ERNST KAPP
DER URSPRUNG DER LOGIK BEI DEN GRIECHEN
VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN
Ernst Kapp Geb. 21.1.1888, promovierte 1912 in Freiburg mit einer Dissertation über 11 Das Verhältnis der Eudemischen zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles", habilitierte sich 1920 in München mit einer Arbeit über die 11 Kategorienlehre in der Topik". 1927 Berufung auf den Lehrstuhl für Griechische Sprache und Literatur in Hamburg. Wanderte 1939 nach den USA aus, dort seit 1941 an der Columbia University tätig; hier 1948 zum Professor of Greek and Latin ernannt. 1955 Rückkehr nach Deutschland, zunächst nach Harnburg, 1959 nach München. Außer kürzeren streng
fachwissenschaftliehen Arbeiten von allgemeinerem Interesse 'das Buch 11 Greek Foundations Traditional Logic", 1942, Columbia University Press, New York.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von EUsabeth SerelmanKüchler mit Genehmigung der Columbia University Press, New York. Titel des Originals: Greek Foundations of Traditional Logic Kleine V 11ndenhoedc-Reihe 214/216
Umsmlag: lrmgard Suckstorff.- Deutsche Übersetzung Vandenhoeck &: Ruprecht, Göttingen~..._-;- Printed in Germany. Ohne ausdr!ickllche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. - Gesamtherstellung: Hubert &: Co., Göttingen 8361
VORWORT Die fünf Kapitel dieses kLeinen Buches geben das Manuskript einer Reihe von fünfVorlesungen wieder, die ich an derColumbi.a UI1!i.vel1Sität aJUf Einladung des Depalitment of Philosophy und des Department of Greek and Latin ·~ehalten habe. Es war nicht nur dWeser besondere Anlaß, der mich den Ve11such wagen ließ, das Thema so zu behandeln, .daß nichts von a'USschließlich philologischem oder ausschließLich philosophiischem Interes.s-e berührt wurde. Dre Logik der Antike geht beide Departments gLeichermaßen an, und in der Beschäftigung mit ili.r muß der Logrlker das Risiko eines philologischen Dilettantismus auf sich nehmen, während der phüologi:sch geschulte Deuter von Plato und Aristoteles das vielleicht noch ärgere Risdko läuft, sich als Dilettant in Eragen der Logik zu erweisen. Es wäre von jedem der beiden Beteiligten tör,icht, .die Hilfe des anderen weder zu erhoffen noch, wenn sie angeboten wird, dankbar anzunehmen. Aber wenn ·ein Gedankenaustausch ohne Zeitverlust stattfinden soll, muß jeder bel'eit sein, einen Großteil seines ·eigenen nie vollendeten Anlilegens beiseite zu lassen. Das heißt nicht, daß man sich zu~sten eines gegenseitigen Gedaatkenaustauschs und einer guten Zusammenarbeit auf unbestllitt:ene Aussagen beschränken !Soll; täte man dies, so würoe auf dem Gebiet der an!Wken Logik wenig Wissenswertes übrigbleiben. Aber die diskutierten P.robleme ll.tnd d~e Fo:rm der Dilskuss.ion dürren ndcht so beschaffen .sein, daß sie nur Speztalisten auf dem einen oder dem anderen Gebiet verständlich sä.nd. Da ·die Auswahl der Problem-e und Einschränkung im Aufzeigen von Einzelheiten für einen solchen VerSIUch wesentlich sind, habe ich am Text meiner VorLesungen nur geringfügige Ände-· run~ vorgenommen und nur einige gelegentliche Anmerkungen hinzugefügt. AuS!Sparungen in der Behan.d1ung des Themas waren zwangsläufig teilweise Willkürlich oder sogar 3
zufällig- aber nicht alle-, und in dies·em Vorwort sollte vielleicht Erwähnung finden, was mit Absicht unberührt gebLieben ist. Es scheint, als ob von der Logik mit Sichenheit "gesagt werden kann, sie sei abstrakter, allg~emeiner und formaler als illgendeine andere Wissenschaft, mit Aus.nahme vielleicht der ·reinen Mathemaflik"l; wenngleich eine weitgehende MeinungJSverschiedenheit darüber besteht, ob es eine abschließende Leistung2 oder vielmehr eine Abweichung von der wahren Natur des Gegenstandes .ist, daß "logtsche Formen als nur formal behandelt werden" 3 • Was j.etzt "formale Logik" genannt wird, geht in der Hauptsache und Letztlich rurück auf dte .abstrakte Behandlung .syllogilstiJScher Formen in Aristoteles' Analytica priora, niCht auf die Analytica posteriora, die, als des Artstoteles Behandlung wds:Senschaftlicher Beweisführung, s·elbstV'erständlich riJn Verhindung zu den damals bestehenden Wissenschaften, besondeiiS den mathematischen, gebracht wird. Nun scheint es natürlich, anzunehmen - und überdies erweckt es in Gegnern der traditionellen Weiterführung aristote&cher Logik ein Gefühl der Großmut -, daß die aristotelische Logik mit den wilssenschaftlichen und kulturellen Normen ihrer Zeit auf die gleiche Weise verbunden war, wie die moderne Logik den Normen unserer Zeit ve11haftet ist. Wer geneigt ist, diese Verbindung als eine wesentldche oder zum.itndest genetische Abhängigkeit des "Abstrakteren, Allg~emeineren, Formaleren" von dem weniger Abstrakten, weniger Allgemeinen, weniger Formalen aufzufassen, der wird versucht •sein, die Analytica priora im Zusammenhang mit den Analytica posteriora und den außerlogischen Werken des AI'istobeLes, oder mit der Philo-sophie Platos, oder sogar mit der Gesamtheit griecruscher W,:iJss.enschaft und KulbU.r zu interpretieren. Zahlreiche verschiedene Versuche sind unternommen worden, um den abstrakten Aspekt der syllogistischen Formen des Aristoteles als den "formaleren" (legitimen oder illegibimen) Sprößli.ng von etwas wend.ger FormaLem und mehr Inhaltlichem zu erklären; und von diesem 1 Keynes, Formal Logic, 4. Ausgabe, S.
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Julius Stenze! in Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie, Stichwort Logik, Bd. XIII;Sp. 992: "die abschließenden Leistungen griechischer Abstraktion"; vgl. meine Bemerkungen ebd., Stichwort Syllogistik, Bd. IV A, Sp. 1051 und 1066. 3 Dewey, Logic, S. 94. 2
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Gesichtspunkt aus wä11e das Mi:ndeste, was man von jegLicher allgemeinen Untersuchung antiker Logik erwarten könnte, eine lückenlose Erörterung der Beziehungen zwischen acistoteHscher Logik und zeitgenössischer Wissenschaft, so wie s1e sich in den Analytica posteriora darstellt. Ich bin weit davon entfernt, die Bedeutung und Dringlichkeit einer solchen Erörterung zu unterschätzen 4; aber ich bin über.zeugt, daß Erwägungen der Art, wie ich -sie anzustelLen vorschlage, den Vorrang haben sollten. Sie werden, so hoffe ich, für sich ·selbst sprechen; aber wenn ich es abLehne, als Ausgangspunkt die jetzt fast allgemeingültige Meinung zu akzeptieren, daß man an die at1istotelische Logik von der inhaltlichen und nkht von der formalen Seite herangehen müsse, so mag ·es wünschenswert sein festzustellen, daß d1!e Schriften des Aristoteles nicht einen einzigen Abschnitt enthalten, der eine solche Methode begünstigen würde, und daß von seinem ·eilgenen theoret1schen und systematischen Standpunkt aus Aristoteles skh ausdrücklich zum Ge~enteil bekannte: "Der Schluß sollte vor dem BeweiiS erörtert werden, denn der Schluß ist das Allgemeinelle: der Beweis ist e1ne Art Schluß, aber nicht jeder Schluß ~st ein Beweis" (Analytica priora zsb ZB-31)5. Im Verlauf dieser Kapitel werde ich gewisse Züge der antiken Logik gewissen Zügen der "traditionellen" Logik oder dem Für die hiermit .zusammenhängenden Probleme siehe: Friedrich Solmsen, Die Entwicklung der aristotelischen Logik und Rhetorik, Berlin 1929 (Neue Philologische Untersuchungen IV); Friedrich Solmsen, Platos Einfluß auf die Bildung der mathematischen Methode, Studien .zur Geschichte der Mathematik I, S. 93ff.; Kurt von Fritz, Platon, Theatet und die antike Mathematik, Philologus 87 (1932), S. 40ff. 136ff.; einige Abschnitte in meinem Artikel Syllogistik, in Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie, Bd. IV A; W. D. Ross, The Discovery of the Syllogism, Philosophkai Review 48, (1939), 5. 251ff.; Friedrich Solmsen, The Discovery of the Syllogism, Philosophical Review 50, (1941), 5. 410 ff. 5 Prantls Geschichte der Logik im Abendlande war ein groß angelegter Versuch, die theoretische Verantwortung für die "formale" Logik dem Aristoteles abzunehmen und die Schuld daran der späteren historischen Entwicklung zuzuschieben. Aber bei allem schuldigen Respekt vor dieser ungeheuren Anstrengung und vor jedem Gelehrten, der, bewußt oder unbewußt, noch von ihr beeinflußt sein mag, muß gesagt werden, daß die dort aufgestellte Behauptung dem Tatbestand klar widerspricht.
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traditionellen Element in anderen Typen der modernen Lo~k gegenüberzustellen haben; hoffentlich entschuldigt d!Les den verhältnismäßig umfangrci!Chen, aber unmethodischen Gebrauch, den kh ·in einem kleinen Buch von Zitaten aus mehr oder minder modernen Alutoren gemacht habe 6• Wie &ehr ich Cohen U11Jd Nagels Introduction to Logic and Scientific Method, die ich als hervorragende Darstellung der An;schauungen moder.ner Logik im allgemeinen zu Rate gezogen habe, verpflichtet bin, muß ei~ens erwähnt werden; es bedarf gewill keiner Rechtfertigung. Zd.tate aus klassischen Autoren, vor allem Plato und Ailiistoteles, werden natürlrich in Übemetzung gegeben. Es erschdlen ~boten, ·sich so weit wie möglich an Jowetts übersetzung der Dialoge Platos und die neue OxfordObersebzut1Jg von Acistoteles' Werken zu halten7. Jedte Abweichung von dies·en Texten ist ·in den Anmerklungen erwähnt, und dch habe dre Arbeit des übersel:zel1S nur .in den Fällen kommentiert, die medri ·spezielles Thema unmittelbaT berühren. Die VeröffentLi.chung .dieses Buches dn den "Columhi:a Stu.dies in Philosophy" wurde in einem Geiste der GastfDeundschaft ermöglicht, für den ~eh allen BebeiJ.igten aufrichtig darikbar bin. Mein besonderer Dank gli.lt den Pmfessoren Clinton W. Keyes, Emest Na~ und John H. Randall, die nach der Lektüre meines Manuskripts hilfreiche Kritik beigesteuer.t ha1ben. Zutiefst verpflichllet bin ich auch der "Columbia University Press" 11md ihrem .AJSsrustant Editor, Miss Ida M. Lynn, deren Anre~gten bei der Drucklegung des Manuskripts übe11aus wertvoll waren. New York, 16. J.uni 1942
Ernst Kapp
Ein Verzeichnis der erwähnten Bücher befindet sich auf S. 104. Ich muß dankbar anerkennen, daß Harcourt, Brace u. Co. lnc., Verleger von An Introduction to Logic and Scientific Method von M. R. Cohen und E. Nagel, Thomas Y. Crowell Company, Verleger von Humanistic Logic for the Mind in Action von P. Reiser, und Prentice Hall, Inc., Verleger von Logic in Theory and Practice von C. G. Shaw, mir freundlich den Gebrauch bestimmter Zitate erlaubten. 7 The Works of Aristotle, ins Englil;che übertragen, hrsg. von W. D. Ross, Oxford 1908-1931. 6
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I. KAPITEL
Der Ursprung der Logik als Wissenschaft Es ist eine alte Geschichte, daß die historischen Gnmdla~ der traditionellen Logik im alten Griechenland gelegt wuroen. und diese Tatsache dist allgemein an-erkannt. Heute jedoch hat entweder dite Ri:valität der modemen Logik oder Unzufriedenheit mit jeglicher formaler Logik die traditionelle Logik selbst sogar in den Augen der Wissenschaftler so sehr llhres Ansehens beraubt, daß eine Überprüfung der griechischen Grundlagen der tr.aditti.onellen Logik ziemLich überflüssig erscheinen mag. Wohlmeinende werden vielleicht ·em gewisses histol'.isches In· te009Se ZJUgeben, daJs den Fachgelehrten dazu berechtigt, das Thema zu erörtern, falls er j-emanden findet, der ihm zuhört. Weniger Wohlmeinenden jedoch werden seine Ansprüche verdächtig er.scheinen. Mein Freund E. P1anofsky hat einmal gesagt: "Wir Kunsthistoriker .g~ehen von der Annahme aus, daß niemand jemals etwas erfunden hat, wähTend Ihr klas:sischen Philologen von der Annahme aousgeht, .daß die Griechen alles erf'u.n.den haben." Der weniger wohlmeinende Leser wird wahrscheinlich argwöhnen, Zweck meiner Bemerkungen ·sei es, den wohlbekannten griechilschen Urspnmg der Wissenschaft von der Lo~ über seine wahre Bed-eutung hinau:szuheben .und die griechische Logik zum Maßstab der Logik überhaupt zu machen. Ich möchte 2JU Beginn sagen, daß ich nichbs dergleichen tun werde. Im Gegenteil, meiner Meinung nach machen diie modernen Logiker sich oder zumindest
die nicht mehr richtig verstanden werden, nicht übertriebene Wertung des antiken Vorbildes, die noch dmmer zur Aufmerksamkeit auf den griechischen Ursprung zwingt. In diesem Sinne glaube ich etwas mehr versprechen zu können als die bloße Befriedigung einer historischen Neugier. Ich habe die Logik als eine Wissenschaft bezeichnet, und die metsten modernen Logiker werden .gegen diese Klassifizderung kaum etwas .einzuwenden haben, selbst wenn Wissenschaft in ihrem strengsten Sinne vellStanden wird. Aber diese Ausdeutung wül'de nicht auf al1e Arben von Lo~ passen, wie sie jahl'hunderrelang von Philosophen und Schulmännem gelehrt worden sind. Wenn wir uns jedoch erlauben, das Wort "Wiissenschaft" nicht ganz so streng und ehrEurchtsvoll zu verwenden, d. h. mi.t ihm etwas zu bezeichnen, da,s systematisch von Professoren in einer Vorlesung für die Unterweisung ihrer Studenten behandelt wil'd und im Manuskl'ipt des Professors oder in eilll.em Lehrbuch niedergelegt werden kann, dann dürfen wir mit Fug und Recht behaupten, daß die Wissenschaft von der Logik seit etwa 2300 Jah11en besteht. Zum Glück können wir noch die Worte lesen, die einst Aristote1es - wahrscheinLich um 345 V. ehr. - niederschrieb, aLs er einen Epilog für seine erste umfassende Logikvorlesung vorbereitete, eine Vorlesung über, wie er es nannte, den dialektischen Syllogismus. Bevor wir jedoch zu den Worten des Aristote1es kommen, ist es wünschenswert, einige Ausdrücke und Titel zu erklären. Ein dialektischer S@gtsmus oiist eine Beweisführung, dDe !;dch_~t ~m.Jiir a~~ oi~k:!JS_!;jQ_:n__geeig_neten Pc~::oble!!LPef'!ß_t, wobei eine Schlußfolgerung aus Prämissen gezogen wird, die von einem Diskus-sionspartner zugestanden wer.den. DaJS griechische ~~j_twort dt!!Ur...ea{}gt, von dem "dialektisch" abgeleitet d..st, heißt ganz einfachim "Gespräch Gedankef1._ll:Ysta,..m;m~n". Nach Aristoteles gibt -es zwei Arten von Syllogismen, den dialektischen und den ·sogenannten "~odi:k ~schen" Syllogismus. Der apodiktoische Syllogismus ist der Syllog;ismus, wgk~ einen Beweis__ ~t:b@~ _tl,tl_d__eine_ St:hlußfol~un~.L!f wiss_enschaftliche Weise zieht, d. h. auf eine Weise, die l:;!:k.~h$_1!!iiii!--~d _xrl~h-t -Wr dem Gesprächspartn.~!"-~:us_!il!l_mung abz~gt, wie der dial~kt~ch~ Sylloiismus es tut oder zu tun versucht. Aristoteles rufolge müssen 8
die ~ämissen_ einet!i .1J.JlQ_4k~cl'ten_SyU(}gi§l,ll.)!~!fl_eb_r_'!J,~ ~~r scheinlich sein, sie müssen ~ahr_eein, mehr noch, sie müssen entwede; ~ittelbar evident oder von ewdenten Grundsätzen ableitbar sei~. Wir-b~ltz~ von Aristoteles drei Abhandlungen über Syllogismen, die den Hauptteil seiner umfangreichen logischen Schriften bUden, mehr a1s sechs Siebentel des Organon oder "Werkzeug" der Philosophie, wie diese Sammlung später genannt wurde. Von doen drei Abhandlungen enthält eine die oben erwähnte Vorlesung über den dialekbischen Syllogismus, di'E! Arilstoteles aus Gründen der ZweckmäßLgkeit "T_gpik" IlJ'!_~t~,Pe-r Narn.e ~edeutet nicht viel, nurcl~_d!e Aj1_4ap.dlu_ng_ eine _ Art _"N'achS:chlagewerk" ist, '),Im e1;\.V_il?__ zu finden, näm'.IJ.ch, wenn Aristoteles es auch nicht ausdrücklich sagt, um Beweisgründe zu finden. Außerdem besitzen wir von Aristoteles eine Abhandlung über den apodiktischen SyllogiJSmus, die ,sogenannten "Analytica posteriora". Und drittens gibt es ein Werk über den Syllo~i:smus im allgemeinen, welches die berühmte Lehre von den syllo~tischen "Hguren" (ax~p,a.,;a) einführt. Der Anordnung des Aristoteles zufolge sollte die Behandlung des Syllogismus im allgemeinen der des apodiktiJsmen Syllogismus vorangehen und heißt daher "Analytica priora". Der Tttel "Analytica" wiederum spezifiziert nicl;tt das Thema der--Abh~di~g, ;,-deutet nur an, daß das Buch sich mit dem Analy~i~rel_l_~ei~~t. Betrachten wir nun den EpUog der "Topik". Wir müssen uns vorstellen, daß wir dtie Vorlesungen des Aristoteles während einer nicht allzu kurzen Zeitdauer besucht haben, aber daß der Vorlesungskursus jetzt beendet ist. Nach ·einer kurzen Wiederholung dessen, was er zu Beginn des Kursus versprochen und was er m sei:nen Vorlesungen tatsächlich behandelt hat, fährt der Lehrmewter fort {183b 15): "Daß also runser Programm angemessen durchgeführt wurde, ist klar. Aber wir dürfen nicht unerwähnt lassen, wa:s in Hinsicht auf diese Untersuchung geschehen ist. Im Falle aller Entdeckungen nämlich ·s.ind die Ergebnisse früherer Bemühung.en, die von anderen weitergegeben wurden, Stück für Stück von denjenigen weitergeführt worden, dde sie übernommen haben, wohingegen dre ursprünglichen Entdeckungen im allgemeinen einen Fortsmritt machen, der anfangs klein, aber weit nützlicher ist als 9
die Entwicklung, die später au:s d.hnen entspdngt. Denn es kann sein, daß, Wlie man zu sagen pflegt, in allem der erste Schritt der wichtigste ist; und aus diesem Grunde i:s.t er auch am schwersten; denn im Verhältnis zu der Stärke seines Einflu!fses ist er sehr klein und infolgedessen außerordentlich schwer zu erkennen: wenn er aber einmal entdeckt ist, dann ist es leichter, in Ver.bindung mit .ihm das übrige hinzruzufügen und zu entwickel-n. Dies ist in Bezug auf rhetorische Unterweisungen und. auf praktisch ·alle anderen Künste in da- Tat geschehen: ·denn diejendgen, welche deren Anfänge entdeckten, brachten sie nur einen kleinen Schritt vorwärts, während die Berühmtheiten von heute· sozusagen die Erben einer langen Reihe voo Männem sind, die si.e Stück für Stück vorangebracht und sie so zu ihrer gegenwärHgen Gestalt entwickelt haben, wobei Tlisd!as glei.ch nach den .ersten Begründern, Thra.symachoo nach Tisias und Theodoros nach diesem kam, und noch verschiedene andere .ihre verschiedenen Beiträge dazu gelcistet haben: daher ist ·es nicht ve11wunder1ich, daß die Kunst beträchtliche Ausmaße erreicht hat. Auf diese Untersuchung hingegen trifft es nicht zu, daß Teile der Arbeit vorher gründlich ausgeführt wOllden sind, andere Teile hingegen nicht. Es war überhaupt nichts vorhanden." Und nach dem Hinweis, man könne natürlich einen Schüler ebensowenig eine K\mllS.t oder eine Wi:ssenschaft lehren, indem man ihn fertig zugeschnittene Stückle mit dialektischen Fr<~~gen und Antworten auswendig lernen läßt, wie man einem Mann das Schusterhandwerk beibringen könne, indem man ihm alle möglichen Arten von Schuhen schenkt, s·chließt er: "überdies gibt es auf dem Gebiet der Rhetorik vieles, was schon vor langer Zeit gesagt worden ist, während wir auf dem Gebiete •der Schlußfolgerungen 1 über ndchbs Nennenswertes aus einer früher.en Epoche verfügten, sondern viel Zei.t auf experimentelle Forschungsarbeit verwenden mußten. Wenn ihr nun nach reiflichem überlegen, unter Berücksichtigung der Lage zu Beginn meint, daß UßiSere Untersuchungen im Ver.gleich zu den anderen durch die Tradition entwick.elten Forschungsgebieten befriedilgend sind, dann bleibt euch allen 2 ••• ß/Ur die Aufgabe, d:i.e Mä.ngel der Untersuchung 1
Im griechischen Original: "Syllogismen zu madten".
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zu entschuldigen und für die gemachten Entdeckungen aufrichtig dankbar zu sein." Diese Worte eines naiven W!4_4~_zuglei...Ql etwas__~\!_gekün stelten Selb?J:!Q.~~ können allein schon dh_l'fm l.)meber :als ·~ V·~:r]l_i!ll:!li§.mäßdg j~~,m Ma,t}11. kennzeichnen - als einen Anfänger, nicht nu.r in dem Sinne, wie er selbst es darlegt; sicherLich aber stellen s.ie klar heraus, daß es zu der Zeit, als sie ~e schrieben oder gesprochen wuxtden, noch kein riv:al&sier.endes didaktisches System dn Dingen der Logik gab. Es erscheint nicht einmal wah11Scheinlich, daß Arl:stote1es' eigene systematische Erfoi~SChung des apodiktischen und des Syllogismus im allgemeinen bereits zu nennenswerten Ergebnissen geführt hatte, denn wäre dies der Fall gewesen, hätten diese Studien eine Erwähnung verdient. Und .in der Tat, w.emn man die Doktrin von der Logik, wie sie in den beLden Analytiken dargelegt ist, mit dem hilialt der Topik vergleicht, wwd diese Ansicht bestätigt. Der erste ·und wichtigste Schritt auf ein hLstorJ.sches Versteh~~ _Qe! -~i-~totelischen Logik-~ wurde-~~r- Ub~r-hun dert Jahren von dem deutschen Gelehrten Chrilsbian Au~t Bn
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einfügen. Das erste ist einem ausgezeichneten neueren Handbuch entnommen und schi1dert die gegenwärtige Lage der Wissenschaft von der Logik. Es findet sich auf der ersten Seite von C~h~ und_ ~CJ.gel's_)~J.trpductio_n_to _Logic and Scientific
Method: "Obwohl die formale Logik in jüngster Zeit Gegenstand scharfer und temperamentvoller Angriffe von zahlreichen und ~anz verschiedenen Seiten gewesen ist, gehört sie weiterhin, und wahrscheinlich für lange Zeit, z;u den häufigsten Vorlesungsthemen an Colleges und Universitäten im. In- und Ausland. Das -darf uns nicht wundern, wenn wir bedenken, daß die schwerstw1egenden der gegen die formale Logik erhobenen Vorwürfe, nämlich die den Syllogismus betreffenden, so alt sind wie An1stote1es, der sich ihrer anscheinend voll bewußt war. Aber während das Reich der Logik gegen die Angriffe von außen gefeit zu .sein scheint, herrscht im Innem viel unselige Verwirrung. Obwohl ~I: Inhalt f~s!_ '!ll~_J:..q~-B!iE:ter si_c~~gar in.__ Z('l__hlrei~~~ Erläuterungen an die durch Aristot~le{ .Qr~_~non &esetztel\_ Ma~s~äb!!·l'l~lt - Terxnilli, Propositionen, Syllogismen und verwandte Formen der Schlüsse, wis&enschaftliche Methode, Wahrscheinlichkeit und Trugschlüs•se -, herrscht eine bestürzende Sprachverwirrung hinsichtlich des Anliegens der Logik überhaupt. Die verschiedenen Schulen, di:e traditionelle, die linguistische, die psychologische, die erkenntni!stheoretische und die· mathematische, sprechen venschiedene Sprachen, tmd jede wirft der anderen vor, ·es gar nicht wirklich mit Logik zu tun zu haben." Mein zweites Zitat ist kürzer. Es betrifft die Art von Logik, die Aristoteles lehrte. Ich entnehme es dem Kapitel 11Logik" in dem Buche Aristotle von ~!J:' __Dav~~ Ross, dem hervorragenden englischen Gelehrten, der so viel für die Förderung der Aristoteles-Studien in unserer Zeit getan hat: "Aristoteles hat, obwohl er die Frage nicht ausdrücklich erörtert, eine klare Vorstellung von dem Unterschied zwischen der Logik und anderen Wissensgebieten, mit denen sie mitunter identifiziert oder verwechselt worden ist - Grammatik, Psychologie, Metaphy.sik"4. 4
A.a.O., S. 21.
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Wenn wir diese beiden Aussagen nebeneinander stellen, haben wir eine11seibs ein Verzeichnis der verschiedenen Typen der n;toderneJ! J.J>gik =-~ JasL alJe .Qis zu. ein€1J!. _g!;!lVD~se~ Grade v~_A.!iJ:Sto~les' u1:1sprünglichem _l'lan e4te.s _logi~che~ .?l~tems ~~en,. d~e untereinander jedoch nicht da11in übereinstimmen, was Logik bedeutet -, und andererseits -sehen wir den Erfinder dileser Wissenschaft ~t einer so klaren Vorstellung von deren Unterschied zu anderen Fonschun~gebieten, daß er es nicht einmal für notwendig hält, die Frage besonders zu erörtern. Nun ist eine moderne Logik durchaus berechHgt, selbst zu entscheiden, womit sie sich zu beschäftigen hat, und selbst wenn sich herausstellt, daß diese Entscheidung nicht nur zu anderen Typen der modernen Logik, sondern auch zu dem antiken Begründer ·dies-es Zweiges der Wissenschaft im Gegensatz steht, kann die moderne Doktnin nichtsdestoweni~er in sich selbst geschlossen und folgerichtig sein. Natürlich ist es einem modernen Logiker erlaubt, die Ansichten des Aristoteles, selbst in bezug auf das Gegenstandsgebiet der Logik, anzugreifen oder zu versuchen, sie zu korrigieren. Aber eine echte Schwierigkeit erhebt sich, wenn wi.r unsere Aufmerksamkeit auf j_en_e_!}'pen _4~!._!Il__()cl_E!!',!t~l!-Log~~_P,_c'h,t~J.- 9,~ ~eil w_e_ise _oder ganz ~t den Ansichten des Aristoteles, wie_ Pro~e~sor Ross sde darlegt, über_einstinunen. Kaum jemand wird behaupt~n, daß eine solche frb.erei:D:stlmmung bloßer Zufall sei, und meines Wissens hat es auch niemand getan. Nehmen wir einmal an - wie Professor Ross augenscheinlich annimmt -, daß Aristoteles und seine modernen Nachfolger grundsätzLich recht haben, soweit sie übereinstimmen. Selbst dann werden nur wenige moderne Logiker so leidenschaftliche Verteidiger ihres logischen Glaubensbekenntnisses SJ~~ ~ie _Carl PramJ,_yerfasser einer vielgebrauchten und überaus nützlichen Geschichte der Lo~k der Antike und des Mittelalters. Prantl sah überall da, wo er logische Häresie z~ wiJ:!.~w_gl
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stoteles 'eine recht klar.e Vorstellung gehabt haben von dem, woru er den Grundstein legte, und er muß eine solch kLare Vorstelltmg auch bei seinen Hörern vorausgesetzt haben, sonst hätte er die Schwierigkeiten einer Erörterung unrerzogen. Müssen wir also annehmen, daß Anistoteies und seine Hörer einem P.rofessor von heute und seinen Zuhörern -so s-ehr überlegen waren, daß sie von Anf.ang an klar erkannten, was wil', selbst nachdem wir VOll\ Aristoteles belehrt worden sind, nicht ohne beträchtliche geistige Anstrengung erfassen können? Es .s-ieht so aus, wenn wir den Sinn solcher Behauptungen wie der von Professor Ross ernst nehmen. In diesem F.alle braumen wir diesen Sinn nicht einmal in eigene Worte zu fassen. Zumindest insofern es sich um den U:>ntt'll'sl#ed_~ch~nPsycho ~-i!_]J!!cl ~Qgi.k_ pandelt, beruht die Aussage von Professor Ross auf den El'gebnii&S.en einer mühevollen und gewi-ssenhaften Arbeit über d~e Syllogistik des Aristote1es _von Heinl'ich ~a~er, die um die Jahrhund.ertwlende erschienen ist und von Professor Ross zu den wenigen neueren Büchern gezählt wird, die dhm von großem Nutzen gewesen sind. Mater unternahm seine Arbeit in der ausgesprochenen Absicht, zu zeigen, daß die moderne Logik auf _Ari.stoteles zurückgehen und von ihm l~rnen müsse, daß Logik und Psychologie zweierlei smd. Maier zufolge war es Adstoteles' bemerkenswerteste Leistung auf dem Gebi·et der Logik, daß er die Lo~ von der Psychologie freimachte. Das ist !Sehr merkwürdig. In den neunziger Jahren, als Maier mit seinen Untersuchungen begann, hatten wir eine psychologische Schule der Logik, und damals mag die Emanzipierung der Logik eLne sehr dringliche Au.f:igabe gewesen sein. Aber als Aristote1es mit seinen logLschen Studien begann, gab es überhaupt keinerlei umfassende logtsehe Theorie, ganz gewiß keine psychologisch gefärbte. Daher ist es nicht ganz ein~ach, sich vorzustellen, wie Aristote1es ,es fertigbrachte, die Logik von der Psychologie freizumachen, und wie wir es anfangen sollen, von ihm die LöS'Uillg eines Problems .ZU lernen, über d
sben Logiker von heute vorwegnahm, daß nämlich die Logik sich nicht primär mit der Art und Weise befaßt, dn der unser Denken sich m Wdrklichkeit vollzieht. Erlauben Sie mir em weiteres Zitat .aus Cohen und Nagel: "Eine alte überliefel1UI1g definiert dde Logik al:s die Wissenschaft von den Denk~setzen. Di!es geht auf eine Zeit zurück, da Logik und PISychologie sich noch nicht vöJl.ig zu getrennten Wissenschaften entwickelt hatten, diJe sich von anderen Zweigen der Philosophie deutlich unterschieden. Heute jedoch steht fest, daß jede Erfol\Schung der Gesetze oder der Art und Weise, die unser Denken tatsächlich bestimmen, dem Gebiet der Psychologie angehöl't. DiJe logiJSche UnterscheidU:Jlß zwischen gültigen und ungülbigen Schlußfolgerungen bezieht sich nicht ·auf die Art uns·eres Denkens - auf den Vorgang, der sich im Geiste eines Menschen ahspielt. Das Gewicht der Beweisgründe ist selbst kein Ereignis in der Zeit ... "s Wiederum habe ich Grund dazu, ganz besonders dankbar zu sein für ·eine klare Charakterisierung der gegenwärtigen Lage, denn sie befähigt mich, leicht :m1 formulieren, was ich für ein ernstes Problem ha1te. Di:e Epoche des Aristotele!S war !Sicher eine Zeit, "da Logik und P.sychologie noch nicht voll ru getrennten WisS~ens.chaften entwickelt waren, die sich deutlich von andem Zweigen der Philosophie unterschieden". Im Unterschied zu vielen seiner Nachfolger war Aristoteles nichtsdestoweniger ims.tande, eine über.raschend reine Logik zu lehren. Welchem Leitfaden folgte er? Wie konnte er den Gegenstand der Logik vorwegnehmen, ohne die Schwierigkeiten zu gewah11en, und ohne die künftige Entwiddung der verschiedenen Zweige der PhUosoph1e abwarten zu müs.sen? Woher nahm er in solcher Reinheit den Gegenstand .seiner Logik? Jetzt, denke ich, sdnd wir so weit, daß wir ·erkennen können, wde wichtig es is·t zu wis.sen, daß .di~e Topik des Aristoteles früher als seine anderen AbhandlUillgen geplant und ausgearbeitet worden ist. Es besteht kein Zweifel darüber, daß der Begriff des Syllogismus im Mittelpunkt der logischen Interessensphäre des Aris.tote1es stand; und ·es ist nicht das ge• s A.a.O., S. 18.
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rin~te
der Verdienste von Heinrich Maier, daß er diese Tatsache betonte, indem er für sein umfas!>endes Werk über die Logik des Aristoteles ·den Titel Die Syllogistik des Aristoteles wählte. Aristoteles' Definition eines Syllogismus ~t wohlbekannt: "Ein Syllogismus ist eine Argumentation, bei der auf der Grund1age bestimmter vorausgesetzter Dinge etwas anderes als das Vorausgesetzte mit Notwendigkeit folgt." Diese Defirution erscheint nicht nur im Text der Analytica priora, sondern auch zu Beginn der Topik 6 zur Erklärung des Gegenstandes dieses Werkes. 41:>~Ldet:_§YLIQ&i:~m~.3~hl i~L.:c!en b~:
)landlungen gr.undver~~e4_~~us. In den Analytiken folgt auf die Definition des Syllogismus alsbald die L~r~yQ~_Ae!!_~lJQgi§ffi:~chen :E!&!!!_!!_!!., von denen jedermann wenigstens das HClluptbeispiel kennt: Alle Menschen .sind sterblich, Sokrates ist ein Mensch, also Sokrates ist sterblich. In diesen Kapiteln des Aristoteles über Ode möglichen Formen des Syllogismus haben wir Logik_i:J1 ihrer formalsten Erschein~, nicht nur dem Aussehen, sondern auch ihrem Wesen nach so etwas wle_rei!ll~ _Matb_eroJI.tik. Wer auch imm&- hoffte, aus der Logik einen unmittelbaren N.ut~~n für sein eigenes Denken zu :z;iehen, muß enttäuscht sein; und daß dies nicht nur gewöhnlichen Sterblichen passiert, geht aus folgender Bemerkung hervor, di:e sich inl±egels _.Papieren fand: "Zur histori.sch·en Logik. Es wird versichert, daß wir urteüen: das Gold ist •&elb. Diese Versicherung i:st wahrscheinlich. Aber nicht ebenso wahrscheinlich ist, daß wir schließen: alle_M!!nsclwn ~11d. ~erhlich: Cajus ist ein Mensch, also ist er sterblich. Ich wenigstens habe ni:e so plattes ZeugJt_~acht. Es soll im Innern vorgehen, ohne daß wir Bewußtsein daTüber haben. Freilich, im Innern geht viel vor, z. B. Harnbereitung Der Wortlaut der Definition in der Topik (100a 25) unterscheidet sich nur sehr wenig von dem in den Analytica priora (24b 18); die Variante in der Oxford-Übersetzung ist irreführend. Für meine Zwecke habe ich eine Form gewählt, die aus der überset:Zung von Professor Ross übernommen ist (Aristotle, S. 21).
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und ein noch SchHnuneres, aber wenn es äußerlich wird, halten wir die Nase zu. Ebenso bei solchem Schließen." 7 SoVIiel ist sicher: jeder, der seine Logikstudien mit Aristoteles' Analytica priora beginnt, wird sich bald VOill sonderbar formalen Syllogismen umgeben S'ehen und nicht w.iJssen, wo er sie in_der We1!:,Jn der er lebt, unterbriDg!!n_!_oll. _ Dank dem Umstand, daß die Topik erhalten geblieben und ihre relative Datierung gut ge&.i.chert ,ist, wissen wir, daß Aristoteles selbst s_eine syl!Qßi!st:ischen_EQ!'_~_chu~~!J.i.fb!_~acl! d!!r_in d_eJl Analytiken y_erwend_e!~nJiyl~thode 1?egp~11en hat. Die ganze Topik handelt von Syllogismen, und es ist nicht immer eine sehr amüsante Lektüre. Aber Aristoteles sagt wenigstens gleich zu Anfang in der denkbar deutlichsten Weise, worum es geht, und bis zuletzt werden wir n&emals im Z weife! darüber gelassen, welchen ~~l;!~k~ qie neue_:Leh:!:_e -~ne~ soll. Wenn man dem erklärten Thema der Topik einige Aufmerksamkeit geschenkt hat, wird es einem leicht fallen, die Art von Syllo~s mus, auf die .es ankommt, zu lokalisier.en. Der moderne Leser wird auf den unmittelbar.en Zweck der Vorlesung des Anstoteies kaum gefaßt sein. Denn, wenn wir den Erklärungen des Aristoteles in den Anfangskapiteln der Topik aufmerksam folgen, erfahren wir, daß er ganz einfach, als eine Se1bsh•erständlichkeit und einen ,allgeme,in augewandten Knnstgriff, eine merkwürdi.ge Art g_~t~ger Gymnastik vora'q§_srut. Sie besteht darin, -daß man ein gestelltes Problem - irgendein strittiges P.roblem - von wahrscheinlichen Prämissen ausgehen-d erörtert, oder, wenn man in der Beweisführung angegriffen wird, ~-'!'~fl!leist: zu wide~rechen~ Für diese Art von philosophischem Training werden stets zwei Persoillen sowie ein Problem benötigt; die eine Person spielt die Rolle des Fragenden, die andere die des Antwortenden und WidersacheDs. Der Fragende schlägt zuerst ein Problem vor, der Antwortende wählt seinen Standort, und dann muß der Fr.agende als seinen Standpunkt j.ene Seite des P.roblems vertreten, die der Antwortende verworfen hat. Nun muß der Fragende weitere Fragen stellen und versuchen, 7 K. Rosenkranz, G.
W. F. Hegels Leben (1844), S. 538.
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eine Schlußfolgerung zu ziehen, oder man könnte sagen, einen Syllogd.smus zugunsten seiner Auffassung aus den Antworten herilllls2lUholen, die er seinem Gesprächspartner zu entlocken vermag. Die Rolle des Antwortenden ist passiver, aber er muß auf der Hut s·ein vor Konzes,sionen, die dem fl"agenden zu seiner Schlußfolgerung verhelfen könnten. Denn wenn der Fnagende zu seiner Schlußfolgerung gelangt, ist der Antwort-ende offensichtlich der Verlierer, da er gezwungen ist zu leugnen, was er zu Beginn behauptet hatte, oder umgekehrt. Der unmittelbare Zweck der Topik ist es, für diese künstlidte Art des Argumentierens eine Methode zu schaffen. "Daß die Methode ·für Geilstesgymnastik nützlich ist", sagt A11istoteles (lOla 28), "liegt auf der Hand. Denn wenn wir über eine Methode verfügen, wird es uns leichter fallen, einem gegebenen Problem zu Leibe zu gehen." 8 Natürlich Iist diese Methode auch noch anderweitig anwendbar. So wird die Methode, Ar.istoteles zufolge, uns befähigen, mit ungeschulten Leuten auf der Grundlage ihrer eigenen Meinungen zu diskutieren. Und schließlich wird die Befähigung, so oder so zu .argumentieren, uns helfen, die Wahrheit in ernsten philosophischen Frai?Jen zu erkennen. Imstande zu sein, von allgemein verbreiteten Meinungen ausgehend zu diskutieren, ist übeMies der einzige Weg, die Grundprinzipien von Wissenschaften zu erörtern, die .sich als Prinzipien nicht von anderen Prinzipien wissenschaftlich ableiten lassen. Der zweite Vorteil, den Aristoteles aufzählt, kann nicht verfehlen, uns an die Art und Weise zu erinnern, wie Sokrates mit den Leuten umging; Xenophon (Memor. 4, 6, 15) beschreibt das einmal wie folgt: "Wenn er selber etwas erklären wollte, begann er mit Voraussetzungen, welche die größte Wahrscheinlichkeit einer Obereinstimmung boten, denn er hielt das für die sicherste Art zu argumentieren; und daher gelang es ihm bess·er als irgend jemandem, den ich je gekannt habe, die Zustimmung seiner Hörer zu gewinnen." Und was Aristoteles als den dritten Vortell dialektischer Gewandtheit beschreibt, kennzeichnet genau seine eigene Art, eine philosophische Diskussion in 8
Übersetzung stammt vom Verfasser.
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Gang zu hr.ingen. Aber es besteht ein Unterschied in dem Verhältnis der Topik zu den verschiedenen Vorteüen ihrer Methode. Für die an zweiter und dritter Stelle erwähnten AnwendungsmögLichkeiten ist die Topik nur indirekt von Nutzen, nämlich indem sie ihre Methode für ein geistiges Training liefert; und ein richtig angewandtes gei:stiges Training wiederum soll der Vorbereitung für die Aufgaben des wirklichen Lehens und der Philosophie dienen. Innerhalb der Topik wird auf den Umgang mit ungeschulten Leuten kaum weiter eingegangen; und wenn immer Aristotele.s die Philosophie und ihre Gegenstände erwähnt, zieht er stets einen scharfen Trennungsstrich zwischen dem ihr angemessenen Verfahren und der in der Topik gelehrten Methode. Ich kann nicht auf die Einzelheiten dieser dialektischen Methode eingehen, d.ie ja nicht unmittelbar philosophisch ist, sondern zugestandenermaßen nur der Vorbereitung dient; erwähnen möchte ich jedoch dies: wenn man von den Analytiken mit ihrer starren Schablone des perf.ekten Syllogismus und den verhältnismäßig wenigen erlaubten Varianten herkommt, wird man überrascht sein von der verwirrenden Vielgestaltigkeit dessen, was Aristoteles in der Topik als Syllogismen gelten läßt und mit heißem Bemühen methodisch zu mei:stern verStUcht. Trotz allem ist, wre ich schon .sagte, d!l;! '[)~finition des SyllogisllJ:~ts~d~ gleiche ·in der Topik wie in den Analytiken. Sehen \oVir sie uns noch einmal an. "Ein Syllogismus [st eine Argumentation, .bei der auf ·der Grundlage bestimmter vorausgesetzter Dinge ·etwas anderes als daJs Vorausgesetzte mit Notwendigkeit folgt." Nun wollen wir versuchen, einen solchen Syllogismus zu beschreiben, den Bedingungen entsprechend, die Amstoteles durch den ganzen Verlauf der Topik voraussetzt. Zuerst müssen bestimmte Dinge angenommen werden; dann folgt aus ihnen 'unvermeidlich etwas anderes. Wann und wo geschieht das? Wie wir gesehen haben, setzt ein dialektischer Syllogismus zwei Personen voraus: den Fragenden und den Antwortenden. Der Fragende weiß natürlich von Anfang ,an, worauf er hinaus will: auf j-ene affirmative oder negative Behauptung, die er seinem Gegner aufzuzwingen gedenkt. Dies nennt man ge19
wöhnlich eine Schlußfolgerung, aber vom Standpunkt des Fragenden aus ist die SchlUßfolgerung das, was am Anfang steht, und zwar ganz wörtlich:-rd Üf!Xfi das, was .am Anfang ist, nennt Aristoteles es tatsächlich, wenn er aJUf die petitio principii der traditionellen Logik zu sprechen kommt. Da der Fragende die beabsichtigte Schlußfolgemng •schon dm Kopfe hat, muß er nach passenden Fragen suchen, di:e er seinem Gegner stellen kann. Diese Fragen s.ind di·e Prämissen der traditionellen Logik - Protaseis auf gciechi:sch, das, was dem Gesprächspartner angeboten wird, so daß er es annehmen kann; da sie jedesmal, wenn ein Syllogismus aufgestellt wird, an erster Stelle vorgebracht werden, nennt man •solche Propositionen jetzt meist "Prämissen" 9, Im Kopf ·des FI'agenden verläuft die Richtung des Denkens, das zum Syllogismus führt, umgekehrt zu der Anordnung von Prämissen und Schlußfolgerung im Syllogismus selbst; der Fragende muß gewissermaßen ei:nen rückwärtigen Denkpro:reß vornehmen, von der Schlußfolgerung zu den Prämissen, nicht, w.ie wir die Reihenfolge im SyllogLsmus sehen, von den Prämissen zur Schlußfolgerung. Das letztere V erfahren ist leicht, denn, wenn man einmal die Prämissen angenommen hat, kann man d~e Schlußfo1ger.ung nicht verfehLen. Mit der Schlußfolgerung zu beginnen, um die Prämissen zu finden, dst jedoch ein vollständig anderer Denkprozeß, für den dringend eine Methode benötigt wird. Aber es ist sicher nicht ganz so .einfach, wie in ·einem ähnlichen Falle ein Humorist einer neugterdgen Dame geantwortet haben soll. Sie hatte ihn gefragt, wie er auf so komLsche Ideen komme. "0, das ist ganz leicht", sagte er, "zuerst •setze ich mich hin nnd lache, rund dann- denke ich rückwärts.'{ Nun wollen wir uns dem zuwenden, was im Kopfe des Antwortenden vor sich geht. Auch er kennt von Anfang an die Schlußfolgerung, aber er versucht ihr auszuweichen, und so muß er mit seinen Antworten vorsichti!g sein. Den Spielregeln zufolge, die Aristoteles in allen Einzelheiten gibt, s\)11 er andererseits mit emem gewissen Grad von Aufrichtigkeit antworten; er darf 'Sich nicht weigern, Meinungen und Oberzeugun-
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9 Als eine Version von Protasis bevorzugt die Oxford-Übersetzung "proposition" in der Topik, "premiss" in den Analytiken.
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gen beizustimmen, die vernünftigerweise vertreten werden können, und die in der Tat mit seinen eigenen Meinungen und Überzeugungen übereinstimmen, es sei denn, er kann zeigen, daß .die Bedeutung einer gewissen Prämisse unmittelbar identisch ist mit der Bedeutung der Schlußfolgerung. So sollten die Erwiderungen des Antwortenden, außer wenn er eine petitio principii zurückweisen muß, einigermaßen objektiv sein, so daß der Fragende eine Chance hat. Wenn nun zufällig der Fra11Jende ein tüchtiger Mann ist, der für eine nicht :ru schlechte Sache argumentiert, oder ein nicht zu untüchtiger Mann, der für eine gute Sache argumentiert, :und wenn die Dinge seinen Absichten entsprechend verlaufen, dann wird das Ergebnis ein im Kopfe des Antwortenden erzeugter Syllo~smus sein. Zuerst kann der Antwo·rtende nicht wnhin, die vorgeschlagenen Prämissen anzunehmen, und dann - wenn der Fr8Jgende g.eschickt ist - steckt er in einer Falle: der Fragende zieht die Schlußfolgerung als eine notwendige Folge der Prämissen, :und der Antwortende steht einer Niederlage gegenüber, denn nach Annahme der Prämissen läßt sich die Schlußfolgerung nich·t mehr vermeiden, und es gibt kein weiteres Ar~ntieren gegen sie. Nebenbei rät Aristoteles dem Fragenden, rue Schlußfolgerung nicht ~n die Form einer Frage zu kleiden, um so jede Unredlichkeit von seiten des Antwortenden zu verhindem. Weiter äns einreine bnauch'ert wir nicht zu gehen; auf jeden Fall haben wir einen ·echten Syllogismus gefunden, der sich genau nach der aristotelischen Definition entwickselt hat; nicht nur das, wir wilssen auch - zumindest aus einfachen chronologischen Gründen -, daß Aristoteles diese Art von syllogistischer Praxis im Sinn hatte, als er zuerst soeine Definition formuli-erte, nicht die abstrakten Formen der .syllogistischen Figuren. Ein Syllogismus, der durch einen klu~ Fragesteller im Geiste des Antwortenden hervorger.ufen wurde, ist, soweit wir die Frage bemachtet haben, ein Erzeugnis durchaus künstlicher Bedingungen. Wie wir gesehen haben, fehlt es ihm dennoch nicht an psychologischer Wirklichkeit; so etw8JS spielt sich tatsächlich in der Zeit und inne~~halb einer Seele ab, der des Antwortenden. Andererseits ist es sehr .schwierig, ·es in der Terminologie der empirischen Wissenschaft der P.sychologie zu beschrei-
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ben, die versucht, das tatsächliche Funktionieren unseres Denkans zu erforschen. Denn für gewöhnlich denken wir ja nicht in aristotelischen Syllogismen. Dile moderne Logik befreit sich von dieser Schwierigkeit - und für ihre eigenen nicht historischen Zwecke ist das natürlich ihr gutes Recht -, indem sie scharf unterscheidet zwischen Behauptungen und Urteilen in einem besonderen, eng begrenzten Sinn, wie er •gewöhnlich nicht beobachtet wird, Jlllld indem s1e entscheidet, daß die Logik es mit Behauptungen und den in ihnen enthalten-en Folgerungen zu tun hat, nicht mit Urteilen und dem geistigen Prozeß, tatsächlich zu Schlußfolgerungen zu kommen. Im Falle des ariJStotelischen Syllogismus jedoch scheint diese Unterscheidung gar keinen so großen Unterschied zu machen. Die Stellungnahme des Aristoteles wurde genügend bestimmt dmch die Tatsache, daß in einem normalen aristotelischen Syllogismusdie Prämissen nicht als spontane Urteile eines frei denkenden oder beobachtenden Geistes in den Sinn kommen, sondern als bereits formulierte, und zudem klug formulierte Behauptungen, vor denen es kein Entrinnen gibt. In dieser Lage bestand keine Gefahr, daß die Logik durch Psychologie beeinflußt werden könnte, denn •selbst psychologische ßeobachtung könnte nichts anderes liefern als die Feststellung, daß die Schlußfolgerung unvermeidbar i:st. Die Gefahr lag eher in der entgegengesetzten Richtung, und wir wissen, daß jahrhundertelang, angefangen mit Aristoteles selber, die Logiker dazu neigten, Logik da einzusetzen, wo Psychologie benötigt wurde. Aber das waren ·spätere Entwicklungen. Uns geht es hier um den Ur.sprung der Wissenschaft von der Logik, und .ich meine, wir haben gesehen, daß der Inhalt der ersten systematischen Arbeit über dieses Thema Anspruch darauf erheben kann, nicht nur aus chronologischen Gründen zuerst in Betracht ~zogen zu werden. V1elleicht hatte Ari.stoteles gar nicht so unrecht, als er ein griechisches Sprichwort zitierte, das soviel bedeutet wie "der erste Schritt ist der wichtigste"; obwohl man seine Zweifel haben ~nn wegen des Grades der Dankbarkeit, die wLr i•hm für diesen ersten Schritt schulden. Auf jeden Fall verlangt dieser Anfang nach einer historischen Erkläl'Uilg, denn das Vorhandensein eines solchen Denksportes, wie wir .Jhn annehmen mußten, um das erste Lehrbuch der
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Logik, die Topik, zu verstehen, erscheint sog;ar noch verwunderLicher als gewisse Merkmale der entwickelten aristotelischen Logik in den Analytiken. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß in der Schule des Aristoteles solch ein geistiger Sport ziemlich emst genommen wurde. Andernfalls würde Aristoteles nicht so viel Zeit und Mühe an die Vorbereitung der Topik gewendet haben, wie er es nach dem Ausweis des Buches getan haben muß, und wie er es nach seinem eigenen Zeugnis auch wirklich getan hat. Wir verspüren Verwunderung und ein wenig Unbehagen um des Aristoteles willen; aber d1e Erklärung des Phänomens ist nicht so schwer, wie es den Anschein haben könnte. Es genügt, sich einige wohlbekannte Tatsachen aus der Geschichte der Wissenschaft und Philosophie in Griechenland ins Gedächtnis zurückzurufen. Wenn wir heute ohne die Hilfe der Oberlieferung Wissenschaft und Philosophie nach dem Gegenstandsgebiet der Logik durchforschen müßten, wo sollten wir suchen? Nun wohl, wir nehmen an, daß Wissenschaft und Philosophie im Geiste und in den Forschungen der Wissenschaftler, Gelehrten und Philosophen leben, und die Ergebnisse ihrer mühevollen geistigen Arbeit sind in Büchern ntedergelegt. Und außerdem haben wir natürlich die ·akademische Lehrtätigkeit. Doch es wäre vielleicht ein wenig, sagen wir, einseitig, 1Ulsere Vorstellungen von der Logik hauptsächlich auf die Praxis der akademischen Lehrtätigkeit zu gründen. Aber dies ist genau das, was A:cistoteles getan hat. Wir wissen aus gewissen Abschnitten in den späteren Schriften Platons, daß in Wirklichkeit Platon der Erfinder des Begriffs der geistigen Gymnwstik war, und daß er deren Praxis iln seine Schule, die ursprüngliche "A~ademie", ·einführte, als Pflichtfach zur Vorbereitung zukünftiger Philosophen. Was Aristoteles zum Besten seiner eigenen Schule dieser erzieherischen Praxis hinzufügte, war eine systematische Einführung: die Topik. So kam es, daß ·am Anfang systematischer logischer Forschung ein Syllogismus nicht innerhalb der Gedankenwelt des einsamen Denkers oder in seinen Büchern oder Vorlesungen gesucht oder gefunden wurde, sondern daß der ursprüngliche GegellJStand der Logik der "dialektische Syllogismus" war, der Syllogismus, der sich im Gespräch entwickelt. 23
Die Pflege des dialekttschen Syllogismus als eines unentbehrlichen Mittels zur philosophischen Bildung ist offenbar ein Produkt j·ener Epoche in der Geschichte der Philosophie, in der die Fragen und Antworten des im Gemeinschaftsleben gebundenen Gesprächs Weg und Mittel zu neuen Entdeckungen waren, als ·die Dialektik, die Kunst, Dinge im Gespräch zu behandeln, nahezu identisch mit echter Philosophie und Wiss·enschaft erscheinen konnte, und als man Büchern und den Ansprüchen auf fertige, jederzeit verfügbare Erkenntnis mißtraute. Das war natürlich die Epoche, welche durch ·die Namen Sokrates und Platon gekennzeichnet ist. Es war eine kurze Epoche: Platons größter Schüler Anstoteies war wieder ein eifriger Leser und selbstbewußter Schreiber von .Büchern. In den beiden Generationen vor Aristoteles waren Vertrauen auf das Gespräch und zugleich Mißt11a.uen gegen Bücher und dergleichen eine neue Geisteshaltung, ·denn in der griechischen Welt des 5. Jahrhunderts, der Sokrates angehörte, war es bereits .so selbstverständlich wie heute, ein Buch zu Rate zu ziehen, wenn man wissen wollte, was ein P.hilosoph oder Wis·senschaftler zu lehren hatte. Platon zufolge (Apol. 26d) erwiderte zum Beispiel Sokrates, als er des Atheismus ·beschuldigt wurde: "Freund Meletos, Ihr glaubt, 1hr beschuldigt Anaxagoras: und Ihr habt eine recht schlechte Meinung von den Richtem, wenn Ihr sie für so ungebildet haltet, daß sie nicht wiss.en, daß dilese Lehren sich in den Büchern des Anaxagoras von Klaz6menai finden, die voll von ihnen sind. [Junge Leute könnten für ein bißchen Geld leicht diese Bücher kaufen und Sokrates auslachen, wenn er behauptete, diese Lehren wären die seinen]." 10 Aber Sokrates selber hat keine Bücher geschrieben. Seine Rolle im wirklichen Leben und in der Philosophie war die des Fragenden, wie Aristoteles in einem interessanten Absdmitt der Topik {183b 7) feststellt, wobei er sich des historischen Zusammenhangs der Dialektik des Sokr.ates mit dem Thema der Topik voll bewußt ist. Zweifellos war Sokrates' Art und Weise, Die Auslegung des griechischen Textes ist umstritten. An Steile von Jowetts Übersetzung, die irreführend ist, gibt die Paraphrase in eckigen Klammern die Bedeutung, soweit sie praktisch gesichert ist.
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im Gespräch zu philosophieren, die Grundlage der dialektischen Praxis in den Schulen des Platon und des Ari:stoteles. Platon allerdingjs hat Bücher geschrieben, und wir würden weder von den Ansichten des Sokrates noch von den Lehren Platons viel Nennenswertes wissen, wenn auch Platon es abgelehnt hätte, .zu schreiben. Nichtsdestoweniger ist es ebenfalls wahr, daß Platon nicht an Bücher und fortlaufende Vorlesungen glaubte als Mittel, wissenschaftliches und philosophisches Denken ro erwecken und zu verbreiten; und es ist kein Zufall, daß seine Bücher in der Form lebendiger Gespräche geschrieben sind. Ebensowenig .ist es ein Zufall, daß zumindest in seinen frühen Dialogen die Art .des Gesprächs genau so ist, wie wir sie erfinden müßten, wenn wir den V.ersuch machen wollten, die natürlichen Vorbilder der künstlichen Syllogismen in der Topik zu rekonstruieren. So werden wir hier zu Tatsachen und literarischen Belegen geführt, die .so wohlbekannt 'sind, daß dieses Kapitel über den Ursprung der Wissenschaft von der Logik beendet werden kann. Es ~st nicht nötig, über P1atons Einstellung zu der dialektischen Form des Argumentierens sich weitläufig auszulassen. Aber ich möchte noch ein paar Worte über den Ausdruck "Logik" hinzufügen. Dieser Ausdruck erschei.llt~icl;,t vor dem 1. Jahrhundert v. Chr. in der vorhandenen antiken Literatur; Ari:stoteles verwendet ihn nich_t_ Er ~st von dem griechischen Wort Myo~ abgeleitet, das "Rede" bedeuten kann, außerdem jedoch vLeles, was mit Rede zusammenhängt. Zu der Zeit, da die Leute glaubten, sie könnten in der Logik eine allgemeine methodische Unterweisung finden, wie man denken oder vernünftig argumentieren solle, wurde .gewöhnlich eine Bedeutung von Logos angewendet, ~~lieh "Vernunft", so daß der Ausdruck. "Logik" eine Kunst oder eine Wissenschaft des vernünftigen Smließens oder Den:kens bedeutete. Aber das ist gewi:ß keine zutreffende Ety:Il1ologie~_'Jenn auch Ari:stoteles das W~rt -,:Logik" nicht afs Substantiv benutzt, ,braucht er es als Adjektiv in gewissen Funktionen, die zwei-erlei beweisen: ·erstens, daß_4~r sp_!i_tere N~l!lce_
mündlichen Gedank-enaustausch bezieht - Gespräche, Debatten, Streitgespräche zwisChen-f.euten, vor allem -~olche über Themen von philosoplUDchem Interesse. Somit dürfen wir sagen, daß sogar ihr Name darcruf hinweist, daß die Logik ursprünglich verstanden wurde als eine Wissenschaft von dem, was ge~cJ:.!ieht, _w~_~_i!_ J!i4!!J.iir~~s s~~t d~!!ken, sondern ~e!Ul ~-r !eden und_ versuchen, einander_ zu_~ber~~11~en.
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II.
KAPrtEL
Begriffe, Termini, Definitionen, Ideen, Kategorien Ein .auf den neuesten Stand der Erkenntnisse gebr.achtes Bild der Gesdtichte der antiken Logik ist bestenfalls eine Ho.f:6nung für die Zukunft. Ich glaube nicht, -daß zum gegenwärtigen Zeitpunkt irgendein lebender Gelehrter übe·r ausreichende Kenntnisse der Einzelheiten dieser Geschichte und der historischen Beziehung dieser Einzelheiten verfügt, .um klar und in angemessenen Proportionen die Umrisse ziehen zu können. Ein einfacher Grund hierfür ist natürlich die Unvollständigkeit unserer Oberlieferung; aber vielleicht sollten wir den Verlust des größten Teils der logischen Literatur der Antike nicht allzusehr beklagen, solange ihr wichtigster Teil - der zweifellos in den vorhandenen Schriften von Platon und Aristoteles enthalten ist - hinsichtlich seiner ursprünglichen Absichten problematisch bleibt. Denn es läßt -sich nicht leugnen, daß infolge der distanzierten Haltung der meisten Altphilologen gegenüber streng philosophischen Themen erst kürzlkh. einige Versuche unternommen worden sind, die moderne Kunst philologischer Interpretation auf logische Texte der Antike anzuwenden, und wir sind noch weit davon entfernt, umfassende Ergebnisse erzielt zu haben. Nichtsdestoweniger ist, zumindest bis zu einem gew.tssen Grade, eine Oberprüfung der griechischen Grundlagen der traditionellen Logik möglich, noch bevor eine zuverlässige Geschichte der griechischen Logik geschrieben werden kann. Die gesamte Struktur sowie zahlreiche Einzelheiten der traditionellen Logik gehen letzten Endes zurück auf Abhandlungen, Kapitel und mehr oder weniger lange Abschnitte in der vorhandenen antiken Literatur, hauptsächlich und in erster Linie auf Aristoteles und Platon; ,und die Methode eines direkten Vergleichs steht in vielen Fällen unmittelbar zur Verfügung. Ob sie zu nennenswerten Ergebnissen führen wi,rd, läßt sich für keinen ein-
zeinen Fall voraussagen; im allgemeinen jedoch sollte ein BestandteU .logischer Lehre leichter zu verstehen - und notfalls zu kritisieren - sein., wenn er untersucht würde, .so wie .er zuerst verwendet wurde und seinem ursprünglichen Zweck diente; leichter, als nachdem er verfälscht und immer wieder den Bedürfnissen späterer Zeiten .angepaßt wurde. Es gibt nur eine einzige ·unentbehrliche Bedingung: wir müssen gelernt haben, einen gegebenen klassischen Abschnitt aus seinem gegegebenen klassischen Zusammenhang zu erklären, anstaU .z;u versuchen, ihn dadurch zu erklären, daß wir die ursprünglichen alten Begriffe ganz einfach durch eingebürgerte neue ersetzen. Bis jetzt haben die mehr konservativ eingestellten Lehrbücher -der Logik jenen Teil ihres Themas, in dem sie eingestandenermaßen Aristoteles folgen, in drei Kapitel aufgeteilt: 1. Die Logik der Termini (oder Begriffe), 2. die Logikder Propositionen (oder UrteUe) und als Höhepunkt 3. die Logik der Syllogismen. Grundsatz dieser Anordnung ist offensichtlich das Fortschreiten vom Einfachen zum Zusammenges·etzten, und sie hat eine gewisse Analogie in der überlieferten Ordnung der logischen Schriften des Ar.istoteles, wo den drei größeren Abhandlun~n über Syllogismen - der Analytica priora, der Analytica posteriora und der Topik - ZJWei kurze Schriften vo11angehen, die Kategorien und die sogenannte De interpretatione. Von letzterer, der zweiten in dieser Ovdnung, läßt sich sagen, daß sie von Urteilen handelt, die im gesprochenen Wort .ihren Ausdruck finden, während die evstere Schrift erklärt, sich mit den vevschiedenen Bedeutungen von Worten, die nicht zu Sätzen verbunden sind, befassen zu wollen. Nebenbei gesagt, bedeutet der Singular "Kategorie" ursprünglich .g.anz einfach P.rädit.. kat; aber der Plural "Kategorien" konnte natürlich im Sinne von "verschiedene Arten oder Formen von Prädikaten" benutzt werden; der vollständige aristotelische Ausdruck für das, was wir eine "Kategorie" nennen, .ist, "Art von Kategorie" oder "Form von Kategorie". V1el Verwirl'llng im Studium der Philosophie und deren Entwicklung wurde durch die Tatsache verutsacht, daß die Studenten ihr Studium des Aristoteles anscheinend mit einem Büchlein beginnen mußten, das Prädikate so behandelt, als wären sie keine Prädikate. Wir werden auf diese Schwierigkeit noch zurückkommen. Für den Augenblick müs28
senwir UiliS auf die Feststellung beschränken, daß, wer immer die Verantwortung für die überlieferte Ordnung der Schriften des Aristoteles trägt, diese Anordnung in dem Glauben durchführte, daß der Behandlung von Sätzen (oder Urteilen) die Behandlung von nicht zu Sätzen ve11bundenen Worten vorangehen müsse, und daß eilnze1ne Urteile vor Zusammenfassungen von Urteilen zu Syllogismen behandelt werden müssen. Es besteht kein Grund die Anordnung, die wah11scheinlich älter ist als das 1. Jahrhundert v. Chr., zu tadeln; als eine Anordnung von Manuskripten oder Büchern, die irgendwie in eine Reihenfolge gebracht werden mußten, kann man sie gelten lassen. Aber, ob di:e Reihenfolge ein organisches und einheitliches Ganzes einer logischen Doktrin bildet oder bilden soll, das ist eine andere F.rage. Aristoteles' Definition des Syllogismus besagt, daß eiin Syllogismus eine gewisse Verbindung von P.ropositionen (oder Prämissen) •enthält, und in einer Erklärung, die er im ersten Kapitel der Analytica priora gibt, nennt er das, worin eine P.roposition ·sich auflöst, horos, "Terminus". So erhalten wir die Reihenfolge "Terminus, Proposition, Syllogismus", und zu dieser Dr-eiheit werden meist die drei Hauptteile bzw. die er:sten drei Teile ·der tvaditionellen Logik in Beziehung gesetzt, selbst wenn eine andere (angeblich gleichwertige) Terminologie bevorzugt wird, wie "concept, j.udgment, r:easoning" im Englischen, oder "Begriff, Urteil, Schluß" im Deutschen; oder, wie die berühmte und einflußreiche französische Logique de Port Royal 1 es nennt, "idee, jugement, raisonnement" 2• Zuerst werden wir ·also zu fragen haben, ob die Logik des Aristoteles ein organisches, dreibeiliges Ganzes war, wie die Einteilung und Anordnung des Sachgegenstandes in unzähligen nicht ganz neuzeitlichen Lehrbüchern der Logik es anzudeuten scheint. Die Antwort ist .ein kurzes "Nein". Denn obwohl irgendein historischer Zusammenhang zwischen der Struktur Zuerst veröffentlicht in Paris 1662. Mein Zitat ist der englischen Übersetzung von Th. 5. Baynes entnommen. 2 Für ., The Three Parts of Logical Doctrlne" und einige GrUnde für und gegen diese Anordnung siehe § 6 in Keynes, Formal Logic, 4. Aufl. 5. 8 f. Über die modernen terminologischen Schwierigkeiten siehe ebd. 5. 10, 66. 1
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der tr-aditionellen Logik und der aristotelischen Dreiheit "Termini, Propositionen, Schlüsse" sowie der antiken Ordnung der Bücher des Organon bestanden haben muß, ist es eiil.l.e - 1n Heinrich Maiers Syllogistik des Aristoteles mit Recht hervorgehobene - Tatsache, daß Aristoteles' beide Analytiken und die Topik, die alle drei von Syllogismen handeln, keinerlei getrennte Behandlung weder von Propositionen noch von Termini voraussetzen. Die Analytiken und die Topik bedienen sich gelegentlich der Lehre von den Kategorien, aber sie beziehen sich nicht auf die kleine Abhandlung, die jetzt die erste der Schriften des Adstoteles ist, und es ist ziemlich schwierig, die Beziehung ihres Inhalts zu den Termini und den Propositionen der Syllogistik des Aristoteles zu definieren. Der Versuch, .es zu tun, hat den Systematikern des ·aristqtelischen Organon manche Kopfschmerzen verursacht. Die Abhandlung De interpretatione kommt dem Postulat eines den Urteilen gewidmeten "zweiten Teils der Logik" näher, Tatsache jedoch ist, daß die Analytiken und die Topik alles über die syllogistischen Sätze lehren, was für ihre Zwecke erforderlich ist, und daß sie De interpretatione überhaupt nicht beachten. Aus Gründen, die ich zu Beginn dieses Kapitels zu erklären versuchte, beabsichtige ich dennoch, den ersten Teil der traditionellen Logik zu behandeln, gleichgültig, ob dies mit den Anschauungen des Aristoteles übereinstimmt oder nicht. So wollen wir zunächst Propositionen (oder Urteile) 'lllld Syllogismen außer acht lassen und nach den griechischen Grundlagen jenes ersten Teiles Ausschau halten, wo Termini (oder Begl'iffe) soweit wie möglich um ihrer selbst willen, und noch nicht zu Teilen von Urteilen oder Propositionen verbunden, betrachtet werden sollen. Es besteht kein Zweifel, daß das Buch Kategorien für den Inhalt dieses ersten Teiles der traditionellen Logik zum Teil verantwortlich ist, denn es beschäftigt sich ausdrücklich mit der Bedeutung von unverbundenen Satzteilen; aber die Topik, unser frühestes Dokaunent, nicht nur der aristotelischen Behandlung von Syllogismen, sondem auch der Kategorien, zeigt, daß die Kategorienlehre ursprünglich eine Lehre von den Satzprädikaten war und erst .später von Aristoteles selbst in ein Schema zur Klassifizierung ·all dessen umgewandelt wurde, was 30
ein einzelnes Wort als Namen führt. Die Frage der Kategorien ist außerordentlkh kompli:ziert, und es ist beSISer, wir beginnen mit dem anderen aristotelischen Bestandtell des ersten TeUes der traditionellen Logik, dem "Terminus" der Syllogisbik des Aristoteles, welcher - das dürfen wir nicht vergessen nicht, wie 1n der traditionellen Logik, Gegenstand der Behandlung in einem besonderen Kapitel oder TeU der Logik du'l."ch Aristoteles war. Von 11Tenninus" besitzen wi.r folgende Definition: "Ich nenne Terminus das, worws sich die Prämis.se zusammensetzt, nämlich Prädikat und Satzsubjekt, wobei das ,Sein' oder ,Nichtsein' entweder hinzugefügt oder abgetrennt wird" (Anal. pr. 24b 16). Aus der Praxis des Aristoteles in den Analytiken ersehen wir, daß ein Terminus durch einen Buchstaben des Alphabets symbolisiert werden kann, und daß ein solcher Buchstabe tatsächlich für alles eintreten mag, was entweder als Subj-ekt oder als Prädikat einer Aussage erscheinen kann. Die Tatsache, daß es häufig nicht ein einzelnes Wort ist, welches einem einzelnen Terminus .entspricht, wird von Aristoteles selbst gebührend betont: 11Wir dürfen nicht immer danach trachten, Termini in einem ·einzelnen Wort auszudrücken; denn wir werden es oft mit Wortgruppen zu tun haben, die nicht mit einem einzelnen Namen bezeichnet werden. Infolgedessen ist es schwierig, Syllogismen mit solchen Termini .auf eine knappe Fonnel:öu bringen." Nachdem er in diesem Zusammenhang den mathemabischen Beweis erwähnt hat, daß die Winkel eines Dreiecks gleich zwei rechten Winkeln sind, fährt er fort: "Es ist klar, daß das Mittelglied nicht immer unbedingt etwas Individuelles, sondern mitunter eine Wortgruppe ist, wie in dem erwähnten Falle" (Anal. pr. I. Kap. 35). Um ·ein weiteres Beispiel anzuführen, können wir ein Kapitel aus den AnalyHca posteriora (I, 34) heranziehen. Es betrifft den Scharfsinn (eVo'-roxla): "Scharfsinn ist die Fähigkeit, das MitteLglied sofort zu treffen. Ein Beispiel hierfür wäre der Mensch, der sah, daß der Mond seine helle Seite stets der Sonne zuwendet und sogleich die Ursache hierfür erfaßte, nämlich, daß er sein Licht von ihr entlehnt; oder beobachtete ... In allen diesen Beispielen hat er die Ober- und Unterbegriffe gesehen und dann die Ursachen, die Mittelbegriffe, erfaßt. Setzen wir A für ,helle
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Seite der Sonne zugewandt', B für ,von der Sonne beleuchtet', C für den Mond, dann ist B ,von der Sonne beleuchtet' aussagbar von C, dem Mond, und A ,seine helle Seite der Quelle seines Lichtes zugewandt', ist aussagbar von B. Demzufolge ist A aussagbar von C mittels B." In einem anderen Fall muß Aristoteles elf Worte für einen einzigen Terminus, die OxfordÜber-setzung dreiundzwanzig Worte (Anal. post. 93a 37) verwenden: "Angenommen C ist der Mond, A ·die Mondfinsternis, B die Tatsache, daß der Mond keine Schatten hervorbr-ingt, obwohl er voll ist und kein sichtbarer Körper zwischen uns und dem Mond Hegt." Immerhin werden solche Termini, die sich nicht durch einzelne Namen ausdrücken lassen, offensichtlich als Ausnahmen angesehen, und Aristoteles zufolge ist ein einzelner Name für den einzelnen Terminus das übliche. Alber John Stua.rt Mills Versuch, die Tatsachen darober hinaus ZIU vereinfachen, und "Termini" und "Namen" völüg kommensurabel zu machen, dient kaum einem objektiven, ganz gewiß keinem historischen Zweck. Denn die "vielwortigen Namen", die er als Folge seiner Gleichsetzung von Termini und Namen annehmen 3 mußte, würden dn der Sprache -des Aristoteles in sich widersprüchlich sein -, sie würden als "vielwortige Wörter" oder als "vielnamige Namen" ·erscheinen. So wie die unleugbare Verwandtschaft der syllogistischen Termini mit den aus der Umgangssprache 'stammenden Enzelnamen von Aris·toteles nie genau bestimmt wurde, so fehlt es seiner .An.tssage über die Beziehung der Termini zu einer gewissen Kategorie von Wesenheiten an Genauigkeit. In Kapitel 27 von Buch I der Analytica priora ·erkennt Anistoteies die Tatsache an, daß "von allen Dingen, di-e existieren", manche nicht geeignet sind, Prädikate von normalen syllogistischen Sätzen zu werden (nämlich Einzelwesen wie der Mensch K.allias oder Sokrates), wohingegen andere außerstande sind, Subjekte solcher syllogistischen Sätze zu werden ("manch.e Dinge we~:~den von anderen ausgesagt, aber nichts wird von ihnen ausgesagt"); aber "von dem, was li.mmer zwischen diesen Grenzen liegt, kann auf beide Weisen gesprochen werden: sie können von anderem und anderes von ihnen ausgesagt werden", 3 Siehe sein System of Logic, Buch I,
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Kap. II, §
2.
zum Beispiel über Kallias, daß er ein Mensch, über einen Menschen, daß er ein Lebewesen ist. "Und in der Regel befassen Beweisführungen und Untersuchungen sich mit solchen Dingen." Die ausgesprochene Gleichgültigkeit des Aristoteles gegenüber einer genauen Bestimmung im Falle der Beziehung von "Dingen", sowie im Falle der Beziehung von "Namen" zu "Termini" zeigt deutlich, daß er gar nicht daran dachte, die Behandlung der "Termini" streng .auf eine Lehre entweder von den Namen oder von den Dingen zu begründeni so sind die Versuche späterer Systematiker, ebenso wie ihre Schwierigkeiten in beiden Richtungen, nur allzu verständlich. Es gibt eine dritte Möglichkeit. Namen sollten Dinge bedeuten, aber um ver.ständlich zu sein, setzen sie Gedankeneinheiten voraus, die dm Geiste des Sprechenden wie des Hörenden gleichermaßen mit ihnen verknüpft .sind. "Termini" sind Namen oder, in manchen Fällen, Gruppen von Namen (Mills "vielwortige Namen") i wo immer in einem echten Syllogismus solche Termini auftauchen, haben sie daher unweigerlich stets ihre ·entsprechenden einfachen oder mehrf.achen Gedankencinheiten, die im Englischen "ideas" (notions, conceptions) oder "concepts" genannt werden. Da nun "Namen" im allgelnei,.. nen als sekundär zu den Gedanken gelten, und andererseits die Dinge nicht unmittelbar in logische Operationen ·einbezogen sind, ,scheinen ziemlich gewichtig·e Gründe dafür zu spr.echen, die Behandlung von "Termini" und der Logik im allgemeinen ,auf die B.etrachtung von Ideen (oder Begriffen usw.) zu gründen. Genau das haben, ]. S. Mills zufolge, die Logiker von Descartes bis in seine eigene Zeit getan: "Urteilen hieß, zwei Ideen miteinander zu verbinden, oder eine Idee einer anderen unterzuordnen, oder zwei Ideen :zJU vergleichen, oder we Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung. von zwei I~een wahrzunehmen: und die ganze Lehre von den Propositionen zusammen mit der Theor1e vom Schließen (die sich immer notwendig auf die Theorie von den Propositionen .grün. det) war so aufgebaut, als ob Ideen oder Begriffe, oder welchen Namen auch dmmer der Verfass.er für geistige Vorstellungen im allgemeinen bevorzugte, im wesentlichen S.achge~enstand 33
und Substanz jener Operationen bildeten."4 Die Logique de Port-Royal beginnt ihren ersten Abschnitt tatsächlich folgendermaßen: "Da wir von dem, was außer uns ist, keinerlei Kenntnis haben können, wenn nicht durch die Vermittlung von Ideen, die in illlts sind, bilden die überlegun~en, die wir über unsere Ideen anstellen können, vielleicht den wichtigsten Teil der Logik, denn auf sie gründet •sich alles übrige." Noch heute kann es geschehen, daß "deduktive Logik" als "auf den Begriff gegründet" eingeführt wird 5• Mill selbst war ein entschiedener Gegner dieser AufFassung: "Die Ansicht, daß in einer Proposition die Beziehung zwischen den beiden, dem Subjekt und dem P,rädrikat entsprechenden Ideen (anstatt der Beziehung zwischen den beiden Phänomenen, die sie jeweils ausdrücken) für den Logiker von primärer Bedeutung ist, erscheint mir als einer der v.erhängni.svollsten Irrtümer, die je in die Philosophie der Logik Eingang .gefunden haben, und als der Hwptgrund, wa1l\1Jll die Theorie dieser Wissenschaft während der letzten zwei Jahrhunderte so geringe Fortschilitte gemacht hat." Die Betonung der unleugbaren Tatsache, daß im allgemeinen "Propositionen keine Aussagesätze sind, die unsere Begriffe (Ideen, Vorstellungen) von den Dingen betreffen, ·sondern Aussagesätze, welche die Ding.e selbst betreffen", war sein Mittel, sich der Erforschung des Denkprozesses des Urteilens zu ·entziehen. Wir werden im nächsten Kapitel sehen, daß das Fehlen der Psychologie in der aristotelischen Lehre von den in Sätzen ausgedrückten Urteilen andere Gründe hat als die Argumente von Mill. Was die "Namen" ·betrifft, so war Millnicht
Shaw, Logic, S. 14. 34
praktisch - von den Vorstellungen ab, die skh im Geiste des Sprechenden und des Hörenden mit dhm verknüpfen, daß der psychologische Alusgang unvermei,dbar erscheint, sobald "Namen" getrennt, ohne BeZJUg auf ihre Funktion als Subjekt oder Prädikat in einem Satz behandelt werden. Daher ist es nur folgerichtig, daß Mill sich sogar dn seinem Kapitel "Über Namen" auf P.ropositionen beziehen mußte, und andererseits, daß die Logique de Port-Royal, die in ihrer premiere partie auf eine unabhängige Grundlage der Logik hinzielte, damit beginnen mußte, den Denkpro:2leß der Begriffsbildung zu untersuchen u:nd srich mit Vorstellungen zu beschäftigen. In der Syllogistik des Ar&stoteles beruht die Vorstellung von den "Termini" gänzlich auf der VOJ)Stellung von einer Proposition und ist außerdem viel zu .unbestimmt, um eine ~trennte Behandlung ihrer geistigen Äquivalente zu benötigen oder nur zu dulden. Und da "Namen" von Aristoteles als bloße konventionelle Zeichen für "Vorgänge in der Seele" angesehen werden, die wiederum "Bilder" von den Dingen sind, welche "die gleichen für alle Menschen" sein sollen - in seiner Psychologie (De interpr. 16a 3ff.) wurden sie unter die Lupe genommen -, .scheint er für ein getrenntes Stuclhun der geistigen Korrelate von Namen keinen Anlaß gesehen zu haben. Die andersgeartete Einstellung der von Mill so scharf kritisierten Logiker zu erklären, geht über die Grenzen meiner Aufgabe hinaus. Eins jedoch muß ,gesagt werden: wenn Mill der Logik des Aristoteles durch Ausschaltung der psychologischen F11a~ praktisch näherkam, so tat er es auf .seine eigene Verantwortung, nicht auf Verantwortung von Aristoteles. Entgegen den Erwartungen, dl.e wir vielleicht hegten, hat Aristoteles' Behandlung der syllogistischen Teml!ini offenbar nicht viel ZJU der traditionellen Lehre von den TeiJmini oder Namen oder Begriffen beigetragen. Denn in der Logik des Aristoteles fehlt der Praxis des DefinieJ:1ens j-ener spezielle und einfache Bezug auf syllogistische T·ermini, wie er der trad.itionellen Logik eignen soll; Aristoteles hatte keine Verwendung für die genaue Bedeutung eines "Terminus". Die Beziehung von Meinung oder Erkenntnis, die in einer Definition ausgedrückt sind, zu Meinung oder Erkenntnis, die auf einem Syllogismus be35
ruhen, ist eins der Probleme, die Ari.stoteles am meisten 7JU schaff.en machten. Er rückte ihm in der Topik und in den Analytiken auf verschiedene Weise Z1U Leibe, und seine EndlöSII.lng
ist zu kompüziert, als daß im mim hier in wenigen Worten mit ihr befassen kcinnte. Aber das Problem als soldres war ledig1ich eine Folge der Tatsache, daß eine Lehre von den De~ finitionen bereits existierte, als Aristoteles seine Syllogistik auf unabhängigen Grundsätzen entwickelte. Es ist wohlbekannt, daß Aristote1es selber Sokrates als den Erfinder allgemeiner Definitionen bezeichnete. Dies steht übrigens nicht in Widerspruch zu seinem SeLbstlob ·am Schluß der Topik; er wollte damit natürlich nicht sagen, daß es vor seinen eigenen keinerlei Leistungen in logischer Schulung gegeben hätte; was er für sich selber beanspruchte, war nicht mehr und nicht weniger als die systemabisehe BehandLung von Syllogismen. Neuerdings ist der Platz des Sokrates in der Geschichte der Logik oder, wenn wir daxauf bestehen, die Logik als eine systematische Wissenschaft zu nehmen, in der Geschichte dessen, was später ein Bestandteil der Logik wurde, immer problematischer geworden. Jetzt hat es nämlich den Anschein, als leiteten sich die Vorstellungen des Arl.stoteles von den Leistungen Sokrates' auf dem Gebiet der Ethik ·und der Logik weitgehend aus den frühen Dialogen Platons her. Das macht es natürlich schwer zu entscheiden, bis zu welchem Grade der historische Sokrates ei:rl Logiker war. Aber vielleicht brauchen wi.r uns, im Hinblick auf unser.e eigenen begrenzten Zielsetzungen, über dieses Problem nicht den Kopf zu zerbrechen. Platons Dialoge, insbesondere die frühen, sind Werke höchster Kunst, das heißt, sie tragen !ihre ErkläDung m sich selbst, und dies bezieht sich vor allem auf das, was ich die logische Situation nennen möchte, in der Fragen gestellt und Antwoxten gegeben werden- gerrau das, wonach wdr suchen, um die logi~ sehe Leistung zu verstehen. Zu diesem Zwecke ·ist es ndcht so wichtig, ob der historische Sokrates oder Platon in seinen frühen Dialogen es war, der die logischen Situationen herbeiführte, aus denen die logdsche Lehre von den Definitionen entstand. Eine Schwierigkeit jedoch muß an diesem Punkte ins Auge gefaßt werden. In Platons Philosophie hängt der Begriff einer Definition ~rgendwie mit dem platonischen Begriff der
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"Ideen" 2JUSarnmen. Heute ist man der Ansicht, daß der eine nicht ohne den anderen zu verstehen sei. Ganz so schlimm ist es meirner MeilliUl\g nach nicht, aber wir müssen uns mit dem Problem aJU.seinandersetzen. Zuerst werd.en wir einige tetm\n.o\ogische "tatsacnen. festste1len müssen, die allzu oft übersehen werden. Aristoteles' Wort für den syllogistischen "Terminus" i.st horos; diesen Sinn von horos leitete er von dessen Verwendung in der Mathematik her, wo er jedes der Glieder bezeichnete, drie eine mathematische Proportion bilden. Ähnlich ist ein syllogistischer horos eins von den zwei Gliedern, die eine Proposition bilden, oder eins von den drei Bestandteilen eines Syllogismus. Sowohl der mathematische wie der syllogistische Sinn sind in besonderen Bedeutungen des englischen Wortes "term" erhalten geblieben und in englischen Wörterbüchern angemessen verzeichnet. Es gibt jedoch eine dritte Verwendung des Wortes "term" im Engl!tschen, die im Umgang mit den logischen Termini des Aristotele.s vollkommen außer Betracht gelassen werden muß: ein syllogisbischer 11 term" darf unter keinen Umständen als "Wort oder Ausdruck mit einer genau begrenzten Bedeutung" 6 verstanden oder interpretiert werden. Ein syllogistischer horos ist nicht unbedingt ein Wort, und begrenzt (bestimmt) - horos bedeutet Grenze - ist in diesem Falle die Proposition, nicht natürlich ihre beiden "Grenzen" (Termini) selbst. Eine andere und schlimmere Quelle der Verwirrung ist eine Doppelbedeutung des griechischen Wortes horos auf dem Gebiete der Lo~k selbst. Wie wir gesehen haben, Ist horos ("Terminus") in seiner syllogistischen Verwendung so bar jeder substantiellen Bedeutung, daß ·ein Buchstabe des Alphabets ein vollwertiger Ersatz ist. Nun ist horos auch eines der Wörter, die AIIistoteles gebrauchte, um "Definition" zu bezeichnen, oder die genaueste Antwort, die gegeben werden kann, wenn man gefragt wird: 11Was ist dieses oder jenes?" Die zwei verschiedenen Bedeutungen sind voneinander völlig unabhängig, und Aristoteles selbst hat sie nie miteinander verwechselt. Aber leider gründete kein geringerer Gelehrter als Carl Prantl, der die Metaphysik des Anstoteies bewunderte und die tradi6
Webster's Collegiate Dictionary, siehe Stichwort "term" 4. 37
tionelle Logik haßte, sein Bild der aristotelischen Logik alllf diese Homonymie 7• In seinem Eifer nachzuweisen, daß der Logik des Aristoteles nicht der Makel anhafte, 11formal" 2JU sein, identifizierte er den leeren syllogistischen horos ( 11Terminus") mit dem metaphysischen Korrelat von horos im Sinne von Definition (11Begriff" nach Prantl). Das Er.gebnis war eine heillose Verwirrung, welche die modernen Vorstellungen von antiker Logik noch immer beeinflußt. Wenn auch die theoretischen - und emotionalen - Werte, die Prantl mit dem 11Begriff" verknüpfte, im allgemeinen seitdem in Vergessenheit geraten sind, ist es doch notwendig 2JU betonen, daß zwischen dem syllogistischen Terminus des Avistoteies und horos im Sinne von Definition weder eine terminologische noch eine bestimmte systematische Beziehung besteht. Das Wort 11 concept" (oder 11 conception", deutsch 11Begriff") geht zurück auf lateinische Kommentare über das erste Kapitel von Aristoteles' De interpretatione 8 und bedeutete ursprünglich eine Vorstellung von einem Ding, die von dem Ding in der Seele hervorgebracht und durch ein Wort bezeichnet wurde. Es hat kein griechisches Äquivalent und keine ursprüngliche Beziehung zur Definition. Aber Historiker der Philosophie neigen zu einem besonderen Gebrauch, wobei 11Begriff" als genaues Korrelat zu "Definition" zu verstehen ist. Wie der englische Obersetzer eines Buches des verstorbenen Julius Stem;el kürzlich zu erklären für nötig hielt: 11 Der Begriff ist das, was wir begreifen, wenn wir eine Definition kennen."9 Dieser Gebrauch läßt sich rechtfertigen, aber nur auf folgende Weise. Unseren griechischen Quellen zufolge hat entweder Sokrates oder Platon angefangen zu f11agen: "Was ist dieses oder jenes?" mit einem besonderen Nachdruck, der zu der Vorstellung und zu der Lehre von den Definitionen führte. Nun wird in emem Bericht über diesen Anfang in der Philosophie oft ein Nomen gebraucht, das den Zweck von Fragen wie 11Was dst 1iugend7" "Was ist das Fromme?" 11Was ist eine Biene?" 11Was ist Feuer?" bezeichnet. Im Griechischen ist es möglich, eine solche Siehe z. B. Geschichte der Logik im Abendlande I, 5. 271. Prantl, a.a.O. I, S. 691; III, S. 206; und andernorts (siehe Index von Vol. III Stichwort "conceptus"). 9 Plato's Method of Dialectic, Vorwort S. VI. 7
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Frage in das benötigte Nomen umzuwandeln, indem ganz einfach der bestimmte Artikel hinzugefügt wird ("das Was-istes" oder sogar "das Was-es-für-es-war-es-zu-sein" 10, aber das können wir nicht nachahmen. So ist ·ein besonderes Nomen erforderlich, und das Wort "Begriff" wird keinen Schaden anrichten, solange es von jeder syllogistischen, metaphysischen oder psymologischen Nebenbedeutung freigehalten wird. Aber es da.rf dann wirklich nicht mehr und nicht weniger bedeuten als genau das, was "wir begreifen, wenn wir eine Definition kennen", und in diesem Sinne werden wir es fortan v.erwenden. Die traditionelle Logik hat !ihre traditionelle AuffasSIUng von ihrer ·eigenen Geschichte. "Sowohl historisch, wie im Falte des Sok.rates, wie theoretisch steht am Anfang der Logik der Begriff." 11 Wenn wir uns an diese Bedeutung von "Begriff" halten, die ihm zu historischen Zwecken verliehen und soeben erklärt worden ist, ist es sinnvoll, die Logik historisch mit dem Begriff beginnen zu lassen, und wie wir bereits festgestellt haben, ist es für uns.eren Zweck ·nicht so wichtig, ob es der historische oder der platonische Sokrates war, der anfing, mit besonderem Nachdruck zu fragen "Was ist das?" Hinsichtlich des "Begriffs" des zweiten Teiles der Aussage (mit dem die traditionelle Logik theoretisch begd·nnt) ist es wichtig zu wissen, daß er nicht am Anfang vorhanden, sondern vielmehr ein spätes Produkt der komplizierten historischen Entwicklung war, in deren Verlauf die Logik des Aristoteles auf eine nicht-aristotelische Weise systematisiert wurde. Nun wenden wir uns wieder der Fra:ge von der Beziehtmg zwischen Definitionen iUlld platonischen "Ideen" zu oder, wie wir es jetzt mit gutem Gewissen nennen können, dem Problem von "Ideen" und "Begriffen" in Platons Philosophie. Die übliche historische Anschauung, daß Sokrates ·an "Begriffe" auf eine vernünftige uns verständliche Weise heranging und daß später MIS spezifisch platonischen und nicht allgemein ver:ständlichen Gründen "Begriffe" "hypostasiert" wurden, so daß s•ie platonische "Ideen" wurden, ist lediglich eine 10 Für eine neuere Untersuchung dieser Ausdrücke siehe Curt Arpe, Das Tt rjv elvat bei Aristoteles, Hamburger Diss., 1938. 11 Shaw, Logic, S. 17.
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modernisierte Form der historischen Rekonstruktion durch Aristoteles, wie sie wiederholt in seiner Metaphysik (987a 29 ff., dann 1078b 12 ff., 1086a 31 ff.) ausgeführt wird. In der Sprame des .Ari.stotdes "suchte Sokrates das, ,was (ein Ding) ist'" oder das "Allgemeine". Er war der erste, der "seinen Geist entschlossen auf Definitionen richtet-e" oder "allg-emein zu definieren trachtete"; aber er "trennte" Allgemeinh-eiten oder allgemeine Definitionen nicht von den eiru:elnen wirklichen Dingen, auf die sie sich bezogen, und Aristoteles zufol.ge dies mit Recht. Aber dann. vollzogen Platon und seine Schule diese Trennung und setzten, aus ihren hesonder.en Gründen, imaginäre ewige Dinge neben die wirklichen vergänglichen Dlnge (vgl. Metaph. 997b 5-10). Sie argumentierten, wenn wir Anistoteies Glauben schenken dürfen, daß eine allg-emeine Definition sich nicht mit einem greifbaren Ding befassen könne, well greifbare Dinge Veränderungen unterworfen sind und daher Illicht aruf solche Weise erkannt werden können, wie eine Defindtion ein Ding erkennbar macht. Was nun die Anzahl der Dinge betrifft, denen Platon und seine Schule "Ideen" zusprachen, behauptet Aristoteles, daß sie gezWIUngen waren, dies in .bezug auf "East alles allgemein Gesagte" zu tun. So ist es niemand geringeres als Aristoteles, der die Ansicht vertritt, daß in Platons Philosophie definierbare Dinge meistens nicht dde gewöhnlichen Dinge sind, sondern etwas anderes, nämlich "Ideen". Es sbimmt auch, daß Platon kein Wort geschrieben hat, um eine solche Annahme auszuschließen. Andererseits ist es leicht, an Platon Kritik zu üben dafür, daß er unnötig "AJlgemeinheiten getrennt" - oder "Begriffe hypostasiert" - habe, und Aristoteles selber hat dies so wirksam getan, daß sein-e Darstellung der Ideen-Theorie, insbesondere der Bericht über deren Ursprung, nicht sehr über.zeugend klingt. Nun aber haben wir vor nicht langer Zeit eine ganz andere Version gehört. Mittels "Ideen" zu denken, so hat man uns gesagt (und viele glauben es noch heute), sei primitiver und dem griechischen Geist gemäßer, als skh um "Begriffe" zu kümmern, und die Entwicklung der Philosophie Platons sei kein.sinnwidtli.ger Übergang von bereits festgelegten rationalen "Begriffen" zu irrationalen "Ideen", sondern im Gegenteil ein 40
rationalisierendes Fortschreiten von "Ideen" zu "Begriffen". Oder, mit den Worten von Julius Stenzeis Buch über di-e Dialektik Platons: Platon "ringt, - nicht um die Idee, di-e dst seinem Geiste gemäß -, osondern er ringt um den IUI\S so viel einfacher erscheinenden Begriff"12. Ich mußte diese moderne Da11stellung der Entwicklung von Platons Philosophie erwähnen, weil si:e neu tist; aber wir können sie von nun an außer Betracht lassen, weil sie runvereinbar mit unleugbaren Tatsachen ist. Wir wissen heute mit Sicherheit, daß es Platons Dialog Phaidon war, in welchem die Theorie von den Ideen der LeseMchaft zum ersten Male dargeboten wurde; und es ist niemals ein Geheimnis gew.esen, daß de:r Dialog Menon früher geschrieben worden wa·r, da Phaidon ein unbestritten unverfälschtes Zitat aus bestimmten Abschnitten des Menon enthält. Von allen Schriften Platons ist es vor aUem der Menon, wo die "sokratische" Frage "Was ist dieses oder jenes?" am klarsten als eine Forderung nach einer normalenallgemeinen Definition erklärt wird, wohingegen .andernorts bei Platon di,e gleiche Frage· möglicherweise nicht auf einen gewöhnlichen Begriff, sondern aJUf eine transzendente platonische Idee hin:zlielt. Aber die chronologische Beziehung zwischen Menon und Phaidon erlaubt keinen Zweifel daran, daß Platon wußte, wie eine normale Definition zu finden sei, oder, in anderen Worten, daß er von dem Begviff wußte:, noch ehe irgendeine Erwähnung von 11 Ideen" im besonderen platonischen Sinn erfolgt war-worauf, nebenbei bemerkt, dae gri-echischen Worte eidos und idea sich am Anfang nicht bezogen, sogar dort nicht, wo Platon sie im Zusammenhang mit der Frage "Was ist das?" verwendet hat. Ohne ins einzelne zu gehen darf man behaupten, daß sämtliche Beispiele von Definitionen und Versuchen zu Definitionen im Menon in keiner W.eise von der aristotelischen und traditionellen Logik abweichen. Nichts !im Menon deutet darauf hin, daß der Gegenstand von Fragen wie: Was ist eine Biene? Was ist Farbe? Was ist Tugend? ein geheimnisvolles Etwas sein könnte, das getrennt und verschieden von den vielen gewöhnlichen, 12 Julius Stenze!, Studien zur Entwicklung der Platonischen Dialektik vo11 Sokrates zu Aristoteles. 3. Aufl. 1961, 5. 28.
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Bienen, Fa·rben, Tugenden usw. genannten Dillgen wäre. Es g!ibt im Menon keine die Definitionen und dhre Gegenstände betreffenden Postulate, die Aristoteles oder wir selbst nicht ohne zu zögern annehmen könnten; im Gegenteil, es :ist offensichtlich, daß die Vorstellungen des Aristotei.es IUI1d unsere eigenen von einer methodischen Definition m beträchtlichem Ausmaß mittel- oder unmittelbar vom Menon und den anderen eng verwandten Dialogen, wie Lachesund Charmides, hergeleitet sind. Andererseits kann kein Zweifel darüber ·bestehen, daß Platon den Phaidon m der Oberzeugung schrieb, daß -er eindrucksvolle Beweise für bestimmte "Ideen" besaß, die den vielen Dingen gegenüber, von denen die Namen der Ideen alUsgesagt werden können, e:ine Sonderstellung einnehmen. So ISehen wir uns noch immer dem alten Problem gegenüber: warum eine Lehre von den "Ideen", da doch die Lehre von den Begriffsdefinitionen, die später Tradition wuroe, bereits angebahnt war? Platons Ideentheorie hat ihre politischen, moralischen, pädagogischen, mathematischen, physischen, metaphysischen und religiösen Aspekte; jeder von ihnen !Spricht verschiedene Leser Platons besonders an, und daher smd sie alle immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen. Aber es gibt auch einen logischen Aspekt der "Ideen", zumindest gab es ihn, als Platon ·erstmalig seine neue Theorie von der Erkenntnis aufstellte. Später wurde dieser ursprüngliche Aspekt von Platon selber völlig verdunkelt, und daher ist das logische Geheimnis, das der Theol'ie von den ".Ideen" zugrunde lag, seit der Zeit von Aristoteles' Kritik zumeist übersehen worden. Die Grundthese der Theorie von den Ideen besteht dn der Behauptung, daß eine einzelne Idee als solche etwas Gesondertes und Verschiedenes von den vielen Dingen dst, die in der gewöhnJichen Erfahrung vorkommen und in der Umgangssprache den Namen der Idee als passendes Prädikat annehmen können. Dieser Gegensatz der einen "Idee" zu den vielen Dingen des täglichen Lebens wird gewöhnlich durch die Bezeichnung "an cSich" und Wendungen, wie "an s·ich, das was es ist", "an sich, durch sich selber" ausgedrückt; und, wie nur allzuwohl bekannt ist, war es gerade diese Annahme, daß eine "Idee" 42
ein eigenes Selbst besäße, die von Aristoteles nicht nur als unvorstellbar, sondern auch als völlig überflüssig zum Zweck des Denkens und Argumentierens über die Dinge der wirklichen Welt und des wirklichen Lebens verworfen wurde. Ein Absatz aus der Metaphysik des Aristoteles wird genügen, um den allgemeinen Tenor seiner Angriffe zu beleuchten: "Während schon die Theorie von den Ideen vielerlei Schwierigkeiten bi-etet, ist das Allerparadoxeste die Feststellung, daß es bestimmte Dinge neben denen in der gegenständlichen Welt gibt, und daß diese Dinge die gleichen sind wie greifbare Dinge, nur daß sie ewig sind, und letztere vergänglich. Denn sie sagen, es gibt einen Mann an sich und ein Pferd an ·sich und Gesundheit an sich, ohne weitere Eigenschaftsbezeichnungen, ein Verfahren ähnlich dem der Menschen, welche sagten, es gibt Götter, aber in menschlicher Gestalt. Denn sie ~ben damit dem Menschen nur Ewigkeitscharakter, ebenso wie die Platoniker die Ideen nur als ewige greifbare Dinge betrachteten" (Metaph. 997b sff.). Aber dank der heutigen Forschu:ngsarbeit über die Chronologie der Schriften Platons wissen wir jetzt, daß Platons Ideenlehre ursprünglich keine Beziehung zu solchen "greifbaren Dmgen", wie Mensch und Pferd, hatte - platonische Beispiele wären etwa Mensch, Stier, Feuer, Wasser (Parm. 130c, Phileb. 15a) Finger (Pol. 523c), Eisen, Silber (Phaidr. 263a) -, sondern daß .die zuerst in Betracht gezogenen Ideen moralische Prädikate waren, wie 11 gerecht", "gut", 11fronun", 11 schön", weh im ästhetischen Sinn, sowie mathematilsche Prädikate, wie 11 gleich", "größer", 11 kleiner", 11 eins", 11 ZWei". In der Rede werden diese zwei Gruppen von Ideen zunächst durch Eigenschaftsworte ausgedrückt, deren normale Funktion es ist, die Dinge der alltäglichen Er.l.iahrung 2l1l beschreiben, nicht sie unmi.ttelbar 2l1l bezeichnen. In solchen Fällen hat das terminologische "An sich" eine leichtverständliche und ganz natürliche Bedeutungi dde 11 ldeen" werden aufgefaßt als mögliche Prädikate, und das 11 An sich" stellt sie jenen Ding-en gegenüber, von den·en sie ausgesagt werden könnten. Wenn wir gefragt werden Was ist das Fromme?", dann wäre die Schilderung ·einer oder zweier bestimmter Handlungen, die als fromm gelten, keine befriedigende Antwort, weil die F11age das Prädikat fromm an sich betraf, und nicht eines !Seiner zahlreichen wirklichen Beispiele 11
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(Euthyphron 6d); da<S "Gleiche an sich" steht im Gegensatz zu gleichen Steinen oder gleichen Holzstücken (Phaidon 74a}; und das "Schöne an sich" wird als offensichtlich verschieden von den vielen schönen Menschen oder Pferden oder Gewändern angesehen (Phaidon 78d). Es ist eine Folge der Beweisgründe im Phaidon, daß das terminologische "An sich", das eine platonische "Idee" kennzeichnet, schließlich etwas bezeichnete, das ·in vielen Dingen der greifbaren Welt überlegen und nur dem Geist wahrnehmbar war; der neuen Erkenntnistheorie zugrunde liegt jedoch der schlichte logische Anspruch, daß wir berechtigt sind, nach Definitionen des "Gerechten an sich" oder des "Gleichen. an sich" als im Gegensatz zu den vielen möglichen Subjekten. solcher Prädikate zu fragen. Die logische Situation, in der solches Fragen berechtigt ist, wird klar dargestellt am Anfang des kurzen Dialogs Euthyphron, in dem Sokrates, der Gottlosigkeit angeklagt und vorgeblich mit seiner Verteiddgung beschäftigt, einen Theologen fragt, was das Fromme und da~s Gottlose sei. Das Fromme und das Gottlose, so argumentiert ·er, müssen in allen einzelnen Fällen frommen oder gottlosen Handeins mit sich selber in Übereinstimmung stehen. Was er also zu erf.iahren wünscht, ist nicht ·eine Beschreibung von. ein oder zwei der vielen Fälle frommen Handelns, wie der Theologe seine Frage offenbar verstanden hat; worüber er vielmehr belehrt werden will, das wäre das Wesensmerkmal selber, das alle frommen Handlungen zu solchen macht; "Und dann", so erklärt er, "werde ich ein Leitbild haben, auf das ich blicken und nach dem ich Handlungen beurteilen kann, seien es die deinen oder die von wem auch :immer, .und dann werde ich imstande sein zu s·agen, diese und jene Handlung sei fromm, jene andere gottlos." Das Begehren des Sokrates ist ganz natürlich nnd logisch g.erechtferti.gt. Dennoch verlangt er nicht nach einem "Allgemeinen" oder einem "Begriff", wie sie gewöhnlich verstanden werden. Es wird angenommen, daß die Definition eines gewöhnlichen Allgemeinen durch das Vergleichen von gegebenen Einzelfällen gefunden wird und nicht, indem man sie zu gewinnen sucht als Maßstab für zweifelhafte Fälle; zu Anfang jedoch wurde einer "Idee" zu gerade diesem Zwecke nachgespü-rt.
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Dieser echt logische Unterschied zwischen den ursprünglichen "Ideen" und gewöhnlichen Begriffen ist die Grundlage der ganzen Lehre; soviel IUlld nicht mehr wird im Phaidon gleich zu Beginn der Erörterung von "Ideen" als gegeben vorausgesetzt (s. Phaidon 65d und 74a). Die weitere Entwicklung, wie sie mit der Beweisführung im Phaidon selber ihren Anfang nimmt, war meiner Meinung nach ausgesprochen unlogisch, namentlich, da später P1aton anfing, "Ideen" (anstelle von oder als Zusatz zu "Begriffen") von körperlichen Dingen aufzustellen, von Dingen, welche entweder Kunstgegenstände, wi.e Weberschiffchen, Bett, Stuhl (dies nicht ganz im Ernst und nur beiläufig) oder (dies dn vollem Ernst) Naturdinge waren, wie Mensch, Stier, Wasser, Feuer. An di.esem Punkt geschah es, daß die Theorie sich in die allergrößten logischen Schwierigkeiten verwickelte und sich den wohlbekannten heftigen Angriffen aussetzte. Diesem Gedankengang liegt nämlich d:ie einfache logische Tatsache zugrunde, daß ursprünglich ·eine "Idee" l1lUl" einer "Was ist das"-Frage entsprach, der es um gewisse Prädikate zu tun war, keineswegs aber einer "Was ist das"-Frage, die ein körperliches Ding im engeren Sinn des Wortes "Ding" betraf. DJese Tatsache wird von den Auslegern der Gedanken Platons meistens übersehen oder falsch gedeutet. Von diesem Standpunkt aus werden wir viele der traditionellen und der neueren Erklärungen (und übersetzungen) zu überprüfen haben. Zum Abschluß meiner Bemerkungen über Begr.iffe und Ideen muß ich doch noch eine Tatsache envähnen: selbst nachdem Platon den Bereich seiner Ideentheorie enveitert hatte, behielt er Begriffe als Ergänzung von Ideen weiterhin im Sinn, und gerade damals arbeitete er eine neue Methode zur Aufspürung von Begriffsdefinitionen durch "Teilung" aus, eine Methode, der Aristoteles und die traditionelle Logik gleicherweise zu Dank verpflichtet sind. Denn es war Platon, nicht Aristoteles, welcher die Grundlagen der meisten Dinge legte, die die traditionelle Logik in die Rubriken ,,Definition" .und "Klassifikation" einordnet. Aber dJe logischen Bedingungen, unter denen in Platons Spätphilosophie Begriffe und Ideen nebeneinander standen, sind so kompliziert, .daß bis jetzt niemand imstande 45
gewesen ist, sie ro beschreiben. Die Abhängigkeit der Begriffslogik Platons von seiner Ideentheorie wird gewöhnlich überbetont; meiner Meinung nach war sogar weniger echte Abhängigkeit vorhanden, als Platon •selbst glaubte. Nun ein paar Worte über 11Kategorien"l Platons Unvermögen, säuberlich zwischen Prädikaten wie gerecht, schön, gleich und Dingen im engeren Sinne zu unterscheiden, als er seine Ideentheorie über deren ursprünglichen Bereich hinaus erweiterte, ist nur ein Beispiel unter anderen von einem noch sehr unvollkommenen Bewußtsein der vJ.elfältigen und komplizierten Art und Weise, in der die Wörter einer Sprache, entweder inneroder außerhalb von Sätzen, den Dingen verbunden sind und über sie ausgesagt werden. Den Vorrat an grammatikalischen, logischen, psychologischen und ontologischen Beobachtungen, deren Kenntnis heute sogar beim Anfänger vorausg.es·etzt wird, gab es noch ·nicht oder nur iin einem sehr beschränkten Ausmaß; und meist war in der Philosophie der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderbs v. Chr. Verwirrung das Ergebnis von eher zu wenigen als zu vielen Unterscheidungen. Von diesem Gesichtspunkt aus war die Unterscheidung des Aristoteles zwismen ganzen zehn Gruppen oder Formen von Aussagen sicherlich ein Schritt vorwärts in der Entwicklung von Logik und Philosophie. Wie wir ·aus der Topik erfahren, war es die ursprüngliche Funktion des Verzeichnisses verschiedener "Kategorien", vor Trugschlüssen und Irrtümern zu schützen, die aus ähnlichen sprachlichen Formen verschiedener Aussagen entstehen konnten. Zum Beispiel wird 11sich gruter Gesundheit erfreuen" im Griechischen durch ein V.erb in der aktiven Form ausgedrückt (hygiainein), ·ebenso 11 ein Haus bauen (oikodomein); aber nur das letztere bedeutet eine Handlung des Subjekts, über das ausgesagt wird, während Aristoteles zufolge (166b 16) ersteres trotz der verbalen Form keine Handlung bedeutet, sondern einen Zustand oder eine Eigenschaft seines Subjekts. Im Fall der Sätze: 11Kallias ist ~ein) 13 Mensch", 11Kallias ist weiß", 11 Kallias ist sechs Fuß groß" zeigtdas erste Prädikat "ist Mensch" was Kailias im eigentlichsten Sinne ist, und das schließt ein, 13 Im Griechischen haben die Sätze genau die gleiche äußere Form, weil es im Griechischen keinen unbestimmten Artikel gibt.
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daß er ein Einzelding oder eine "Substanz" ist (wie man es heute meist nennt). Die zweite Aussage "ist weiß" bezeichnet eine Qualität, nicht eine Substanz. Das dritte "sechs Fuß groß" bezeichnet eine Quantität, weder eine Qualität noch eine Sub-· stanz. Substanz, Quantität, Qualität sind die ersten drei Glieder auf dem Verzeichnis der zehn "Kategorien"; die anderen Glieder zeigen ihre jeweiligen Subjekte unter den folgenden sieben Aspekten: "in Beziehung zu etwas", ,;irgendwo", "irgendwann", "in einer Lage", "habend", "tuend", "leidend". Die einschlägigen Abschnitte der Topik in Verbindung mit einigen Abschnitten in anderen aristotelischen Schriften lassen keinen Zweifel darüber, daß dieses Verzeichnis durch ein unterscheidendes Vergleichen von Sätzen mit dem vertrautesten und zugleich vielseitigsten möglichen Subjekt, einem menschlichen Wesen, zustandegekommen istH. In dieser frühen Form ist die Lehre leicht zu verstehen, und Experimente, welche die zehn Unterscheidungsmerkmale Hefern, sind leicht ZJU vollziehen. Die von Aristoteles erzielten Ergebnisse mö~en hinsichtlich einiger Einzelglieder und der Vollständigkeit der Aufzählung ungewdß .sein, a:ber gegen das zugrundeliegende Prinzip, durch welches ontologische Unterschiede zwischen sprachlich ähn1ichen Aussagen nachdrücklich hervorgehoben werden, ist kaum etwas einZJU.wenden. Es gibt nur eine Komplikation, und Aristoteles war sich ihrer völlig bewußt, ohne s·ich f11eilich von ihr stören zu lassen. Wenn der experimentelle Satzgegenstand kein unabhängiges Einzelding oder Einzelwesen ist, dann wird ein Prädikat, das aussagt, was 14 Von den 21 Beispielen verschiedener "Kategorien", welche das Buch über die Kategorien bringt, wären nur 5 (Pferd, doppelt, halb, gestern, voriges Jahr) in einem Satz mit einem Menschen (oder Kind) als Subjekt unstatthaft. Kateg. lb, 27: "Um flüchtig zu umreißen, was ich meine: Beispiele von Substanz sind ,Mensch' oder ,das Pferd', von Quantität Bezeichnungen wie ,zwei cubits lang' oder ,drei cubits lang', von Qualität Attribute wie ,weiß', ,grammatikalisch'. ,Doppelt', ,halb', ,größer' fallen unter die Kategorie Beziehung; ,auf dem Marktplatz', ,im Lyzeum' unter die Kategorie Ort; ,gestern', ,voriges Jahr' unter die Kategorie Zeit. ,Liegend', ,sitzend' sind Lagebezeichnungen; ,beschuht', ,bewaffnet' sind Zustandsbezeichnungen; ,aufschneiden', ,ausbrennen' bezeichnen eine Handlung; ,aufgeschnitten werden', ,ausgebrannt werden' gehören in die Kategorie Leiden."
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er ist (Wesenheit) natürlich nicht die "erste Kategorie" (Substanz) in sich schließen, sondern eine der anderen Kategorien 15• Ich habe diese Einzelheit erwähnt, weil des Aristoteles Bemerkungen über diese scheinbare Inkonsequenz außerordentlich lehrreich sind und besser
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fig in einem fast entgegengesetzten Sinne verstanden woroen, nämlich als eine willkürliche und oberflächliche übersieht über Gruppen oder aUgemcine Rubriken, auf die Aristoteles- mit den Worten der Logique de Port Royal (Teil I Kap. III) "alle Gegenstände unseres Denkens" "zurückführen wollte" a voulu reduire - oder, wie Mill es ausdrückt, "worauf, dieser Schule der Philosophie z;ufolge, Dinge im allgemeinen zurückgeführt werden könnten"17. Und auch in diesem Falle trägt der Entdecker selber die Verantwortung für das Aufgeben seines ursprünglichen Standpunktes. Denn es läßt <Sich nicht leugnen, daß in verschiedenen Schriften des Aristoteles eine mehr oder minder vollständige Aufzählung der "Kategorien" als ein brauchbares gedrängtes Verzeichnis der Hauptaspekte der Wirklichkeit benutzt wird, und daß, wenn so verwendet, das Verzeidmi.s der Kategorien eines vernünftigen Grundgedankens ermangelt und ernsthaften Einwänden ausgesetzt ist; und die Logiker haben nicht verfehlt, dies mit unverhohlener Verachtung hervorzuheben 18. Dies zumindest wird durch die bloße Masse der philosophischen IUild phüologischen Literatur für und wider die aristoteLischen Kategorien bewiesen, daß. die l
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teles an erster Stelle steht 19. Sie enthält, auf der Grundlage einer kurzen, aber sehr aufschlußreichen Einführung (Kap. 1-3), die man .eher logisch als ontologisch nennen könnte, eine genaue Beschreibung d'er ersten vier Kategorien (Substanz, Quantität, Beziehung und Qualität), in denen ein ontologischer G~sichtspunkt zu überwiegen scheint. Die hier dargelegte Lehre ist weit •entfernt von den geschmeidigen Feinheiten der vollentwickelten Metaphysik des A11istoteles, aber sie weist einige auffallende Üb.ei:einstimmungen auf mit Feststellungen, di.e· ansonsten der Topik eigentümlich sind; und die Schlußfolgerung, daß die Abhandlung Kategorien ein verhältnismäßig frühes Werk von Aristoteles selbst war, ist ziemlich gesichert. Jedenfalls kann gesagt werden, sogar ohne Bezug auf dieFrage nach Verfasserschaft .und Chronologie, daß nirgendwo sonst in den Schriften des Aristoteles die Quelle der Schwierigkeiten, die der später~n Form der Lehre innewohnen, so durchsichtig ist wie hier. Das Buch erläutert seinen Gegenstand auf folgen.d.e Weise. Von der Annahme ausgehend, daß es "Dinge gibt, die ausgesagt werden", teilt es sie in zwei Gruppen.ein (1a 16-19): "manche werden ausgesagt" in Satzgefügen, z. B. "(ein) Mann läuft", "(ein) Mann gewinnt", andere "werden ausgesagt" ohne Satzgefüge, z. B. "Mann", "Ochse", "läuft", "gewinnt". Nun bedeutet je.cles dieser letzteren Dinge - die auße11halb eines Satzgefüges "ausgesagt werden" und demzufolge weder wahr noch falsch sind - eine der zehn Kategorien (Substanz oder Qualität oder Quantität usw.). Auf den ersten Blick hat es den Anschein, .als wolle der Verfasser die Bedeutungen aller unverbundenen Wörter klassifizieren und als sei die Erwähnung von Sätzen lediglich Ergänzung. Tatsächlich aber werden dem Leser nur die zehn Gruppen von Satzaussagen vorgeführt, und die Erwähnung von Sätzen (die vor den "Dingen, die ohne Satzgefüge aus·gesagt werden", erfolgt) hat in Wirklichkeit den Zweck, die Aufmerksamkeit des Lesers aus19 Wir haben es ausschließlich mit ihrem Hauptteil zu tun (Kap. I-IX), einer sorgfältig geplanten, aber nie vollendeten Abhandlung; der zweite Teil ist von einem Bearbeiter hinzugefügt worden, der den unvollendeten Zustand des Original-Manuskriptes über die Kategorien in eigenen Worten am Schluß von Kap. IX verrät (llb 8-14; siehe den griechischen Text).
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schließlich auf solche "ausgesagte Dinge" zu lenken, die Bestandteile von Sätzen wie "(ein) Mann läuft" und "(ein) Mann gewinnt" sein können. So besteht tatsächlich keine Ausweitung der Lehre über ihren ursprünglichsten begrenzten Sachgegenstand hinaus; der einzige wirkliche Unte~schied besteht darin, daß Dinge wie "Mann" und: "Ochse" jetzt als Satzsubjekte v.erstanden werden können, während ·in der ursprünglichen Form der Lehre die Bedeutung der ersten Kategorie von dem Sinn abgeleitet wird, den Aussagen wie ,,ist (ein) Mann" und 11ist (ein) Pferd" offenbaren, sobald sie Aus.sagen wie "ist weiß" und "ist sechs Fuß groß" gegenübergestellt oder mit ihnen verglichen werden. . Dennoch kann die historische Bedeutung dieser scheinbar geringfügigen Veränderung m der Darbietung der Kategorienlehre kaum überschätzt werden. Denn zum mindesten wird mit Sicherheit die Illusion geschaffen, daß die zehn Gruppen von Kategorien von Anfang an da21u bestimmt gewesen wären, und ohne Bedenken oder weitere UnterSIIlchung daru verwendet werden könnten, den Gesamtbereich der möglichen B.:e_cl.e~1Jung v_on einzel11e!l Wörtern zu erfassen; und dies ist etwas, das im Altertum, ohne modernen TranszendentalisliiiUs und ohne moderne PISychologie, niemand auf dieDauer von dem Bereich der "Dmge im allgemei!len" . llllterschieden halten ko~te~_ Wegen der fast ausschließlichen Vorherrschaft ckr Abhandlung Kategorien in der Entwicklung der traditionellen Logik ist es nicht nöHg, daß wir die Abschnitie, so wie sie sich darbieten, dn den unzweifelhaft aristotelischen Schriften, wo die Kategorienlehre in einem umfassenderen Smne als dem ursprünglichen verwendet wird, einer Betrachtung unterziehen; aber das völlige Fehlen einer neuen Erörterung des Prinzips der Aufzählung zeigt deutlich, gaß Arist~teles :selber da~_~rste Opfer_ei_!!et:_ S(Jlc~l!Jllusion gewesen ist. W. D. Ross legt den Fall der Kategorien wde folgt dar: "Es hat viel Streit gegeben über die Bedeutung der Lehre, weitgehend auf G~nd der Tatsache, daß wir sie nirgeruls bei Aristoteles im Werden sehen." 20 Und: "Diese Kategorien - einige oder alle- er.scheinen in fast jedem der Werke des Aristoteles, 20
Aristotle, 5. 22.
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und überall wird die Lehre als etwas hereits Feststehendes behandelt." 21 Letztere Feststellung stimmt, und doch ist erstere unrichtig. Obwohl überall, sogar in der unzweifelhaft frühen Topik, die "Lehre als etwas bereits Feststehendes behandelt wird", sehen wir sie doch im Werden, weil in .der Topik die Lehre in einer einfacheren Fonn und mit ciner natürlicheren Funktion als irgendwo sonst erscheint. Manche Auseinandersetzung könnte sich erubrig.en, wenn Historiker22 und Kritiker der Kategorienlehre von deren frühester Fassung ausgehen würden. Ebd., S. 21 f. F. A. Trendelenburg hat eine Geschichte der Kategorienlehre (HistorisChe Beiträge zur Philosophie, 1, Berlin 1846) geschrieben, in der die historische Aufgabe auf meisterliche Weise formuliert wird. Aber obwohl über die Hälfte des Buches sich mit Aristoteles beschäftigt, ist das Ergebnis dieser Behandlung der Kategorien viel verwirrender als die einzelnen aristotelischen Texte, ganz einfach deshalb, weil der Verfasser in seinem Umgang mit den Schriften des Aristoteles einer ausschließlich synoptischen Methode folgte.
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22
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lli.
KAPITEL
Urteile, Subjekt und Prädikat Wir wollen nun versuchen, jene Teile der antiken Logik einer Betrachtung zu unterziehen, die zu Grundlagen der traditio~ nellen Logik geworden sind :und durch die traditionelle Logik für andere moderne Schulen der Logik entweder zu Thesen, auf .die sie sich berufen, oder zur Zielscheibe von Angriffen. Um unsere Zielrichtung nicht zu verlieren, .ist es wieder nötig, mit einigen Zitaten aus neueren Büchern den Anfang .zu machen; dabei braucht wohl kaum gesagt zu werden, daß dies nicht als eine erschöpfende Übersicht über mögliche Meinun~ gen oder tatsächlich vertretene Meinungen gedacht ist. Für meine Absicht genügen ein paar Beispiele, wie die traditionelle Logik in ihrem zweiten Teil die Fragen behandelt, mit denen sie sich befaßt. Der erstmalig im Jahre 1662 erschienenenLogique dePortRoyal zufolge besteht die Logik oder Kunst des Denkens in den Überlegungen, welche die Menschen über die vier Haupttätigkeiten des Geistes angestellt haben: vorstellen, urteilen, schließen, ordnen (concevoir, j:uger, raisonner, ordonner). Der Gegenstand des zweiten 'felles der Logik wird definiert wie folgt: "Urteilen !ist jene Tätigkeit des Geistes, durch die er, verschiedene Ideen verknüpfend, die eine Zlur anderen bejahend oder verneinend in Beziehung setzt; so etwa wenn er - gegeben die Ideen von Erde und Rundheit- .bejaht oder verneint, daß die Erde rund ist." 1 Lassen Sie mich, um einen vollständigel'en Eindruck zu vermitteln, die Definition des Gegenstandes vom dritten Teil der Logik hillZIUfii!gen: Schließen heißt, der Logique de Port Royal zufolge, "jene Tätigkeit d~s Geistes, dul'ch die er ein Urteil aus einer Mehrzahl von anderen Urteilen bildet, so etwa, wenn w.ir geurteilt haben, daß wahre Tugend sich auf Gott bez,iehen muß, daß die Tugend der Heiden sich nicht auf ihn bezogen hat, und daraus schließen, daß die Tugend der Heiden keine wahre Tugend war" 2. t A.a.O. (in der übersetzung von Baynes), Einleitung. 2 Ebd. 53
Nun werde ich ein konservatives amerikanisches Lehrbuch der Logik zitieren, demzufolge "das Urteil den zweiten Teil der Logik bildet" 3 ; infolgedessen befaßt sich der ganze zweite Teil des Buches mit dem, was "Urteil" genannt wird. Zu Beginn des dritten "Teiles der Logik" jedoch erfahren wir von einer Namensänderung: "Wenn wir den Syllogismus in seine Bestandteile zerlegen, beobachten wir das vertraute Vorhandensein von Begriffen und Urteilen; nur neigen sie hier da~u, viel von ihrer Unabhängdgkeit einzubüßen und zu Teilen eines logischen Mechanismus ru werden. Die Begriffe werden zu Termini, die Urteile zu Prämissen und Schluß." 4 Was den Ausdruck "Proposition" betrifft, so enthält der Index des Buches einen Hinweis: "Propositionen (siehe U~teil)". Die Begriffe betreffend erfahren wir ebenfalls zu Beginn des zwei-ten Teiles, daß Begriffe, die dm ersten Teil ihre Eigengesetzlichkeit be· saßen, zu "Te.rmini" werden, sobald die Logik des Urteilens in Gang kommt. Diese Art und Weise, mit dem Unterschied zwischen Begriffen und Urteilen einerseits und Termini und Propositionen anderel'lseits umzugehen, ist nicht so sehr eine Erklärung, als eine Beschreibung dessen, was nun einmal die Gewohnheit der Logiker ist. In einem anderen der neueren Lehnbücher5 finde ich ein Kapitel, in dem das Urreil als die einfachste funktionelle Gedankeneinheit beschrieben wird, welche rin andersgeartete Einheiten zerlegt werden kann, in strukturelle Einheiten, die 1im. Falle von Urteilen oder Propositionen Termini lllnd Beziehungen wären. über die Frage, ob die f.unktionellen Gedankeneinheiten Urteile oder aber Propositionen genannt werden sollen, bemerkt der Verfasser: "Wird ein Urreil in Worten ausgedrückt, so wird es zu einer Pmposition, und Propositionen können, wie mre subjektiven Korrelate, auch funktionelle Gedankeneinheiten genannt werden. Urteile können ·eine persönliche Angelegenheit sein, Propositionen jedoch, als geschriebene oder gesprochene Urteile, werden Eigentum der Öffentlichkeit; und aus diesem Grunde wollen wir lieber über Propositionen als über Urteile sprechen."6 Ich glaube, die Unterscheidung, daß Urteile eine 5
Logic, S. 71. 4 Ebd. S. 131. Reiser, Humanistic Logic for the Mind in Action.
6
Ebd. S. 129.
3 Shaw,
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Privatangelegenheit sein können, während Propositionen dazu bestimmt sind, anderen Zlllr StelLungnahme vorgelegt zu werden (vgl. oben S. 20), ist wesentlich; aber ein wesentlicher Unterschied der Bedeutung sollte nicht in eine verschiedene Art und Weise, von nahezu dem gleichen Gegenstand zu sprechen, umgefälscht werden. ]. N. Keynes behandelt das Dilemma: "Sollen wir von Urteil oder von Proposition sprechen?" weniger schablonenhaft und weniger modernistisch?, Ich möchte aJUs seinen "Gründen und Gegengründen" folgendes zitieren: "Einerseits wird gesagt, daß die Verwendung des Wortes Proposition leicht dazu führen kann, den Satz als ein grammatü.k.alisches Wortgefüge zu verwechseln mit ,Behauptung', wie sie aufgestellt und vom Verstand bestätigt wird; und es wird geltend gemacht, daß bei der Behandlung von Propositionen der Logiker dazu neigt, zu einem bloßen Grammatiker zu werden. Andererseits ... wird geltend gemacht, daß, wenn wir Wlsere Aufmerksamkeit auf Urteile richten, ohne deutlich ihren sprachlichen Ausdruck eiMubeziehen, .unsere Behandlung dazu neigt, allzu psychologisch zu werden" 8 • Wenn wir schließlich das Kapitel"Was ist eine Proposition?" in Cohen und Nagels Lehrbuch zu Rate ziehen, so finden wi-r, daß die moderne Logik, um nicht mit Grammatik und Psychologie verwechselt zu werden, die ältere Definition einer Proposition ("ein in Worte .gefaßtes Urteil") .aufgegeben ·und eine völlig andere eingeführt hat. "Propositionen werden oft verwechselt mit den ·geistigen Vorgängen, die erforderlich sind, um sie hervorzubringen. Diese Verwirrung wird dadurch genährt, ·daß man Propositionen ,Urteile' nennt, denn dieses Wort ist doppeldeutig: manchmal bezeichnet es den geistigen Vorgang des Urteilens, und manchmal bezieht es sich auf das, was beurteilt wird. Aber, ebenso wie wir die Proposition (als die objektive Bedeutung) von dem Satz, der sie aus·sagt, unterschieden haben, ebenso müssen wir sie unterscheiden von dem geistü.gen Vorgang oder dem Urteil, von dem sie hervorgebracht wird" 9 (vgl. Mills Gesichtspunkt wie oben S. 34 zitiert). 7 8
9
Studies and Exercises in Formal Logic, 5. 66. Ebd. S. 67. An Introduction to Logic and Scientific Method, S. 28.
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Offensichtlich wäre es jetzt erforderlich, in diesem Zusammenhang die verschiedenen Ansprüche von mindestens drei verschiedenen modernen Wissenschaften, Logik, Grammatik .und Psychologie, zu erörtern. Aber, da dies nicht ·in unserer Absicht liegt, wollen wir lieber umkehren und zusehen, unter welchen Bedingungen P.hüosophen des Altertums zuerst die Frage nach den Urteüen (oder Propositionen) aufwarfen. In den Abhandlungen des Aristoteles über die Syllog~~smen, der Topik und den Analytiken, werden Propositionen und Syllogismen meistens nicht als spontan im Geiste eines einsamen Denkers entstanden angesehen, sondern fast ausschließlich in der Form, wie sie im Geiste anderer durch das gesprochene Wort hervorgerufen werden. So scheint dn diesen Büchem kaum Gelegenheit für eine ausdrückliche Unterscheidung zwischen Urteilen als geistigen Vorgängen und Propositionen gewesen zu sein; s.ich.er ist, daß eine solche Untersch.eidung dort nicht zu finden dst. Erst im letzten Kapitel der Analytica posteriora liegen die Dinge anders. Hier wird gefragt, wie wir zu jenen Grundprämissen gelangen, mit denen nach Ari.stoteles die Wissenschaft beginnen muß. Da sie unbeweisbar sind, muß der syllogistische Gesichtspunkt aufgegeben werden; und ohne das geringste Zögern bietet Aristoteles eine psychologische Erklärung des Vorgangs, wobei er sich völlig bewußt ;ist, daß er psychologische Tatsachen feststellt. Denn inmitten seiner Versuch·e, die Dinge so klar darzulegen, wie die außerordentliche Schwiertgkeit des Falles es erlatUbt, sagt er unumwunden: "Und die Seele ist so beschaffen, daß slie zu diesem Vorgang befähigt ist" (lOOa 13). Dieser Abschnitt ist einer der ganz wenigen, in denen Aristoteles die Logik auf die Psychologie zu gründen scheint. Dieser Gedanke hat ihn nicht erschüttert, wie es einem modernen Logiker ergangen wäre, aber bei seiner Art und Weise, mit der Logik umzugehen, ergibt sich 111Ur selten eine Gelegenheit, die Logik mit psychologischen Erwägungen zu durchsetzen. Wir werden bald eine andere oder vielleicht die Ausnahme von der Regel zu betrachten haben. Im •allgemeinen ist die Syllogistik des Aristoteles, d. h. seine Logik, soweit sie sich mit Syllogismen und den Bestandteüen von Syllogismen befaßt, in sich selber folgerichtig. Nicht nur die Behandlung der Termini, sondern auch die der Propositio-56
nen ist der Lehre von den Syllogismen völlig untel'geordnet und von ihr abhängdg. Wenn wiT gehofft hatten, daß mit Aristoteles die Logik verhältnismäßig einfach und leicht verständlich würde, werden wir nichtsdestoweniger in diesem Falle enttäuscht .sein. Denn neben der syllogistischen Behandlung der PToposibionen in der Topik und in den Analytiken gibt es das Büchlein De interpretatione, da:s auf andere Weise von den Sätzen handelt; und wenn wir uns das vergegenwärtigen, scheinen nicht wenige der Schwierigkeiten, die in den verschiedenen Anschauungen späterer Logiker auftauchen, vorweggenommen zu sein. Es stimmt, daß teilweise der Inhalt dieses Buches sich nicht wesentlich von der Behandlung der Propositionen in den Analytiken unterscheidet und durchaus als eine Art Anhang zu jener Untersuchung verstanden werden kann. Aber es bleibt ein Restbestand, der sich nicht auf diese Weise erklären läßt und gewiß eine getrennte Behandlung rechtfertigt, denn er wäre wirklich unvereinbar mit der sowohl in der Topik wie in den Analytiken angewandten Methode. Der Titel De interpretatione bedeutet "Über den Ausdruck von Gedanken in der Rede"; aber er ist zu allgemein für den Inhalt des Buches und daher irreführend. Wahrscheinlich ist dieser Titel die Erfindung einer späteren Zeit. Wie in anderen aristotelischen Schriften jedoch enthalten die ersten Zeilen des Textes in einfacher Form eine zutreffende Beschreibung dessen, was wir zu erwarten haben. "Zuerst müssen wir", sagt der Verfasser, "die Ausdrücke ,Nomen' und ,Verbum' definieren, dann d~e Ausdrücke ,Verneinung' und ,Bejahung', dann ,Proposition' 10 und ,Satz'." Von diesen sechs Themen des Buches gehören drei, nämlich ·verneinung, Bejahung und Proposition offensichtlich auch zu dem Sachgegenstand der Syllogistik, während unseren Vorstellungen entsprechend die anderen drei, Nomen, Verb und Satz, eher in das Gebiet der grammatikalischen Wissenschaft gehören. Nachdem Aristoteles seine Erklärungen und Definitionen von Nomen, Verbum und Satz im allgemeinen gegeben hat, 10 Der moderne Sprachgebrauch gestattet die Verwendung von "Proposition", aber es sollte angemerkt werden, daß die griechische Entsprechung hier nicht protasis ist, wie in der Topik (s. o. S. 20), sondern apophansis ("Aussage" oder "Feststellung").
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fährt er in der Tat fort wie folgt (17a 1): "Jeder Satz hat eine Bedeutung ... Dennoch ist nicht jeder Satz eine Propositioni nur solche Sätze sind Propositionen, denen entweder Wahres oder Falsches innewohnt. So ist ein Gebet ein Satz, aber weder wahr noch falsch. Deshalb wollen wi'l' alle anderen Satztypen ausschalten, mit Ausnahme der Proposition, denn nur sie betrifft unsere gegenwärtige Untersuchung, während die Erforschung der anderen eher zum Studium der Rhetorik ode'l' der Poetik geh()rt." Wir sehen, Ar.istoi'eles tut bereits genau das gleiche wie die anderen Logiker: nachdem sie Sä.tze im allgemeinen erwähnt haben, ,beschränken sie das Anliegen der Logik auf Sätze, die entweder wahr ode'l' falsch .sein können, und überlassen es anderen Wissenschaften, die anderen Arten von Sätzen zu erfo.rschen 11, Zum Vergleich lassen Sie mich einen modernen Logiker zitieren: "Schluß und Beweisführung werden gewöhnlich durch Sätze vermittelt. Abe'l' nicht jeder Satz ist ein Aussagesatz im Sinne der Logik. Grammatiker zählen verschiedene Typen von Sätzen auf: Aussage-, Ausruf- und Fragesätze, Wunsch-, Befehls- und Ermahnungssätze. Abe'l' Sätze, die einen Wunsch ausdrücken, die eine Frage stellen, die ausrufen oder anspornen, gehören nicht unmittelbar zu den Beweisführungen und sind darum vom Standpunkt der Logik aus von zweitrangiger Bedeutung. Wir sehen daher, daß nur Sätze, die wahr oder falsch sind, Gegenstand der Logik sind." 12 Es ist e'l'freulich, die moderne Logik in so völliger Übe'l'einstimmung mit Aristoteles zu sehen, und ich glillUbe, die Freude wird nur noch vertieft werden, wenn wir auf einen geringfügigen Unterschied hinweisen, daß nämlich Aristoteles nicht daran .gedacht haben könnte, aus der Logik Sätze zu verbannen, die eine Frage stelleni denn dies wird vollständig erklärt durch den Zusammenhang der Aristotelischen Logik mit den Fragen und Antworten 11 Da zur Zeit des Aristote!es Grammatik im modernen Sinne noch nicht bestand, sagt er Rhetorik "oder" Poetik; obwohl seine eigenen Arbeiten über diese Themen zeigen, daß auch diese Studienzweige kaum in der Lage waren, mit streng grammatischen Beobachtungen umzugehen. Siehe Poetik, Kap. 20f.; Rhetorik, III, Kap. 5. 12 Reiser, Humanistic Logic for the Mind in Action, 5. 132.
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sokratischer Dialoge. So scheinen wir also wenigstens hier festen Boden unter den Füßen zu haben. Dennoch beginnen gerade hier die Schwierigkeiten. Denn wenn es auch nur allzu klar ist, daß die naive Sichei'heit der späteren Logik dm Unterscheiden zwischen den Anliegen der Logik und denen der Grammatik lediglich traditionsbedingt ist, liegt bei Aristoteles der Fall nicht ganz so einfach. Es ist klar, daß er einen bestimmten Standpunkt .innegehabt haben muß, wenn er einerseits sein De interpretatione auf grammatikalische Definitionen gründete und es ande!'erseits ablehnte, mehr als einen sehr kleinen Teil des Sachgebiets der Grammatik in Betracht 2lU ziehen. Nun war aber di.eser Gesichtspunkt nicht der seiner Abhandlungen über den Syllogismus, denn in diesen besteht überhaupt keine Verwendung für einen grammatikalischen Unt·erbau. Mit anderen Worten: während wir zugehen müssen, daß wir es in De interpretatione mit "Logik" zu tun haben, scheint es sich um eine andere Art Logik zu handeln, als jene, die. mit Sicherheit Aristoteles' eigene Entdeckung war, nämlich die Logi·k der Syllogismen; De interpretatione wi.rd tatsächlich in den syllogistischen Schriften des Amstoteles nicht nur nicht erwähnt, sondern ZJum mindesten in einigen Teilen, insbesondere im Anfang, scheint eine gewisse Unvergleichbarkeit des Inhalts zu bestehen. W ar.um finden wir hier dieses (begrenzte) Interesse an grammatikalischen Tatsachen? Nun zu den eigentlichen Schwierigkeiten! Zwischen der Ankündigung der sechs Definitionen 'lllld diesen Definitionen selber enthält Aristoteles' De interpretatione ein einführ.endes Kapitel, in dem der Verfasser alles zu tun versucht, was wir vernünftigerweise· von ihm erwarten dürfen: er trachtet danach, so genau wie möglich den Ort zu bestimmen, wo in diesea: Welt vernunftbegabter menschlicher Wesen der Gegenstand der kleinen Abhandlung zu finden ist. Wenn man die Quelle endlosen Zankes eine Grundlage nennen darf, so könnten wir sagen, daß dieses Kapitel zur Grundlage eines großen Teiles der logischen Literatur aller Zeiten geworden ist. Das Kapitel wird ansdtlleßend zitiert, so daß man es lesen kann, ehe lieh hervorhebe, was meiner Meinung nach anfechtbar ist. "Das gesprochene Wort ist Symbol einer geistigen Erfahrung, und das geschriebene Wort ist Symbol des gesprochenen Wor-
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tes. Ebenso wie die Menschen nicht alle die gleiche Schrift haben, so haben nicht alle Menschen die gleichen Sprechlaute, aber die geistigen Erfa:hvungen, die von diesen unmittelbar symbolisiert werden, sind die gleichen für alle, wie es auch diejenigen Dinge sind, deren Abbilder unsere Erfahrungen sind. Diese Frage ist jedoch in meiner Abhandlung über die Seele erörtert worden, denn .sie gehört zu einer Untersuchung, die sich von der uns hier vorliegenden unterscheidet. So wie es im Geist Gedanken gibt, ·die nicht Wahres oder Falsches enthalten, und Gedanken, die entweder wahr oder falsch sein müssen, ebenso i:st es in der Rede der Fall. Denn Wahres und Falsches setzen Verbundenheit und GetrenntheU voraus. Hauptwörter und Zeitwörter gleichen, vorausgesetzt, daß nichts hinzugefügt wird, Gedanken ohne Verbundenheit oder Getrenntheit; ,Mann' und ,weiß' als Einzelwörter sind noch nicht entweder wahr oder falsch. Betrachten wir als Beweis das Wort ,Bockhirsch'. Es hat eine Bedeutung, aber es ist nichts Wahres oder Falsches daran, außer man setzt ,ist' oder 1ist nicht' hinru, entweder in der Gegenwart oder in irgendeiner anderen Zeitforrn." Nehmen wir zuerst das, was verhältnismäßig leicht zu formulieren ist. A·ristoteles unterscheidet deutlich zwischen dem Gegenstand der Psychologie und dem Gegenstand seiner vorliegenden Untersuchung, die wir nur eine logische nennen können. Die Abbilder wirklicher Dinge, die in der Seele verwirklicht werden, .sind Gegenstände psychologischer Erforschung, während es in De interpretatione um die Wörter undSätzeder Sprache geht, insofern sie Symbole dieser Abbilder und durch sie der Dinge sind. Aber Aristoteles tut Illi.cht, was die meisten modernen Logiker ihn gerne tun .sehen würden. Er sagt nicht, daß der Gegenstand der Logik von dem der Psychologie unabhängig sei. Im Gegenteil, nach ihm sind Wörter und Sätze nur Symbole dessen, was in der Seele vor sich geht, und insbesondere ist er der Auffassung, der Unterschied zwischen Sätzen und einzelnen Wörtern sei nur als Analogie zu dem Unterschied zwischen v.erschiedenen Arten von Gedanken zu verstehen. Andererseits bez~eht sich Ari:stoteles' Behandlung von Wörtern und Sätzen in De interpretatione nicht mehr auf die Erkenntnis psychologischer Tatsachen und ist nicht mehr von ihr
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abhängig. Kurzum, die Abhängigkeit des Gegenstandes der Logik von dem Gegenstand der Psychologie wird al\lsdrücklich festgestellt, die logische Forschung jedoch wird, offensichtlich ohne jegliches Zögem, für unabhängig gehalten. Zweitens, zunächst haben wir es anscheinend mit ei·ner einfachen Reihe von vier Gliedern ru tun: geschriebene Wörter, gesprochene Wörter, Abbilder von Dingen in der Seele, Dinge. Geschriebene Wörter können wir außer acht lassen,dennAristoteles erwähnt sie nur, um den konventionellen Charakter solcher Symbole zu erläutern; dabei wird stillschweigend ange-nommen, daß auch gesprochene Wörter lediglichkonventionelle Symbole seien, Wörter sind Symbole von "Vorgängen in der Seele" 13, ·und diese s·ind Bilder von Dingen. Aber dann hören w.ilr von dem Unterschied zwischen Gedanken, die weder Wahres noch Falsches enthalten, und Gedanken, die entweder wahr oder falsch sein müss·en, und wir erfahren, daß der gleiche Unterschied in der gesprochenen Rede besteht. Der Grund ist angeblich, daß Wahres und Falsches mit Ve11bundenheit und Getrenntheit ru tun haben, eine etwas vage Behauptung. Weiter erfahren wir, daß getrennte Worte an sich die Eigenschaft haben, weder wahr noch falsch zu sein; Wtd es wird angenommen, daß Wortverbindungen die Eigenschaft haben können, entweder wahr oder falsch zu sein, und weiter, daß ein ähnlicher struktureller Unterschied zwischen den zwei Gruppen von Gedanken besteht. Wir wissen aus Abschnitten in aber die Seele .und in der Metaphysik, daß Aristoteles dies tatsächlich im Sinne hat, aber in diesem Kapitel von De interpretatione vermeidet er, es dieutlich und unumwunden auszusprechen. Denn sein Ausdruck "Gedanken ohne VerbWtdenheit und Getrenntheit" hat eine völlig andere Bedeutung: natürlich sind nicht Gedanken gemeint, die weder verbunden noch gebrennt sind, sondern lediglich Gedanken, die weder mit Verbundenheit noch mit Getrenntheit (nämlich von Dingen) etwas zu tun haben. Was die Dinge selber betrifft, dürfen wir es als selbstverständlich ansehen, daß Aristoteles nicht die Absicht hatte 13 Oder "Leiden der Seele" im Griechischen des Aristoteles, "Mental Experiences" in der Oxford-übersetzung. Im Lateinischen wurden die Worte conceptio und conceptus in diesem Zusammenhang verwendet, vgl. oben S. 38.
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anzudeuten, daß Einzeldinge weder wahr noch falsch seien, und daß Verbindungen von Dingen notwendig wahr oder falsch seien, denn das wäre Unsinn. Was er meint, ist dies: Wörter g.etr.ennt genommen, wie "Mann" an sich, oder "weiß" an sich drücken nicht Wahres oder Falsches aus, währ.end Wortverbindungen so beschaf:6en sein können, daß sie dies notwendigerweise tun. Vielleicht darf ich, ohne auf weitere ·Einzelheiten einzugehen, hinzufügen, daß Aristoteles in anderen Schr.iften, in denen er sich klarer ausdrückt, offen erklärt, daß Wahrheit und Falschheit nicht in den Dingen selber vorkommen. Aber wo immer er über dieses Thema spllicht, ist er schwer zu verstehen, und selbst seine Sprache verliert .ihre gewohnte Klarheit. Um dieses zweite Problem des einführenden Kapitels von De interpretatione kurz zu formulieren: wenn wir die Analogie zwischen den beiden Gruppen von gesprochenen Wörtern und den beiden Gruppen der ihnen entsprechenden Gedanken ernst nehmen, dann wird die Beziehung zwischen Gedanken und Dingen sehr viel komplizierter, als wir erwarteten; und wenn wir Gedanken nichts anderes als Abbilder von Dingen sein lassen, wie es zu Beginn des Kapitels zu verstehen gegeben wird, dann gähe es keine Analogie zwischen Gedanken einerseits und dem Unterschied von Wörtern und deren Verbindungen zu Sätzen andererseits. Wir sehen .uns zusätzlich zu ·dem Problem, mit dem wir begonnen haben, zwei weiteren Problemen gegenüber, So bedürfen mindestens drei Dinge einer Erklärung: erstens die Tatsache einer getrennten Behandlung von Urteilen (oder Propositionen) durch Aristoteles, eine Behandlung, die in engerer Beziehung zu grammatikalischer Beobachtung steht, als die Syllogistik des Aristoteles je gestanden hat; zweitens setzt Aristoteles in gewisser Weise den pegenstand der Psychologie voraus, ohne jedoch den Versuch zu machen, eine psycholog·ische Grundlage für die Einzelheiten seiner logischen Untersuchung zu finden; und drittens scheint er nicht einmal eine feste Auffassung des psychologischen Korrelats zu seinem logischen Thema zu besitzen. Wenn wir keine Belege über logische Forschungen hätten, die älter sind als Ar.istoteles, so bestiinde, glaube ich, keine Aussicht, diese Schwierigkeiten zu lösen; Generationen auf Gene-
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rationen von Lo~kern der Spätantike und des Mittelalters haben vergeblich versucht, diese Züge aus De interpretatione und deren Beziehung zu den Analytiken des Arl.stoteles vom Standpunkt der Systematik aus zu verstehen. Dennoch sind wir mit HUfe eines Teiles von Platons Dialog Sophistes Jmstande, die ganze Angelegenheit zu erklären und dadurch vielleicht den Weg sogar für moderne logische Studien frei ru machen. Platons frühe Dialoge sind Werke höchster schriftsteller.ischer Kunst, und ihre verschiedenen Teile und das Ganze erklären sich wechselseitig. Das gleiche kann nicht immer von Platons späteren Schriften gesagt werden, zu denen der Sophistes gehört. Um jenen Teil des Sophistes auszulegen, der zur Grundlage der Logik von De interpretatione und jeder von ihr beeinflußten mittelalterlichen und modernen Logik geworden ist, muß ich eine Geschichte ·erzählen, die wir zum Glück aus anderen Quellen kennen, nämlich aus Stellen in anderen platonischen Dialogen, ein paar Anspielungen des Ar.istoteles und einigen anderen Stellen der alten Literatur. Antisthenes war, wie Platon, ein Schüler des Sokrates, älter als Platon, und in fast allem ein Gegner seiner Anschauung. Es muß zwischen Antisthenes .und Platon eine starke Abneigung bestanden haben; und durch heftige Angriffe sowohl persönlicher wie sachlicher Art gelang ·es Antisthenes, Platon dermaßen zu reizen, daß Platon sich gezwungen sah, ihm in gleicher Münze heimzuzahlen, wobei er schließlich sogar die Grobheiten des Antisthenes erwJderte. Antisthenes beanstandete nicht nur sachlich den Inhalt der Lehren Platons, sondern er mißbilligte auch- und dies ist es, was uns hier angeht- Platons Art und Weise, das, wofür ·er sich einsetzte, durch erfundene sokratische Dialoge zu verbreiten. Hier wenigstens sind die Beweggründe des. Antisthenes uns ohne jede geistige Anstrengung uns-ererseits verständlich. Denn sogar heute noch gewinnen manche Leute den Eindruck, daß die von dem platonischen Sokrates ausgeÜbte dialektische Kunst die Dinge eher verwirrte und kompldzierte, als daß sie auf einfachem Wege zu nützlicher Erkenntnis führte. Nun war letzteres, nämlich junge Leute auf einfiachem Wege zu nützlicher Erkenntnis 7JU führen, gerade das, was Antisthenes zufolge der historische Sokrates
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getan hatte. Daher muß jeder, der aus einem platonischen Dialog einen anderen Eindruck ·gewonnen hat, den Beweggründen des Antisthenes in seinenAngriffen gegen den platonischen Typus der Dialektik von Herzen zustimmen. Besteht diese nicht darin, Menschen zu fragen: "was ist di!eses oder jenes?" in solcher Art, daß es keine vernünftige Antwort gibt, .und li:hnen unerwartete Schlüsse aufzuzwingen, indem man ihren harmlosen Glauben an das alternative "Ja" oder "Nein" auf unfa:ixe Weise ausnutzt? Geleitet von solchen Beweggründen erfand Antisbhenes eine logische Theorie, die den dialektischen Anmaßungen Platons ein Ende machen sollte. Die Grundlage dieser Theorie ist eine interessante logische Beobachtung, nämlich, daß ·Erkenntnis nicht in einzelnen Wörtern, sondern nur durch eine Verbindung von Wörtern zu Sätzen oosgedrückt werden kann. Mit einem einzelnen Wort kann man ·ein Di!ng nur benennen, aber um zu sagen, was ist oder was war, muß man einen Satz bUden. Nun ist •ein Satz seinem ureigenen Wesen nach ·eine Verbmdung von Wörtern. In einer Verbindung von Wörtern kann man augenscheinlich seine Kenntnis von einer Verbindn.m.g von Dingen ausdrücken, aber es ist ebenso augenscheinlich, daß es ein Unsinn ist zu versuchen, ein einziges Ding in einer Verbindung von Wörtern zu bezeichnen; und die anmaßende Behooptung, daß es möglich sei, sogar noch weiterzugehen und e1n und dasselbe auf verschiedene Weise zu ·sagen, von denen die eine wahr und die andere falsch, ist noch unsinniger. Ein einzelnes Ding kann nur benannt werden, eine Aussage darüber, wa:s es ist oder was es nicht ist, kann nicht erfolgen, weil auszusagen eben darin besteht, daß man eine Wortverbmdung benutzt, eine Wortverbindung aber eben nicht auf einen einzelnen unver.bundenen Gegenstand 21Utrifft. Das klingt sehr einfiach. Und zumindest soviel ist klar: wir brauchen dies bloß zu schlucken, um gegen das ganze platonische Getue über Definitionen und die Kunst des Fragens und Antwortens im allgemeinen als einzigen Weg zur Erkenntnis gefeit 2JU sein. Wo Platon vorgibt zu suchen und zu finden, gibt es überhaupt keine Erkenntnis und keinen Weg zur Erkenntnis, nichts als Se1bstbet:Dug, wenn nicht Schlimmeres. So muß der Angriff des Antisthenes auf Platons Dialektik 64
ausgesehen hahen. Wir wissen nicht genug über die Einzelheiten, um ga.nz .genau zu sein, und aus d-iesem Grunde würde es uns auch schwerfallen, Antisthenes zu kritisieren. Aber das ist auch gar nicht nötig, denn soweit es um traditionelle Logik geht, hat Platon selber dieses Geschäft besorgt. Wenn Platons Dialek.tik die Dinge komplizierter erscheinen ließ, als sie 'Sind -wie viele glauben-, ging Antisthenes in ihrer Vereinfachung sicher zu weit, und dadurch entstellt er schlichte und augenfällig logische Tatsachen. Platon mußte ihm auf der gleichen Ebene begegnen; und so ist es sicherlich zum mindesten das Verdienst des Antisthenes, Platon gezwungen zu haben, weniJgstens einmal ein Kapitel ganz einfacher Logik zu schreiben. W.ir müssen sehen, wie es beschaffen ist. Gesprächspartner m dies·en Abschnitten von Platons Dialog Sophistes, die ich nun zitieren will, sind ein junger Athener, Theaitetos, der die Rolle eines wißbegierigen Studenten spielt, und ein auswärtiger Philosoph, der einfach die Rolle des erfahrenen Lehrers spielt, der den Anfänger freundlich anleitet. "Laßt uns nun untersuchen", sagt der Lehrer (Soph. 25la), "wie wir dazu kommen, viele Namen für dasselbe Ding zu brauchen. - Gib ein Beispiel. - Ich meine, daß wir von einem Menschen zum Beispiel unter vielen Namen sprechen, daß wir ihm Farben und Formen und Größe und Tugenden und Laster zuerkennen, und in all diesen Fällen und in zehntausend anderen nicht nur als Mensch, sondern auch als gut und mit unzähligen anderen Eigenschaften begabt von ihm sprechen; ebenso beschreiben w~r jedwedes andere, von dem wir ursprünglich annahmen, es sei eines, als vieles und unter vielen Namen." 14 - Das sbimmt. - Und so liefern wir ein gefundenes Fressen für Anfänger, junge oder alte, denn nichts ist leichter, 14 Ein und dasselbe Satz-Subjekt kann viele verschiedene SatzPrädikate haben. Hier haben wir den Ursprung nicht nur der Vorstellung, sondern auch des Ausdrucks "Subjekt", wie eine wörtlichere Übersetzung zeigen wird. "Ebenso mit den anderen Dingen: wir legen je ein Ding als eines zugrunde, und dann sprechen wir davon als von vielen, und unter vielen Namen". Was "untergelegt" wurde als eines, ist in Aristoteles' Sprachgebrauch das hypokeimenon geworden, das darunterliegende Ding, in der lateinischen Übersetzung subiectum (darunter geworfen).
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als zu argumentier.en, daß das eine nicht viele oder die vielen eines sein können; und groß ist ihr Entzücken zu leugnen, daß ein Mensch gut dst; denn ein Mensch, so beton.en sie, i:st ein Mensch, rund gut ist gut. Vermutlich bist du Leuten begegnet, die sich für solche Sachen interessieren - manchmal sind das ältere Männer, deren magerer Verstand durch ·diese ihre Entdeckungen, die sie für den Gipfelpunkt der Weisheit halten, ganz außer sich gerät" 15. Platon unternimmt zunächst eine ontologische Untersuchung und überlegt, ob die Behauptung von den u.n,bed.ingt einzelnen, getrennten und unverbundenen Dmgem. aufrecht ·erhalten werden kann. Das Ergebnis ist, daß die verschiedenartigen Gegebenheiten "sich miteinander mischen können" (259a). Danach (260aff.) kommt Platon zu einem rein logischen Aspekt des Problems; in Platons FormuHenung lautet die Frag;e nun: "ob Nicht-sein vereinbar ist mit Meinung und Sprache". Um diese Formulierung ZlU verstehen, müssen wir wissen, daß in den vorhergehenden ontologischen Kapiteln "Nicht-sein" festgesetzt worden war als vereinbar mit anderen, d. h., daß das Nicht-.s·ein kein unbedingtes Nichts, sondern lediglich einen Unterschied bedeutet (A ist nicht B). Aber nun wird um des Übergangswillen Nicht-sein im Sinne von etwas Falschem gebraucht und in Frage gestellt, ob von einem Ding in einem Satz ausgesagt (oder im Geist geglaubt) werden kann, es sei, was es nicht .ist, d. h., ob und wie ein Satz, der ein Ding betrifft, falsch sein kann. Uns fällt es schwer, das Problem überhaupt zu s'Elhen, nicht nur schwer, die Lösung zu verstehen. Aber das P.roblem wurde durch Antisthenes so gestellt, daß 15 Wörtlich: "die ob ihrer Annut an geistigen Gütern ... ". Die "Armut an geistigen Gütern" ist ein Hieb auf Antisthenes. Dieser verachtete den Reichtum und lobte die Armut, aber natürlich nicht die geistige Armut. - Nebenbei gesagt, der Nachdruck, mit dem Antisthenes betonte, daß der Mensch (einzig und allein) Mensch ist, und gut = gut ist, bezog sich auf Versuche, "Mensch" und "gut" zu definieren. Wir wissen aus einem anderen Text (Aristoteles, Metaph. 1043b 26), daß er einen Satz mit einem Ding als Subjekt und einer Eigenschaft als Prädikat als einen Vergleich auffaßte, mit einem guten Gefühl für die Etymologie des griechischen Pronomens hoios, das, ausgehend von seiner Verwendung in Vergleichen, zur Qualitätsbezeichnung wurde.
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Platon gezwungen war, es ernst zu nehmen. Er sah sich m einer höchst ungewöhnlichen logischen Situation, .in die vielleicht kein Logiker nach ihm geraten konnte. Die Behauptung des Antisthenes, daß Erkenntnis nicht in einzelnen Wörtern, sondern nur in Sätzen ausgedrückt werden kann, und daß andererseits Sätze Wortverbindungen sind, ist unleugbar richtig. Dann nahm Antisthenes an, daß eine Verhindung von Wörtern nur eine Verhindung von Dingen, nicht ein einzelnes Ding betreffen kann, und die verhängnisvollen Folgen waren, daß es hinsichtlich eines Einzeldinges weder Definition noch Erkenntnis noch Wahrheit .im Gegensatz zu Falschheit geben kann. Wie dem begegnen? Seit Anstoteies pflegen Logiker und Grammatiker anzunehmen, daß es einfache Aussagen gibt, und sie als Wortverbindungen zu definieren, in denen ·etwas über etwas ausgesagt wird, dias Prädikat uher das Subjekt, und daß ,sie entweder wahr oder falsch sein müssen. Aber dies in Platons Fall zu tun, würde offene petitio principii bedeutet haben, denn es war die These des Antisthenes, daß solche Aussagen unmöglich seien, weil Feststellungen Illicht über ein einzelnes Ding gemacht werden könnten, sondern nur über alles, was in einem Satz benannt 1st. Wie konnte bew.ies·en werden, daß Antisthenes 1\lnrecht hatte? Platon fand eine einfache Methode: er ließ den Lehrer ein kleines Experiment vollziehen. Die einzig notwendige Voraussetzung ist, daß die Sprache zwei verschiedene Arten von Wörtern besitzt, Hauptwörter und Zeitwörter, und dies kann nicht geleugnet werden. Nun schlägt der Lehrer eine Verbindung von Zeitwörtern vor (262b): "geht, läuft, schläft ...". Nichts passiert; es wird keine Rede, und .es wird kein Satz daraus 16. Dann eine Verbindung von Hauptwörtern: "Löwe, Hirsch, Pferd ...". Wieder passiert nichts, und er stellt fest (262c): 16 Im Griechischen sind "Rede" (oder "Gespräch", "Sprache") und "Satz" ein und dasselbe Wort: logos. Dies macht die unten zitierten Abschnitte aus Jowetts Übertragung fast unübersetzbar. Im Englischen (wie im Deutschen) müssen von Fall zu Fall andere Ausdrücke benutzt werden, aber dann verdunkelt sich das logische Ergebnis. Für unsere Zwecke habe ich Kursivschrift verwendet überall da, wo im griechischen Text logos steht, oder das entsprechende Zeitwort legein = "sprechen".
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"auch auf diese Art und Weise, Wörter aneinanderzureihen, erreicht man nicht eine Rede; durch das Gesagte lass-en sich Tätigkeit oder Untätigkeit, oder das Vorhandensein von Sein oder Nichtsein nicht ausdrücken, dazu müssen erst Zeitwörter mit Hauptwörtern zusammengebracht werden; dann passen die Worte, und ihre kleinste Verbindung bildet Sprache und ist die einf,achste und geringste Form von Rede." Theaitetos versteht noch nicht; der Lehrer muß erklären: "Wenn jemand sagt ,ein Mensch lernt', würde man das nicht die einfachste und geringste Art von Sätzen nennen?- Ja.- Ja, denn er ist nun soweit, daß er eine Mitteilung macht über etwas, das ist oder das wird oder geworden ist oder sein wird. Und er benennt nicht nur, sondern er tut etwas, indem er Zeitwörter mit Hauptwörtern verbindet; und deshalb sagen wir, daß er redet, und dieser Verbindung von Wörtern geben wir den Namen Rede." Danach beginnt der Lehrer zu analysieren, was sie durch das Experiment gewonnen haben, und durch abermaliges Experimentieren finden sie das Subjekt und das Prädikat, sowie die Möglichkeit eines falschen Prädikats. Auch das neue Experiment ist einfach; der Lehrer bildet einen Satz über ein wohlbekanntes Subjekt, nämlich über seinen Gesprächspartnell' (262e): "Ich werde dir einen Satz sagen, in dem mit Hilfe eines Hauptworts und eines ZeLtworts ein Ding und eine Tätigkeit miteinander verbunden werden; und du sollst mir sagen, von wem der Satz spricht. - Das will ich nach besten Kräften tun.- ,Theaitetos sitzt'- kein sehr langer Satz17.Nicht sehr.- Von wem spricht der Satz ... ?" 17 Der "lange Satz" oder vielmehr die "lange Rede" ist eine boshafte Erwiderung auf ein von Antisthenes gebrauchtes Wortspiel. "Lange Rede" ist im Griechischen sprichwörtlich fiir "zu viele (leere) Worte", Wir wissen zufällig, daß Antisthenes eine Definition witzigerweise als "lange Rede" bezeichnete (Aristoteles Metaph. 1043b 26), weil sie versucht, mittels eines Wortschwalls (logos) etwas zu beschreiben, dem, ihm zufolge, nur ein einziges Wort, nämlich sein Name, zukommt. Eine Definition ist Rede (Iogos, mehr als ein Wort), und infolgedessen eo ipso "lange Rede" (zu viele Worte), Platon dagegen gründet seine Verteidigung auf die Analyse eines Satzes der kürzesten Art - nicht einer sehr "langen Rede".
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So erfahren wir, was ein Subjekt ist1 8, :und der Lehrer kann nun mit demselben Subjekt einen anderen Satz bilden. 11Theaitetos, mit dem ich eben spreche, fliegt." Und er kann fragen, was von den beiden einander gegenübergestellten Sä~en jetzt ausgesagt werden kann, und erhält die Antwort: "der eine ist falsch und der andere ist wahr", und dann kann er noch etwas weitergehen. Alle diese wichtigen Dinge sind experimentell leicht zu be-weis·en, aber man braucht einen Partner, der .auf das Vorgetragene eingeht, denn es ist die geistige Erfahrung des Anderen, nicht bloße Beschreibung, welche die erforderliche Bestätigung der logischen Tatsachen liefert. Was die geistige Erfahrung des einsamen Denkers betrifft, gibt es natürlich keine solche Bestätigung, wie sie der Hörer eines Satzes geben kann, man kann nichts weiter tun, als behaupten, daß die Erfahrung die gleiche sein muß. Aber dann nimmt man an, daß Denken .als Gespräch mit sich selber verstanden werden kann, anderenfalls kann die Analogie nicht klar gebildet werden. Auf genau dieselbe Weise gelangt Platon von der Rede zur Meinung bzw. zum Urteil (263e): 11 S.i.nd nicht Gedanke und Rede das Gleiche mit der Ausnahme, daß das, was Gedanke genannt wird, das lautlose Gespräch der Seele mit sich selber ist? - Ganz richtig. - Aber der Gedankenstrom, der über die Lippen fließt und hörbar ist, wird Rede genannt? - Richtig. Und wir wissen, daß in der Rede ... - was besteht? - Bejahung. - Ja. - Wenn nun Bejahung oder Vemeiru.mg stillschweigend und nur im Geiste geschieht, kannst Du das dann anders nennen als Meinung?- Es kann keinen anderen Namen geben." Das Ergebnis i:st, daß das, was wir über Wahrheit und Falschheit gesprochener Sätze festgestellt haben, ebenso von Meinungen und dergleichen, oder von UrteiLen, wenn wir diesen Ich habe absichtlich jenen Teil derübersetzungvon Jowett übersprungen, in dem er den terminus technicus in die Worte des Dialogs einführt. Platon konnte den Ausdruck "Subjekt" natürlich nicht voraussetzen, während er dabei war, den Begriff erst zu schaffen; anstatt "Wer ist das Subjekt?" sagt er "Wessen Satz ist es?" und anstatt "Ich bin das Subjekt" sagt er "Meiner''. 18
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Ausdruck vorziehen, gesagt werden kann. In einigen wenigen Worten-, die nicht so eindeutig sind wie die vorhergehenden -, erwähnt Platon, daß Urteile auch aus Sinneswahrnehmungen, nicht nur aus dem Gespräch der Seele mit sich selber (264alb) entstehen können. Aber das erklärt er nicht; und es würde ihm genauso schwergefallen sein, wie es A.rristoteles schwerfi.el, die Beziehung von Urteilen zu Sinneswahrnehmungen zu erklären, nachdem er Urteile als genau entsprechend den Sätzen der Umgangssprache behandelt: hatte. Hier klafft eine Lücke in Platons logischer Theorie vom Urteil, und Aristoteles ist es nicht gelungen, sie zu schließen: dies ·ist die Erklärung für das letzte und schwierigsre Problem, das auftwchte, als wk die Lehre von De interpretatione einer Betrachtung unterzogen (s. S. 61f.). D1e ·anderen Schwierigkeiten in Arisl:oteles' Logik des Urteils (s. S. 59 ff.) verschwinden jedoch vollkommen, wenn wir Platons Sophistes zu Rate ziehen. Wenn wir fragen, erstens warum Aristoteles eine getrennte Logik vom Urteil neben seine Syllogistik setzte, die offenkundig ohne s1e auskommen konnte, so lautet die Antwort: weil Platon bereits eine aufgestellt hatte, die bedeutend genug war und nicht übersehen werden konnte. Und wenn wir firagen, warum diese Logik grammatische Tatsachen berücksichtigt, aber nur in sehr beschränktem Ausmaß, so Lautet die Antwort: w.eil Platons Experiment gerade diese grammatischen Tatsachen bd'auchte, nicht mehr und nicht weniger, und weil weder Aristoteles noch die traditionelle Logik je auf den Gedanken kamen, Platons kleines Experiment durch eine andere Grundlage zu ersetzen. Wenn wk schließlich zweitens ·etwas wissen wollen über die Beziehung dieser Logik des ~n einem Satz ausgedrückten Urteils zur P.sychologie, kann der Fall jetzt klar dargelegt werden. Platons Behandlung zufolge ist es augenfällig, daß die wesentlichen Tatsachen nur mit Hilfe von gesprochenen Wörtern und Sätzen nachgeprüft werden können, und daß von den Ergebnissen solcher Beobachtungen einfach angenommen wird, daß ihre genaue Entsprechung im Denken liegt. Zugleich scheint es nur natürlich, daß in der Wirklichkeit ·das Denken dem Sprechen vorangeht. So betrachten wir Sätze und lassen die Endergebnisse Tatsachen sein, welche der Psychologie des Den70
kens angehören. Aber eines sollten wir unter diesen Umständen nicht tun, wir sollten ~icht vorgeben, die Eigentümlichkeiten von Wörtern und Sätzen durch diejenigen der entsprechenden Gedankeneinheiten erklären ZJU wollen. Platon tut ·das .in dem rein logischen Kapitel des Sophistes natürlich nicht, aber Aristobeles war leider nicht so vorsichtig. Ich zitiere wieder aus dem einführenden Absatz in De interpretatione: "So wie es im Geist Gedanken gibt, die nicht Wahres oder Falsches enthalten und ebenso Gedanken, die entweder wahr oder falsch soein müssen, ebenso ist es in der Rede. Denn Wahres und Falsches setzen Verbundenheit und Getrenntheit vo11aus. Hauptwörter .und Zeitwörter gleichen, vorausgesetzt, daß nichts hinzugefügt wird, Gedanken ohne Verbundenheit oder Getrenntheit; "Mensch" und "w:eiß" als Einzelwörter !Sind noch nicht entweder wahr oder falsch." Er spricht, als hätten wir - von der Psychologie her - eine klarere Vorstellung von dem Denken, das nach unserer Annahme den Wörtern und Sätzen zugrunde liegt und ihnen vorangeht, als von dem Un
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IV.
KAPITEL
Syllogismen Wir kehren nun zu den Syllogismen zurück, mit denen wir in Kapitel I angefangen haben. Der Grund, warum ich mit ihnen angefangen habe, war, daß die Topik des Ar.istoteles, nach sei,. ner ausdrücklichen &klärung, die erste systemansehe Behandhmg auf ihrem Gebiet, erdacht und ausgearbeitet wurde als eine Methode syllogistischer Übung. Mittlerweile haben wir nach den griechischen Ursprüngen des .er.s·ten und zweiten Teiles der traditionellen Logik gesucht, die jeweils die Logik des Begriffs und die Logik der Urteile enthalten. In beiden Fällen wurden dde Grundlagen hauptsächlich durch Platon gelegt, und ein Verständnis ihrer ursprünglichen Bedeutung beruht auf einer unvoreingenommenen Ausleg,ung weniger der Schriften des Arl.stoteles a1s derjenigen Platons. Aber es besteht ein Unterschied in Platons Beiträgen zu der traditionellen Lehre von den Begriffen und Urteilen. Wir haben festgestellt, daß Platon, wenn er mit Begriffen umgeht, in Wirklichkeit mit Definitionen umgeht, und Definitionen können in Auseinandersetzungen und Gesprächen verlangt werden, aber sie sind keineswegs stets gegenwärtig, wo immer auch Menschen reden und denken. In Str.eitgesprächen erfordert der V ersuch, zu einer Definition zu gelangen, eine vorhergegangene logische SchuLung; und es ist Platons V·ielfältiges Vorgehen, eine solche Schulung zu vermitteln oder über sie zu tsprechen, den mannigf.ach·en Situationen in seinen Dialogen entsprechend, welches die Grundlage der traditionellen Lehren von Deftnition und Klassifikation bildet. Man darf jedoch nicht vergessen, daß eine Definition und natürlich ein als exaktes Korrelat zu einer Definition verstandener Begriff zu einer gedanklichen Wi.rklichkeit erst dann wird, wenn man sie gesucht und gefunden hat, wohingegen Begriffe, verschwommen als die geistigen Äquivalente syllogis.tischer "Termini" aufgefaßt, als unmittelbare Bestandteile des Denkens rund als der Rede vor72
angehend gelten. Platons 11 Begriff.slogik" ist logische Schulung für eine Aufgabe, die bis zu seiner Zeit im alltäglichen Leben überhaupt nicht vorkam; denn die Tatsache, daß sogar das Alltagslehen für seine eigenen nichtphilosophischen Zwecke a,us einer solchen Schulung Nutzen zu ziehen vermag, wurde erstmaLig .als Teil der ironischen Weisheit von Platons eigenem Dialog Phaidros offenbar gemacht und bewiesen. Platons "Urteilslogik" andererseits berücksichtigt nur die simpelsten Tatsachen der pr.i.mitiv;sten Satzform, die einfache Aussage in zwei Wörtern. DieseTatsachen sind vor dhm (und gegen ihn) falsch dal'gestellt worden, und die Ergehnisse seiner theoretischen Reaktion sind die Vorstellungen von Subjekt und Prädikat 'llil.d ein Nachweis ihrer Beziehung zueinander :in einem Satz, der Anspruch dararuf .erhebt, wahr zu •Sein, aber entweder falsch oder wahr sein kann. Kein grammatisches, logisches oder psychologisches System ist seitdem imstande gewesen, ohne sie ·aJUs:wkommen, oder, soviel ich weiß, Platons experimentellen Nachweis ihrer Funktion zu ersetzen. Die Logique de Port-Royal von 1662, eine der Hauptquellen der modernen Typen der traditionellen Lo~k, erklärt in einer freimütigen Aussage über ihren eigenen Inhalt, daß die Logik oder die Kunst des Denkens in den Überlegungen besteht, die Menschen über die Haupttätigkeiten des Geistes angestellt haben. Aber es bedeutet offenkundig ·einen großen Unterschied, ob Ul'sprüngüch die Menschen dies•e Überlegungen, welche jetzt als die Bestandteile der traditionellen Logik gelten, mit dem Ziel anstellten, den Geist für neue philosophische oder wissenschaftüche Aufgaben 2JU schulen, oder .in der Absicht, gewöhnliche lo~che Tatsachen richtig zu formulieren. Natürüch kann man das eine zu dem anderen in Beziehung setzen, und in einem um.l.iassenden logischen System muß das wohl auch geschehen; auf keinen FaH aber sollten die zwei verschi-edenen Gesichtspunkte miteinander verwechselt werden. Wenn wir nun zu den gr1echischen Grundlagen des dritten Teiles der traditionellen Logik kommen, möchte ich mit <Üeser Unterscheidung beginnen; ihre Bedeutung scheint mir durch .unsere vorangegangene Untersuchung vollauf erwiesen zu sein. Wenn wir also fragen, zu welchem der beiden Typen logischer Forschung die Topik des Arilstoteles gehört, finden wir, daß 73
4ie Frage aufwerfen sie auch beantworten heißt. Denn nach .Aristoteles' eigener Ankündigung am Anfiang und s·einer Zusammenfassung am Ende des gesamten Werkes hatte diese ·erste systematische logische Abhandlung es sich zum Zi-ele gesetzt, eine Methode für das neuerfundene Bdldun~sinstrument der syllogistischen Schulung zu finden. In diesem Zusammenhang ist die berühmte Definition des Syllogismus keineswegs ein Hinweis auf einen bestimmten logtsehen oder psychologischen sachLichen Gegenstand, sondern die Formulierung einer bestimmten, in der dialektischen Praxils vorkommenden Auf;gabe, Wir werden nicht wieder tauf das hitstorisehe Problem des Ursprungs dieser Art von Logik eingehen; wir können als g.e:geben hinnehmen, daß er sich aus dem Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie, der durch Sokrates' Art des Philo.sophier.ens vemrsacht wurde, vollständig erklären läßt. Über-spr.ingen dürfen wir sodann die Betrachtung jener Stellen bei .Platon, die als Belege für das Vorhandensein jener besonderen Art von logischen übungen in Platons Schule dienen, welche ·die Topik des Aristoteles voraussetzt. Ich habe auch keine Zeit, in ~e Einzelheiten des Inhalts der Topik um ·ihrer selbst willen ;einzugehen; ich werde sie nur ins·ofem erwähnen, als sie die Erklärung .der unvergleichlich wichtigeren Logik der Analytiken lördern können. Eine Ausnahme jedoch muß ich machen, Der letzte Teil der 'Topik, so wie dieses Werk m unseren Handschriften erhalten blieb, ist einem besonderen Thema gewidmet und war aller Wah11scheinlichkeit nach zue11st als eine unabhängige Untersuchung gedacht; sie wurde jedoch später von Aristoteles .selber ·dem Haupttell der Topik angehängt. Die chronologische Verbindung zwischen diesen zwei ungleichen Teilen des vollstän.digen Werkes ist ein ziemlich kompliziertes Problem, dessen Lösung aber für uns nicht von großer Wichtigkeit ~st; was wichtig ist, steht p11aktisch fest, nämlich, daß auch dieser letzte, :unter dem besonderen Titel "Sophistische Widerlegungen" ,bekannte Tell der Topik geschrieben wurde, bevor Aristoteles die :syllogistische Lehre der Analytiken entdeckt hatte. Mi-t anderen Teilen des Organon von Ar1stoteles verglichen, .insbesondere mit anderen Teilen der Topik, erfreut sich das kleine Werk ·über sophistische Trugschlüsse in der neueren logtsehen Litera74
tur eines recht guten Rufes. Die an ihm geübten Beanstandungen sind meist ziemlich zahm, ein gewLsser praktilscher Wert wird ihm freigebig .ruerkannt, und die Lehrbücher der Logik haben die Gewohnheit beibehalten, mindestens ein Kapitel über Trugschlüsse zu bringen. Obwohl wir sogar in diesem Falle unsere Zeit nicht an die Einzelheiten 'lUld Spitzfindigkeiten der Behandlung durch Aristoteles wenden können, mü&Sen wir die Frage wiederholen, die wir am Anfang im Hinblick auf den Hauptteil der Topik \Stellten: woh!er nahm Aristoteles den Gegenstand seiner Sophistischen Widerlegungen? Zwar erwähnt er gelegentlich den Wert dieses Teiles seiner Syllogistik für ernsthafteiS phüosophisches Denken, aber der unmittelbare GegeMtand .seiner Unte11suchung ist ·eben doch höchst künstlich und, man kann es nicht andel's nennen, unnatürlich, näm~ lieh eine vorsätzlich, ja sogar gewerbsmäßig ausgebildete Art des falschen Schließens. Trotz der Behandlung durch .A.mstobeles wäre die ganze Sache für uns unbegreiflich oder zumindest ung1a1Ubwürdig, wenn wir nicht einen Dialog von Platon, den Euthydemos, hesäßen, der um die Zeit von Aristoteles' Geburt geiSchrieben wurde .und ein so lebendiges Bild von dieser Sorte Unfug enthält, daß wir der historischen W.irklichkeit seiner UngereimtheitenGlauben schenken müssen. Um sichselbervon den Tatsachen zu überzeugen, muß man den ganzen Dialog lesen; ich kann hier nur ein Streiflicht auf das werfen, was kurze Zeit als echtes Lehrmittel in der Kunst des Denkensund Beweisführens verkauft wurde. Gewiß hat Platon die Tatsachen übertrieben, aber nur bis zu einem gewissen Gnade, denn ZweP< seineiS Dialoges war es, dieser Ar.t von Ausbildung durch Bloßstellung :ihrer Ndchtigkeit und völligen Lächerlichkeit den Garaus zu machen, und daher mußte er sich innerhalb der Grenzen einer gewissen Obereinstimmung mit Tatsachen halten. Nun zu jenem Streiflicht, das ·den sophistischen Weg ro scheinbarer Weisheit beleuchten soll, und Platons Kampf dagegen, so wie er in dem Dialog Euthydemos zutage tr.itt (298d)! In diesem Teil des Dialogs haben die Sophisten - zwei Brüder, Euthydemos und Dionysodoros - das Pech, einem nicht leicht zu beeindTuckenden Gesprächspartner, einem sehr selbstsicheren und gescheiben jungen Mann namens Ktes.ippos gegen75
überzustehen. "Wenn du mir ein paar fl'agen beantworten wällst, ·sagte Dionysodoros: Du sagst, du habest einen Hund. -Ja, ein rechtes Untier, sagte Ktesippos.- Und hat er Junge? - Ja, und sie sind ihm sehr ähnlich. - Und der Hund ist ihr ~ater? - Ja, 1sagte er, ich habe genau gesehen, wie ·er und die Mutter der Jungen sich gepaart haben. - Und er ist nicht deiner?- FreiLich ist er meiner. -Dann ist er ein Vater und er ist deiner; also ist .er dein Vater, und die Jungen sind deine Brüder. - Noch ·eine kleine Frage, warf Dionysodoros rasch ein, um Ktesippos daran zu hindern, das Wort' zu ergreifen: Prügelst du diesen Hund? - Freilich prügele dch ihn, erwiderte Ktesippos lachend, und ich wünschte nur, ich könnte an s·einer Stelle euch prügeln. - So prügelst du also deinen Vater. Ich hätte weit mehr Grund, euren Vater zu prügeln, antwortete Ktesippos, WCIJS mag er sich dabei ·gedacht haben, als er so superkluge Söhne zeugte7" Wie gesagt, der Dialog wurde um die Zeit von Aristoteles' Geburt gesch11ieben; und wenn je Lächerlichkeit als eine tödliche Waffe gehandhabt wurde, so hat Platon sie in diesem Dialog gehandhabt. Und doch .finden w.ir über edne Generation später Anstoteies über dem gleichen alten Unsinn brüten. Denn die meiJSten seiner Trugschlüsse sind entweder unmittelbar Platons Euthydemos entnommen, oder sie sind von der gleichen törichten Art. - "Ist es möglich, mit einem Auge zu sehen, das du nicht hast7 - Nein. - Stimmt es, daß du nicht ein Auge hast?- Ja.- Also kannst du mit einem Auge nicht sehen." Nun ist es ganz undenkbar, daß zur Zeit des Aristoteles ein Erzieher, dessen Weisheit in derartigen alten Tr.i.cks bestand, Schüler gefunden hätte, und .daher kann es nicht die Absicht des AI1istoteles gewesen sein, solche Erzieher zu bekämpfen. Aus Aristoteles' BehandLung und aus seinen polemischen Hinweisen auf andere geht klar hervor, daß mittlerweile das Studium von Trugschlüssen und ihren Lösungen, welche PLatons Dialog nur angedeutet hatte, zu einem Teil des syllogistischen Spiels geworden war, das als geistige Gymnastik in den Schulen sowohl des Platon wie des Aristoteles ·eifr.i.g gespielt wurde. Und warum auch nicht? Als Rivalen ernsthafter Erziehung waren die alten Sophistereien in keiner Weise mehr gefähr76
lieh, aber sie waren sicher .brauchbare Gegenstände für dialektische übungen. So ist der Ursprung dieses Teiles der traditionellen Logik leicht zu verstehen; seltsamerweise jedoch war es gerade dieses. höchst unnatürliche Denkprodukt (nämlich die vor.sätzHchen Trugschlüsse), welches die Aufmerksamkeit der aufstrebenden Wissenschaft der Logik von den mehr oder weniger künstlichen und neu entdeckten Gegenständen und Regeln der Beweisführung ab- und auf bestimmte, weniger auffallende Tatsachen der Gültigkeit des Denkens hinlenkte. Ein Syllogismus wie der folgende: dieser Hund ist deiner, und er ist ein Tder, also ist es dein Tier, würde um seiner selbst willen kaum irgendwelches Interesse hervorgerufen haben, aber als ein gültiges Muster der Art, in welcher der Sophismus von dem Hund, welcher .der Vater seines Eigentümers sein sollte, gefälscht werden mußte, um einen Anschein von Gültigkeit zu erlangen, hat ein solcher Syllogismus eine Chance, ernsthaft in Betracht gezogen zu werden, Wir dürfen sagen, daß im Gegens·atz zu der Logik des Hauptteils der Topik die Trugschlußlogi.k in den Sophistischen Widerlegungen des Arlstote-les jenem zweiten Typ angehört, dessen Aufgabe es 1st, gewöhnliche logische Tatsachen aufzuzeigen und vor Mißbrauch zu bewahren. Und in diesem Zusammenhang zeigt es sich, daß die Definition des richtigen Syllogismus eine Menge von Argumentationen einschließt, die man an sich ruhig beiseite las.sen könnte, bestünde nicht die Notwendigkeit, ihre trügerische Fälschung zu entlarven. Zweifellos bezeichnen sowohl die Syllogistik des Hauptteiles der Topik wie diejenige der Sophistischen Widerlegungen jede in ihrer eigenen Weise einen Schritt in der Geschichte der Logik; und diese beiden verschiedenen Typen der Logik des Syllogismus lassen sich mit Hilfe der Dialoge Platons verhältnismäßig leicht erklären. Und doch stellen ddese Schriften des Aristoteles eine sehr unbefriedigende Lektüre dar, zumindest wenn man an sie mit den Erwartungen herangeht, welche die traditionelle Logik zwangsläufig erwecken muß. Denn trotz aller Mühe, die Aristoteles sich offenkundig gegeben hat, und trotz seiner bewunderungswürdigen Handhabung zahlreicher Einzelheiten, wenn es sich darum handelt, &einen Stoff zu meistern, wird eines uns bald nur allzu klar, wenn wir ver-
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suchen, die Topik und die Sophistischen Widerlegungen geduldig zu lesen: es fehlt ein Prinzip. Ich will nicht sagen, es liege in der Natur der Dinge, daß die Logik, :insbesondere dde Syllogistik, unbedingt von einlern einzelnen beherrschenden Prinzip abgeleitet werden muß; was ich behaupten möchte, ist nur, daß wir ein solches Prinzip erwarten, wenn wir von der traditionellen Logik zu Aristoteles kommen. Die historische Tatsache, die wir nun ins Auge fassen müssen, .ist die Entdeckiung des Ari.stoteles, oder- je nachdem, was wir von der Logik halten - seine Erfindung eines solchen Prinzips. Er besaß keins, als er .die Topik und die Sophistischen Widerlegungen schrieb. Aber es ist beinahe •ergreifend zu sehen, wie sehr er sich wünschte, eins zu besitzen. Zu Beginn der Topik kündigt Aristoteles an, der Zweck der Vorlesung •sei "eine Method·e zu finden, durch welche wir imstande sein werden, über jedes gestellte Problem, von wahrscheinlichen Prämissen ausgehend, Folgerungen anzustellen (avi..J..oyll;ea{}at), wobei wir sorgfälbig vermeiden müssen, uns in Selbstwidersprüche zu verwickeln"1. Etwas später jedoch teilt er die möglichen Probleme und Prämilssen in vier verschiedene Gruppen, in die er seinen Stoff einzuordnen gedenkt. Er muß bekennen, daß diese Einteilung Einwänden ausgesetzt und ·bis zu einem gewissen Grade willkürlich ist. "Aber", fährt er fort (102b 35}, "wir dürfen aus ddesem Grunde nicht erwarten, eine einzige Untersuchungsmethode zu finden, die sich allgemein anw.enden ließe; denn diese zu finden, ist nicht leicht, und selbst wenn sie gefunden würde, wäre sie noch sehr nebelhaft und von geringem Nutzen für die uns vorliegende Abhandlung. Vielmehr muß für jede dieser Gruppen, die wir unterschieden haben, ein besonderes Untersuchungsverfahren ausgearbeitet werden, und dann, von den Regeln ausgehend, die auf j•eden einzelnen Fall zutreffen, wird es uns wahrscheinlich leichter fallen, uns :einen Weg durch die vor uns liegende Aufgabe zu bahnen. Daher ... müssen wir [wenn auch ziemlich ungenau] eine Aufteilung unseres Themas umreißen und andere Fragen jeweils der besonderen Sparte zuweisen, zu der sie ihrem Wesen nach gehören." 1 Nach der Übersetzung von Professor Ross, Aristotle, 5. 56.
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Verrät diese eigentümliche, zugleich unsichere und sich recht-fertigende Haltung nimt mit unbewußter Beredsamkeit, daß. Aristoteles selber mit dieser Aufspaltung der versprochenen Methode in vier mehr oder weniger fragwürdige Einzelmetho-den keineswegs zufrieden war? Wir wollen nun ·das erste Buch der Analytica priora zum Vergleich heranziehen. Es ist einer der eindrucksvollsten Abschnitte. in den Schriften des Aristoteles, in seiner stolzen Sachlichkeit~ unübertroffen, wenn er nach sorgfältiger Vorbereibung sein. syllogistisches Prinzip einführt, welches die Geschichte der Logik während mehr als zweitausend Jahren bestimmen sollte· (25b 26): "Nach diesen Unterscheidungen stellen wir jetzt fest, auf welche Weise, wann und wie jeder Syllogismus hervorge• bracht wird; anschließend müss·en wir über die Beweisführung: sprechen. Der Syllogismus sollte vor der Beweisführung erörbert werden, denn der Syllogismus ist das allgemeinere: die, Beweisführung ist eine Art Syllogismus, aber nicht jeder Syllogdsmus ist eine Beweisführung. -Wann .immer drei Termini derart miteinander verbunden sind, daß der letzte im mittleren als in einem Ganzen enthalten ist, und der mittLere entweder· in dem ersten als in einem Ganzen enthalten ist oder von dem ersten als von einem Ganzen ausgJeschlossen ist, dann müssen_ dte äußeren Termini durch einen vollkommenen Syllogismus verbunden sein, Ich nenne jenen den mittleren Terminus, wel-· eher selbst in einem anderen enthalten ist und selbst einen anderen •enthält: auch der Stellung nach nimmt -dieser die Mitte· ein. Unter äußeren Termini verstehe ich sowohl jenes Glied, das selbst in einem ande1.1en enthalten ist, wie dasjenige, in dem ein anderes enthalten ist. Wenn A von allen Bund B von. allen C ausgesagt wird, dann muß A von allen C ausgesa:gt werden. Ebenso wenn A von keinen B und B von allen C aus..-gesagt wiro, so ergilbt sich notwendigerweise, daß kein C ein .. A sein kann." Dies ist der Anfang von Aristoteles' Darlegung der drei syllogistischen "Figuren", und bekanntlich ist -er llli.cht nur das Alpha, sondern a.uch das Omega dioeser Darlegung, insofern. als nach Aristoteles jeder Syllogdsmus sich auf eine der beiden_ am Anfang genannten Formen zurückführen läßt. Nachdem Aristoteles die Darlegung beendet und auf der Basis der neuen_ 79
Syllogistik Regeln für di!e Entdeckung von Argumenten angefügt hat, äußert sich sein Stolz auf ruese Leistung etwas deutlicher (45b 36) : "Aus dem Gesa,gten geht klar hervor, nicht nur, daß alle Syllogismen aJUf diese Weise gebildet werden können, sondern auch, daß sie auf keine andere Weise gebildet werden können. Denn jeder Syllogismus wird nachweislich durch eine der ZJUvor erwähnten Hguren gebildet ... Die Methode ·i.st die gleiche in allen Fällen, in der PhilosophLe, in jeder Kunst, in jedem Studium. Wir müss·en nach den Attributen und den Subjekten unserer bciden Termini suchen, und wir müssen möglichst viele von ihnen sammeln und sie mittels der drei Termini unter die Lupe nehmen und dabei in einer Weise Feststellungen widerlegen und in anderer Weise bestätigen; auf der Suche ·nach Wahrheit müssen wir von Prämissen ausgehen, bei denen die Anordnung der Termini sich in Obereinstimmung mit der Wahrheit befindet 2 ; haben wir es dagegen auf dialektische Syllogismen abgesehen, dann mÜSisen wir von wahrscheinlichen PrämisS"en ausgehen." Es scheint mir sonnenklar, daß der Verfasser nun überzeugt war, endlich jene eine Methode gefunden zu haben, die er ersehnt, aber nicht erhofft hatte, als er in seiner Topik zum ersten Mal versucht ha,tte, die Kunst der Syllogistik in ein System zu bringen. Es ist auch klar, daß er die neue Methode noch nicht gefunden hatte, als er die Sophistischen Widerlegungen schrieb, anderenfalls hätte er nicht späteren Logikern die Aufgabe überlassen, seine dreizehn verschiedenen Arten vorn Trugschlüssen in irgendeine Beziehung zu dem einen Prirulip zu setzen. OffensichtLich muß Ariostoteies ganz von vorn angefangen haben, nachdem er -die Topik und die Sophistischen Widerlegungen geschrieben hatte. Und so scheint es, daß wir zum dritten Male den Gegenstand einer aristotelischen Abhandlung überSyllogiJsmen feststellen müssen. Wo hat Aristoteles jenes Schema eines Syllogismus gefunden, das seitdem die Gedanken der Philosophen beherrschte, wann immer sie der Logik des Arlstoteles gefolgt sind oder sie angegriffen 2 Genauer: "Was wir als wahr vermerkt haben", vgl. 43b 1-11; siehe in beiden Abschnitten den griechischen Text.
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haben? Aber wenn hinsichtlich der
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interessante Trugschlüsse, d. h. ungültige Syllogismen, und enthüllen ihre Unrichtigkeit, was nur geschehen kann durch den Bezug auf den Begriff des einwandfreien Syllogismus. Aber dieser Begriff wird gewöhnlich beein.flußt dUrch die ·einwandfrei richtigen Schemata, von denen die einzelnen Sophismen gefälschte Nachahmungen ,sind. So zwingt, wie wir bereits gesehen haben, das Studium der Trugschlü&se den Logiker, auch solche richbi.gen Syllogismen zu berücksichtigen, die um ihrer selbst willen ohne alles Intere&se wären. Nachdem nun eine Untersuchung wie die Sophistischen Widerlegungen und die Behandlungsweise in der Topik nebeneinander gestellt worden sind, wird die ·einzige Definition des Syllogismus, von der beide Abhand1ungen, jede auf ihre Weise, . Gebrauch machen, zwangsläufig auf eine ziemlich verschwommene Deutung des richtigen Syllogismus im allgemeinen reduziert - je nachdem um seiner selbst willen intere&sant odrer nicht, vorausgesetzt nur, daß er stimmt. Wie kann diese verschwommene allgemeine Vorstellung von dem richtigen Syllogismus geklärt werden? Soviel .ist gewiß: Aristoteles besaß die Definition des Syllogismus, ehe er ·den vollkommenen Syllogismus fand. Andererscits stimmt der vollkommene Syllogismus so genau mit der Definition überein, daß, wenn die Defmition nicht nach dem vollkommenen Syllogismus gefunden worden sein kann, der vollkommene Syllogismus mit Hilfe der Definition gefunden worden sein muß. An sich ist die Definition des Syllog[smus hinsichtlich ihrer Bestandteile reichlich unbestimmt: 11 BinSyllogismus ist eine Argumentation, bei der kraft bestimmter voralUsgesetzter Dinge etwas anderes .als das Vorausgesetzte mit Notwendigkeit folgt." Was sind diese "gewissen Dinge" und dies etwas anderes"? Die Prämi&sen und die Konklusionen natürlich. Aber was sind diese? Die "Sophistischen Widerlegungen" verwenden 11die Definition der Prämisse" (oder "Proposition", 169a 7) nur gelegentlich und zu einem bestimmten Zweck, und die Topik gibt ans·telle einer allgemeinen Definition die Einteilung in vier verschiedene, den Verschiedenheiten des Inhalts entsprechende GITUppen. Die Analytica priora jedoch setzen mit vollem Bedacht .an den Anfang ihrer gesamten Lehre eine De11
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finition dessen, was die Prämissen s:ind und implizite was die Konklusion !i!st (24a 16): "Eine Prämisse :ist ein Satz, der etwas über etwas anderes bejahend oder verneinend aussagt." Mehr wird nicht gesagt, und weniger könnte nicht gesagt werden. Es ist genau jene allgemeine Vorstellung von einer Aussage mit Subjekt und Prädikat, die nach Platons Sophistes als möglich anerkannt werden mußte. Aber der Einbau dieser Definition in dieJenige des Syllogismus macht den ganzen Unterschied aus zu der theoretisch und praktisch unbefriedigenden Aufgabe, die Anstoteies sich in seiner Topik gestellt hatte. Denn nun muß ·die Definition des Syllogismus wie folgt verstanden werden: Ein Syllogismus dJSt eine Argumentation, bei der, unter VorliJUSS·etzung von Sätzen, die etwas über .etwas anderes bejahend oder verneinend aussagen, kraftder vorausgesetzten Sätze ein anderer Satz, der etwas über etwas andeiies bejahend oder verneinend aussagt, mit Notwendigkeit folgt. Dies ist nicht mehr eine Beschreibung dessen, was tatsächlich im dialektruschen Spiel oder sogar ·im ernsthaften Denken praktiziert wird, oder ·eine Beschreibung dessen, was tatsächlich in Pseudosyllogismen nachgeahmt wird; es gleicht eher einem mathematischenProblern und ist ,genau genug bestimmt, daß-ungeachtet einiger HUfsbestimmungen aus der empii'ischen Praxis - eine vorwiegend theoretische Lösung gesichert ist. Von einem bestimmten P.unkt ab muß Aristoteles die MögLichkeit einer solchen theoretischen Lösung des Problems der Syllogd!Stik ges-ehen haben. Es scheint keine andere Möglichkeit einer Erklärung zu geben für den abstrakten, a priori vorhandenen und lediglich quantitativen Charakter von AI':istoteles' System möglicher gültiger Syllogismen und für die eigentümliche Beziehung dieses Systems zu der tatsächlichen ,syllogistischen Praxis seiner Zeit und seiner Sdwle, eine Beziehung, die seltsamerweise auf halbem Wege zwischen Unabhängdgkeit und Abhängigkeit liegt. Denn nicht alles, was für die entwickelte Logik des Aristoteles kennzeichnend ~st, läßt sich von der abstrakten Bedeutung ableiten, in der die Definition des Syllogismus aufgefaßt werden konnte, nachdem die abstrakte Definition der Propositionen angenommen worden war. Zuviel blieb noch allzu unbestimmt. Aber es scheint mir nur natürlich, daß bei der Ausarbeitung der EinzeLheiten seines theoretisch geplan83
ten Systems von Syllog~smen Aristoteles .sich - bewußt oder unbewußt- leiten ließ von den tatsächlichen Wesenszügen der einzigen syllogistischen Verfahrenswe1sen, die vorher, haiuptsächlich von ·ihm s·elber, untersucht worden waren. Vielleicht ist es möglich, Aristoteles bei einigen der ·einzelnen Schritte zu begleiten, .cl..ie er tun mußte, ehe er seine Analytiken entwerfen und ausarbeiten konnte, aber cUes ist ·eine schwierige Aufgalbe 3, und wir müssen uns damit begnügen, einen Standpunkt erreicht zu haben, von dem aus gesehen das System als ein Ganzes verständlich wird. Ich glaube, daß auch ein großer TeU der traditionellen Logik auf allg.emeine Weise von di:esem Standpunkt aus zu verstehen ist, von dem ·aus die Definition des Syllogismus plötzlich wd:e ein mathematisches Problem erscheint, das sich wenigstens teilweise unabhängig von der Erfahrung lösen läßt. Aber es ble-ibt noch eine Ursache der Verwirrung, welche das allgemeine V erständms der Logik des Aristoteles von der Spätantike an bis in unsere Zeit erschwert hat; eine Ursache, die wir hoffent1ich. mit verhältnismäßig geringer Mühe aus dem Wege werden räumen können. Wie ich schon sagte, gibt es trotz der Definition d€15 Syllogismus und seiner Propositionen immer noch zu vieles, was unbestimmt geblieben ist, als daß der theoretisch arbeitende LogJiker ohne Hilfe äußerer Erfahrung vorankommen könnte. Zunächst steht nicht einmal der Ausgangspunkt fest. Das Problem, welches durch die Definition des Syllogismus aufgeworfen wurde, kann auf zwei völlig ve11schiedene Weisen verstanden werden. Entweder müssen wir von gegebenen Verbindungen von Prämissen ausgehen und nach den mögllchen Schlußsätzen ausschauen, oder wir müssen von einem gegebenen Schlußsatz aJUSgtehen und nach den mögÜtchen Prämissen ausschauen. Das erste ,scheint das natürliche zu sein, und daher ·ist immer wieder übers·ehen worden, daß Ar.istoteies s:eine Aufgabe .im zweiten Sinn verstanden hat. Seine Syllogistik ist .im wes·ent1ich:en ein System möglicher Verbindungen von Prämissen, rue zu gegebenen Schlußsätzen Vgl. Pauly-Wissowa, Real-Encyclopädie, Stichwort Syllogistik, Band IV A, Sp. 1059 ff.; Friedrich Solmsen, The Discovery of the Syllogism, Philosophical Review 50 (1941), S. 420.
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führen, nicht eine Untersuchung der möglichen Konklusionen von gegebenen Propositionen aus. Infolgedessen wird in der Lo~ des Anilstoteles nicht einmal von einer Beweisführung, das heißt von einem wiS'senschaftlichen Syllogismus, der echte Erkenntnis hervorbringt {71b 18), verlangt, daß sie von .bekannten Prämi:ssen zu einer hilsher unbekannten Konklusion führt; im Gegenreü, nach Aristote1es kann der ·echte w.i.ssenschaftldche Syllo~smus als Schluß·satz eine vorher bekannte Tatsache haben, und die wissenschaftliche Erklärung, welche für die bekannte Tatsache gefunden werden mußte, bildet die Prämissen. In vielen Fällen ist es nur menschliche Abhängigkeit von Sinneswahrnehmungen, .dd.e uns zwingt, bekannte Tatsachen als Prämissen gelten zu lassen, um !IIDbekannte Dinge .als Schluß zu erhalten, ab.er sofern es •!rich um die Nabur handelt, kann diese Art der Beweisführung widersinnig sein. Zum B·eispiel können wir im Falle von Planeten, die verhältnismäßig nahe siln..d und nicht funkeln, als meil!Schliche Wesen folgendermaßen schließen: C = Planeten;
B = nicht funkelnd;
A =Nähe:
Was nicht funkelt P.laneten
ilst nahe funkeln nicht
B-A C-B
Planeten
sind nahe
C-A
Aber was wir auf diese Wei•se erhalten, ist ledigLich eine Tatsache1 keine Erklärung. Denn Planeten sind nicht nahe, weil sie nicht funkeln. Wenn wir andererseits ·so schließen: C = Planeten;
B =Nähe;
A = nicht funkelnd:
Was nahe ist Planeten
funkelt nicht sind nahe
B-A C-B
Planeten
funkeln nicht
C-A
halben W!ir den echten wissenschaftlichen Syllogismus, nämlich eine Tatsache und ihre Erklärung, denn weil P1aneten nahe sind, funkeln sie nicht 4• 4 Anal. post. I.
Kap. Il, XIII; vgl. Anal. pr. 46a 17-27. 85
Ich sehe keinen G11Wl.d für uns zu erörtern, welche Art des Schließens vorzuziehen und w.issensch~licher 1st; es steht uns gew.ißlich völlig frei, uns gegen Aristoteles zu entscheiden oder jeden Wertunte11schied zu leugnen. Andererseits, wenn wir die Logik des Alli!stoteles ver.stehen wollen, müssen wir ihm auch freie Hand las.sen, sonst entstehen Schw.ierigkeiten. Theoretisch könnte die Definition des Syllogismus als ein Versprechen venstanden werden - und sie ist häufig so verstanden worden -, daß etwas Neues aus gegebenen Prämissen entsteht, und dann allerdings dst der Einwand unvermeidlich, daß der aristotelische Syllogismus nichts Neues ohne irgendeine Art von petitio principii hervorbringen kann. Die Versuche, Aristoteles gegen diesen Einwand zu verteidigen, sind nicht immer sehr Lehrreich 5• Ohne jedoch wf die Einzelheiten dieser endlosen Auseinandersetznmgen einzugehen, dürfen wir feststellen, daß auf beiden Seiten Anstoteies irgendw.ie mißverstanden worden sein muß; denn wie wir gesehen haben, erhebt, Aristoteles selber zufolge, die gültigste Art des aristotelischen Syllogismus, der Wlissenschaftliche Beweis, nicht den Anspruch, etwas Neues in seinem Schlußsatz zu brdngen, sondern ·in seinen Prämils·sen eine wissenschaftliche Erklärung zu enthalten. In dies·em Fall einzuwenden, daß der SchLußsatz keine unbekannte Tatsache enthülle, ist sinnlos, auch ist es nicht ratsam, einen ·solchen Syllogismus gegen einen .solchen Angriff zu verteidigen. So bestehen also Mißverständnisse, und die einfache Erklärung hierfiir ist, daß Aristoteles selber seine Definition des Syllogismus nicht dahin verstanden hat, daß der Syllogismus in seinem Schlußsatz etwas Neueis brächte. Warum nicht? Ich muß wiederholen, daß nicht alles, wa.s für die entwickelte Logik des ArLstoteles kelUlZJeichnend ist, von der neuen abstrakten Bedeutung der Definition des Syllogismus abgeleitet werden kann. Es i:st nur natürlich, daß Aristoteles sich teilweise von den tatsächlichen Wesenszügen der einzigen syllogistischen Methode leiten ließ, die vor ihm studiert worden war. Nun aber war der hauptsächliche Wesenszug dieser Methode S
Vgl. meinen Artikel Syllogistik in Pauly-Wissowa, Real-Ency-
clopädie, Band IV A, Sp. 1053-1055.
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die Präexistenz des Schlußsatzes und die Tatsache, daß die Prämissen es waren, nach denen man suchen mußte, um einen Syllogismus zu erhalten. Theoretisch kann die Definition des Syllogismus auf beide Weisen verstanden werden: entweder sind die Prämissen oder der Schlußsatz g-egeben, und zu suchen Iist der andere Teil des Syllogismus. Aber als aristotelische Defilllition des Syllogismus ist sie seiner ursprünglichen Idee insofern treu geblieben, als sie inuner noch eine m-ehr oder minder künstliche Beweisführung von den Prämissen zum Schlußsatz ·b-edeutete, eine Bewcisführung, der in Wirklichkeit ein Denkprozeß .in der ent~engesetzten Richtung voranging: von einem gegebenen SchLußsatz zu passenden Prämissen. Wie ;ich in meinem ensten ~apitel zu zeigen versuchte, war diese zweiseitige Auffassung vom Syllogismus durch die phHosophische Situation in Athen bedingt, wo Aristot·eles als junger Mann Schüler in Platons Akademie wurde. Damals und in jener Umgebung schien die Philosophie ihr eigentliches Leben nicht so sehr dn den Gedanken des einsamen Denkers zu leben als im Gespräch von Mensch zu Mem;ch. Diese Zeitspanne ging bald zu Ende. Danach muß die Logik des Anistoteies teils als verständlich, teils jedoch als pervertiert erschienen sein, wie sie noch heute erscheint. So ist es kein Zufall, daß während der zwei oder dr·ei Jahrhunderte nach dem Tode des Aristoteles seine Logik von einem anderen logischen System verdrängt wurde. Cicero, der gebildetsbe Römer seiner Zeit, ein Mann, der wirklich viel von griechischer Philosophie verstand, denkt an die Logil< der Stoa, .eine Leistung hauptsächlich des dritten und zweiten Jahrhunderts vor Christus, so oft er Elemente der Logik erwähnt, von denen angenommen werden konnte, daß sde zu der üblichen höheren Bdkhmg gehörten. Zu ·seiner Zeit nahm das Wiederaufleben der aristotelischen Logik, zugleich mit dem Wiederaufleben der Philosophie des AI'istoteles im allgemeinen erst seinen Anfang; ab-er selbst in der Spätantike schednt eine unvoreingenommene Auslegung einiger der grundlegenden Gedanken des Anstoteies unmöglich gewesen zu sein. Carl Prantl hatte sicherlich nicht ganz unrecht, a1s :er die Logiker der Stoa verantwortlich machte für manche Wesenszüge der traditionellen Logik, die mit der aristotelischen Grundlage nicht übereinstinunen. Meiner Mei87
nung nach war die wichtigste und bedeutsamste Wandlung eine Vereinfachung der seltsamen Doppelgesichtigkeit des aristotelischen Syllogismus und seine Anpassung an dd.e ztemlich simple Auffas,sung, ·es sei Aufgabe der geistigen Tätigkeit, die Menge der bek.annten Tatsachen dadurch zu vermehren, daß man ganz .e:inßach von ihnen zu etwas .bisher Unbekanntem fortschreitet. Die Er~ebrris·se waren Definitionen des wissenschaftlichen Syllogismus wie jene, die wir bei Cicem finden: ein Schlußsatz ist eine Bewcisführung, die von wahrgenommenen Dingen zu einem anderen noch nicht wahrgenommenen Ding führt 6 • So~ar antike Kommentatoren des AristoteLes sind sich darüber einig, daß ein SchLußsatz sicherlich ·etwas bis dahin Unbekanntes enthüllen ,sollte. Im Wettbewerb mit Aristoteles entwickelte di-e Schule der Stoa ein neues System syllogistischer FO'I'IllJen, dCl!S wahrscheinlich .in einer Form gipfelte, welche ·die Art und Weise, in der wisse.nschaftliche Entdekkungen gemacht werden, nachbilden sollte. Wir kennen folgendes Beispiel: "Wenn Schweißtropfen durch die Haut dringen, müssen unsichtba.re Poren vorha.Illden sein; nun dr:ingen Schweißtropfen tatsächlich durch die Haut; dnfolgedesse:n gi;bt es unsichtbare Poren"7. Einerlei, ob dies eine BeschreibunJg ist, auf welche Weise der Wissenschaftler zu neuer Erkenntnis gelangt, oder nicht - klar ist die Absicht, mdt Hilfe ·einer vereinfachten geradl.iJnigen Syllogistik seinen Gedankengängen unJbeirrt zu folgen, und diese Absicht mag :sehr beachtenswert seilll. Viielteicht W!Ul'de die Logik des Aristoteles unnötig kompliziert gemacht, oder v.ielleicht war sie zu abhängig von den reitgebundenen Umständen, aber wir werden gewiß nicht abstreifen, was wir a~bstreifen müSISen, solange wi.r ·selber von cliner mdßv.erstandenen und mißdeuteten aristotelischen Logik abhängig bleiben. So müssen wir uns mit der historischen Tatsache vertraut machen, daß, entsprechend der Auffassung des Anistoteies vom Syllogismus, der SyllogiJsmus selber und die vorangehende geistige Tätigkeit in entgegengesetzten Richtungen verlaufen. 6
Cicero, Academica li, 26.
7 Sextus Empiricus, Hyp. Pyrr. II, 140.
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V.
KAPITEL
Induktion, antike und moderne Logik Als letzten Punkt möchte kh die Induktion besprechen. Induktion ist die lateinische Entsprechung für da·s griechis-che Hauptwort epagoge; das entsprechende griechische Zeitwort epagein bedeutet: jemanden zu etwas hinführen oder hinbringen. P1aton verwendet das Wort in einer gescheiten Erläuterung der Funktion eilll.es Beispiels, die wir in einer seiner letzten Schriften, dem Staatsmann, finden: "Wenn Kinder", so erklärt er (277e), "anfall!gen das Alphabet zu lernen, .so ... unterscheiden sie in den sehr kurzen und leichten Silben die einzelnen Buchstaben recht gut und sind imstande, sie richtig zu benennen; während sie sie in anderen Silben nicht erkennen und. fehlerhaft auffassen und aussprechen. - Sehr richtig. - Wird nicht die beste und leichteste WeLse, ·sie zu etwas, was sie noch nit:ht kennen, hinzuführen, sein - Wa·s sein? - Sie zue!l'st auf .alle die Fälle zu verweisen, in denen sie die bdreff.enden Buchstaben richtig beurteilen, und diese· dann mit den Fällen zu vergleichen, in denen sie sie noch nicht kennen, und. ~hnen zu zeigen, daß in beiden Verbindungen die Buchstaben die gleichen sind und. die gleichen Eigenschaften aufweisen; und dies so lange, Ibis alle Fälle, in denen sie l:'echt haben, neben .alle jene Fälle gestellt worden ·Sind, in denen Slie ·sich irren. Auf diese Weise haben sie Beispiele und können lernen, daß jeder Buchstabe in jeder Verbindung stets der gleiche und kein .anderer ist und immer mit demselben Namen bezeichnet wird. Gewiß. - W:erden auf diese Weise nicht ;auch Beispiele gebildet? Wir nehmen ein Ding und. vergleichen es mit einem anderen bestimmten Exemplar des nämlichen Dinges, von dem wir einen richtigen B.egriff haben, und aus dem Vergleich entst!eht eine zutreffende Vorstellung, dri:e beide in sich schließt. Genau. -" An dieser Stelle bei Platon wi.rd das Zeitwort epagein, l(IJUf das unser AUJSdruck "Induktion" zurückgeht, noch n~cht :im technischen Sinn verw:endet; so wie es in Platons Text steht, be89
deutet es lediglich: jemanden zu etwas hinfUhren, das er noch ruicht kennt. Aber wenn wir zu Aristoteles kommen, sehen wir, daß mittlerweile das griechische Äquiv.alent 7JU "Induktion" ein terminus technicus g.eworden 1st, der nun den gesamten Vorgang bezeichnet, den Platon zu erläutern versuchte und als die beste und leichteste Art und Weise empfahl, um jemandes unvollständige Erkenntnis zu einer umfassenden zu erweitern. Epagoge oder "Induktion" hat nun di!e Bedeutnmg gewonnen, jemanden zu einer allgemeinen Wahrheit zu führen, .indem man ihm einzelne Beispiele vorführt, in denen er sie bereits zu !Sehen vermag. Im ersten Buch der Topik des Aristoteles wird die Induktion dem Syllogismus gegenübergestellt als ei.ne zw.eite Art dtalektischen Verfahrens; die Beschreibung hierfür lautet (10Sa 13): "Induktion ist der Weg zum Allgemeinen durch die Einzelhei.tenl, so zum Beispiel: wenn der erfahrene Lotse der tüchtigste ist und ebenso der erfahrene Wa~enlenker der tüchtigste, dann wst allgemein der Erfahrene der Beste in seiner besonderen Au~gabe. Induktion ist überzeugender und klarer, der Sinneswahrnehmung näher und der Menge geläufiger; der Syllogismus andererseits tst zwing·ender und wirksamer dem geschulten Debattierer gegenüber." 2 An einer anderen Stelle der Topik kommt Aristoteles auf diesen Unterschied zurück (157·a 18): "Der SyllogjJsmlliS sollte eher gegen Dialektiker als gegen die Menge angewendet werden; andererseits ·ist die Induktion höchst nützlich gegen die Masse"; und dann bezieht er sich auf seine frühere Feststellung. Die verhält:nismäßillge Eilnfachhcit der Induktion geht auch .au:s dem Rat hervor, man solle incLukti.ve Beweisführung mtt einem jungen Mann als Gesprächspartner und Schulung in syllogistischer Beweisführung mit einem Fachmann pflegen (164a 12). In der Tat wird in der gesamten Topik die Induktion nur als ein Hilfsmittel behandelt, um die erforderlichen P·ränrlissen zu 1 Die Fassung "das Allgemeine" (Singular) und "durch die Einzelheiten" wird bestätigt von Alexander von Aphrodisias, In Topica, unserer ältesten Quelle für die Festsetzung von Aristoteles Text. 2 An dieser Stelle habe ich Ausdrücke der Oxford-Übersetzung geändert, die nicht ganz zutreffend schienen. Ich ergreife die Gelegenheit, auf Professor Ross glänzende Behandlung der Schwierigkeiten in Aristoteles Induktions-Theorie hinzuweisen (Aristotle,
s. 38-41).
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erhalten, nicht als uruni.ttelbarer Weg, um einem Grundproblem zu Leibe zu gehen. Die wJchtige Frage nach der theoretischen Gültigkeit der Induktion wird nirgends aufgeworfen; für die Praxns der Topik genügt eine lediglich praktische Regel, nämlich daß ein Gesprächspartner das Allgemeine anerkennen muß, wenn wf Grund Viieier Fälle eine Induktion erfolgt und er außerstande ist, ein negatives Beispiel beizubringen (157a 34; 160b, 2). Sogar in der entwickelten Log;ik der Analytiken des Anistoteies wird die Induktion meistens als etwas verstanden, das sich zwJschen zwei Personen abspielt, aber hier als das einzige Mil:'tel, ei.nen Anderen solche P.roposlibionen zu Lehren, die mittels .eines Syllogismus rucht eigentlich erkannt werden können, weil ·sie sich nicht wJssenschaftlich von anderen Aussagesätzen ableiten lassen. Es !Ist ein Teil der Lehre des Aristote1es, daß es solche unmittelbare Prämissen oder unbeweisbare Wahrheiten geben müsse (Anal. post. 72b 18). Bevor der Lehrer eine unibeweisbare Wahrheit lehren kann, ist er natürlich im Besitz der Wahrheit. Wenn wir fragen, wde er es anstellt, sie zu lehren - wdr wissen ja, daß er sie nicht ordentlich durch einen Syllogismus beweisen kann -, erhalten wdr als .einzige Antwort "durch Induktion", das heißt durch den Hmweis auf einzelne Fälle. Es wird einfach als T11tsache hingenommen, nicht logilsch erklärt, daß dies ein Verfahren 1st, dem Schüler unbeweisbare W.ahrheiten zum Bewußtsein zu bringen. Festgestellt wird, daß zwischen Induktion und Sinneswahrnehmung ein Zusammenhang besteht - es kann keinen 1-linweis auf einzelne Tatsachen geben ohne Bezugnahme auf die Wahrnehmung (81a 38); und am Schluß der Analytica posteriora Wlird ein (nicht ganz klarer) Vergleich gezogen zwischen der Art und Weise, in der die Seele von einzelnen Sinneswah.mehmungen zu ·allgemeinen Begriffen gelangt, und der Art und Weise, in der wir durch Induktion, durch den Hinweis auf einzelne Fälle, zur Erkenntnd.s der in ihnen enthaltenen allgemeinen Wahrheiten gelangen. In diesem Zusammenhang verwendet Aristoteles den Satz (100a 13): 11Die Seele Jst so beschaffen, daß sie zu diesem Vorgang befähigt ist", mit anderen Worten, es handelt sd.ch um eine psychologische Tatsache. Schließlich erfahren wir, daß diese Tatsache der höchsten ·geisfligen Fähig-
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keit der Seele zugeschrieben werden muß; diese Fähigkeit wird nous genannt und gilt als •ein Prinzip unmittelbarer Intuition. Die Lösung ddeses Geheimnisses der Induktion - soweit Aristoteles eine Lösung b:Le.tet - ist also, daß der SeeLe eine intuitive Fähigkeit innewohnt, die sde in den Stand setzt, unbeweisbare allgemeine Wahrheiten ws Ei.nzelfällen zu erf.assen, wenn &ie auf diese hdngew.iesen wird. In den wichtigsten Abschnitten, in denen Ar,istoteles die lncLuktion.erwähnt, hat er nicht eine andere Art logischen Verfahrens im Sinne, die er unglückJicherweise mdt diem:selben Namen nennt, und, schlimmer noch, nicht einmal dmmer theoretisch untenscheidet von der ellSten Art, di!e wir einer Betrachtung unterzogen haben. Während in diesem er-sten Sinne dd,e Induktion ein Weg d!:it, der einen Ander.en dazu führen soll, eine allgemeine Wahrhe~t unmitbelbar mit den Augen seiner eigenen Seele zu sehen, ist im zweiten Sinn Induktion, oder Beweis durch Induktion (oder sogar Syllogismus durch Induktion) leddgl:ich ein Weg, .eine allgemeiil!e Behauptung nacllZJupriifen, indem man die betreffenden Einzelfälle etner Mu:sterung unterzteht und zeigt, daß es tatsächlich keine Ausnahme gibt. In der Topik handhaibt Al"ILs.toreles d~e Nachprüfung durch Induktion auf eine sehr pr>hnibiVIe Art, lediglich als ein Mittel, eine von ihm selbst getroffene F.eststellung zu bestätigen (ge1eg€'11.tlich gla"Ubt er, sd.e sei auch durch einen Syllogismus zu be:wei:sen). Im Falle seiner EinteiLung der Propositionen in vier verschiedene Arten entsprechend der Natur ihrer Prädikate (103b 1), sowie im Falle ·seiner BinteUung mündlicher Trugschlüsse in sechs verschdedene Arten (165b 27) bedeutet zum Bei:spd.el Be:weis durch Induktion einfach, daß, oganz g1eich w,elche Einzelbehauptung oder welchen sprachl:ichen Trugschluß man betrachben mag, man stets finden wird, daß er tatsächlich zu einer der vier bzw. sechs festges,etzten Arten gehört, und daß man keinerl.ei Ausnahme finden wird. Das einzig Interessante daran ist der hochtmbende Name für ein mehr als einfaches logisches Verfahren; meinier Meinung nach ist es ZJiemlich sicher, daß der Name nicht für dies.en Typ der Induktion erfunden, sondern von der ande.ren Art ·entLehnt worden ist, die sicherLich wichtig genng war, um durch einen terminus technicus bezeichnet zu werden.
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Anderel1Seits .ist es richtig, daß Nachprüfung bzw. Beweis durch Induktion beträchtlim an Bedeutung gewinnt, wenn Aristoteles sie später behandelt. Eine sorgfältiJ~ Interpretation eines v.ielwnst:cittenen Kapitels der Analytica priora (63b 15) würde meiner Meinung nach zeigen, .daß Axüstoteles, soweit es um logische Pr.i.nzipden geht, sich hier .auf gleicher Ebene befindet wie die Methoden der Naturwissenschaften, welche die moderne sogenannte tinduktive Logik zum Gegenstand .ihres Studiums machen. Tatsache is·t, daß Aristoteles' Theorie des.sen, was er dann den "Syllogismus durch Induktion" nennt - sow.ie sein Beispiel für eine incfuktive Bestätigung der biologischen Hypothese, es bestehe ein Zusammenhang zw.i:schen einem langen Leben und dem Fehlen von Galle -, so sehr von den tatsächlichen wissenschaftlichen Diskussdenen seiner Zeit abhängig ist, daß wir nicht ganz imstande wären, das logische Kapitel zu verstehen, besäßen wir nimt eine ausreichende l<,enntnis von diesen Diskussionen durch ein Kapitel in einer der naturwis.senschaftlichen Schriften des .Aristoteles (De partibus animalium 677a 11-b 10). Anlf jeden Fall Liegt der Hauptunterschied zw.ischen der Behandlung dies.er zweiten Art der lnduktion durch Aristoteles und ihrer Behandlung dn modernen Lehrbüchern der Logik in dem Gradru.nterschied an Bedeutung, ·die ihr zugemessen wird. Aristoteles erwägt sie nur gelegentlich als eine der zweitran~gen Arten von Beweisführung, als vemtändlich und ableitbar von seinem so überaus wichtigen sylloglistischen Prinzip. Eine Einstellung, d1e freildch weit entfernt •ist von der so ungleich aufgeschlosseneren Haltung moderner Logiker diesem Typ von Induktion geg;enüber, ganz gleich, ob ·sie ihr Studium 2'JU dem der Syllog1stik ·in Ge~nB~atz setzen oder es mit ihm verblinden. Die tr.aditionelle Logik setzt die Logik der Induktion oder induktive Logik gewöhnlich in Gegensatz zu der Logik des SyllogismUJS oder der, wie sie jetzt genannt wird, "deduktiven" Logik, und ~e Bedeutung, die dem Studium der Induktion jetzt allg;emem zuerkannt wird, h1n.g ursprüngLich mit dieser scharfen Unterscheidung zusammen. Um die Dinge nicht mehr als unbedingt nötig 1JU komplizieren, werde ich n.euere Kritiken dieser Antithese unberücksichtigt lassen, obwohl die
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modeme.IJ. Einwendun~n gegen ein getrenntes Studiwn von Syllogismen und Induktion eine gewisse Verwandtschaft mit Aristoteles' Behandlung der zweiten Art von Induktion auf.. weisen. Allen modernen A:useinandersetzun~ liegt jedenfalls die Unterscheidung zwischen dem Studium der Syllogismen und dem der Induktion 21ugrunde. Offensichtlich geht ·diese jetzt traditionelle Unterscheidung irgendWiie auf die Logik des Aristoteles zurück. "Syllogismus" wird verstanden als der Weg vom All~meinen zum Besonderen, "Induktion" als der Weg vom Besonderen zum Allgemeinen; zumindest sind der Gegensatz von Syllogismus und Induktion als der beiden versdtiedenen einander .ergänzenden Wege des Lemens und Lehrens, sowie die' Beschreibung der Induktion unmittelbar von Aristoteles übernommen. Jedoch enthält die moderne Sicht zwei schwerwiegende Mißverständn:i-9s.e der Konzeption des Ar:itstoteles. Erstens wird ~nommen, es sei die Absicht von Aristoteles' System mögLicher Syllogismen, den Weg von gegebenen Prämissen :zu unbekannten Schlußsätzen zu lehren, und wenn man glaubt, diies sei. die Lehre von den Syllogismen, so hat die Logique de Port-Royal mit den folgenden einführenden Bemerkungen über den dritten Teil der Logik sicherlich recht: "Jener Teil, mit dem wir es jetzt zu tun bekommen und der die Regeln der Schlußziehung umfaßt, gilt .als der wichtigste in der L~ und ist fast der einzige, der irgend mit Sorgfalt .behandelt wird. Aber es mag .angezweifelt werden, ob er wirklich so nützlich ist, wie man es a.n.nJimmt. Die meisten Irrtümer der Menschen ... entstehen weit häufiger dadurch, daß sie auf Grund unrichmger Prinzipien Schlüsse .ziehen, als daß sie ausgehend von ihren Prinzipien verkehrte Schlüsse .ziehen. Es kommt selten vor, daß Menschen sich durch Schlüsse täuschen Lassen, die unrichtig sind, nrur weil die Schlußfolgerun~n ·sdUecht abgeleitet sind; und diejenigen, die nicht imstande sind, solche Irrtümer im Lichte der Vernunft allein zu entdecken, würden Regeln, welche zu diesem Zweck gegeben werden, •gemeinhin gar nicht verstehen, geschweige denn, sie anzuwenden wissen." Dies nun ist ein völ1i.ges Mißverstehen der Absi<:hten des Aristoteles, denn, wie wir gesehen haben, venstand .er seine Syllogistik stets ·als eine Methode, nach den richtigen Prämissen zu suchen, nicht als eine solche, mit deren Hilfe .aus gege94
benen P.rämiss·en neue Schlußsätze gezogen würden. Auf die echte aristotelische Lo~ bezogen, ist dieser Einwand völlig a.b.wegig; aber er dst ein •gutes Beispiel für die moderne Neigunlg, Aristoteles etwas am Zeuge zu flicken, weil seine Syllogistik als ein Weg, der von den Pl'in2lipien wegführt, aufgefaßt, überflüSiSig sei, und ·CÜesen nutzlosen Teil der Logik zu ers.etzen, indem man einen Weg ausarbeitet, der zu den Prinzipien hinführt. Andere (allerdings nicht die Logiker von Port Royal) lassen sich in dieser Neigung leiten durch die AuffaS'Sung des Aristoteles, Induktion sei das einzige Mittel, Prinzipien zu lehren. Auch hder wieder muß Aristoteles sich als enttäuschend erw.eisen, solange seine zwei verschiedenen Vorstellungen von Induktion nicht noch besser aJU:SeinaJildergehalten werden, als Aristoteles selber es gJe·tan hat. Ich medne, es müßte möglich sein, die Entwicklung der modernen Log;ik der Induktion als ein Ergebnis fortlaufender Versuche zu schildern, Aristoteles' zweiten Typ der .Induktion umzuwandeln in einen Weg, der zu den Prinzipien hinführt. Dieser zweite Typ ist der einzige, der in einer rein logischen Behandlung dargestellt wurde; aber für Aristoteles war dieser Typ der Induktion nicht eine Methode zur Entdecktl11:g von Prinzipien; er war lediglich eine Art Iogliseher Nachprüfung einer vorweggenommenen Feststellung, und anscheinend ist er vom Anf.ang bis heute geblieben, was er wa.r. Er kann eben einfach den anderen Typ der Induktion nicht völlig ersetzen. Aber was ist dann aus dieser anderen Art, diesem .echten Weg zu den Prinzipien hin geworden, atUS jenem Weg vom Besonderen zum Allgemeinen, der die ursprüngliche Antibhes·e und die ursprüngliche Ergän~ung zum Syllogismus war, und Aristoteles zufolge das einzige Mittel, unbeweisbare Wahrheiten zu lehren? Ich freute mich, eine klare Antwort geben zu können, indem ich wiederum Cohen und Nagels modernes Lehrbuch der Logik zu Rate ziehe. Unter der Überschrift "Was ist ·induktives Schließen?" zitieren die Verfasser 3 die Oxfol'd-übersetzung eines großen Teiles von Ari:stobeles' Beschreibung des "Vorgangs d-er Entdeckung ein-er allgemeinen Regel in ei.nem ihrer besonderen Fälle" aus den Analytica posteriora (99b 36 ff.); es ist das Kapitel, welches ich erwähnte, als ich von Aristoteloes' erster 3 An lntroduction to Logic and Scientific Method, S. 274.
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Art der Induktion sprach (oben S. 91). Auch wir benötig.en eine allgemeine Kenntnis dieser Stelle bei Aristoteles; so werde kh die gleichen Worte zitieren, ohne die Schwierigkeiten der Interpretation allzu genruu zu nehmen. "Obwohl Sinneswahrnehmung allen Lebewesen angebor.en ist, wird bei eillligen der Sinnescindr.uck zu etwas Dauerndem, bei anderen nicht. So besitzen Lebewesen, bei denen diese Dauer nicht zustande kommt, außer dem Akt des Wahrnehm.ens entweder überhan.tpt kleine Erkenntnis oder keine Kenntnis von Gegenständen, von denen kein Bindruck bestehen ib1eibt; Lebewesen, bei denen diese Dauer zustande kommt, nehmen wahr und sind befähigt, den Sinneseindruck in der Seele zu bewahren; und wenn eine solche Dauer sich häufig wiederholt, ergibt •sich alsbald eine weitere Unterscheidung zwischen den}en~gen Lebewesen, dde aus der Dauer solcher Sinneseindrücke die Fähigkeit entwikkieln, sie in ei:ruem System unterzubringen, und denjenigen, bei denen dies ndcht der Fall ist. So entsteht aus der Sinneswahrnelunung das, was wir Erinnenung nennen, und a.us häufig wiederholten Erinnerungen an da:s .gleiche Ding entwickelt sich die Erfahrung; de11lll. eine .einzelne Erfahrung :Setzt sich aus einer Anzahl von Erinnerungen zusammen. In der Erfahrung w~ederum- das heißt, lin dem jetzt in seiner Gesamtheit innerhalb der Seele gefestligten Allgemeinen, dem Einen neben den Vielen, da:S eine Einzelidentität innerhalb ihrer aller darstellt - haben das Geschick des Handwerkers und di.e Erkenntnis des Wissenschaftlers ihnen Urspnmg ... Wir schließen daraus, daß diese Stufen der Erkenntnis weder in einer bestimmten Form angeboren sind noch aus anderen, höheren Stufen der Erkenntnis stammen, ·sondern aus der Sinneswahrnehmung entwickelt werden. Es ist wie wilde Flucht in einer Schlacht, die zuers.t durch einen einzelnen Standhaften, und dann durch noch einen zum Stehen gebracht wird, bis die ursprüngliche Ordnung wiederhergestellt Iist ... Somit ist klar, daß wir die Grundprämissen durch Induktion erkennen müssen; denn die Methode, mit deren Hilfe sogar die Sinneswahrnehmung das Allgemeine einpflanzt, ist induktiv." Soweit Anistoteles. Nun zu dem modernen Kommentar: "Dieser Vorgang ist eine wichtige Etappe im Erlangen von Erkenntnis. So verstanden ist die Induktion von W. E. Johnson als
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intuitive Induktion bezeichnet worden. Nichtsdestoweniger kann dieser Vorgang nicht als Schluß bezeichnet werden, auch wenn man diesen Ausdruck noch so dehnbar nimmt. Er ist nicht ein Typ von Beweisführung, der sich in eine Prämisse und .einen Schluß zerlegen li.eße. Er :ist eine Wahrnehmung von Beziehungen und keinerlei Gülbigkeitsregeln unterworfen und stellt das tastende Suchen und die Mutmaßungen eines Geistes dar, der nach Erkenntnis .strebt. Intuitive Induktion ist daher kein Gegensatz zu Deduktion, denn sie ist überhaupt kein Typ eines Schlusses ... Es lcann lceine Logik oder Methode einer intuitiven Induktion geben." Ich finde es sehr befriedigend, daß die moderne Logik den Unterschied betont zwtschen der Art Induktion, mit der das oben zitierte Kapitel ,bei Aristoteles sich befaßt, und jener, die gewöhnlich ,,Induktion" genannt wird und .ihr Äquivalent in dem ander.en Typ von Induktion bei Aristoteles hat; und es ist sicherlich richtig, daß dies nicht ein Typ von Bewei:sführung ist, der sich in gewöhnliche Prämissen und einen Schlußsatz zerlegen ließe. Soweit befinden sich sorgfältige Ausdeutung der logischen Texte des Acistoteles und moder111e logische Analysen m Übereinstimmung. Aber dann g.eraten wir in Schwier1gkeiten. Denn Aristoteles zufolge ist die Induktion mit <;lern geschilderten geistigen Vorgang, der mit Sinneswahrnehmung beginnt und im Allgemcinen endet, nur vergleichbar, nicht identisch. Darüber kann kein Zweifel bestehen. Der entscheidende Satz lautet (diesmal zitiere ich eine andere Übersetzung4): "Es i:st also klar, daß wir die ,ersten Dinge' durch Induktion erkennen; denn so erzeugt auch die Wahrnehmung das Allgemeine in uns." Auch darüber kann kein Zweifel bestehen, daß Aristoteles zufolge diese Induktion im Gegensatz steht zu Syllogismus bzw. Deduktion, rund daß sie nicht das tastende Suchen und die Mutmaßungen ein:es Geistes darstellt, sondern ·eil1len ganz ·bestimmten Weg durch das Besondere zum Allgemeinen. Wie .sollen wir diesen offenkundigen Konflikt zwischen Aristoteles' Vorstellung von Induktion und dem modernen Begriff von intuitiver Induktion .erklären? Die Übersetzung und die Interpretation, die unvermeidlich scheinen, sind bei Ross zu finden, Aristotle, S. 55.
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Die Erklärung fällt nicht schwer. Lassen Sie mich zuet~st Aristoteles' Beschreibung der Induktion lllUS der Topik wiederholen: "Induktion ist der Weg zum Allgemeinen durch die Einzelheiten; so zum Beispiel: wenn der erfahrene Lotse der tüchtigste .ist, und ebenso der erfahrene Wagenlenker der tüchtigste, so ist allgemein der Erfahrene der Beste in S·einer besonder.en Auf~be." Was bedeutet dieses Beisp~el? Lassen Sie mich ein ziemlich kurzes Zitat aus Platons Dialog Menon (88a) hinzufügen: "Sokrates: Als nächstes wollen wir die Tugenden der Seele betrachten: sie sind Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Mut, rasche Auffassungsgabe, Erinnerung, Großmut und dergleichen? Menon: Gewiß. Sokrates: .und diJej.enigen unter ilinen, die nicht Kenntnisse, sondern anderer Art ·sind, sind manchmal nützlich und manchmal schädLich; so :mun Beispiel Mut ohne Vorsicht, der nur eine Art Tollkühnheit ist? Wenn einer keinen Verstand hat, schädigt ihn sein Mut, aber wenn er Verstand hat, nützt er ihm? Menon: Richtig. Sokrates: und das gleiche läßt sich sagen von Mäßigkeit und rascher Auffassungsgabe; was auch dmmer mdt Verstand gelernt oder getan wi.rd, ist nützlich, ohne Verstand j.edoch ist es schädlich? Menon: Sehr richtig. Sokrates: Und im allgemeinen, alles, was die Seele unternimmt oder erträgt, endet glücklich, wenn sie sich von Weisheit leiten läßt; aber wenn sie sdch von TorheiJI: leiten läßt, geschieht das Gegenteil? Menon: Das scheint mir zu stimmen." Aristoteles' Vorstellung von der Induktion ist offensichtlich durch den von mir zi.ti.erten Teil des sok11atdschen Dialogs zutreffend wiedergegeben; sogar sein Beispiel - Wle41I\ der erfahrene Lotse am tüchtigsten und ebenso der erfahrene Wagenlenker der tüchtigste ist, dann ist allgemein der Erfahrene der Beste in seiner besonderen Aufgabe - iJSt nichts als ein gedrängter AlUszug aJil5 irgendeinem Stück sokratischer Dialektik. Nun müssen wir uns ins Gedächtnis zurückrufen, daß einer berühmten Stelle der Metaphysilc des Aristoteles zufolge {1078b 27) das induktive Gespräch eines der zwei Ding~e war (das andere war die allgemeine Definition), deren Erfindung mit Recht Sokrates zugesprochen werden konnte. Dies bedeutet natürlich nicht, daß Sokrates ein neues Verfahren geistigen 98
Tastensund S:uchens gefunden hat, sondern daß er seine eigene Methode hatte, den Leuten die Dinge klarzumachen. Aristoteles' Vorstellung von der Induktion leibet skh ebenso wie seine Vorstellung vom Syllogismus von der dialektischen PDaXis her. So setzt sie zwei Personen voraus, einen Fragenden oder Lehrer und einen Antwortenden oder Schüler. Wir müssen l!.ll1terscheiden zwilschen dem äußeren Ablauf des Gesprächs, der ganz von der Absicht des Fl'agenden und seinem dialektischen Geschick abhängt, und dem, was in der Seele des Antwortenden vor sich geht, vor .sich geht als eine psychologische Tatsache, aber nicht als ein Akt einsamen Denkens. Es wäre Unsinn, wollte man versuchen, dies UlUIIiiJttelbar als einen Akt unabhängigen Denkens zu beschrehben; einer psychologischen Erklärung am nächsten kommt man wohl, wenn man es, wie Aristote1es es getan hat, mit der Art vergleicht, wie wdr von der Sinneswahrnehmung zum Allgemeinen gelangen. Aber während die Schwierigkeit zu beschreiben, was .im Geiste des Antwortenden tatsächlich vor sich geht, kaJUm überschätzt werden kann, besteht andererseits nicht das geringste Hindernis gegen eine Beschreibung des äußeren Ablaufs des Gesprächs und seines logischen Ergebnisses; und mehr braucht es nicht, um xu erklären, wie es bei Aristoteles eine Logik und eine bestimmte Methode der intrutiven Induktion geben konnte (was die moderne Logik leugnet). Wir sind jetzt ·am Ende unserer Nachprüfung der antiken Grundlagen der traditionellen Logik in bezug auf iihre vier Hauptthemen: Begriffe, Urteile, Syllogismen, Induktion. Am Anfang dieser Untersuchung stand die Tatsache, daß es der modernen Logik beträchtliche Schwierigkeiten bereitet, das Wesen ihres traditionellen Gegenstandes zu definieren, und wir fanden Grund, mit besonderem Bezug auf die Sylloglistik des Ar.i.stoteles zu fragen: wie konnte Aristoteles den Sachgegenstand der Logik vorwegnehmen, ohne die SchwiJer.igkeiten zu bemerken? Wo fand er den Gegenstand seiner Syllogistik? Ich denke, wir können diese Frage jetzt in einer allgemeineren Form wiederholen und mit Bezug auf alle vier Themen zugleich fragen: wo hat die antike Logik ihren Gegenstand gefunden, und wie hat sie bis zu einem gewissen A'1.1Smaß den Gegenstand der modernen Logik voxweggenornmen,
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ohne sich in die Schwierigkeiten zu v.erwickeln, die den modernen Logikern Kopfzellbrechen machen? Die Antwort lautet nun: sie hat :ihren Geg·enstand im Bereich des Gesprächs gefunden, und sie war frei von den modernen Schwierigkeiten, weil sie sich fast ausschließlich auf solche logischen Tätigkeiten beschränkte, die sd.ch im äußeren Ablauf des Gesprächs oder im äußeren Erproben zwischen zwei Personen vollziehen ließen. Die Begriffe in Platons und AriBtoteles' Behandlungsweise sind die genauen Kor.relate zu d-er angeblich sokratischen F;rage: "Was ist dieses oder jenes?", sicherlich eine gesprächsweise gestel1te Frage. Die Funktion der Urteile wurde von Platon gerade .soweit bestimmt, als es möglich ist, die Tatsachen in einem einfachen Experiment zwischen zwei Personen nachzuprüfen. Und was Syllogdsmen und Induktion betrifft, so bra111che ich nicht noch einmal zu s·agen, was ich soeben nachdrücklich dargelegt habe. Die von der antiken Logik so gelegten Grundlagen sind, aus leicht verständlichen Gründen - man könnte sagen, ihrer Greifbarkeit wegen ziemlich fest; nur sdnd sie einigermaßen spärLich und unzusammenhängend und kaum geeignet oder ausreichend, mehr als verhältnismäßig wenige getrennte Teile eines modernen logischen Systems zu tragen. Meiner Meinung nach jedoch weis.t die moderne Logik, zumindest manche moderne Logik, verglichen mit Platon und Aristoteles, eine gewisse Einseitigkeit auf. Hier möchte ich einen modernen Klassiker zitLeren. John Stuart Mill beginnt sein System of Logic mit einem einleitenden Kapitel über die Definition und den Bereich der Logik. Er nimmt für sich ·das Recht in Anspruch, das Wort "schließen" in seiner erweiterten Bedeutnmg zu verwenden, die nicht nur das Ziehen von Schlüssen, sonder.n auch die Induktion umfaßt; und er dehnt ·den Bereich der Logik sogar über die Bedeutung der Worte "schließen" und "Beweisführung" aus, so daß alle Tätigkeiten des menschlichen Verstandes im Streben nach Wahrheit einbegriffen sind: Namengebung, Klassifizierung, Definition und - mit seinen eigenen Worten - "alle anderen Tätigkeiten, die in ihren Herrschaftsbereich einzubeziehen die Logik je beansprucht hat. . . . Sie dürfen alle als Hilfsmittel hetrachtet werden, um einen Menschen zu befähigen, die Wahrheiten zu erkennen, die er 100
braucht, und zwar genau in dem Augenblick, in dem er sie braucht." Aber hieran knüpft s.ich ·eine höchst bemerkenswerte Einschränkung: "Diese Tätigkeiten dienen auch .anderen Zwekken, zum Beispiel dem, unsere Erkenntnis anderen mitzuteilen. Aber auf diesen Zweck hin betrachtet sind sie niemals als dem Bereiche des Logikers zugehörig angesehen worden. Alleinige Aufgabe der Logik ist es, die eigenen Gedanken eines Menschen zu leiten; die Mitteilung dieser Gedanken an andere fällt in den Aufgabenbereich der Rhetorik, dn dem umfassenden Sinne, in dem diese Kunst von den Alten a.ufgefaßt wurde, oder der noch weiter gespannten Kunst der Erziehung. Die Logik nimmt unsere geistigen Tätigkeiten nur soweit zur Kenntnis, als sie zu unserer eigenen Erkenntll1li.s und zu unserer Beher.rschung dieser Erkenntnis zu unserem eigenen Gebl'auch führen. Wenn es in der Welt nur ein ei:n:ziges vernünftiges Wesen gäbe, dann könnte dieses Wesen ·ein vollkommener Logiker sein; und die Wissenschaft und Kunst der Logik wäre die gleiche für diesen einzigen Menschen wie für das ganze menschliche Geschlecht." Hier dürfen wir innehalten; was wir gelesen haben, ist erstaunlich genug. Die Rhetorik ist niemals von den in der Logik maßgebenden Philosophen der Antike - Platon, Aristoteles oder sogar den Logikern der Stoa - natürlich kann man nicht von ihnen aus Cicero und Quintili:an ,anrufen - in diesem weiten Sinn aufgefaßt worden; und ebensowenig kann es in irgendeinem möglichen Sinne wahr sein, daß die log,ischen Tätigkeiten, wenn sie dem Zwecke dienen, unsere KenntmiSse anderen mitzuteilen, niemals als dem Bereich des Logikers zugehörig angesehen woroen sind. Im Gegenteil, es ist eine Tatsache, daß sogar in Aristoteles' entwickelter Logdk des wis,senschaftlichen Syllogismus und der ergänzenden Induktion diese beiden haJUptsächlichen "Tätigkeiten des menschlichen Verstandes im Streben nach Wahrheit" fast ausschLießlich als Arten des LehJ.,ens und Lemens angesehen werden. •Es könnte keine eind11ucksvollere Erläutenmg der Ansicht des Aristoteles geben als den Anfang der Analytica posteriora, und um Mills glatte Vemeinung aufzuheben, werde ich noch einmal die Oxford-übersetzung zitieren: "Jede durch Beweisfühnmg gegebene oder empfangene Belehnmg
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geht von bereits vorhandener Erkenntnis aus. Dies wird offenbar, wenn wir alle Arten einer solchen Belehrung überblicken. Die mathematischen Wissenschaften und alle anderen spekulativen Disziplmen weroen auf diese Weise erworben, und das gleiche ist der Fall bei den beiden Formen des dialektischen Schließens, der syllogistischen und der induktiven; denn beide benutzen ·alte Erkenntnisse, um neue zu vermitteln 5, wobei der Syllogismus eine Hörerschaft voraussetzt, die seine Prämissen annimmt, die Induktion das Allgemeine, als im klar erkannten Besonderen enthalten, herausstellt. Die durch rhetorische A11gumente .ausgeübte Überr-edung wiederum tst im Grunde das gleiche, da sie entweder das Beispiel, eine Art Induktion, oder das Enthymen, eine Form des Syllogismus, verwendet." Hier geht es ausschließlich um Lehren und Lernen, wenn nicht tatsächlich um Fragen ·und Antworten, und es giJbt sehr wenig Bemerkungen über einsames Denken .in den gesamten logischen Schriften des Aris·toteles. Nun darf natürlich ein Autor von Mills Bedeutung das Recht in Anspruch nehmen, seinen eigenen Stoff einstweilen so zu definieren, wie er es für richtig hält, wie Mill ~urz vorher in seiner Einführung ausdrücklich foroert. Und es wäre vielleicht auch nicht der Mühe wert, bei einem bloß historischen Schnitzer zu verweilen. Aber es ist die Frage, ob Mills Behauptung, die so offenkundig vom Inhalt der Analytiken des Ar.istoteles, dem Standardwerk der antiken Logik, abweicht, lediglich ein historischer Irrtum oder ob sie eine der Folgen eines recht .gefährlichen logischen Vorurteils ist. Wenn die Logik darauf besteht, geistige Tätigkeiten, wie Definition, Proposition, Syllogismus und Induktion, nur iiliSoweit zur Kenntnis zu nehmen, "als sie unsere eigene Erkenntnis fördern", ,und. überhaupt nicht als dem Zwecke dienend, unsere Erkenntnd.s anderen mitzuteilen, kann sie sie nur in einer Form zur Kenntnis nehmen, die mißverstanden und mißdeutet ist. Denn es is.t mehr als zweifelhaft, ob jenes einsame vernünftige Wesen, das Mill zufolge ein vollkommener Logiker sein könnte, Definitionen, Propositios "Neues zu vermitteln" ist etwas zu epigrammatisch. Aristoteles sagt nur, daß beide Formen der Beweisführung für ihre Lehrtätigkeit Gebrauch von bereits vorhandener Erkenntnis machen.
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nen, Syllo~men und induktive Verfahren genau ebenso entwickeln würde, wie es die antike Logik unter dem Einfluß des sokratischen Neubeginns in der Philosophie getan hat, nämlich als Teile der Dialektik, der·damais neuen aber bald vergessenen Kunst, Erkenntnis durch das Gespräch zu schaffen. Wenn die Logik wirklich mit den Methoden, anderen. Erkenntnis mitzutei1en, nichts. zu tun haben will, sollte sie sich im Umgang mit Definitionen, Propositionen, Syllogismen und Induktion vorsehen; ihr unmittelbarer Nutzen für unsere eigene Erkenntnis könnte .begrenzter sein, als selbst der allervorsichtigste moderne Logiker vermuten dürfte, solange er ihre Geschichte außer acht läßt.
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F. A. Trendelenburg, Geschichte der Kategorienlehre (Historische Beiträge zur Philosophie Bd. 1), Berlin 1846.
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INDEX Dewey, J, 4. 104 Dinge 43. 49-51. 66. 62. 88
Akademie 23-25. 87 Alexander von Aphrodisias 90 Allan, D. J, 38. 104 Allgemeine 40. 90; s. a. Induktion Analytica posteriora 4f. 9. 31 bis 33. 56. 85. 91f. 95-97. 101f. Analytica priora 4f. 9. 16f. 29. 31-33. 79-83. 85 Analytiken 9. 11. 16 f. 19. 30. 36. 56 f. 63. 74. 91 "an sich" 42-44 Antisthenes 63-68 Apologie 24 Argumentieren, künstliches 18; s. a. Syllogismus Aristoteles 4f. sf. 11-16. 21. 24f. 28f. 39f. 43. 56f. 80 bis 87. 93-101 Arpe, C. 39
Einzelheiten 76; s. a. Induktion Erfahrung 59 f. 69. 81. 84. 96 Erkenntnis 64. 66. 88. 96 f. 101. 103 Erziehung, philosophische 23 bis 26. 87 epagoge 89 Euthydemos 75 f. Euthyphron 44f. Falsches s. Wahres und Falsches Figuren, syllogistische 8. 16. 21. 79 Geistesgymnastik 17-19. 23. 74 Gespräch 8. 17-19. 25 f. 67. 72. 100 Grammatik 57-59. 70 Hegel, G. W. F. 16f. horos 36-38
Begriff 33 f. 38-41. 44 f. 54.72 f.; s. a. Idee, Terminus Beweis, -führung 5. 79. 85. 88. 92f. 97 Brandis, ehr. A. 11 Bücher 24f.
Idee 37. 39-46 Induktion 89-100 intuitive Induktion 92. 96-99
Charmides 42 Cicero 87f. Cohen, M. R. u. E. Nagel 6. 12. 15. 55. 95 f. 104 concept 33. 38 Definieren 35 Defmition 36-42. 44 f. 72. 88 De interpretatione 28. 30. 38. 57-71 Denken 25 f. 69-71 De partibus animalium 93
Johnson, W. E. 96 f. Jowett 6. 24. 69 Kapp, E. 4. 84. 86 Kategorien 28, 30 f. 46-52 Kategorien 28. 30. 47. 49-51 . Keynes, J. N. 4. 29. 55. 104 Klassifikation 45. 72 Konklusion s. Schluß
Ladles 42 Logique de Port-Royal 29. 34f.
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49. 53. 73 ..94. 104
Logos 25. 67
Maler, H. 14. 16. 30. 104
Menon 41 f. 98 Metaphysik 40. 43. 48. 61. 98f. Mill, J. St. 32-35. 48. 49. 55. 100-102. 104 Nachprüfung durch Induktion 92f. ' Nagel, E. s. Cohen, M. R. Name 32-35 Nidtt-sein 66
Organon 9. 12. 30. 74 Panofsky, E. 7 Phaidon 41 f. 44 Phaidros 73 Platon 6. 23-25. 27. 36. 39-46. 63-73. 75-77. 81, 89f. lOOf. Prädikat 32. 34. 46 f. 65. 68. 73. 83 Prämisse 8f. 20f. 78. 82-87; s. a. Proposition Prantl, C. 5. 13. 38. 87. 104 Prinzip, syllogistisches 78-80 Prinzipien 94 f. Probleme, Einteilung der 78 Proposition 20. 22. 28-30. 32 bis 35 37. 54-58, 62. 92; s. a. Prämisse Psychologie 14. 21 f. 43 f. 56.60 f. 70f. 91f.
Schlußsatz, -folgerung 18. 20 bis 22. 82-88 Sextus Empiricus 88 Shaw, C. G. 34. 54. 104 Sinneswahrnehmung 70. 85. 91. 96 Sokrates 18. 24f. 36. 38-40. 63. 98f. Sophistes 63-71. 83 Sophistische Widerlegungen 74f. 77f. 80-82. Sprache 66-68 Staatsmann 89 Stenze!, J. 4. 38. 41. 104 Stoa 87f. ' Subjekt 34f. 65. 68 f. 73. 83 Syllogismus 4f. 8f. 15-26. 28 bis 30. 56f. 74. 79-88 Syllogismus, apodiktischer 8 f. Syllogismus, dialektischer 8f. 17 bis 24 Syllogismus, wissensdtaftlicher 88
Rede 25. 67-69. 71 Reiser, 0. L. 54. 58. 104 Rhetorik 10. 58. 101 Ross, Sir D. 13 f. 16. 51 f. 78. 90. 97. 104 Satz 50f. 55. 57f. 64. 66-71. 73. 83 Schließen 53. 95 f. 100
106
Terminus 30-33. 35. 37 f. 54; s. a. Begriff Topik 9-11. 15-25. 30f. 36. 46 bis 48. 52. 56f. 72-74. 77f. 80-83. 9Q-92. 98 Trendelenburg, F. A. 52. 104 Trugsdtlüsse 74-77. 80. 82. 92
aber die Seele 61 Urteil 22. 28-30. 53-56, 62. 69 f. 72. 99 f. Wahres und Falsches 58. 61. 69. 71. 73 "Was ist das7" 38-41. 45. 100 · Wort 29. 31. 5of. 59-62. 64. 67 f. 70f. Xenophon 18
INHALT Vorwort I. Kapitel: Der Ursprung der Logik als Wissenschaft . II. Kapitel: Begriffe, Tennini, Definitionen, Ideen, Kate• . . . . . . . . . . . gorien
3
7 27
III. Kapitel: Urteile, Subjekt. und Prädikat .
53
IV. Kapitel: Syllogismen
72
V. Kapitel: Induktion, antike und moderne Logik
89
Literaturverzeichnis
104
Index . . . . .
105