt in allem, was da laut wird, nicht die geringste semantische Bedeutung. Spielt man Tonbandaufzeichnungen von Glossolalie Angehörigen der gleichen Religionsgruppe vor, so hört jeder von ihnen etwas anderes heraus.22 Daß alle derartigen Stimmäußerungen einander im Metrum ähneln, unabhängig von Kulturzugehörigkeit und Muttersprache der Glossolalierenden, ist vermutlich ein Anzeichen dafür, daß im gleichen Ausmaß, wie die Trance die kortikale Kontrolle schwächt, rhythmische Entladungen aus subkortikalen Strukturen ins Spiel gelangen.23 22 Das ergibt sich als Schlußfolgerung aus den sorgfältigen Untersuchungen von John P. Kildahl an 26 amerikanischen Glossolalierenden, die sämtlich der einen oder anderen namhafteren protestantischen Glaubensrichtung angehörten. Vgl. J. P. K., The Psychology of Speaking in Tongues, New York: Harper & Row 1972. Das Buch enthält auch eine ziemlich vollständige Bibliographie zu diesem Thema. 23 «Die Oberflächenstruktur einer nichtlinguistischen Tiefenstruktur», wie Dr. Goodman es in strukturalistischer Terminologie ausdrückt (S. 151 f). Freilich ist die Vorstellung von einer Energieentladung aus subkortikalen Strukturen bei vermindertem Bewußtsein scharf kritisiert worden, zumal von dem Sprachwissenschaftler W.J. Samarin in seiner Besprechung von Goodmans Buch in Language, 50/1974, S. 207-212. Vgl. auch von demselben: Tongues of Men and Angels: The Religious Language of Pentecostalism, New York: Macmillan 1972. Ich danke Ronald Baker von der University of Prince Edward Island für den Hinweis auf Samarins Gegenposition.
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Die Fähigkeit des Zungenredens ist nicht von Dauer. Sie verliert sich mit der Zeit. Je öfter sie ausgeübt wird, desto bewußter wird sie, und das zerstört den Trancezustand. Einer der wesentlichsten Parameter des Phänomens ist – zumindest bei Gruppen mit höherem Bildungsstand, bei denen der kollektive Imperativ sowieso schwächer ausgebildet ist – die Gegenwart eines charismatischen Führers, der dem einzelnen das Zungenreden überhaupt erst beibringt. Soll die Fähigkeit dann, solange das überhaupt möglich ist, bewahrt werden – und die Euphorie, die sich hinterher einstellt, macht die Glossolalie zu einem innigst erwünschten Geisteszustand –, so geht das nur unter der Bedingung, daß die Beziehung zu dem autoritativen Führer aufrechterhalten wird. Im letzten ist es also bei der Sache um die Fähigkeit zu tun, die bewußte Herrschaft über die physiologischen Steuerungsmechanismen des Sprachapparats angesichts einer als wohlwollend empfundenen Autoritätsfigur aufzugeben. Wie vorauszusehen, erweisen sich Glossolalierende im Thematischen Apperzeptions-Test als unterwürfiger gegenüber real anwesenden Autoritätsfiguren, leichter durch sie beeinflußbar und willensabhängiger von ihnen als Personen, die keinerlei Eignung zum Zungenreden aufweisen.24 Halten wir fest: die Konfiguration seiner Parameter – nämlich der starke kognitive Imperativ eines religiösen Glaubens vor dem Hintergrund einer Gruppe mit engem Zusammenhalt; Bewußtseinsverengung bis zum Trancestadium; eine archaische Autorisierungsinstanz einesteils im Heiligen Geist, zum andern in dem charismatischen Führer – die Konfiguration dieser Parameter ist es, was uns berechtigt, das Zungenreden als ein weiteres Beispiel für das allgemeine bikamerale Paradigma und mithin als Relikt der bikameralen Psyche zu betrachten.
24 John P. Kildahl, The Final Progress Report: Glossolalia and Mental Health (erstellt für die NIMH und als Privatdruck verbreitet).
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Aria ariari isa, vena amiria asaria Menin aeide thea Peleiadeo Achilleos
Diese Gegenüberstellung des Klangbilds der Glossolalie und des Klangbilds der griechischen Epen (die zweite zitierte Zeile ist der erste Vers der «Ilias») dient hier nicht etwa der bloßen rhetorischen Ausschmückung meines Vortrags. Sondern es ist ein sehr gezielter Vergleich. Er soll uns unter anderem an dieser Stelle den Einstieg in das folgende Kapitel eröffnen. Denn wir sollten unsere Betrachtung von Kulturkuriosa nicht beenden, ohne uns zumindest überblicksartig einmal klargemacht zu haben, was für ein sonderbar, abweichend, wahrhaft tiefgründig und – letztlich – im eigentlichen Wortsinn fragwürdig Ding die dichterische Rede ist.
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DRITTES KAPITEL Von Dichtung und Musik
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ARUM WAREN unter den Texten, die wir in den vorausgegan-
genen Kapiteln als Belegmaterial herangezogen haben, so viele Texte in gebundener Rede – also: Poesie? Und warum hat von den Lesern dieser Zeilen ein so hoher Prozentsatz wenigstens einmal im Leben, und zwar höchstwahrscheinlich in Zeiten erhöhter Streßbelastung, lyrische Verse geschrieben? Welches unsichtbare Licht führt uns zu solchen obskuren Praktiken? Und warum leuchten uns aus Gedichten allerorten scheinbar unbekannte Ideen und Gedanken wie altvertraute Erinnerungsbilder entgegen – warum dringen die Verse auf Ungewissen Wegen zu einem Etwas in uns vor, das weiß und immer schon gewußt hat, einem Etwas, das, wie ich meine, älter ist als die derzeitige Organisation unserer Natur? Eine Abschweifung in dieses abgelegene und – wenigstens scheinbar – nicht unbedingt zur Sache gehörige Thema könnte an dieser Stelle, nachdem die Argumentationsführung soweit einigermaßen geradlinig verlief, als ein überflüssiger Schnörkel erscheinen. Demgegenüber ist hier herauszustellen, daß die Kapitel dieses Dritten Buches keinen linearen Folgezusammenhang bilden wie diejenigen der beiden vorangegangenen Bücher. Sie zeichnen vielmehr eine Auswahl der nebeneinander herlaufenden Verbindungsbahnen zwischen der bikameralen Vergangenheit und der Gegenwart nach. Und im weiteren Verlauf wird, so meine ich, ganz von selbst deutlich werden, in welchem Sinn dieses vorliegende Kapitel eine unerläßliche Abrundung meiner früheren Ausführungen darstellt, insbesondere soweit diese das griechische Epos betrafen. Meine These lautet ohne Umschweife: Die ersten Dichter waren die Götter. Die Poesie begann mit der bikameralen Psyche. Die Gottkomponente unserer Altmentalität sprach – zumindest während einer bestimmten Epoche – im Regelfall,
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möglicherweise aber auch ausnahmslos in Versen. Das bedeutet, daß während einer bestimmten historischen Zeitspanne der größte Teil der Menschheit den lieben langen Tag lang «Lyrik» hörte, die in der Psyche jedes einzelnen gedichtet und vorgetragen wurde. Der Beweis dafür läßt sich naturgemäß nur indirekt führen. Er stützt sich auf den Umstand, daß in allen Fällen von bis ins subjektive Zeitalter hineinreichender Bikameralität die betreffenden Individuen, sobald sie im Namen oder als Sprachrohr ihrer Gottkomponente sprachen, dies in gebundener Rede taten. Die klassischen griechischen Epen wurden, fast überflüssig zu wiederholen, von den aoidoi in gebundener Rede vernommen und wiedergegeben. Was die ältesten Urkunden aus Mesopotamien und Ägypten angeht, so tappen wir in der Frage, wie die zugrundeliegenden Sprachen gesprochen klangen, weitgehend im dunkeln; doch nach allem, was wir an Transliteration als gesichert betrachten dürfen, ergaben diese Schriftzeichen gesprochen ebenfalls gebundene Rede. Unter der Sammelbezeichnung «Weda» laufen die ältesten Texte der indischen Literatur, die den risi oder Propheten von den Göttern diktiert wurden – und zwar gleichfalls in gebundener Rede. Die Orakel sprachen in gebundener Form. Dann und wann wurden die Verlautbarungen des Delphischen oder anderer Orakel aufgeschrieben, und wo immer von diesen Aufzeichnungen mehr als nur ein Satzbruchstück überlebt hat, ist die Form des daktylischen Hexameters erkennbar, das Versmaß der homerischen Epen. Und auch die Propheten der Hebräer wurden sämtlich zu Dichtern, wenn sie die halluzinierten Verlautbarungen Jahwes übermittelten, obzwar ihre Schreiber ihre Rede nicht in jedem Einzelfall in Versform aufzeichneten. Je weiter die bikamerale Psyche in den Dämmer der Vergangenheit verschwindet, desto eher kommt es zu Ausnahmen von jener Regelmäßigkeit – so im fünften Stadium des Orakulierens. Die poetische Diktion der Orakel beginnt Lücken zu zeigen. So redete beispielsweise das Delphische Orakel im ersten nachchristlichen Jahrhundert allem Anschein nach sowohl in Versen wie in Prosa – letztere wurden dann von im
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Dienst des Heiligtums stehenden Dichtern versifiziert.1 Schon das bloße Bedürfnis, Orakeläußerungen in Prosa in daktylische Hexameter zurückzuverwandeln, ist nach meinem Dafürhalten Teil jenes spätzeittypischen Heimwehs nach dem Göttlichen und ein weiterer Beleg dafür, daß zuvor metrische Verse die Regel waren. Auch in späterer Zeit gab es noch Orakel, die ausschließlich in daktylischen Hexametern sprachen. So schildert beispielsweise Tacitus («Annalen» 2, 54), wie Germanicus im Jahre 18 n. Chr. in Kolophon landet, um das Orakel des Apollon zu Klaros zu befragen: Dort weissagt keine Frau wie in Delphi, sondern ein ... Priester, der sich nur die Anzahl und die Namen der Orakelsuchenden sagen läßt. Dann steigt er in die Grotte hinab, trinkt Wasser aus der heiligen Quelle und erteilt nun, obwohl er meist der Schrift und der Dichtkunst unkundig ist, in Versen Orakel über Dinge, die der Fragende in der Stille mit sich herumträgt.
Die Poesie war also ein göttliches Wissen. Und nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche war Poesie Ton und Tonart des Autoritativen. Die Poesie befahl, wo die Prosa nur bitten konnte. Sie erweckte Wohlbefinden. Auf den Wanderzügen der Hebräer nach dem Auszug aus Ägypten wurde die Bundeslade vorweggetragen und die Volksmenge lief hinterher – aber die Poesien von Mose entschieden darüber, wann es losging und wann aufgehört wurde, wo es hinging und wo man pausierte.2 Die Assoziation zwischen einer Redeweise in rhythmischen oder repetitiven Klangfigurationen auf der einen und über1
2
Strabon, Geographika 9.3.5. Die Feststellung bezieht sich auf einen Zeitpunkt um 30 n. Chr. Mit seiner beiläufigen Bemerkung im zweiten Jahrhundert n. Chr., derzufolge der unausgegorene prophetische Erguß des Orakels in jedem Fall von inspirierten prophetai versifiziert werden mußte, setzt sich Plutarch in Widerspruch zu allem älteren Schrifttum und dem Zeugnis der Orakel selbst (vgl. Abschnitt 24-26 in Plutarchs Moralia). Schwer zu sagen, wie ernst diese in Tischgesprächmanier locker hingeworfene Bemerkung Plutarchs nun eigentlich zu nehmen ist. 4. Mose 10, 35; 36. Mein Gewährsmann dafür, daß diese Zeilen im originalen Hebräisch als Poesie zu klassifizieren sind, ist Alfred Guillaume; vgl. a. a. O., S. 244.
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natürlichem Wissen auf der anderen Seite bleibt noch bis weit in die Bewußtseinsepoche hinein erhalten. Bei den ältesten arabischen Völkern hieß der Dichter scha’ir, was soviel wie «der Wissende» oder eine von Geistern mit Wissen ausgestattete Person bedeutet; daß die Rede des Poeten sich beim Vortrag als metrisch geordnet erwies, war das Abzeichen ihres göttlichen Ursprungs. Die Gedankenverknüpfung zwischen Dichter und Seher hat in der alten Welt eine lange Tradition, und mehrere indoeuropäische Sprachen bezeichnen beide mit ein und demselben Wort. Auch Reim und Alliteration markierten stets den sprachlichen Tummelplatz der Götter und ihrer Propheten.3 Zumindest in einem Teil der Fälle von spontaner Besessenheit lassen sich die Dämonen in metrischer Rede vernehmen.4 Und noch heute zeigt sich, wie wir im vorigen Kapitel gesehen haben, bei der Glossolalie, egal wo sie praktiziert wird, die Tendenz, ein metrisches – insbesondere daktylisches – Klangmuster auszubilden. Die Poesie war also die Sprache der Götter. Poesie und Gesang Bislang hielt sich die gesamte Erörterung im Rahmen bloß literarischer Tradition und hatte mehr Ähnlichkeit mit einem Plädoyer als mit einer Beweisführung. Wir sollten uns deshalb fragen, ob es nicht einen Weg gibt, sich der Sache von einer anderen Seite zu nähern und dabei den Zusammenhang zwischen Poesie und bikameraler Psyche auf wissenschaftlichere Weise auszuleuchten. Dieser Weg, so meine ich, eröffnet sich uns, wenn wir die Poesie in ihrem Verhältnis zur Musik betrachten. 3 4
Guillaume, S. 245. In einem Fall von Besessenheit, der aus dem China der Jahrhundertwende bekannt wurde, konnte eine Frau stundenlang aus dem Stegreif in Versen reden. «Alles, was sie sagte, war in metrischen Versen und wurde in einer Art Sprechgesang auf die immergleiche Melodie dargeboten ... der rasche, vollkommen glatte und langwierige Vortrag konnte nach unserem Eindruck unmöglich vorgetäuscht oder im voraus einstudiert worden sein.» J. L. Nevius, a. a. O., S. 37f.
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Zuerst und vor allem: die älteste Dichtung war Gesang. Der Unterschied zwischen Rede und Gesang liegt in der Art und Weise des Tonhöhenwechsels. Beim normalen Reden ist die Tonhöhe in fortwährendem Wechsel mit fließenden Übergängen begriffen, und dies sogar innerhalb einer einzigen Silbe. Beim Singen dagegen finden die Tonhöhenwechsel diskontinuierlich und in Sprüngen statt. Das Sprechen pendelt auf einem bestimmten Sektor der Tonhöhenskala beständig auf und ab (bei ruhigem Sprechen umfaßt dieser Sektor etwa eine Fünfteloktave). Der Gesang wechselt innerhalb eines sehr viel größeren Bereichs in genau bemessenen, klar voneinander abgegrenzten Schritten von Ton zu Ton. Die neuere Dichtung ist von daher gesehen eine Zwitterbildung. Sie vereinigt die metrische Schrittfolge des Gesangs mit den Glissandi des Sprechens. Demgegenüber steht die Dichtung des Altertums dem Gesang viel näher. Akzentuiert wurde in ihr nicht durch verstärkten Nachdruck, wie wir das beim normalen Sprechen tun, sondern durch Tonerhöhung.5 Bei den alten Griechen soll das entsprechende Intervall der Quintenschritt gewesen sein, so daß ein Daktylus sich auf unserer C-Dur-Tonleiter darstellen ließe als die Folge G-C-C ohne zusätzlichen Akzent auf dem G. Ferner bestanden die drei zusätzlichen, versfußunabhängigen Akzente Akut, Zirkumflex und Gravis – wie ja bereits in ihrer graphischen Notation (´˜` ) zum Ausdruck kommt – in einer Tonhebung auf einer Silbe beziehungsweise einer Tonhebung und -senkung auf ein und derselben Silbe oder einer Tonsenkung auf einer Silbe. Das ergab eine Dichtung, die wie Liedgesang vorgetragen wurde und dabei durch modulatorische Ausschmückungen einen gefälligen Abwechslungsreichtum erhielt. 5
Von Thomas Day, dessen kernige Neuübersetzung der «Ilias» mit Spannung erwartet wird, hörte ich zum erstenmal in meinem Leben griechische Hexameter so vorgetragen oder, besser, gesungen, wie es sich eigentlich gehört. Wer sich für den theoretischen Hintergrund dieses Textabschnitts interessiert, sei auf das Buch The Sound of Greek von W. B. Stanford verwiesen (Berkeley: University of California Press 1967); auch sollte er nicht versäumen, sich die mitgelieferte Schallplatte anzuhören.
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Was hat das alles nun aber mit der bikameralen Psyche zu tun? Das Sprechen ist, wie schon seit langem bekannt, in erster Linie eine Funktion der linken Hirnhemisphäre. Das Singen dagegen – und diese Entdeckung ist neu und noch nicht vollständig abgeschlossen – ist in erster Linie eine Funktion der rechten Hirnhemisphäre. Die Belege dafür sind unterschiedlicher Natur, stimmen jedoch untereinander überein: – Es ist ein medizinischer Gemeinplatz, daß viele ältere Menschen, die einen Gehirnschlag in der linken Hemisphäre erlitten haben, daraufhin zwar nicht mehr sprechen, aber immer noch singen können. – Zur Bestimmung der hemisphärischen Dominanz wird in Kliniken zuweilen der sogenannte Wade-Test angewendet. Dabei wird entweder in die linke oder in die rechte Kopfschlagader des Probanden Natriumamytal eingespritzt, das eine starke sedierende Wirkung auf die entsprechende Hirnhemisphäre ausübt, während die andere Hemisphäre unvermindert wach und reaktionsfähig bleibt. Wird die Injektion links vorgenommen – also die linke Hemisphäre sediert, so daß nur mehr die rechte aktiv ist – so kann der Proband zwar nicht mehr sprechen, aber noch singen. Injiziert man rechts, so daß nur die linke Hemisphäre aktiv bleibt, so kann der Proband noch sprechen, aber nicht mehr singen.6 – Patienten, denen zur Beseitigung eines Glioms die linke Hemisphäre vollständig entfernt werden mußte, bringen in der postoperativen Phase bestenfalls nur ganz wenige Worte hervor. Aber zumindest ein Teil von ihnen ist imstande zu singen.7 Ein solcher Patient mit nur noch einer sprachlosen rechten Hemisphäre in seinem Besitz «konnte fast wortgetreu
6 7
H. W. Gordon, Hemispheric Lateralization of Singing after Intracarotid Sodium Ammobarbitol, Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry 37/1974, S. 717-739. H. W. Gordon, Auditory Specialization of Right and Left Hemispheres, Hemispheric Disconnection and Cerebral Function, hg. von M. Kinsbourne u. W. Lynn Smith, Springfield: Thomas 1974, S. 126-136.
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und mit nahezu perfekter Aussprache ‹America› und ‹Home on the Range› singen».8 – Elektrische Reizung der rechten Hemisphäre in den dem hinteren Schläfenlappen benachbarten Regionen, insbesondere im Bereich des vorderen Schläfenlappens, führt häufig zu Halluzinationen von Gesang und Musik. Auf einige der betreffenden Probanden bin ich bereits im Fünften Kapitel des Ersten Buches eingegangen. Die fragliche Region ist im allgemeinen das rechtshemisphärische Gegenstück zum linkshemisphärischen Wernicke-Zentrum, also der Bereich, in dem meiner Hypothese zufolge die Gehörshalluzinationen der bikameralen Psyche organisiert wurden. Gesang und Melos hängen also in erster Linie mit Aktivitäten der rechten Hemisphäre zusammen. Und da Dichtung in der Antike mehr singend als sprechend vorgetragen wurde, war sie vermutlich weitgehend eine rechtshemisphärische Funktion – nicht anders, als die im Fünften Kapitel des Ersten Buches umrissene Theorie der bikameralen Psyche erwarten läßt. Genauer gesagt: die antike Poesie forderte den hinteren Bereich des rechten Schläfenlappens – der meiner Hypothese zufolge die Organisationsgrundlage der göttlichen Halluzinationen war – sowie Nachbarregionen, die heute noch an musikalischen Funktionen beteiligt sind. Für die hartnäckigen Skeptiker unter meinen Lesern lasse ich hier ein Experiment folgen, anhand dessen sie sich aus höchsteigenem Gefühl von der Wahrheit der Sache überzeugen können. Denken Sie sich also, falls Sie zu diesen Skeptikern zählen, zunächst zwei Themen (x-beliebiger Art, gleichgültig, ob allgemeiner oder persönlicher Natur) aus, über die Sie zwei, drei Minuten lang frei sprechen möchten. Stellen Sie sich sodann vor, Sie hätten einen Bekannten zu Besuch, und tragen Sie dem Gast mit lauter Stimme vor, was Sie zu dem einen 8
Charles W. Burklund, Cerebral Hemisphere Function in the Human, Drug, Development and Cerebral Function, hg. von W. L. Smith, Springfield: Thomas 1971, S. 22.
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Thema zu sagen haben. Als nächstes behandeln Sie das zweite Thema (die vorgestellte Situation bleibt die gleiche) lauthals singend. Halten Sie in beiden Fällen mindestens je eine Minute lang durch, indem Sie sich während der Ausführung ermahnen, nicht aufzugeben. Vergleichen Sie anschließend per Introspektion. Warum ist der zweite Teil des Versuchs soviel schwieriger? Warum verfällt der Gesangstext in Phrasen und Gemeinplätze? Oder warum flacht die Melodieführung zu einem Rezitativschema ab? Warum kommt Ihnen mitten in der schönsten Melodie das Thema abhanden? Worin bestehen Ihre Anstrengungen, Ihr Lied wieder aufs Thema zurückzubringen? Oder vielmehr – denn eher das ist, wie ich glaube, der Eindruck, den das Gefühl vermittelt – die Anstrengungen, das Thema ins Lied zurückzuholen? Die Antwort liegt in der Tatsache beschlossen, daß Ihr Thema sich «im» Wernicke-Zentrum in der linken Hemisphäre befindet, Ihr Gesang hingegen «im» rechtshemisphärischen Gegenstück zum Wernicke-Zentrum. Ich will gleich dazusagen, daß diese Feststellung natürlich nur neurologische Näherungswerte treffen kann. Und mit «Thema» und «Gesang» meine ich das entsprechende neurale Substrat. Doch auch bloß näherungsweise getroffen, ist der Sachverhalt schon beweiskräftig genug. Alles spielt sich so ab, als ob die willentlich gesteuerte Rede eifersüchtig auf die rechte Hemisphäre wäre und Sie ganz für sich allein haben wollte; und ebenso ist Ihr Gesang eifersüchtig auf die linke Hemisphäre und möchte erreichen, daß Sie sich von Ihrem linkshemisphärischen Thema trennen. Der durchgehaltene Versuch, ein festgelegtes Thema in improvisiertem Gesang abzuhandeln, erzeugt ein Gefühl, als ob wir zwischen den Hirnhemisphären hin und her hüpften. Und in gewissem Sinn tun «wir» das auch: Links wählen wir Wörter aus und hasten dann schleunigst mit ihnen nach rechts zum Singen zurück, um ja zu verhindern, daß irgendwelche anderen Wörter vor uns da sind und uns samt unserer Last aus dem Rennen werfen. Aber meistens passiert genau dies, die Worte passen nicht zum Thema, sie machen sich selbständig
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und verfolgen einen eigenen Kurs, oder sie ergeben keinen folgerichtigen Zusammenhang, oder sie bleiben überhaupt aus, und wir sind gezwungen, das Singen einzustellen. Selbstverständlich können wir lernen – und Musiker tun dies nicht selten –, unser verbales Denken bis zu einem gewissen Grad unmittelbar in Liedform vorzutragen. Da Lateralität (laterale Dominanz) bei ihnen weniger ausgeprägt ist als bei Männern, dürften sich Frauen damit leichter tun. Wenn Sie es einen Monat, ein Jahr oder ihr Leben lang regelmäßig zweimal täglich üben und sich dabei gewissenhaft bemühen, in der Textkomponente bloße Klischees und auswendig Gelerntes ebenso zu vermeiden wie bloße Rezitativschemata in der musikalischen Komponente, so dürften Sie mit der Zeit in dieser Kunst immer besser werden. Wären Sie gerade zehn Jahre alt, würde das Lernen vermutlich viel leichter gehen, und Sie hätten alle Aussicht, dabei zu einem Dichter zu werden; und hätten Sie dann irgendwann später das Pech, von einer Schädigung der linken Hirnhemisphäre betroffen zu werden, könnte sich ihre Fähigkeit, Gedanken zu singen, als höchst praktisch für Sie erweisen. Durch Lernen erworben wird hier wahrscheinlich eine neue Beziehung zwischen den beiden Hirnhemisphären, die einem Teil der im vorigen Kapitel behandelten Lernvorgänge nicht ganz unähnlich sein dürfte.
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Das Wesen der Musik Ich möchte hier noch ein wenig ausführlicher auf die Rolle eingehen, welche die Instrumentalmusik in alldem spielt. Denn auch Musik hören und verstehen wir mit der rechten Hemisphäre. Diese Lateralisierung der Musik läßt sich bereits in allerfrühester Kindheit beobachten. Man kann sechs Monate alte Säuglinge einem EEG unterziehen, während sie auf dem Schoß ihrer Mutter sitzen. Placiert man die Elektroden direkt über dem Wernicke-Zentrum und seinem rechten Gegenstück, zeigt sich die linke Hemisphäre aktiver, sobald menschliche Rede vom Band gespielt wird. Spielt man jedoch eine Spieluhr-Melodie oder Gesang vom Band, dann zeigt die Elektrode über der rechten Hemisphäre die größere Aktivität an. Bei dem konkreten Experiment, auf das ich mich hier beziehe, war es nicht nur so, daß die Kinder, die strampelten oder weinten, sich beruhigten, sobald die Musik ertönte, sondern sie begannen auch zu lächeln und richteten den Blick geradeaus nach vorn, weg von den Augen der Mutter,9 und verhielten sich überhaupt in manchem genauso wie ein Erwachsener, der Ablenkungen vermeiden will. Dieser Befund spricht nachdrücklich für die Möglichkeit, daß die Organisation des Gehirns zum Zeitpunkt der Geburt es dazu disponiert, Reizungen im rechtsseitigen Gegenstück zum Wernicke-Zentrum, das heißt musikalischen Eindrücken, zu «gehorchen» und sich nicht von ihnen ablenken zu lassen – genau wie nach unserer früheren Feststellung der bikamerale Mensch den Halluzinationen aus diesem Bereich gehorchen mußte. Nachdrücklich bekräftigt wird hier auch die große Bedeutung von Wiegenliedern für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes: Es ist nicht 9
Die Rede ist hier von den interessanten neueren Forschungen Martin Gardiners am Children’s Hospital in Boston. Martin F. Gardiner und Donald O. Walter, Evidence of hemispheric specialisation from infant EEG, veröffentlicht in: Lateralization in the Nervous System, hg. von S. Harnad, R. Doty, L. Goldstein, J. Jaynes u. G. Krauthammer, New York: Academic Press (1976), S. 481-502.
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auszuschließen, daß mit ihnen in irgendeiner Form darüber entschieden wird, wie kreativ sich der Erwachsene später zeigen wird. Von der Lateralität der Musik kann der Leser sich aus eigener Anschauung überzeugen. Man versuche, zwei verschiedene Musikstücke in gleicher Lautstärke gleichzeitig über Kopfhörer zu hören, eines mit dem linken, das andere mit dem rechten Ohr. Es wird sich zeigen, daß man das dem linken Ohr zugespielte Musikstück besser wahrnimmt und besser im Gedächtnis behält.10 Das liegt daran, daß das linke Ohr in der rechten Hemisphäre neural stärker repräsentiert ist. Als spezifische Lokalisation kommt wahrscheinlich der vordere rechte Schläfenlappen in Frage, denn Patienten, denen er operativ entfernt wurde, haben große Mühe, Melodien voneinander zu unterscheiden. Umgekehrt haben Patienten, an denen die Temporallobektomie linksseitig vorgenommen wurde, postoperativ im gleichen Test keinerlei Schwierigkeiten.11 Nun wissen wir aus der Neurologie, daß Erregung sich von einem Punkt der Großhirnrinde auf benachbarte Punkte ausbreiten kann. Damit ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, daß Erregungsaufladung in den rechtshemisphärischen Rindensektoren im Dienst der Instrumentalmusik auf benachbarte Sektoren im Dienst der göttlichen Gehörshalluzinationen übergriff – und umgekehrt. Daher also die enge Verbindung zwischen Dichtung und Musik und beider zusammen mit den Stimmen der Götter. Mir scheint demnach die Hypothese gerechtfertigt, daß die Musik ursprünglich erfunden worden 10 Das Experiment (mit Vivaldi-Konzerten) wurde beschrieben von Doreen Kimura: Functional Asymmetry of the Brain in Dichotic Listening, Cortex 3/1967, S. 163-178. Es gibt allerdings Anzeichen dafür, daß das festgestellte Ergebnis nicht für Musiker gilt, deren Ausbildung dazu geführt hat, daß die Musik bei ihnen bilateral repräsentiert ist. Darauf hat – in einem Vortrag über «Handedness and the Nature of Dominance» (gehalten im Educational Testing Service, Princeton, September 1969) – erstmals R. C. Oldfield hingewiesen. Vgl. auch Thomas G. Bever u. R. J. Chiarello, Cerebral Dominance in Musicians and Non-Musicians, Science 185/1974, S. 137-139. 11 D. Shankweiler, Effects of Temporal-Lobe Damage on Perception of Dichotically Presented Melodies, Journal of Comparative and Physiological Psychology 62/1966, S. 115-119.
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ist als neurales Stimulans zur Erweckung von Götterstimmen als eines bewußtseinslosen Verfahrens der Entscheidungsfindung. Es ist mithin keine bloße Laune des historischen Zufalls, daß die Musik ihren Namen von den heiligen Gottheiten namens Musen herleitet: Auch sie wurzelt nämlich in der bikameralen Psyche. Mit einigem Fug und Recht dürfen wir also vermuten, daß der Gebrauch der Leier bei den Dichtern des Altertums den Zweck verfolgte, den Rindenbereich, in dem die Göttersprache lokalisiert war, nämlich die hintere Region des rechten Schläfenlappens, von einem unmittelbar angrenzenden Bereich aus in Erregung zu versetzen. Die gleiche Funktion hatte auch das Flötenspiel, das den Vortrag der Lyriker und Elegiker des achten und siebten Jahrhunderts v. Chr. zu begleiten pflegte. Und wenn diese musikalische Begleitung dann – wie es in Griechenland später der Fall ist – eingestellt wird, so geschieht dies meines Erachtens, weil Dichtung fortan nicht mehr als Gesang (aus der rechten Hirnhemisphäre heraus, wo unterstützende Erregungsausbreitung durch Instrumentalmusik allenfalls würde stattfinden können) vorgetragen wird: Statt in echter prophetischer Verzückung jedesmal neu erschaffen zu werden, wird die Dichtung jetzt nur noch aus dem linkshemisphärischen Gedächtnis heraus reproduziert und rezitiert. Dieser Wandel in puncto musikalische Begleitung findet seinen Niederschlag auch in der sprachlichen Ausdrucksweise, deren man sich in bezug auf die Dichtung bedient, wenngleich sich aufgrund zahlreicher historischer Überschneidungen in diesem Bereich ein weniger klares Bild ergibt. Auf jeden Fall wird von älterer Dichtung als Gesang gesprochen (zum Beispiel in der «Ilias» und in Hesiods «Theogonie»), während die jüngere im Sprachgebrauch häufig als Sprech- oder Erzähltext apostrophiert ist. Der Übergang mag im großen und ganzen der Ablösung der aoidoi mit ihren Leiern durch die rhapsodoi mit ihren rhapes (Ruten, die möglicherweise zum Taktschlagen
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dienten) entsprechen, die im achten oder siebten Jahrhundert v. Chr. erfolgt sein dürfte. Was sich in diesen Detailveränderungen verbirgt, ist der tiefergreifende psychische Wandel vom bikameralen Neu-und-immer-neu-Dichten zum bewußten Rezitieren und von oraler zu schriftlicher Mnemotechnik. Auf einer sehr viel späteren Etappe der Dichtungsgeschichte kehren dann freilich der Dichter als Sänger und sein Gedicht als Lied als bewußt archaisierende Metaphern wieder, um in dieser Form den inzwischen zum Bewußtsein gekommenen Poeten mit einer Autorisierung eigener Art auszustatten.12 Dichtkunst und Besessenheit Eine dritte Perspektive auf diese Wandlung der Dichtkunst im Zusammenhang mit der Heraufkunft und Ausbreitung des Bewußtseins eröffnet sich uns, wenn wir den Dichter selbst und seine Mentalität betrachten. Insbesondere interessiert uns hier, ob die Beziehung der Dichter zu den Musen die gleiche war wie die der Orakel zu den Hochgöttern. Für Platon jedenfalls bestand in dieser Hinsicht kein Zweifel. Das Dichten war ein göttlich inspirierter Wahnsinn – katokoche: ein Besessensein von den Musen: Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte, und ebenso die rechten Liederdichter ... Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht länger in ihm wohnt. («Ion», 533E-534A)
Demnach konnte man um 400 v. Chr. die Dichter ihrer Mentalität nach mit den zeitgenössischen Orakeln vergleichen; bei ihren Auftritten ging mit jenen die gleiche psychische Verwandlung vor wie mit diesen. Nun könnte man ver12 Dazu vgl. T. B. L. Webster, a. a. O., S. 271 f.
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sucht sein, sich Platons Meinung anzuschließen, daß diese Besessenheit als Abzeichen des «rechten Dichters» bis weit zurück in die Tradition der Ependichtung datiert. Eine derartige Schlußfolgerung ist jedoch durch die Tatsachen nicht gedeckt. Vielmehr lassen sich gerade aus der «Ilias» – einer Quelle, die um viele Jahrhunderte älter ist als die früheste Erwähnung oder uns bekannte Beobachtung des Phänomens der katokoche – die besten Argumente dafür gewinnen, daß die ursprünglichen aoidoi keineswegs so von Sinnen und der Vernunft beraubt waren wie die Dichter in platonischer Zeit. An mehreren Stellen des Gedichts nämlich kommt es vor, daß der Fluß der Darstellung unterbrochen wird, weil der Dichter stekkengeblieben ist und nun die Musen anrufen muß, damit sie ihm weiterhelfen (2, 483; 11, 218; 14, 508; 16, 112). Mit nachdrücklicher Betonung sei hier im Vorübergehen angemerkt, daß es sich bei den Musen nicht um «Phantasiegeschöpfe» handelte. Ich möchte den Leser bitten, sich die ersten Seiten von Hesiods «Theogonie» genau anzusehen und sich dabei klarzumachen, daß alles, was da berichtet wird, in Halluzination gesehen und gehört wurde, so wie das heute noch bei Schizophrenen oder unter der Einwirkung bestimmter Drogen vorkommt. Die bikameralen Menschen phantasierten nicht: sie erlebten. Die wunderschönen Musen mit den gleichgestimmten «liliengleichen» Stimmen, aus dichten Abendnebeln hervortanzend und auf zarten und behenden Füßen um den einsamen, verzückten Schäfer herumhüpfend – diese Ausbünde an Anmut waren für den bikameralen Menschen, der nicht in einem Bezugsrahmen von vergangenem Geschehen lebte, ja überhaupt keine «Lebenszeit» in unserem Sinn kannte und nicht reminiszieren konnte, weil er kein Bewußtsein hatte, die halluzinatorische Quelle seines Gedächtnisses. In der Tat ist es genau dieser Sachverhalt, den ihr auserwähltes Medium, der Schafhirt vom Helikon persönlich, dann in Mythologie übersetzt: die Musen, die, wie er uns erzählt, mit immer gleichgestimmten phrenes13 «unermüdlich fließenden» Gesang hervorbringen, diese göttliche Spezialeinheit, die, statt den Menschen zu sagen, was
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sie tun sollen, bestimmten Menschen Kunde davon bringt, was früher einmal getan worden ist – die Musen sind die Töchter der Titanin Mnemosyne, deren Name später die Bedeutung «Gedächtnis» annahm und der allererste Ausdruck mit dieser Bedeutung überhaupt war. Die Anrufung der Musen ist also funktional das gleiche wie wenn wir uns heute bemühen, unser Gedächtnis anzustrengen, etwa in dem Ringen um eine Erinnerung, die uns «auf der Zunge liegt». Die Rede der Musen ist nicht die eines bewußtlosen, seiner Sinne nicht mehr mächtigen Menschen. An einer Stelle der «Ilias» beispielsweise gerät der Dichter ins Stocken und ruft daher die Musen an: Kündet mir jetzt, ihr Musen, Bewohner des hohen Olympos, - Seid ihr doch Götter, seid immer gewärtig und kundig in allem, Wir aber wissen nur wenig und hören nur dunkele Sage –, Wen denn nun nannte man da von der Danaer Führer und Helden? (2, 483-487)
um anschließend von sich selber zu bekennen, daß er, der Dichter, «hätte ich Zungen auch zehn und zehnfach redende Stimme», nicht imstande wäre, die Namen aufzuzählen, würden sie ihm nicht von den Musen zugesungen. Durch Kursivsatz hervorgehoben ist in dem Zitat der Teil, der angibt, warum die Musen für den Dichter so besonders interessant sind. Ebensowenig scheint Hesiod besessen gewesen zu sein, als er beim Schafehüten auf den heiligen Hängen des Helikon zum erstenmal den Musen begegnete. Nach seiner Schilderung
hauchten sie mir göttliche Stimme ein, Dinge zu rühmen, die sein werden und die vor alters waren, und hießen mich singen das Geschlecht der ewigen seligen Götter, doch zuerst und über alles stets zu künden von ihnen selbst.14
13 Der griechische Ausdruck für die Gleichgestimmtheit lautet homophronas (Hesiod, Theogonie, Vers 60). Mir ist aus jüngerer Zeit kein Fall von Halluzination bekannt, in dem Stimmen aufgetreten wären, die sich wie menschlicher Chorgesang anhörten. Wieso die Musen überhaupt in der Mehrzahl auftreten, ist eine hochinteressante Frage. 14 Die Schlußwendung des Zitats liefert ein weiteres Argument für die im Fünften Kapitel des Zweiten Buches vorgetragene Annahme, daß dieser Hesiod nicht der Verfasser der «Werke und Tage» sein kann. Denn mit Sicherheit hält sich dieses Werk, das ich dem Perses zugeschrieben habe, nicht an das Versprechen, zuerst und über alles stets nur von den Göttern zu singen.
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Auch das, denke ich, ist buchstäblich zu verstehen als das Erleben eines Menschen in exakt dem gleichen Sinn, wie wir an die Erlebnisqualität von Hesiods Zeitgenossen Amos’ Begegnung mit Jahwe auf dem Felde bei Thekoa glauben, geschehen, während auch er gerade seine Herde hütete.15 Und es sieht durchaus nicht nach Besessenheit aus, wenn die Theogonie der Musen plötzlich abbricht (V. 104) und Hesiod, jetzt wieder für sich selber sprechend, sie erneut beschwört und anfleht, mit dem Gedicht fortzufahren: «Das berichtet mir alles von Anfang an, ihr Musen!», und mit dieser Aufforderung eine lange Liste von Themen beschließt, die er, der Dichter, in dem Gedicht gern behandelt sehen möchte (V. 114). Und auch die ehrwürdige, liebevoll geschilderte Erscheinung des Demodokos in der «Odyssee» läßt nicht den Schluß zu, daß dieser Dichter von Besessenheit ergriffen wurde. Die Umstände sprechen dafür, daß Demodokos – wenn wir ihn uns denn als eine reale Person zu denken haben – wohl irgendein Gehirntrauma erlitten hatte, dessen Folge Blindheit war, aber auch die Gabe, den Gesang der Musen zu vernehmen, einen Liedgesang, der so bezaubernd war, daß er Odysseus dazu brachte, sein Haupt zu verhüllen und jammernd Tränen zu vergießen (8, 63-92). Und Odysseus selbst weiß sehr wohl, daß dieser Demodokos mit den blinden Augen, mit denen er niemals Zeuge des Geschehens hätte werden können, vom Trojanischen Krieg in seinem Lied nur deshalb zu künden vermochte, weil ihn die Muse oder Apollon in höchsteigener Person darüber belehrten. Sein Gesang war hormotheis theu: immerfort von der Gottheit selbst eingegeben (8, 499). Die Fakten sprechen also dafür, daß der Dichter bis ins achte und möglicherweise sogar bis ins siebte Jahrhundert v. Chr. hinein nicht – wie es dann zur Zeit Platons der Fall war – «von Sinnen» geriet, wenn er produzierte. Vielmehr dürfte sein Produktionspotential dem nahegestanden haben, was wir hier 15 Auch Amos war nicht besessen, da er ja Zwiesprache mit seinem Gott hielt. Vgl. Amos 7, 5-8; 8, 1f. An einigen Stellen habe ich in der Wortwahl an Lukas 2, 8-14 zu erinnern versucht.
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als Bikameralität bezeichnen. Mit dieser Hypothese stimmt auch der Umstand überein, daß es sich bei jenen Poeten um «elende, ruhmlose Wichte, bloße Bäuche» (wie die Musen ihr ehrfurchtsvolles menschliches Medium verächtlich apostrophieren; vgl. «Theogonie», V. 26) handelt: um ungebildete Naturburschen aus den unentwickeltesten, ungeselligsten Schichten der Sozialpyramide, zum Beispiel Schafhirten. Für die «bloßen Bäuche» draußen auf den Weiden bestand weniger Aussicht, in den Sog der neuen Mentalität hineingerissen zu werden. Und die Einsamkeit ist ein Zustand, der zu Halluzinationen führen kann. Aber im sechsten Jahrhundert dann, zur Zeit Solons, ist etwas anderes im Gang. Dem Dichter ist die Gabe des Dichtens nicht mehr einfach nur geschenkt: Er muß jetzt «geübt sein in der Gabe der Musen» (Fr. 13, 51). Und im fünften Jahrhundert hören wir zum erstenmal andeutungsweise von der eigentümlichen dichterischen Ekstase. Welch ein Gegensatz zur ruhigen und würdigen Manier der älteren aoidoi, des Demodokos beispielsweise! Demokritos aus Abdera versichert, daß keiner ein Poet sein könne ohne Verzückung und einen göttlichen Anhauch von Wahnsinn (Fr. 17, Fr. 18). Und im vierten Jahrhundert tritt dann bei Platon der in Raserei und Besessenheit «von Sinnen» geratene Dichter auf, den wir bereits kennengelernt haben. Wie auf dem Feld des Orakulierens der Prophet, der seine halluzinierten Stimmen hörte, abgelöst worden war vom verzückten Besessenen, so auch auf dem Feld der Poesie. Ist dieser dramatische Wandel dadurch bedingt, daß der kollektive kognitive Imperativ den Musen Glaubwürdigkeit entzog, bis sie hinter den Dingen der realen Außenwelt zurückstehen mußten? Oder etwa dadurch, daß die mit der Entwicklung des Bewußtseins einhergehende Neuorganisation der neurologischen Verbindungswege zwischen den Hirnhemisphären der «göttlichen Eingebung» im Weg stand, so daß erst dieses Hindernis «Bewußtsein» beiseite geräumt werden mußte, bevor es zur Selbstinszenierung der Dichtung kommen konnte? Oder
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war es vielleicht so, daß das rechtshemisphärische Gegenstück zum Wernicke-Zentrum in einer Art Kurzschlußverfahren, wie man sagen könnte, das heißt unter Umgehung des normalen Bewußtseins, die Regie über das Broca-Zentrum in der linken Hemisphäre an sich riß? Oder meinen vielleicht alle drei Hypothesen im Grunde nur ein und dasselbe (was derzeit selbstverständlich meine eigene Überzeugung ist) ? Woran auch immer es gelegen haben mag – der Niedergang schreitet in den folgenden Jahrhunderten unaufhaltsam weiter fort. Wie die Orakel in den Spätphasen ihres Bestehens nur mehr Gebrabbel von sich gaben, bis schließlich der Besessenheitszustand sich allenfalls noch in unvorhersehbaren Intervallen und mit verminderter Intensität einstellte, so erlebten nach meiner Vermutung auch die Dichter einen Wandel ihres Verhältnisses zu den Musen, bei dem Raserei und Verzückung an Intensität einbüßten und im Auftreten immer erratischer wurden. Bis schließlich die Musen ganz verstummen und zu Mythen versteinern. Die Nymphen und Schafhirten tanzen nicht mehr. Das Bewußtsein ist eine Hexe, unter deren Verzauberung die reine Eingebung zur Erfindung verkümmert. Aus dem mündlichen Vortrag wird die eigenhändige Niederschrift, ausgeführt, wie nicht vergessen werden sollte, mit der rechten, von der linken Hirnhemisphäre gelenkten Hand des Dichters. Die Musen sind zu Phantasiegestalten geworden, und wenn diese ins Schweigen Verfallenen noch angerufen werden, so drückt dies lediglich das Heimweh der Menschen nach der bikameralen Psyche aus. Alles in allem bildet also die Dichtungstheorie, die ich mit diesem improvisierten Arrangement von Zitaten zu umreißen versuchte, eine Parallele zu meiner Theorie der Orakel. Die Anfänge der Poesie liegen in der Göttersprache der bikameralen Psyche. Später dann, beim Zusammenbruch der bikameralen Psyche, bleiben noch Propheten übrig. Zum Teil erhalten diese institutionellen Rang als Orakel, die Zukunftsentscheidungen liefern. Andere wiederum spezialisieren sich zu Dichtern, die von den Göttern die Kunde vergangener Dinge
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überbringen. Abermals später, als die bikamerale Psyche sich mehr und mehr von ihrer Impulsivität distanziert – und die rechte Hemisphäre bis zu einem gewissen Grad sozusagen zur Stummheit verurteilt wird –, müssen Dichter, um sich in jenen Zustand versetzen zu können, erst einmal lernen, wie man das macht. Im selben Zug, wie die damit verbundenen Schwierigkeiten zunehmen, gerät – nicht anders, als es auch bei den Orakeln der Fall war – der Zustand zu Raserei und späterhin zu ekstatischer Besessenheit. Und wiederum: als gegen Ende des ersten Jahrtausends v. Chr. die Orakel in Prosa zu sprechen beginnen und ihre Rede auf dem Weg bewußter Überarbeitung versifiziert werden muß, vollzieht sich das gleiche auch in der Dichtkunst. Vorbei ist die Zeit, wo das Dichterwort im gleichstimmigen Musengesang unmittelbar gegeben wurde. In mühseliger Nachahmung der alten göttlichen Redeweise werden Dichtungen jetzt von Menschen mit Bewußtsein aufgeschrieben und redigiert und korrigiert und neu geschrieben... Aber wenn denn schon die Götter sich jetzt noch tiefer in ihre schweigsamen Himmelsräume zurückzogen, oder – um dasselbe mit anderen Worten zu sagen – wenn die Entwicklung schon dahin ging, daß auditives Halluzinieren sich dem Zugriff der linkshemisphärischen Mithöreinrichtungen entzog: warum starb dann das Idiom der Götter nicht einfach sangund klanglos aus? Warum ließen die Poeten nicht einfach ab von ihren Verzückungen, so wie es die Priester und Priesterinnen der großen Orakel gemacht hatten? Die Antwort liegt auf der Hand. Die Fortdauer der Dichtung, ihr Wandel vom Göttergeschenk zur menschlichen Kunst sind Teil jenes bereits erwähnten Heimwehs nach dem Absoluten. Das Streben nach erneuertem Bezug zur verlorengegangenen Andersheit der göttlichen Direktive sorgte dafür, daß die Poesie nicht unterging. Und eben darum werden in Gedichten selbst heute noch so oft chimärische Wesenheiten und luftige Phantasiegestalten angerufen. Und eben darum auch habe ich dem ersten Absatz dieses Buches die Form gegeben, die er hat. Die Formen nämlich sind immer noch da und verfügbar für das «Ich»-quaAnalogon des bewußten Poeten. Dessen Aufgabe besteht jetzt
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in der Nachahmung («Mimesis»16) des früheren Typs der poetischen Rede und der Realität, deren Ausdruck sie war. Von der Mimesis im bikameralen Sinn des sklavischen Nach-Machens dessen, was man halluzinativ gehört hatte, über die platonische Mimesis als Wiedergabe der Wirklichkeit schritt die Entwicklung fort zur Mimesis als Nachahmung mit der Erfindungsgabe als lustloser Handlangerin. Bei einigen neuzeitlichen Dichtern findet man sehr konkrete Hinweise auf richtiggehende Gehörshalluzinationen. Milton spricht von seiner «Himmlische[n] Patronin, die [...] ohn’ daß ich lang sie bitten darf [...] mir meine Stegreifverse zuspricht»17 – genau wie er, der Blinde, die seinen Töchtern «zusprach», das heißt diktierte. Bekannt ist ferner, daß die Quellen für Blakes Bilder und Gedichte in ausgefallenen Visionen und Gehörshalluzinationen lagen, die nicht selten tagelang anhielten, und zwar mitunter gegen des Dichters eigenen Willen. Und von Rilke ist überliefert, er habe eine ganze Folge von Sonetten, die er in einer Halluzination vernahm, wie im Fieber aufs Papier übertragen. Die meisten von uns sind freilich aus gewöhnlicherem Holz geschnitzt, sind viel mehr Kinder und Genossen ihrer Zeit. Wenn wir Gedichte machen, beziehen wir sie nicht mehr fix und fertig aus der Halluzination. Sondern für unser Gefühl stellt sich die Sache so dar, daß da etwas zunächst empfangen und sodann gehegt und gepflegt und zur Lebensfähigkeit aufgebaut wird; daß das Gedicht seinem Urheber ebensosehr «widerfährt», wie es von ihm «gemacht» wird. Nach einem Glas Bier nebst anschließendem Spaziergang pflegten in A. E. Housman «mit jäher, unerklärlicher Empfindung» Fetzen von Gedichtzeilen «emporzusteigen», die dann «vom Kopf aufgegriffen und vervollständigt werden mußten». Goethe sagte von seinen Gedichten: «Ich machte sie nicht, sondern sie machten mich.» – «Nicht ich denke: meine Ideen denken für mich», 16 Zur Geschichte dieses Wortes vgl. Eric A. Havelock, Preface to Plato. New York: Grosset &Dunlap 1967, S. 57, Anm. 22, sowie Kap. 2 insgesamt. 17 Paradise Lost 9, 21-14.
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meinte Lamartine. Und der gute Shelley drückte es unverblümt so aus: Ein Mensch kann sich nicht vornehmen: «Ich will dichten.» Selbst der größte Dichter kann das nicht; denn der schaffende Geist ist eine glimmende Kohle, die durch irgendeine unsichtbare Einwirkung wie durch einen unbeständigen Luftzug zu rasch vergänglicher Leuchtkraft erweckt wird [...] und die bewußten Teile unserer Natur sind gleichermaßen unfähig, deren Kommen wie deren Gehen vorauszuahnen.18
Ist die glimmende Kohle vielleicht die linke und der unbeständige Luftzug die rechte Hirnhemisphäre und die ganze Metapher ein rudimentäres Abbild des uralten Verhältnisses zwischen Menschen und Göttern? Selbstverständlich gilt in dieser Hinsicht keine universelle Regel. Die Nervensysteme von Dichtern ähneln ihren Schuhen wenigstens insoweit, als sie in allen Größen und Formen vorkommen, obzwar die Topologie innerhalb gewisser Grenzen für alle unabänderlich die gleiche ist. Daß das Verhältnis zwischen den beiden Hirnhemisphären von Individuum zu Individuum anders ausfallen kann, ist eine nachgewiesene Tatsache. Ja, Poesie läßt sich sogar ganz ohne Nervensystem verfertigen: Man braucht nur eine Wörterliste und ein paar Syntax-, Wortbildungs- und Flexionsregeln in einen Computer einzuspeisen, und schon ist das Gerät in der Lage, vielleicht ein wenig surrealistisch anmutende, aber durchaus beachtliche «lyrische» Produktionen auszugeben. Doch ist das lediglich die Simulation dessen, was wir mit unseren zwei Hirnhemisphären und unserem Nervensystem selber schon tun. Computer und Menschen können in der Tat ohne irgendwelche Eingebungen residual-bikameraler Art Gedichte schreiben. Aber wenn sie das tun, ahmen sie damit zwangsläufig jene ältere und echtere Rede- und Dichtweise aus längst vergangenen historischen Zeiten nach. Ist die Dichtkunst erst einmal auf Menschheitsebene installiert, braucht sie nicht allzeit im ursprünglichen Pro18 Percy Bysshe Shelley, A Defense of Poetry, The Portable Romantic Reader, hg. v. H.E. Hugo, New York: Viking Press 1957, S. 536.
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duktionsmodus zu verharren, um weiterbestehen zu können. Ihre Anfänge liegen in der Göttersprache der bikameralen Psyche. Und noch heute wirkt große Dichtung – sie mag zustande gekommen sein, wie sie will, und auf x-ter Position in einer unüberschaubaren Kette der Nachahmung von Nachahmungen stehen – auf ihr Publikum mit jener Qualität des ganz Anderen, jener Ausdrucksweise und Botschaft, jener Tröstlichkeit und Begeisterung, durch die sich einstmals unser Verhältnis zu den Göttern definierte. Homilie über Thamyris Ich möchte diese einigermaßen notdürftigen Gedanken zur Biologie der Dichtkunst beschließen mit einigen homiletischen Betrachtungen über die wahre Tragödie des Thamyris. Das ist jener Dichter in der «Ilias» (2, 594-600), der sich brüstete, mit seinem Gesang selbst die Musen übertreffen und in den Schatten stellen zu können. Zum Aussterben verurteilte Götter in der Übergangsperiode zum Bewußtsein sind, wie schon früher erwähnt, eifernde Götter. Und die Heiligen Neun bildeten davon keine Ausnahme. Sie schäumten angesichts von Thamyris’ schönem Ehrgeiz. So machten sie ihn zum Krüppel (wahrscheinlich durch Paralysierung der linken Körperhälfte) und beraubten ihn für immer sowohl der Gabe des dichterischen Ausdrucks als auch der Kunst des Saitenspiels. Wohl wahr – wir wissen nicht, ob es einen Thamyris je gegeben hat, noch exakt, welche historischen Realitäten sich hinter dieser Geschichte verbergen. Doch würde ich meinen, daß sie mit zu den späteren Hinzufügungen zur «Ilias» gehört und daß ihre Einschaltung in den Urtext ein Indiz ist für die mit dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche auftretende Problematik im Zusammenwirken der Hirnhemisphären bei der dichterischen Produktion. Die Parabel von Thamyris ist vielleicht eine Narrativierung des Sachverhalts, der sich für unser Empfinden als Schwinden des Bewußtseins in der Inspiration mit anschließendem Schwinden der Inspiration im Bewußtsein
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jenes Bewußtseinsschwunds darstellt. Das Bewußtsein ahmt die Götter nach und ist ein eiferndes Bewußtsein, das keine fremden Handlungsentscheidungsträger neben und über sich duldet. Ich kann mich entsinnen, daß mir in jüngeren Jahren, jedenfalls während der gesamten Spanne zwischen zwanzig und dreißig, auf Wald- oder Strandspaziergängen oder Bergwanderungen und überhaupt fast allen Rückzügen in die Einsamkeit nicht selten plötzlich zu Bewußtsein kam, daß ich im Kopf Symphonien von unverkennbarer Schönheit hörte. Doch im selben Moment, da ich mir dieses Umstands bewußt wurde – mit auch nicht einem einzigen Taktschlag Verzögerung – verschwand die Musik auch schon. Ich strengte mich an, sie wieder zurückzuholen. Aber da war nichts mehr. Nur tiefe und immer tiefere Stille. Da die Musik fraglos in meiner rechten Hemisphäre komponiert und dann auf irgendeine Weise semi-halluzinativ gehört wurde, und da mein «Ich»-qua-Analogon mit seinen Verbalisierungen (zur fraglichen Zeit jedenfalls) wahrscheinlich auf überwiegend linkshemisphärischer Funktion beruhte, glaube ich, daß eine in allergröbsten Zügen ähnliche Erfahrung einer solchen Gegensatzspannung auch hinter der Geschichte des Thamyris steckt. Mein «Ich»-quaAnalogon strengte sich allzusehr an. Mir blieb eine linksseitige Lähmung erspart. Aber ich kann meine Musik nicht mehr hören. Ich glaube auch nicht, daß ich sie jemals wieder hören werde. Der neuzeitliche Dichter befindet sich in einer ähnlichen Zwangslage. Einstmals stellten sich ihm literarische Stile und archaische Redeweisen in all der Andersheit und Grandiosität, von der zu künden die Aufgabe der wahren Dichtung ist, gewissermaßen aus dem eigenen Schwung heraus zur Verfügung. Aber die kreisenden Gezeiten eines irreversiblen Naturalismus haben die Musen noch weiter hinausgespült in die Nacht der rechten Hemisphäre. Dennoch – selbst auf unsrer unstillbaren Suche nach Autorität bleiben wir «die Hierophanten einer unbegriffenen Inspiration». Und die Inspiration verflüchtigt sich, versucht man sie zu begreifen. Wir glau-
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ben nicht genug. Der kognitive Imperativ löst sich auf. Die Geschichte verschließt mit ihrem Finger sorgsam die Lippen der Musen. Die bikamerale Psyche – stumm. Und da Der Gott, wenn man ihm naht, löst er in Luft sich auf ... So bilde dir durch Wunder mit mir ein (Denn Göttergabe kann nur doppeldeutig sein) Ein Etwas, das unmöglich möglich wäre, Auf daß Verzweiflung eine Form dich lehre.
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VIERTES KAPITEL Die Hypnose
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auffordern, einem Glas Essig den Geschmack von Champagner abzugewinnen oder es als angenehm zu empfinden, wenn ich Ihnen eine Nadel in den Arm steche, oder ins Dunkel zu blicken und dabei die Pupillen zu verengen, als ob Ihnen ein starkes Licht in die Augen schiene, oder irgend etwas – egal, was – für wahr zu halten, was Sie normalerweise absolut nicht glauben: dann würden Ihnen diese Aufgaben schwer, wenn nicht sogar unlösbar vorkommen. Hätte ich Sie jedoch zuvor den Induktionsprozeduren der Hypnose unterzogen, würden Sie das alles auf mein erstes Wort hin ohne die geringste Mühe schaffen. Wie das? Wie ist es bloß möglich, ein derart übers Normalmaß hinausschießendes Fähigkeitspotential aufzurufen? ÜRDE ICH SIE
Es scheint, daß wir in eine ganz andere Welt eintreten, wenn wir jetzt die vertraute Atmosphäre der Poesie verlassen und uns in den fremdartigen Dunstkreis der Hypnose begeben. Denn in der vielköpfigen Familie von Problemen, die das Arbeitsfeld der Psychologie ausmachen, ist die Hypnose das schwarze Schaf. Wie eine unerwünschte Monstrosität wandert sie hin und her zwischen Laboratorien und Jahrmärkten, Kliniken und Varietétheatern. Nie scheint sie genügend Seriosität aufbringen zu können, um sich der disziplinierteren Gangart wissenschaftlicher Theorie anzubequemen. Ja, schon die bloße Möglichkeit ihrer Existenz scheint all unseren «natürlichen» Vorstellungen von bewußter Selbstkontrolle auf der einen und allen wissenschaftlichen Persönlichkeitsbildern auf der anderen Seite zu widerstreiten. Nichtsdestoweniger sollte außer Zweifel stehen, daß jede Theorie über das Bewußtsein und sein Zustandekommen, will sie sich nicht aus der Verantwortung drücken, sich der mit diesem abweichenden Typ der Verhaltenskontrolle gegebenen Problematik stellen muß.
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Meine Antwort auf die zu Beginn dieses Kapitels gestellte Frage dürfte wohl kaum noch überraschen: Die Hypnose vermag dieses zusätzliche Befähigungspotential aufzurufen, weil sie das allgemeine bikamerale Paradigma anspricht, das eine absolutere Verhaltenskontrolle gestattet, als sie mit dem Bewußtsein möglich ist. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, daß keine andere Theorie außer der in diesem Buch vorgetragenen in der Lage ist, das hier zur Geltung kommende Grundproblem überhaupt sinnvoll darzustellen. Denn wäre die derzeitige Mentalität des Menschen, wie meistenteils angenommen wird, ein unwandelbares Merkmal, genetisch bedingt und zu irgendeiner Zeit weit zurück in der Evolution der Säuger oder noch früher entstanden – wie ließe sie sich dann so abändern, wie das in der Hypnose geschieht? Abändern noch dazu allein mit ein bißchen eher komisch wirkendem Hokuspokus von seiten einer anderen Person? Nur wenn wir die genetische Hypothese verwerfen und das Bewußtsein als erlernte kulturelle Fähigkeit betrachten, deren Substrat die Residuen eines älteren, autoritäreren Typs der Verhaltenskontrolle sind – erst dann sehen wir uns in der Lage, derartige Veränderungen im Seelenzustand in einen einleuchtenden systematischen Zusammenhang zu bringen. Tragendes Gerüst des vorliegenden Kapitels ist demnach der Aufweis, daß und in welchem Annäherungsgrad die Hypnose die vier Aspekte des bikameralen Paradigmas in sich faßt. Bevor ich mich allerdings an diese Aufgabe mache, möchte ich so klar wie möglich einen entscheidend wichtigen Zug an der Ursprungsgeschichte der Hypnose herausstellen. Es handelt sich dabei um etwas, wovon bereits im Zweiten Kapitel des Ersten Buches und im Fünften Kapitel des Zweiten Buches die Rede war, nämlich um die generative Kraft der Metapher, die sich in der Erzeugung neuer Mentalitätsstufen äußert. Die Paraphoranden der Newtonschen Kräfte Wie das Bewußtsein erwächst die Hypnose an einem bestimmten Punkt der Geschichte aus den Paraphoranden einiger
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neuer Metaphern. Die erste dieser Metaphern bildete sich im Anschluß an Sir Isaac Newtons Entdeckung des Prinzips der universellen Gravitation und dessen Anwendung zur Erklärung der Gezeiten des Meeres aus der Anziehungskraft des Mondes. Die rätselhaften Anziehungs-, Beeinflussungsund Dominanzverhältnisse unter Menschen wurden daraufhin mit den Newtonschen Gravitationskräften verglichen. Der Vergleich führte zu der neuen (und aberwitzigen) Hypothese, derzufolge zwischen allen Körpern, ob lebend oder tote Materie, zu- und abnehmende Fluten der Anziehung vorherrschen: eine «animalische Gravitation», von der die Newtonsche Gravitation lediglich einen speziellen Fall darstelle.1 Mit Händen zu greifen ist das alles in den romantischverworrenen Schriften eines grenzenlosen Bewunderers von Newton namens Anton Mesmer, der in diesem Fall den Stein ins Rollen brachte. Und dann gesellte sich dazu eine weitere Metapher oder, besser gesagt, zwei. Die Schwerkraft ähnelt der Magnetkraft. Infolgedessen – nämlich da (wenigstens für Mesmers oberflächliche Denkweise) zwei Dinge, die einem dritten ähnlich sind, auch einander ähnlich sind – ist die animalische Gravitation das gleiche wie die magnetische Anziehungskraft und kann daher als «animalischer Magnetismus» bezeichnet werden. Und damit war die Theorie endlich wissenschaftlich überprüfbar geworden. Um die Existenz dieser alle Lebewesen durchflutenden, der Gravitation der Himmelskörper ähnelnden magnetischen Schwingungskräfte zu beweisen, legte Mesmer Magnete an eine Reihe hysterischer Patientinnen an, denen er zuvor sogar Gaben eisenhaltiger Medikamente verabreicht hatte, damit der Magnetismus bessere Wirkung zeitigte. Und 1
Eine vollständige Darstellung der Geschichte der Hypnose steht noch aus. Vgl. jedoch vorläufig: F. A. Pattie, Brief History of Hypnotism, Handbook of Clinical and Experimental Hypnosis, hg. von J.E. Gordon, New York: Macmillan 1967. Vgl. ferner den historiographischen Beitrag von einem der bedeutendsten Experimentatoren auf dem Feld der Hypnose: Theodore Sarbin, Attempts to Understand Hypnotic Phenomena, Psychology in the Making, hg. von Leo Postman, New York: Knopf 1964, S. 745-784.
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wie er zeitigte! Und was er zeitigte, waren unanfechtbare Resultate nach dem Kenntnisstand damaliger Zeit. Die Magnete lösten konvulsivische Zuckungen aus, wobei, so Mesmer, «im Körper eine künstliche Ebbe und Flut» geschaffen und mittels magnetischer Anziehung «ungleichmäßige Verteilung und verworrener Fluß des Nervenfluidums» korrigiert wurden, was wiederum «Nervenharmonie» zur Folge hatte. Er hatte «bewiesen», daß von Mensch zu Mensch Kraftströme fließen, so mächtig wie die Kräfte, die die Planeten auf ihren Umlaufbahnen halten. Natürlich hatte er nicht das mindeste über Magnetismus oder dergleichen bewiesen. Sondern er hatte etwas entdeckt, was späterhin von Sir James Braid unter Zuhilfenahme des Metaphorators «Schlaf» auf den Namen Hypnose getauft werden sollte. Mesmers Kuren schlugen an, weil er seine exotische Theorie seinen Patienten mit mitreißender Überzeugungskraft nahezubringen wußte. Die heftigen Zuckungen und eigenartig ziehenden Körperempfindungen beim Anlegen der Magnete verdankten sich samt und sonders einem kognitiven Imperativ des Inhalts, daß eben diese Dinge eintreten würden, was sie dann auch taten – und damit war eine Art selbsttätiger, selbstverstärkender Regelkreis installiert, der als «Beweis» dafür galt, daß die Magnete funktionierten und eine Heilung zu bewirken vermochten. Wir sollten uns in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß man im alten Assyrien keinen Begriff vom Zufall hatte und daß deswegen der Ausgang des Losewerfens von den Göttern gelenkt sein «mußte»: Ganz genauso kannte man im achtzehnten Jahrhundert den Begriff der Suggestion noch nicht, und deshalb mußte alles, was sich da tat, von den Magneten bewirkt sein. Als man dann dahinterkam, daß nicht nur Magnete selbst, sondern auch Trinkgefäße, hölzerne Sachen, Menschen oder Tiere, die man zuvor mit einem Magneten in Berührung gebracht hatte, diese Wirkungen zeitigten (ein Aberglaube heckt den anderen!), rückte die ganze Sache in einen neuen (mittlerweile den vierten) Metaphernbereich hinüber, nämlich auf das Feld der statischen Elektrizität, die zu damaliger Zeit
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– man denke etwa an Benjamin Franklins Drachen – eifrig erforscht wurde. Mesmer gelangte zu der Überzeugung, es existiere eine «materia magnetica», die genau wie die statische Elektrizität übertragbar sei auf eine endlose Vielfalt von Gegenständen. Vor allen Dingen Menschen – und ganz besonders Mesmer selbst – vermochten den Magnetismus aufzunehmen und zu speichern. Wird ein Kohlestab mit einem Stück Fell bestrichen, lädt er sich elektrisch auf: Also mußte Mesmer seine Patienten bestreichen, als ob sie Kohlestäbe wären. Auf reguläre Magnete konnte er jetzt verzichten und auf seinen eigenen animalischen Magnetismus zurückgreifen. Indem er die Körper seiner Patienten bestrich, als seien sie Kohlestäbe, oder andeutungsweise mit den Händen über sie hinfuhr, erzielte er die gleichen Ergebnisse wie zuvor: Zuckungen, eigenartige, spiralig ziehende Empfindungen und die Heilung von Leiden, die späterhin den Namen «Hysterien» erhalten sollten. Hier kommt es nun ganz entscheidend darauf an, sich Klarheit über den Paraphorandenwandel (wie man ihn nennen könnte) zu verschaffen, der aufgrund jener Metaphern in den beteiligten Personen vor sich ging. Wir entsinnen uns: ein Paraphorand sind die in den Metaphoranden projizierten Assoziationen (Paraphoratoren) eines Metaphorators. Metaphorand sind im vorliegenden Fall die Einflüsse, die Menschen aufeinander ausüben. Metaphoratoren – dasjenige, womit diese Einflüsse verglichen werden – sind die unerbittlichen Kräfte der Gravitation, des Magnetismus und der Elektrizität. Und ihre Paraphoratoren: absoluter Zwang im Verhältnis zwischen Himmelskörpern, unaufhaltsame Ströme aus Massen von Leidener Flaschen und unwiderstehliche magnetische Flutwellen, das alles wanderte auf dem Weg der Projektion in den Metaphoranden «zwischenmenschliche Beziehungen» mit ein und bewirkte dort einen handgreiflichen Wandel als Wandel im psychischen Wesen der beteiligten Personen, indem es diese in ein Meer unkontrollierbarer Kontrolle eintauchte, die von dem «magnetischen Fluidum» im Körper des Therapeuten – oder
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in Gegenständen, die das Fluidum von ihm «angenommen» hatten – ausging. Es ist zumindest denkbar, daß es eine andersartige Mentalität war, was Mesmer zu entdecken im Begriff stand, eine Mentalität, die unter gewissen Bedingungen – wenn man ihr den geeigneten Lebensraum, ein eigenes Erziehungswesen, den Rahmen eines eigenen Glaubenssystems und Isolation vom Rest der Menschheit zugestanden hätte – vielleicht durchaus in der Lage gewesen wäre, sich am Leben zu erhalten in einer nicht auf dem gewöhnlichen Bewußtsein gegründeten Gesellschaftsform, in der Metaphern von Energie und unwiderstehlicher Kontrolle einen Teil der Bewußtseinsfunktionen übernommen hätten. Wie ist so etwas auch nur denkbar? Ich deutete bereits an, daß Mesmer meiner Ansicht nach erste, stolpernde Schritte in Richtung einer neuen Methode des Aufrufs jenes neurologischen Organisationsmusters machte, das ich als allgemeines bikamerales Paradigma bezeichnet und an dem ich vier Aspekte dingfest gemacht habe: den kollektiven kognitiven Imperativ, die Induktion, die Trance und die archaische Autorität. Im folgenden werde ich diese Aspekte der Reihe nach durchgehen. Die Wandlung im Wesen des hypnotischen Menschen Daß das Phänomen der Hypnose von einem kollektiven kognitiven Imperativ beziehungsweise einem Gruppenglauben gesteuert wird, erweist sich deutlich an dem stetigen Wandel, dem es im Lauf der Geschichte unterliegt. Im gleichen Maß, wie sich die Ansichten und Meinungen über die Hypnose änderten, änderte sich auch deren eigenstes Wesen. Einige Jahrzehnte nach Mesmer wanden sich die Behandelten nicht mehr in seltsamen Empfindungen und Konvulsionen, sondern gingen statt dessen dazu über, in der Trance unaufgefordert zu sprechen oder auf Fragen, die man an sie richtete, zu antworten. Zuvor war nie etwas dergleichen vorgekommen. Um die Wende
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zum neunzehnten Jahrhundert begannen die Behandelten dann von selbst zu vergessen, was in der Trance vorgefallen war,2 etwas, worüber aus der Zeit davor nie etwas verlautete. Um 1825 begannen Personen in Hypnose aus unerfindlichen Gründen, sich selbst spontan Krankheitsdiagnosen zu stellen. Um die Jahrhundertmitte hatte die Phrenologie – jene abwegige «Wissenschaft», die sich anheischig machte, aus den Bukkeln des menschlichen Schädels die Geisteskapazität des Besitzers herauszulesen – es zu solcher Beliebtheit gebracht, daß es ihr gelang, die Hypnose faktisch ganz für ihre eigenen Zwecke in Beschlag zu nehmen. Wurde der Schädel einer hypnotisierten Versuchsperson über einem bestimmten phrenologischen Zentrum gedrückt, so veranlaßte dies eine Demonstration der in diesem Zentrum angesiedelten geistigen Fähigkeit (doch, so ist es wirklich gewesen!), ein Phänomen, das weder zuvor noch seither jemals wieder zu beobachten war. Druck auf den Schädel nächst der Gehirnregion, in der vermeintlich das Gefühl der «Andacht» residierte, veranlaßte die Versuchsperson, betend auf die Knie zu sinken!3 Das war so, weil man glaubte, daß es so wäre. Nicht lange danach demonstrierte Charcot, der größte «Nervenarzt» seiner Zeit, seinem zahlreichen Publikum von Studenten und Fachgenossen in der Salpêtrière, daß die Hypnose doch noch etwas ganz anderes sei als bisher angenommen. Sie zerfiel jetzt in drei aufeinanderfolgende Stadien: das kataleptische, das lethargische und das somnambule. Diese «Körperzustände» ließen sich durch die Manipulation von 2 3
Dies geht hervor aus den hochbedeutsamen Schriften von A.-M.-J. Chastenet, Marquis de Puységur, Mémoires pour servir à l’histoire et à l’establissement du magnétisme animal, Paris 21809. Derartige Vorführungen unter Leitung von Sir James Braid, der im übrigen als erster methodologisch ernst zu nehmende Untersuchungen in diesem Bereich anstellte, wurden von ihrem Veranstalter später als Peinlichkeit empfunden. Über die dabei aufgetretenen Befunde hat er nach 1845 nie wieder gesprochen – und sie vermutlich auch nie begreifen können. Eine ausführliche Darstellung von Braids Kardinalposition in der Geschichte der Hypnose gibt J. M. Bramwell, Hypnotism: Its History, Practice and Theory, London 1903, Neudruck New York: Julian Press 1956.
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Muskeln, Druck auf verschiedene Körperstellen oder Reibung des Schädeldachs ineinander überführen. Schon das Reiben der Kopfhaut über dem Broca-Zentrum genügte, um eine Aphasie hervorzurufen. Als dann Binet in der Salpêtrière eintraf, um sich durch eigenen Augenschein von Charcots Entdeckungen zu überzeugen, machte er prompt die ganze Sache noch verwickelter, indem er zu Mesmers Magneten zurückkehrte und noch bizarrere Verhaltensformen als Resultate der Hypnose entdeckte.4 Durch Anlegen von Magneten auf der einen oder anderen Körperseite seiner Versuchspersonen konnte er Wahrnehmungen, hysterische Lähmungen, vermeintliche Halluzinationen und motorische Phänomene wie per Flip-Flop-Technik mal da-, mal dorthin dirigieren, als habe er es mit Eisenspänen zu tun. Und wiederum handelte es sich um Resultate, die man weder jemals zuvor noch seither wieder beobachten konnte. Die Sache verhält sich nicht etwa so, daß der Hypnotiseur – Mesmer oder Charcot, oder wie immer er heißen mochte – einem gefügigen Hypnosesubjekt suggeriert hätte, worin seiner, des Hypnotiseurs, Privatmeinung zufolge die Hypnose zu bestehen habe. Vielmehr hatte sich innerhalb der Bezugsgruppe, auf die er mit seiner Arbeit zielte, ein kognitiver Imperativ des Inhalts herausgebildet, worin das Phänomen «anerkanntermaßen» bestehe. Solche historischen Wandlungen beweisen klar, daß die Hypnose keine starre Reaktion auf eindeutig definierte Reize ist, sondern daß sie sich mit den Erwartungen und Voreinstellungen der Epoche ändert. Was dergestalt am Geschichtsverlauf in die Augen springt, läßt sich auch auf eine den Bedingungen des kontrollierten Experiments näherkommende Weise zeigen. Bis dato beispiellose 4
Vgl. Alfred Binet und C. Feré, Le magnétisme animal, Paris: Alcan 1897. Diese auf Selbsttäuschung beruhende Arbeit führte zu einer Kontroverse mit Delboeuf und der Schule von Nancy, die eine korrektere Verfahrensweise verfochten; Binet hat dann später seinen törichten Irrtum eingestanden. Zu dieser ganzen Angelegenheit vgl. die ausgezeichnete Biographie von Theta Wolf, Alfred Binet, Chicago: University of Chicago Press 1973, S. 40-78.
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Manifestationen der Hypnose kann man schlicht und einfach dadurch erhalten, daß man den Versuchspersonen insinuiert, genau dies seien die Manifestationen, mit denen normalerweise zu rechnen sei, das heißt daß sie Bestandteil des die Hypnose betreffenden kollektiven kognitiven Imperativs seien. So wurden die Teilnehmer eines psychologischen Proseminars beiläufig instruiert, daß es der Versuchsperson in Hypnose unmöglich sei, die dominante Hand zu bewegen. Zu keiner Zeit jedoch war das jemals beobachtet worden. Es war eine glatte Lüge. Trotzdem – als Teilnehmer dieses Seminars zu einem späteren Zeitpunkt hypnotisiert wurden, und zwar ohne weitere diesbezüglichen Instruktionen und Suggestionen, konnte die Mehrzahl von ihnen in der Trance die dominante Hand nicht bewegen. Aus derartigen Untersuchungsergebnissen wurde das Konzept des «Forderungscharakters» der hypnotischen Situation abgeleitet, der es mit sich bringe, daß die hypnotisierte Person die Phänomene kundgibt, mit denen der Hypnotiseur ihrer Ansicht nach rechnet.5 Doch das heißt die Sache allzu persönlichkeitsbezogen verstehen. Eine Rolle spielt vielmehr, was es nach Meinung der Versuchsperson mit der Hypnose auf sich hat. So verstanden, ist der «Forderungscharakter» seiner Natur nach nichts anderes, als was in meiner Terminologie der «kollektive kognitive Imperativ» heißt. Auf andere Art verdeutlicht man sich die Kraft des kollektiven Imperativs, wenn man auf seine Verstärkung in der Masse achtet. Wie das religiöse Empfinden und der Glaube in einer gutbesuchten Kirche zunehmen und ehedem auch die Orakelgläubigkeit zunahm, je mehr Menschen ins Heiligtum drängten, ebenso steigert sich die Wirksamkeit der Hypnose bei der Vorführung im Theater. Es ist eine sattsam bekannte Tatsache, daß ein Varieté-Hypnotiseur, der seine Kunst vor 5
In der Geschichte der Hypnoseforschung zählt dieser Gedanke zu den wichtigeren. Vgl. dazu die Veröffentlichungen von Martin Orne, insbesondere: The Nature of Hypnosis: Artifact and Essence, Journal of Abnormal and Social Psychology 58/1959, S. 277-299. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch David Rosenhans bedeutsamer und ernüchternder Aufsatz: On the Social Psychology of Hypnosis Research, in: J. E. Gordon (Hg.), a. a. O.
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brechend vollgepackten Sitzreihen zur Schau stellt – wo der kollektive Imperativ oder die Erwartungen bezüglich der Hypnose mächtigen Auftrieb erfahren –, weitaus exotischere hypnotische Phänomene hervorzurufen vermag, als man sie in der Abgeschiedenheit von Labor oder Klinik antrifft. Die Induktion Zum zweiten ist die Position der Induktionsprozedur in der Hypnose nicht zu übersehen.6 Und bedarf wohl keiner langen Erläuterung. Eine enorme Vielfalt von Techniken befindet sich derzeit im Schwang; ihnen allen gemeinsam ist jedoch eine Bewußtseinsverengung, ähnlich den Induktionsprozeduren für die Orakel, sowie die pelestike/katochos-Relation, die wir bereits in anderem Zusammenhang kennengelernt haben. Das Hypnosesubjekt kann stehen, sitzen oder liegen; in manchen Fällen wird es mit den Händen bestrichen, in anderen nicht; in einigen Fällen findet eine enge Blickverschränkung zwischen Hypnotiseur und Hypnosesubjekt statt, in anderen nicht; manchmal wird das Hypnosesubjekt gebeten, den Blick fest auf eine Kerzenflamme oder einen kleinen Edelstein oder eine Reißzwecke an der Wand oder vielleicht sogar auf den eigenen Daumennagel über den verschränkten Fingern zu richten – und manchmal auch nichts dergleichen: Es existieren Hunderte von Varianten. Aber stets ist der Hypnotiseur bemüht, den Aufmerksamkeitsradius des Hypnosesubjekts auf seine, des Hypnotiseurs, eigene Stimme einzuengen. «Sie hören jetzt nur noch meine Stimme und fühlen sich immer schläfriger und schläfriger ...» – das ist ein gängiges Sprechmuster, das so lange 6
Die beste Darstellung der hypnotischen Induktionsprozeduren gibt Perry London, The Induction of Hypnosis, in: J.E. Gordon (Hg.), a.a.O., S. 44-79. Von den Darstellungen der Hypnose im allgemeinen fand ich die Aufsätze von Ronald Shor besonders hilfreich, zumal Hypnosis and the Concept of the Generalized Reality-Orientation, American Journal of Psychotherapy 13/1959, S. 581-601, und Three Dimensions of Hypnotic Depth, International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis 10/1962, S. 23-38.
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wiederholt wird, bis das Subjekt bei gelungener Hypnose beispielsweise nicht mehr imstande ist, die verschränkten Finger voneinander zu lösen, sofern der Hypnotiseur es entsprechend angewiesen hat, oder auf Geheiß des Hypnotiseurs den schlaff herabhängenden Arm nicht mehr bewegen kann oder sich auf entsprechendes Geheiß nicht mehr an den eigenen Namen zu erinnern vermag. Derart simple Aufträge werden meist dazu verwendet, während des Anlaufstadiums der Hypnose deren Wirksamkeit zu kontrollieren. Schafft die Versuchsperson es nicht, ihr Bewußtsein in der erforderlichen Weise zu verengen; kann sie die Globalsituation nicht vergessen; verharrt sie in einem Bewußtseinszustand von anderweitiger Gerichtetheit, etwa auf den umgebenden Raum oder die Beziehung zum Hypnotiseur; narrativiert sie noch mit ihrem «Ich»-qua-Analogon oder «sieht» sie ihr «Ich»qua-Metapher hypnotisiert werden: dann schlägt die Hypnose fehl. Doch führen dann wiederholte Versuche mit denselben Personen oftmals zum Erfolg, woraus hervorgeht, daß die «Verengung» des Bewußtseins in der hypnotischen Induktion teilweise in einer erlernten Fähigkeit beruht – erlernt, so ist hinzuzufügen, auf der Basis der aptischen Struktur, die zuvor als allgemeines bikamerales Paradigma bezeichnet wurde. Wir haben bereits festgestellt, daß die Mühelosigkeit, mit der ein katochos eine halluzinatorische Trance erreicht, mit der Übung zunimmt; nicht anders verhält es sich mit der Hypnose: noch für die am leichtesten zugänglichen Hypnosesubjekte lassen sich Dauer und Inhalt der Induktion bei wiederholten Sitzungen radikal herabsetzen. Trance und paralogische Willfährigkeit Zum dritten heißt die hypnotische Trance bereits allgemein – Trance. Gewiß, sie unterscheidet sich gewöhnlich von der Art Trance, wie sie bei anderen Relikten der bikameralen Psyche vorkommt. Es treten in ihr keine echten Gehörshalluzinationen auf wie in der Trance von Orakeln und Medien. Diese Position des Paradigmas hält bei der Hypnose der Hypnotiseur besetzt.
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Doch kommt es zur gleichen Minderung und im weiteren zum völligen Schwund des Normalbewußtseins. Die Narrativierung ist stark eingeschränkt. Das «Ich»-qua-Analogon ist mehr oder minder ausgelöscht. Der Hypnotisierte lebt nicht in einer subjektiven Welt. Er introspiziert nicht wie andere Menschen, weiß nicht, daß er unter Hypnose steht, und überwacht sich nicht ständig, wie er es im nichthypnotisierten Zustand tun würde. In neuerer Zeit wird zur Kennzeichnung des Trancezustands fast regelmäßig die Metapher des Untergetauchtseins in einem Gewässer bemüht. So ist etwa von «Versinken» und «Versunkenheit», von «tiefer» oder «flacher», «oberflächlicher» Trance die Rede. Häufig sagt der Hypnotiseur dem Hypnosesubjekt, es werde auf «tiefere und immer tiefere» Stadien «sinken». Es ist in der Tat sehr wohl denkbar, daß die gesamte Phänomenologie der Hypnose – zumal was die posthypnotische Amnesie anbelangt – ohne den Metaphorator «Versenkung» anders aussehen würde. Die Paraphoratoren von oberhalb und unterhalb eines Wasserspiegels mit ihrem je eigenen visuellen und taktilen Feld kreieren möglicherweise zwei Erlebniswelten, die so etwas wie ein zustandsabhängiges Gedächtnis zur Folge haben. Und der Grund für das plötzliche Auftreten der spontanen posthypnotischen Amnesie zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts liegt vielleicht in diesem Wechsel von der Metaphorik der Gravitation zur Metaphorik der Versenkung. Anders gesagt: die spontane posthypnotische Amnesie war zunächst vielleicht nichts anderes als ein Paraphorand der Versenkungsmetapher. (In diesem Zusammenhang ist es interessant zu beobachten, daß die posthypnotische Amnesie derzeit offenbar im Begriff steht, sich aus der Gruppe der hypnotischen Phänomene zu verabschieden. Das mag daran liegen, daß die Hypnose inzwischen zu einer allgemein vertrauten Sache und damit zu einer «eigenständigen», einer Sache «an und für sich selbst» geworden ist, während im selben Zug ihre metaphorische Grundlage im Gebrauch abgeschliffen wurde, wodurch die Macht ihrer Paraphoranden schwand.) Die interessantesten hypnotischen Phänomene lassen sich ohne Zweifel auf den «tieferen» Stadien der Trance hervor-
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rufen. Sie bilden einen extrem wichtigen Probierstein für jede Theorie der menschlichen Psyche. Ohne anderslautende Anweisung bleibt der Hypnotisierte «taub» für alles außer der Stimme des Hypnotiseurs; was andere Menschen von sich geben, «hört» er nicht. Schmerzen können einerseits «abgeblockt», andererseits ins Überdimensionale gesteigert werden. Die Affektivität ist restlos durch Suggestion strukturierbar: instruiert man ihn, er werde jetzt gleich einen tollen Witz zu hören bekommen, schüttet der Hypnotisierte sich aus vor Lachen über die Bemerkung «Das Gras ist grün». Aus irgendwelchen Gründen vermag eine Person in Hypnose auf Anweisung des Hypnotiseurs bestimmte automatische Reaktionen besser zu kontrollieren als im Normalzustand. Ihr Identitätsgefühl läßt sich so radikal umkrempeln, daß sie sich, je nachdem, als Tier, als Greis oder als Kleinkind – oder was sonst noch beliebt – aufführt. Doch es handelt sich um ein Als ob mit einem unterdrückten So ist es nicht dahinter. Von einigen Extremisten in Sachen Hypnose hört man bisweilen die Auffassung vertreten, daß die Person in Trance, der man sagt, sie sei jetzt fünf, sechs Jahre alt, faktisch auf dieses Kindheitsstadium regrediere. Das ist nachweislich falsch. Es mag genügen, wenn ich dazu ein einziges Beispiel anführe. Der Proband, um den es geht, war in Deutschland geboren und im Alter von etwa acht Jahren mit seiner Familie in ein englischsprachiges Land emigriert; er hatte sich daraufhin in die englische Sprache eingelebt und sein Deutsch so gut wie ganz vergessen. Als der Hypnotiseur ihm in «Tiefenhypnose» erklärte, er sei jetzt sechs Jahre alt, benahm er sich auf jede erdenkliche Weise als Kind – was sogar so weit ging, daß er, zum Schreiben aufgefordert, in kindlicher Krakelschrift Druckbuchstaben auf die Tafel malte. Auf englisch gefragt, ob er Englisch verstehe, erklärte er in kindlichem Englisch, er verstehe und spreche kein Englisch, sondern nur Deutsch. Ja, er krakelte sogar auf englisch an die Tafel, daß er kein einziges Wort Englisch verstehe!7 Das Ganze gleicht 7
Ich verdanke dieses Beispiel Martin Orne.
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also mehr einer schauspielerischen Simulation als echter Regression. Es ist eine kritik- und gedankenlose «Hörigkeit» gegenüber dem Hypnotiseur und seinen Erwartungen, die der Hörigkeit des bikameralen Menschen gegenüber seinem Gott ähnelt. Ein zweiter weitverbreiteter – und selbst in erstrangigen Lehrbüchern anzutreffender! – Irrtum in Sachen Hypnose ist die Annahme, der Hypnotiseur könne echte Halluzinationen hervorrufen. Meine eigenen (noch unveröffentlichten) Beobachtungen beweisen das Gegenteil. Nachdem der Proband in Tiefenhypnose versetzt war, überreichte ich ihm (mit der entsprechenden Gestik) eine (nichtvorhandene) Vase mit der Bitte, (nichtvorhandene) Blumen (deren jeweilige Farbe ich ihm laut zurief) vom Tisch zu nehmen und in die Vase zu tun. Das klappte mühelos. Es war eine Sache des schauspielerischen Simulierens. Ganz anders dagegen lag der Fall, wenn ich dem Probanden ein nichtexistentes Buch überreichte und ihn bat, die erste Textseite aufzuschlagen und den Anfang laut vorzulesen. Simulieren läßt sich dergleichen allenfalls unter Aufbietung eines größeren Maßes an Kreativität, als den meisten von uns zuteil geworden ist. Versuchspersonen in der beschriebenen Lage lieferten zwar alle prompt die Gesten, als hielten sie ein Buch und blätterten darin; in Einzelfällen waren sie wohl auch in der Lage, eine klischeehafte Anfangswendung, ja unter Umständen sogar einen ganzen Satz aufzusagen – doch dann klagten sie regelmäßig, das Druckbild sei verwischt oder die Type zu klein zum Lesen, oder brachten irgendeine andere Rationalisierung vor. Oder: forderte man einen Probanden auf, das (nichtexistente) Bild auf einem (leeren) Blatt Papier zu beschreiben, so erhielt man bestenfalls einsilbige Auskünfte darüber, was er sah, und auch diese erst auf bohrendes Nachfragen hin und stockend vorgetragen. Wäre eine echte Halluzination im Spiel gewesen, dann wären seine Blicke kreuz und quer über das Papier gewandert, und eine ausgiebige Bildbeschreibung wäre ein Kinderspiel gewesen – wie das der Fall ist, wenn Schizophrene ihre Gesichtshalluzinationen schildern. Ganz naturgemäß zeigten sich bei dem Experiment starke
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individuelle Unterschiede, doch alles in allem entspricht das beobachtete Verhalten mehr einer stockend simulierten Rolle als der – für das Erleben echter Halluzinationen charakteristischen – zwanglos-selbstverständlichen Beziehung auf etwas wie von sich aus Gegebenes. Noch deutlicher erweist sich dieser Punkt bei einem anderen Experiment. Gibt man einer hypnotisierten Person den Auftrag, quer durchs Zimmer zu gehen, und hat man ihr zuvor einen Stuhl in den Weg gestellt, ihr aber gesagt, da sei kein Hindernis, dann halluziniert sie den Stuhl nicht ins Nichtsein. Sie macht schlicht und einfach einen Bogen um ihn. Die Versuchsperson verhält sich so, als nähme sie den Stuhl nicht wahr – was sie natürlich doch tut, sonst würde sie keinen Bogen um ihn machen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß nichthypnotisierte Versuchspersonen, die man auffordert, so zu tun, als seien sie hypnotisiert, in der geschilderten Situation prompt gegen den Stuhl krachen,8 da sie sich bemühen, sich getreu der irrigen Auffassung zu verhalten, daß die Hypnose eine tatsächliche Wahrnehmungsveränderung bewirke. Aus derlei Beobachtungen erwuchs das wichtige Konzept der «Trancelogik», das eigens zu dem Zweck aufgestellt wurde, dieser Ungleichheit zwischen Hypnose und Halluzination Rechnung zu tragen.9 Trancelogik bedeutet nichts weiter als die höfliche Art, auf absurde logische Widersprüche zu reagieren. Freilich handelt es sich ebensowenig um eine Logik im eigentlichen Sinn wie um ein simples Trancephänomen. Vielmehr hat man es hier mit etwas zu tun, was meines Erachtens zutreffender als paralogische Willfährigkeit gegenüber der sprachlichen Realitätsvermittlung zu verstehen ist. «Paralogisch» deshalb, weil die Regeln der Logik (die – daran sollten wir uns
8 9
Die grundlegenden Studien zum Vergleich Hypnotisierter mit nichthypnotisierten Kontrollpersonen wurden von Martin Orne vorgenommen. Auch das geschilderte genial einfache Beispiel geht auf ihn zurück. Vgl. Martin Orne, The Nature of Hypnosis: Artifact and Essence, a.a.O.
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erinnern – einen der Außenwelt zugehörigen Maßstab für wahr und falsch darstellen und keineswegs die Funktionsweise des Geistes abbilden) beiseite geschoben werden, damit Realitätsaussagen willfahrt werden kann, denen kein konkreter Sachverhalt entspricht. Dies ist ein Verhaltenstyp, der gleichsam zum Grundrepertoire der Spezies Mensch gehört und allenthalben anzutreffen ist, angefangen bei den zeitgenössischen religiösen Litaneien bis hin zu den diversen Formen des Aberglaubens in Stammesgesellschaften. In besonders ausgeprägter Form und geradezu konstitutiver Rolle ist er jedoch im hypnotischen Geisteszustand virulent. Es ist paralogische Willfährigkeit, wenn eine Versuchsperson um einen Stuhl, von dem man ihr versichert hat, er sei nicht da, einen Bogen macht, statt (in logischer Willfährigkeit) gegen ihn zu krachen, und gleichzeitig keinerlei logisches Defizit in ihrer Handlungsweise zu entdecken vermag. Es ist paralogische Willfährigkeit, wenn ein Proband auf englisch versichert, er könne kein Englisch, und nicht das geringste dabei findet. Hätte unser deutschbürtiger Proband den Hypnosezustand nur simuliert, so hätte er sich fraglos logisch-willfährig gezeigt, indem er gerade soviel Deutsch geradebrecht hätte, wie er aus seinem Gedächtnis noch hätte herauskramen können, oder aber er hätte einfach den Mund gehalten. Es ist paralogische Willfährigkeit, wenn es jemandem nichts ausmacht, sich mit der Vorstellung zu arrangieren, daß ein und dieselbe Person sich an zwei Orten gleichzeitig aufzuhalten vermag. Erzählt man einem Hypnotisierten, daß die Person X die Person Y sei, wird er sich in seinem Verhalten darauf einstellen. Wenn dann die wirkliche Person Y den Raum betritt, macht es ihm überhaupt nichts aus, sich damit abzufinden, daß beide Personen die Person Y sind. Hier zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Form von paralogischer Willfährigkeit, wie sie bei einem anderen Relikt der bikameralen Psyche, der Schizophrenie, auftritt. Es kann vorkommen, daß von den Patienten auf einer Station zwei sich für die gleiche bedeutende oder göttliche Persönlichkeit halten, ohne daß einer von den beiden etwas Unlogisches an dieser Situation zu entdecken
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vermag.10 Meiner Meinung nach bekundete sich eine ähnliche paralogische Willfährigkeit auch in der bikameralen Epoche selbst, etwa wenn reglose Idole als lebendig und essend oder ein und dieselbe Gottheit als gleichzeitig an mehreren Orten weilend behandelt wurden, oder auch in der Menge juwelenäugiger Standbilder von ein und demselben Gottkönig, die eins neben dem andern aufgereiht in den Pyramiden gefunden wurden. Wie der bikamerale Mensch bemerkt der Hypnotisierte in seinem Verhalten nichts Absonderliches, keinerlei Ungereimtheit. Er «sieht» keine Widersprüche, weil er der vollkommen bewußten Introspektion nicht mächtig ist. Das Zeitempfinden ist während der Dauer einer Trance ebenfalls gemindert (wie dies nach unserer früheren Feststellung ja auch bei der bikameralen Psyche der Fall war). Das zeigt sich besonders deutlich in der posthypnotischen Amnesie. In unserer normalen Verfassung dient uns die spatialisierte Reihung der Zeit im Bewußtsein als Substrat für Erinnerungsreihen. Fragt uns jemand, was wir seit dem Frühstück getan haben, narrativieren wir gewöhnlich eine Ereignisreihe entlang der «Zeitachse», auf der jedem Einzelereignis sein spezifischer «Stellenwert» zukommt. Doch ein Mensch in hypnotischer Trance verfügt ebensowenig wie der Schizophrene oder der bikamerale Mensch über einen solchen Zeitschematismus, der es ihm ermöglichen würde, den Ereignissen einen Stellenwert zuzuweisen. Die Davor-danach-Dimensionalität der spatialisierten Zeit geht ihm ab. Was ein Hypnotisierter an Vorkommnissen während der Trance aus seiner posthypnotischen Amnesie heraus überhaupt noch zu erinnern vermag, sind nicht die Zeit-Räume des normalen Erinnerns, sondern unklare, isolierte Bruchstücke vom Hinweis-Reiz-Typ. Unter dem Einfluß der Amnesie vermögen Probanden allenfalls Dinge wiederzugeben wie: «Ich hatte die Hände gefaltet, ich
10 Die ausführliche Schilderung eines solchen Falls findet sich in: Milton Rokeach, The Three Christs of Ypsilanti, New York: Knopf 1960.
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saß in einem Sessel», ohne Einzelheiten und Zusammenhang, was mich in seiner Art an Hammurabi oder Achilleus erinnert.11 Freilich gibt es da einen bezeichnenden Unterschied zwischen dem bikameralen Menschen und unseren hypnotisierten Zeitgenossen: letztere sind oftmals in der Lage, auf Geheiß des Hypnotiseurs den narrativierten Folgezusammenhang der Erinnerung zu reproduzieren – woraus hervorgeht, daß neben und außerhalb der Trance gleichzeitig eine parallele Verarbeitung durch das Bewußtsein stattgefunden hat. Solche Befunde machen die hypnotische Trance zu einem Phänomen von faszinierender Komplexität. Parallelverarbeitung ...! Während eine Person dies oder jenes tut und sagt, verarbeitet ihr Gehirn die Situation in mindestens zwei unterschiedlichen Modi, deren einer im Verhältnis zum anderen der umfassendere ist. Für diese Schlußfolgerung spricht mit noch verblüffenderer Anschaulichkeit eine unlängst gemachte Entdeckung, die auf den Namen «der versteckte Beobachter» (the hidden observer) getauft wurde. Eine hypnotisierte Person, die instruiert wurde, daß sie nichts dabei verspüren werde, wenn sie die Hand eine Minute lang in einen Eimer mit eiskaltem Wasser eintauche (eine wirklich schmerzhafte, wenngleich gesundheitsfördernde Erfahrung), wird vielleicht kein Anzeichen von Unbehagen zu erkennen geben und auf entsprechende Fragen antworten, sie spüre nichts; wurde ihr jedoch zuvor gesagt, wenn – und nur solange – der Hypnotiseur mit der Hand ihre Schulter berühre, werde sie mit veränderter Stimme exakt angeben, was sie wirklich spüre, dann passiert folgendes: bei der Berührung macht die Versuchsperson ihrem Mißbehagen vielleicht ungehindert Luft – häufig mit tiefer, gutturaler Stimme –, um dann jedoch auf der Stelle in die gewöhnliche Stimmlage und den Betäubungszustand 11 Ich danke John Kihlstrom von der Harvard University für klärende Gespräche über diese Fragen. Was den unverkennbaren Gegensatz zwischen der Sprache der Amnesie und der Sprache des Erinnerungsvermögens angeht, beziehe ich mich auf seine Untersuchung: Models of posthypnotic amnesia, Annals of the New York Academy of Sciences, 1977, 296, S. 284-301.
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zurückzufallen, sobald der Hypnotiseur seine Hand von ihrer Schulter nimmt.12 Derartige Befunde verweisen uns zurück an eine längst für widerlegt gehaltene Auffassung von der Hypnose als Persönlichkeitsdissoziation, die um die Jahrhundertwende aus Untersuchungen der multiplen Persönlichkeit erwachsen war.13 Deren Grundidee besagt, daß die Ganzheit der Psyche oder Reaktivität in der Hypnose in ein Nebeneinander von Einzelsträngen zerfällt, die unabhängig voneinander funktionieren können. Was das für die hier im Ersten Buch entwikkelte Theorie vom Bewußtsein und seinem Ursprung bedeutet, leuchtet nicht so ohne weiteres ein. Gleich auf den ersten Blick zu sehen sind aber jedenfalls die Entsprechungen zur eigentlichen bikameralen Organisation der Psyche sowie zu dem im Ersten Kapitel des Ersten Buches geschilderten nichtbewußten Problemlöseverhalten. Der in der Forschung vielleicht am wenigsten beachtete Aspekt der Hypnose sind die Unterschiede im Wesen der Trance, wie sie bei Personen auftreten, die von Hypnose zuvor weder viel gesehen noch gehört haben. In aller Regel ist die Trance heutigentags ein Zustand von Passivität und Suggestibilität. Aber manche Versuchspersonen schlafen in der Hypnose wirklich ein. Andere wiederum sind jederzeit noch halb bei Bewußtsein, zugleich aber auch verstärkt suggestibel, und wer wüßte in so einem Fall verbindlich zu sagen, wo die Schauspielerei aufhört und die Wirklichkeit anfängt? Wieder andere Versuchspersonen verfallen in ein so heftiges Zittern, daß sie aus der Trance «aufgeweckt» werden müssen. Und so weiter und so fort. 12 Ernest Hilgard, A Neodissociation Interpretation of Pain Reduction in Hypnosis, Psychological Review 80/1973, S. 396-411. Ich möchte Ernest Hilgard an dieser Stelle Dank sagen für seine kritische Durchsicht der vorausgegangenen Kapitel. Seine ermutigenden Änderungsvorschläge waren mir von größtem Nutzen. 13 Die Klassiker auf diesem Gebiet sind Pierre Janet, L’état mental des hystériques, Paris 1892 u. 1894, und Morton Prince, The Unconscious, New York: Macmillan 1914. Eine hervorragende Darstellung der Dissoziationstheorie gibt Ernest Hilgard, Dissociation Revisited, in: Historical Concepts of Psychology, hg. von M. Henle, J. Jaynes u. J. J. Sullivan, New York: Springer 1973.
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Daß solche individuellen Unterschiede auf individuell verschiedene Überzeugungen oder kollektive kognitive Imperative zurückgehen, erhellt aus einer kürzlich durchgeführten Untersuchung. Die Probanden wurden aufgefordert, schriftlich darzulegen, was in der Hypnose passiert. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden sie dann hypnotisiert und die Resultate mit ihren Antizipationen verglichen. Eine Probandin «erwachte» jedesmal aus der Trance, sobald sie eine Aufgabe erhielt, zu deren Ausführung sie ihr Augenlicht benötigte. Bei der Kontrolle ihres Berichts zeigte sich dann, daß sie geschrieben hatte: «Für eine wirksame hypnotische Trance müssen die Augen der Versuchsperson geschlossen sein.» Ein Proband konnte erst im zweiten Anlauf in Trance versetzt werden. Er hatte geschrieben: «Bei den meisten Menschen gelingt die Hypnose nicht gleich beim ersten Mal.» Und eine andere Probandin vermochte keine der ihr aufgetragenen Aufgaben auszuführen, solange sie dabei zum Stehen genötigt war. Sie hatte geschrieben: «Bei der Hypnose muß die Versuchsperson entweder liegen oder sitzen.» 14 Doch je öfter und ausgiebiger über die Hypnose gesprochen wird – wie justament auch auf diesen Seiten – desto standardisierter wird der kognitive Imperativ und infolgedessen auch die Trance. Der Hypnotiseur als Autoritätsinstanz Und damit kommen wir – viertens – zu einem Fall von archaischer Autoritätsinstanz ganz eigener Art, der ebenfalls mitverantwortlich ist für die verschiedenen Formen der hypnotischen Trance. Denn als Autoritätsinstanz tritt hier nicht ein halluzinierter oder begeisternder Gott in Erscheinung, sondern der Hypnotiseur selber. Für den Probanden ist er eine ausgesprochene Respektsperson. Und wo dies nicht der Fall ist, wird sich 14 T. R. Sarbin, Contribution to Role-Taking Theory 1: Hypnotic Behavior, Psychology Review 57/1943, S. 255-270.
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der Hypnotisierungsvorgang in aller Regel schwieriger gestalten, oder es ist eine längere Induktion beziehungsweise auf seiten des Probanden von vornherein ein größerer Glaube an die Sache als solche (mit anderen Worten: ein stärkerer kognitiver Imperativ) erforderlich. Tatsächlich muß sich nach Meinung der meisten wissenschaftlichen Experten auf diesem Gebiet zwischen Hypnosesubjekt und Hypnotiseur ein besonderes Vertrauensverhältnis herausgebildet haben.15 Eine allgemein gebräuchliche Methode, die Ansprechbarkeit eines Menschen für die Hypnose zu testen, besteht darin, daß man sich hinter seinem Rücken postiert und ihn auffordert, sich bedenken- und rückhaltlos nach hinten fallen zu lassen, damit er spüren könne, was es heißt «loszulassen». Tritt der Betreffende mit einem Fuß zurück, um seinen Fall zu bremsen, weil er zuinnerst nicht restlos davon überzeugt ist, daß er letztlich aufgefangen werden wird, stellt sich hinterher mit praktisch absoluter Regelmäßigkeit heraus, daß er für diesen speziellen Hypnotiseur nicht ansprechbar ist.16 Dieses Vertrauensverhältnis liefert auch die Erklärung für die unterschiedlichen Hypnoseergebnisse in der Klinik einerseits und im Laboratorium andererseits. Im medizinisch-psychiatrischen Ambiente werden gemeinhin tieferreichende Hypnosewirkungen erzielt, und das hat, wie ich meine, seinen Grund darin, daß die Figur des Therapeuten im Verhältnis 15 Selbst ein Erz-Behaviorist wie Clark Hull, der als erster auf dem Feld der Hypnose kontrollierte Experimente durchführte, die wirklich diesen Namen verdienen, und introspektiv gewonnene Daten verabscheute – selbst ein Clark Hull sah sich genötigt, von der Hypnose als «Prestigesuggestion» zu sprechen, u.U. mit «einer quantitativen Verschiebung in Aufwärtsrichtung, die möglicherweise aus dem Hypnoseverfahren resultiert». 16 Vgl. Ernest Hilgard, Hypnotic Susceptibility, New York: Harcourt, Brace & World 1965, S. 101. Forscher, die sich mit dem Phänomen der Glossolalie beschäftigten (vgl. hier Drittes Buch, Zweites Kapitel), verzeichneten als Voraussetzung für die Gabe des «Zungenredens» ein ganz ähnlich geartetes Vertrauen in den charismatischen Führer. Im gleichen Maß, wie dieser Führerglaube schwindet, bildet sich auch das gesamte Phänomen zurück. Es dürfte keine Schwierigkeiten bereiten, unter Verwendung von Tonbandkassetten für die Induktionsprozedur die Variable «Prestige» kontrolliert einzusetzen und so den konkreten Beweis für die Bedeutung dieses Faktors in der Hypnose zu erbringen.
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zum Patienten mehr Gottähnlichkeit aufweist als die des Versuchsleiters im Verhältnis zur Versuchsperson. Auf ähnliche Weise läßt sich auch erklären, weshalb die Hypnose in einem bestimmten Lebensalter am leichtesten zur Wirkung kommt. Die Ansprechbarkeit für Hypnose ist im Alter von acht bis zehn Jahren am größten.17 Kinder blicken dann noch mit dem Glauben an deren unermeßliche Allmacht und Allwissenheit zu den Erwachsenen auf: Das schlägt für den Hypnotiseur zu Buche und erleichtert es ihm, die Funktion des vierten Moments im allgemeinen bikameralen Paradigma wahrzunehmen. Je gottähnlicher die Position des Hypnotiseurs im Verhältnis zu seinem Hypnosesubjekt, desto müheloser läßt sich das bikamerale Paradigma aktivieren. Beweise für die Bikameraltheorie der Hypnose Trifft es zu, daß wir es bei der Beziehung des Hypnosesubjekts zum Hypnotiseur mit einem Relikt der historisch älteren Beziehung zur bikameralen Stimme zu tun haben, so ergibt sich daraus eine Reihe von interessanten Fragen. Wenn das im Fünften Kapitel des Ersten Buches skizzierte neurologische Modell auch nur ansatzweise richtig ist, dann dürfen wir im Zusammenhang mit der Hypnose irgendwelche Lateralitätsphänomene erwarten. Eine Konsequenz unserer Theorie ist die Prognose, daß im EEG Hypnotisierter die rechtshemisphärische Hirnaktivität im Verhältnis zur linkshemisphärischen deutlich verstärkt in Erscheinung treten müßte – wenngleich die Zusammenhänge in diesem Fall kompliziert werden durch den Umstand, daß die Anweisungen des Hypnotiseurs von der linken Hemisphäre aufgenommen und 17 Gemäß den Befunden von Theodore X. Barber und John D.S. Calverley in: Hypnotic-Like Suggestibility in Children and Adults, Journal of Abnormal and Social Psychology 66/1963, S. 589- 597. In einem geplanten Buch will ich näher auf die Entwicklung des Bewußtseins in der Kindheit eingehen und dabei die These ausführen, daß diese Phase höchster hypnotischer Empfänglichkeit sich unmittelbar anschließt an die Kulmination der Bewußtseinsentwicklung.
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dort in gewissem Umfang verarbeitet werden müssen. Aber wie dem auch sei – in jedem Fall wäre aufgrund unserer Theorie ein proportionales Übergewicht der rechtshemisphärischen Komponente im Vergleich zur gewöhnlichen Bewußtseinslage zu erwarten. Allerdings sind die von einzelnen Forschern auf diesem Gebiet bisher erbrachten Befunde insgesamt gesehen so widersprüchlich, daß wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt weit davon entfernt sind, ein klares Bild auch nur vom regulären EEG eines Menschen in Hypnose zu besitzen. Aber es stehen noch andere Beweiswege – wenngleich leider mehr vermittelter und indirekter Art – offen. Im einzelnen stellen sie sich folgendermaßen dar: Menschen lassen sich auch nach dem Merkmal kategorisieren, ob sie die rechte oder die linke Hirnhemisphäre relativ stärker in Anspruch nehmen als andere. Eine einfache Methode, sich dieses Merkmals zu versichern, besteht darin, einem Menschen Fragen zu stellen, während man ihm voll ins Gesicht sieht, und zu beobachten, nach welcher Seite er bei der Suche nach den Antworten den Blick wendet. (Wie im Ersten Buch, Fünftes Kapitel, bezieht sich das Gesagte auch hier wieder auf den Standardfall des Rechtshänders.) Geht der Blick (vom Betreffenden selbst aus gesehen) nach rechts, beansprucht er verhältnismäßig intensiver die linke und im umgekehrten Fall mehr die rechte Hemisphäre – was darauf zurückzuführen ist, daß die Aktivierung der vorderen Sehzentren sei’s der rechten, sei’s der linken Hemisphäre mit einer Stellungsänderung der Augen in kontralateraler Richtung einhergeht. Erst kürzlich wurde berichtet, daß Menschen, die beim Beantworten von in sogenannter «face-to-face»-Kommunikation gestellten Fragen den Blick nach links wenden – die mithin ihre rechte Hemisphäre ausgiebiger benutzen als andere –, auch ausgesprochen leicht zu hypnotisieren sind.18 Das läßt sich als Indiz dafür interpretieren, daß zwischen rechtshemisphärischer Gehirnaktivität und Hypnose ein ganz besonderer Zusammenhang besteht und daß diejenigen Menschen am leichtesten zu hypnotisieren sind, die sich am besten darauf verstehen, auf die rechte Hemisphäre zu «horchen» und zu «vertrauen». Im Fünften Kapitel des Ersten Buches haben wir erfahren, daß der rechten Hirnhemisphäre, die unserer Mutmaßung zufolge in früheren Jahrtausenden die Quelle göttlicher Halluzinationen gewesen ist, heute die Haupt-
18 R. C. Gur und R. E. Gur, Handedness, Sex, and Eyedness as Moderating Variables in the Relation between Hypnotic Susceptibility and Functional Brain Asymmetry, Journal of Abnormal Psychology 83/1974, S. 635-643.
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verantwortung für Kreativität, Raumorientierung und eine lebhafte Einbildungskraft zugewiesen wird. Mehrere neuere Untersuchungen stellen übereinstimmend fest, daß Menschen, denen die erwähnten Eigenschaften in höherem Maß als anderen eignen, auch um so leichter zu hypnotisieren sind.19 Diese und ähnliche Befunde decken sich mit der Hypothese, wonach das Hypnotisiertwerden bedeutet, sich rechtshemisphärischen Funktionskategorien anzuvertrauen – nicht anders als der bikamerale Mensch sich der göttlichen Führung anvertraute. – Ist es korrekt, die Hypnose als Relikt der bikameralen Psyche zu bezeichnen, dann wäre auch zu erwarten, daß je leichter ein Mensch zu hypnotisieren, desto empfänglicher, offener, leichter zugänglich er auch für andere Konkretionen des allgemeinen bikameralen Paradigmas ist. In bezug auf Religiosität scheint das in der Tat zuzutreffen. Menschen, die von Kindesbeinen an regelmäßig die Kirche besuchen, lassen sich verhältnismäßig leicht hypnotisieren, schwerer hingegen Menschen von eher laxer Religiosität. Mehr als einer der Hypnoseforscher, die ich kenne, sucht sich als Versuchspersonen bevorzugt Theologiestudenten aus, weil er die Erfahrung gemacht hat, daß sie vergleichsweise einfach zu hypnotisieren sind. Das Phänomen der imaginären Gesellen in der Kindheit ist ein Thema, zu dem ich mich in einer zukünftigen Arbeit ausführlicher äußern werde. Vorweggenommen aber sei an dieser Stelle schon: es handelt sich hierbei um ein weiteres Relikt der bikameralen Psyche. Mindestens die Hälfte aller von mir in diesem Zusammenhang befragten Personen vermochte sich deutlich daran zu erinnern, daß die Stimme des jeweiligen Gesellen mit der gleichen Erlebnisqualität zu hören gewesen war wie meine, des Befragers, Stimme, während ich meine Fragen stellte. Eine echte Halluzination! Das Auftreten imaginärer Gesellen ereignet sich zumeist in der Altersspanne von drei bis sieben Jahren und geht damit der Phase, die nach meiner Meinung den Kulminationspunkt der kindlichen Bewußtseinsentwicklung bezeichnet, unmittelbar voraus. Für mich stellt sich die Sache so dar, daß hier – aufgrund einer sei’s angeborenen, sei’s umweltbedingten Disposition für imaginäre Gesellen – die neurologische Struktur des allgemeinen bikameralen Paradigmas eingeübt wird (um es metaphorisch auszudrücken). Wenn die in diesem Kapitel vorgelegte Hypothese stimmt, müßten wir damit rechnen, daß der fragliche Personenkreis dann im späteren Leben auch auf andere Aktivierungsformen des Paradigmas bereitwilliger anspricht – beispielsweise auf die Hypnose. Und so ist es in der Tat. Menschen, die in der Kindheit einen imaginären Gesellen hatten, sind leichter zu hypnotisieren als solche, die diese Erfahrung nicht kennengelernt haben. Auch hier haben wir also wieder den Fall, daß der Faktor Hypnotisierbarkeit mit einem anderen Relikt der bikameralen Psyche korreliert. 19 Josephine R. Hilgard, Personality and Hypnosis, Chicago: University of Chicago Press 1970, Kap. 7. Die Fakten, auf die ich mich in den folgenden drei Absätzen stütze, sind ebenfalls dieser hochbedeutsamen Studie entnommen (Kap. 5 bzw. 8 bzw. 14).
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Wenn es richtig ist, in der Züchtigung von Kindern eine Methode zur Eintrichterung verstärkter Autoritätshörigkeit – und mithin ein Training von Teilen jener neurologischen Verhalte, die ehedem die bikamerale Psyche ausmachten – zu erblicken, dann dürfen wir auch hier wieder damit einhergehend eine verstärkte Ansprechbarkeit für die Hypnose erwarten. Und diese ist in der Tat gegeben. Aufgrund sorgfältiger Erhebungen steht fest, daß Menschen, die in der Kindheit einem strengen, mit harten Züchtigungen verbundenen innerfamiliären Regiment unterworfen waren, als verhältnismäßig leicht hypnotisierbar einzustufen sind, wenn man sie mit anderen vergleicht, die als Kinder selten oder nie gezüchtigt wurden.
Diese Laborbefunde sind lediglich Indizien und lassen sich im übrigen auf recht unterschiedliche Weise interpretieren (wer Genaueres darüber zu erfahren wünscht, sei auf die Orginalberichte verwiesen). Zusammengenommen ergänzen sie einander jedoch zu einem Bild, das die Hypothese stützt, daß es sich bei der Hypnose zum Teil um das Relikt einer vorbewußten Mentalität handelt. Stellt man die hypnotischen Phänomene dergestalt vor das Panorama der Menschheitsgeschichte, offenbaren sich in ihrer Physiognomie ganz neue und anders gar nicht wahrnehmbare Züge. Für eine bedingungslos biologistische Auffassung vom Bewußtsein, die seinen Ursprung auf irgendeinen theoretisch angenommenen Punkt in der Evolution des Nervensystems der Säuger verlegt, muß das Phänomen der Hypnose, wenn ich das richtig sehe, etwas schlechthin Unfaßliches bleiben: Sie begreift davon aber auch nicht ein Haar. Sind wir uns aber erst einmal restlos im klaren darüber, was es bedeutet, daß Bewußtsein ein kulturell erlernter Vorgang ist, eine prekär-gleichgewichtige Konstruktion über den unterdrückten Relikten einer älteren Mentalität, dann ist auch ohne weiteres einzusehen, daß Bewußtsein auf kulturellem Wege zum Teil wieder entlernt oder zum Aussetzen gebracht werden kann. Erlernte Merkmale, wie etwa das «Ich»-qua-Analogon, können unter Einfluß des geeigneten kulturellen Imperativs in andersartigen Formen der Handlungseinleitung aufgehen – ein Beispiel dafür ist die Hypnose. Der Grund, warum diese andersartige Form von Initiative ausschließlich in Verbindung mit den anderen Faktoren der Bewußtseinsminderung, nämlich Induktion und Trance, funktioniert, liegt darin, daß
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hier auf irgendeine Weise das Paradigma einer Mentalität aufgerufen wird, die älteren Ursprungs ist als das subjektive Bewußtsein. Einwurf: Gibt es die Hypnose, oder gibt es sie nicht? Zum Schluß möchte ich kurz auf alternative Interpretationen der Befunde hinweisen. Vorläufig haben wir es dabei jedoch nicht so sehr mit Theorien der Hypnose als vielmehr mit einzelnen Gesichtspunkten zu tun, von denen jeder in begrenztem Rahmen durchaus richtig ist. So werden in einer einschlägigen Studie als besonders wichtig die Vorstellungskraft des Hypnosesubjekts und seine Konzentration auf die Suggestionen des Hypnotiseurs hervorgehoben und dazu die Tendenz derartiger Vorstellungsbilder, konformes Handeln nach sich zu ziehen.20 Richtig und wichtig in der Tat. In einer anderen Studie wird die «Monomotivation» als der entscheidende Umstand namhaft gemacht.21 Auch gut – nur daß dies ersichtlich keine explikative, sondern eine deskriptive Kategorie ist. Eine dritte stellt fest, das Grundlegende an der Sache sei schlicht und einfach die menschliche Fähigkeit zum Rollenspiel, der «Als-ob»-Charakter der meisten Darbietungen in Hypnose.22 Auch das ist keineswegs falsch. Eine vierte betont sehr richtig die Dissoziation.23 Eine fünfte meint, die Hypnose sei eine Regression auf das Stadium der kindlichen Abhängigkeit von den Eltern.24 Und in der Tat: jedes Relikt der bikameralen Psyche erweckt 20 Magda Arnold, On the Mechanism of Suggestion and Hypnosis, Journal of Abnormal and Social Psychology 41/1946, S. 107-128. 21 Robert White, A Preface to the Theory of Hypnotism, Journal of Abnormal and Social Psychology 16/1941, S. 477-505. 22 T. R. Sarbin, a. a. O. Vgl. jedoch auch den neueren Beitrag dieses Autors (in Zusammenarbeit mit Milton Anderson): Role-Theoretical Analysis of Hypnotic Behavior, in: J. E. Gordon (Hg.), a. a. O. 23 Ernest Hilgard, A Neodissociation Interpretation. 24 Die eine von insgesamt zwei bisher vorgelegten psychoanalytischen Deutungen der Hypnose. Vgl. z. B. Merton M. Gill u. Margaret Brenman, Hypnosis and Related States, New York: International Universities Press 1959. Die zweite – nämlich, daß die Hypnose eine Liebesbeziehung zwischen Hypnotiseur und Hypnosesubjekt sei – nimmt heute niemand mehr ernst.
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diesen Anschein, da sie ja auf solch zöglinghafter Erlebnisweise beruht. Doch die wichtigste theoretische Meinungsverschiedenheit – eine unabgeschlossene, für unseren Zusammenhang hochbedeutsame Kontroverse – betrifft die Frage, ob denn in der Hypnose wirklich etwas grundlegend anderes vorgeht als bei normaler, alltäglicher Bewußtseinsverfassung. Wäre der zweiflerische Standpunkt das letzte Wort zu dieser Frage, dann könnte nichts falscher sein als meine in diesem Kapitel vorgetragene Interpretation der Hypnose als einer anders gelagerten Mentalität. Denn die Hypnose kann schlechterdings kein Relikt von was auch immer sein, solange es sie gar nicht gibt. Sämtliche Manifestationen des Hypnosezustands, so lautet der zweiflerische Standpunkt, lassen sich als simple Übersteigerungen an sich normaler Phänomene erweisen. Wir können sie der Reihe nach abhaken: Was den «Kadavergehorsam» gegenüber dem Hypnotiseur angeht, so beugen wir uns alle im Grunde gleichermaßen gedanken- und kritiklos einem fremden Willen, wenn und soweit die Situation es erfordert, beispielsweise den Kommandos eines Lehrers, eines Verkehrspolizisten oder den Kommandos eines Tanzmeisters. Was eine Erscheinung wie das Ertauben auf Befehl und ähnliches betrifft, so hat gewiß ein jeder schon erlebt, daß er jemandem aufmerksam «lauschte» und trotzdem kein Wort von dem vernahm, was gesagt wurde. Ob es sich also um die Mutter handelt, die das tosende Gewitter verschläft, aber beim leisesten Wimmern ihres Kindes aufwacht, oder um den Hypnotisierten, der nur noch die Stimme des Hypnotiseurs vernimmt und allem anderen gegenüber «schläft» – in beiden Fällen haben wir es mit wesensmäßig ein und demselben psychischen Mechanismus zu tun. In bezug auf die induzierte Amnesie, über die sich uneingeweihte Beobachter so sehr verwundern, ist lediglich zu bemerken: Wer von uns kann sich erinnern, woran er fünf Minuten zuvor gedacht hat? Dazu müßte man sich selber zur fraglichen Zeit die Bereitschaft zum Erinnern vermittelt haben. Und
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ebendies können die Hypnotiseure heute tun (oder lassen) – was der Auslöschung (oder Bekräftigung) des Paraphoranden vom Untertauchen gleichkommt und das Hypnosesubjekt zum Erinnern (oder Nichterinnern) veranlaßt. Was die in der Hypnose auf Befehl eintretenden Lähmungserscheinungen angeht: Wem ist es auf einem Spaziergang mit einem Freund noch nicht passiert, daß man sich beiderseits mehr und mehr in die Unterhaltung vertiefte und dabei langsamer und langsamer wurde, bis man schließlich stehenblieb? Aufmerksamkeitskonzentration und Einschränkung der Motorik liegen in solchen Fällen auf derselben Skala. In betreff der hypnotischen Analgesie, jenes meistbestaunten aller hypnotischen Phänomene, ist zu bedenken: Wer hat noch nicht beobachtet, wie ein Kind, das sich weh getan hatte, sich durch irgendein Spielzeug ablenken ließ, bis die Tränen versiegten und der Schmerz vergessen war? Oder nicht von Unfallopfern gehört, die Blut verloren aus Wunden, von denen sie nicht das geringste spürten? Und möglicherweise gehört auch die Akupunktur zu den Dingen, die man in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen hat. Und was den «versteckten Beobachter» betrifft: diese Art von Parallelverarbeitung ist immerzu in Gang. Bei jedem Alltagsgespräch legen wir uns unterm Zuhören eine Antwort zurecht. Schauspieler sind unentwegt damit befaßt: Sie betätigen sich jederzeit als ihre eigenen versteckten Beobachter; Stanislawski zum Trotz sind sie jederzeit in der Lage, ihre eigene Leistung kritisch zu bewerten. Als weitere Beispiele könnte man hier einen großen Teil der im Ersten Kapitel des Ersten Buches erwähnten Fälle von nichtbewußtem Denken anführen oder auch die Ausführungen über die Konversation beim Chauffieren zu Beginn des Vierten Kapitels im gleichen Buch. Und was die verblüffende Wirksamkeit der posthypnotischen Suggestion angeht: jeder von uns nimmt sich zuweilen vor, eine Handlung bei nächster Gelegenheit auf diese oder jene bestimmte Weise auszuführen, und tut dies auch, wenn es soweit ist, selbst wenn er seinen früher gefaßten Vorsatz
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dann schon längst vergessen hat. Im Grunde besteht hier kein Unterschied zur «prähypnotischen Suggestion», wie wir sie einige Seiten weiter vorn in dem Beispiel von der vermeintlich gelähmten Hand und ähnlichen Fällen kennengelernt haben. Es handelt sich dabei um eine Neustrukturierung des kollektiven kognitiven Imperativs, die unser Reaktionsvermögen in sehr ausgeprägter Form zu beeinflussen vermag. Und ... und ... und ... Die Liste ließe sich verlängern, das Argumentationsschema bliebe immer das gleiche: Ausnahmeleistungen im Zustand der Hypnose sind in jedem Fall bloß Übersteigerungen von Phänomenen, die auch im Normalzustand vorkommen. Die Hypnose, so läuft das Argument weiter, erscheint lediglich – und lediglich dem Uneingeweihten – als etwas Besonderes. Das Tranceverhalten ist nichts weiter als äußerste Konzentration, wie im sprichwörtlichen Fall des «zerstreuten Professors». Geradezu eine Unmenge von Experimenten aus jüngerer Zeit zielt auf den Nachweis, daß sämtliche hypnotischen Phänomene durch bloße Suggestion mit Probanden im Wachzustand gedoubelt werden können.25 Darauf erwidere ich – und nicht nur ich allein –, daß dies keine Erklärung, sondern eine Eskamotierung der Hypnose ist. Selbst wenn es zuträfe (was ich nicht glaube), daß alle hypnotischen Phänomene im Alltagszustand gedoubelt werden können, bleibt dennoch die Eigenart der Hypnose bestehen, die sich definiert durch unverwechselbare Prozeduren, die unverwechselbare Empfänglichkeit des Hypnosesubjekts (mit Entsprechungen ebensogut in anderen Erfahrungsbereichen wie in anderen Relikten der bikameralen Psyche) sowie durch den enorm höheren Leichtigkeitsgrad, mit dem die hypnotischen Phänomene, sei’s mit, sei’s ohne Induktionsprozedur, 25 Der bekannteste und unermüdlichste Experimentator in dieser Richtung ist Theodore X. Barber. Für Barber ist «Hypnose» als vom Wachleben unterschiedener Zustand einfach nichtexistent, und daher sollte der Ausdruck, wenn es nach ihm ginge, nur mit Anführungszeichen verwendet werden. Von seinen zahlreichen Aufsätzen vgl. insbes.: Experimental Analysis of «Hypnotic» Behavior: Review of Recent Empirical Findings, Journal of Abnormal Psychology 70/ 1965, S. 132-154.
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ausgeführt werden. Für jedes Theoretisieren über die Frage, wie für die Zukunft möglicherweise zu erwartende Wandlungen der menschlichen Mentalität aussehen könnten, ist die zuletzt genannte Eigenart von extrem wichtiger Bedeutung. Das ist auch der Grund, warum ich dieses Kapitel so angefangen habe, wie ich es angefangen habe. Fordert man uns auf, ein Tier oder ein Fünfjähriger zu sein, keinen Schmerz zu empfinden, wenn wir gestochen werden, farbenblind zu sein, in kataleptische Starre zu verfallen, mit Nystagmus auf ein vorgestelltes Wirbeln des Gesichtsfelds zu reagieren26 oder Essig den Geschmack von Champagner abzugewinnen – so ist das im normalen Bewußtseinszustand alles unendlich viel schwerer zu leisten, als wenn das Normalbewußtsein durch Hypnose zum Verschwinden gebracht ist. Derart exzeptionelle Leistungen ohne Rapport zu einem Hypnotiseur zu vollbringen stellt gigantische Anforderungen an Selbstüberredungsgabe und Konzentrationsfähigkeit. Vollbewußtsein im Wachzustand erscheint an und für sich wie ein riesiger Wildwuchs von zudringlichen Abhaltungen, die abzuschütteln und hinter sich zu lassen, um in eine derart unmittelbare Globalkontrolle einzurasten, alles andere als einfach ist. Werfen Sie einen Blick aus dem Fenster und reden Sie sich dabei ein, Sie seien farbenblind, bis die Farben Rot und Grün für Sie wirklich nur noch wie Grauschattierungen aussehen.27 Das läßt sich bis zu einem gewissen Grad tatsächlich bewerkstelligen, gelingt jedoch viel 26 J. P. Brady und E. Levitt, Nystagmus as a Criterion of Hypnotically Induced Visual Hallucinations, Science 146/1964, S. 85f. Der Ansicht der Autoren, wonach dies das Vorkommen echter Halluzinationen in der Hypnose beweist, kann ich mich allerdings nicht anschließen. 27 Versuchspersonen mit unbeeinträchtigter visueller Wahrnehmung, die man im Ishihara-Test der Farbtüchtigkeit bittet, sich Mühe zu geben, die Farbe Rot und, späterhin, die Farbe Grün nicht zu sehen, interpretieren einen Teil der IshiharaTafeln in der als charakteristisch für Personen mit Rot- bzw. Grün-Blindheit festgestellten Weise. Den Nachweis führten erstmals Theodore X. Barber und D. C. Deeley in: Experimental Evidence for a Theory of Hypnotic Behavior 1: ‹Hypnotic Color Blindness› without ‹Hypnosis›, International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis 9/1969, S.79-86. Aber leichter erzielen läßt sich diese Pseudo-Farbenblindheit mittels Hypnose; vgl. dazu: Milton Erickson, The Induction of Color Blindness by a Technique of Hypnotic Suggestion, Journal of General Psychology, 20/1939, S. 61-89.
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leichter in Hypnose. Oder erheben Sie sich von Ihrem Platz, und benehmen Sie sich während der nächsten Viertelstunde als Vogel: Flattern Sie mit den Armen, als wären es Flügel, und stoßen Sie dabei seltsame Schreie aus: In der Hypnose macht das überhaupt keine Mühe. Aber nicht ein einziger von den Lesern des letzten Satzes bringt das zustande – sofern er allein ist. Was immer es mit diesen schweißtreibenden Empfindungen des Närrischen und Albernen auf sich haben mag, mit diesen innerlichen Einwürfen: «Wozu das Ganze?» und «Das ist doch Blödsinn!» – sie fallen wie penible Despoten über Sie her, eifersüchtig wie Götter auf ein solches Beginnen; Sie brauchen sowohl die Bewilligung von seiten einer Gruppe, die Autorisierung durch einen kollektiven kognitiven Imperativ, als auch das Kommando eines Operationsleiters – eines Hypnotiseurs oder eines Gottes –, um derartigen Gehorsam zustande zu bringen. Oder legen Sie Ihre Hände vor sich auf die Tischplatte, und lassen Sie jetzt eine von beiden merklich röter als die andere werden: Kann sein, daß Sie es schaffen, aber in Hypnose geht es sehr viel leichter. Oder halten Sie beide Hände fünfzehn Minuten lang in Schulterhöhe, ohne das geringste Unbehagen zu verspüren: in Hypnose ein Kinderspiel, ohne Hypnose eine beschwerliche Angelegenheit. Die Hypnose steuert also irgend etwas Spezifisches hinzu, das diese außerordentliche Leistungsfähigkeit bedingt und uns in den Stand setzt, Dinge zu tun, die wir normalerweise nicht oder nur mit größter Mühe auszuführen vermögen. Was ist das? Und sind überhaupt «wir» es, die diese Dinge tun? Tatsächlich ist es so, als ob in der Hypnose jemand anderer durch uns handle. Aber warum ist das so? Und warum geht das alles soviel leichter? Kann man sagen, daß wir erst unseres bewußten Selbst verlustig gehen müssen, bevor wir solcher Macht teilhaftig werden, deren Ausübung demnach nicht unsere Sache ist? Auf anderer Ebene stellt sich die Frage, woran es liegt, daß wir im alltäglichen Leben nicht so weit über uns hinauszuwachsen vermögen, daß wir in der Lage wären, uns selbst zu ermächtigen, die Person zu sein, die wir wirklich gern wären.
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Wenn sich unsere Identität und unsere Handlungsweise im Zustand der Hypnose auswechseln lassen, wieso ist es uns dann nicht möglich, dasselbe selber an und mit uns selbst zu machen, auf daß unser Verhalten mit derselben absoluten Konsequenz aus unseren Entschlüssen fließt und auf daß, was immer in uns es sein mag, das wir als Willen bezeichnen, unser Handeln ebenso souverän regiert wie der Hypnotiseur sein Hypnosesubjekt? Die Antwort darauf ist zum Teil in der prinzipiellen Begrenztheit unseres erlernten Bewußtseins in diesem gegenwärtigen Jahrtausend zu suchen. Wo wir sie durchbrechen wollen, sind wir auf die Hilfe irgendeines Relikts der bikameralen Psyche, unserer ehemaligen Methode der Verhaltenskontrolle, angewiesen. Mit dem Bewußtseinserwerb haben wir jene einfachere, bedingungslosere Methode der Verhaltenskontrolle, wie sie für die bikamerale Psyche charakteristisch war, aufgegeben. Wir leben mitten in einem summenden Schwarm von Warums und Wozus, von Begründungen und Zwecksetzungen aus unseren Narrativierungen, im Knotenpunkt der abenteuerlichen Ausfahrten unseres «Ich»-qua-Analogon nach allen Himmelsrichtungen. Und dieses unablässige Ausspinnen von Denkbarem und Möglichem ist die unerläßliche Bedingung dafür, daß wir vor allzu impulsiven Verhaltensweisen bewahrt bleiben. «Ich»-qua-Analogon und «Ich»-qua-Metapher sind stets am Zusammenfluß zahlreicher kollektiver kognitiver Imperative gelagert. Wir wissen zuviel, als daß wir uns selbst noch sehr weitreichende Kommandos zu geben wüßten. Wer dank dem, was Theologen das «Geschenk des Glaubens» nennen, in der Lage ist, seinem Leben in einem religiösen Glauben Mittelpunkt und Begrenzung zu geben, der hat nun wirklich einen anderen kollektiven kognitiven Imperativ. Der vermag nun wirklich durchs Gebet und die damit verbundenen Antizipationen sein Selbst zu verändern – aufgrund eines Wirkungszusammenhangs, ganz ähnlich dem der posthypnotischen Suggestion. Es ist eine Tatsache, daß der Glaube – sei’s ein politischer, sei’s ein religiöser, oder sei’s auch einfach nur, als Frucht irgendeines älteren kognitiven Impera-
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tivs, der Glaube an sich selbst – Wunder wirkt. Jeder, der einmal das Martyrium der Gefängnis- oder Lagerhaft am eigenen Leib erfahren hat, weiß, wie oft psychisches und physisches Überleben allein in solch ungreifbarer fürsorglicher Hand steht. Doch wir anderen, die wir uns weiterhelfen müssen mit den Modellen, die uns das Bewußtsein liefert, und mit einer aus Skepsis geborenen Ethik – uns bleibt nichts übrig, als uns mit unserer verminderten Kontrolle abzufinden. Im Selbstzweifel studiert, sind wir nirgends so gelehrt wie gerade im eigenen Mißerfolg und wahre Genies im Erfinden von Ausflüchten und Auf-morgen-Vertagen von Entschlüssen. So üben wir uns mehr und mehr im kraftlosen Vorsatz, bis die Hoffnung im Unversuchten erstirbt und entschwindet. Wenigstens geht es manchen von uns so. Und wollen wir uns dann über den Klamauk unserer Kenntnisse erheben, um wirklich «ein anderer Mensch» zu werden, so bedarf es dazu einer Autorität, über die «wir» nicht verfügen. Die Hypnose funktioniert nicht bei jedem. Das kann vielerlei Gründe haben. Für eine bestimmte Menschengruppe läßt sich allerdings zuverlässig sagen, daß ihre mangelnde Eignung für die Hypnose neurologisch und zum Teil genetisch bedingt ist. Bei diesen Menschen ist nach meiner Auffassung die ererbte neurologische Basis des allgemeinen bikameralen Paradigmas geringfügig anders organisiert. Es ist, als könnten sie die von außen kommende Autorität eines Hypnotiseurs nicht akzeptieren, weil der zuständige Teil des bikameralen Paradigmas bei ihnen schon besetzt ist. Tatsächlich machen sie auf die anders gearteten Menschen in ihrer Umgebung oft den Eindruck, als stünden sie bereits unter Hypnose, besonders wenn sie, wie es ihnen gewöhnlich von Zeit zu Zeit widerfährt, in einer «Heilanstalt» interniert gehalten werden. Manche Theoretiker haben sogar die Hypothese gewagt, daß dies exakt den Zustand definiere, in dem sie sich befinden – ein Zustand fortgesetzter Selbsthypnose. Indes haben wir es hier nach meiner Ansicht mit einem verheerenden Mißbrauch des Begriffs Hypnose
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zu tun. Das Verhalten der Schizophrenen – wie diese Menschen genannt werden – werden wir aus anderem Blickwinkel betrachten müssen. Und das tun wir im folgenden Kapitel.
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FÜNFTES KAPITEL Die Schizophrenie
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von uns rutschen auf irgendeiner Strecke ihres Lebens unvermittelt in etwas hinein, das der eigentlichen bikameralen Psyche nahekommt. Manche erleben ein paar Absencen, oder ein-, zweimal kommt es vor, daß sie Stimmen hören, und damit hat es sich. Aber für andere unter uns – Menschen, die infolge ihrer Erbanlage des Enzyms ermangeln, das den problemlosen Abbau samt Exkretion der biochemischen Restprodukte von anhaltendem Streß ermöglicht – gestaltet sich die Sache zu einer sehr viel peinigenderen Erfahrung (sofern von «Erfahrung» in diesem Zusammenhang überhaupt noch die Rede sein kann). Wir hören dann Stimmen von zwingender Eindringlichkeit uns Vorhaltungen und Vorschriften machen. Gleichzeitig scheinen sich die Grenzen unseres Selbst zu verwischen. Die Zeit löst sich auf. Wir tun Dinge, ohne von ihnen zu wissen. Unser Bewußtseinsraum beginnt sich zu verlieren. Wir geraten in Panik, aber diese Panik tangiert uns nicht. Da ist kein «wir» oder «uns» mehr zum Tangieren. Man kann nicht sagen, daß wir nirgendwo mehr hätten, wohin wir uns wenden könnten: Wir haben nirgendwo. Punktum! Und in diesem Nirgendwo sind wir gewissermaßen mechanische Puppen ohne Ahnung, was wir tun, auf befremdliche und beängstigende Weise von anderen oder unseren Stimmen manipuliert an einem Ort, den wir nach und nach als Heil- und Pflegeanstalt identifizieren und wohin man uns aufgrund einer Diagnose verbracht hat, die, wie man uns sagt, auf Schizophrenie lautet. In Wirklichkeit sind wir in die bikamerale Psyche zurückgefallen. Wiewohl stark vereinfacht und zugespitzt, ist dies doch eine zumindest aufreizende und griffige Präsentation der These, die sich bereits in den vorausgegangenen Partien dieses Versuchs unübersehbar geltend machte. Denn es ist ziemlich offenkundig, daß die hier vorgetragenen Ansichten auch eine neue IE MEISTEN
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Auffassung der verbreitetsten und therapieresistentesten aller Geisteskrankheiten, der Schizophrenie, bedingen. Diese Auffassung läuft darauf hinaus, daß die Schizophrenie, nicht anders als die in den unmittelbar vorangegangenen Kapiteln behandelten Phänomene, zumindest in Teilen ein Relikt der Bikameralität ist – ein partieller Rückfall in die bikamerale Psyche. Das vorliegende Kapitel ist ein Versuch, diese Perspektive auszuleuchten. Das Zeugnis der Geschichte Werfen wir zu Beginn einen Blick – einen Seitenblick bloß – auf die früheste Geschichte dieser Krankheit. Ist unsere These korrekt, dann folgt daraus als erstes, daß es aus der Zeit vor dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche keinen Beleg dafür geben dürfte, daß einzelne Individuen als «Irre» ausgesondert wurden. Und dies trifft zu, wenngleich es nur ein sehr indirektes Argument von minimaler Beweiskraft abgibt. Nichtsdestoweniger ist Tatsache, daß in der Bildhauerei, der Literatur, auf den Wandbildern und in sonstigen Kunstwerken der großen bikameralen Zivilisationen niemals auch nur eine einzige Darstellung vorkommt oder eine einzige Verhaltensform erwähnt wird, die einen Menschen mit dem Mal der Abartigkeit gebrandmarkt hätte, wie es die Geisteskrankheit darstellt. Schwachsinn ja, aber nicht Wahnsinn.1 Der «Ilias» zum Beispiel ist die Idee der Geistesgestörtheit unbekannt.2 Ich lege Nachdruck auf das Als-krank-Ausgesondertwerden von einzelnen, da ja, unserer Theorie zufolge, vor dem zweiten Jahrtausend v. Chr. jedermann «schizophren» war. 1 2
Auch das Wort in 1. Samuel 13, das zuweilen als frühester Beleg für Schizophrenie zitiert wird, das hebräische halal, bedeutet eher «töricht» im Sinne von Geistesschwäche. Zwar meint E. R. Dodds, an einigen Stellen der «Odyssee» sei von Wahnsinn die Rede, mir scheint jedoch seine Argumentation nicht überzeugend. Und eine völlig ungedeckte Behauptung ist sein Resümee, es habe zur Zeit Homers «und wohl schon lange davor» eine allgemein verbreitete Auffassung von Geisteskrankheit gegeben. Vgl. Dodds, a.a. O.
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Zum zweiten sollten wir aufgrund der oben erwähnten These erwarten dürfen, daß, sobald Geistesgestörtheit in der Bewußtseinsepoche erstmals thematisiert wird, sie klar als Bikameralität begriffen wird. Das wäre dann ein sehr viel beweiskräftigeres Argument. Im «Phaidros» (244 A) spricht Platon von «einem Wahnsinn, der ... durch göttliche Gunst verliehen wird» und aus dem «uns Menschen die größten Güter entstehen». Die Stelle ist der Auftakt zu einer der schönsten und beschwingtesten Passagen der gesamten platonischen Dialoge, in der eine Typologie des Wahnsinns entworfen wird, die insgesamt vier Spielarten unterscheidet: der von Apoll eingegebene prophetische Wahnsinn; die von Dionysos bewirkte rituelle Raserei; die poetische «Eingeistung und Wahnsinnigkeit von den Musen, die eine zarte und heilig geschonte Seele aufregend und befeuernd ergreift, und in festlichen Gesängen und anderen Werken der Dichtkunst tausend Taten der Urväter ausschmückend, bildet sie die Nachkommen» (245 A); und schließlich der von Eros und Aphrodite eingegebene Liebeswahn. Ja, nach Meinung des jungen Platon diente sogar ursprünglich ein und dasselbe Wort – manike – zur Bezeichnung sowohl des psychotischen Irreseins als auch der Wahrsagekunst; letztere heißt zwar im Griechischen mantike, doch sei das t, so Platon, «nur eine täppische Einfügung der Neueren» (244 C). Es steht also außer Zweifel – und das ist hier der springende Punkt –, daß die Erscheinungsformen dessen, was wir heute als Schizophrenie bezeichnen, frühzeitig mit den Phänomenen assoziiert wurden, für die ich in diesem Buch den Terminus «Bikameralität» eingeführt habe. Dieser Zusammenhang wird nochmals augenfällig in einem anderen altgriechischen Wort für Geistesgestörtheit: Paranoia, Kompositum von para + nous, bedeutet wörtlich soviel wie «neben dem eigenen Geist noch einen zweiten haben» und deckt somit gleichermaßen den halluzinatorischen Zustand des Schizophrenen wie der bikameralen Psyche. Das hat freilich nicht das mindeste mit dem (im neunzehnten Jahrhundert aufgekommenen) modernen, etymologisch fehlerhaften Gebrauch des Wortes zu tun, bei dem seine Bedeutung gleich
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«Verfolgungswahn» gesetzt wird. Als antiker Sammelbegriff für Geistesgestörtheit blieb Paranoia so lange präsent, wie es die anderen, in früheren Kapiteln besprochenen Relikte von Bikameralität noch gab, und gemeinsam mit diesen auch räumte das Wort – um das zweite Jahrhundert n. Chr. herum – die historische Bühne. Aber schon zur Zeit Platons – einer Zeit der Kriege, Seuchen, Hungersnöte – begannen die vier göttlichen Arten des Wahnsinns allmählich ins Reich der Fabel einzuwandern: für den Gebildeten in die Sphäre der Dichtung, für den gemeinen Mann in die des Aberglaubens. Der Krankheitsaspekt der Schizophrenie rückt in den Vordergrund. In späteren Dialogen ist der inzwischen älter gewordene Platon in diesem Betracht skeptischer: Was wir Schizophrenie heißen, ist ihm ein fortwährendes Träumen, bei dem manche «Götter zu sein glauben, [andere] aber geflügelt und sich ... als fliegend vorkommen» («Theaitetos» 158 B); die Familien der solchermaßen Erkrankten sollten unter Androhung von Geldstrafen verpflichtet werden, diese Menschen in Klausur zu halten («Nomoi», 934). Die Geisteskranken werden jetzt gesellschaftlich ausgegrenzt. In den grellen Farcen des Aristophanes wirft man sogar mit Steinen nach ihnen, um sie sich vom Leib zu halten. Was wir heute als Schizophrenie bezeichnen, beginnt also innerhalb der Menschheitsgeschichte als ein Bezug auf das Göttliche, und erst ungefähr um 400 v. Chr. fängt man an, es als das denaturierende Leiden zu betrachten, als das wir es heute sehen. Diese Entwicklung läßt sich außerhalb der Theorie des Mentalitätswandels, wie sie Gegenstand dieses Buches ist, schwerlich verstehen.
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Eine gegenstandsspezifische Problematik Ehe wir jedoch nun die zeitgenössischen Krankheitssymptome in diese Perspektive rücken, hier zunächst einige Vorbemerkungen sehr allgemeiner Art. Wie jedermann weiß, der sich einmal in der Literatur zu unserem aktuellen Thema umgesehen hat, wird heute auf breiter Front – freilich ohne daß sich bisher ein sonderlich schlüssiges Ergebnis gezeigt hätte – ein wissenschaftlicher Disput über das Wesen der Schizophrenie geführt: ob man es mit einer echten nosologischen Einheit oder mit einer Gruppe schlecht definierter Syndrome zu tun habe, oder ob es sich vielleicht um die letzte, gemeinsame Wegstrecke von Krankheitsverläufen unterschiedlicher Ätiologie handle, und ob man zwei – von einem Autor zum andern unterschiedlich benannte – Grundformen unterscheiden könne: prozessurale und reaktive oder akute und chronische oder rasch fortschreitende und langsam fortschreitende Schizophrenie. Meinungsverschiedenheiten und Unschlüssigkeit in diesem Bereich rühren daher, daß Forschungsarbeit sich hier mit einem gordischen Knoten methodologischer Probleme abzumühen hat, wie man ihn anderswo nicht verzwickter findet. Wie eliminiert man bei der Erhebung von Befunden an Schizophrenen die Auswirkungen der Hospitalisierung, von Medikamenten, der vorausgegangenen Therapie, kulturell bedingter Einstellungen oder der mancherlei erlernten Reaktionen auf Bizarrerien im Verhalten? Und wie bewältigt man das Problem, zuverlässige Befunde über die krisenträchtigen Aspekte in der Lebenslage von Menschen zu gewinnen, die unter dem Trauma der Hospitalisierung auf eine Kommunikationssituation mit Furcht und Schrecken reagieren? Es ist hier nicht meine Aufgabe, in irgendeiner verbindlichen Position die Lösung dieser Schwierigkeiten dingfest zu machen. Vielmehr beabsichtige ich, sie zu unterlaufen, indem ich in meiner Argumentation nichts weiter als ein paar banale Tatsachen voraussetze, über die weithin Übereinstimmung herrscht. Sie lauten: es gibt ein Syndrom, das man zulässigerweise als Schizophrenie bezeichnet; zumindest für das Stadium voller
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Entfaltung existiert eine unzweideutige klinische Beschreibung; und dieses Syndrom tritt weltweit in allen zivilisierten Gesellschaften auf.3 Überdies ist es für den Wahrheitswert dieses Kapitels im Grunde nicht wichtig, ob hier alle auf Schizophrenie diagnostizierbaren Fälle erfaßt sind oder nicht.4 Und ebensowenig, ob ich die Krankheit in der Form erfaßt habe, wie sie sich ursprünglich manifestiert, oder in einer Abwandlung im Anschluß an die Hospitalisierung. Meine These will nicht höher hinaus als darauf, daß manche grundlegenden, im höchsten Maß typischen und am häufigsten zu beobachtenden Symptome der vollausgebildeten Schizophrenie, solange sie nicht medikamentös behandelt sind, auf einzigartige Weise mit der Beschreibung der bikameralen Psyche übereinstimmen, die auf den vorausgegangenen Seiten gegeben wurde. Die gemeinten Symptome bestehen in erster Linie im Auftreten von Gehörshalluzinationen sowie in der Aufweichung der Bewußtseinsstruktur, namentlich in der Einbuße des «Ich»qua-Analogon, dem Schwund des inneren Raums und dem Verlust der Fähigkeit des Narrativierens. Sehen wir uns jetzt diese Symptome der Reihe nach an. Das Halluzinieren Wieder einmal – Halluzinationen ... Und was an dieser Stelle dazu anzumerken ist, ergänzt und präzisiert nur meine früheren Ausführungen zum gleichen Thema. 3 4
Der von H. Osmond und A.EI Miligi am Neuropsychiatrischen Institut der Princeton University entwickelte Experiential World Inventory-Test erbrachte für Schizophrene unterschiedlicher Länder und Kulturen ganz ähnliche Resultate. Und ebensowenig, ob ausschließlich solche Fälle erfaßt sind. In der Psychiatrie gibt es eine zunehmende Tendenz, diagnostische Kategorien mit den Wirkungsfeldern spezifischer Pharmaka zu identifizieren: die Schizophrenien mit dem Wirkungsbereich der Phenothiazine, das manisch-depressive Syndrom mit dem von Lithium. Ist diese Vorgehensweise richtig, sind viele Kranke, die man früher als paranoide Schizophreniker diagnostiziert hatte, in Wirklichkeit ManischDepressive, da sie nur auf Lithium ansprechen. Während der manischen Phase hat fast die Hälfte dieser Kranken Halluzinationen.
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Beschränken wir uns auf die Fälle von vollausgebildeter Schizophrenie vor der medikamentösen Behandlung, so ist festzustellen, daß sie nur ausnahmsweise frei von Halluzinationen sind. In der Regel beherrschen diese das Erscheinungsbild, indem sie sich dem Kranken massiv und hartnäckig aufdrängen und ihn dadurch verwirrt erscheinen lassen, zumal wenn sie sich in raschem Tempo wandeln. In ganz akuten Fällen sind die Stimmen von Gesichtshalluzinationen begleitet. In den gewöhnlicheren Fällen dagegen hört der Kranke eine oder mehrere Stimmen – einen Heiligen oder einen Teufel oder eine Männerrotte, die ihm draußen unter seinem Fenster auflauert, um ihn zu verbrennen oder zu köpfen. Sie stellen ihm nach, drohen, sie würden durch die Wände eindringen, kommen heraufgeentert und halten sich unterm Bett des Kranken oder ihm zu Häupten im Luftschacht versteckt. Und dann sind da noch andere Stimmen, Stimmen, die den Willen äußern, ihm zu helfen. Manchmal zeigt sich Gott als Schützender und manchmal als Verfolger. Die Verfolgerstimmen können den Kranken zur Flucht, zur Selbstverteidigung oder zum Angriff treiben. Den hilfreichen, trostspendenden Halluzinationen lauscht er unter Umständen mit hingebungsvoller Aufmerksamkeit, in glückseliger Feststimmung, ja zu Tränen gerührt von solchen Himmelstönen. Manche Kranken durchleben die ganze Palette halluzinativer Erfahrungen im Bett, unter die Decke verkrochen, während andere dabei herumkraxeln und sich unter allerhand unverständlichem Gestikulieren und Gefuchtel laut oder leise mit ihren Stimmen unterhalten. Ja, es kommt sogar vor, daß Kranke während eines Gesprächs mit einem anderen Menschen oder beim Lesen alle paar Sekunden in einem leisen oder geflüsterten «Beiseite» ihren Halluzinationen antworten. Zu den im Hinblick auf die Parallelität mit der bikameralen Psyche interessantesten und bedeutsamsten Aspekten von alledem zählt folgender Umstand: Im allgemeinen unterliegen Gehörshalluzinationen auch nicht im allermindesten Grad der Kontrolle des betreffenden Individuums, dafür aber sind sie
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aufs äußerste empfänglich noch für die schwächste Suggestion aus der sozialen Gesamtsituation, in die das Individuum eingebunden ist. Mit anderen Worten: Schizophreniesymptome als solche sind ebenso durch einen kollektiven kognitiven Imperativ beeinflußt wie, nach unserer früheren Feststellung, die Phänomene der Hypnose. Dies geht unmißverständlich aus einer neueren Untersuchung hervor.5 45 halluzinierende männliche Kranke wurden in drei Gruppen eingeteilt. Den Mitgliedern der einen Gruppe wurde ein Kästchen am Gürtel befestigt, das seinem Träger auf Hebeldruck einen elektrischen Schlag versetzte. Man instruierte sie, sich jedesmal, wenn sie Stimmen zu hören begannen, diese Art Schocktherapie zu applizieren. Die zweite Gruppe wurde mit ähnlichen Kästchen ausgerüstet und erhielt ähnliche Instruktionen, nur daß der Hebeldruck keinen elektrischen Schlag erzeugte. Den Mitgliedern der dritten Gruppe wurde in gleicher Form die gleiche Lagedarstellung gegeben wie den anderen, aber sie erhielten keine Kästchen. In den Kästchen befand sich übrigens ein Zählwerk, das registrierte, wie oft der Hebel niedergedrückt wurde: Die für die Dauer des Experiments (14 Tage) im Einzelfall registrierte Gesamtzahl schwankte zwischen 19 und 2362. Das Wesentliche bei der Sache ist jedoch, daß den Mitgliedern aller drei Gruppen unter der Hand insinuiert wurde, die Häufigkeit des Auftretens der Stimmen werde womöglich zurückgehen. Selbstverständlich wurde auf der Basis der Lerntheorie die Voraussage getroffen, daß sich einzig in der Gruppe, in der die elektrischen Schläge ausgeteilt wurden, eine Besserung einstellen werde. Aber das Hören der Stimmen ging – höchst fatal für die Lerntheorie! – in allen drei Gruppen signifikant zurück. In einigen Fällen verschwanden die Stimmen sogar ganz. Und in dieser Hinsicht war der Befund für alle drei Gruppen der gleiche, keine hatte hier den beiden anderen etwas voraus – 5
Arthur H. Weingaertner, Self-administered Aversive Stimulation with Hallucinating Hospitalized Schizophrenics, Journal of Consulting and Clinical Psychology 36/1971, S.422-429.
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woraus deutlich hervorgeht, welch gewaltige Rolle Erwartung und Glaube bei dieser Form der Psychoorganisation spielen. Mit der vorigen verwandt ist die Beobachtung, daß die Halluzinationen von den in der Kindheit erhaltenen Belehrungen und den seinerzeit aufgebauten Erwartungen abhängig sind – so, wie wir es für die bikamerale Epoche postuliert hatten. In zeitgenössischen Kulturen, in denen unter dem Einfluß religiöser Orthodoxie eine exzessive persönliche Beziehung zu Gott Teil der kindlichen Erziehung ist, sind die Halluzinationen von Schizophrenen überwiegend rein religiöser Natur. Beispielsweise wird auf einer der Westindischen Inseln, dem britischen Tortola, den Kindern beigebracht, daß Gott buchstäblich jede Einzelheit in ihrem Leben kontrolliert. Drohungen werden mit dem Namen Gottes bekräftigt, Strafen im Namen Gottes verhängt. Die hauptsächliche Form der Geselligkeit ist der Kirchenbesuch. Wann immer ein Eingeborener dieser Insel psychiatrische Hilfe in Anspruch nimmt, bestehen die Beschwerden unweigerlich darin, daß er Befehle von Gott und Jesus vernimmt, das Gefühl hat, in der Hölle zu braten, oder lautstarke Chorgebete und Kirchengesänge und mitunter auch ein Gemisch von Gebeten und Blasphemien halluziniert.6 Auch in Fällen, wo die Halluzinationen von Schizophrenen keine bestimmte religiöse Grundlage haben, spielen sie dennoch die gleiche Rolle, die sie meiner These zufolge auch für die bikamerale Psyche spielten, nämlich die von Verhaltensinitiativen und -direktiven. Von Fall zu Fall werden die Stimmen sogar in der Klinik noch als Autoritäten identifiziert. Eine Patientin hörte überwiegend wohltuende Stimmen, von denen sie annahm, sie seien vom Gesundheitsamt zu ihrer psychotherapeutischen Betreuung abgeordnet worden. Wie schön wäre es doch, wenn sich die psychotherapeutische Betreuung immer so
6
Edwin A. Weinstein, Aspects of Hallucination, Hallucinations, hg. von L. J. West, New York: Grune & Stratton 1962, S. 233-238.
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einfach bewerkstelligen ließe! Jene Stimmen ließen es der Patientin nie an Ratschlägen fehlen (darunter übrigens auch der, dem behandelnden Arzt nicht zu verraten, daß sie Stimmen höre). Sie gaben ihr Auskunft über die Aussprache «schwieriger» Wörter oder Tips fürs Nähen und Kochen. Oder in den Worten der Patientin: Wenn ich einen Kuchen backe, verliert sie leicht die Geduld mit mir. Ich will das alles allein hinkriegen. Ich will mir eine Schürze nähen, und schon ist sie da und sagt mir, was ich zu tun habe.7
Manche psychiatrischen Forscher, insbesondere solche psychoanalytischer Ausrichtung, wollen aus den vom Patienten vorgebrachten Gedankenassoziationen den Schluß ziehen, daß die Stimmen «in allen Fällen ... auf Personen zurückverfolgt werden (können), die früher im Leben des Patienten eine bedeutende Rolle spielten, insbesondere auf die Eltern».8 Man nimmt an, daß diese Figuren, würde ihre wahre Identität offenbar, Angst auslösen würden und daß sie deshalb vom Kranken unbewußt entstellt und maskiert werden. Aber warum das alles? Es ist doch rationeller anzunehmen, daß es die Erfahrungen des Kranken mit seinen Eltern (oder anderen geliebten Autoritätspersonen) sind, die den Kern abgeben, um den herum die halluzinierte Stimme strukturiert ist – genauso, wie es nach meiner These in der bikameralen Epoche mit den Göttern der Fall war. Ich möchte damit nicht behaupten, daß die Eltern in den Halluzinationen nicht auftreten. Sie tun das sogar sehr häufig, zumal bei jüngeren Kranken. Abgesehen davon jedoch handelt es sich bei den Stimm-Figuren der Schizophrenen nicht um die verkappten Eltern, sondern es sind Autoritätsfiguren, die das Nervensystem aus den Erziehungserlebnissen des Kranken und seinen kulturbedingten Erwartungen geschaffen hat, wobei die Eltern natürlich einen bedeutenden Anteil in diesen Erziehungserlebnissen ausmachen. 7 8
A. H. Modell, Hallucinations in Schizophrenic Patients and Their Relation to Psychic Structure, in: L.J. West (Hg.), a.a.O., S. 166-173; das Zitat auf S. 169. Modell, ebd., S. 168.
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Eine der interessantesten Fragen, die sich im Zusammenhang mit den Halluzinationen stellen, ist die nach ihrem Verhältnis zum bewußten Denken. Trifft es zu, daß die Schizophrenie ein teilweiser Rückfall in die bikamerale Psyche und diese wiederum (nicht unbedingt in allen Fällen) unverträglich mit dem gewöhnlichen Bewußtsein ist, dann wäre zu erwarten, daß Halluzinationen mit der Verdrängung der «Gedanken» einhergehen. Zumindest für einen Teil der Fälle beschreibt dies in der Tat die Art und Weise, in der die Halluzinationen sich melden. Zuweilen setzen die Stimmen als Gedanken ein, die dann in ein kaum verständliches Flüstern übergehen, um schließlich immer lauter und befehlender zu werden. In anderen Fällen ist den Kranken beim Einsetzen der Stimmen zumute, «als ob sich ihr Denken spalte». In leichteren Fällen können die Stimmen sogar, gleich den «Gedanken», unter der Kontrolle der bewußten Aufmerksamkeit stehen. Ein nicht an Wahnvorstellungen leidender Kranker schilderte das so: Hier im Saale bin ich nun schon 2½ Jahre und höre fast täglich, stündlich, daß Stimmen da sind, die auch hier bald aus den Winden, bald aus dem Gehen, bald aus dem Teller zusammentönen, bald aus dem Rauschen der Bäume, bald aus dem Fahren der Eisenbahnräder und anderer Wagenräder kommen. Ich höre die Stimmen nur, wenn ich acht darauf gebe, ich höre sie aber. Die Stimmen sind Worte und erzählen dies und jenes, als ob sie nicht Gedanken, die man im Kopf hat, sondern vergangene Thaten besprächen, aber nur dann, wenn man daran denkt. Diese Stimmen sprechen die fortschreitende Gedanken- und Herzensgeschichte jedes Tages den ganzen Tag hindurch richtig aus.9
Halluzinationen scheinen oft über mehr Erinnerungen und Kenntnisse zu verfügen als der Kranke selber – genau wie die antiken Götter. Es ist nichts Ungewöhnliches, Patienten in bestimmten Stadien der Krankheit darüber klagen zu hören, daß die Stimmen ihre Gedanken aussprechen, bevor sie selber Zeit gehabt hatten, sie zu denken. Dieser Vorgang, bei dem 9
Gustav Störring, Vorlesungen über Psychopathologie in ihrer Bedeutung für die normale Psychologie, Leipzig: Wilhelm Engelmann, S. 43.
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die eigenen Gedanken anderweitig vorweggenommen und geäußert werden, wird in der klinischen Literatur als «Gedankenlautwerden» geführt und kommt der bikameralen Psyche sehr nahe. Manche Kranken erklären, sie bekämen zum Selberdenken überhaupt keine Chance mehr; stets würde das Denken ihnen abgenommen und die Gedanken ihnen gegeben. Wollen sie etwas lesen, lesen die Stimmen es ihnen vor. Wollen sie etwas sagen, hören sie ihre Gedanken schon im voraus ausgesprochen. Ein Patient sagte seinem Arzt, er leide am Denken, da er selber nicht denken könne, weil jedesmal, wenn er zu denken anfange, alle seine Gedanken ihm sofort vorgesprochen werden: er bemüht sich, den Gedankengang zu ändern und wieder denke man für ihn ... Beim Stehen in der Kirche höre er nicht selten eine singende Stimme, welche im voraus das singt, was vom Chor gesungen wird ... Geht der Kranke auf der Straße und sieht z. B. ein Schild, so lese ihm die Stimme vor, was auf dem Schilde steht ... Erblickt der Patient in der Ferne irgend einen Bekannten, so rufe die Stimme ihm sofort, gewöhnlich schon bevor er noch an die betreffende Person denke, zu: ‹Siehe, da geht der und der.› Zuweilen hat der Kranke gar nicht die Absicht, die Vorbeigehenden zu beachten, die Stimme aber zwingt ihn, durch ihre Auslassungen über dieselben, ihnen seine Aufmerksamkeit zu schenken.10
Gerade die einzigartige, zentrale Position dieser Gehörshalluzinationen im Syndrom so vieler Schizophrener gibt wichtige Fragen auf. Warum kommt es zum Auftreten von Halluzinationen? Und wie soll man sich die universale Verbreitung des «Stimmenhörens» quer durch die Kulturen erklären, wenn nicht mit der Existenz einer normalerweise ausgeschalteten Gehirnstruktur, die unter dem Streß der Krankheit wieder aktiviert wird? Und warum besitzen die Halluzinationen der Schizophrenen so häufig eine unüberbietbare Autorität zumal religiöser Art? Ich finde, das einzige Denkmodell, das uns in diesen Fragen – und sei’s auch bloß mit einer Arbeitshypothese – weiterzuhelfen vermag, ist das der bikameralen Psyche, demzufolge die für die Halluzinationen verantwortliche neurologi10 Ebd., S. 47 f.
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sche Struktur neurologisch verbunden ist mit den Substraten des religiösen Empfindens, was wiederum darin begründet ist, daß die Entstehungsbedingungen der Religion wie der Götter als solcher in der bikameralen Psyche liegen. Halluzinationen religiösen Inhalts treten allgemein mit besonderer Vorliebe im sogenannten Dämmerzustand auf, einer Art Wachtraum, in den viele Kranke versinken und der je nach Lage der Dinge von einigen Minuten bis zu einigen Jahren währen kann (ein Dämmerzustand von sechsmonatiger Dauer ist durchaus kein ungewöhnliches Vorkommnis). Er zeichnet sich in aller Regel durch religiöse Visionen und entsprechendes Gebaren, feierliche Haltung und Andacht aus: Der Patient lebt mit seinen Halluzinationen wie der bikamerale Mensch mit den seinen – mit dem Unterschied, daß jener unter Umständen die Anstaltsumgebung ausblendet und noch seine unmittelbare Umwelt halluziniert. Mag sein, daß der Kranke dann Umgang mit den Heiligen im Himmel pflegt. Oder er erkennt zwar die Ärzte und Pfleger in seiner Umgebung als das, was sie sind, ist jedoch der Ansicht, daß sie zu gegebener Zeit die Maske ablegen und sich als Götter und Engel entpuppen werden. Solche Kranken brechen vielleicht sogar in Freudentränen darüber aus, daß es ihnen gestattet ist, mit den Bewohnern der himmlischen Gefilde direkt zu sprechen, und bekreuzigen sich ohne Unterlaß während des Wortwechsels mit den göttlichen Stimmen oder vielleicht sogar mit den Sternen, die aus dem nächtlichen Dunkel nach ihnen rufen. Häufig bahnt sich für den Paranoiker nach einer längeren Periode der gestörten Kommunikation mit seinen Mitmenschen der Übergang zum schizophrenen Aspekt seines Leidens mit einem halluzinierten religiösen Erlebnis an, bei dem ein Engel Jesus Christus oder Gottvater im bikameralen Modus zu ihm spricht und ihm irgendeinen neuen Weg weist.11 Er gelangt so zu der Überzeugung, in einem persönlichen Sonderverhältnis 11 Eugen Bleuler, Dementia paecox, S. 189.
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zu den Mächten des Universums zu stehen, und seine pathologisch selbstbezügliche Interpretation von allem, was sich um ihn her ereignet, wird zu Wahnideen ausgearbeitet, denen der Kranke unter Umständen jahrelang nachhängt, ohne sie mit anderen erörtern zu können. Ein besonders anschauliches Beispiel dieser Neigung zu religiösen Halluzinationen liefert der «Fall Schreber» – die Krankengeschichte des «tüchtigen deutschen Richters» (M. Schatzman) Daniel Paul Schreber (1842-1911), der mit 42 Jahren, im Herbst 1884, «verrückt» wurde, im Jahr darauf wieder gesundete und Ende Oktober 1893 neuerlich erkrankte.12 Die Halluzinationen, die ihn im akuten Zustand seiner Schizophrenie heimsuchten, hat der Kranke in einem von einem Höchstmaß literarischer Bildung zeugenden Bericht selbst beschrieben, und was er schildert, ist bemerkenswert vor allem durch die Ähnlichkeit, die es mit dem Verhältnis der Menschen des Altertums zu ihren Göttern aufweist. Schrebers (zweite) Erkrankung begann mit – von schweren Angstzuständen begleiteter – quälender Schlaflosigkeit, während deren er ein in kürzeren oder längeren Abständen wiederkehrendes Knistern in der Zimmerwand halluzinierte. Eines Nachts dann verwandelte sich das Knistern in Stimmen, in denen der Kranke sogleich göttliche Botschaften und damit seine «besondere ... Beziehung zu Gott» (S. 70) erkannte und «welche seitdem unaufhörlich zu mir sprechen» (S. 102): «Bei mir ... sind Pausen des Stimmengeredes überhaupt niemals vorhanden; seit den Anfängen meiner Verbindung mit Gott ... also seit nunmehr sieben Jahren habe ich – außer im Schlafe – niemals auch nur einen einzigen Augenblick gehabt, in dem ich die Stimmen nicht vernommen hätte.» (S. 316) Schreber sah «Strahlen ... als lang12 Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Leipzig: Oswald Mutze 1903. Hier zitiert nach dem Neudruck Berlin: Ullstein 1973 (herausgegeben und eingeleitet von Samuel M. Weber; Ullstein Taschenbuch Nr. 2957). [Anm. d. Übs.: Die im Text zitierte Formulierung von Morton Schatzman stammt aus dessen Buch Die Angst vor dem Vater. Langzeitwirkungen einer Erziehungsmethode. Eine Analyse am Fall Schreber, Reinbek: Rowohlt 1973, S.9.]
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gezogene Fäden von irgendwelchen, über alle Maßen entlegenen Orten am Horizonte nach meinem Kopfe herüberkommen» (S. 319) und merkt zu diesem Vorgang später an, «daß die nach meinem Kopfe züngelnden, allem Anschein nach von der Sonne oder vielleicht auch noch von zahlreichen anderen entfernten Weltkörpern herkommenden Strahlen ... nicht in gerader Linie, sondern in einer Art von Schleife oder Parabel auf mich zukommen» (S. 321). Diese Strahlen waren die Trägermedien der göttlichen Stimmen und in der Lage, die körperliche Seinsform von Göttern selbst anzunehmen. Interessant ist vor allem die Beobachtung, daß die göttlichen Stimmen sich mit fortschreitender Krankheit zu einer Hierarchie von oberen und unteren Gottheiten organisieren, wie sich das wohl ähnlich auch in bikameraler Zeit abgespielt haben dürfte. Ferner scheinen die Stimmen Schreber «ersticken», «erdrücken» und seinen «Verstand zerstören» zu wollen (S. 232., 233 und öfter). Ihr Ziel ist «Seelenmord» (S. 83 ff und öfter) an dem Kranken und seine «Entmannung» (S. 107 ff und öfter), mit anderen Worten: die Auslöschung seiner Eigeninitiative und seines «Ich»-qua-Analogon. In der Spätphase seiner Krankheit narrativierte er das zu der Wahnvorstellung von körperlicher Umwandlung in eine Frau («die Preisgabe meines Körpers als weibliche Dirne»; S. 113 und öfter). In seiner berühmten Analyse von Schrebers autobiographischem Bericht hat Freud diese spezielle Narrativierung meines Erachtens überstrapaziert, indem er unter Berufung auf sie die gesamte Krankheit als das Resultat verdrängter Homosexualität interpretierte, die nunmehr aus dem Unbewußten herausbrach.13 Diese Deutung mag durchaus richtig liegen in bezug auf die Ätiologie des Streßfaktors im Ausbruch des Leidens, trägt jedoch wenig zur Erklärung des Falls im ganzen bei. Dürfen wir uns nun die Kühnheit erlauben, zwischen derlei Manifestationen von Geisteskrankheit und der Götterorgani13 Sigmund Freud, Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) (1911), Gesammelte Werke 8, S. 139-320.
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sation des Altertums eine Parallele zu ziehen? Daß Schrebers Stimm-Visionen auch die Gestalt von «kleine[n] Männer[n]» (S. 122) annehmen konnten, erinnert an die in den Ruinen so vieler alter Hochkulturen gefundenen Statuetten. Und der Umstand, daß mit allmählicher Besserung in Schrebers Zustand das Sprechtempo seiner Götter sich verlangsamte und zu leisem Geflüster oder gelispelten Klängen (S. 176, 178, 232 und öfter) verkam, erinnert daran, wie sich die Stimmen der Inka-Idole nach der spanischen Eroberung anhörten. Eine weitere vielsagende Parallele zeigt sich in dem Umstand, daß die Sonne als das hellste Licht im menschlichen Universum für einen Großteil nichtmedikamentös behandelter Kranker eine besondere Bedeutung gewinnt, wie sie sie ähnlich auch in den bikameralen Theokratien hatte. So erblickte Schreber seinen «oberen Gott (Ormuzd)», nachdem er ihn eine Zeitlang nur gehört oder besser mit dem «geistigen Auge» gesehen hatte, schließlich auch noch «mit meinem leiblichen Auge. Es war die Sonne, aber nicht die Sonne in ihrer gewöhnlichen, allen Menschen bekannten Erscheinung, sondern umflossen von einem silberglänzenden Strahlenmeer ...» (S. 177). Und ein Kranker, der uns zeitlich etwas näher steht, schreibt: Die Sonne übte jetzt eine außerordentliche Wirkung auf mich aus. Sie schien alle Macht in sich zu vereinigen – nicht nur ein Symbol Gottes, sondern wahrhaftig Gott selbst zu sein. Unablässig gingen mir Wendungen durch den Kopf wie: «Licht der Welt», «Die Sonne der Rechtschaffenheit, die niemals untergeht» und dergleichen, und der bloße Anblick der Sonne genügte, um die manische Erregtheit, an der ich litt, immens zu verstärken. Ich wurde getrieben, mich zur Sonne wie zu einem persönlichen Gott zu verhalten und daraus ein Sonnenanbetungsritual zu entwickeln.14
Ich glaube keineswegs, daß es im Nervensystem so etwas wie eine angeborene Sonnenverehrung oder angeborene Götter gibt, die im Zuge psychotischer Veränderungen der Psychoorganisation freigesetzt werden. Die spezielle Form, die Halluzi-
14 J. Custance, Wisdom, Madness and Folly, New York: Pellegrini & Cudahy 1952, S. 18.
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nationen im Einzelfall annehmen, gründet zum Teil in der physikalischen Beschaffenheit der Welt, überwiegend jedoch in Erziehung und einer gewissen Vertrautheit mit Gottesvorstellungen und religionsgeschichtlichen Fakten. Dagegen möchte ich nachdrücklich die Thesen vertreten, 1. daß derartige Halluzinationen, was ihre reine Existenz angeht, durch im Gehirn vorhandene aptische Strukturen bedingt sind; 2. daß diese Strukturen sich in zivilisierten Gesellschaften dahingehend entwickeln, daß sie für derartige halluzinierte Stimmen einen generell religiösen und autoritativen Charakter bedingen und sie unter Umständen auch in eine hierarchische Organisationsform bringen; 3. daß die Paradigmen hinter diesen aptischen Strukturen dem Gehirn in der Frühgeschichte der menschlichen Zivilisation durch natürliche und menschengemachte Selektion anentwickelt werden und 4. daß sie in vielen Fällen von Schizophrenie durch abnorme biochemische Verhältnisse aus der Hemmung, der sie normalerweise unterliegen, freigesetzt und zu individuellem Erleben konkretisiert werden. Über diese sehr realen halluzinatorischen Phänomene der Schizophrenie wäre noch eine Menge zu sagen. Und das Bedürfnis nach weiteren Forschungen in dieser Richtung läßt sich gar nicht nachdrücklich genug betonen. Wir würden gern etwas über den Lebenslauf der Halluzinationen und sein Verhältnis zur Krankheitskarriere des Patienten erfahren – bislang hat man davon nur wenig Ahnung. Wir wüßten gern mehr darüber, wie die spezielle halluzinatorischen Erlebnisse des Individuums mit seiner Erziehung zusammenhängen. Warum hören manche Kranken wohlmeinende Stimmen, während andere so unnachsichtiger Verfolgung seitens ihrer Stimmen ausgesetzt sind, daß sie vor ihnen auszureißen oder sich gegen sie zur Wehr zu setzen versuchen oder blindwütig auf wen auch immer oder was auch immer losgehen in dem Versuch,
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die Stimmen zum Schweigen zu bringen? Und warum sind die Stimmen wieder anderer so ekstatisch-religiöser und begeisternder Natur, daß der Kranke sie genießt wie ein Fest? Und welche Sprachmerkmale weisen die Stimmen auf? Benutzen sie den gleichen Satzbau und den gleichen Wortschatz wie der Kranke? Oder sprechen sie «elaborierter» (wie wir nach dem im vorvorigen Kapitel Ausgeführten erwarten dürften) ? Allesamt sind dies Fragen, die sich empirisch beantworten lassen. Haben wir erst einmal die Antworten, so könnte es in der Tat sein, daß wir damit zugleich auch mehr Einsicht in die bikameralen Anfänge der Zivilisation gewonnen haben. Der Abbau des «Ich»-qua-Analogon Welch unbeschreiblich wichtige Rolle spielt doch das Analogon unserer selbst, das wir in unserem metaphorisch geschaffenen inneren Raum beherbergen – dieses Ding, das einzig uns in den Stand setzt, narrativierend die Lösungen für unsere persönlichen Entscheidungsprobleme zu finden und zu wissen, wohin wir uns bewegen und wer wir sind. Und wenn es dann, wie das in der Schizophrenie geschieht, zu schwinden und der Raum, in dem es zu Hause ist, einzustürzen beginnt – was für eine grauenhafte Erfahrung muß das sein! Bei allen Schizophrenen, die an der vollausgebildeten Form der Krankheit leiden, zeigt sich dieses Symptom in mehr oder minder starker Ausprägung: Wenn es mir schlecht geht, fehlt mir das Gefühl, wo ich bin. Ich habe das Gefühl, daß ich vielleicht im Sessel sitze, und trotzdem holpert und poltert mein Körper da so ungefähr einen Meter vor mir herum. Es ist wirklich sehr schwer, mit andern im Gespräch zu bleiben, weil ich nämlich einfach nie genau weiß, ob die andern jetzt wirklich was sagen oder nicht, und ob ich selber antworte.15
15 Die beiden Zitate stammen von Patienten Dr. C. C. Pfeiffers vom Brain-Bio Center Princeton, New Jersey, wo man die Schizophrenie als ein Bündel von biochemischen Krankheiten betrachtet, denen hauptsächlich mit Gehirnnährstoffen beizukommen ist.
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Allmählich kann ich nicht mehr unterscheiden, wieviel von mir noch in mir selber steckt und wieviel schon in anderen. Ich bin eine gestaltlose Masse, eine Monstrosität, die täglich neu zurechtgeknetet wird.16 Denk- und Entscheidungsfähigkeit und Wille zum Handeln, das zerfleischt sich bei mir selbst. Zum Schluß wird es hinausgeworfen und vermengt sich da mit allen übrigen Bestandstücken des Tages und schätzt ab, was es hinter sich zurückgelassen hat. Anstatt daß da der Wunsch wäre, dies oder das zu tun, wird es von etwas gleichsam Mechanischem und Furchterregendem getan ... Gefühle, die in einem Menschen drin sein sollten, sind draußen und möchten gern wieder zurück, und dabei haben sie doch die Kraft zum Zurückkehren mit fortgenommen.17
Auf vielfältige Weise wird dieser Ichverlust von den Kranken beschrieben – sofern sie überhaupt noch in der Lage sind, etwas zu beschreiben. Eine Patientin muß stundenlang ununterbrochen reglos dasitzen, «um ihre Gedanken wiederzufinden». Einem anderen ist zumute, als ob er «am Auslöschen» sei. Schreber sprach, wie wir uns erinnern, von «Seelenmord». Eine bestimmte Patientin mit sehr hohem Intelligenzgrad kostet es jedesmal Stunden angestrengter Mühe, «für wenige kurze Augenblicke wieder zu sich selbst zu kommen». Oder das Ich hat das Gefühl, von allem um es her, von kosmischen Kräften, von bösen oder guten Mächten oder sogar von Gott selbst aufgesogen zu werden. In der Tat wollte Bleuler, als er den Ausdruck Schizophrenie prägte, bereits in der Bezeichnung der Krankheit diese zentrale Erfahrung als ihr Identifikationsmerkmal herausstellen. Es ist das Gefühl, «den Verstand zu verlieren», oder von einem «Abbröckeln» des Ich, bis dieses schließlich zu existieren aufhört oder die gewöhnliche Verbindung mit dem Leben und Handeln verloren zu haben scheint, woraus dann die augenfälligeren Symptome, wie etwa «Affektmangel» oder Abulie, resultieren.
16 Storch, zitiert nach H. Werner, Comparative Psychology of Mental Development, New York: International Universities Press 1957, S. 467. 17 Aus: E. Meyer und L. Covi, The Experience of Depersonalization: A Written Report by a Patient, Psychiatry 13/1960, S. 215-117.
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Auf andere Weise bekundet sich der Abbau des «Ich»-qua-Analogon in der relativen Unfähigkeit Schizophrener, einen Menschen zu zeichnen. Nun ist es auf den ersten Blick natürlich eine etwas schwachbrüstige Annahme zu meinen, wenn wir einen Menschen aufs Papier zeichnen, hänge das, was dabei herauskommt, von der Intaktheit jener Metapher vom eigenen Selbst ab, die wir das «Ich»-qua-Analogon genannt haben. Doch hat sich dieser Befund als so schlüssig erwiesen, daß sich daraus der sogenannte DAP-Test («Draw-A-Person»-Test) entwickelt hat, der heute routinemäßig als Indikator für Schizophrenie eingesetzt wird.18 Nicht alle Schizophrenen tun sich mit dem Zeichnen schwer. Aber diejenigen, die es tun, vermitteln damit eine äußerst zuverlässige diagnostische Information. Sie lassen augenfällige anatomische Details – wie Hände und Augen – weg; die Linienführung ist unsicher und lückenhaft; die Geschlechtsmerkmale sind häufig undifferenziert dargestellt; die Figur im ganzen ist häufig schief und verzerrt. Jedoch sollte die Generalisierung, wonach sich hierin der Abbau des «Ich»-qua-Analogon widerspiegelt, mit einiger Vorsicht aufgenommen werden. Man weiß inzwischen, daß ältere Menschen zuweilen die gleiche fragmentierte und primitive Art zu zeichnen haben wie Schizophrene, und es sollte auch nicht übersehen werden, daß zwischen jenem Befund und der in diesem Kapitel untersuchten Hypothese eine beträchtliche Diskrepanz besteht. In einem der früheren Kapitel gelangten wir zu dem Schluß, das «Ich»-qua-Analogon habe gegen Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. in Erscheinung zu treten begonnen. Wenn nun die Fähigkeit, einen Menschen zu zeichnen, beim Zeichner das Vorhandensein eines «Ich»-qua-Analogon voraussetzt, dürfte es eigentlich in der Zeit davor keine zusammenhängenden und klaren zeichnerischen Menschendarstellungen gegeben haben. Und das ist ganz entschieden nicht der Fall. Zweifellos gibt es Mittel und Wege, diese Unstim18 Einen Bericht über die ersten Jahre der Forschungstätigkeit mit DAP geben L. W. Jones und C. B. Thomas, Studies on Figure Drawing, Psychiatric Quarterly Supplement 35/1961, S. 211-216.
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migkeit aufzulösen, doch möchte ich es zu diesem Zeitpunkt dabei bewenden lassen, sie einfach nur zu registrieren. Wir sollten diese Ausführungen über den Abbau des «Ich»-quaAnalogon nicht beenden, ohne die ungeheure Angst erwähnt zu haben, von der er in unserer Kultur begleitet wird, eine Angst, die ihrerseits Auslöser ist für das – mal erfolgreiche, mal erfolglose – Bemühen, diesem grauenerregenden Dahinschwinden des wichtigsten Teils unseres inneren Selbst, jenes nahezu sakramentalen Zentrums bewußter Entscheidungen, Einhalt zu gebieten. Tatsächlich lassen sich in diesem Zusammenhang auftretende Verhaltensformen, die auch nicht das geringste mit irgendeiner Rückkehr zur bikameralen Psyche zu tun haben, großenteils als Abwehrstrategien gegen diesen Verlust des «Ich»-qua-Analogon begreifen. So tritt beispielsweise in manchen Fällen das sogenannte «Ich bin»-Symptom auf. In dem Bemühen, nicht ganz und gar die Kontrolle über sein Verhalten zu verlieren, wiederholt der Kranke in einem fort zu sich selbst: «Ich bin», oder: «Ich bin der, der in allem da ist», oder: «Ich bin der Geist, nicht der Körper». Ein anderer wiederum gebraucht vielleicht nur ein einziges Wort – zum Beispiel «Kraft» oder «Leben» –, um sich gegen die drohende Auflösung seines Bewußtseins an irgendeinem Fixpunkt zu verankern.19 Die Auflösung des Seelenraums Nicht nur sein «Ich» beginnt dem Schizophrenen abhanden zu kommen, sondern auch sein «Inneres» als solches – der reine Paraphorand, den wir von der Welt und den Dingen in ihr haben und der so angelegt ist, daß er beim Introspizieren den Anschein von Räumlichkeit abgibt. Der Kranke hat das
19 Carney Landis, Varieties of Psychopathological Experience, New York: Holt, Rinehart & Winston 1964.
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Empfinden, seine Denkfähigkeit einzubüßen, er leidet unter «Gedankenschwund» – ein Begriff, in dem der Schizophrene seine Lage auf Anhieb wiedererkennt. Diese Erscheinung ist unabtrennbar mit dem Abbau des «Ich»-qua-Analogon gekoppelt. Die Kranken haben Mühe, sich als an diesem speziellen Ort befindlich zu denken, und sind daher nicht in der Lage, Informationen auszuwerten, um sich auf erwartbare Zukunftsereignisse vorzubereiten. Dies läßt sich auf experimentellem Weg unter anderem in Reaktionszeit-Tests beobachten. Schizophrene gleich welchen Typs zeigen sich ausnahmslos unbeholfener als normal bewußte Personen, wenn es darum geht, auf in wechselnden Zeitabständen dargebotene Reize zu reagieren. Der Kranke, dem das Analogon-«Ich» und der innere Raum abgehen, in dem er sein «vorgestelltes» Selbst bei diesem oder jenem Tun beobachten könnte, ist nicht in der Lage, sich in eine «Bereitschaftsposition» für eventuelle Reaktionen zu versetzen, reagiert er aber erst einmal, ist er unfähig, seine Reaktion so zu variieren, wie es die Aufgabe erfordert.20 Das bedeutet, daß beispielsweise ein Kranker, der dabei ist, Klötze nach ihrer Form zu sortieren, nicht imstande ist, wenn er den Auftrag erhält, nach einem neuen Gesichtspunkt zu sortieren, zum Sortieren nach Farben überzuwechseln. Ebenso geht mit dem Analogon-«Ich» und dem inneren Raum auch die Fähigkeit zu «Als-ob»-Verhalten verloren. Da ihm die an das normale Bewußtsein geknüpfte Vorstellungskraft abgeht, ist der Kranke unfähig zu fingiertem Handeln wie Rollenspiel oder Simulation, ja er vermag noch nicht einmal über fingierte Sachverhalte zu reden. Er ist beispielsweise nicht in der Lage, so zu tun, als trinke er Wasser aus einem Glas, wenn nicht wirklich Wasser in dem Glas ist. Fragt man ihn, was er an der Stelle des Arztes tun würde, so antwortet er unter Umständen, er sei kein Arzt. Oder: fragt man einen ledi-
20 So deute ich eine weithin akzeptierte Theorie von David Shakow; vgl. dessen Segmental Set, Archives of General Psychiatry 6/1962, S. 1-17.
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gen Patienten, wie er sich verhalten würde, wenn er verheiratet wäre, lautet die Antwort, er sei nicht verheiratet. Hier liegt auch der Grund, warum es – wie am Schluß des vorigen Kapitels erwähnt – nicht möglich ist, Schizophrene zu hypnotisieren: Das Handeln unter Hypnose ist ja, wie gezeigt, ein So-tunals-ob. Weiterhin bekundet sich die Auflösung des inneren Raums in der für die meisten Schizophrenen typischen Orientierungslosigkeit in der Zeit. Der Zeit sind wir uns nur insoweit bewußt, als wir sie als räumliches Hintereinander abzubilden vermögen, und das für die Schizophrenie charakteristische Schwinden des inneren Raums erschwert das oder macht es unmöglich. So kann man beispielsweise Schizophrene darüber klagen hören, daß die Zeit «stehengeblieben» sei oder daß jetzt «alles viel langsamer» zu gehen oder «in einem Schwebezustand» zu sein scheine, oder auch einfach nur darüber, daß sie «Probleme mit der Zeit» haben. Ein geheilter Schizophreniepatient schildert das rückblickend so: Lange Zeit sind mir die Tage nicht wie ein Tag und die Nächte nicht wie eine Nacht vorgekommen. Aber im einzelnen habe ich daran keine klare Erinnerung. Die Tageszeit bestimmte ich anhand der Mahlzeiten – da wir aber nach meinem Eindruck an jedem wirklichen Tag jedesmal die ganze Palette von Mahlzeiten serviert bekamen, Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendessen, und das ungefähr ein halbes dutzendmal innerhalb von zwölf Stunden, kam ich damit nicht viel weiter.21
Oberflächlich betrachtet, scheint das der Hypothese zu widersprechen, derzufolge die Schizophrenie ein teilweiser Rückfall in die bikamerale Psyche ist, denn der bikamerale Mensch wußte zweifellos mit den Tages- und Jahreszeiten Bescheid. Aber dieses Wissen, so meine ich, war ein ganz anderes Wissen, als die Narrativierungen in der als räumliche Folge modellierten Zeit es sind, die wir Bewußtseinsbesitzer unentwegt fabrizieren. Das Wissen des bikameralen Menschen war Verhaltenswissen, ein Reagieren auf die Hinweisreize zum Aufstehen und 21 M. Harrison, Spinners Lake, London: Allen Lane 1941, S. 32.
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Schlafengehen, für die Aussaat und für die Ernte: Hinweisreize, die so wichtig waren, daß sie – wie etwa in Stonehenge – zum Gegenstand kultischer Verehrung gemacht wurden und wahrscheinlich an und für sich schon halluzinogen wirkten. Für den Angehörigen einer Kultur, in der die Achtsamkeit auf derlei Hinweisreize von einem anderen Zeitgefühl abgelöst wurde, bedeutet die krankheitsbedingte Einbuße jenes Schemas der räumlichen Aufeinanderfolge soviel wie in eine mehr oder weniger zeitlose Welt hineinversetzt zu werden. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Umstand, daß ein geistig normales Hypnosesubjekt, wenn ihm gesagt wird, die Zeit existiere nicht, Reaktionen des schizophrenen Typs zeigt.22 Das Versagen des Narrativierungsvermögens Mit der Auflösung des «Ich»-qua-Analogon und seines Seelenraums wird das Narrativieren zu einer Unmöglichkeit. Es ist, als ob alles, was im Zustand der Normalität narrativiert wurde, in Assoziationen auseinanderfalle, die wohl von irgendeiner allgemeinen Sache beherrscht sein können, jedoch in keinerlei Beziehung zu einem einheitsstiftenden begriffenen Zweck oder Ziel stehen, wie es bei der normalen Narrativierung der Fall ist. Logische Gründe für die Wahl einer Verhaltensweise können nicht angegeben werden, und die Antworten auf gestellte Fragen gehen nicht von einem «innerlichen» Raum irgendwelcher Art, sondern von bloßen Assoziationen oder den äußeren Gesprächsumständen aus. Die Vorstellung, daß ein Mensch in der Lage sei, über seine Beweggründe Auskunft zu geben – etwas, das in der bikameralen Epoche eindeutig die Funktion der Götter war –, kann gar nicht mehr auftauchen. Ohne das Analogon-«Ich», seinen «inneren Raum» und die Fähigkeit des Narrativierens ist das Verhalten entweder ein
22 Bernard S. Aaronson, Hypnosis, Responsibility and the Boundaries of the Self, American Journal of Clinical Hypnosis 9/1967, S. 229-246.
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Reagieren auf halluzinierte Direktiven, oder es läuft nach den Regeln der Gewohnheit weiter. Was vom Selbst noch übriggeblieben ist, fühlt sich als außengesteuerter Automat – so, als ob jemand anderer den Körper hierhin oder dorthin bewege. Selbst wenn er keine halluzinierten Kommandos erhält, kann ein Kranker das Gefühl haben, auf zwingende Weise befehligt zu werden. So könnte es sein, daß er in ganz normaler Manier mit einem Besucher einen Händedruck wechselt, auf eine diesbezügliche Frage jedoch antwortet: «Das mach ich nicht selbst, die Hand streckt sich von alleine aus.» Oder ein Kranker mag den Eindruck haben, beim Sprechen werde seine Zunge von jemand anderem bewegt, so vor allem als Koprolalie-Kranker, dem sich skatologische und obszöne Wörter in die Rede drängen. Sogar schon in den Frühstadien der Schizophrenie macht der Kranke Bekanntschaft mit Erinnerungen, Musikeindrücken oder Gemütsbewegungen, die als angenehm oder unangenehm empfunden werden können, aber in jedem Fall ihm von irgendeiner fremden Instanz aufgenötigt zu sein scheinen, so daß sie nicht «seiner» Kontrolle unterliegen. Dieses Symptom ist äußerst verbreitet und ein zuverlässiges diagnostisches Zeichen. Und diese Fremdbeeinflussungsgefühle wachsen sich dann häufig zu den veritablen Halluzinationen aus, über die wir bereits gesprochen haben. Bleuler schreibt: «Als von der Persönlichkeit losgelöste psychische Äußerungen sind die Automatismen als solche selten von bewußten Gefühlen begleitet. Die Kranken können tanzen oder lachen, ohne fröhlich zu sein; einen Mord begehen, ohne zu hassen; sich selbst umbringen, ohne des Lebens überdrüssig zu sein ... In allen Fällen fühlt sich die Persönlichkeit ihrer inneren und äußeren Handlungen nicht mehr mächtig und einer fremden Gewalt ausgeliefert.»23 Viele Kranke lassen derartigen Automatismen einfach freien Lauf. Andere, denen ein Rest narrativer Fähigkeit verblieben 23 Bleuler, a. a. O., S. 168.
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ist, erfinden sich Abwehrmaßnahmen gegen diese Fremdkontrolle ihrer Handlungen. Hierher gehört der Negativismus, und zwar meines Erachtens selbst noch der von Neurotikern. So verschaffte sich einer von Bleulers Patienten, der unter einem inneren Drang stand zu singen, einen Holzklotz, den er sich in den Mund zu stopfen pflegte, um den Mund vom Singen abzuhalten. Wir vermögen derzeit nicht zu sagen, ob solche Automatismen und inneren Befehle immer und unter allen Umständen das Werk artikulierter, den Kranken in seinen Handlungen dirigierender Stimmen sind, wie das durch das Konzept des Rückfalls in die bikamerale Psyche nahegelegt wird. Tatsächlich könnten wir es hier mit einer unbeantwortbaren Frage zu tun haben, weil man mit der Möglichkeit rechnen muß, daß der abgespaltene Persönlichkeitsteil, der noch auf den Therapeuten reagiert, die bikameralen Kommandos, die von anderen Teilen des Nervensystems «gehört» werden, unterdrückt. Bei vielen Kranken tritt das in einem allgemein als «Befehlsautomatie» bekannten Symptom in Erscheinung. Der Kranke folgt dabei jedem x-beliebigen Befehl und jeder Anregung, die ihn von außen erreichen. Selbst wenn er sich ansonsten negativistisch verhält, ist er schlechterdings nicht in der Lage, sich kurzen, autoritären Kommandos zu widersetzen. Diese Kommandos dürfen sich aber nicht auf langwierige und komplizierte Aufgaben, sondern müssen sich auf einfache Verrichtungen beziehen. Mag sein, daß die bekannte wachspuppenhafte Biegsamkeit der Katatoniker in diese Sparte gehört, denn im Grunde genommen leisten diese Kranken den Anweisungen des Arztes peinlich genau Folge, indem sie in jeder Position verharren, in die sie gebracht werden. Wenn auch derartige Erscheinungen natürlich nicht in allen Einzelheiten mit den Charakteristika der bikameralen Psyche übereinstimmen, so doch jedenfalls im Grundschema. Interessant wäre es, der Hypothese nachzugehen, daß die Symptomatik der Befehlsautomatie auf einen Kranken ohne Gehörshalluzinationen schließen läßt, bei dem die von außen kommende Stimme des Arztes die Stelle solcher Halluzinationen einnimmt.
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In Übereinstimmung mit dieser Hypothese steht das als Echolalie (oder auch Echophrasie) bezeichnete Symptom. Sind keine Halluzinationen im Spiel, wiederholt der Kranke mechanisch alle Reden, Ausrufe und sonstigen Verlautbarungen von anderen in seiner Umgebung. Wo Halluzinationen wirksam sind, wird daraus die halluzinative Echolalie, bei der der Kranke alles auszusprechen gezwungen ist, was seine Stimmen zu ihm sagen. Die halluzinative Echolalie setzt nach meinem Dafürhalten die gleiche Psychoorganisation voraus, die wir bereits an den Propheten des Alten Testaments wie auch an den aoidoi der homerischen Dichtungen beobachten konnten. Entgrenzung des Körperschemas Es wäre denkbar, daß der Abbau des «Ich»-qua-Analogon und seines «Seelenraums» auch hinter der bei Rorschach-Studien an Schizophrenen festgestellten «Entgrenzung» steckt. Sie gibt – quasi als das Negativ des Formschärfeprozents – den prozentualen Wert für alle als schlecht, unscharf oder überhaupt nicht umrandete oder konturierte Figuren gedeutete Klecksbilder wieder. Das Interessanteste dabei ist von unserem Standpunkt aus der Umstand, daß dieser Wert weitgend mit lebhafter Halluzinationstätigkeit der Versuchsperson korreliert. Kranke mit hohem Entgrenzungswert berichten häufig von der Empfindung, sich aufzulösen. Wenn ich zerschmelze, habe ich keine Hände mehr, ich begebe mich in einen Hauseingang, um nicht zertreten zu werden. Alles fliegt weg von mir. In dem Hauseingang kann ich die Stücke meines Körpers zusammensammeln. Es scheint, als ob irgend etwas in mich hineingetan worden wäre, das mich in Stücke reißt. Warum aber zerteile ich mich selbst in mehrere Stücke? Ich habe das Gefühl, mir fehlt der innere Zusammenhalt, meine Persönlichkeit zergeht, mein Ich schwindet dahin, und ich höre auf zu sein. Alles zerrt mich auseinander ... Das einzige, was die einzelnen Stücke noch zusammenhält, ist die Haut. Es gibt gar keine Verbindung zwischen den verschiedenen Teilen meines Körpers ...24
24 Paul Schilder, The Image and Apearance of the Human Body, London, Kegan Paul, Trench, Trubner, and Co. 1935, S. 159 (= erweiterte Fassung von: Das Körperschema. Ein Beitrag zur Lehre vom Bewußtsein des eigenen Körpers, Berlin: Julius Springer 1923).
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Im Zuge einer empirischen Studie zum Phänomen der Entgrenzung wurden achtzig Schizophreniepatienten einem Rorschachtest unterzogen. Das Formschärfeprozent war beträchtlich geringer als in der – hinsichtlich Alter und sozialökonomischem Status vergleichbaren – Kontrollgruppe von Normalen und Neurotikern. Die Schizophrenen deuteten die Klecksgebilde gewöhnlich als verstümmelte Tier- oder Menschenleiber.25 Darin spiegelt sich der Zerfall des Selbst-Analogons beziehungsweise der metaphorischen Repräsentation, die wir per Bewußtsein von uns selbst haben. Eine andere Studie, durchgeführt an 604 Patienten des State Hospital Worcester, erbrachte als spezifischen Befund, daß Entgrenzung – die nach unserer Mutmaßung den Verlust des «Ich»-qua-Analogon impliziert – zu den für die Ausbildung von Halluzinationen relevanten Faktoren zählt. Die Kranken, die am stärksten halluzinierten, waren zugleich auch diejenigen, die die größte Mühe hatten, «Grenzlinien zwischen dem Selbst und der Welt» zu ziehen.26 Auf der gleichen Linie liegt die Tatsache, daß chronisch Schizophrene zuweilen nicht in der Lage sind, sich auf Fotografien wiederzuerkennen oder daß sie sich in irgendeiner anderen Person wiederzuerkennen meinen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um Einzel- oder Gruppenbilder handelt. Die Vorteile der Schizophrenie Zugegeben, eine befremdliche Überschrift- denn wie kann man für ein so erschreckendes Leiden wie die Schizophrenie unterstellen wollen, daß es Vorteile bringe? Die Rede ist hier jedoch von Vorteilen unterm Aspekt der Menschheitsgeschichte im ganzen. Es liegt auf der Hand, daß die biochemische Grundlage dieser so ganz anderen Reaktion auf Streßbelastung genetisch 25 S. Fisher und S. E. Cleveland, The Role of Body Image in Psychosomatic Symptom Choice, Psychological Monographs 69/1955/17, Nr. 402 insgesamt. 26 L. Phillips und M. S. Rabinovich, Journal of Abnormal and Social Psychology 57/1958, S. 181.
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verankert ist. Und in bezug auf eine Erbanlage, die bereits in einer so frühen Etappe der Menschheitsentwicklung auftrat, ist unumgänglich zu fragen, welchen biologischen Vorteil sie einstmals mit sich brachte. Warum – um es im Fachjargon der Evolutionstheoretiker auszudrücken – wurde sie selektiert? Und – da diese Erbanlage über die ganze Welt verbreitet ist – in welch unvordenklich lange zurückliegender Epoche geschah das? Die Antwort ist natürlich eines von den Themen, die ich in diesem Buch wieder und wieder durchgespielt habe. Der Selektionsvorteil einer solchen Gen-Ausstattung beruhte in der – in Jahrtausenden der ältesten Zivilisationsgeschichte durch natürliche und menschliche Selektion entwickelten – bikameralen Psyche. Die beteiligten Gene – ob ihre Wirkungsweise nun in etwas, das sich für den bewußten Beobachter als Enzymmangel darstellt, oder in irgend etwas anderem bestand – waren der genetische Hintergrund für die Propheten und die «Söhne der nebi’im» und die ganze bikamerale Menschheit vor ihnen. Ein weiterer Vorteil der Schizophrenie – möglicherweise auch in evolutionärer Hinsicht – ist, daß sie Unermüdlichkeit verleiht. Zwar klagen einige wenige Schizophrene, zumal in den Anfangsstadien der Krankheit, über eine allgemeine Abgeschlagenheit, die meisten Kranken kennen jedoch nichts dergleichen. Vielmehr sind sie weniger ermüdbar als Normale, und was sie an Ausdauer aufzubieten vermögen, ist gewaltig. Selbst viele Stunden lange Untersuchungen überstehen sie ohne Ermüdung. Sie können Tag und Nacht auf den Beinen sein oder unaufhörlich arbeiten, ohne irgendwelche Anzeichen von Erschöpfung erkennen zu lassen. Katatoniker können tagelang in unbequemen Körperhaltungen ausharren, die der Leser allenfalls wenige Minuten ertragen würde. Das legt die Vermutung nahe, daß Ermüdung großenteils eine Hervorbringung der subjektiv bewußten Psyche sein könnte und daß der bikamerale Mensch, als er die ägyptischen Pyramiden, die sumerischen Zikkurat und die riesenhaften Tempel von Teotihuacán allein mit manueller Arbeitskraft baute, das alles
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sehr viel müheloser leistete, als mit Bewußtsein ausgestattete, selbstreflexive Menschen dies vermöchten. Ein Gebiet, auf dem die Schizophrenen ebenfalls «besser» sind als andere Menschen – wenngleich man bezweifeln muß, daß dies in unserer abstrakt-komplizierten Welt einen Vorteil bedeutet –, ist die schlichte sinnliche Wahrnehmung. Sie sind wacher gegenüber visuellen Reizen, was nicht weiter verwundert, wenn man bedenkt, daß sich diese Reize bei ihnen nicht durch den Puffer eines Bewußtseins zwängen müssen. Zu erkennen ist dies im EEG an ihrer Fähigkeit, Alpha-Wellen auf einen jähen Reiz hin schneller zu unterdrücken als normale Menschen, sowie daran, daß sie zunächst verschwommen projizierte und dann allmählich scharf eingestellte Dia-Szenen bedeutend früher zu identifizieren vermögen.27 Tatsächlich ertrinken Schizophrene förmlich in Sinneseindrücken. Unfähig zu narrativieren oder zu kompatibilisieren, sehen sie jeden Baum, aber niemals den Wald. Sie scheinen unmittelbarer und bedingungsloser in ihre gegenständliche Umwelt verstrickt oder, wie man auch sagen könnte, mit einem intensiveren Inder-Welt-Sein ausgestattet zu sein. In diesem Sinn ließe sich jedenfalls die Tatsache deuten, daß Schizophrene, die man – die optischen Eindrücke verzerrende – Prismenbrillen tragen läßt, sich schneller adaptieren lernen als andere Menschen (weil sie nämlich nicht so stark überkompensieren).28 Die Neurologie der Schizophrenie Ist die Schizophrenie ein partieller Rückfall in die bikamerale Psyche und gehen unsere früheren Analysen an den Tatsa27 Vgl. R. L. Cromwell und J. M. Held, Alpha Blocking Latency and Reaction Time in Schizophrenics and Normals, Perceptual and Motor Skills 29/1969, S. 195-201; E. Ebner und B. Ritzler, Perceptual Recognition in Chronic and Acute Schizophrenics, Journal of Consulting and Clinical Psychology 33/1969, S. 200-206. 28 Vgl. E. Ebner, V. Broekma und B. Ritzler, Adaptation to Awkward Visual Proprioceptive Input in Normals and Schizophrenics, Archives of General Psychiatry 24/1971, S. 367-371.
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chen nicht völlig vorbei, dann müßten sich irgendwelche neurologischen Veränderungen nachweisen lassen, die mit dem im Fünften Kapitel des Ersten Buches präsentierten neurologischen Modell übereinstimmen. Ich stellte dort die Hypothese auf, daß es sich bei den halluzinierten Stimmen der bikameralen Psyche um Verschmelzungen von gespeicherten Erziehungserlebnissen handelt, die auf irgendeine Weise im rechten Schläfenlappen organisiert und über die vordere Kommissur, eventuell auch über den Balken, in die linke oder dominante Hemisphäre übermittelt wurden. Weiterhin formulierte ich die Hypothese, daß das aufkommende Bewußtsein unumgänglich nach Hemmung dieser in der rechten Schläfenrinde entspringenden Gehörshalluzinationen verlangte. Doch ist damit noch lange nicht geklärt, was genau das denn nun in neuroanatomischer Hinsicht zu bedeuten hat. Wir wissen mit Sicherheit, daß spezifische Gehirnzentren auf andere hemmend wirken und daß auf allerabstraktester Ebene das Gehirn sich zu jedem Zeitpunkt in einer Art komplizierter Spannung (beziehungsweise im Gleichgewicht) zwischen Erregung und Hemmung befindet, wie überdies auch, daß Hemmung auf vielerlei Art eintreten kann. So kann die Erregung eines Zentrums in der einen Hemisphäre die Hemmung eines Zentrums in der anderen Hemisphäre zur Folge haben. Beispielsweise sind die primären Sehfelder wechselseitig hemmend, das heißt, daß die Stimulierung des Sehfeldes der einen die Hemmung des Sehfelds der anderen Hemisphäre nach sich zieht.29 Wir können demzufolge vermuten, daß entweder ein Teil der Fasern des Balkens, der die primären Sehfelder miteinander verbindet, in sich selbst hemmend wirkt oder aber hemmende Zentren der gegenüberliegenden Hemisphäre erregt. Auf der Verhaltensebene bedeutet dies, daß ein Blick in diese oder jene Richtung sich als die vektorielle Resultante der gegenstrebigen Erregung der beiden primären Sehfelder 29 A. S. F. Layton und C. S. Sherrington, Observations on the Excitable Cortex of Chimpanzees, Orangutan, and Gorilla, Quarterly Journal of Experimental Physiology 11/1917, S. 135.
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darstellt.30 Und man darf annehmen, daß diese wechselseitige Hemmung von Zentren der einen und der anderen Hemisphäre noch in verschiedenen anderen bilateral repräsentierten Funktionen wirksam ist. Ein noch waghalsigeres Unternehmen ist es freilich, diesen Befund auf dem Weg der Generalisierung auch auf asymmetrische, unilaterale Funktionen auszuweiten. Dürfen wir beispielsweise annehmen, daß eine linkshemisphärisch repräsentierte psychische Funktion reziprok inhibitiv mit einer rechtshemisphärisch repräsentierten anderen Funktion gekoppelt ist, so daß einige der sogenannten höheren Geistesprozesse möglicherweise als Resultanten aus der Gegenstrebigkeit der beiden Hemisphären zu begreifen wären? Wie dem auch sei – der erste Schritt, um diesen Vorstellungen vom Verhältnis der Schizophrenie zur bikameralen Psyche und ihrem neurologischen Modell einigen Kredit zu verschaffen, besteht darin, bei Schizophrenen nach Lateralitätsunterschieden irgendwelcher Art Ausschau zu halten. Ist bei diesen Kranken mit der rechtshemisphärischen Hirnaktivität irgend etwas anders als bei anderen Menschen? Die Forschung in dieser Richtung steckt noch in den Anfängen, doch sind die folgenden Untersuchungsergebnisse aus jüngerer Zeit bereits vielversprechend: Bei den meisten Menschen weist das EEG über eine längere Periode eine geringfügig stärkere Aktivität der (dominanten) linken gegenüber der rechten Hemisphäre aus. Bei Schizophrenen dagegen ist es umgekehrt: rechts ein wenig stärkere Aktivität als links.31
30 In Anlehnung an eine Formulierung von Marcel Kinsbourne in: The Control of Attention by Interaction between the Cerebral Hemispheres, Fourth International Symposium on Attention and Performance, Boulder, Colorado, August 1971. 31 Arthur Sugarman, L. Goldstein, G. Marjerrison und N. Stoltyfus, Recent Research in EEG Amplitude Analysis, Diseases of the Nervous System 34/1973, S. 161-181.
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Die verstärkte Aktivität der rechten Hemisphäre Schizophrener tritt nach einigen Minuten sensorischer Deprivation – das ist die gleiche Bedingung, die bei normalen Menschen zu Halluzinationen führen kann – viel massiver in Erscheinung. Stellen wir das EEG-Gerät so ein, daß wir alle paar Sekunden Bescheid darüber erhalten, welche Hemisphäre jeweils die aktivere ist, so zeigt sich, daß in dieser Beziehung bei den meisten Menschen ungefähr einmal pro Minute ein Wechsel zwischen den beiden Hemisphären stattfindet. Bei Schizophrenen dagegen (soweit sie bisher daraufhin untersucht wurden) tritt die Umschaltung – mit erheblicher Phasenverzögerung – nur etwa alle vier Minuten ein. Dies mag mit dazu beitragen, die «Segmentierung der Einstellung», von der weiter oben die Rede war, zu erklären: etwa so, daß Schizophrene dazu tendieren, auf Seiten der einen oder der anderen Hemisphäre «steckenzubleiben», und somit nicht so schnell wie andere Menschen von einem Informationsverarbeitungsmodus in den anderen umschalten können. Das wäre zugleich auch die Erklärung für ihre Verwirrung und ihr häufig unlogisches Reden und Verhalten im Verkehr mit anderen Menschen, die mit höherer Frequenz hin und her schalten.32 Es wäre möglich, daß die verringerte Umschaltfrequenz bei Schizophrenen anatomische Ursachen hat. Bei der Autopsie einer Reihe von chronisch Schizophrenen zeigte sich unerwartet, daß der Balken des Gehirns (das Corpus callosum, das die beiden Hemisphären miteinander verbindet) einen Millimeter dicker als Normalmaß war. Es handelt sich um einen statistisch zuverlässigen Befund. Die Abweichung könnte eine verstärkte wechselseitige Hemmung zwischen den Hirnhemisphären Schizophrener signalisieren.33 Die vordere Kommissur war in die Untersuchung nicht mit einbezogen. 32 Ich greife hier zurück auf vorbereitende Untersuchungen Leonide E. Goldsteins (Time Domain Analysis of the EEG: the Integrated Method, Rutgers Medical School pre-print, 1975) und danke dem Autor für persönliche Gespräche über meine Thesen. 33 Randall Rosenthal und L.B. Bigelow, Quantitative Brain Measurements in Chronic Schizophrenia, British Journal of Psychiatry 121/1972, S. 259-264.
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Falls unsere Theorie zutrifft, müßte jede einigermaßen nennenswerte – sei’s durch Krankheit, Kreislaufschwankungen oder streßbedingte neurochemische Veränderungen bewirkte – Funktionsstörung in der linken Schläfenrinde im rechtsseitigen Gegenstück das Erlöschen von normalerweise dort ausgeübten Hemmungen mit sich bringen. Ist Schläfenlappenepilepsie die Folge einer Läsion des linken Schläfenlappens (oder beider – des rechten wie des linken) und infolgedessen (sehr wahrscheinlich) der rechte Schläfenlappen von seiner normalen Hemmung befreit, so entwickelt sich bei den Betroffenen in nicht weniger als neunzig Prozent aller Fälle eine paranoide Schizophrenie mit stark ausgeprägten Gehörshalluzinationen. Betrifft die Schädigung allein den rechten Schläfenlappen, treten die erwähnten Symptome noch nicht einmal in zehn Prozent der Fälle auf. In der Tat neigt die zuletzt erwähnte Gruppe eher zur manisch-depressiven Psychose.34 Diese Befunde müssen künftig noch erhärtet und ausgebaut werden. Jedoch belegen sie zusammengenommen erstmals und zweifelsfrei signifikante Auswirkungen des Faktors Lateralität in der Schizophrenie. Und diese Auswirkungen gehen in eine Richtung, die es erlaubt, sie als teilweise Bestätigung dafür zu verstehen, daß die Schizophrenie verwandt sein könnte mit einer früheren Organisation des menschlichen Gehirns, der ich den Namen «bikamerale Psyche» gegeben habe. Zum Abschluß Das Übermaß des Leids, das sie sowohl über die unmittelbar Betroffenen wie über die ihnen Nahestehenden verhängt, macht die Schizophrenie für uns zu einem der moralisch dringlichsten Forschungsprobleme. In den vergangenen Jahrzehnten konnte man mit dankbarer Genugtuung beschleunigte und 34 P. Flor-Henry, Schizophrenic-like Reactions and Affective Psychoses Associated with Temporal Lobe Epilepsy: Etiological Factors, American Journal of Psychiatry 126/1969, S.400-404.
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massive Fortschritte in den Behandlungsmethoden für diese Krankheit verzeichnen. Sie segelten freilich nicht unter der Flagge neuer und bisweilen ausgefallener Theorien (wie etwa die meine), sondern stellten sich in der nüchternen Praxis des Therapiealltags ein. In der Tat bringen sich die Schizophrenietheorien – und ihre Zahl ist Legion –, da sie allzuoft nur die Steckenpferde von dogmatischen Verfechtern rivalisierender Anschauungen sind, gegenseitig selbst zu Fall. Jede Forschungsrichtung veranschlagt die in anderen Bereichen gemachten Entdekkungen a priori als geringerwertig gegenüber den von ihr selbst untersuchten Faktoren. Der Sozialmilieuforscher sieht in der Schizophrenie das Resultat eines streßerzeugenden Milieus. Demgegenüber betont der Biochemiker, daß ein streßerzeugendes Milieu nur durch abnorme biochemische Reaktionen ein solches Resultat zu zeitigen vermag. Wer sich auf den Aspekt der Informationsverarbeitung konzentriert hat, vertritt die Ansicht, daß Ausfälle in diesem Bereich unmittelbar zu Streß und Streßabwehr führen. Die Theoretiker der Abwehrmechanismen wiederum betrachten die Informationsverarbeitungsdefizite als einen subjektiv motivierten Rückzug aus dem Kontakt mit der Realität. Die Vererbungstheoretiker konzentrieren sich auf Einzelheiten der Familiengeschichte, die sie im Rahmen der Genetik interpretieren. Andere freilich haben keine Mühe, aus dem gleichen Faktenmaterial Rückschlüsse auf die Mitwirkung der elterlichen Erziehung bei der Entstehung der Schizophrenie zu ziehen. Und so weiter. Ein kritischer Beobachter schilderte die Lage einmal so: «Wie beim Karussellfahren sucht sich jeder das Pferd aus, das ihm am besten gefällt. Man kann sich leicht glauben machen, das eigene Pferd sprenge allen anderen voran und weise ihnen den Weg. Dann jedoch ist die Tour zu Ende, man muß absteigen und kommt um die Feststellung nicht herum, daß das Pferdchen im Grunde keinen Schritt vorangekommen ist.»35 35 R. L. Cromwell, Strategies for Studying Schizophrenie Behavior (ungedrucktes Manuskript), S. 6.
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Es gehört also einige Vermessenheit dazu, die lange Liste der Schizophrenietheorien, wie ich es hier getan habe, um einen weiteren Eintrag zu vermehren. In diesem Fall schien jedoch eine gewisse Notwendigkeit dafür gegeben, und sei’s auch nur aufgrund meiner Pflicht als Autor, die anderwärts in diesem Buch vorgetragenen Thesen auf jede nur erdenkliche Art und Weise zu vertiefen und zu präzisieren. Und die Schizophrenie – gleichgültig, ob es sich bei ihr nun um eine nosologische Einheit oder um ein Bündel von Krankheiten handelt – ist im akuten Zustand praktisch durch ein Ensemble von Merkmalen definiert, die nach unserer früheren Feststellung auch die hervorstechenden Eigentümlichkeiten der bikameralen Psyche waren. Das Auftreten von Gehörshalluzinationen, deren häufig religiöser und ausnahmslos autoritärer Charakter, die Auflösung des Ego oder des «Ich»-qua-Analogon und des «Seelenraums», in dem dieses vordem Handlungsentscheidungen narrativ auszugestalten und seine eigene Position im Zeit- und Handlungskontinuum zu bestimmen vermochte: das alles zusammen sind die großen Züge, in denen sich die Bilder gleichen. Es gibt jedoch auch große Unterschiede. Sofern in unserer Hypothese auch nur ein Körnchen Wahrheit steckt, ist der Rückfall lediglich ein partieller. Die Lerninhalte, die sich zu einem subjektiven Bewußtsein summieren, sind machtvoll und lassen sich niemals vollständig unterdrücken. Daher also die Raserei und der Schrecken, die Qual und die Verzweiflung. Die Angst, die sich im Gefolge einer so katastrophalen Wandlung einstellt, die Entfremdung von der üblichen Form zwischenmenschlicher Beziehungen, der Umstand, daß die Stimmen in der kulturellen Umgebung weder Rückhalt noch Anklang finden, so daß sie als Führer im täglichen Leben nichts taugen, und der Zwang, sich gegen eine alle Dämme durchbrechende Überflutung durch Umweltreize abschirmen zu müssen – das alles führt im Ergebnis zu einem Rückzug aus der Gesellschaft, der himmelweit verschieden ist von der total und uneingeschränkt vergesellschafteten Existenz des bikameralen Menschen. Der Mensch mit Bewußtsein ist unablässig dabei,
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sich vermittels seiner Introspektion seines «Selbst» und seines Standorts in bezug auf seine Ziele sowie relativ zu seiner Gesamtsituation zu versichern. Der akut Schizophrene – dieser Quellen der Sicherheit und der Narrativierungsfähigkeit beraubt, von Halluzinationen heimgesucht, die von den Menschen in seiner Umgebung als illegitim und irreal verworfen werden – lebt in einer Welt, die das genaue Gegenteil der Welt der Leibeigenen des Gottes Marduk und der Idole von Ur verkörpert. Der moderne Schizophrene ist ein Mensch auf der Suche nach jener Art von Kultur. Aber er bewahrt in der Regel noch Anteile des subjektiven Bewußtseins, und diese setzen sich gegen die primitivere Psychoorganisation zur Wehr und versuchen sich die Kontrolle zu sichern inmitten einer Psychoorganisation, in der eigentlich die Halluzinationen die Kontrolle ausüben müßten. Im Ergebnis ist der Schizophrene eine schutzlos ihrer Umwelt preisgegebene Psyche, ein Lakai der Götter in einer entgötterten Welt.
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SECHSTES KAPITEL Die Augurien der Wissenschaft
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so verschiedenen Kapiteln dieses Dritten Buches habe ich mich so gut ich kann zu erklären bemüht, wieso und weshalb bestimmte Züge unserer verhältnismäßig jungen Weltepoche – die sozialen Institutionen des Orakels und der Religion(en), die psychologischen Phänomene Besessenheit, Hypnose und Schizophrenie, die Kunstübungen Musik und Dichtung – teilweise als Relikte einer älteren Organisation der menschlichen Natur zu begreifen sind. Die behandelten Themen ergeben zusammen keineswegs den vollständigen Katalog der möglichen Verlängerungen unserer früheren Mentalität in die Gegenwart: Sie sind bloß eine Auswahl von besonders augenfälligen Beispielen daraus. Und das Studium von deren Wechselbeziehungen zum Bewußtsein, das ihnen mit fortschreitender Entfaltung stets mehr Terrain streitig macht, verhilft uns zu originären Einsichten, auf die wir sonst verzichten müßten. In diesem abschließenden Kapitel nun möchte ich mich der Wissenschaft selbst zuwenden und verdeutlichen, warum auch sie – wie übrigens auch mein ganzes Buch – als eine Reaktion auf den Zusammenbruch der bikameralen Psyche interpretiert werden kann. Denn worin besteht das Wesen dieses Mit-Gewißheit-gesegnet-Werdens, um das die «Natur»-Wissenschaft mit ihrem Gegenstand so inbrünstig ringt wie der biblische Jakob mit dem Unbekannten? Wie kommen wir auf die Idee, vom Universum zu verlangen, daß es sich uns verständlich macht? Was scheren wir uns überhaupt um dergleichen? Wir wollen uns nichts vormachen: Zu einem gewissen Teil ist der wissenschaftliche Erkenntnisdrang nichts weiter als pure Neugier – die Lust, noch nie Gefaßtes zu fassen, noch nie Beobachtetes zu beobachten. Wir sind allesamt Kinder in fremder Umgebung. Es ist gewiß nicht die Reaktion auf den VerN DEN INHALTLICH
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lust unserer früheren Mentalität, wenn wir aus dem Häuschen geraten vor Entzücken über die Enthüllungen des Elektronenmikroskops oder solche Dinge wie Quarks oder die Antigravitation von Schwarzen Löchern am Sternenhimmel. Die Technologie ist der zweite und noch mächtigere Impulsgeber für das Wissenschaftsritual: Mit ihrer stets wachsenden, unkontrollierbaren Eigendynamik sorgt sie zugleich für den Weitertransport ihrer naturwissenschaftlichen Basis durch die Geschichte. Und vielleicht steuert zudem noch eine tief in der Menschennatur verankerte aptische Struktur für die Jagd, eine Veranlagung, Probleme aufzuscheuchen und zu stellen wie ein Wild, das Ihre an treibender Kraft zur Jagd nach der Wahrheit mit bei. Doch hinter diesen wie manch anderen Existenzgründen der Wissenschaft und über sie hinaus ist da noch etwas anderes am Werk, etwas Universelleres, wovon in unserem Zeitalter der Spezialisierung höchst selten noch die Rede ist. Etwas, bei dem es darum geht, die Totalität des Seienden, das innerste Wesen alles Wirklichen, den Kosmos und die Stellung des Menschen darin zu begreifen. Da wird zwischen den Sternen nach abschließenden Antworten auf letzte Fragen gefischt, da wird das unendlich Kleine nach dem unendlich Allgemeinen durchstreift, da ist eine Pilgerfahrt im Gange, die immer tiefer und tiefer ins Unbekannte führt. Eine Pilgerfahrt, deren weit zurückliegender Ausgangspunkt sich durch die Nebelschleier der Geschichte hindurch eben noch ausmachen läßt in der Suche nach den verlorenen Direktiven, wie sie vom Zusammenbruch der bikameralen Psyche in die Wege geleitet wurde. Augenfällig wird diese Suche in der assyrischen Omenliteratur, mit der – wie wir im Vierten Kapitel des Zweiten Buches sahen – die Wissenschaft anhebt. Nicht minder augenfällig wird sie ein bloßes halbes Jahrtausend später in der griechischen Kultur, wenn Pythagoras die entschwundenen Invarianten des Lebens in einer Theologie der göttlichen Zahlen und ihrer Relationen dingfest zu machen sucht und damit die Mathematik begründet. Und das geht ohne Wandel in den Motiven über zwei Jahrtausende hin weiter, bis Galilei die
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Mathematik als die Sprache Gottes bezeichnet und Pascal und Leibniz, das Stichwort aufnehmend, in der ehrfurchtgebietenden Ordnung der Mathematik die Stimme Gottes zu vernehmen meinen. Wir haben uns die Vorstellung gebildet – und finden mitunter sogar eine Genugtuung darin –, daß jene beiden Bestrebungen, die den größten Einfluß auf die Menschheit ausübten, die Religion und die Wissenschaft, seit jeher Erbfeinde sind, die uns in gegensätzliche Richtungen zu locken suchen. Doch das ist blanker Unsinn, denn hier werden wieder einmal die sprichwörtlichen Äpfel mit den sprichwörtlichen Birnen verglichen. Nicht zwischen Religion und Wissenschaft, sondern zwischen Kirche und Wissenschaft tobte der Streit. Und der Anlaß war Konkurrenz, nicht Gegensätzlichkeit. Beide Gegner waren religiöse Instanzen: zwei Riesen, die sich wutschnaubend um ihren Anspruch auf dasselbe Stück Grund und Boden schlugen. Jeder der beiden hatte sich selbst zum einzigen Weg erklärt, der zur göttlichen Offenbarung führe. Es war ein Konkurrenzkampf, der erstmals im ausgehenden Renaissancezeitalter in das volle Rampenlicht der Geschichte rückte, und zwar namentlich mit der Einkerkerung Galileis im Jahr 1633. Als Vorwand dafür wurde geltend gemacht, er habe seine Schriften ohne päpstliche Druckerlaubnis herausgebracht. Aber man darf sicher sein, daß der wahre Grund nicht eine derart belanglose Äußerlichkeit war. Denn die inkriminierten Schriften enthielten nichts weiter als die kopernikanische heliozentrische Theorie des Sonnensystems, die der ermländische Dompropst bereits hundert Jahre zuvor völlig unbeanstandet veröffentlicht hatte. Der wahre Streitpunkt lag tiefer und läßt sich meines Erachtens nur verstehen, wenn man ihn dem drängenden menschlichen Verlangen nach göttlichen Gewißheiten zuordnet. Der wahre Zwiespalt eröffnete sich zwischen der politischen Autorität der Kirche und der Autorität der individuellen Erfahrung. Und worum es in Wahrheit ging, war die Frage, ob wir unsere verlorene Autorisierung wiedergewinnen, indem wir uns den jeweils letzten Gliedern der
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Kette apostolischer Nachfolger der alten Propheten, die noch die göttliche Stimme gehört haben, unterwerfen, oder ob wir nicht besser fahren, wenn wir zu diesem Behufe ohne priesterliche Vermittlung das Himmelreich unserer eigenen Erfahrung hier und jetzt in der objektiven Welt durchforschen. Bekanntlich hat die Entscheidung für die zweite Option zum Protestantismus geführt und unter rationalistischem Vorzeichen zu jener Bewegung, die als «Wissenschaftliche Revolution» in die Geschichte eingegangen ist. Wenn wir die Wissenschaftliche Revolution richtig verstehen wollen, sollten wir niemals vergessen, daß ihre mächtigste Antriebskraft eine beharrliche Suche nach der verborgenen Gottheit war. So gesehen steht sie im Verhältnis der direkten Nachkommenschaft zum Zusammenbruch der bikameralen Psyche. So sind es, um augenfällige Beispiele zu wählen, drei britische Protestanten – Amateurtheologen und glühende «religiosi» allzumal –, die im ausgehenden siebzehnten Jahrhundert die Fundamente für die Wissenschaft von der Physik, der Psychologie und der Biologie legen: der Paranoiker Isaac Newton, der die Sprache Gottes in den erhabenen Universalgesetzen der himmlischen Gravitation vernimmt und ins Schriftbild übersetzt; der asthenische Literat John Locke, der sich der Erkenntnis des «Most Knowing Being» in den Reichtümern der erkennenden Erfahrung versichert; und der Peripatetiker John Ray, ein unkomplizierter Kirchenmann und Kanzelprediger, der sich damit vergnügt, das Wort des Schöpfers in der vollkommenen Ordnung seiner Tier- und Pflanzenwelt abzumalen. Ohne diese religiöse Motivation wäre die Naturwissenschaft reine Technologie geblieben, die sich in einem ausschließlich von wirtschaftlichen Notwendigkeiten diktierten – und entsprechend schneckenhaften – Tempo fortbewegt hätte. Im darauffolgenden Jahrhundert komplizieren sich die Verhältnisse durch den Rationalismus der Aufklärungsbewegung (auf deren hauptsächliche Antriebskraft ich sogleich noch zu sprechen kommen werde). Aber auch im riesenhaften Schatten der Aufklärung verharrte die Wissenschaft im Bann dieser Suche nach göttlicher Urheberschaft. Deren klarster Ausdruck
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war der sogenannte Deismus (in Deutschland als «Vernunftreligion» bezeichnet). Der Deismus warf den Kirchenglauben an das «Wort» über Bord, verspottete Altar und Sakramente und predigte ernsthaft Vernunft und Wissenschaft als Weg zu Gott. Das ganze Universum ist Epiphanie, eine Erscheinung Gottes! Gott ist direkt hier, da draußen in der freien Natur, unterm weiten Sternenhimmel, zu finden und ansprechbar und kommt nicht in dem dunklen Gemurmel kostümierter Priester jenseits der Chorschranke, sondern in der ganzen Herrlichkeit der Vernunft glanzvoll zu Wort. Unter den wissenschaftlichen Deisten herrschte keineswegs universelle Übereinstimmung. Für manche – so zum Beispiel für Hermann Samuel Reimarus, den Begründer der modernen Ethologie und Gegner jeglicher positiven Religion – waren die tierischen «Triebe» in Wahrheit Gedanken Gottes und ihr grenzenloser Variantenreichtum dessen Geist selbst. Für andere hingegen – wie etwa den Physiker Maupertuis – kümmerte Gott sich wenig um etwas so Unbedeutendes wie den Variantenreichtum der Erscheinungen: Er lebte ausschließlich in der reinen Abstraktion, in den großen allgemeinen Naturgesetzen, welche die menschliche Vernunft mittels der subtilen Andachtsübungen der Mathematik hinter all der bunten Erscheinungsvielfalt zu erkennen vermochte.1 Dem prosaischnüchternen, beinhart materialistischen Wissenschaftler von heute dürfte recht unbehaglich zumute werden bei dem Gedanken, daß die Wissenschaft – bei aller vorhandenen Unterschiedlichkeit in Ansatz und Fragerichtung – noch vor zwei Jahrhunderten ein religiöses Unterfangen war, dessen Absicht sich mit der des Psalmisten deckte, nämlich das Bestreben, die elohim erneut «von Angesicht zu Angesicht» zu schauen. In welchem Drama, welchem Mammutspektakel, die Menschheit auf diesem Planeten seit nunmehr viertausend Jahren auf1
Ausführlicher behandle ich diese Zusammenhänge in einem gemeinsam mit William Woodward verfaßten Aufsatz: In the Shadow of the Enlightenment, Journal of the History of the Behavioral Sciences 10/1974, S. 3-15 und 144-159.
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tritt, wird klar, wenn wir unsere Perspektive auf die zentrale Tendenz der Universalgeschichte des Geistes ausdehnen. Im zweiten Jahrtausend v. Chr. begannen die Stimmen der Götter für uns zu verstummen. Im ersten Jahrtausend v. Chr. ging es auch mit denjenigen, die nach wie vor die Stimmen hörten, mit Orakeln und Propheten, dem Ende zu. Im ersten nachchristlichen Jahrtausend ist der Gehorsam gegenüber deren in «heiligen» Schriften überlieferten dicta und audita zugleich auch Gehorsam gegenüber den verschwundenen Gottheiten. Und im zweiten Jahrtausend n. Chr. beginnen diese Schriften ihre Autorität zu verlieren. In der Wissenschaftlichen Revolution wendet die Menschheit sich ab von den alten Sprüchen, um die verlorengegangene Autorisierung in der Natur wiederzufinden. Seit viertausend Jahren befindet sich unsere Spezies im Prozeß allmählicher unaufhaltsamer Profanisierung, Säkularisierung. Und im ausgehenden zweiten Jahrtausend n. Chr. scheint sich dieser Prozeß allen Anzeichen nach seiner Vollendung zu nähern. Die große Ironie des größten und edelsten menschheitsgeschichtlichen Bestrebens auf diesem Planeten liegt darin, daß wir bei unserer Suche nach Autorisierung, beim Entziffern von Gottes Sprache im Buch der Natur, so unmißverständlich zu lesen bekommen, daß wir einem Irrtum aufgesessen sind. Diese Säkularisierung der Wissenschaft, die heute ein offenkundiges Faktum ist, wurzelt, wie vorhin angedeutet, fraglos in der französischen Aufklärung. Handgreiflich ernst wurde es mit ihr jedoch in Deutschland im Jahr 1841 mit dem Freundschaftsbund der vier brillanten jungen Physiologen Emil Du Bois-Reymond, Ernst Brücke (der Lehrer Freuds), Hermann Helmholtz und Carl Ludwig, von denen Helmholtz zweifellos der hervorragendste war. Die vier unterzeichneten das Manifest ihrer «Verschwörung», gleich Piraten, allen Ernstes mit dem eigenen Blut. Des Hegelschen Idealismus und seiner quasireligiösen Interpretation alles Materiellen überdrüssig, waren sie entschlossen, aus ihrer wissenschaftlichen Betrachtung alle Kräfte außer den gewöhnlichen physikalisch-chemi-
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schen auszuklammern: «... [wir] haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemeinen physikalisch-chemischen ...»2 Keine geistigen Wesenheiten. Keine göttliche Substanz. Keine Vitalenergie. Dies war die bislang bündigste und schärfste Formulierung des wissenschaftlichen Materialismus. Und sie hatte enorme Konsequenzen. Fünf Jahre später proklamierte einer aus der Gruppe, der namhafte Physiker und Physiologe Hermann Helmholtz, das Prinzip von der Erhaltung der Energie. James Prescott Joule hatte es in verbindlicherer Form so ausgedrückt, daß «die großen Wirkkräfte der Natur unzerstörbar» seien und daß es ein und dieselbe ewige Energie sei, die im Meer, in der Sonne, in der Kohle, im Gewitter, in der Hitze und im Wind sich auswirke. Helmholtz dagegen verabscheute romantische Schwammigkeit. In seiner vom mathematischen Geist inspirierten Fassung des Energieerhaltungsprinzips hob er vor allem den Punkt hervor, der fortan stets als der wichtigste gelten sollte: daß keine Kräfte von außen in unsere geschlossene Welt der Energieumwandlungen gelangen. Nirgendwo im ganzen Sternenfeld gibt es einen Schlupfwinkel für irgendeinen Gott, nirgendwo in diesem geschlossenen Universum aus reiner Materie eine Ritze, durch die auch nur der kleinste göttliche Einfluß einsickern könnte. Das alles hätte ein bloßes Arbeitsprinzip der Wissenschaft und als solches diskret hinter den Kulissen bleiben können, wäre es nicht unmittelbar darauf zu einer noch verblüffenderen Profanisierung der Idee von einer Beimischung des Heiligen in den menschlichen Angelegenheiten gekommen. Verblüffend vor allem deswegen, weil sie just aus den Reihen der religiös motivierten Wissenschaft lanciert wurde. In Großbritannien diente das Studium der sogenannten Naturgeschichte vom siebzehnten Jahrhundert an dem tröstlichen Vergnügen, die
2
Jugendbriefe von Emil Du Bois-Reymond an Eduard Hallgarten, hg. von Estelle Du Bois-Reymond, Berlin: Dietrich Reiner 1918, S. 108.
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Vollkommenheiten eines gütigen Schöpfers in den Naturwesen wiederzuentdecken. Welch vernichtenderer Schlag hätte diesen zarten Motiven und Tröstungen versetzt werden können als der, daß gleich zwei aus der Mitte ihrer Anhänger, beide Amateur-Naturforscher großen Stils, unabhängig voneinander verkündeten, daß nicht göttlicher Ratschluß, sondern die Evolution all diese Naturwesen hervorgebracht hatte. Auch das war zuvor schon in milderer Form von anderen ausgesprochen worden, so etwa von Charles Darwins Großvater Erasmus Darwin oder von Lamarck und Robert Chambers; ja sogar aus der Naturbegeisterung eines Goethe oder Emerson war es herauszuhören gewesen. Aber jetzt war der Sachverhalt in ein blendend starkes, unbarmherziges Licht getaucht. Der nackte Zufall ohne irgendwelche Berechnung dahinter hatte die menschliche Spezies Generation um Generation blindlings, ja grausam aus der Materie und aus nichts anderem als der Materie geformt, indem er die einen überlebenstauglicher im Daseinskampf und damit reproduktionsfähiger als die anderen machte. Wo diese Theorie von der Evolution durch natürliche Zuchtwahl in Personalunion mit dem deutschen Materialismus vereinigt wurde, wie dies – wir haben es im Einleitungskapitel dieses Buches gesehen – in dem schneidend analytischen Geist eines T. H. Huxley der Fall war, läutete sie all die verklärenden traditionellen Anschauungen vom Menschen als wohldurchdachter Schöpfung Höchster Herrlichkeit, der Elohim, zu Grabe – jene Tradition, die sich in gerader Linie bis in die bewußtseinslosen Tiefen des bikameralen Zeitalters zurückverfolgen läßt. Die Botschaft lautet jetzt in einem Wort: Es gibt keine Autorisierung von draußen. Seht her – da draußen ist nichts! Unsere Handlungsanweisungen müssen wir aus uns selber nehmen. Der König zu ‘Aïn Mallaha mag aufhören, zum Berg Hermon hinüberzustarren: Der tote König darf endlich sterben. Wir – die gebrechliche menschliche Spezies am Ende des zweiten nachchristlichen Jahrtausends – müssen unsere eigene Autorisierung werden. Und hier, am Ende des zweiten und im Übergang zum dritten Jahrtausend, hat uns dieses Problem förmlich eingekreist. Es gehört zu den Aufgaben, die
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das kommende Jahrtausend früher oder später lösen wird – und sei es auch auf dem Wege weiterer Veränderung unserer Mentalität. Der Ausverkauf des religiösen Menschenbilds, wie er im letzten Abschnitt des zweiten Jahrtausends stattfindet, ist noch ein Stück vom Zusammenbruch der bikameralen Psyche. In allen Lebensbereichen bewirkt er allmählich ernst zu nehmende Veränderungen. Im Wettbewerb um neue Mitglieder, wie er heutigentags zwischen den verschiedenen religiösen Vereinigungen ausgetragen wird, sehen sich die Altorthodoxien, die mit ihren Ritualen der langen, aus bikameraler Vergangenheit sich herschreibenden Apostelkette am nächsten stehen, vom logischen Bewußtsein auf die hintersten Plätze verwiesen. Die Neuerungen, die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der katholischen Kirche vorgenommen wurden, folgen dem Schema des Rückzugs vom Heiligen, der mit dem Auftauchen des Bewußtseins in der menschlichen Spezies in Gang gekommen ist. Unter dem Druck der rationalistischen Wissenschaften zerbröckeln die religiösen kollektiven kognitiven Imperative und sind, faktisch an die unablässige Revision der traditionellen theologischen Begriffswelt gefesselt, nicht mehr in der Lage, die tragfähige Grundlage für die metaphorischen Bedeutungen hinter den Ritualen abzugeben. Rituale sind Metaphern im Medium des Verhaltens, sind inszenierte Glaubensinhalte, sind geweissagte Zukunftsweisungen, sind exopsychisches Denken. Rituale sind Mnemotechniken zum Andenken der grandiosen Narrativierungen, die den Dreh- und Angelpunkt des kirchengesteuerten Glaubenslebens bilden. Sind sie erst einmal ihres tiefen Ernstes entkleidet und zu Spontaneitätskulten verwässert und werden sie ohne Gefühlsbeteiligung vollzogen und zum Gegenstand teilnahmslos-objektiver Räsonnements gemacht, so ist damit das Kirchenleben seiner Mitte beraubt und in ungesteuerte zentripetale Bewegung versetzt. Die Ergebnisse sind in unserem Zeitalter der Massenkommunikation weltweit verbreitet: eine in Belanglosigkeiten zerlaufende Liturgie, Verflachung des Ehr-
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furchtsschauders zu «Relevanzbewußtsein» und Aushöhlung der identitätsstiftenden historischen Kategorien, die dem Menschen zudiktierten, was er war und was er sein sollte. Diese kläglichen Anpassungsmaßnahmen – oftmals von bestürzten Kirchenleuten inauguriert3 – bewirken nichts weiter, als die große historische Flutwelle, die sie einzudämmen suchen, noch zu verstärken. Unsere paralogische Willfährigkeit gegenüber sprachlicher Realitätsvermittlung hat abgenommen: Wir stolpern jetzt über die Stühle auf unserem Weg, statt einen Bogen um sie zu machen; wir halten lieber den Mund, als daß wir behaupten, wir verstünden unsere eigene Sprache nicht; und wir lassen uns nicht von dem physikalischen Grundsatz abbringen, daß ein und derselbe Körper sich nicht gleichzeitig an zwei Raumstellen befinden kann. Wir leben mitten in der Göttlichen Tragödie oder der Profanen Komödie – je nachdem, ob es die Auslöschung der Vergangenheit oder die Wegweisung in die Zukunft ist, was wir als hervorstechendsten Zug daran registrieren. Die Begleiterscheinungen dieser modernen Auflösung der kirchlichen Autorisierungsmacht erinnern von fern an das, was sich, vor langer Zeit, nach dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche selber zutrug. Allenthalben florieren in der Welt der Gegenwart Ersatzreligionen und Alternativverfahren, Autorisierung zu erlangen. Zum Teil bestehen sie in der Wiederbelebung uralter Vorläuferpraktiken: man denke an die Popularität von Besessenheitskulten in Südamerika, wo die Kirche einmal eine solche Vormachtstellung innegehabt hatte; an den – im Verhältnis des Einzel-Ichs zum «Geist» gründenden – extremen religiösen Absolutismus, der genau besehen das Avan3
Die Theologen sind sich über diese Probleme durchaus im klaren. Wer einen Einstieg in ihre diesbezüglichen Diskussionen sucht, beginnt am besten mit Harvey Cox’ The Secular City, Mary Douglas’ Natural Symbols und Charles Davis’ Aufsatz «Ghetto or Desert: Liturgy in a Cultural Dilemma» (Worship and Secularization, hg. von Wiebe, Vos/Holland: Bussum 1970, S. 10-17), um dann mit James Hitchcocks The Recovery of the Sacred (New York: Seabury Press 1974) fortzufahren.
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cement des Paulus in die religiöse Führungsposition vor Jesus bedeutet; an die alarmierende Zunahme der ernsthaften Beschäftigung mit der Astrologie, jener direkten Erbschaft aus der Periode des Zusammenbruchs der bikameralen Psyche im Vorderen Orient; oder an die nicht ganz so bedeutende Praxis des Orakulierens anhand des Buchs «I Ching», das seinerseits ein direktes Erbstück aus der Periode unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Bikameralität in China ist. Dann sind da noch – mit gewaltigen kommerziellen und mitunter auch psychologischen Erfolgen – alle möglichen Meditations-, Sensitivity Training-, Mind Control- und Encounter-Gruppen-Praktiken. Andere Strömungen scheinen sich häufig dem Bemühen zu verdanken, einer neuen Langeweile der Ungläubigkeit zu entfliehen, zeugen jedoch ebenfalls von dieser Suche nach Autorisierung: man glaubt an die verschiedensten Pseudowissenschaften – wie zum Beispiel in der Scientology Church – oder an UFOs als Autoritätsträger aus fernen Bereichen des Universums oder daran, daß die Götter einst selber solche Kosmonauten waren; man vergräbt sich hartnäckig in ein wirrköpfiges Interesse für «außersinnliche Wahrnehmung», die angeblich den Beweis erbringt, daß unser Leben in spirituelle Zusammenhänge eingebunden ist, von denen wir uns eine gewisse Autorisierung erwarten dürfen; oder man sucht auf dem Weg über psychedelische Drogen den Kontakt mit einer anderen, tieferen Wirklichkeit, wie dies seinerzeit, beim Zusammenbruch ihrer Bikameralität, auch die meisten amerikanischen Indianerkulturen praktiziert hatten. Ebenso wie der Verfall des institutionalisierten Orakulierens zur Pflege der induzierten Besessenheit in kleineren Kulten führte, ruft auch der gegenwärtige Niedergang der institutionellen Religionen kleinere, privatere Kultübungen jeglicher Couleur auf den Plan. Und dieser historische Prozeß dürfte sich bis zum Ende des Jahrhunderts noch verstärken. Man kann auch nicht behaupten, daß in der modernen Wissenschaft selber vergleichbare Strukturen gänzlich fehlen. Denn die intellektuelle Landschaft der Moderne ist geprägt von
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den gleichen Bedürfnissen, und häufig begegnet man dort in groben Umrissen dem gleichen quasireligiösen Zeremoniell, sei’s auch in leicht verschleierter Form. Bei den fraglichen «Szientismen» – wie ich sie nennen möchte – handelt es sich jeweils um ein Ensemble von wissenschaftlichen Ideen, die, nachdem sie zusammengefunden hatten, fast möchte man sagen: vor lauter Überraschung und Freude über sich selber zu Glaubensartikeln und einer wissenschaftlichen Mythologie wurden und die empfindliche Leerstelle tilgten, die das Auseinanderrücken von Religion und Wissenschaft in unserer Zeit geschaffen hatte.4 Von der klassischen Wissenschaft und ihren allgemeinen Debatten unterscheiden sich die Szientismen nicht zuletzt dadurch, daß sie bei ihren Adressaten auf die gleichen Reaktionen hinwirken wie die Religionen, die sie zu entmachten suchen. Im übrigen haben sie mit den Religionen viele ihrer hervorstechendsten Merkmale gemein: eine argumentative Brillanz, die alles zu erklären weiß; einen charismatischen Führer oder eine Folge solcher Führer, die eine überragende Position im allgemeinen Aufmerksamkeitsfeld einnehmen und jeglicher Kritik entzogen sind; eine Sammlung kanonischer Texte, die aus unerfindlichen Gründen davon dispensiert sind, sich vor dem allgemeinen Forum der wissenschaftlichen Kritik behaupten zu müssen; charakteristische Denkfiguren und Interpretationsrituale sowie die Forderung nach bedingungsloser Gefolgschaft. Seinerseits findet der gläubige Adept hier, was die Religionen einst in universellerem Maßstab zu bieten hatten: ein geschlossenes Weltbild, eine Werthierarchie sowie Augurien und Auspizien, die darüber belehren, wie man denken und handeln soll, kurzum: eine Totalerklärung des Menschen. Die Totalität wird freilich nicht dadurch erreicht, daß tatsächlich alles und jedes erklärt würde, sondern durch die Einengung des Erklärungsbereichs, die radikale und bedingungslose Verkürzung des Aufmerksamkeits4
Von «Mythologien» sprach George Steiner in seiner prägnanten Massey-Vorlesung (1974), in der er auf das Problem ausführlicher einging.
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radius, dergestalt, daß alles, was nicht im Erklärungsbereich liegt, auch gar nicht erst ins Blickfeld tritt. Der Materialismus, von dem ich weiter oben gesprochen habe, war einer der ersten von diesen Szientismen. Wissenschaftler gerieten fast in Taumel vor Erregung, als um die Mitte des vorigen Jahrhunderts spektakuläre Entdeckungen über den Zusammenhang zwischen der Ernährung und der körperlichen wie geistigen Befindlichkeit des Menschen gemacht wurden. Der Medizinische Materialismus kam auf, eine Bewegung, die sich mit der Befreiung von Armut und Leid gleichsetzte und einen Teil der Formen, doch ungeteilt den Eifer der ringsum absterbenden Religiosität annahm. Der Medizinische Materialismus bemächtigte sich der interessantesten Geister seiner Zeit, und was er als Programm zu bieten hatte, kommt uns noch heute irgendwie vertraut vor: Bildung statt Beten, gesunde Ernährung statt heiliger Kommunion, Arznei statt Liebe und Politik statt Predigten. «Irgendwie vertraut», weil der Medizinische Materialismus, in dem noch der Geist Hegels spukte, sich mit Marx und Engels zum Dialektischen Materialismus mauserte, der dann noch mehr vom Formenwesen der verschlissenen Kirchengläubigkeit seiner Umwelt in sich aufnahm. Sein zentraler Aberglaube damals wie heute ist die Theorie des Klassenkampfs, eine Art Mantik, die eine Totalerklärung der Vergangenheit liefert und die «richtige» Verhaltensweise für jede erdenkliche Lebenslage vorausbestimmt. Und obgleich die faktische Existenz von Volkstumsbewegungen, Nationalismen und Gewerkschaftsorganisationen – dieser Schibboleths der modernen Kollektividentität – das Klassenkampfkonzept schon vor langer Zeit unter die Mythologeme verwiesen hat, führt der Marxismus noch heute Armeen von Millionen ins Treffen, um die seit Menschengedenken autoritärsten Staatswesen zu errichten. Der hervorstechendste Szientismus im medizinischen Bereich ist nach meiner Einschätzung die Psychoanalyse. Ihr zentraler Aberglaube liegt in der Idee von der unterdrückten kindlichen Sexualität. Eine Handvoll Fälle von Hysterie aus der Pionierzeit der Bewegung, die sich in diesem Sinne inter-
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pretieren ließen, avancierten zu Metaphoratoren, kraft deren nun das Wesen aller Persönlichkeit und Kunst, aller Kultur und allen Unbehagens in der Kultur verständlich gemacht wurde. Und wie der Marxismus fordert die Psychoanalyse von ihren Anhängern uneingeschränkte Gefolgschaft, ein andächtiges Verhältnis zu ihren kanonischen Texten und das Absolvieren einer Initiationsprozedur; als Gegengabe spendet sie die gleichen Entscheidungshilfen und Handreichungen in Fragen der Lebensführung, die vor wenigen Jahrhunderten noch die Domäne der Religion waren. Um schließlich auch ein Beispiel anzuführen, das meinem eigenen Traditionshintergrund näher steht, möchte ich noch den Behaviorismus erwähnen. Denn auch der Behaviorismus macht aus einer Handvoll Experimente mit Tauben und Ratten sein zentrales Augurium, indem er sie als Metaphoratoren für jegliches Verhalten und die gesamte Geschichte benutzt. Auch er händigt jedem seiner Anhänger mit dem Konzept der Verhaltenssteuerung durch verstärkende Begleitumstände einen Talisman aus, der die ganze Welt mit all ihren Kapricen und Schnörkeln seinem Verständnis offenlegt. Mag auch jene radikalisierte Milieutheorie, die hinter dem Behaviorismus steckt – die Vorstellung vom Organismus als einer Art Tabula rasa, der sich mittels Verstärkung jeder beliebige Inhalt einprägen lasse –, angesichts der biologisch entwickelten aptischen Strukturen jedes Organismus schon längst ihrer Fragwürdigkeit überführt sein, so findet diese Denkweise doch immer wieder Anhänger, die von einer neuen, in dieser Art Verhaltenssteuerung gründenden Gesellschaftsform träumen. Es ist unbestreitbar, daß diese «Humanszientismen» (wenn man sie in Analogie zu dem Ausdruck «Humanwissenschaften» so nennen darf) jeweils von wahren Sachverhalten ausgehen. Wahr ist, daß körperliche wie geistige Gesundheit durch zweckentsprechende Ernährung verbessert werden kann. Der Klassenkampf, wie Marx ihn im französischen Zweiten Kaiserreich studierte, war ein Faktum. Sehr wahrscheinlich ist es tatsächlich vorgekommen, daß Patientinnen mit hysterischen Symptomen nach der Analyse ihrer sexuellen Erinnerungen
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von diesen Symptomen befreit waren. Und fraglos eignen sich hungrige Tiere und ängstliche Menschen auf dem Weg des instrumentellen Lernens Reaktionsweisen an, die ihnen Futter oder Beifall einbringen. Das alles sind unleugbare Fakten. Aber ein ebenso unleugbares Faktum ist auch die Leber eines Opfertiers. Und ebenso sind auch die Aszendenten und Himmelsmeridiane der Astrologen oder die Form einer Öllache auf einem Wasserspiegel unleugbare Fakten. In Aberglauben schlagen die Fakten um, sobald sie in praktischer Anwendung auf die Welt als Repräsentanten der Welt im ganzen behandelt werden. Ein Aberglaube ist ja letzten Endes nichts anderes als ein zur Stillung eines Wissensbedürfnisses übersteuerter Metaphorator. Wie das Tiereingeweide oder der Vogelflug wird ein wissenschaftlicher Aberglaube zum rituell umhegten Ort, wo wir Vergangenheit und Zukunft des Menschen entziffern und die Antworten finden können, die unser Handeln zu autorisieren vermögen. All ihrem Pochen auf das Faktische zum Trotz ist also die Wissenschaft zuweilen von den zungenfertig abqualifizierten Auswüchsen der Pseudoreligiosität gar nicht so weit entfernt. In der Periode der Ablösung von ihrer religiösen Basis, in der wir sie gegenwärtig erleben, kongruiert sie in ihrer Sehnsucht nach der Letztgültigen Antwort, der Einen Wahrheit, der Einzigen Ursache häufig mit den Himmelskarten der Astrologie und hundert anderen Irrationalismen. Mühsale und Enttäuschungen der Laboratoriumsarbeit machen sie anfällig für die Verlockungen der Abgötterei, und sie beginnt den Habiru auf ihrem Wanderzug zu gleichen, wenn sie sich in der Trockenwüste der beinharten Fakten auch einmal nach irgendwelchen satten und prallen Bedeutsamkeiten umtut, aus denen sie reichlich Wahrheit und Entzücken saugen kann. Und das Ganze mit allem Drum und Dran – einschließlich meiner Metapher – gehört mit hinein in den Kontext der gegenwärtigen Übergangsperiode, deren Beginn auf den Zusammenbruch der bikameralen Psyche datiert. Und nicht weniger mit hinein in diesen Kontext gehört auch das ganze vorliegende Buch.
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Merkwürdigerweise verrät uns keine dieser zeitgenössischen Denkströmungen irgend etwas darüber, wie es mit uns voraussichtlich bestellt sein wird, wenn erst einmal alle Ungereimtheiten unserer Ernährungsweise abgestellt sind oder das «Absterben des Staates» eingetreten ist oder unsere Libidobesetzungen alle so verteilt sind, wie sie sein sollen, oder Ordnung in das Chaos der Verstärkungen gebracht ist. Vielmehr geben sie sich meistenteils rückwärtsorientiert, klären uns darüber auf, was in der Vergangenheit schiefgelaufen ist und lassen dabei irgendeinen kosmischen Makel, irgendeine Verkümmerung unseres ursprünglichen Potentials mit anklingen. Darin entdecke ich ein weiteres Merkmal des religiösen Schematismus, den sich diese Denkströmungen in dem von den schwindenden kirchlichen Gewißheiten hinterlassenen Vakuum angeeignet haben – nämlich das Vorstellungsschema von einem ursprünglichen Fall des Menschen. Diese kuriose und, wie ich meine, täuschende Phantasie von einer verlorengegangenen Unschuld hat ihren Ausgangspunkt nirgendwo anders als im Zusammenbruch der bikameralen Psyche: Es ist die erste vom Bewußtsein geschaffene große Narrativierung der Menschheitsgeschichte. Man begegnet ihr in assyrischen Psalmen und hebräischen Klageliedern, im Mythos von der Vertreibung aus dem Garten Eden wie in den anderen Geschichten von einem Ur-Fall des Menschen aus der Gunst Gottes, den die großen Weltreligionen als ihr treibendes Motiv voraussetzen. Nach meiner Deutung handelt es sich dabei um den ersten, tastenden Versuch einer seit neuestem mit Bewußtsein ausgestatteten Menschheit, zu narrativieren, was ihr widerfahren ist: das Verschwinden der göttlichen Stimmen und Sicherheiten hinter einem Chaos menschengemachter Direktiven und egozentrischer Partikularismen. Das Thema vom verlorenen Glanz und von der verlorenen Gewißheit finden wir nicht nur in allen Religionen der Menschheit, sondern immer wieder auch in der profanen Geistesgeschichte angeschlagen. Es bleibt virulent von der platonischen Anamnesis-Lehre – derzufolge alles Neue lediglich die Wiedererinnerung einer verlorengegangenen besseren Wirklich-
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keit ist – bis hin zu Rousseaus Klage über die Verderbnis der ursprünglichen Menschennatur durch die Künstlichkeiten der Kultur. Und wir begegnen ihm auch in den erwähnten modernen Szientismen wieder, so etwa in Marx’ – in den «Ökonomisch-philosophischen Manuskripten» von 1844 deutlich formulierter – Annahme eines sozialen Kindheitszustands der Menschheit, in dem sich das Menschenwesen in vollkommener Schönheit entfaltet; einer späterhin durch das Geld korrumpierten Unschuld; eines wiederzugewinnenden paradiesischen Zustands. Oder in Freuds Insistieren auf die tiefreichende Verwurzelung der Neurose in der Kultur, auf in der Vergangenheit der menschlichen Rasse wie des Individuums angesiedelte grauenhafte Ur-Taten und Ur-Wünsche und damit indirekt auf eine vorausgegangene (ansonsten durchaus im unklaren belassene) Unschuld, zu der wir kraft Psychoanalyse zurückkehren. Oder – wenngleich in weniger klarer Form – auch im Behaviorismus, wo der unverbürgte Glauben genährt wird, man müsse die chaotischen Verstärkungen von individueller Entwicklung und Gesellschaftsprozeß unter Kontrolle und in eine geregelte Ordnung bringen, damit der Mensch zu dem (ansonsten durchaus im unklaren belassenen) Idealzustand zurückkehre, in dem er sich befunden hatte, bevor jene Verstärkungen seine wahre Natur entstellten. Darum betrachte ich diese (wie außer ihnen noch zahlreiche andere) zeitgenössischen Denkströmungen als ebenso viele Reprisen und Variationen eines allumfassenden, im Zusammenhang mit dem Verlust einer älteren Organisation der Menschennatur stehenden Grundmotivs unserer Zivilisation. Es sind allesamt Versuche, etwas Entschwundenes wiederzubringen – wie die Dichter die abwesenden Musen wieder herbeizubeschwören versuchen – und als solche charakteristisch für die Übergangsjahrtausende, die unser historisches Umfeld bilden. Mit alldem will ich nicht sagen, daß der einzelne Denker – ob Galilei oder Marx, ob Leser oder Autor dieser Zeilen – so desolaten Wesens sein könnte, daß er in bewußter, klarer
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Absicht, sei’s nach den göttlichen Absolutheiten, sei’s nach einer vorbewußten Unschuld strebt. Derlei Ausdrücke sind, aus dem großen historischen Kontext herausgelöst und auf Einzelexistenzen angewandt, bedeutungsleer. Erst wenn wir in den Generationsfolgen unser «Subjekt» erkennen und dessen Lebensstunden in Jahrhunderten messen, tritt das Strukturschema unverhüllt hervor. Als Individuen sind wir auf Gnade oder Ungnade unseren jeweiligen kollektiven Imperativen ausgeliefert. Durch den Spiegel unserer Alltagsinteressen – unseres Gärtchens und unserer Anteilnahme am politischen Geschehen und unserer Kinder – sehen wir die Formen unserer Kultur wie im Rätsel. Und unsere Kultur ist unsere Geschichte. Bei unseren Versuchen, mit anderen zu kommunizieren, sie zu überzeugen oder einfach nur ihr Interesse zu gewinnen, bedienen wir uns kultureller Modelle, bewegen wir uns zwischen kulturellen Modellen, unter deren Varianten wir zwar eine Auswahl treffen, deren Totalität wir uns jedoch nicht entziehen können. Und eben in dieser Appellfunktion – in ihrer Art und Weise, Hoffnungen, Interesse, Anerkennung oder Beifall für uns selbst oder unsere Ideen zu erwecken – werden unsere Mitteilungen in diese historischen Schemata, diese Matrizen des Überzeugens gegossen, die bereits im Akt des Mitteilens selbst zum integralen Bestandteil der Mitteilung werden. Und das vorliegende Buch bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Absolut keine Ausnahme. Es begann mit etwas, das sich in meinen persönlichen Narrativierungen als individuelle Wahl eines Problems darstellte, das mich dann die meiste Zeit meines Lebens in Atem hielt: die Frage nach dem Wie und Was und Woher dieses ganzen unsichtbaren Reichs körperloser Erinnerungen und niemandem vorzeigbarer Träumereien, dieses inneren Universums, das mehr mein Selbst ist als alles, was mir der Spiegel zeigen kann. Aber war dieser Drang, zur Quelle des Bewußtseins vorzudringen, das, als was er sich mir darstellte? Das Konzept der Wahrheit selbst ist eine kulturell gesetzte Orientierung, gehört mit zu jener allgegenwärtigen Sehnsucht nach einer vorzeitlichen Gewißheit. Die schiere Vorstellung
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von universeller Stabilität, ewigwährender Prinzipiensicherheit da draußen, nach der man die Welt durchjagen kann, wie etwa ein Ritter der Tafelrunde dem Gral hinterhergejagt sein mochte, enthüllt sich in geschichtsmorphologischer Betrachtung als unmittelbarer Ableger jener Suche nach den verlorenen Göttern, die die ersten zwei Jahrtausende nach der Zersetzung der bikameralen Psyche beherrschte. Was damals die Augurienschau zwecks Gewinnung von Handlungsorientierung in den Trümmern der archaischen Mentalität gewesen ist, ist heute die Suche nach dem Unschuldszustand der Gewißheit in den Mythologien des Faktischen. ***